Kleine Schriften zur Religion und Philosophie 9783787317691, 3787317694

Das literarische Werk Blaise Pascals (1623-1662) zählt zu den großen Klassikern der französischen Literatur. Es umfaßt n

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Kleine Schriften zur Religion und Philosophie
 9783787317691, 3787317694

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BL A ISE PA SC A L

Kleine Schriften zur Religion und Philosophie

Übersetzt von

u lr ich k u nzm a n n Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von

a lbert r a ffelt

FELI X MEINER V ERLAG H A MBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 575

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹ http :// dnb.ddb.de › abrufbar. isbn -10: 3- 7873-1769- 4 isbn -13 : 9783787317691

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2005. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz : post scriptum, Emmendingen /Hinterzarten. Druck : GGP Media, Pößneck. Buchbinderische Verarbeitung : Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruckpapier : alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

I N H A LT

Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . viii Einleitung. Von Albert Raffelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ix 1. Lebensdaten und Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xi 2. Der literarische Nachlaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xxxvi 3. Das Ganze im Fragment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xxxviii 4. Zum Stand der Pascal-Übersetzung ins Deutsche im Blick auf die »kleineren Schriften« . . . . . . . . . . . . xl 5. Zu den einzelnen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xlii 6. Zur Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . lvi Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

lix

bl a ise pasc a l Kleine Schriften zur Religion und Philosophie Das Leben Monsieur Pascals beschrieben von Madame Périer seiner Schwester, der Frau von Monsieur Périer, dem Rat am Steueramt von Clermont . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Vorrede zur Abhandlung über die Leere (1651) . . . . . . . . . .

59

Betrachtungen über die Geometrie im allgemeinen – Vom geometrischen Geist und Von der Kunst zu überzeugen (1655) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abteilung I : Von der Methode der geometrischen, das heißt der methodischen und vollkommenen Beweisführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abteilung II : Von der Kunst zu überzeugen . . . . . . . . .

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70 92

VI

Inhalt

Auszug aus einem Fragment zur Einführung in die Geometrie (1655) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Erste Prinzipien und Defi nitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Gespräch mit Herrn de Sacy über Epiktet und Montaigne (1655) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111

Kurze Beschreibung des Lebens Jesu Christi (1655) . . . . . . . 149 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Schriften über die Gnade (1656) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I .......................................... II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweite Schrift : Lehre des heiligen Augustinus . . . . . . . Dritte Schrift : Brief über die Möglichkeit, die Gebote zu halten, über die scheinbaren Widersprüche bei dem heiligen Augustinus, die Theorie von der doppelten Verlassenheit der Gerechten und die unmittelbare Fähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vierte Schrift : Abhandlung über die Möglichkeit, die Gebote zu halten, und über den wahren Sinn dieser Worte der heiligen Kirchenväter und des Tridentinischen Konzils : Die Gebote sind den Gerechten nicht unmöglich . . . . . . . . . . . . . . . . . I .......................................... II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung dieser Stelle im 11. Kapitel der sechsten Sitzung : Daß die Gebote den Gerechten nicht unmöglich sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195 195 195 205 216

Über die Bekehrung des Sünders (1657) . . . . . . . . . . . . . . .

331

Vergleich zwischen den Christen der ersten Zeiten und denen von heute (1657) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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225

284 284 302 317 319

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Inhalt

VII

Drei Abhandlungen über die Stellung der Großen (1660) . . . 343 Erste Abhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Zweite Abhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Dritte Abhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Gebet zu Gott um den rechten Gebrauch der Krankheiten (1660) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

351

Anhang Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe . . . . . . . . . . 367

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

SIGLEN V ER Z EICH N IS

Augustinus-Lexikon / Cornelius M ayer (Hrsg.). Basel 1986 ff. CAG CAG 2. Corpus Augustinianum Gissense / a Cornelio M ayer editum. Basel : Schwabe, 2004 CChr.SL Corpus Christianorum. Series latina. Turnhout 1954 ff. DH H. Denzinger / P. Hünermann : Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fi dei et morum. Freiburg i. Br. 371991, 402005 DicPR Dictionnaire de Port-Royal / élaboré sous la dir. de Jean Lesaulnier … Paris : Champion, 2004 (Dictionnaires & références. 11) Laf. Ordnung der Pensées nach Louis Lafuma [vgl. in den Literaturnachweisen unter 1. die Œuvres complètes und die in der Einleitung Anm. 1 genannte Übersetzung von Ulrich Kunzmann] 2 LThK Lexikon für Theologie und Kirche. 2. Auflage. 10 Bde., Reg., 3. Ergänzungsbände. Freiburg i. Br. 1957– 1968 LThK 3 Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. 11 Bde. Freiburg i. Br. 1993 – 2001 LXX Septuaginta [Antike jüdisch-griechische Übersetzung der Bibel bzw. des Alten Testaments] Mansi Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Ed. Joan nes Dominicus M ansi. 53 Bde. Florenz 1759 – 1827 OC Blaise Pascal : Œuvres complètes [mit Angabe des jeweiligen Herausgebers gemäß der Literaturübersicht Punkt 1.] PhB Philosophische Bibliothek (Hamburg) RUB Reclams Universal-Bibliothek Vg. Vulgata [Lateinische Bibelübersetzung des Hieronymus] AugL

Die biblischen Bücher werden zitiert nach : Ökumenisches Verzeichnis der biblischen Eigennamen nach den Loccumer Richtlinien. Stuttgart 21981.

EI N LEI T U NG

Louis de Montalte, Amos Dettonville, Salomon de Tultie – der Verfasser der Lettres Provinciales, der Korrespondenzpartner Pierre de Carcavys im Wettbewerb zur Lösung des Problems der Zykloide und das Muster für den guten Stils in den Pensées 1, oder anders : der theologische Polemiker, der Mathematiker, der philosophische und apologetische Schriftsteller, alle sind Blaise Pascal. Und um das Bild noch zu präzisieren : in gewisser Hinsicht sind die Namen – es sind alles Pseudonyme Pascals – identisch ; es sind Anagramme ; sie umfassen genau den gleichen Buchstabenbestand. Wer diese drei nicht zusammenbringt, kann Person und Werk Blaise Pascals nicht vollständig begreifen. Er kann nicht Pascals eigenem hermeneutischen Prinzip gerecht werden : »Man kann nur eine gute Charakterbeschreibung geben, wenn man alle unsere Widersprüchlichkeiten miteinander in Einklang bringt, und es genügt nicht, sich an eine Reihe übereinstimmender Eigenschaften zu halten, ohne die entgegengesetzten damit in Einklang zu bringen ; um den Sinn eines Autors zu verstehen, muß man alle gegensätzlichen Stellen in Einklang bringen. … Jeder Autor hat einen Sinn, in dem alle gegensätzlichen Stellen übereinstimmen, oder er hat überhaupt keinen Sinn.«2 B. Pascal : Gedanken über die Religion und einige andere Themen. U. Kunzmann (Übers.). Stuttgart 1997 (RUB 1622). (Die Ausgabe ist erstmals in Leipzig 1987 erschienen. Sie ordnet die Fragmente in der Anordnung nach Louis Lafum a) : »Die Schreibweise Epiktets, Montaignes und Salomon de Tulties ist die gebräuchlichste, die am leichtesten für sich einnimmt, am längsten im Gedächtnis bleibt und sich am besten zitieren läßt, weil sie ganz aus Gedanken zusammengesetzt ist, die auf der Grundlage der gewöhnlichen Gespräche des Lebens entstanden sind …« (Laf. 745). 2 Laf. 257. – Zu den Pseudonymen vgl. OC 4 (Mesnar d), S. 367 f., 1

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Albert Raffelt

Und man kann das Bild noch verkomplizieren, denn das Werk Pascals umfaßt weiteres : physikalische Experimente, technische Konstruktionen (die Rechenmaschine), organisatorische Unternehmungen, religiöse Führung u. a. m. Das »romantische« Porträt Chateaubriands bringt das Erstaunen über diese Vielfalt immer noch sehr gut zum Ausdruck : »Es gab einen Menschen, welcher im zwölften Jahre mit Strichen und Kreisen mathematische Sätze erfand, welcher mit sechzehn die gelehrteste Abhandlung über die Kegelschnitte schrieb, die man seit dem Altertum gesehen hatte ; welcher mit neunzehn die Maschine für eine Wissenschaft, die gänzlich im Verstande ruht, ersann ; welcher mit dreiundzwanzig das Phänomen des Luftdrucks bewies und einen der großen Irrtümer der alten Naturkunde zerstörte ; welcher in dem Alter, wo die andern Menschen kaum zu leben beginnen, nach einem Laufe durch den ganzen Umkreis der menschlichen Wissenschaften das Nichts derselben durchschaute, und seine Gedanken zu der Religion hinwandte ; welcher immer kränkelnd und leidend bis zu seinem Tode im neununddreißigsten Jahre des Lebens die Sprache Bossuets und Racine’s festlegte, und das Muster vollkommensten Witzes wie strengsten Nachdenkens gab ; welcher endlich in den kurzen Zwischenräumen seiner Leiden durch Forschung eine der schwierigsten Aufgaben der Geometrie OC 1 (Le Guern ), S. XX f. (Zur Zitationsweise der Ausgaben vgl.

das Siglenverzeichnis). – Es ist bemerkenswert, daß die großen späten Projekte mit diesen »identischen« Namen bezeichnet sind, die weltliche wissenschaftlich-mathematische Tätigkeit, die religiöse Polemik (der »hohe Berg« des Pseudonyms bezeichnet wohl die Herkunft des Autors aus der Nähe des Puy de Dôme), die Apologetik (Salomos Weisheit und vermutlich die »stultitia« für die Torheit der Verkündigung nach 1 Kor 1, 21). Vgl. zum ersteren noch Dominique Descotes : Blaise Pascal. Littérature et géometrie. Clermont-Ferrand : Presses Universitaires Blaise Pascal, 2001, S. 7 : »le prénom Amos, qui est celui d’un prophète, marque explicitement la volonté d’imposer une manière nouvelle de traiter la géométrie. Mais Dettonville dénote l’honnête homme«.

Einleitung

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löste, und auf das Papier Gedanken hinwarf, die eben so gut zu Gott wie zum Menschen passen. Dieses außerordentliche Genie nannte sich Blaise Pascal.«3

1. Lebensdaten und Ereignisse Die Lebensbeschreibung Blaise Pascals durch seine Schwester Gilberte ist eine anschauliche zeitgenössische Quelle. Da sie in diesem Band abgedruckt ist, soll hier nur zum einen das Datengerüst gegeben, sodann ergänzt werden, was in dieser Quelle von ihrer Absicht her nicht genügend deutlich wird, und gelegentlich auf die hagiographische Stilisierung dieses Textes hingewiesen werden. Damit soll zugleich der Rahmen zu Einordnung der kleineren Schriften Pascals gegeben werden, wobei die Einzelkommentierung (5.) auf deren Probleme hinweist. Blaise Pascal wurde am 19. Juni 1623 in Clermont geboren. Sein Vater Étienne (1588– 1651) war Jurist im Staatsdienst, verheiratet mit einer Kaufmannstochter und begütert. Blaise hatte noch zwei Schwestern, eine ältere, Gilberte (1619 – 1687), und eine jüngere, Jacqueline (1625 – 1661). Bereits 1626 starb die Mutter. Der Vater zog mit den Kindern 1631 nach Paris um. Er widmete sich ihrer Erziehung nach Prinzipien, die Gilberte eindrücklich schildert, und beteiligte sich – aus fi nanziell gesicherter Position – mit wissenschaftlicher Tätigkeit ab 1635 an der »Akademie« des Père Mersenne. An deren mathematischen Diskussionen nahm Blaise früh teil. Sechzehnjährig verfaßte er seine Abhandlung über die Kegelschnitte, Essai pour les coniques, zu dem noch Leibniz Anmerkungen schrieb.4 Die Ungesichertheit der staatlich angelegten Gelder führte Étienne Pascal zur Teilnahme an einer Protestversammlung. François René Auguste de Ch ateaubriand : Der Geist des Christentums. Freiburg i. Br. 1847, S. 60 f. 4 Abgedruckt OC (Lafuma), S. 35 f. 3

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Er mußte fl iehen. Die Begnadigung durch Richelieu wurde mit Hilfe der dichterischen und schauspielerischen Fähigkeiten der jüngeren Tochter Jacqueline erreicht, eines literarisch begabten Wunderkindes.5 Die Familie zog 1640 nach Rouen um,6 wo Étienne Pascal als hoher Steuerkommissar tätig war. Der Versuch, die aufwendigen Berechnungen zu erleichtern, führte Blaise zur Konstruktion einer der ersten7 funktionsfähigen Rechenmaschinen, die er 1645 mit einem Widmungsbrief dem Kanzler Seguier vorstellte und auf die er schließlich 1649 ein Privileg erhielt. Welches Selbstbewußtsein hinter diesen Arbeiten steckt, zeigt der Brief an die Königin Christine von Schweden von 1652, mit dem er ihr seine Maschine übersendet : »Ich empfi nde eine ganz besondere Verehrung für jene, die zur höchsten Stufe der Macht oder der Erkenntnis aufgestiegen sind. Diese können, wenn ich mich nicht irre, ebensogut wie jene als Herrscher angesehen werden. Im Reich des Geistes fi nden sich die gleichen Abstufungen wie bei den Ständen ; und die Macht der Könige über ihre Untertanen ist, wie ich glaube, nur ein Bild für die Macht der Geister über andere, ihnen unterlegene Geister, über die sie das Recht der Überzeugung ausüben, das bei ihnen das gleiche ist wie das Recht des Befehlens in der politischen Herrschaft. Dieses zweite Reich scheint mir sogar zu einer weitaus höheren Ordnung zu gehören, weil die Geister Dargestellt bei Jean Steinmann : Pascal. Stuttgart 1954, S. 21–26. J. Mesnar d ordnet seine chronologische Ausgabe (ab OC 2) nach den Wohnsitzen. Zu Rouen vgl. Les Pascal à Rouen. 1640 – 1648. Rouen : Publications de l’Université de Rouen, 2001. 7 Wilhelm Schick ar d (1592– 1635) konstruierte an der Universität Tübingen bereits 1623 eine Rechenmaschine. Vgl. zu Schickard : Friedrich Seck (Hrsg.) : Wilhelm Schickard : 1592– 1635. Astronom, Geograph, Orientalist, Erfinder der Rechenmaschine. Tübingen 1978 (Contubernium. 25) ; Friedrich Seck (Hrsg.) : Zum 400. Geburtstag von Wilhelm Schickard. Zweites Tübinger Schickard-Symposion, 25. bis 27. Juni 1992. Sigmaringen 1995 (Contubernium. 41). Die Priorität Schickards ist anscheinend in der französischen Pascal-Literatur nicht bekannt. 5

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Einleitung

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einer höheren Ordnung als die Körper angehören, und einer weitaus gerechteren Ordnung, weil es nur durch das Verdienst gewährt und erhalten werden kann, während sich das andere durch Geburt oder Reichtum erwerben läßt. … So mächtig auch ein Monarch ist, für seinen Ruhm fehlt etwas, wenn er nicht den Vorrang des Geistes hat.«8 Daß die schwedische Königin für den Briefschreiber all dieses vereint, versteht sich. Im Gedanken der unterschiedlichen »Ordnungen« enthält der Brief bereits eine Grundeinsicht der späten Fragmente, die in den Pensées gesammelt sind (vgl. Laf. 308 9). Aufsehenerregende Leistungen vollbringt Blaise Pascal auch auf physikalischem Gebiet. Nachdem ihm das BarometerExperiment Evangelista Torricellis (1598– 1677) bekannt geworden war, führte er diesen Versuch am Puy de Dôme durch. Das löste eine heftige Diskussion zwischen Aristotelikern und Anhängern der modernen Naturwissenschaft aus (Expériences nouvelles touchant le vide, 1647) und eine polemische Korrespondenz mit dem Jesuiten Étienne Noël (1581 – 1659)10, der die herkömmlichen aristotelischen Schulthesen verteidigt und von Blaise Pascal schneidend und mit Spott widerlegt wird. Es führt aber auch zu einem erneuten Aufmerken der gelehrten Welt. Pascal formuliert von hier aus grundlegende wissenschaftstheoretische Einsichten.11 Selbst Descartes besucht 1647 Übers. U. Kunzmann : Pascal im Kontext. Berlin : Worm, InfoSoftWare, 2003 [ CD -ROM-Ausgabe]. Vgl. auch B. Pascal : Briefe / Wolfgang Rüt tenauer (Übers.). Leipzig 1935, S. 119. Briefzitate werden im folgenden möglichst nach der Ausgabe Pascal im Kontext von Kunzmann zitiert. Zum Gesamtkomplex vgl. Simone M azauric : Gassendi, Pascal et la querelle du vide. Paris : PUF, 1998. 9 Dazu J. Mesnar d : Le thème des trois ordres dans l’organisation des Pensées. In : Ders. : La culture du XVII e siècle. Paris : PUF, 1992, S. 462– 484. 10 Vgl. Charles E. O’Neill / Joaquín M. Domínguez (Hrsg.) : Diccionario histórico de la Compañía de Jesús. Bd. 3. Rom 2001, S. 2827. 11 Vgl. unten das Fragment einer »Vorrede zur Abhandlung über die Leere«. 8

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den vierundzwanzigjährigen (!), damals kranken Blaise Pascal. In einem Brief Jacquelines an die ältere Schwester Gilberte (25. 9. 1647) ist darüber berichtet :12 Nach dem Austausch von Höflichkeiten redet man über das Experiment um den leeren Raum. Descartes erklärt das Absinken der Quecksilbersäule, das Pascal den experimentellen Beweis für das Phänomen des Luftdrucks lieferte, mit dem Eindringen einer materia subtilis ; Pascal widerspricht ; der ebenfalls anwesende Mathematiker Roberval übernimmt das Gespräch in der Meinung, Pascal sei zu schwach, um sich deutlich zu äußern, und geht Descartes »hitzig, aber dennoch nicht ohne Höflichkeit« an ; dieser sagt, er wolle lieber mit Pascal sprechen, der verständig rede, nicht mit Roberval, der Vorurteile habe – dann sieht er auf die Uhr und fi ndet, daß es Zeit ist zu gehen. Am nächsten Tag kommt er noch einmal, gibt dem Kranken recht allgemeine medizinische Ratschläge und unterhält sich noch über andere Themen, von denen aber Jacqueline nicht berichtet. Pascals mathematisch-naturwissenschaftliche Leistungen sind so bedeutend, daß er in der Wissenschaftsgeschichte einen festen Platz hat. Trotzdem bleibt sein wissenschaftliches Werk fragmentarisch : vieles ist zu Lebzeiten nur Eingeweihten bekannt ; wesentliche Texte sind von ihm nicht veröffentlichungsreif gemacht worden ; die grundlegenden wissenschaftstheoretischen Überlegungen sind erst nach Jahrhunderten diskutiert worden. Dazu kommen biographische Momente, die das Werk nicht stetig wachsen ließen ; wesentliche davon sind religiöser Natur. Die Familie Pascal lebte wohl ein Durchschnitts-Christentum, das nach den Quellen mit allen Vorurteilen der Zeit – bis zum Aberglauben – behaftet war. Einen Einschnitt in der Religiosität der Familie bringt die Begegnung mit zwei Ärzten, die 1646 Étienne Pascal bei einer Krankheit behandeln und die Familie in Kontakt mit der Spi-

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Text OC 2 (Mesnar d), S. 478– 482.

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ritualität Saint-Cyrans 13 und der Kreise um das Kloster PortRoyal bringen. Dies führt zu einer religiösen Neuorientierung der ganzen Familie. Aus einem Brief Blaises und Jacquelines an Gilberte (1. 4. 1648) wird dies eindringlich deutlich : »Wir bitten Dich, daß Du es Dir jeden Tag wieder in Erinnerung rufst und daß Du oft die Fügung dankbar anerkennst, deren sich Gott in diesem Fall bedient hat, denn er hat uns nicht nur zu Geschwistern, sondern auch zu Kindern eines Vaters gemacht«14. Man spricht hier von Blaise Pascals »erster« Bekehrung. Fragen der Religion durchdringen nun seine gesamten Interessen. Als Beispiel dafür mag Jacquelines schon genannter Brief über den Besuch Descartes’ gelten : Am Nachmittag unterhielt sich Blaise mit Roberval : »er disputierte lange mit ihm viele Dinge, der Theologie wie der Physik« ; ersteres interessierte diesen Gesprächspartner allerdings nicht so stark. Die geistliche Haltung Saint-Cyrans, der die Familie Pascal nun nahekam, war geprägt durch die Gedankenwelt des Kardinals Bérulle, des Gründers des Oratoriums und geistlichen Vaters der École française der Spiritualität. Bérulles Frömmigkeit ist theozentrisch : »Ein hervorragender Geist unseres Jahrhunderts … hat behauptet, daß die Sonne im Mittelpunkt der Welt sei, nicht die Erde … Diese neue Meinung, der man in der astronomischen Wissenschaft noch weniger folgt, ist aufschlußreich und sollte in der Wissenschaft des Heiles Anhänger fi nden«.15 Im Gegensatz zur flämischen, an der Sorbonne dominierenden sogenannten »abstrakten« Schule, die besonders die unmittelbare Verbindung der Seele mit der göttlichen Wesenheit – ohne eigentliche Vermittlung durch die ChristoJean-Ambroise Du vergier de H aur anne, Abbé de SaintCyran (1581 – 1643), vgl. LThK 3 3, Sp. 416 – 417. Ausführlich : DicPR , S. 381 – 384. 14 Übersetzung U. Kunzmann in : Pascal im Kontext. a. a. O. 15 Henri Brémond : Heiligkeit und Theologie. Vom Carmel zu Kardinal Bérulles Lehre. Regensburg : Pustet, 1962. S. 107, nach Pierre de Bérulle : Discours de l’état et des grandeurs de Jésus. Éd. Michel Dupu y. Paris : Cerf, 1996 (Œuvres de Bérulle. 3, 1), S. 85. 13

XVI

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logie – in den Mittelpunkt stellt, legt die Spiritualität Bérulles aber großen Wert auf das Geheimnis der Inkarnation, auf das Hohepriestertum Christi (etwa auch auf die innige Verbindung des Priesters mit Christus) und stellt hohe Anforderungen hinsichtlich der Selbstentäußerung jedes Christen ; kennzeichnend – und prägend für die von Bérulle ausgehende französische Spiritualität bis ins 19. und 20. Jahrhundert – ist die Lehre vom geistlichen Opfer.16 Man kann Saint-Cyran ganz in diese Linie stellen und müßte noch besonders auf die Ekklesiologie (Bedeutung des Episkopats, Idee des Corpus Mysticum, vgl. z. B. Laf. 372) und die enge Anknüpfung an die Kirchenväter hinweisen. Die pastoralen Auswirkungen – gegen ein reines Pfründen-Verwaltungswesen – und die hohen persönlichen Anforderungen – gegen einen weltlichen Laxismus – sind kennzeichnend für diese Frömmigkeit, die in Port-Royal ein Zentrum fand, nachdem dieses »laxe« Kloster von der jugendlichen Äbtissin Mère Angélique Arnauld (1591 – 1661)17 um 1609 reformiert worden war und unter der geistlichen Leitung von hervorragenden Seelenführern stand (Franz von Sales, verschiedene durch das Oratorium beeinflußte Theologen und dann eben Jean Duvergier de Hauranne, d. h. Saint-Cyran18 ). Bei der Beschreibung dieses spirituellen Milieus, an das die Familie Pascal Anschluß fand, wurde zunächst bewußt auf das Etikett »Jansenismus« verzichtet, um nicht zu verdecken, daß es ein erstes Port-Royal gibt, das noch nicht in die theologischen Kämpfe um die rechte Auslegung der Gnadenlehre involviert war und das zentraler für Frömmigkeit und Kultur war, als es der verengte Blick auf den späteren Streit wahrnimmt. Zur Zeit der Konversion der Familie Pascal war allerdings bereits das Buch des Bischofs Cornelius Jansenius (1585 – 1638) Vgl. etwa den Brief Pascals über den Tod des Vaters vom 17. 10. 1651 (Pascal : Briefe, S. 90 – 117). 17 Vgl. LThK 3 1, Sp. 1016 und ausführlich DicPR , S. 91 – 97. 18 Der »Vergleich zwischen den Christen der ersten Zeiten und denen von heute« zeigt z. B. diesen reformerischen Impuls. 16

Einleitung

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von Ypern mit dem Titel Augustinus erschienen (1640, Paris 1641, Rouen 1643) und hatte Port-Royal durch seinen Theologen Antoine Arnauld 19 schon in den Streit um die Theologie des Jansenius eingegriffen. Signifi kant für das Engagement des »bekehrten« Blaise Pascal ist die Affaire um den ehemaligen Kapuziner Forton, Sieur de Saint-Ange, der 1647 in Rouen war, wo er um eine Pfarrpfründe anhielt. Er wurde von Blaise Pascal und zweien seiner Freunde in theologische Gespräche verwickelt, vertrat theologisch angreifbare Thesen und wurde durch Anzeige beim Bischof zum Widerruf gezwungen. Die Thesen Fortons, die er auf Betreiben Blaise Pascals und seiner Freunde widerrufen mußte, zeigen den Vertreter einer humanistisch-»modernistischen«, scholastisch-rationalistischen Theologie : » 1. Daß ein starker und kräftiger Geist ohne den Glauben allein durch sein Denken zur Erkenntnis aller Mysterien der Religion gelangen kann, ausgenommen einzig, daß Gott unser übernatürliches Ziel ist. 2. Daß der Glaube für die Schwachen nur eine Hilfe für den Mangel ihres Denkens ist. 3. Daß er durch die natürliche Vernunft die Trinität beweisen könne und daß von dieser Kenntnis seine Theologie und seine Physik abhingen … 5. Daß die Kirchenväter nur einen Teil der Wahrheit gekannt hätten, mangels der Kenntnis der Ordnung der Dekrete [Gottes], von denen er Kenntnis habe, und daß er darin seit acht Jahren Klarheit habe.«20 (1612– 1694), vgl. DicPR , S. 78– 85. Zum Verhältnis Arnauld / Pascal jetzt : Michel Le Guern : Pascal et Arnauld. Paris : Champion, 2003 (Lumière classique. 48). 20 Die Texte OC 2 (Mesnar d), S. 362– 420, die Thesen oben S. 415 – 417. Vgl. dazu Henri Gouhier : Pascal et les humanistes chrétiens. L’affaire Saint-Ange. Paris : Vrin, 1974 sowie die entsprechenden Aufsätze in Les Pascal à Rouen. 1640 – 1648, S. 265 ff. 19

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Es ist bezeichnend, daß der »Generalvikar in pontificalibus«, Bischof Le Camus, die Sache ohne Aufsehen erledigen wollte, aber Pascal und seine Freunde über den Erzbischof Harlay, der als Gegner von moralischem Laxismus und mißbräuchlicher Sakramentenpraxis hervorgetreten war, einen förmlichen Widerruf erreichten. Gilberte versucht in ihrer Lebensbeschreibung die Angelegenheit zu harmonisieren und das Verfahren als letztlich im Sinne von Saint-Ange selbst liegend darzustellen. Der Blick auf die Affaire Saint-Ange war nötig zur Deutung von Pascals theologisch-religiöser Haltung und seines Verhältnisses zu Port-Royal. Die Familie hatte inzwischen (ab 1647 ist Blaise wieder in Paris) den Kontakt zum Kloster aufgenommen. Ein Zitat aus einem Brief an Gilberte berichtet von einem Besuch Blaise Pascals bei Herrn Rebours 21, dem Beichtvater der Religiosen in Port-Royal (26. 1. 1648 22) : »Als ich Monsieur Rebours zum ersten Mal sah, stellte ich mich ihm vor, und ich wurde von ihm so höflich empfangen, wie ich es mir nur wünschen konnte … Nach den ersten Komplimenten bat ich ihn um die Erlaubnis, ihn hin und wieder besuchen zu dürfen ; und er hat sie mir gewährt. … Einige Zeit später ging ich zu ihm, und unter anderem sagte ich ihm mit meiner gewöhnlichen Freimütigkeit und Unbefangenheit, daß wir ihre Bücher und die ihrer Gegner geprüft hätten und daß dies genüge, um ihm unsere Übereinstimmung mit ihren Meinungen zu zeigen. Hierüber bekundete er einige Freude. Danach sagte ich, meiner Ansicht nach könne man gerade, wenn man sich an die Grundsätze des gesunden Menschenverstandes halte, viele Dinge beweisen, von denen die Gegner behaupten, sie widersprächen ihm, und eine gute Beweisführung könne sie glaubhaft machen, obgleich man sie auch ohne die Hilfe eines Beweises glauben müsse.«

21 22

Antoine de Rebours (1595 – 1661). Vgl. DicPR , S. 867– 868. Vgl. Pascal : Briefe, S. 39 – 43.

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Rebours fi ndet keinen Gefallen an solchen Absichten. Pascals Rechtfertigungsversuche mehren nur seinen Zweifel und der Briefschreiber berichtet : »So wirkte denn diese ganze Unterredung doppeldeutig und peinlich, und ein solcher Eindruck blieb bei allen weiteren Begegnungen bestehen und ließ sich nicht überwinden.« An diesem Punkt wird deutlich, wie zwiespältig die Begegnung Pascals mit einem strengen »Augustinismus« verlaufen mußte, der die curiositas des Wissenschaftlers und die Dialektik des Philosophen als Eitelkeit ansah, die dem Heil der Seele unnütz sei – eine Spaltung, die im Kreis von Port-Royal selbst angelegt war und die auch Jacqueline Pascal nach ihrem Eintritt in das Kloster Port-Royal mit dem Verzicht auf ihr literarisches Talent radikal lebte.23 Blaise Pascal ging seinen doppelten Weg weiter und arbeitete – entgegen der legendarischen Stilisierung in der Biographie Gilbertes, die dies so deutet, daß ihm seine Erkenntnisse praktisch zugeflogen seien – weiterhin wissenschaftlich und beteiligte sich bis in sein Todesjahr an »weltlichen« Unternehmungen (von der Beteiligung an einer Gesellschaft zur Trockenlegung von Sümpfen im Poitou bis zu einem Pferdekutschenunternehmen, einem ersten Schritt zu einem öffentlichen Nahverkehr in Paris noch im Jahre 1662). Bemerkenswert an diesem Gespräch ist aber auch die apologetische Absicht (wenngleich vielleicht hier nur im Sinne einer Verteidigung der Haltung und der Theologie Port-Royals, nicht im Sinne des großen späten Projekts der Pensées ). Auf welche Schriften Port-Royals Pascal hier anspielt, kann man nur erschließen. Es sind wohl Werke von Saint-Cyran und Antoine Arnauld. Der Augustinus von Jansenius lag zwar vor ; wann Blaise Pascal ihn gelesen hat, ist nicht klar.24 Kenntnis hatte er sicher von Schriften wie dem Discours de la réformaVgl. hierzu auch unten das »Gespräch mit Herrn de Sacy über Epiktet und Montaigne«. 24 J. Mesnar d setzt dies in seinem Beitrag zum Grundriss der Geschichte der Philosophie, a. a. O., S. 540, allerdings bereits früh an. 23

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tion de l’homme intérieur des Jansenius, den der zum Kreise von Port-Royal gehörende Robert Arnauld d’Andilly (1589 – 1674)25 1642 übersetzt hatte.26 Es handelt sich um eine augustinische Kritik der drei Formen der Konkuspiszenz – hier unter den Stichwörtern der sexuellen Begierlichkeit (volupté de la chair), der Neugierde (curiosité) und des Stolzes (orgueil) –, die für Pascal im übrigen bis in seine späten Schriften (Drei Abhandlungen über die Stellung der Großen) wichtig bleibt.27 1647 hatte Blaise eine schwere Krankheit zu überwinden.28 1651 stirbt der Vater. Nach Auseinandersetzungen – fi nanzieller Art – tritt Jacqueline 1653 als Ordensfrau in das Kloster Port-Royal ein. Die Arbeitskraft Blaise Pascals wird in den folgenden Jahren von mathematischen und physikalischen Untersuchungen beansprucht. Angeregt durch Fragen des Glücksspiels entwickelt er eine mathematische Theorie, die eine Vorstufe der Wahrscheinlichkeitsrechnung darstellt – ein Indiz dafür, daß er nun Anschluß an »weltliche« Kreise gewonnen hatte und ein enger Freund des Herzogs von Roannez gewor-

Vgl. DicPR , S. 108– 115. Diese Übersetzung ist jetzt wieder leicht greifbar : Cornelius Jansenius : Discours de la réformation de l’homme intérieur. Houilles : Éditions Manucius, 2004. 27 Noch Heideggers »Verfallenheit des Daseins« verdankt ja Wesentliches den augustinischen Analysen, vgl. Martin Heidegger : Sein und Zeit. Tübingen 171993 bzw. Gesamtausgabe. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1977, § 38. 28 Mesnar d, a. a. O., S. 541 schreibt : »In dieser Zeit scheint der Christ den Wissenschaftler verdrängt zu haben, und offenbar hat Pascal damals tatsächlich erwogen, seine Forschungen aufzugeben.« Dies könnte im Hintergrund der Deutung Gilbertes stehen. Vgl. etwa die Wissenschaftskritik bei Jansenius : Discours …, a. a. O., S. 24 : »Le monde est d’autant plus corrompu par cette maladie de l’âme, qu’elle se glisse sous le voile de la santé, c’est-à-dire de la science. … De là est venue la recherche des secrets de la nature qui ne nous regardent point, qu’il est inutile de connaître, et que les hommes ne veulent savoir, que pour les savoir seulement.« 25

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den war.29 Er lernt die höfische und freigeistige Welt kennen und beteiligt sich an wirtschaftlichen Unternehmungen. Neben der Wissenschaft und der Religion kommen wir hier zu einem dritten Faktor in der Biographie Pascals, dem der mondän-freigeistigen Umwelt. Das Frankreich des 16. Jahrhunderts, zerrissen von den Religionskriegen, hatte eine starke skeptische, rationalistische und neostoische Geistigkeit ausgebildet, deren Verhältnis zum Christentum nicht ganz einfach zu deuten ist. Literarisch am bedeutendsten sind zweifellos die Essais von Montaigne, die Pascal das Material für die »skeptische« Seite seiner Anthropologie liefern werden, für den Versuch, die Freigeister zu verunsichern und ihnen die Ungesichertheit ihrer Existenz deutlich zu machen. Ein Versuch, der aber so viel existentielle Wahrheit enthält, daß er nicht mit seiner »Funktion« erledigt ist. Besonders hinweisen muß man wohl auf eine so rätselhafte Gestalt wie Pierre Charron (1541 – 1603)30, der in seinem Werk Les Trois Vérités und vor allem in den drei Büchern De la Sagesse eine ihrem Anspruch nach rationalistische, ihrer Gestalt nach fideistisch-skeptische Theologie grundlegte, die verständlicherweise im freigeistigen Milieu starke Wirkungen hatte (noch im 18. Jahrhundert wird Charron bei Casanova zitiert), merkwürdigerweise aber auch bei religiösen »Fundamentalisten« augustinischer Richtung – Saint-Cyran – positiv gesehen werden konnte. Die Nähe von Skepsis und Mystik ist ja nicht ungewöhnlich. Charrons Selbstrechtfertigung im Vorwort der letzten Auflage der Sagesse ist signifikant : Er schreibt, »daß die Weisheit, die nicht verbreitet noch volkstümlich ist, eben diese Freiheit und Autorität hat iure suo singulari alles zu beurteilen (dies ist das Privileg des Weisen und des geistlichen Menschen. Spiritualis omnia deijudicat et a nemine judicatur [1 Kor 2, 15]) und im Urteil die allgemeinen und volkstümlichen Meinungen (als Vgl. J. Mesnar d : Pascal et les Roannez. 2 Bde. Paris : Desclée de Brouwer, 1965. 30 Vgl. LThK 3 2, Sp. 1024. 29

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zumeist irrig) zu zensieren und zu verdammen.«31 Das erste Buch der drei Wahrheiten erinnert in manchem an das Fragment der »Wette«32, in dem es zu einem interessegeleiteten Argument für die Existenz Gottes kommt (worauf freilich Pascals Text letztlich nicht zielt) : »Es bedeutet keinerlei Gefahr, an Gott und eine Vorsehung zu glauben : denn wenn man sich getäuscht hat, was könnte daraus Übles entstehen ? … Aber im Gegenteil …«.33 Inwieweit ein solches Denken als Adressat Pascals Apologie bestimmt, kann man nur an den Texten erweisen. Interessanter ist aber, daß Charron wie Montaigne zur Beschreibung der menschlichen Existenz verwendet werden34 – was aber ebenfalls bereits von Saint-Cyran vorweggenommen worden ist. Als einen entscheidenden Punkt in der inneren Biographie Blaise Pascals müssen wir die gewöhnlich als »zweite Bekehrung« zitierten Ereignisse ansehen, über die wir aus Briefen seiner Schwester Jacqueline wissen, die von seinem Überdruß an einem weltlichen Leben berichtet, vor allem aber aus einem vielinterpretierten Zeugnis von ihm selbst, dem sogenannten Mémorial vom 23. 11. 1654 (Laf. 913). Es ist ein Erinnerungszettel an ein Ereignis tiefer religiöser Erschütterung, säuberlich aufgeschrieben und in den Rock eingenäht, wo man ihn nach seinem Tod fand.35 Pierre Charron : De la sagesse. Texte revu par Barbara de Negroni. Paris : Fayard, 1986 (Corpus des œuvres de philosophie en langue française), S. 41. 32 Laf. 418. 33 Vgl. die entsprechenden Texte in der Ausgabe Pascal : Pensées. Éd. par Michell Le Guern. Paris : Gallimard, 1977 (Folio classique. 2777), S. 601 ff., hier 603. 34 Vgl. die Kapitelüberschriften in De la sagesse : De l’ambition ; Desir, Cupiditez ; Vanité ; Foiblesse ; Inconstance ; Misère usw. 35 Zur Interpretation vgl. vor allem Henri Gouhier : Blaise Pascal. Commentaires. Paris : Vrin, 21971, S. 11 – 65, 367– 387. Siehe auch den Aufsatz von Harding Meyer : Pascals Mémorial, ein ekstatisches Dokument ? In : Zeitschrift für Kirchengeschichte 4 (1957), S. 335 – 341. 31

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Soeben erst hatte Pascal selbstbewußt der Celeberrimae Matheseos Academiae Parisiensis im Herbst 1654 seine mathematischen Schriften unterbreitet, darunter die Géometrie du hasard (alea geometria), einen Vorläufer der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Er schreibt dort : »Das kühne Genie der Erfi ndung ist wenigen Menschen gegeben, weniger noch (meiner Ansicht nach) das elegante Genie des Beweisens, und sehr selten sind die, die beides besitzen.«36 Auch wenn das Lob zunächst der Akademie gezollt wird, ist der Unterschied zum Mémorial mit seiner Forderung »vollkommene und liebevolle Unterwerfung unter Jesus Christus und meinen geistlichen Führer« sehr deutlich. Das Mémorial beginnt nach der genauen kalendarischen, kirchenjahresmäßigen und uhrzeitlichen Datierung folgendermaßen : »Feuer / ›Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs‹, / nicht der Philosophen und Gelehrten. / Gewißheit, Gewißheit, Empfi nden : Freude, Friede, / Gott Jesu Christi / Deum meum et Deum vestrum. / ›Dein Gott wird mein Gott sein‹ – Ruth – / Vergessen von der Welt und von allem, außer Gott. / Nur auf den Wegen, die das Evangelium lehrt, / ist er zu fi nden.« Schon in dem kurzen Ausschnitt ist die Verbindung von biblischer Sprache und Reflexion deutlich. Die Entgegensetzungen verlangten einen ausführlichen Kommentar (»… nicht der Philosophen …«). Wenn man eine Verbindung zu den Schriften unseres Bandes sucht, wird man den Text über »Die Bekehrung des Sünders« (1657) heranziehen, der ebenfalls mit einer Lichtmetapher beginnt. Wir halten hier nur fest, daß das Mémorial einen Wendepunkt markiert, wenngleich der Kontext – Jacquelines Briefe37 – zeigt, daß dieser sich praktisch ein Jahr lang ankündigt und parallel zu den genannten wissenschaftlichen Arbeiten läuft. Ob es sich um einen »mystischen« Text OC (Lafuma), S. 101. Vgl. die Briefe in OC 3 (Mesnar d), S. 61 – 75, besonders den Brief vom 25. 1. 1655, S. 70 – 75. 36 37

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Text handelt, mag hier offenbleiben. Zumindest ist es ein »aszetischer«,38 der die Konzentration auf einen konsequent religiös motivierten Weg markiert. Pascals Kontakt zu Port-Royal wird wieder enger. Er beeinflußt auch seinen Freund, den Herzog von Roannez stark in diese Richtung. Anfang des nächsten Jahres hält er sich in Port-Royal auf, und vermutlich sind dieser Zeit Betrachtungstexte wie die Passionsmeditation, das Mysterium Jesu, zuzuordnen, in dem der schöne augustinische Satz steht : »Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht schon gefunden hättest« (Laf. 919). Aus der gleichen Zeit (wohl Anfang 1655) stammt die Unterhaltung Pascals mit Isaac Le Maistre de Sacy, dem Übersetzer des Alten Testaments der Bibel von Port-Royal39, und einer der leitenden geistigen Figuren des Kreises. Es handelt sich um ein Gespräch über Epiktet und Montaigne, also nicht gerade Autoren, die »auf den Wegen, die das Evangelium lehrt«, wandeln, wie das Mémorial formuliert. Hier werden in dem dialektischen Gegeneinander-Ausspielen der skeptischen und der ethisch»heroischen« Position Elend und Größe des Menschen aufgezeigt, wie dies später mit literarischer Brillanz und vielfach paradoxer Zuspitzung in den einleitenden Kapiteln der Pensées durchgeführt wird. Damit werden schon hier Grundlinien der späteren geplanten Apologie des Christentums skizziert.40 BeVgl. A. R affelt : »Ein Leib aus denkenden Gliedern«. Gotteserfahrung in kirchlicher Tradition bei Blaise Pascal. In : Mariano Delga do / Gott hard Fuchs (Hrsg.) : Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung. Bd. 2. Fribourg / Stuttgart 2005, S. 285 – 306. 39 Der Text ist jetzt wieder leicht zugänglich : La Bible. Traduction de Louis-Isaac Lemaître de Sacy. Préface et textes d’introduction établis par Philippe Sellier. Paris : Lafont, 1990. Allerdings enthält die Ausgabe nicht die umfängliche Kommentierung aus der Theologie der Kirchenväter, die – neben der Übersetzungsqualität – historisch ein Hauptinteresse des Werkes ausmacht. 40 Hier wie dort geschieht beides in einem theologischen Rahmen. Deshalb ist es schwierig, eine Pascalsche »philosophische An38

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achtenswert ist, welch völlig andere Stellung Pascal in diesem Gespräch gegenüber dem oben genannten mit Herrn Rebours hat (obwohl Le Maistre de Sacy prinzipiell solchen Gedanken nicht wohlwollender gegenübersteht), welche Sicherheit und welches Selbstbewußtsein er zeigt und wie originell er die verschiedenen Strömungen skizziert und in seinem Konzept zusammenbringt : »›Was den Nutzen einer solchen Lektüre angeht‹, sagte Herr Pascal, ›so werde ich Ihnen ganz offen sagen, was ich denke. Bei Epiktet fi nde ich eine unvergleichliche Kunst, die Ruhe jener zu stören, die diese Ruhe bei den äußerlichen Dingen suchen, um sie zu der Erkenntnis zu zwingen, daß sie wahrhaftige Sklaven und elende Blinde sind, daß sie unmöglich etwas anderes als Irrtum und Schmerz fi nden, vor denen sie fl iehen, wenn sie sich nicht vorbehaltlos Gott allein hingeben. – Montaigne ist darin unvergleichlich, daß er den Stolz jener beschämt, die keinen Glauben haben und sich einbilden, wahrhaftige Gerechtigkeit zu besitzen, daß er jene aus ihrem Irrtum reißt, die mit aller Kraft an ihren Anschauungen festhalten und glauben, in den Wissenschaften unerschütterliche Wahrheiten zu fi nden, und daß er die Vernunft so klar überführt, wie wenig Einsicht sie hat und welchen Verirrungen sie unterliegt, so daß man schwerlich, wenn man von seinen Prinzipien einen guten Gebrauch macht, in Versuchung gerät, sich von den Mysterien abgestoßen zu fühlen. Denn der Geist wird von ihnen so sehr überwunden, daß er weit davon entfernt ist, sich zu unterstehen, darüber zu urteilen, ob die Menschwerdung Christi oder das Mysterium der Eucharistie möglich ist, was die gewöhnlichen Leute nur allzuoft erörtern.‹«41 Bevor sich Blaise Pascal an die Ausarbeitung seines apologetischen Konzepts machen konnte – falls er es denn hier thropologie« aus diesen sich gegenseitig korrigierenden Positionen zu gewinnen. 41 Vgl. unten S. 145 f.

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schon beabsichtigt hatte –, wurde er in eine andere Auseinandersetzung hineingezogen, in den Streit um die Rechtgläubigkeit der Gnadenlehre des Jansenius. Port-Royal, d. h. sein Theologe Antoine Arnauld, hatte – angestoßen durch SaintCyran – das Augustinus-Buch des Bischofs von Ypern verteidigt. Der Streit war nun auf einem Höhepunkt. Innozenz X . hatte 1653 fünf Sätze verurteilt.42 Es geht dabei um das Wirken der Gnade, die Unfreiheit des Menschen im Zustand der gefallenen Natur, das Verständnis des Erlösungstodes Christi. Der große Historiker der Gnadenlehre Henric de Lubac sieht in den Sätzen »die begeisterte Beschränktheit dessen, der sich für einen Erwählten des Herrn hält«43, widergespiegelt. Damit sind sicher die in der Verurteilung theologisch angezielten und auszuschließenden negativen Möglichkeiten getroffen. Pascal setzt sich im 17. Provinzialbrief auch deutlich von solcher Theologie ab. Der spirituelle Impetus der Gefolgsleute des Jansenius sowie dessen eigene theoretische Absicht jedoch wird – wie auch de Lubac sagt – von der Verurteilung sicher nicht getroffen. Und die schultheologische Differenzierung der Positionen macht auch heute den Historikern im einzelnen noch Probleme.44 Darüber hinaus hatte die schon länger dauernde Querele um diese fünf Sätze tiefere Wurzeln : – theologische : Seit dem vorangegangenen Jahrhundert waren die im Trienter Konzil offengelassenen Fragen eines orthodoxen Verständnisses des Verhältnisses von Gnade und Freiheit kontrovers diskutiert worden ; auf der einen Seite

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DH 2001 – 2007.

Henri de Lubac : Die Freiheit der Gnade. 1. Bd. : Das Erbe Augustins. Einsiedeln 1971, S. 60. 44 Sehr differenziert ist die Darstellung der »orthodoxen« Vertreter der augustinischen Gnadenlehre in dieser Zeit bei Piet Fr ansen : Dogmengeschichtliche Entfaltung der Gnadenlehre. In : Johannes Feiner / Magnus Löhrer (Hrsg.) : Mysterium salutis. Bd. 4, 2. Einsiedeln 1973, S. 631 – 765, bes. 727 ff. 43

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stand die traditionelle, vor allem augustinische, der Spekulation abholde Theologie, auf der anderen »Neuerer«, wie es sie besonders im Jesuitenorden gab. Zwar war der Augustinismus des Löwener Theologen Baius verurteilt worden, aber mit einem eigentümlichen Offenlassen der Reichweite dieser Verurteilung ; anderseits war auch eine Verurteilung des Jesuitentheologen Molina vorbereitet, aber nicht veröffentlicht worden, und schließlich wurden in der Formula pro finiendibus disputationibus de auxiliius ad Praepositos Generales O. Pr. et S. I. missa von Paul V. 1607 gegenseitige Verurteilungen verboten ( DH 1997). So waren die grundlegenden Gegensätze der Positionen stehengeblieben, auch wenn Spitzenaussagen zensuriert worden waren ; – politische : Die verschiedenen Frömmigkeitsrichtungen standen eo ipso in Frankreich auch in einem politischen Kontext. In einem kirchenpolitischen, insofern die Jesuiten Positionen beargwöhnten, die sie in der Nähe der Reformatoren vermuteten, in einem machtpolitischen, insofern sich an wesentlichen Stellen Spannungen zum staatskirchlich-zentralistischen System Richelieus ergaben. Dies wiederum in mehrfacher Hinsicht, sowohl dadurch, daß die kirchliche Komponente des Systems durch den Rigorismus gefährdet werden konnte, als auch dadurch, daß die politischen Aktionen Richelieus – etwa sein Zusammengehen mit protestantischen Mächten – Vertretern einer »katholischen« Politik wie Bérulle suspekt erschienen. Auch Jansenius hatte in seinem Mars Gallicus 1635 hiergegen protestiert (ähnlich wie sich Saint-Cyran nach dessen Tod öffentlich hinter Bérulle gestellt hatte, was ihm ein mißlungenes Verfahren wegen Häresieverdachts [!] seitens Richelieus eintrug und eine fünfjährige Kerkerhaft, die erst 1643 mit Richelieus Tod endete). Dazu kamen in den aktuellen Streitigkeiten auch noch Koalitionsversuche der Jansenisten mit der Feudalschicht und umgekehrt Appellationen ihrer Gegner an Rom, was dort – als Gegengewicht gegen gallikanische Tendenzen – wiederum nicht ungern gesehen wurde.

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Auch aus diesem Kontext erklärt sich die Unmöglichkeit, durch Distinktionen auf dem schmalen Grade zwischen anerkannter Rechtgläubigkeit und Zensur zu wandeln. Die subtilen Unterscheidungsversuche eines rechtgläubigen, durchaus zu haltenden, und eines abzulehnenden, häretischen Sinns der Sätze des Jansenius durch Arnauld schlugen nicht durch ; und auch die Unterscheidung der quaestio facti und der quaestio iuris – die Sätze sind faktisch nicht im Augustinus enthalten, aber sie sind in einem häretischen Sinne abzulehnen – brachte keine Basis für eine Verständigung (obwohl der Sachverhalt sich historisch so verhält, daß der exakte Wortlaut nicht bei Jansenius gefunden worden ist). So blieben für Arnauld die Verteidigungsmöglichkeiten nach der Zensur durch die Sorbonne 1656 gering, zumal die Streitigkeiten anscheinend die breitere Öffentlichkeit nicht interessierten. Pascal wird eher zufällig in den Streit hineingezogen. Arnauld wurde von seinen Freunden in Port-Royal zur Stellungnahme gegen seine Verurteilung aufgefordert, sein Entwurf aber nicht für gut befunden. Er sagte daraufhin nach einem späteren Bericht von Pascals Nichte Marguerite Périer : »›Ich sehe wohl, daß ihr diese Schrift schlecht findet, und ich glaube, ihr habt recht‹ ; dann sagte er zu Herrn Pascal : ›Aber ihr seid jung ; ihr könntet etwas machen.‹ Herr Pascal machte den ersten Brief und las ihn ihnen vor. M. Arnauld rief aus : ›Das ist ausgezeichnet ; das wird einschlagen ; man muß es drucken lassen.‹ Man tat dies und es hatte den bekannten Erfolg.«45 Das Mittel der Lettres Provinciales, die diesen Konfl ikt in der Öffentlichkeit austrugen, ist einfach : die Lächerlichkeit : »Der Unterschied, der zwischen ihnen und uns besteht, ist so subtil, daß wir ihn selber kaum angeben können«, sagt der Gesprächspartner im 1. Brief 46, und der Sache nach kann der Leser mitnehmen, daß es nur um einen fl atus vocis, ein Wort45

OC 1 (Mesnar d), S. 1126.

Pascal : Briefe in die Provinz : Les Provinciales. Heidelberg 1990 (Werke. 3), S. 11. 46

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geklingel geht, worin sich Ketzerei und Orthodoxie unterscheiden sollen, während die Sachdifferenzen eigentlich quer durch die Parteien verlaufen. Vom fünften Brief an wird das Thema gewechselt. Es geht nun um die kasuistische Moraltheologie der Jesuiten, deren Laxismus angeprangert und als politisches Mittel hingestellt wird. Die Beispiele reichen von der akkomodistischen Missionspraxis der Jesuiten bis zu pikanten Auslegungsfragen etwa folgenden Stils : »Wenn auch auf die Frage, ob die Reichen verpfl ichtet sind, von ihrem Überfluß Almosen zu geben, die bejahende Antwort richtig sein mag, so wird es doch fast nie vorkommen, daß sie in der Praxis Verpfl ichtungen auferlegt.«47 Man muß nur die Regeln kennen, nach denen Gewissensfälle zu interpretieren sind ! Kennt man sie, dann kann man auch folgende Frage beantworten : »Die Päpste haben die Mönche, die ihre Kutte ablegen, exkommuniziert. Unsere vierundzwanzig Ältesten stellen aber trotzdem, tr. VI ex. 7 n. 103, die Frage : Unter welchen Umständen darf ein Mönch die Kutte ablegen, ohne sich deswegen die Exkommunikation zuzuziehen ? Es werden mehrere aufgezählt, unter anderem der folgende : Wenn er sie aus irgendeinem schimpflichen Grund ablegt, etwa um zu stehlen oder unerkannt ein Freudenhaus zu besuchen, sie aber hinterher wieder anlegen wird. … Aber wie kommt es denn, Pater, daß man gerade in solche Fällen von der Ex kommunikation absehen will ? – Das verstehen Sie nicht ? fragte er zurück. Begreifen Sie denn nicht, welches Ärgernis es wäre, wenn ein Mönch, der bei einer solchen Gelegenheit ertappt wird, sein geistliches Gewand tragen würde ?«48 Der Aufwand der Argumentation – durch die quasi-wissenschaftlichen Stellenbelege ironisiert – steht in keinem Verhältnis zu dem einfach zu durchschauenden moralischen Skandal. Darin liegt die Wirkung solcher Stellen. Vom elften Brief an werden die Jesuiten direkt angesprochen. In den beiden letzten wird schneidend mit Pater Annat, 47 48

6. Brief, a. a. O., S. 97. 6. Brief, a. a. O., S. 98 f.

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dem Beichtvater des Königs, abgerechnet. Ein neunzehnter Brief wurde noch begonnen, aber nicht mehr vollendet. Die Brieffolge bricht ab – wieder ein Fragment. Warum bricht sie ab ? Der öffentliche Erfolg war umwerfend, die Gefahr gerade dadurch freilich sehr groß. Und die Heftigkeit dieser Auseinandersetzung hatte auch Gegner im Kloster selbst. Ferner machte die erneute Verurteilung der »fünf Sätze« durch Alexander VII . in sensu ab eodem Cornelio Iansenio intento 49 die bisherige Verteidigungslinie in dieser Frage schwer. Der siebzehnte Brief hatte diese Frage – quaestio facti / iuris – noch einmal aufgenommen : »Man muß es daher aller Welt verkünden : Nach ihrem eigenen Zeugnis ist die wirksame Gnade nicht verurteilt worden, und niemand hält an jenen Irrlehren fest. So wird man wissen, daß die, die sich weigern, das zu unterschreiben, was Sie von ihnen unterschrieben haben wollen, es nur deshalb tun, weil der Tatbestand nicht geklärt ist ; und daraus folgt, daß sie, da sie ja zur Unterzeichnung des Glaubensartikels bereit sind, wegen dieser Weigerung keine Häretiker sein können. Denn es ist zwar de fi de, daß die fünf Sätze häretisch sind, jedoch wird es niemals de fi de sein, daß Jansenius sie vertritt.«50 Die Wirkung der Provinciales ist vielschichtig. In der französischen Literatur- und Sprachgeschichte stellen sie ein Meisterwerk dar, aber auch ihre kirchengeschichtliche Wirkung ist beträchtlich : Die Spitzenthesen der laxistischen Moraltheologie werden verurteilt (Alexander VII . : DH 2021 – 2065, Innozenz XI . : DH 2101 – 2167), auch wenn dies sicher weitere Gründe hat und nicht monokausal auf Pascals Polemik zurückgeführt werden kann. Die Folgeschäden für den Jesuitenorden sind sicher ebenfalls nicht gering. Die Zuspitzung eines innerkirchlichen Streits konnte letztlich im Interesse keiner der Parteien liegen. Es gibt aber einen anderen inneren Grund, der Pascal zu anderen Aufgaben zog. 49

DH 2012.

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17. Brief, a. a. O., S. 381.

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Mitten in der Auseinandersetzung der Jesuitenbriefe wurde Pascals Nichte Marguerite Périer in Port-Royal vor einem ausgestellten Dornenkronenreliquiar von einer eitrigen Fistel geheilt. Das »Wunder des Heiligen Dorns« erschütterte Blaise Pascal stark : »Da Gott keine Familie glücklicher gemacht hat, möge er auch bewirken, daß er keine dankbarere fi ndet.«51 Das Wunder ist der eigentliche Auslöser für die geplante Apologie der christlichen Religion, zugleich eine Beglaubigung der jansenistischen Sache. Blaise wandte sich in dieser Zeit dem Projekt einer Verteidigung der christlichen Religion zu. Es ist von verschiedener Seite (etwa durch Maurice Blondel) betont worden, daß schon das Programm einer Apologie als solches völlig unjansenistisch sei.52 Und Léon Blanchet 53 hat anläßlich einer Studie über die Haltung der Jesuiten und die Quellen des sogenannten Fragments der »Wette« zu zeigen versucht, daß Pascal hier seinen Gegnern folgt, nur inkonsequenter als diese. Die »Wette« sei daher nur von fideistischem Dogmatismus und abergläubischem Formalismus zu befreien. Dies ist in beiden Fällen eine systematische Deutung aus einer vorausgesetzten Kenntnis dessen, was »Jansenismus« zu sein hat. Historisch muß man zunächst sehen, daß die Absicht der Apologie gerade da entsteht, wo die jansenistische Sache gefährdet ist und Pascal sich mit ihr intensiv identifiziert. Auch nach dem Abbrechen der Lettres Provinciales geht der Streit um die Gnadenlehre wie auch um den Laxismus an anderen Fronten weiter. Die im allgemeinen in der Pascal-Literatur zu wenig zur Kenntnis genommenen und jetzt auch erstmals ins Laf. 922. Maurice Blondel : Jansénisme et antijansénisme de Pascal. In : Ders. : Dialogues avec les philosophes. Paris : Aubier, 1966, S. 91 – 126, hier 113. 53 Léon Blanchet : L’attitude religieuse des Jésuites et les sources du pari de Pascal. In : Revue de métaphysique et de morale 26 (1919), S. 477– 516, 617– 647. 51

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Deutsche übersetzten »Schriften über die Gnade«54 zeugen davon, wie auch Pascals Beteiligung an weiteren kirchlichen Stellungnahmen in der Auseinandersetzung.55 Daß sich Pascal 1658 nochmals sehr »weltlichen« Dingen zuwandte mit der Publikation seiner Schriften über die Zykloide – für die Beantwortung des von ihm gelösten Problems organisiert er einen Wettbewerb und publiziert diverse Rundschreiben –, paßt ebenfalls in kein stilisiertes Bild, zumal er auch hier als heftiger Polemiker seine Entdeckungen ver teidigt.56 Was aber wußten die Bekannten Pascals vom Projekt der Apologie ? Grundgedanken sind schon in dem »Gespräch mit Herrn de Sacy über Epiktet und Montaigne« enthalten, das auf 1655 anzusetzen ist. Während der Arbeit an dem Projekt hatte Blaise Pascal im Herbst 1658 dazu einen Vortrag in Port-Royal Auch wenn sie vor den Provinciales begonnen wurden (Mesnard : 1655/56 ; Le Guern : 1656/57), zieht sich die Arbeit daran wohl länger hin und wird schließlich wohl zugunsten der geplanten Apologie aufgegeben. Auf die Spannung beider Projekte hat Le Guern OC 2, S. 1215 hingewiesen. 55 Vgl. die Dokumente in der Ausgabe der Provinciales von K. A. Ot t : Pascal : Briefe in die Provinz. Heidelberg 1990 (Werke. 3) 56 »In dieser ganzen Angelegenheit … zeigt Pascal wie immer eine große Selbstsicherheit und eine schneidende Art gegenüber denen, die sich geirrt haben. Er zeigt sich mangelhaft unterrichtet über gewisse ausländische Wissenschaftler, aber sofort bereit, seinen eigenen Schülern Anerkennung widerfahren zu lassen. Es wäre nur zu wünschen gewesen, daß er seine eigene Überlegenheit in bisweilen weniger verletzender Form hätte hervortreten lassen«, schreibt der ihm wohlgesonnene Jean Steinmann : Pascal. Stuttgart 1954, S. 202. – Eine grundlegende Interpretation auch der »existentiellen« Seite der mathematischen Beschäftigung bietet Dominique Descotes : Blaise Pascal. Littérature et géometrie. Clermont-Ferrand : Presses Universitaires Blaise Pascal, 2001 (»l’œuvre mathématique de Pascal est une méditation en acte sur la personne et l’activité du savant, tel du moins qu’il peut se représenter à lui-même dans ce milieu du XVII e siècle«, S. 13). 54

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gehalten.57 Ein nicht ganz zuverlässiger, da aus Kenntnis des Nachlasses geschriebener späterer Bericht von Filleau de la Chaise 58 zeichnet dessen Grundlinien. Filleau de la Chaise bestimmt zunächst Pascals Absicht : »Er wollte die Menschen an ihr Herz erinnern und sie damit beginnen lassen, sich selbst besser zu erkennen.« »Es ist unbestreitbar, daß man nicht so sehr daran denken darf, Gott zu beweisen, als Gott spüren zu lassen, und daß letzteres zugleich die nützlichste und im Ganzen die leichteste Methode ist. Und um ihn spüren zu lassen, muß man ihn in den Gefühlen suchen, die noch in uns vorhanden sind und die uns von der Größe unserer ursprünglichen Natur verbleiben. Denn wenn Gott uns seine Spuren in allen seinen Werken hinterlassen hat, woran man nicht zweifeln kann, werden wir sie viel eher in uns selbst fi nden als in den äußeren Dingen, die nicht zu uns sprechen und von denen wir bloß eine seichte Oberfläche erblicken, da wir auf immer von der Erkenntnis ihres Grundes und Wesens ausgeschlossen sind. Und wenn es undenkbar ist, daß er in seine Geschöpfe das nicht eingeprägt habe, was sie ihm für das Sein, das er ihnen geschenkt hat, schulden, wird der Mensch diese wichtige Lehre viel eher im eigenen Herzen fi nden als in den leblosen Dingen, die den Willen Gottes nur unbewußt erfüllen und für die das Sein sich nicht vom Nichts unterscheidet.« Dem Bericht nach wird am Anfang ein Bild des Menschen gezeichnet, das seine Niedrigkeit (Einbildung , Eitelkeit, Langeweile, Stolz, Eigenliebe, Verirrung der Heiden, Verblendung der Atheisten stehen als Stichworte) wie seine Größe zeigt (Suche des Vgl. die Fragmente mit der Kennzeichnung »A. P. R.«, was im allgemeinen als »à Port-Royal« gedeutet wird : Pensées I , 11, Laf. 148 ff. 58 Gilberte erwähnt den Autor als »Freund von ihm« in der Lebensbeschreibung. Der Text des Discours sur les »Pensées« de M. Pascal, où l’on essaie de faire voir quel était son dessein fi ndet sich z. B. in OC 2 (Le Guern), S. 1052– 1082, die folgenden Übersetzungen stammen von A. R. 57

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wahren Gutes, Erfahrung seines Elends, Liebe zur Wahrheit). Der Mensch ist eine widersprüchliche »Schimäre«.59 Der nächste Schritt ist eine Suchbewegung in Richtung der Philosophen und Religionen. Sie führt zur Begegnung mit dem jüdischen Volk, das sich in so vieler Hinsicht auszeichnet, vor allem aber durch die Bibel. Sie ist »das einzige Buch der Welt, wo die Natur des Menschen vollkommen gezeichnet ist in ihrer Größe und ihrem Elend«, zugleich aber »das einzige auf der Welt, das würdig vom höchsten Sein gesprochen hat«. Ihr Zentrum ist die Liebe : »Welche andere Religion als die christliche hat je in diese Liebe die Mitte ihres Kultes gelegt ?« Die Bibel zeigt zugleich die Ohnmacht und die Heilmittel. Den Weg zu Jesus Christus zeigen Wunder und Prophetien, aber eben auch die eigene Strahlkraft Jesu, ein Gedanke, den Filleau de la Chaise deutlich hervorhebt, obwohl der auffälligere Teil der Argumentation ja die eigentümlich historisierende Deutung des Zusammenhangs der Zeugen von der Schöpfung an und der Beweis aus den Prophezeiungen ist. Der wesentliche Teil dieser Apologie ist nach dem Bericht Filleau de la Chaises diese Deutung der Heiligen Schrift, die als Schlüssel für die menschliche Existenz (Schöpfung und Fall) und Heilmittel für sie (Christologie) dargestellt wird. Vergleicht man den Bericht Filleaus mit dem Entretien avec M. de Sacy, so ist er literarisch viel weniger mitreißend. Das liegt sicher an dem jeweiligen Bezug zum Original, aber auch an der Tatsache, daß das unmittelbar Packende bei Pascal für uns nach wie vor die Anthropologie ist, die im Entretien im Vordergrund steht (wenn auch wiederum in einem theologiZum anthropologischen Gehalt der Pensées vgl. etwa Ulrich K irsch : Blaise Pascals »Pensées« (1656– 1662). Systematische »Gedanken« über Tod, Vergänglichkeit und Glück. Freiburg i. Br. 1989 (Symposion. 88). Eine eindrucksvolle systematische Interpretation bietet Heinrich Rombach : Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft. Bd. 2. Freiburg i. Br. 1966, S. 99 – 297. 59

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schen Kontext), während die Schriftauslegung schon durch ihre vorkritischen Voraussetzungen nur schwer zugänglich ist – leichter höchstens in ihrem »mystischen« Teil und in ihrer hermeneutischen Grundausrichtung, wenn man diese transponiert (vgl. : »Alles, was sich nicht auf die Liebe bezieht, ist Bild«, Laf. 270). Als eine Abkehr von der »jansenistischen« Position wird man die Apologie jedenfalls in der Intention Pascals nicht deuten können. Ein Bruch oder jedenfalls ein Streit mit Port-Royal fi ndet erst 1661 statt – aber Pascal bezieht dabei eine strengere, sozusagen »jansenistischere« Position als Port-Royal, indem er nun nach der päpstlichen Identifizierung die Trennung von quaestio facti und iuris für erledigt hält ; damit allerdings auch die Verurteilung für falsch : »Zunächst muß man wissen, daß es für die sachliche Wahrheit keinen Unterschied ergibt, wenn man die Lehre des Jansenius auf Grund der fünf Lehrsätze verurteilt und wenn man die wirksame Gnade, Sankt Augustinus und Sankt Paulus verurteilt :«60 Eine Unterschrift unter das Formular, wie sie die Theologen Port-Royals leisten wollen, hält Pascal daher für menschlich und theologisch nicht vollziehbar. Pascal zieht sich aus diesem Streit zurück. Er hat nur noch wenige Monate zu leben. Ganz befriedigende Deutungen dieser Zusammenhänge gibt es nicht. Klar ist durch das Zeugnis seines Beichtvaters – um das es später noch Streit geben sollte –, daß er im Frieden mit der Kirche leben und sterben will. Die letzten Monate schwerer Krankheit nimmt er in Ergebenheit und in Solidarität mit Kranken und Armen auf sich.61 Pascal stirbt am 19. August 1662 im Alter von 39 Jahren. »Denkschrift über die Unterzeichnung des Formulars« (1661) : OC (Lafuma), S. 368 (Übersetzung U. Kunzmann). 61 Vgl. A. R affelt : Konfl ikt und Communio. Blaise Pascal zwischen der Liebe zur Wahrheit und dem Band der Kircheneinheit. In : Günter Biemer … (Hrsg.) : Gemeinsam Kirche sein. Theorie und Praxis der Communio. Freiburg i. Br., 1992, S. 189 – 206. 60

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2. Der literarische Nachlaß Zu Lebzeiten Pascals waren nur der Essai pour les coniques (1640, 1 S.), eine Widmungsschrift über die Rechenmaschine an den Kanzler (1645, 8 S.), drei kleinere physikalische Schriften über den Luftdruck und das Vakuum (1647– 1651, zusammen 62 S.) und die Texte zum Problem der Zykloide (1658/59, zusammen mit den entsprechenden anonymen Rundschreiben zu dem Wettbewerb zur Lösung dieses Problems ca. 175 S.) gedruckt worden ; dazu kamen die anonymen Lettres provinciales und einige dazugehörige anonyme Texte.62 Diese wenigen Texte, bzw. nur ein Teil derselben, da andere ja durch die Anonymität nicht zuordenbar waren, sind aber für das hohe Renommee des Autors als Wissenschaftler ausreichend gewesen. Es ist bemerkenswert, daß keine der hier publizierten Schriften dazugehört und daß ihre Einordnung in den Lebensweg Blaise Pascals nur in wenigen Fällen ganz klar ist (etwa bei der geplanten Abhandlung über die Leere und ihrem Vorwortfragment). Die Einordnung der kleineren Schriften, die dieser Band enthält, wird unten unter Punkt 5 erfolgen. Für die Erben dürfte sich aber die Erwartung vor allem auf die Texte zum Projekt der Apologie gerichtet haben, über das man ja in großen Zügen informiert war. Die Enttäuschung angesichts des fragmentarischen Zustands des diesbezüglichen Nachlasses dürfte groß gewesen sein. Die Philologie der letzten Jahrzehnte setzt uns instand, den Nachlaß in seiner vorgefundenen Form anzusehen. In dieser Bewahrung liegt eine der ganz wesentlichen Leistungen der Familie Périer und der anderen damit betrauten Personen.63

Übersicht bei J. Mesnar d, in : Grundriss der Geschichte der Philosophie, a. a. O., S. 529 f. 63 Vgl. bes. die Pensées-Ausgaben von Ph. Sellier und M. Le Guern (Literatur unter 1.), mit geringen Einschränkungen aber auch die Lafuma-Ausgabe. 62

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Der Nachlaß Pascals enthält mehr als das, was Filleau de la Chaise in seinem Discours mitteilt, z. B. unter anderem das auffällige und vieldiskutierte Fragment der »Wette«, aber auch spirituelle Texte (Mystère de Jésus u. a.). Schließlich sind auch Notizen zu anderen Zusammenhängen (z. B. dem genanten »Wunder«) im Kontext der Pensées überliefert worden. Die sachlichen Probleme, diesen skizzenhaften Nachlaß zu ordnen und zu edieren, waren den Erben sofort klar. Bemerkenswert ist ihre Sorgfalt, mit der sie zunächst durch Kopien das Überlieferte sicherten und so die spätere philologische Rekonstruktion ermöglichen. Die Erstausgabe von 1670 mußte zudem vielfältige Rücksichten nehmen, um nicht die Streitigkeiten um Port-Royal in einer Zeit des Kirchenfriedens erneut zu schüren. Bei aller späteren Kritik bleibt diese Edition der Pensées eine geistesgeschichtlich große Leistung.64 Nach der Veröffentlichung der Pensées ist das publizierte Pascalsche Werk-Corpus über die nächsten dreihundert Jahre ständig gewachsen : durch Hinzufügung zurückgehaltener Fragmente zu den Pensées selbst ; durch Ergänzung dieser durch andere Texte, die nicht zur Apologie gehören (z. B. das Mémorial in eher denunziatorischer Absicht als »Amulett« durch Antoine Nicolas de Condorcet [1743 – 1794] in seiner Ausgabe 1776) ; durch Neuentdeckungen in den verschiedenen Quellenüberlieferungen. Die Entdeckung des Originalberichts über das Gespräch mit Herrn de Sacy erst Ende des 20. Jahrhunderts durch Pascale Thouvenin ist ein Beispiel dafür, daß immer noch Überraschungen möglich sind. Dabei ist die PascalPhilologie seit dem Hinweis Victor Cousins auf die Originalmanuskripte und Prosper Faugères kritischen Editionen im 19. Jahrhundert ein Ruhmesblatt französischer Geisteswissenschaft. Die historisch-kritische Herausgabe dieses Materials im Laufe der letzten gut anderthalb Jahrhunderte ist geradezu Vgl. dazu meine Rezension von Les Pensées de Pascal. Editées par Francis K aplan. Paris : Cerf 1982. 705 S. In : Theologie und Philosophie 60 (1985), S. 445 – 450. 64

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ein Musterstück an oftmals fast kriminalistischem Scharfsinn, wozu die – leider noch nicht abgeschlossene – Gesamtausgabe durch Jean Mesnard Außergewöhnliches beigetragen hat. Doch trotz der Skizzenhaftigkeit des Ganzen erreicht Pascal eine außerordentliche Eindrücklichkeit und demonstriert in diesen Entwürfen eine ungewöhnliche geistige Kraft. Nicht ohne Grund haben sich Kritiker des Christentums – von Voltaire 65 bis Nietzsche und Valéry – daran gerieben und konnte ein Philosoph wie Karl Löwith schreiben, es sei auch heute noch die einzige Apologie des Christentums »die sich einem denkerischen Anspruch stellen kann«66. Eben das muß gegen alle literarischen Konventionen im Umgang mit Fragmenten auch den Erben deutlich gewesen sein.

3. Das Ganze im Fragment Pascals Werk steht unter dem Gesetz des Fragmentarischen. Dies läßt sich an den verschiedenen Arbeitsbereichen Pascals aufzeigen. Viele Werke sind unvollendet, der theologische Streit führt in ein sachliches Dilemma, die Apologie ist das Fragment par excellence, geradezu die Einführung des Fragments in die Weltliteratur. – Gibt es einen inneren Sinn dieses Fragmenthaften ? Der marxistische Literaturhistoriker Lucien Goldmann beantwortet diese Frage radikal. Für ihn ist die Form des Fragments notwendig bei einem Werk, das Ausdruck tragischer Weltanschauung ist. Darunter versteht er eine WeltanschauVgl. meinen Versuch »Ich wage es, die Partei der Menschheit zu ergreifen …«. Das Got tesbild der Aufklä rung. Voltaire kritisiert Pascal. In : Jürgen Hoeren / Michael K essler (Hrsg.) : Gottesbilder. Stuttgart 1988. S. 87– 107. 66 Karl Löwith : Voltaires Bemerkungen zu Pascals Pensées. In : Ders. : Mensch und Menschenwelt. Stuttgart 1981 (Sämtliche Schriften. 1), S. 426 – 449, hier S. 426. 65

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ung, die zur paradoxen Bejahung von Unvereinbarem – absolute Notwendigkeit von Werten und Unmöglichkeit, sie zu erreichen – führt : »Wir sind unfähig, uns nicht nach Wahrheit und Glück zu sehnen, und wir sind der Gewißheit wie des Glücks unfähig.« (Laf. 401), sagt Pascal, und Goldmann kommentiert : »Für ein tragisches Werk gibt es nur eine einzige Form gültiger Ordnung : das Fragment. Es ist eine Suche nach Ordnung, aber eine erfolglose, es wird ihr nicht gelingen, sich der Ordnung zu nähern.«67 Die verführerische These Goldmanns – die allerdings in seinem Buch schon für die zweite behandelte Person, Racine, nicht gilt – wäre natürlich auch für Pascal hinfällig, wenn man zeigen könnte, daß sein Denken und vor allem die Pensées in ihrer dialektischen Verschränkung doch auf eine Synthese, eine wahre Mitte, zulaufen, nämlich in der Person Jesu Christi. Dies ist der Fall, und die »tragische« Hypothese bleibt deshalb für ein historisches Verständnis von Pascals Denken unzureichend. Jean Mesnard hat die Fragestellung philologisch exakter weitergeführt 68 und darauf hingewiesen, daß alle Werke Pascals, auch die wissenschaftlichen, »in irgendeiner Form fragmentarisch« sind. Er hat dies sozusagen technisch durch die Gestaltungsmethode Pascals – aus Gedankenkernen seine Ausführungen zu entwickeln – erklärt, von kurzen Fragmenten zu größeren Ausarbeitungen fortzuschreiten ; daneben hat er den Stil Pascals in diesem Rahmen nochmals auf die Gegenüberstellung von demonstrativem und »feinsinnigem« Reden im Vgl. Lucien Goldmann : Le Dieu caché. Étude sur la vision tragique dans les »Pensées« de Pascal et dans le théâtre de Racine. [1955. Reprint :] Paris : Gallimard, 1988 (Collection tel. 11), S. 220 ; dt. : Der verborgene Gott : Studie über die tragische Weltanschauung in den Pensées Pascals und im Theater Racines. Neuwied 1973 (Soziologische Texte. 87) bzw. Frankfurt a. M. 1985 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. 491), S. 296. 68 J. Mesnar d : Pourquoi les Pensées de Pascal se présentent-elles sous forme de fragments ? In : Ders. : La culture du XVII e siècle. Paris : PUF, 1992, S. 363 – 370. 67

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Sinne der »Ordnung des Herzens« bezogen, die diejenige der Poesie wie der Mystik ist. Man könnte auch im Lebensstil Pascals eine ähnliche Struktur fi nden, die ihre Aufhebung in der Heiligkeit fi ndet, womit sich Pascal dem radikalen Augustinismus in seiner Konzentration auf das »einzig Notwendige« nähert69 – wenn er nicht gleichzeitig und bis zuletzt noch der Mathematiker und Unternehmer gewesen wäre. Wir müssen die Spannung also stehen lassen, die Spannung zwischen autonomer Rationalität und ihrer Einbindung in Mystik und traditionelle augustinische Theologie ; die »kleineren Schriften« Pascal zeigen das besonders deutlich. Oder anders : Wir haben – mit einem Buchtitel Hans Urs von Balthasars – das Ganze nur im Fragment.

4. Zum Stand der Pascal-Übersetzung ins Deutsche im Blick auf die »kleineren Schriften« Es genügt also nicht, von einem Punkte aus das Werk Pascals anzugehen.70 Für den deutschsprachigen Leser ist daher zunächst einmal wichtig, daß das ganze Werk Pascals in deutscher Übersetzung vorliegt. 1987 sind die Pensées durch Ulrich Kunzmann in einer Fassung (nach Louis Lafuma) vorgelegt worden, die den Stand dokumentiert, den die französische Pascal-Philologie seit Anfang der 1950er Jahre erreicht hat.71 Vgl. etwa unten die Argumentation Le Maistre de Sacys im Gespräch mit Pascal. 70 – etwa das Mémorial zum Angelpunkt der Interpretation zu machen, vgl. Th. Ruster : Der verwechselbare Gott. Freiburg i. Br. 2000. Vorbildlich dagegen – exakt unter dem Leitgedanken des genannten hermeneutischen Prinzips – Hélène Bouchilloux : Pascal. La force de la raison. Paris : Vrin, 2004. 71 Vgl. dazu auch meinen Aufsatz : Pendent opera interrupta. Zu einer neuen Übersetzung von Pascals »Pensées«, mit Bemerkungen zur Übersetzungsgeschichte und einer Bibliographie der bisherigen Übersetzungen der »Pensées« ins Deut sche. In : Freiburger Zeitschrift 69

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Die von Karl August Ott mit der Übersetzung der Lettres Provinciales begonnene Gesamtausgabe bei Lambert Schneider ist leider durch den Tod des Übersetzers Fragment geblieben,72 hat aber immerhin dieses Werk in einer vorbildlichen Übersetzung präsentiert. Neben den strikt mathematisch-naturwissenschaftlichen Schriften und den Briefen 73 sind daher vor allem die »kleineren Schriften« religiös-philosophischen Inhalts, die seit längerem in keiner deutschen Ausgabe mehr greifbar waren, zugänglich zu machen. Sie sind zwar zum Teil schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts 74 und teilweise bereits mehrfach in deutscher Übersetzung vorgelegt worden –, allerdings in verschiedenen Zusammenstellungen und nach dem heutigen Kenntnisstand keinesfalls vollständig. Diese Lücke sucht die vorliegende Ausgabe zu schließen. Sie basiert auf den bislang zu einem Gutteil nur digital vorliegenden Übersetzungen Ulrich Kunzmanns.75 Erstmals bietet sie in Druckform die Écrits sur la grâce. Auch wenn diese kein Lektürevergnügen darstellen, sind sie doch sicher Pascals theo-

für Philosophie und Theologie 35 (1988), S. 507– 526. Wesentliche Fortschritte gegenüber Lafuma stellen die Ausgaben von Philippe Sellier (1976) und Michel Le Guern ( Taschenbuchausgabe 1977, Neuauflage 1995 mit umfassenden Nachweisen benutzter Quellen, jetzt OC 2 [Le Guern]) dar. Leider ist die angekündigte Ausgabe von J. Mesnar d (OC ) noch nicht erschienen. Vgl. Selliers neuere Ausgaben : B. Pascal : Pensées. Édition établie d’après la Copie de référence de Gilberte Pascal. Paris : Garnier, 1991 und B. Pascal : Les provinciales. Pensées [et opuscules divers ]. Éd. par Gérard Ferreyrolles et Philippe Sellier. Paris : Le livre de poche, 2004 (La Pochothèque). 72 Pascal : Briefe in die Provinz : Les Provinciales. Heidelberg : L. Schneider, 1990 (Werke. 3). Vgl. dazu meine Rezension in : Theologie und Philosophie 67 (1992), S. 602– 605. 73 Vgl. die Übersetzung von Wolfgang Rüt tenauer : Briefe des Blaise Pascal. Leipzig : Hegner, 1935. 74 Genauere bibliographische Angaben siehe im Verzeichnis der Literatur unter 3. und 4. 75 Vgl. Pascal im Kontext (s. oben Anm. 8).

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logisch gewichtigste – und problematischste – Schrift. Für die Freiheitsproblematik bleibt die dahinterstehende frühneuzeitliche Gnadendiskussion auch philosophisch gewichtig. Ein wesentlicher Unterschied gegenüber allen bisherigen Ausgaben ergibt sich auch beim Gespräch mit Herrn de Sacy über Epiktet und Montaigne. Dank der Identifikation des Originalmanuskripts von Nicolas Fontaine (1625 – 1709),76 dem Sekretär Le Maistre de Sacys, aus dem dieser Text entnommen ist, durch Pascale Thouvenin ist erstmalig der authentische Wortlaut des Berichts über dieses Gespräch auf deutsch zugänglich. Bei einigen anderen Schriften wurden die textkritischen Fortschritte gegenüber der Ausgabe von Louis Lafuma vor allem durch die Editionen Jean Mesnards an wichtigen Stellen in den Anmerkungen dokumentiert. Aufgenommen wurde die Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe, obwohl die Zuschreibung an Pascal kaum noch aufrechterhalten wird. Da sie aber lange unter seinem Namen überliefert wurde – und gelegentlich immer noch wird 77 – und daher zumindest rezeptionsgeschichtlich nicht unwichtig ist, ist sie dieser Ausgabe beigegeben. Die Nichtzuschreibbarkeit wird unten begründet.

5. Zu den einzelnen Schriften Die folgende Übersicht der einzelnen Schriften nennt bei den Schriften Blaise Pascals die Jahre, unter denen sie in der Ausgabe von Jean Mesnard eingeordnet sind. Dies bedeutet nicht, daß der Redaktionsprozeß im angegebenen Jahr in jedem Fall abgeschlossen war (dies gilt etwa für die schwierige Datierung der »Schriften über die Gnade«). In einigen Fällen ist die Datierungsfrage zudem nur hypothetisch zu lösen. 76 77

Vgl. DicPR , S. 414 – 416. Vgl. die Bemerkungen unter 5.

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Das Leben Monsieur Pascals beschrieben von M a dame Périer seiner Schwester, der Fr au von Monsieur Périer, dem R at am Steuer amt von Clermont Die Textgeschichte dieser ursprünglich als Vorwort für die Erstausgabe der Pensées vorgesehenen Schrift 78 ist von Mesnard im ersten Band seiner Gesamtausgabe nachgezeichnet worden.79 Lafuma – dessen Ausgabe hier zugrundeliegt – folgt der späteren Fassung, die nach 1672 liegen muß, wie die Zitation Filleau de la Chaises beweist. Vorrede zur A bhandlung über die Leere (1651) Die fragmentarische Einführung zu dem geplanten Traktat wurde von Charles Bossut (1730 – 1814) 1779 unter dem Titel »De l’autorité en matière de philosophie« erstmals veröffentlicht. Den originalen Titel »Préface. Sur le Traité du Vide« hat erst Prosper Faugère 1844 seiner Edition beigegeben. Der Frage nach den Quellen des Textes ist J. Mesnard mit dem Ergebnis nachgegangen, allein Bacon und Jansenius böten Material von signifi kanter Bedeutung.80 Für Bacon macht er z. B. die Idee, daß das Altertum die Jugend der Menschheit und die Moderne das Alter sei, namhaft, weitere Einzelverweise sind unten genannt. Noch interessanter ist der erstmals von J. Brunschvicg gebrachte Hinweis auf den »Liber Prooemialis« zu Beginn des zweiten Bandes des »Augustinus« von C. Jansenius, wo die Unterscheidung zwischen Philosophie – auf Vernunft gegründet – und Theologie – auf Gedächtnis, Tradition und Autorität gegründet – vorgenommen wird. Mesnard verweist auch auf die Maxime Étienne Pascals nach der unten abgedruckten Lebensbeschreibung durch Gilberte : »… bei Erst der Amsterdamer Ausgabe 1684 wurde eine Version beigegeben. 79 OC 1 (Mesnard), S. 537– 570, dort die erste Version S. 571 – 602 und die zweite S. 603 – 642. 80 Vgl. OC 2 (Mesnar d), S. 776. Die Fußnoten zum Text folgen den Hinweisen von Mesnard. 78

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religiösen Dingen [hat Blaise sich] niemals der Freigeisterei hingegeben, da er seine Wißbegierde stets auf die natürlichen Erscheinungen beschränkt hatte, und er hat mir mehrmals gesagt, daß er diese Verpfl ichtung mit allen anderen verbinde, die er von meinem Vater erhalten hätte, den selbst sehr große Ehrfurcht vor der Religion beseelte und der ihm diese von Kindheit an eingeflößt hätte, indem er ihn als Grundsatz lehrte, daß alles, was Gegenstand des Glaubens sei, kein Gegenstand der Vernunft sein dürfte«. Michel Le Guern 81 hält allerdings eine weitere Schrift für eine gemeinsame Quelle Bacons und Jansenius’, die auch Pascal bekannt war : L’Examen des esprits pour les sciences des spanischen Mediziners Juan Huarte, 1645 ins Französische übersetzt von Charles de Vion Dalibray, einem Freund der Familie Pascal. Le Guern verweist im übrigen noch auf weitere Parallelen in zeitgenössischen Schriften. Die Bedeutung des Textes liegt im wissenschaftstheoretischen Bereich. Die Einordnung der Theologie aus dem Geist eines strengen Augustinismus als »positive Theologie«, auf Schrift und Kirchenväter gegründet, zeigt eine Möglichkeit an, die bis Karl Barth 82 und Martin Heidegger 83 weiterbedacht ist, aber auch Karl Rahners Eingrenzung der »theologia naturalis«84 nicht völlig fern ist. Die »Schriften über die Gnade« zeigen zudem, daß solches Denken durchaus rationale Strenge in der Theologie zuläßt und sogar scholastische und philosophische Methoden.

81

OC 1 (Le Guern), S. 1095.

Vgl. diesen zu Kant in : Karl Barth : Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Zürich [11947] 51985, S. 277 f. 83 Vgl. Martin Heidegger : Phänomenologie und Theologie. Frankfurt a. M. 1971. 84 als bloße »Wiederholung der allgemeinen Ontologie oder Anmaßung dessen, was nur einer theologia Sacrae Scripturae möglich sein kann«. Karl R ahner : Geist in Welt. Freiburg i. Br. 1996 (Sämtliche Werke. 2), S. 287. 82

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Betr achtungen über die Geometrie im allgemeinen – Vom geometrischen Geist und Von der Kunst zu überzeugen (1655) Schon in der »Logik von Port-Royal« (1662) 85 wird die Schrift genannt, die auch Leibniz gekannt hat.86 Vollständig wird sie aber erst von Pierre Nicolas Desmolets 1728 publiziert. Der Titel »Réflexions sur la géométrie en général« für die beiden Fragmente stammt nach Meinung Mesnards 87 von Antoine Arnauld. In der »Logik« und auch bei Leibniz wird diese ( ?) Schrift »De l’esprit géométrique« genannt.88 Brunschvicg hatte in seiner Ausgabe das Werk auf 1658/59 datiert, Mesnard plädiert – wie viele Pascalianer vor Brunschvicg – für 1655. Mesnard stellt zunächst die euklidischen Wurzeln der Schrift fest. In deren Hintergrund steht allerdings die Logik des Aristoteles, in deren Tradition – trotz ihrer Kritik am Syllogismus – auch Pascals Überlegungen zu stellen sind. In dieser Tradition ist er auch Descartes nahe. Spuren des »Discours« und der »Méditations« finden sich an verschiedenen Stellen. Dennoch sind die Absichten beider Denker unterschiedlich. Mesnard hat dies so zusammengefaßt, daß die Logik für Descartes sich nicht von der Metaphysik abtrennt, die Absicht Pascals aber auf ein strenges axiomatisch-deduktives System zielt; zweitens, daß das Interesse Descartes’ vor allem auf die Operation der Entdekkung der Wahrheit geht, während Pascal vor allem die Regeln zum Beweis einer schon gefundenen Wahrheit geben will.89 Vgl. Antoine A rnauld / Pierre Nicole : Die Logik oder die Kunst des Denkens. Darmstadt 21994, S. 9 (1. Abhandlung). 86 Vgl. die Ausgabe mit Kommentar von Jean-Pierre Schobinger : Blaise Pascals Refl exionen über die Geometrie im allgemeinen : »De l’esprit géométrique« und »De l’art de persuader«. Basel 1974, S. 227 f. 87 In : Grundriss der Geschichte der Philosophie, a. a. O., S. 548, ausführlich OC 3 (Mesnar d), S. 362– 365. 88 Ausführlich zur Titelfrage auch J. Schobinger in seiner Ausgabe S. 109 – 111. 89 OC 3 (Mesnar d), S. 378 f. 85

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Bei den Quellen für Pascals Denken verweist Mesnard auf Montaignes De l’Art de conférer 90, vor allem aber auf die Diskussionen der Akademie Mersennes, besonders auf Gilles Personne de Roberval (1602– 1675). Die Schrift ist in Pascals Reflexionen und Auseinandersetzungen im Zusammenhang seiner physikalischen Experimente vorbereitet. In den Pensées, die später anzusetzen sind, gibt es verschiedene Bezüge zu ihr. Pascals fragmentarische Schrift steht in einer Reihe mit den anderen Methodenschriften des 17. Jahrhunderts von Bacon und Descartes bis Geulincx und Spinoza. Sie ist ein Beispiel für eine von den modernen Wissenschaf ten geprägte Methodenreflexion gegenüber der aristotelisch-scholastischen Tradition der Logik. Einen ausführlichen historisch-systematischen Kommentar zu der Abhandlung hat Jean-Pierre Schobinger vorgelegt.91 Auszug aus einem Fr agment zur Einführung in die Geometrie (1655) Das kurze Fragment ist unter den Manuskripten von Leibniz überliefert worden und wurde erstmals 1892 von Carl I. Gerhardt publiziert. Es ist zusammen mit den eben genannten Betrachtungen über die Geometrie im allgemeinen Essais 3, 8, éd. Pierre Villey. Paris 1965, S. 921 – 943 ; dt. Übers. von Hans Stilet t. Über die Gesprächs- und Diskussionskunst. In : M. de Montaigne : Essais. Frankfurt a. M. 1998, S. 462– 475. Im folgenden wird diese Übersetzung herangezogen, da es sich um die einzige moderne Gesamtübersetzung handelt, obwohl sie häufig sehr frei ist und sich vom Original entfernt. Die Übersetzung von Johann Daniel Tietz 1753/54 im Nachdruck : Montaigne : Essais. 3 Bde. Zürich 1992, hat demgegenüber manchmal Vorzüge und enthält etwa auch die originalsprachlichen Zitate Montaignes. 91 A. a. O. – Vgl. auch Michael Cuntz : Der göttliche Autor. Apologie, Prophetie und Simulation in Texten Pascals. Stuttgart 2004 (Zeitschrift für französische Sprache und Literatur. N. F. 3), S. 172– 184 ; und Louis M arin : Une rhétorique »fi n de siècle« : Pascal, de l’art de persuader (1657– 1658 ?). In : Ders. : Pascal et Port-Royal. Paris : PUF, 1997, S. 155 – 168. 90

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zu sehen. Einen Gegensatz dazu sucht Jean Itard 92 herauszuarbeiten, was aber von J. Mesnard bestritten wird.93 Gespr äch mit Herrn de Sacy über Epiktet und Montaigne (1655) Im Fall des Gesprächs mit Herrn de Sacy handelt es sich um keinen »originalen« Pascalschen Text, sondern um das Referat eines Dritten. Der Bericht von Nicolas Fontaine – der bei dem Gespräch nicht anwesend war, also auf Grund von anderen Quellen gearbeitet hat – wird aber nach vorangegangener Publikation der Mémoires Fontaines seit Condorcet (1776) und Charles Bossut (1779) mit dem Werkbestand Pascals ediert und vielfach als dessen selbstverständlicher Bestandteil publiziert.94 Dies wird durch die Qualität dieses Referats gerechtfertigt. Sein Zustandekommen muß aber eigens erklärt werden. Die verschiedenen möglichen Hypothesen hat wiederum Jean Mesnard in seiner Ausgabe dargestellt.95 Sie reichen von einem fi ktiven Gespräch, einer Redaktion aus Materialien des Komplexes der Pensées durch Fontaine bis zu der – plausibelsten – These, daß Pascal die Substanz seiner Ausführungen in dem Gespräch mit de Sacy selbst skizziert hat. Damit hatte Fontaine aus dieser Quelle das Material zur Verfügung und konnte gewissermaßen einen »Originaltext« redigieren. Das behandelte Problem – der Nutzen der profanen Lektüre für den Glauben – ist durchaus »augustinisch«. Von den Confessiones (1, 20 ff.) bis zu De doctrina christiana ließe es sich illustrieren, allerdings mit anderer Tendenz, wie ja auch die Einwände de Sacys zeigen. Die Originalität der Pascalschen Jean Itar d : L’introduction à la géométrie de Pascal. In : L’œuvre scientifi que de Pascal. Paris : PUF, 1964, S. 102– 119. 93 Vgl. OC 2 (Mesnar d), S. 432. 94 So etwa in Hans Urs von Balth asars Übersetzung mit der falschen Angabe, daß Fontaine dieses »Gespräch offenbar sogleich aufgezeichnet« habe (S. 11). 95 OC 3 (Mesnar d), S. 112– 116. 92

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Lösung der Frage liegt im »medizinalen« und pädagogischen Charakter dieser Lektüren (Mesnard). Inhaltlich ist der Text eine wesentlich Vorstufe zum Gesamtkomplex der Apologie, die das Schema »Größe und Niedrigkeit des Menschen« wieder aufnehmen wird (vgl. in diese Richtung vor allem die Interpretation Gouhiers 96). Die Abtrennung des Textes erfolgt hier unter Übernahme eines Stückes des Rahmentextes zu de Sacy, wie dies auch in den neueren französischen Einzeleditionen geschieht (P. Mengotti-Thouvenin / J. Mesnard ; M. Le Guern ; R. Scholar). Die Gesamtausgabe der Mémoires von Fontaine durch Frau Thouvenin – die ja den Gesamttext enthält – teilt die Passage enger ab. Die Textfassung dieser Übersetzung beruht erstmals auf dem erst 1994 von Pascale Thouvenin publizierten Text nach dem Original der Mémoires des Nicolas Fontaine.97 Kurze Beschreibung des Lebens Jesu Christi (1655) Der Text wurde erstmals 1846 von Prosper Faugère veröffentlicht. Es handelt sich um eine Evangelienharmonie, die besonders im theologisch gewichtigen Vorwort auch aus paulinischen Briefen und dem Glaubensbekenntnis Material entnimmt. Als Hauptquelle ist allerdings die Series vitae Christi juxta ordinem temporum aus des Cornelius Jansenius Tetrateuchus sive commentarius in sanctae Christi evangelia (1639 u. ö.) anzusehen. Die patristischen Belege stammen hierher. DenDer Einwand von Mesnard OC 3, S. 117 f. ist insofern stimmig, als der Entretien noch nicht zur Apologie gehört. Er bereitet diese aber gedanklich zweifellos vor. 97 Die wesentlichen Verbesserungen dieser Textfassung gegenüber der älteren Überlieferung fi ndet der philologisch Interessierte im Appendix »Sur quelques leçons remarquables du manuscrit original«. In : B. Pascal : Entretien avec M. de Sacy. Original inédit présenté par Pascale Mengot ti-Thou venin et Jean Mesnar d. Paris : Desclée De Brouwer, 1994, S. 133 – 141. Die Gesamtausgabe der Mémoires in der Originalfassung erschien 2001. 96

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noch ist Pascals Schrift keine bloße Übersetzung. Während Jansenius eher einen Schlüssel zur Evangelienlektüre liefert und sich auf die Fakten beschränkt, bezieht Pascal auch Redetexte ein (wenn auch etwa die Bergpredigt nur hinweisend : Nr. 51), wobei aber zu beachten ist, daß auch dieses Werk Pascals keinen fertig redigierten Text bietet. Die Interpretation müßte gewichten, inwieweit Abweichungen von Jansenius hermeneutische Winke sind (etwa Nr. 32 a zur Reich-Gottes-Predigt : »Inbegriff seiner Predigt und der des Johannes« gegenüber Jansenius : »Utitur eadem formula ut confi rmaret praedicationem Joannis …«), inwieweit der patristischen Auslegung entnommene Theologoumena (z. B. die Versöhnung von Heiden und Juden Nr. 246) in diesem Zusammenhang originell sind usw. Die eigentliche Originalität des Textes liegt aber in seinem eher spirituellen als historisch-kritischen Charakter, wobei zu beachten ist, daß Pascals Bibelher meneutik vor der historisch-kritischen Wende der Bibelexegese liegt, die im katholischen Raum nach seiner Lebenszeit mit den Arbeiten des Richard Simon (1638– 1712) begann. Der Text ist als Meditationstext zu vergleichen mit Pascals Mysterium Jesu (Laf. 919).98 Es wurde darauf verzichtet, die einzelnen biblischen Belege zu jeder Nummer anzugeben. Gegebenenfalls sind sie mit Benutzung einer Evangelien-Synopse zusammenzustellen 99 oder aus der Ausgabe von Le Guern (OC 2, S. 1125 ff.) zu entnehmen. Dort und in der Edition von Mesnard (OC 3, S. 248 ff.) sind Abhängigkeit, Ergänzungen und Originalität Pascals exakt dokumentiert.100 Vgl. zum Text auch Jean Lhermet : Pascal et la Bible. Paris : Vrin, 1931, S. 112– 119. 99 Vgl. Kurt A land (Hrsg.) : Synopse der vier Evangelien. Auf der Grundlage des Novum Testamentum Graece von Nestle-Aland, 26. Aufl. u. des Greek New Testament, 3. Edition, sowie der Lutherbibel, revidierter Text 1984, u. der Einheitsübersetzung 1979. Stuttgart 1989. 100 Vgl. zum Text auch Michael Cuntz : Der göttliche Autor. Apologie, Prophetie und Simulation in Texten Pascals. Stuttgart 2004, S. 62– 65. 98

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Schriften über die Gna de (1656) Die hier erstmals auf deutsch gedruckten 101 Schriften über die Gnade können durchaus als ein zentrales Stück des Pascalschen Werks angesehen werden, sind aber vom Textzustand her äußerst komplex. Den genetischen Prozeß dokumentiert Jean Mesnard in seiner Ausgabe,102 während Lafuma – dem wir hier folgen – den erstmals in der Ausgabe von Jacques Chevalier (OC ) zusammengestellten »Lesetext« bietet. In der Ausgabe von Le Guern (OC 2) sind die 15 Fragmente einander nicht zugeordnet. Im Text von Chevalier-Lafuma sind aber die einzelnen Fragmente durch größere Absätze kenntlich gemacht. Einzelne Probleme sind in den Anmerkungen genannt. Die Datierung ist schwierig. Nach Mesnard ist der Text Ende 1655/56, nach Le Guern 1656/57 geschrieben bzw. begonnen. Er läge insoweit vor der Abfassung der Provinciales und zeigt eine erstaunliche theologische Kenntnis wie ein scholastisches Differenzierungsvermögen, das sich freilich völlig in den Dienst der Verteidigung der augustinischen Position in der Interpretation des Jansenius und verwandter Theologen stellt. Die Argumentation des theologischen Werkes ist durchaus »philosophisch« und rational. Pascal sucht seine Position aus dem Ungenügen der entgegenstehenden Positionen aufzuweisen und bedient sich damit eines Verfahrens, das er auch in anderen Schriften anwendet (und auch in der Unterredung mit Herrn de Sacy). Inhaltlich geht es zunächst um das Problem der Prädestination, indem die Positionen des heiligen Augustinus, Jean Calvins und des Jesuiten Louis de Molina verglichen werden, wobei für Pascal die augustinische Position die Mitte zwischen den entgegengesetzten Irrtümern darstellt.103 Die weiteren Sie sind bislang nur in der elektronischen Version zugänglich (vgl. bei den Literaturangaben unter 1. : Pascal im Kontext ). 102 OC 3 (Mesnar d), S. 487– 799, 103 Lexikalisch sind die verschiedenen Lösungen unter dem Stichwort »Gnadensysteme« aufzufi nden, vgl. LThK 2 4, Sp. 1007– 1010 (F. Stegmüller) ; LThK 3 4, Sp. 798– 799 (L. Scheffczyk). 101

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Texte befassen sich mit dem Problem, ob der Gerechtfertigte aus eigenem Vermögen imstande ist, die Gebote Gottes zu erfüllen, mit der augustinischen Antwort, daß dieses Vermögen vom fortdauernden Einfluß der Gnade, also primärursächlich von Gott abhängt. Als theologische Zeugen werden Augustinus und seine Schüler, aber auch Thomas und in einem größeren Interpretationsgang das Trienter Konzil herangezogen. Die ausführliche Dokumentation aus Texten der Kirchenväter beruht weitgehend auf dem Werk Sanctorum Patrum de gratia Christi et libero arbitrio dimicantium Trias, das 1648 unter dem Pseudonym Paul Erynach von dem irischen, in Löwen lehrenden Theologen Jean Sinnich (1603 – 1666) veröffentlicht worden ist, der an der Publikation des Augustinus von Jansenius beteiligt war und diesen auch 1643 – 1645 in Rom verteidigte. Sachlich gesehen, kommen in den Schriften zur Gnade mehrere Motivkomplexe zusammen. Zum einen ist das alte Pascalsche Vorhaben, einer Erläuterung der Position der ›Jansenisten‹ für den ›gesunden Menschenverstand‹, das schon in Pascals Gespräch mit Herrn Rebours – wenn auch unspezifiziert – Gegenstand war, auch jetzt seine Absicht : »Und schließlich werden wir zeigen, wie sehr diese Lehre selbst mit dem gesunden Menschenverstand übereinstimmt.« Als problematische Voraussetzung ist gleich der (in dieser Edition) einleitende Satz zu nennen, der die Voraussetzung faktischer (nicht nur als Möglichkeit gegebener) Verdammnis behauptet und – noch drastischer in anderen Texten formuliert 104 – die Theorie der massa damnata voraussetzt. Anderseits ist die Position außerordentlich ›optimistisch‹ hinsichtlich des Menschen im Urzustand.105 Siehe z. B. den »Vergleich zwischen den Christen der ersten Zeiten und denen von heute« Nr. 13. 105 Zur theologischen Problematik der damaligen Diskussion vgl. vor allem Henri de Lubac : Die Freiheit der Gnade. 1. Bd. : Das Erbe Augustins. Einsiedeln 1971. – Zum Augustinismus Pascals umfassend : 104

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Eine endgültige Ausarbeitung des Textkomplexes ist nicht zustandegekommen. Eine umfassendere Analyse der Texte hat H. Pasqua unternommen.106 Über die Bekehrung des Sünders (1657) Charles Bossut hat den Text 1779 veröffentlicht. Die Verfasserschaft Blaise Pascals ist gelegentlich bestritten worden, da ihn eine alte Kopie Jacqueline Pascal zuschreibt, diese Zuschreibung aber auch selbst wieder relativiert. Jean Mesnard hält sie für »vollständig ungerechtfertigt.«107 Daß Pascal hier seine eigene Erfahrung reflektiert, haben Kommentatoren seit Ernest Havet im 19. Jahrhundert bemerkt.108 Was die Funktion des Textes anbelangt, so nennt Mesnard die Möglichkeit eines frommen Betrachtungstextes für die Freunde von Port-Royal – wie das Gebet zu Gott um den rechten Gebrauch der Krankheiten – oder einer geistlichen Leitung für Personen, die »in der Welt« leben, welche These Mesnard bevorzugt. Auf die Nähe zu manchen Fragmenten der Pensées hat ebenfalls J. Mesnard hingewiesen, dessen Nachweise wir hier verwendet haben. Vergleich zwischen den Christen der ersten Zeiten und denen von heute (1657) Der Text wurde erstmals von Charles Bossut 1779 veröffentlicht. Die Paragraphenzählung ist bei Lafuma gegenüber dem Manuscrit Périer umgestellt. Teilweise anders und mit anderer Zählung bei Mesnard (OC 4, S. 54 – 60). Einige wichtige Textvarianten sind in den

Philippe Sellier : Pascal et saint Augustin. Paris : Colin, 1970. – Taschenbuchausgabe : Paris : Michel, 1995 (Bibliothèque de l’évolution de l’humanité. 12). 106 Hervé Pasqua : Blaise Pascal. Penseur de la grâce. Préface de Philippe Sellier. Paris : Pierre Téqui, 2000. 107 OC 4 (Mesnar d), S. 35 : »totalement injustifié« – Sie wird z. B. von Jan Miel : Pascal and theology. Baltimore 1969, S. 120 f. vertreten. 108 Vgl. auch oben die Hinweise zum »Mémorial«.

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Anmerkungen genannt. Es handelt sich um einen Traktat über die Bedeutung der Taufe.109 In diesem Zusammenhang wird dem zeitgenössischen Christen das leuchtende Beispiel des Katechumenats in der Alten Kirche vor Augen geführt hinsichtlich der Kenntnis, des Eifers und der Glaubenshaltung. Den augustinischen Hintergrund der Schrift hat Philipp Sellier betont.110 Der Text enthält keine Kritik der Praxis der Kindertaufe (vgl. 7 und 14), sondern zielt auf eine pastorale Erneuerung durch Belehrung und Buße. Drei A bhandlungen über die Stellung der Großen (1660) Die Texte wurden zuerst von Jean Nicole in seinem Traktat De l’éducation d’un prince 1670 publiziert. Sie sind nach Nicole von einem Hörer der Vorträge sieben oder acht Jahre später aufgeschrieben worden. Dabei kann es sich wohl nur um Nicole selbst handeln. In seiner Vorbemerkung vermerkt dieser, daß es sich nicht um die »eigenen Worte« Pascals handle, wohl aber könne er versichern, daß es »wenigstens seine Gedanken und Meinungen« seien.111 Die Frage, ob der Text nach Notizen oder gar nach Unterlagen Pascals – wie das Gespräch mit Herrn de Sacy – redigiert worden ist, untersucht Jean Mesnard sorgfältig und bietet Argumente für die letztere Hypothese auch aufgrund von Parallelen zu den Pensées.112 Michel Le Guern stützt diese Argumentation aus stilistischen Gründen und bietet als Erklärung für die oben genannte Aussage an, daß Nicole dadurch in seiner Redaktion unabhängig von Einsprüchen der Familie Pascal / Périer war. Nach einer schon von Ernest Havet im 19. Jahrhundert formulierten Hypothese wird in dem Adressaten der Sohn des

Vgl. OC 4 (Mesnar d), S. 51. Zur Taufe auch »Kurze Beschreibung des Lebens Jesu Christi« Nr. 17 und 26 f. 110 Philippe Sellier : Pascal et saint Augustin, S. 326 f. 111 Der Text ist abgedruckt in OC 2 (Le Guern), S. 1205 f. 112 Vgl. OC 4 (Mesnar d), S. 1016 ff. 109

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Herzogs von Luynes 113 gesehen, der im Schloß Vaumurier, nahe Port-Royal des Champs, einen Ort des geistigen Austausches geschaffen hatte.114 Es handelt sich um einen christlichen Fürstenspiegel.115 Gebet zu Gott um den rechten Gebr auch der Kr ankheiten (1660) Es handelt sich um den einzigen der nachgelassenen Texte Pascals, der textlich abgeschlossen und durchredigiert ist. Er wurde schon 1766 und 1770 in der Erstausgabe der Pensées (Abtlg. XXXII ) publiziert. Die textkritische Ausgabe von Jean Mesnard hat einige Abweichungen gegenüber der hier zugrundeliegenden Lafuma-Version erbracht.116 Zum Teil sind es stilistische Änderungen, die für die Übersetzung nicht wesentlich sind, zum Teil erläuternde Ausformulierungen. Wichtige Unterschiede sind in den Anmerkungen dokumentiert. Der Text ist zum einen sehr persönlich und anscheinend auf die Situation eigener Krankheit bezogen (Nr. I ), zum anderen – wie auch strukturell ähnliche in Port-Royal kursierende Gebete zeigen – zur Betrachtung für Dritte verfaßt worden. Zu diesem, Louis Charles d’Albert, second duc de Lu y nes (1620 – 1690) vgl. DicPR , S. 694 – 697. 114 Näheres OC 4 (Mesnar d), S. 1015. Zum Verhältnis des Textes zu den Überlegungen in den Pensées und zur Frage nach dem »Redakteur« ( J. Nicole) des Textes ebd. S. 1016 ff. 115 Zu Pascals politischer Theorie im Blick auf die drei Abhandlungen vgl. jetzt : Gérard Ferreyrolles : Pascal et la raison du politique. Paris : PUF, 1984, bes. S. 131 ff. ; Thérèse Goyet : »Le propre de la puissance est de protéger«. In : Gérard Ferreyrolles (Hrsg.) : Justice et force. Politiques au temps de Pascal. Actes du colloque »Droit et pensée politique autour de Pascal« Clermont-Ferrand, 20 – 23 septembre 1990. Paris : Klincksieck, 1996 (Port-Royal. 2), S. 333 – 345 ; Christian Lazzeri : Force et justice dans la politique de Pascal. Paris : PUF, 1993, bes. S. 288 ff. 116 Vgl. OC 4 (Mesnard), S. 998– 1012 und die Einzelausgabe von Mesnard (Paris : Le nouveau commerce, 2994). 113

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Auch wenn keine eigentlichen Zitate117 vorkommen, so sind – wie vor allem J. Mesnard gezeigt hat – die implizit verwendeten biblischen Quellen (vor allem Hiob und die Psalmen, dann aber auch die Evangelien und Paulus) deutlich erkennbar. Der augustinische Charakter einer Meditation des eigenen Zustands unter den Augen Gottes erinnert an die Confessiones, zu denen sich ebenfalls Bezüge herstellen lassen. Als weitere Quelle hat Mesnard auf die theresianische Mystik hingewiesen. Das Thema der Schrift ist nicht das Gebet um Heiligung ; es ist aber auch keine Verherrlichung der Krankheit oder des Leids. Vielmehr wird der Zustand der Krankeit als Ausdruck des Elends des Menschen gesehen, dessen eigentliche Krankheit die der Seele ist, die wiederum durch eine Bekehrung (»conversion de mon cœur« vgl. Nr. III ) zu überwinden ist, ein Dem-Willen-Gottes-konform-Werden. Lucien Jer phagnon bezeichnet es deshalb als ›Gebet, um von Gott die Gnade der Bekehrung zu erlangen‹.118 A nhang : A bhandlung über die Leidenschaften der Liebe (nach 1674) Die Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe kann nicht zu den Schriften Pascals gerechnet werden. Es ist nicht nur die unzureichende Bezeugung (von den zwei Manuskripten trägt nur eines den Vermerk »Man schreibt es Herrn Pascal zu« [Paris, Bibliothèque Nationale, f. fr. 19303] ; es ist erst 1843 von Victor Cousin entdeckt worden), sondern auch der Bezug auf aktuelle Diskussionen ab 1664, die ein solches Opus früher undenkbar erscheinen lassen. Zudem sind inhaltliche Bezüge nicht nur zu Pascal, sondern auch zu Texten anderer Autoren enthalten, die ebenfalls eine Zuschreibung an Pascal als unmöglich erscheinen lassen, vor allem zur 1674 erschienenen Recherche de la vérité von N. Malebranche. Bis auf Nr. IX . Pascal et la souffrance. Paris : Éd. Ouvrières, 1956, S. 84, vgl. dort bes. S. 84 – 88. 117

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Schließlich enthalten die Bezüge zu den Pensées zumindest einen Hinweis auf die Benutzung der Erstausgabe mit einer Textfassung, die nicht dem Pascalschen Manuskript entspricht. Louis Lafuma hatte in seiner Einzelausgabe von 1950 die Nachweise gesammelt und gleichzeitig eine Zuschreibung versucht (Charles-Paul d’Escoubleau, marquis d’Alluye et de Sourdis). G. Brunet 119 stellte sie ebenfalls zusammen. Jean Mesnard hat die Frage nochmals gründlich untersucht. Er kommt zu dem gleichen Ergebnis (OC 4, 1628 ff.) und versucht ebenfalls eine Zuschreibung (Henri-Louis de Loménie de Brienne). Michel Le Guern, der den Text im Appendix seiner Ausgabe abdruckt (OC 2, S. 200 – 208 und 1209), bestreitet mit weiteren Argumenten die Authentizität. Die Aufnahme des Textes in die Ausgabe von Eduard Zwierlein (vgl. in der Literatur unter 3.) mit der Angabe »wohl vor 1658« (S. 50) bietet keine Begründung für die Autorschaft, die die Ergebnisse der französischen Pascal-Philologie in Frage stellen könnte. Wegen ihrer rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung wird die Schrift hier dennoch anhangsweise aufgenommen.

6. Zur Edition Die Anordnung der Texte erfolgt in der chronologischen Reihenfolge, die Jean Mesnard in seiner Ausgabe der Œuvres complètes vorgenommen hat. Dabei bleiben Fragen offen, und der Redaktionsprozeß (etwa bei den Schriften über die Gnade ) hat sich möglicherweise bei einigen der Texte länger hingezogen. Dennoch schien die Chronologie besser geeignet als eine systematisierende Darbietungsform, da sie die Überschneidungen der verschiedenen Bereiche in der Biographie und dem Werk Pascals zum Ausdruck bringt.

Georges Brunet : Un prétendu traité de Pascal. Le Discours sur les passions de l’amour. Paris : Éditions de Minuit, 1959. 119

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Die Anmerkungen sind durchweg Hinzufügungen gegenüber Pascals Originaltext. Sie sind von den Editoren, vom Übersetzer (vor allem Übersetzungen, Bibelstellennachweise) oder vom Herausgeber (vor allem die Belege aus der Patristik etc.) zusammengestellt und weisen vor allem Bibel- wie Literaturzitate nach. Auf diese Weise soll deutlich werden, daß Pascal eine intensive Kenntnis patristischer Quellen – vor allem der Werke des hl. Augustinus – hat, die nicht nur seine theologischen Texte (vor allem natürlich die »Schriften über die Gnade«) prägt, sondern deren Einfluß auch in anderen Zusammenhängen deutlich ist. In manchen Fällen ist diese Kenntnis über sekundäre Werke vermittelt (C. Jansenius, J. Sinnich), die aber ihrerseits wieder reichhaltig Originaltexte darbieten. Die Erforschung der Quellen ist im letzten Jahrhundert breit durchgeführt worden und in den neuen Gesamtausgaben von J. Mesnard und M. Le Guern gesammelt, weitergeführt und dokumentiert. Darauf konnte hier zurückgegriffen werden. Die patristischen Belege wurden dabei vor allem nach dem Corpus Augustinianum Gissense 120 (CAG ) und – bei den übrigen Kirchenvätern – der Patrologia latina verifiziert. Die Augustinus-Stellen wurden in der heute üblichen Zählweise nach dem CAG zitiert. Dadurch ergeben sich verschiedentlich Unterschiede zu den Numerierungen, die Pascal verwendet. Die von Pascal benutzten Schriften und Anthologien (etwa Jean Sinnichs Sanctorum Patrum de gratia Christi et libero arbitrio dimicantium Trias von 1648) sind in den Ausgaben von Mesnard und Le Guern exakt nachgewiesen. In dieser Ausgabe wurde dagegen Wert auf die leichte Auffi ndbarkeit der Texte in modernen kritischen Ausgaben gelegt. Es wurde versucht, eine »Überkommentierung« zu vermeiden. Dabei sollte allerdings deutlich werden, daß die Quellenverwertung Pascals beträchtlich ist.

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CAG 2. Corpus Augustiniaum Gissense. A Cornelio M ayer edi-

tum. Basel 2004.

BI BLIOGR A PH I E

1. Neuere Gesamtausgaben Blaise Pascal : Œuvres de Blaise Pascal. Publiées suivant l’ordre chronologique avec documents complémentaires, introductions et notes. Par Léon Brunschvicg … 14 Bde. Paris : Hachette, 1904 – 1914 (Les grands écrivains de la France) – verschiedene Neuauflagen. – Œuvres complètes. Publiées par Fortunat Strowski. 3 Bde. Paris : Ollendorf, 1923 – 1931. – Œuvres complètes. Texte établi … par Jacques Chevalier. Paris : Gallimard, 1954 (Bibliothèque de la Pleïade. 34). – Letzter Nachdruck 1995. – Œuvres. Préface d’Henri Gouhier. Présentation et notes de Louis Lafum a. Paris : Éditions du Seuil, 1963 (l’Intégrale). – Letzter Nachdruck 1993. – Die Ausgabe liegt den Übersetzungen dieses Bandes – bis auf den Entretien avec M. de Sacy – zugrunde. – Œuvres complètes. Texte établi, présenté et annoté par Jean Mesnard. Bruges : Desclée de Brouwer, 1964 – . – Bislang vier Bände, noch ohne die Lettres Provinciales und die Pensées, für die übrigen Dokumente die bestdokumentierte und als Referenzausgabe heranzuziehende Gesamtausgabe. Sie ersetzt die frühere »klassische« Ausgabe von L. Brunschvicg u. a. – Œuvres complètes. Édition présenté, établie et annotée par Michel Le Guern. 2 Bde. Paris : Gallimard, 1998– 2000 (Bibliothèque de la Pleïade. 34 und 462). – Ersetzt die oben genannte ältere Ausgabe von J. Chevalier. Die Ausgabe ist ebenfalls auf dem neusten Stand der Pascal-Philologie, im einzelnen und für die Pensées und Provinciales ergänzend zu der Ausgabe von Mesnard heranzuziehen. Für die Pensées vgl. auch die Sellier-Ausgabe (in der folgenden Gesamtausgabe des literarischen Werkes). – Les Provinciales, Pensées, et opuscules divers. Textes édités par Gérard Ferreyrolles et Philippe Sellier. Paris : Le livre de poche / Classiques Garnier, 2004 – Enthält nicht die naturwissenschaftlich-mathematischen Schriften und nicht alle Briefe.

Bibliographie

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– Pascal im Kontext. Werke auf CD -ROM – Französisch-deutsche Parallelausgabe auf CD -ROM . In neuen Übersetzungen von Ulrich Kunzmann. Berlin : Worm, InfoSoftWare, 2003 (Literatur im Kontext. 19). – Edition des literarischen Werks nach der Gesamtausgabe von L. Lafuma , zugleich einzige deutschsprachige Gesamtausgabe.

2. Wichtige Einzelausgaben der kleineren Schriften 1 Da es von den kleineren Schriften zahlreiche populäre Einzelausgaben gibt, kann hier keine vollständige Übersicht gegeben werden. Émile Faguet : Discours sur les Passions de l’Amour (Attribué à Pascal). Avec un commentaire. Paris : Grasset, 1911. Discours sur les passions de l’amour, et : l’auteur presumé du discours sur les passions de l’amour Charles Paul d’Escoubleau, Marquis d’Alluye et de Sourdis. Introduction de Louis Lafum a. Paris : Delmas, 1950. – Versuch eines Nachweises der Unechtheit dieser vordem Pascal zugeschriebenen Schrift. Albert Ducas : Discours sur les passions de l’amour de Pascal. Commentaire, authenticité de l’auteur. Algier : Méditerranée Vivante, 1951. Georges Brunet : Un prétendu traité de Pascal. Le Discours sur les passions de l’amour. Paris : Éditions du Minuit, 1959. Pierre Courcelle : L’entretien de Pascal et de Sacy, ses sources et ses énigmes. Paris : Vrin, 1960. André Gounelle : L’entretien de Pascal avec M. de Sacy. Étude et commentaire. Paris : PUF, 1966 (Études d’histoire et de philosophie religieuses. 60). Blaise Pascal : De l’esprit géométrique. Entretien avec M. de Sacy. Écrits sur la grâce et autres textes. Introduction, notes, bibliographie et chronologie par André Clair. Paris : Flammarion, 1985 (GF 436).

Vgl. vollständigere Angaben zur gesamten Editionsgeschichte jeweils OC 3 und 4 (Mesnar d). 1

Bibliographie

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– Abrégé de la vie de Jésus-Christ. Texte établi et présenté par Jean Mesnard. Paris : Desclée De Brouwer, 1992. – Prière pour demander à Dieu le bon usage des maladies. Présentation et commentaire de Jean Mesnar d. Paris : Le nouveau commerce, 1994 (Les suppléments). – Entretien avec M. de Sacy. Original inédit présenté par Pascale Mengot ti-Thou venin et Jean Mesnard. Paris : Desclée De Brouwer, 1994. – Erstmalige Veröffentlichung nach dem Originaltext von Nicolas Fontaine, auch enthalten in : Nicolas Fontaine : Mémoires ou histoire des solitaires de Port-Royal. Edition critique par Pascale Thou venin. Paris : Champion, 2001 (Sources classiques. 21), S. 597– 612 [bzw. 592– 613 der hier verwendeten Abtrennung des Textes]. Die Textfassung liegt der Übersetzung dieses Bandes zugrunde. – Entretien avec Sacy sur la philosophie. Extrait des Mémoires des Fontaine. Présentation et lecture de Richard Scholar. Arles : Actes Sud, 2003. – Nach der Ausgabe von Pascale Thou venin.

3. Sammlungen der kleineren Schriften in Übersetzung Blaise Pascal : Gedanken, Fragmente und Briefe. Aus dem Französischen nach der mit vielen unedirten Abschnitten vermehrten Ausgabe Prosper Faugères. Deutsch von C. F. Schwartz. Leipzig 1845, 21865. – Enthält aus den kleineren Schriften : Gebet um gute Benutzung der Krankheit, Über die Bekehrung des Sünders, Vorrede zur Abhandlung über das Leere, Über die Leidenschaft der Liebe, Vom geometrischen Geiste, Über die Kunst zu überreden, Gespräch über die Stellung der Großen, Unterredung Pascal’s mit Saci. Über Epiktet und Montaigne. – Gedanken über die Religion nebst Briefen und Fragmenten verwandten Inhalts. Für die Gebildeten unserer Zeit bearbeitet von Dr. Friedrich Merschmann. Halle 1865. – Nach der Ausgabe von Prosper Faugère. Enthält aus den kleineren Schriften : Gebet um den rechten Gebrauch der Krankheit, Über die Bekehrung des Sünders, Über die Autorität in philosophischen Dingen [Vorrede zur Abhandlung über die Leere], Unterschied des mathematischen und des feinen Geistes, Über die Kunst zu überzeugen, Betrachtungen über die Art und Weise, wie man einst in die Kirche aufgenommen wurde und in ihr lebte, und wie man

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Bibliographie

jetzt in dieselbe eintritt und in ihr lebt, Über die Stellung der Großen, Über Epiktet und Montaigne. Karl Bornh ausen : Pascal. Basel 1920. – Enthält aus den kleineren Schriften die Texte : Die Leidenschaften der Liebe, Von der mathematischen Denkweise, Das Gespräch Pascals mit de Saci über Epictet und Montaigne, Gebet zu Gott um die richtige Nutzung der Krankheiten, Über des Sünders Bekehrung, Betrachtungen über die Art und Weise, wie man ursprünglich in die Kirche aufgenommen wurde und in ihr lebte, und wie man heute in sie eintritt und in ihr lebt, Über die Stellung der Hochgeborenen. Blaise Pascal : Vermächtnis eines großen Herzens. Die kleineren Schriften. Übertragen und hrsg. von Wolfgang Rüt ten auer. Leipzig 1938 (Sammlung Dieterich. 16). – Auch Wiesbaden 1947. – Enthält : Das Leben des Blaise Pascal von Gilberte Périer sowie die folgenden Schriften : Fragment eines Vorwortes zur Abhandlung über den leeren Raum, Vom geometrischen Beweis, Vom Unterschied zwischen dem Geist der Geometrie und dem Geist der Intuition [aus den Pensées ], Gebet an Gott um den heilsamen Gebrauch der Krankheiten, Vergleich zwischen den Christen der ersten Zeiten und denen von heute, Von der Bekehrung des Sünders, Abriß des Lebens Jesu Christi, Das Memorial, Das Gespräch Pascals mit Herrn de Sacy über Epiktet und Montaigne, Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe, Das Testament Pascals. – Die Kunst zu überzeugen und die anderen kleineren philosophischen und religiösen Schriften. Übertragen und mit Erläuterungen versehen von Ewald Wasmuth. Berlin 1938. – 2. erweiterte Auflage Heidelberg 1950. – 3. veränderte und neu durchgesehene Auflage ebd. 1963. – Enthält in der dritten Auflage die Schriften : Fragment einer Einleitung zu einer Abhandlung über die Leere, Brief Pascals an Pater Noël über die Lehre vom Horror vacui und die Grundlagen der physikalischen, Vom geometrischen Geist und von der Kunst zu überzeugen, Gespräch Pascals mit Herrn de Sacy über Epiktet und Montaigne, Drei Vorträge vor dem Prinzen von Luynes über den Stand der großen Herren, Über die Bekehrung des Sünders, Gebet, um von Gott den rechten Nutzen der Krankheit zu erflehen, Vergleich zwischen den Christen einst und denen von heute, Abriß des Lebens Jesu Christi. – Die erste und zweite Auflage enthalten auch die Abhandlung über die

Bibliographie











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Leidenschaften der Liebe, die erste Auflage enthält aber nicht die vier letztgenannten religiösen Schriften. Pascal. Ausgewählt und eingeleitet von Reinhold Schneider. Frankfurt a. M. 1945 (Fischer Bücherei. 70). – 51.– 75. Tausend 1955. – 76.– 87. Tausend 1957. – Enthält aus den kleineren Schriften : Fragment einer Einleitung zu einer Abhandlung über das Leere, Vom geometrischen Geist, Gespräch Pascals mit Herrn de Saci über Epiktet und Montaigne, Drei Vorträge vor dem Prinzen von Luyènes [sic] über den Stand der großen Herrn, Gebet um den rechten Gebrauch der Krankheiten sowie Das Leben Blaise Pascals von Gilberte Périer. – Übersetzung nach Ewald Wasmuth : Die Kunst zu überzeugen [ohne Angaben zur Übersetzung]. Geist und Herz. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk. Mit Einleitung und Nachwort hrsg. von Hans Giesecke. Berlin 1964. – Enthält aus den kleineren Schriften : Von der Autorität der Schriftsteller des Altertums [Vorrede zur Abhandlung über die Leere], Von der Kunst zu überzeugen, Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe. Gebet zu Gott um den rechten Gebrauch der Krankheiten, Von der Bekehrung des Sünders, Vergleich zwischen den Christen der ersten Zeiten und denen von heute sowie die Lebensbeschreibung von Gilberte Périer. – Übersetzung nach Friedrich Merschmann. Schriften zur Religion. Übertragen von Hans Urs von Balth asar. Einsiedeln 1982 (Christliche Meister. 17). – Enthält aus den kleineren Schriften : Die Christen der ersten Zeiten verglichen mit denen von heute, Gespräch mit Herrn de Sacy, Über die Bekehrung des Sünders, Gebet, um von Gott den guten Gebrauch der Krankheiten zu erlernen. Pascal. Ausgewählt und vorgestellt von Eduard Zwierlein. Ulrich Kunzm ann (Übers.). München 1997. – Enthält aus den kleineren Schriften : Vorrede zur Abhandlung über die Leere, Allgemeine Betrachtungen über die Geometrie, Einführung in die Geometrie, Gespräch mit Herrn de Saci über Epiktet und Montaigne, Drei Abhandlungen über die Stellung der Großen, Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe, Über die Bekehrung des Sünders, Vergleich zwischen den Christen der ersten Zeiten und denen von heute, Gebet zu Gott um den rechten Gebrauch der Krankheiten. Pascal im Kontext. 2003 – Siehe unter 1.

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Bibliographie

4. Einzelne Schriften in Übersetzung Jean-Pierre Schobinger : Blaise Pascals Refl exionen über die Geometrie im allgemeinen. »De l’esprit geometrique« und »De l’art de persuader«. Mit deutscher Übers. und Kommentar. Basel 1974. Blaise Pascal : Vom Geist der Geometrie. Übers. und eingeleitet von Wolfgang Stru ve. Darmstadt 1948 (Die kleine Reihe. 3). – Religiöse Schriften. Hrsg. von Heinrich Lützeler. Kempen (Niederrhein) 1947. – Enthält : Über die Leidenschaften der Liebe. – Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe, Gebet zu Gott um den heilsamen Gebrauch der Krankheiten. Hrsg. und erläutert von Max Bense. Köln 1949. – Prière pour demander à Dieu le bon usage des maladies. Ein Krankengebet. Hrsg. und übers. von Hermann Schlingensiepen. Neukirchen-Vluyn 1962. – Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe. Herrn Pascal zugeschrieben. Übers. von Wolfgang Rüt tenauer. Basel : Die Brigg, o. J. – Übers. nach Wolfgang Rüt tenauer : Vermächtnis eines großen Herzens (s. o. unter 3). – Vom rechten Gebrauch der Krankheit. Mit einer Einleitung und einem Nachwort von Johann Auer. Leutesdorf 1968, 21973. – Übers. nach Wolfgang Rüt tenauer : Vermächtnis eines großen Herzens (s. o. unter 3). – Gebet in der Krankheit. Übers., eingeleitet und erläutert von Paul Wolff. Regensburg 1976.

5. Sonstige zitierte und weitere einführende Literatur zum Werk Pascals Hans Urs von Balth asar : Die Augen Pascals. In : Ders. : Homo creatus est. Einsiedeln 1986 (Skizzen zur Theologie. 5), S. 61 – 77. Léon Blanchet : L’attitude religieuse des Jésuites et les sources du pari de Pascal. In : Revue de métaphysique et de morale 26 (1919), S. 477– 516, 617– 647. Maurice Blondel : Jansénisme et antijansénisme de Pascal. In : Ders. : Dialogues avec les philosophes. Paris : Aubier, 1966, S. 91 – 126. Hélène Bouchilloux : Pascal. La force de la raison. Paris : Vrin, 2004. Pierre Courcelle. – Siehe unter 2.

Bibliographie

LXV

Michael Cuntz : Der göttliche Autor. Apologie, Prophetie und Simulation in Texten Pascals. Stuttgart 2004 (Zeitschrift für französische Sprache und Literatur. N. F. 3). Dominique Descotes : Blaise Pascal. Littérature et géometrie. Clermont-Ferrand : Presses Universitaires Blaise Pascal, 2001. Dictionnaire de Port-Royal. Elaboré sous la dir. de Jean Lesaul nier … Paris : Champion, 2004 (Dictionnaires & références. 11). Gérard Ferreyrolles : Pascal et la raison du politique. Paris : PUF, 1984, bes. S. 131 ff. Lucien Goldmann : Le Dieu caché. Étude sur la vision tragique dans les »Pensées« de Pascal et dans le théâtre de Racine. [Repr.]. Paris : Gallimard, 1988 (Collection tel. 11). – Dt. : Der verborgene Gott. Studie über die tragische Weltanschauung in den Pensées Pascals und im Theater Racines. Frankfurt a. M. 1985 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. 491). Henri Gouhier : Blaise Pascal. Commentaires. Paris : Vrin, 1966. – 3 1984. – Pascal et les humanistes chrétiens. L’affaire Saint-Ange. Paris : Vrin, 1974. Thérèse Goyet : »Le propre de la puissance est de protéger«. In : Gérard Ferreyrolles (Hrsg.) : Justice et force. Politiques au temps de Pascal. Actes du colloque »Droit et pensée politique autour de Pascal« Clermont-Ferrand, 20 – 23 septembre 1990. Paris : Klincksieck, 1996 (Port-Royal. 2), S. 333 – 345. Romano Guar dini : Christliches Bewußtsein. Versuche über Pascal [1935]. Mainz 1991 (Guardini : Werke) Nicholas H ammond (Hrsg.) : The Cambridge Companion to Pascal. Cambridge : University Press, 2003. Jean Itard : L’introduction à la géométrie de Pascal. In : L’œuvre scientifi que de Pascal. Paris : PUF, 1964, S. 102– 119. Lucien Jerph agnon : Pascal et la souffrance. Paris : Les Éditions Ouvrières, 1956. Ulrich K irsch : Blaise Pascals »Pensées« (1656– 1662). Systematische »Gedanken« über Tod, Vergänglichkeit und Glück. Freiburg i. Br. 1989 (Symposion. 88). Louis Lafuma : Siehe unter 2. Christian Lazzeri : Force et justice dans la politique de Pascal. Paris : Presses Universitaire de France, 1993. Michel Le Guern : Pascal et Arnauld. Paris : Champion, 2003 (Lumière classique. 48).

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Jean Lhermet : Pascal et la Bible. Paris : Vrin, 1931, S. 112– 119. Karl Löwith : Voltaires Bemerkungen zu Pascals Pensées. In : Ders. : Mensch und Menschenwelt. Stuttgart 1981 (Sämtliche Schriften. 1), S. 426 – 449. Henri de Lubac : Die Freiheit der Gnade. 1. Bd. : Das Erbe Augustins. Einsiedeln 1971. Louis M arin : Pascal et Port-Royal. Paris : PUF, 1997. Simone M azauric : Gassendi, Pascal et la querelle du vide. Paris : PUF, 1998. Jean Mesnard : La culture du XVII e siècle. Enquêtes et synthèses. Paris : PUF, 1992. – Pascal. Paris : Hatier, 1962 (Connaissance des lettres. 30). – weitere Nachauflagen. – Pascal. Bruges : Desclée De Brouwer, 1965 (Les écrivains devant Dieu. 5). – weitere Nachauflagen. – Pascal. In : Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 2 : Frankreich und Niederlande. Hrsg. von Jean-Pierre Schobinger. Basel 1993, S. 529 – 570, 584 – 590. – Pascal, l’homme et l’œuvre. Paris : Hatier, 51967. – Pascal et les Roannez. 2 Bde. Paris : Desclée de Brouwer, 1965. Harding Meyer : Pascals Mémorial, ein ekstatisches Dokument ? In : Zeitschrift für Kirchengeschichte 4 (1957), S. 335 – 341. Jan Miel : Pascal and theology. Baltimore 1969. Les Pascal a Rouen. 1640 – 1648. Rouen : Publications de l’Université de Rouen, 2001. Hervé Pasqua : Blaise Pascal. Penseur de la grâce. Préface de Philippe Sellier. Paris : Pierre Téqui, 2000. Philippe de Champaigne et Port-Royal. Musée National des Granges de Port-Royal, 29 avril – 28 août 1995. Paris 1995. Albert R affelt : Konfl ikt und Communio. Blaise Pascal zwischen der Liebe zur Wahrheit und dem Band der Kircheneinheit. In : Günter Biemer … (Hrsg.) : Gemeinsam Kirche sein. Theorie und Praxis der Communio. Freiburg i. Br. 1992, S. 189 – 206. – »Ein Leib aus denkenden Gliedern«. Gotteserfahrung in kirchlicher Tradition bei Blaise Pascal. In : Mariano Delga do / Gotthard Fuchs (Hrsg.) : Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung. Bd. 2. Stuttgart 2005, S. 285 – 306. – »Ich wage es, die Partei der Menschheit zu ergreifen …« : Das Gottesbild der Aufklärung. Voltaire kritisiert Pascal. In : Jürgen Hoeren / Michael K essler (Hrsg.) : Gottesbilder. Die Rede

Bibliographie

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von Gott zwischen Tradition und Moderne. Stuttgart 1988. S. 87– 107. – Pendent opera interrupta. Zu einer neuen Übersetzung von Pascals »Pensées«, mit Bemerkungen zur Übersetzungsgeschichte und einer Bibliographie der bisherigen Übersetzungen der »Pensées« ins Deut sche. In : Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 35 (1988), S. 507– 526. – [Rezension] Les Pensées de Pascal. Editées par Francis K aplan. Paris : Cerf 1982. 705 S. In : Theologie und Philosophie 60 (1985), S. 445 – 450 – zur Editionsgeschichte. – [Rezension] B. Pascal : Briefe in die Provinz. 1990. In : Theologie und Philosophie 67 (1992), S. 602– 605 – zur Übersetzungsgeschichte der Provinciales. Heinrich Rombach : Vom System zur Ordnung der Ordnungen. In : Ders. : Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft. Bd. 2. Freiburg i. Br. 1966, S. 99 – 297. Thomas Ruster : Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entfl echtung von Christentum und Religion. Freiburg i. Br. 2000 (Quaestiones disputatae. 181). Wilhelm Schmidt-Biggem ann : Blaise Pascal. München 1999 (Beck’sche Reihe. 553). Jean-Pierre Schobinger. – Siehe unter 4. Philippe Sellier : Pascal et la liturgie. Paris : PUF, 1966 – Pascal et saint Augustin. Paris: Colin, 1970. – Taschenbuchausgabe: Paris: Michel, 1995 (Bibliothèque de l’évolution de l’humanité. 12). Jean Steinm ann : Pascal. Gerolf Graf Coudenhove (Übers.). Stuttgart 21962. Ewald Wasmuth : Der unbekannte Pascal. Versuch einer Deutung seines Lebens und seiner Lehre. Regensburg 1962. Eduard Zwierlein : Blaise Pascal zur Einführung. Hamburg 1996 (Zur Einführung. 136).

6. Spezialbibliographien Die kompletten Angaben zur Editionsgeschichte und die wichtigste Sekundärliteratur zu den Texten bis ca. 1990 enthält die Ausgabe von J. Mesnard OC 3 und 4 (1991 f.) ; wesentliche

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Bibliographie

Fachbibliographien sind auch in der Pascal-Darstellung Mesnards im Grundriss der Philosophie (s. o. unter 5.) genannt, wozu heute vor allem die elektronischen Fachbibliographien zu ergänzen sind (Philosopher’s index, MLA international bibliography on the modern languages and literatures, Index theologicus, ATLA Religion database …). An allgemeinen Bibliographien zu Pascal vgl. zudem : Albert M aire : Bibliographie générale des œuvres de Blaise Pascal. Éditions originales, réimpressions successives avec notes critiques et analyses des travaux qui les citent et ceux qui en dérivent. Avec la collaboration de Louis Weber-Silvain. 5 Bde. Paris : Giraud-Badin, 1925 – 1927. Lane M. Heller / Thérèse Goyet : Bibliographie Blaise Pascal (1960 – 1969). Clermont-Ferrand : ADOSA , 1989. Dominique Descotes : Le fonds pascalien à Clermont-Ferrand. Clermont-Ferrand : Centre International Blaise Pascal, 2001 (Courrier du Centre International Blaise Pascal. 22/23).

7. Zeitschriften Das Werk Pascals reicht in verschiedene Wissenschaftsgebiete hinein. Entsprechend sind Aufsätze in unterschiedlichsten Zeitschriften zu fi nden. Speziell dem Werk Pascals mit Informationen über Institutionen und Veranstaltungen dient : Courrier du Centre International Blaise Pascal (Clermont-Ferrand) 1.1979 ff.

Zum Komplex Port-Royal vgl. folgende Zeitschrift : Chroniques de Port-Royal. Bulletin de la Société des Amis de Port-Royal (Paris) 1.1950 ff.

BL A ISE PA SC A L K LEI N E SCH R I F T EN Z U R R ELIGION U N D PH I LOSOPH I E

Das Leben Monsieur Pascals beschrieben von M a dame Périer seiner Schwester, der Fr au von Monsieur Périer, dem R at am Steuer amt von Clermont

Mein Bruder wurde am 19. Juni 1623 in Clermont geboren. Mein Vater Étienne Pascal war Präsident am Steueramt. Meine Mutter hieß Antoinette Begon. Sobald mein Bruder in dem Alter war, da man mit ihm reden konnte, bewies er einen ganz außergewöhnlichen Geist durch seine stets sehr treffenden kleinen Antworten, noch mehr indes durch seine Fragen über die Natur der Dinge, die jedermann überraschten. Diese ersten Anzeichen, die zu schönen Hoffnungen berechtigten, sollten sich nie als trügerisch erweisen, denn je älter er wurde, desto mehr nahm er an Urteilskraft zu, so daß er seinen Jahren weit voraus war. Mittlerweile, schon im Jahre 1626, starb meine Mutter, als mein Bruder erst drei Jahre alt war. Mein Vater blieb allein zurück und widmete sich noch stärker der Sorge für seine Familie, und da er keinen anderen Sohn als ihn hatte, gaben ihm die Tatsache, daß er sein einziger Sohn war, und die anderen Vorzüge, die er in diesem Kind entdeckte, eine so große Zuneigung zu ihm ein, daß er sich nicht entschließen konnte, einen anderen mit dessen Erziehung zu beauftragen, und es selbst übernahm, ihn fortan zu unterrichten, was er auch getan hat, denn mein Bruder hat nie eine Schule besucht und nie einen anderen Lehrer als meinen Vater gehabt. Im Jahre 1632 zog sich mein Vater nach Paris zurück, nahm uns alle mit und richtete dort seinen festen Wohnsitz ein. Für meinen Bruder, der damals erst acht Jahre alt war, bedeutete dieser Ruhesitz einen sehr großen Vorteil bei den Erziehungsplänen meines Vaters, denn ganz zweifellos hätte mein Vater nicht dieselbe Sorgfalt in der Provinz darauf verwenden können, wo ihn die Ausübung seines Amtes und der ständige Umgang mit anderen Menschen, die ihn aufsuchten, oft abgelenkt

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hätten. Doch in Paris lebte er völlig ungebunden ; er widmete sich uneingeschränkt dieser Aufgabe und hatte damit den ganzen Erfolg, den die Bemühungen eines so überaus klugen und liebevollen Vaters haben konnten. Der wichtigste Leitsatz dieser Erziehung bestand darin, daß das Kind stets seinem Werk überlegen bleiben sollte ; aus diesem Grund wollte er es die lateinische Sprache nicht vor dem zwölften Lebensjahr lehren, damit sie ihm leichter fiele. In der Zwischenzeit ließ er seinen Sohn nicht unbeschäftigt, denn er sprach mit ihm über alle Dinge, für die dieser, wie er sah, empfänglich war. Er zeigte ihm ganz allgemein, was die Sprachen bedeuteten ; er veranschaulichte ihm, wie man sie auf bestimmte grammatische Regeln zurückgeführt hatte, daß diese Regeln auch noch Ausnahmen aufwiesen, die man sorgfältig festgestellt habe, und daß man damit ein Mittel gefunden habe, um alle Sprachen von Land zu Land mitteilen zu können. Diese allgemeine Vorstellung klärte seinen Geist auf und ließ ihn erkennen, welchen Grund die Grammatikregeln hatten ; deshalb wußte er, als er sie dann lernte, warum er es tat, und beschäftigte sich gerade mit den Dingen, die größte Mühe erforderten. Nach diesen Kenntnissen vermittelte ihm mein Vater andere. Oft sprach er mit ihm über ungewöhnliche Naturerscheinungen, wie etwa über Schießpulver und andere Dinge, die in Erstaunen versetzen, wenn man sie näher untersucht. Mein Bruder fand großes Vergnügen an diesen Gesprächen, doch er wollte wissen, welchen Grund alle Dinge hatten, und da diese Gründe nicht alle bekannt sind, befriedigte es ihn nicht, wenn mein Vater sie ihm nicht sagte oder ihm nur diejenigen nannte, die man gewöhnlich anführte und die eigentlich nur Ausflüchte sind. Denn er hatte stets [einen] bewundernswert klaren Verstand, um das Falsche herauszufi nden, und man kann sagen, daß die Wahrheit immer und bei allen Dingen das einzige [Ziel] seines Geistes gewesen ist, denn nie vermochte ihn etwas anderes als ihre Erkenntnis zufriedenzustellen. Daher konnte er seit seiner Kindheit nur anerkennen, was er für

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offensichtlich wahr hielt, so daß er, wenn man ihm keine guten Gründe angab, selbst danach suchte, und wenn er sich mit etwas beschäftigte, ließ er nicht eher davon ab, bis er einen Grund gefunden hatte, der ihn zufriedenstellen konnte. Als jemand bei Tisch zufällig mit einem Messer an eine irdene Schüssel geschlagen hatte, achtete er darauf, daß sie einen lauten Ton hervorbrachte, dieser jedoch verstummte, sobald man die Hand an die Schüssel legte. Sogleich wollte er die Ursache hierfür wissen, und dieses Experiment veranlaßte ihn, viele weitere über die Töne anzustellen. Dabei entdeckte er derart viele Dinge, daß er im Alter von [elf Jahren] eine Abhandlung hierüber schrieb, die man als sehr gut durchdacht beurteilte. Sein mathematisches Genie zeigte sich schon, als er erst zwölf Jahre alt war, und zwar bei einer so außerordentlichen Begebenheit, daß sie es durchaus verdient, im einzelnen nacherzählt zu werden. Mein Vater war ein guter Kenner der Mathematik, und darum verkehrte er mit allen in dieser Wissenschaft erfahrenen Leuten, die oft bei ihm waren. Da es jedoch seine Absicht war, meinen Bruder in den Sprachen zu unterrichten, und da er wußte, daß die Mathematik den Geist ganz ausfüllt und zufriedenstellt, wünschte er nicht, daß mein Bruder sie kennenlernte, damit er das Lateinische und die anderen Sprachen nicht vernachlässigte, in denen er ihn ausbilden wollte. Darum hatte er alle Bücher weggeschlossen, die dieses Thema behandelten. Wenn er anwesend war, vermied er es, hierüber mit seinen Freunden zu sprechen : Doch diese Vorsicht konnte nicht verhindern, daß die Wißbegierde des Kindes erregt wurde, und darum bat es oft meinen Vater, ihn die Mathematik zu lehren. Das aber lehnte er ab und stellte es ihm als eine spätere Belohnung in Aussicht. Er versprach, ihn die Mathematik zu lehren, sobald er Latein und Griechisch beherrschte. Da mein Bruder sah, daß er nicht nachgeben wollte, fragte er ihn eines Tages, was diese Wissenschaft bedeute und was man in ihr behandele. Mein Vater sagte ganz allgemein, sie sei das Mittel, richtige Figuren zu entwerfen und ihre gegenseitigen Proportionen zu fi nden. Gleichzeitig verbot er ihm, wei-

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ter davon zu sprechen oder überhaupt daran zu denken. Aber dieser Geist konnte derartige Beschränkungen nicht ertragen, und sobald er die einfache Erklärung gehört hatte, die Mathematik ermögliche es, unfehlbar richtige Figuren zu entwerfen, dachte er selbst darüber nach, und in seinen Erholungsstunden, wenn er in ein Zimmer gekommen war, wo er gewöhnlich spielte, nahm er nun ein Kohlestück und zeichnete Figuren auf die Fliesen, wobei er zum Beispiel nach den Mitteln suchte, um einen vollkommen runden Kreis oder ein Dreieck, dessen Seiten und Winkel gleich wären, und andere ähnliche Dinge zu entwerfen. Das alles fand er mühelos heraus ; hierauf suchte er nach den gegenseitigen Proportionen der Figuren. Da ihm mein Vater jedoch all diese Dinge so sorgfältig verheimlicht hatte, daß er nicht einmal deren Namen kannte, sah er sich gezwungen, eigene für sich selbst zu erfi nden. Einen Kreis nannte er »ein Rund«, eine Linie »einen Strich« und so weiter. Nach diesen Namen bildete er Axiome und schließlich vollkommene Beweisführungen, und da man bei solchen Dingen vom einen zum anderen kommt, machte er immer größere Fortschritte und trieb seine Untersuchung so weit voran, daß er bis zum zweiunddreißigsten Lehrsatz im ersten Buch Euklids vordrang. Als er gerade damit beschäftigt war, betrat mein Vater zufällig den Raum, in dem sich mein Bruder befand, ohne daß er es hörte. Er fand ihn so eifrig beschäftigt, daß er dessen Ankunft lange nicht bemerkte. Man kann nicht sagen, wer mehr überrascht war, der Sohn, weil er seinen Vater sah und an das von ihm ausgesprochene ausdrückliche Verbot dachte, oder der Vater, als er seinen Sohn inmitten all dieser Dinge entdeckte. Doch die Überraschung des Vaters wurde noch weitaus größer, als er seinen Sohn gefragt hatte, was er da treibe, und dieser ihm antwortete, daß er eine bestimmte Sache untersuche, die sich als der zweiunddreißigste Lehrsatz im Buch Euklids erwies.1 Vgl. Euklid : Die Elemente. 1. Teil. Leipzig 1933 (Ostwald’s Klassiker der exakten Wissenschaften. 235), S. 23. »An jedem Dreieck ist 1

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Mein Vater fragte ihn, was ihn auf diesen Gedanken gebracht hätte, und er antwortete, das sei deshalb, weil er eine bestimmte andere Sache herausgefunden hätte, und als ihm mein Vater dazu die gleiche Frage stellte, nannte er ihm auch noch einige Beweise, die er aufgestellt hatte, und indem er so Schritt für Schritt zurückging und sich dabei solcher Namen wie »Runde« und »Striche« bediente, kam er schließlich zu seinen Defi nitionen und seinen Axiomen. Mein Vater war so erschrocken über die Größe und Kraft dieses Genies, daß er ihn verließ, ohne ein Wort zu sagen, und zu Monsieur Le Pailleur 2 ging, der sein vertrauter Freund und ebenfalls hochgelehrt war. Sobald er bei ihm angekommen war, blieb er unbeweglich stehen, als wäre er ganz verstört. Da Monsieur Le Pailleur das sah und sogar bemerkte, daß er weinte, ängstigte er sich sehr und bat ihn, den Grund seiner Betrübnis nicht länger zu verheimlichen. Mein Vater sagte : »Ich weine nicht vor Kummer, sondern vor Freude. Sie wissen, wie sorgfältig ich meinem Sohn die Kenntnis der Mathematik vorenthalten habe, um ihn nicht von seinen anderen Studien abzulenken. Doch hören Sie nun, was er getan hat.« Hierauf zeigte er ihm selbst, was sein Sohn entdeckt hatte und womit sich gewissermaßen die Behauptung rechtfertigen ließe, dieser habe die Mathematik erfunden. Monsieur Le Pailleur war nicht weniger überrascht als mein Vater, und er erklärte, daß er es nicht für gerecht halte, diesen Geist noch länger zu fesseln und ihm diese Kenntnisse weiter

der bei Verlängerung einer Seite entstehende Außenwinkel den beiden gegenüberliegenden Innenwinkeln zusammen gleich, und die drei Winkel innerhalb des Dreiecks sind zusammen zwei Rechten gleich.« Mesnar d OC 1, 574 kommentiert, daß diese empirisch zustandegekommene Entdeckung laut Gilberte keineswegs die der vorangehenden einunddreißig Lehrsätze voraussetze. 2 Jacques Le Pailleur , † 1654, der Freund Étienne Pascals gehörte zum Kreis der Akademie Mersennes, die er nach 1648 leitete. Die oben genannte Begebenheit gehört in das Jahr 1635. Blaise Pascal

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zu verheimlichen ; daß man ihm die Bücher zeigen müsse, ohne ihn fortan zurückzuhalten. Da mein Vater das für richtig hielt, gab er ihm die Elemente Euklids, damit er sie in seinen Erholungsstunden lesen sollte. Er studierte und verstand sie ganz allein, ohne jemals eine Erklärung zu benötigen. Und während er sie studierte, verarbeitete er sie und erreichte so große Fortschritte, daß er regelmäßig an den Zusammenkünften teilnehmen konnte, die allwöchentlich stattfanden und bei denen sich die größten Pariser Gelehrten versammelten, um ihre eigenen Werke vorzustellen und die der anderen zu prüfen. Mein Bruder konnte sowohl bei der Prüfung anderer Werke als auch bei den eigenen Werken seinen Rang behaupten, denn er gehörte zu jenen, die dort am häufigsten etwas Neues vorstellten. Bei diesen Zusammenkünften untersuchte man auch sehr oft Lehrsätze, die aus Deutschland und anderen fremden Ländern zugeschickt wurden, und bei alldem fragte man ihn nach seiner Ansicht und schenkte ihm größere Aufmerksamkeit als jedem anderen ; denn er hatte so lebhafte Geistesgaben, daß er zuweilen Fehler entdeckte, die den anderen entgangen waren. Gleichwohl nutzte er nur die Erholungsstunden für dieses Studium, denn damals lernte er Latein nach den Regeln, die mein Vater ausdrücklich für ihn aufgestellt hatte. Da er jedoch in dieser Wissenschaft die Wahrheit fand, die er stets so leidenschaftlich gesucht hatte, befriedigte sie ihn so sehr, daß er seinen ganzen Geist darauf verwendete, und wenn er sich auch nur wenig damit beschäftigte, machte er deshalb so große Fortschritte, daß er im Alter von sechzehn Jahren eine Abhandlung über die Kegelschnitte 3 verfaßte, die man als eine so große geistige Leistung ansah, daß man sagte, seit Archimedes hätte man nichts derart Bedeutendes gesehen.

schrieb ihm später einen Brief über seine Diskussionen mit dem Pater Noël (vgl. OC [Lafuma], S. 208– 215). 3 OC (Lafuma), S. 35 – 37.

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Alle Gelehrten waren der Meinung, daß man dieses Werk sogleich drucken sollte, denn sie erklärten, wenn man es zu der Zeit drucke, da sein Autor erst sechzehn Jahre alt sei, werde dieser Umstand es noch weitaus schöner erscheinen lassen, obwohl es auch sonst stets bewundernswert bleiben werde. Da mein Bruder indes nie vom Ruhmesstreben beseelt wurde, kümmerte er sich überhaupt nicht darum, und darum wurde dieses Werk nie gedruckt. Während jener ganzen Zeit lernte er weiter unablässig Latein und Griechisch, und außerdem unterhielt sich mein Vater mit ihm während der Mahlzeiten und danach bald über die Logik, bald über die Naturwissenschaft und die anderen Teile der Philosophie, und das ist alles, was er davon lernte, da er ja nie eine Schule besuchte und hierfür und für alles übrige nie andere Lehrer hatte. Wie man sich vorstellen kann, fand mein Vater außerordentliches Vergnügen an den Fortschritten, die mein Bruder in allen Wissenschaften machte ; doch er bemerkte nicht, daß diese großen und ununterbrochenen Anstrengungen in einem solch zarten Alter dessen Gesundheit stark beeinträchtigen konnten, und sie war tatsächlich schon geschwächt, sobald er das Alter von achtzehn Jahren erreicht hatte. Da aber die Beschwerden, die er damals verspürte, noch nicht sehr schlimm waren, hinderten sie ihn nicht daran, all seine gewöhnlichen Beschäftigungen fortzusetzen, und so ersann er in jener Zeit, im Alter von neunzehn Jahren, die Rechenmaschine 4, mit der man nicht nur alle Arten von Rechenoperationen ohne Schreibfeder oder Rechenpfennige ausführt, sie vielmehr sogar ausführen kann, ohne eine arithmetische Regel zu kennen, und das mit unfehlbarer Sicherheit. Man hat dieses Werk als eine neuartige Naturerscheinung angesehen, weil damit eine Wissenschaft, die ganz allein im Geist zu Hause ist, auf eine Maschine be-

Die Texte hierzu fi nden sich in OC (Lafuma), S. 187 – 195, eine Abbildung der Maschine ebd. S. 193. 4

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schränkt wurde und man so die Mittel gefunden hat, alle Rechenoperationen vollkommen zuverlässig auszuführen, ohne seine Vernunft anstrengen zu müssen. Diese Arbeit ermüdete ihn sehr, und das nicht wegen seines Vorhabens oder wegen der Bewegungen, die er mühelos entdeckte, sondern weil er den Handwerkern all diese Dinge begreiflich machen mußte, und daher brauchte er zwei Jahre, bis er ihr die Vollkommenheit verlieh, in der sie sich heute befi ndet. Doch diese Erschöpfung und seine damalige, seit einigen Jahren andauernde Gesundheitsschwäche brachten ihm Beschwerden, die ihn nicht mehr verlassen haben, und darum hat er uns manchmal gesagt, seit seinem achtzehnten Lebensjahr hätte er keinen Tag ohne Schmerzen zugebracht. Da aber seine Beschwerden nicht immer gleich heftig waren, war sein Geist sogleich bestrebt, etwas Neues zu suchen, sobald er ein wenig Erholung verspürte. Nachdem er in jener Zeit, im Alter von dreiundzwanzig Jahren, das Experiment Torricellis geprüft hatte, erfand er ein anderes, das man das Experiment mit dem leeren Raum nennt, und führte es aus.5 Es beweist ganz eindeutig, daß alle [Wirkungen], die man bisher dem leeren Raum zugeschrieben hatte, durch die Schwere der Luft verursacht werden. Dieses Thema war das letzte, bei dem er seinen Geist für die menschlichen Wissenschaften verwendete, und obwohl er danach die Rollkurve 6 erforscht hat, widerspricht das nicht dem, was ich sage ; denn er fand sie, ohne darüber nachzudenken, und auf eine Weise, die zu der Annahme berechtigt, daß er keinen besonderen Fleiß darauf verwendete, wie ich es an gegebener Stelle ausführen werde. Unmittelbar danach, als er noch nicht vierundzwanzig Jahre alt war, sorgte die göttliche Vorsehung für einen Anlaß, der ihn nötigte, fromme Schriften zu lesen. Gott erleuchtete ihn durch diesen heiligen Lesestoff so sehr, daß

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Die Texte dazu fi nden sich in OC (Lafuma), S. 195 – 263. Die Texte dazu fi nden sich in OC (Lafuma), S. 104 – 185.

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er vollkommen verstand, daß uns die christliche Religion verpfl ichtet, nur für Gott zu leben und kein anderes Ziel als ihn zu haben. Und diese Wahrheit erschien ihm so offenkundig, so notwendig und so nützlich, daß sie allen seinen Forschungen ein Ende machte. Darum verzichtete er seit jener Zeit auf alle anderen Erkenntnisse, um sich der einzigen Sache zu widmen, die Jesus Christus als notwendig bezeichnet. Er war bis dahin durch einen besonderen Schutz der Vorsehung von allen Lastern der Jugend bewahrt geblieben und hatte sich, was bei einem derart kraftvollen und willensstarken Geist noch ungewöhnlicher ist, bei religiösen Dingen niemals der Freigeisterei hingegeben, da er seine Wißbegierde stets auf die natürlichen Erscheinungen beschränkt hatte, und er hat mir mehrmals gesagt, daß er diese Verpfl ichtung mit allen anderen verbinde, die er von meinem Vater erhalten hätte, den selbst sehr große Ehrfurcht vor der Religion beseelte und der ihm diese von Kindheit an eingeflößt hätte, indem er ihn als Grundsatz lehrte, daß alles, was Gegenstand des Glaubens sei, kein Gegenstand der Vernunft sein dürfte. Diese Grundsätze, die ihm ein Vater oft wiederholte, den er sehr hoch achtete und bei dem er sah, daß er großes Wissen mit einer sehr klaren und sehr starken Urteilskraft vereinte, machten einen so tiefen Eindruck auf seinen Geist, daß er sich von allen Reden der Freigeister nicht rühren ließ, und obwohl er ganz jung war, sah er sie als Leute an, die das falsche Prinzip vertraten, daß die menschliche Vernunft über allen Dingen stehe, und die das Wesen des Glaubens nicht erkannten. So war denn dieser überaus große, weite und wißbegierige Geist, der so sorgfältig nach der Ursache und dem Grund von allem suchte, zugleich allen religiösen Geboten wie ein Kind unterworfen. Diese Einfalt hat ihn zeitlebens beherrscht, so daß er sogar von dem Augenblick an, da er sich entschloß, sich keinem anderen Studium mehr als [dem] der Religion zu widmen, sich nie mit theologischen Spekulationen abgab, sondern die ganze Kraft seines Geistes darauf verwandte, die vollkom-

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mene christliche Moral zu erkennen und zu befolgen. Ihr hat er alle ihm von Gott gegebenen Talente gewidmet, denn in seinem ganzen übrigen Leben hat er nichts anderes getan, als Tag und Nacht über das Gesetz Gottes nachzudenken. Obwohl er allerdings die scholastische Theologie nicht im besonderen studiert hatte, kannte er durchaus die Entscheidungen der Kirche gegen die Häresien, die der menschliche Geist in seiner Spitzfi ndigkeit und Verirrung ersonnen hat, und gegen derartige Untersuchungen war er ganz besonders erbittert. Zu jener Zeit gab ihm Gott eine Gelegenheit, seinen Eifer für die Religion zu bekunden. Er war damals in Rouen, wo mein Vater im Dienst des Königs stand und wo sich zur gleichen Zeit auch ein Mann 7 aufhielt, der eine neue Philosophie lehrte, die alle Neugierigen anlockte. Da zwei junge Männer, die mit meinem Bruder befreundet waren, ihn gedrängt hatten, ging er mit ihnen zusammen hin ; doch als sie sich mit diesem Mann unterhielten und er ihnen die Grundsätze seiner Philosophie darlegte, stellten sie höchst überrascht fest, daß er hieraus Folgerungen zu gewissen Glaubenspunkten ableitete, die den Entscheidungen der Kirche entgegengesetzt waren. Er bewies mit Vernunftschlüssen, daß der Leib Jesu Christi nicht aus dem Blut der Heiligen Jungfrau gebildet sei und noch verschiedene ähnliche Dinge. Sie wollten ihm widersprechen, doch er beharrte nachdrücklich auf seinen Ansichten. Nachdem sie miteinander bedacht hatten, wie gefährlich es wäre, einen Mann, der Irrlehren vertrat, ungehindert die Jugend unterrichten zu lassen, beschlossen sie daher, ihn zunächst zu warnen und ihn anzuzeigen, wenn er sich ihren Ratschlägen widersetzte. So kam es auch, denn er mißachtete diesen Rat. Deshalb hielten sie es für

Es handelt sich um Jacques Forton, Sieur de Saint-Ange-Montcard, einen Kapuziner, den Autor von La Conduite du jugement naturel (1. Teil, 1637 ; 2. Teil, 1641 ; 3. Teil, 1645). Vgl. dazu H. Gouhier : Pascal et les humanistes chrétiens. L’affaire Saint-Ange. Paris : Vrin, 1974. 7

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ihre Pfl icht, ihn bei Monseigneur du Bellay 8 anzuzeigen, der damals in der Diözese von Rouen im Auftrag des hochwürdigsten Herrn Erzbischofs die bischöflichen Amtsaufgaben wahrnahm. Monseigneur du Bellay ließ diesen Mann holen, und als er ihn befragte, wurde er durch ein doppelsinniges Glaubensbekenntnis getäuscht, das er eigenhändig schrieb und unterzeichnete, wobei er sich im übrigen wenig um einen derart wichtigen Rat kümmerte, den ihm drei junge Leute gegeben hatten. Sobald sie dieses Glaubensbekenntnis sahen, erkannten sie jedoch dessen ganze Unzulänglichkeit, und das nötigte sie, in Gaillon den Erzbischof von Rouen aufzusuchen, der die ganze Angelegenheit prüfte und für so wichtig hielt, daß er ein Sendschreiben an seinen Rat richtete und Monseigneur du Bellay die ausdrückliche Anweisung erteilte, diesen Mann bei allen Punkten, deren er angeklagt war, zum Widerruf zu zwingen und von ihm nur etwas entgegenzunehmen, wenn es über die Vermittlung jener, die ihn angezeigt hatten, geschähe. Dies wurde ausgeführt, und er erschien vor dem Rat des Erzbischofs und widerrief all seine Ansichten ; und man kann sagen, daß er es aufrichtig tat, denn er hat nie Bitterkeit gegen jene gezeigt, die ihm diese Angelegenheit eingetragen hatten. Das berechtigt zu der Annahme, daß er sich selbst von den falschen Folgerungen täuschen ließ, die er aus seinen falschen Prinzipien ableitete. Deshalb trifft es durchaus zu, daß man ihm bei dieser Angelegenheit nicht schaden wollte und nichts anderes beabsichtigte, als ihn aus seinem Irrtum zu reißen und daran zu hindern, die jungen Leute zu verführen, die nicht imstande gewesen wären, bei derart spitzfi ndigen Fragen das

Es handelt sich um Jean-Pierre Camus (1584 – 1652), den zurückgetretenen Bischof von Belley [damals auch Bellay], der von 1646 bis 1649 Generalvikar von François de Harlay, dem Erzbischof von Rouen, war. Er hat über zweihundert Bände verfaßt : fromme Romane, polemische Schriften und mystische Werke. Vgl. J. Calvet : Camus. In : Catholicisme 2, Sp. 449 f. und I. Noyé in : LThK 2 2, Sp. 913. 8

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Wahre vom Falschen zu unterscheiden. So fand diese Angelegenheit ein gütliches Ende. Da mein Bruder immer eifriger nach den Mitteln suchte, Gott wohlgefällig zu sein, erreichte diese Liebe zur Vollkommenheit von seinem vierundzwanzigsten Jahr an eine solche Inbrunst, daß sie auf das ganze Haus übergriff. Mein Vater, der es nicht als Schande empfand, auf die Belehrung seines Sohns zu hören, führte seitdem ein strengeres und stets tugendhaftes Leben bis zu seinem Tod, der ganz christlich war.9 Meine Schwester 10, die höchst ungewöhnliche geistige Anlagen besaß und sich schon seit ihrer Kindheit eines Rufes erfreute, den nur wenige Mädchen in einem fortgeschritteneren Alter erreichen, ließ sich ebenfalls von den Reden meines Bruders so tief rühren, daß sie sich entschloß, auf alle Vorteile zu verzichten, die sie bisher so sehr geliebt hatte, und sich ganz Gott zu weihen. Da sie viel Geist hatte, verstand sie, sobald Gott ihr Herz zum Glauben geneigt hatte, ebensogut wie mein Bruder alles, was er über die Heiligkeit der christlichen Religion sagte, und da sie es nicht ertragen konnte, in der Unvollkommenheit zu verharren, in der sie sich, wie sie glaubte, in der Welt befand, wurde sie Nonne in einem sehr strengen Haus in Port-Royal des Champs, und dort ist sie im Alter von sechsunddreißig Jahren gestorben, nachdem sie die schwierigsten Aufgaben bewältigt und sich so in kurzer Zeit durch ein

Vgl. den Brief vom 17. 10. 1651 in B. Pascal : Briefe. Leipzig 1935, S. 99 – 117. 10 Jacqueline Pascal (1625 – 1661). Schon als Kind zeigte sich ihre literarische Begabung. 1652 trat sie in Port-Royal ein. Ihr Ordensname war Sœur Jacqueline de Sainte-Euphémie. Sämtliche erhaltene Schriften von Jacqueline Pascal sind abgedruckt in OC 2 (Mesnar d), S. 189 ff., 209 ff., 2189 f., 255 ff., 272 ff., 284 ff., 302 ff., 478 ff., 580 ff., 614 ff., 694 ff., 701 ff., 731 ff., 746 ff., 819 ff., 954 ff. ; OC 3, S. 61 f., 165 ff., 173 ff., 438 ff., 444 f., 800 ff., 958 ff., 969 ff., 984 ff., 1135 ff. ; OC 4, S. 792, 926 ff., 929 ff., 960 ff., 1035 ff., 1055 ff., 1073 ff., 1104 ff., 1126 ff. Die Ausgabe enthält noch weitere Dokumente zu Jacqueline Pascal. 9

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Verdienst vervollkommnet hatte, das andere erst nach vielen Jahren erreichen. Mein Bruder war damals vierundzwanzig Jahre alt ; seine Beschwerden waren immer schlimmer geworden, und sie hatten sich dermaßen gesteigert, daß er keine Flüssigkeit mehr zu sich nehmen konnte, wenn sie nicht warm war, und auch dann nur tropfenweise. Da er jedoch außerdem an beinahe unerträglichen Kopfschmerzen, Hitze in den Eingeweiden und vielen anderen Übeln litt, verordneten ihm die Ärzte drei Monate lang für jeden zweiten Tag ein Abführmittel, und so mußte er denn alle Mittel auf die einzige Art einnehmen, die ihm möglich war, das heißt, indem er sie warm machen ließ und tropfenweise schluckte. Das war eine wahre Marter, und seine Angehörigen schauderten schon allein bei diesem Anblick ; doch mein Bruder beklagte sich nie. Das alles sah er als vorteilhaft für sich an. Denn da er keine andere Wissenschaft mehr kannte als die der Tugend und da er wußte, daß man sich durch seine Krankheiten darin vervollkommnet, machte er freudig aus all seinen Leiden ein Opfer seiner Buße, denn er entdeckte die Vorzüge des Christentums in allen Dingen. Er sagte oft, früher hätten ihn seine Beschwerden von seinen Studien abgelenkt, und das hätte ihn bekümmert, aber ein Christ fi nde bei allem seinen Vorteil, und das gelte ganz besonders für die Leiden, weil man darin den gekreuzigten Jesus Christus erkenne, der die ganze Wissenschaft eines Christen und der einzige Ruhm seines Lebens sein müsse.11 Er nahm diese Arzneien ständig weiter, und zusammen mit den anderen, die man ihm verordnete, brachte ihm das eine gewisse Erleichterung, aber nicht vollkommene Gesundheit. Darum glaubten die Ärzte, für seine vollständige Genesung müsse er auf jede einigermaßen regelmäßige geistige Betätigung verzichten, und er solle so oft wie möglich jede Gele-

Vgl. unten das »Gebet zu Gott um den rechten Gebrauch der Krankheiten«. 11

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genheit wahrnehmen, seinen Geist mit etwas Unterhaltsamem und Angenehmem zu zerstreuen, das heißt, kurz gesagt, mit den gewöhnlichen Unterhaltungen der Welt ; denn für meinen Bruder gab es keine anderen annehmbaren Zerstreuungen. Aber welche Möglichkeit hat ein Mensch, der wie er im Innersten gerührt ist, sich zu etwas Derartigem zu entschließen ? Tatsächlich fiel es ihm zunächst sehr schwer. Doch man drängte ihn dermaßen von allen Seiten, daß er sich schließlich von dem Scheingrund umstimmen ließ, er müsse seine Gesundheit wiederherstellen : Man überzeugte ihn, daß sie ein uns anvertrautes Gut sei und daß wir, wie Gott wolle, uns sorgfältig um sie kümmern müssen. Also trat er nun in die Welt ein : Er hielt sich mehrmals bei Hofe auf, wo höchst erfahrene Leute bemerkten, daß er sogleich den richtigen Ton und die Manieren mit einer derartigen Leichtigkeit annahm, als wäre er sein ganzes Leben dort erzogen worden. Wenn er von der Welt sprach, erläuterte er tatsächlich all ihre Triebfedern so genau, daß man sich unschwer vorstellen konnte, wie gut er imstande war, diese Federn in Bewegung zu setzen und sich allem hinzugeben, was er tun mußte, um sich dem so weit anzupassen, wie er es für vernünftig hielt. Das war die am schlechtesten genutzte Zeit seines Lebens : Zwar blieb er durch die Barmherzigkeit Gottes vor den Lastern bewahrt, doch schließlich war es immerhin die Wesensart der Welt, die von jener des Evangeliums grundverschieden ist. Gott, der größere Vollkommenheit von ihm verlangte, wollte ihn nicht lange Zeit dabei lassen und bediente sich hierfür meiner Schwester, um ihn herauszuholen, wie er sich zuvor meines Bruders bedient hatte, um meine Schwester aus ihren weltlichen Verpfl ichtungen zu lösen. Seitdem sie ins Kloster gegangen war, hatte ihre Inbrunst jeden Tag zugenommen, und ihre ganze Gesinnung war nur von vorbehaltloser Heiligkeit beseelt. Darum konnte sie es nicht ertragen, daß jener, dem sie nach Gott die Gnade, deren sie sich erfreute, zu verdanken hatte, nicht derselben Gnade

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teilhaftig war, und da mein Bruder sie oft sah, sprach sie mit ihm auch oft darüber, und schließlich tat sie es so nachdrücklich, daß sie ihn von dem überzeugte, wovon er sie als erster überzeugt hatte, nämlich die Welt und alle Unterhaltungen der Welt zu verlassen, deren unschuldigste nichts als ständige Torheiten sind, ganz und gar unwürdig der Heiligkeit des Christentums, zu der wir alle berufen sind und für die Jesus Christus uns das Vorbild gegeben hat. Sein Gesundheitszustand, der ihm zuvor so nahegegangen war, erschien ihm nun als ein derart kläglicher Grund, daß er sich selbst dessen schämte. Das Licht der wahren Weisheit offenbarte ihm, daß das Heil allen Dingen vorzuziehen ist und daß es eine verkehrte Überlegung war, wenn man an einem vergänglichen Gut unseres Leibes festhielt, während es um unser ewiges Seelenheil ging. Er war dreißig Jahre alt, als er beschloß, sich von den neuen Verpfl ichtungen, die er in der Welt hatte, zurückzuziehen ; er begann damit, seinen Wohnsitz zu verlegen, und um noch mehr mit all seinen Gewohnheiten zu brechen, ging er aufs Land. Als er nach einer längeren Zeit der Einsamkeit von dort zurückkehrte, zeigte er so deutlich, daß er die Welt verlassen wollte, daß die Welt schließlich ihn verließ. Denn er richtete sich ja in all seinen Handlungen stets nach Grundsätzen : So, wie sein Geist und sein Herz beschaffen waren, konnten sie kein anderes Verhalten zulassen. Die Grundsätze, die er sich in seiner Zurückgezogenheit vornahm, waren diese ganz zuverlässigen Regeln der wahren Frömmigkeit, zum einen, allen Freuden zu entsagen, und zum anderen, auch auf alles Überflüssige zu verzichten. Um die erste Regel anzuwenden, begann er zunächst damit, fortan auf die Hilfe der Diener so weitgehend wie möglich zu verzichten, und daran hat er sich immer gehalten : Er machte sich sein Bett selbst, holte seine Mahlzeiten aus der Küche, brachte sein Geschirr zurück und beanspruchte die Dienste seiner Leute schließlich nur noch für die Dinge, die er überhaupt nicht selbst ausführen konnte.

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Es war ihm unmöglich, auf den Gebrauch seiner Sinne zu verzichten ; doch wenn er sich notgedrungen gezwungen sah, ihnen eine gewisse Freude zu bereiten, bewies er eine wunderbare Geschicklichkeit, den Geist von dieser Freude abzulenken, damit er keinen Anteil daran nahm. Bei den Mahlzeiten haben wir nie gehört, daß er die Speisen lobte, die man ihm auftrug, und wenn man manchmal dafür gesorgt hatte, ihm etwas besonders Leckeres vorzusetzen, und ihn dann fragte, ob es ihm geschmeckt habe, sagte er einfach : »Man hätte mich vorher darauf aufmerksam machen müssen, denn jetzt erinnere ich mich nicht mehr daran, und ich gestehe Ihnen, daß ich nicht darauf geachtet habe.« Als jemand die Vortrefflichkeit einer Speise bewunderte, wie es den allgemeinen Anstandsregeln entsprach, konnte er es nicht ertragen und bezeichnete es als sinnlich, selbst wenn es sich um die alltäglichsten Dinge handelte, »weil es«, wie er sagte, »ein Zeichen war, daß man ißt, um seinen Geschmack zu befriedigen, was stets ein Übel ist, oder wenigstens eine Sprache benutzt, die jener der sinnlichen Menschen entspricht und sich nicht für einen Christen schickt, der sogar nur etwas sagen soll, das eine heilige Wesensart hat«. Er wollte nicht gestatten, daß man eine Soße oder ein Ragout kochte, ja nicht einmal, daß man ihm Apfelsinenoder Traubensaft oder auch etwas gab, das den Appetit anregte, obwohl er von Natur aus all diese Dinge gern hatte. Als er sein zurückgezogenes Leben begann, hatte er die Nahrungsmenge festgelegt, die er für die Bedürfnisse seines Magens brauchte ; seitdem ging er nie über dieses Maß hinaus, so groß sein Appetit auch sein mochte, und er zwang sich außerdem dazu, das zu essen, was er festgelegt hatte, so groß seine Abneigung auch sein mochte. Wenn man ihn fragte, warum er das tue, antwortete er, man müsse die Bedürfnisse des Magens und nicht die des Appetits befriedigen. Doch die Abtötung seiner Sinne beschränkte sich nicht allein darauf, daß er sich beim Essen wie bei den Arzneien alles versagte, was den Sinnen angenehm sein konnte : Er hat auch vier Jahre regelmäßig Kraftbrühen zu sich genommen, ohne

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den geringsten Widerwillen zu zeigen. Es genügte, daß man ihm etwas verordnet hatte, und er nahm es ohne Widerstreben, und wenn ich mich wunderte, daß er es nicht verabscheute, einige sehr widerwärtige Arzneien einzunehmen, machte er sich über mich lustig und sagte, er selbst könne nicht begreifen, wie man Widerwillen zeige, wenn man etwas freiwillig einnehme, nachdem man gewarnt worden sei, daß es schlecht schmecke ; denn nur Zwang und Überraschung dürften solche Wirkungen hervorrufen. Im folgenden kann man mühelos feststellen, wie nachdrücklich er auf alle möglichen geistigen Freuden verzichtete, an denen die Eigenliebe beteiligt sein kann. Mit nicht geringerer Sorgfalt wendete er die andere Regel an, die er sich vorgenommen hatte und die sich aus der ersten ergibt, nämlich, auf alles Überflüssige zu verzichten … Er hatte sich allmählich damit abgefunden, keine Tapeten mehr in seinem Zimmer zu haben, weil er das nicht für notwendig hielt ; außerdem war er durch keine Anstandsvorschrift dazu verpfl ichtet, denn ihn besuchten nur noch Leute, denen er ohne [Unterlaß] die Selbstbeschränkung empfahl und die folglich nicht überrascht waren, wenn sie sahen, daß er ebenso lebte, wie er es den anderen riet.12 [So hat er fünf Jahre, von seinem dreißigsten bis zu seinem fünfunddreißigsten Lebensjahr, verbracht und unablässig für Gott oder für seinen Nächsten oder für sich selbst gewirkt, indem er danach trachtete, sich immer weiter zu vervollkommnen ; und man könnte gewissermaßen sagen, daß dies seine ganze Lebenszeit war ; denn die vier Jahre, die Gott ihm danach noch geschenkt hat, waren nichts als ein ständiges Dahinsiechen. Es handelte sich eigentlich nicht um eine Krankheit, die neu aufgetreten wäre, sondern um eine Zunahme der

Die Ausgaben von 1684, bei Abraham Wolfgang, Amsterdam, und von 1686, bei Guillaume Desprez, Paris, setzen den folgenden Abschnitt hierher, der im Manuskript 4546 der Bibliothèque Mazarine (Paris) fehlt, dem die Ausgabe von Louis Lafuma ansonsten folgt. 12

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schlimmen Beschwerden, unter denen er seit seiner Jugend gelitten hatte. Damals befielen sie ihn jedoch so heftig, daß er ihnen schließlich erlag ; und während dieser Zeit konnte er nicht einen Augenblick an dem großen Werk arbeiten, das er für die Religion begonnen hatte 13, und auch nicht den Leuten, die sich ratsuchend an ihn wandten, mit mündlichen oder schriftlichen Auskünften helfen : denn seine Leiden waren so groß, daß er ihnen nicht beistehen konnte, obwohl er es von ganzem Herzen wünschte.] Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß er sich von überflüssigen Besuchen frei gemacht hatte, und er wollte sogar überhaupt niemanden mehr sehen. Da man jedoch stets einen Schatz überall dort sucht, wo er sich befi ndet, und da es Gott nicht gestattet, daß ein Licht, das angezündet wurde, um zu erleuchten, unter den Scheffel gestellt wird, besuchten ihn einige Leute [von hohem Stande] und geistvolle Persönlichkeiten, die er früher kennengelernt hatte, in seiner Einsamkeit und fragten ihn um Rat. Andere, die Zweifel in Glaubensangelegenheiten hegten und wußten, daß er tiefe Einsichten in diese Dinge hatte, wandten sich ebenfalls an ihn ; und die einen wie die anderen, von denen manche noch leben, kamen stets hochzufrieden von ihm zurück, und noch heute bezeugen sie bei jeder Gelegenheit, daß sie seinen Aufklärungen und Ratschlägen das Gute verdanken, das sie erkennen und vollbringen. Obwohl er sich nur aus Gründen der christlichen Liebe auf Gespräche einließ und sich sorgfältig in acht nahm, um nichts von dem zu verlieren, wonach er in seiner Zurückgezogenheit strebte, empfand er doch Sorge und Furcht, die Eigenliebe könne ihn einige Freude an diesen Gesprächen fi nden lassen ; und er machte es sich zur Regel, keine Unterhaltung zuzulassen, bei der dieser Grundsatz der Eigenliebe auch nur im geringsten beteiligt wäre. Andererseits glaubte er, diesen Leuten

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Nämlich der »Apologie«, die in den Pensées dokumentiert ist.

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die Hilfe, die sie benötigten, nicht verweigern zu dürfen. So hatte er gleichsam einen Kampf zu bestehen. Aber der Geist der Kasteiung ist ja der Geist der christlichen Liebe selbst, die alles versöhnt, und er kam ihm zu Hilfe und brachte ihn auf den Gedanken, sich einen ganz mit Stacheln besetzten Eisengürtel zu verschaffen und ihn sich jedesmal auf das nackte Fleisch zu legen, wenn man ihm meldete, daß ihn einige Herren zu sprechen wünschten. Das führte er aus, und sobald in ihm ein selbstgefälliger Geist erwachte oder er Freude am Gespräch empfand, versetzte er sich Stöße mit dem Ellbogen, um die Heftigkeit der Stiche zu steigern und sich hierdurch wieder an seine Pfl icht zu erinnern. Diese Übung schien ihm so nützlich, daß er sich ihrer auch bediente, um sich gegen die Untätigkeit zu schützen, zu der er sich in seinen letzten Lebensjahren gezwungen sah. Da er in diesem Zustand weder lesen noch schreiben konnte, war er genötigt, die Zeit mit Nichtstun zu verbringen und umherzulaufen, ohne daß er sich mit einem vernünftigen Gedanken beschäftigen konnte. Er fürchtete mit gutem Grund, daß dieser Mangel an Beschäftigung, der die Wurzel allen Übels ist, ihn von seinen Einsichten abbringen könnte. Und um stets auf der Hut zu sein, hatte er sich diesen freiwillig gewählten Feind gleichsam einverleibt, der, wenn er in seinen Leib stach, unablässig seinen Geist anspornte, seine Inbrunst zu bewahren, und der ihm so die Möglichkeit gab, einen sicheren Sieg zu erringen. Doch er hielt das alles so geheim, daß wir überhaupt nichts davon wußten, und wir haben es erst nach seinem Tod von einer sehr tugendhaften Persönlichkeit erfahren, die er liebte und der er es [aus] Gründen mitteilen mußte, die diese selbst betrafen. Die ganze Zeit, die ihm nicht auf die von uns soeben genannte Weise durch die Werke der christlichen Liebe entzogen wurde, verwandte er auf das Gebet und die Lektüre der Heiligen Schrift. Das war gleichsam der Mittelpunkt seines Herzens, worin er seine Freude und alle Ruhe seiner Zurückgezogenheit fand. Es ist wahr, daß er eine ganz besondere Gabe hatte, den Vorteil dieser beiden so überaus wertvollen

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und heiligen Beschäftigungen zu nutzen. Man konnte sogar sagen, daß sie bei ihm nicht getrennt waren : Denn während er betete, meditierte er über die Heilige Schrift. Oft sagte er, daß die Heilige Schrift nicht eine Wissenschaft des Geistes, sondern des Herzens und nur denen verständlich sei, die ein rechtschaffenes Herz haben, und daß alle anderen nur Dunkelheit darin fi nden, daß der Schleier, der für die Juden über der Heiligen Schrift liege, auch für die schlechten Christen darüber gebreitet sei und daß die christliche Liebe nicht nur der Gegenstand der Heiligen Schrift, sondern auch der Weg zu ihr sei. Er ging noch weiter und sagte außerdem, daß man gut vorbereitet sei, die Heilige Schrift zu verstehen, wenn man sich selbst hasse und das schmerzensreiche Leben Jesu Christi liebe. In dieser Haltung las er die Heilige Schrift, und er hatte sich so gründlich mit ihr beschäftigt, daß er sie beinahe ganz auswendig kannte, und man durfte sie ihm nicht falsch zitieren, denn er erklärte sofort ausdrücklich : »Das steht nicht in der Schrift«, oder : »Das steht darin«, er nannte die genaue Stelle und überhaupt alles, was dazu dienen konnte, ihm das vollkommene Verständnis aller Wahrheiten sowohl des Glaubens als auch der Moral zu vermitteln. Er hatte eine so wunderbare Gewandtheit des Geistes, daß er alles verschönte, was er sagte, und obwohl er manche Dinge nur aus den Büchern gelernt hatte, schienen sie etwas ganz anderes zu sein, wenn er sie auf seine Weise verarbeitet hatte, weil er es verstand, sich immer so auszudrücken, wie es notwendig war, damit sie Eingang in den menschlichen Geist fanden. Von Natur besaß er außerordentliche Geistesgaben ; doch überdies hatte er sich ganz besondere Regeln der Beredsamkeit erarbeitet, die seinen Fähigkeiten noch größere Wirkung verliehen. Es war nicht das, was man schöne Gedanken nennt, die nur einen falschen Glanz haben und nichts bedeuten : Nie machte er große Worte, und er gebrauchte nur wenige metaphorische Ausdrücke, in seiner Redeweise gab es nichts Dunkles, Derbes oder Herrisches, keine Auslassungen oder überflüssigen Worte. Vielmehr verstand er die Beredsamkeit als

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ein Mittel, die Dinge so zu sagen, daß alle, zu denen man spricht, sie ohne Mühe und mit Vergnügen begreifen können ; und er meinte, daß diese Kunst in bestimmten inneren Gemeinsamkeiten besteht, die es zwischen dem Geist und dem Herzen derjenigen, zu denen man spricht, und den Gedanken und Ausdrücken, deren man sich bedient, geben muß, daß aber diese Verhältnisse eigentlich nur durch die Wendung übereinstimmen, die man ihnen gibt. Darum hatte er das Herz des Menschen und seinen Geist gründlich erforscht : Er kannte all ihre Triebkräfte auf das vollkommenste. Wenn er über etwas nachdachte, versetzte er sich an die Stelle derjenigen, die es hören sollten ; er prüfte, ob alle Verhältnisse richtig eingehalten waren, und hierauf erkannte er, welche Wendung er seinen Gedanken geben mußte, und er war nicht eher zufrieden, bis er nicht klar gesehen hatte, daß das eine – das heißt seine Gedanken – für das andere – für den Geist desjenigen, den er aufsuchen sollte – so gut geschaffen war, daß es für den Geist des betreffenden Menschen unmöglich wäre, dies nicht mit Freuden anzuerkennen, sobald man beides mit der erforderlichen Gründlichkeit aufeinander abstimmen konnte. Was klein war, machte er nicht groß, und was groß war, machte er nicht klein. Es genügte ihm nicht, daß etwas schön wirkte ; vielmehr sollte es dem Gegenstand angemessen sein und nichts Überflüssiges enthalten, doch es durfte ihm auch nichts fehlen. Schließlich beherrschte er seinen Stil so sehr, daß er alles sagte, was er wollte, und seine Rede stets so wirkte, wie er es sich vorgenommen hatte. Und diese wahrhaftige, treffende, angenehme, kraftvolle und natürliche Schreibweise war ihm zugleich so eigentümlich und besonders, daß man sofort nach dem Erscheinen der Briefe an einen Herrn in der Provinz zu dem richtigen Urteil kam, daß sie von ihm verfaßt waren, obwohl er es selbst vor seinen Angehörigen sorgfältig verborgen hatte.14

Beachtenswert ist, wie kurz die Auseinandersetzung um die Lettres provinciales abgehandelt wird. 14

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In jener Zeit gefiel es Gott, meine Tochter von einer Tränenfistel zu heilen, unter der sie dreieinhalb Jahre gelitten hatte. Diese Fistel war so schlimm, daß die erfahrensten Chirurgen von Paris sie für unheilbar erklärten ; und schließlich hatte Gott es sich vorbehalten, sie durch die Berührung eines heiligen Dorns zu heilen, der in Port-Royal aufbewahrt wird ; mehrere Chirurgen und Ärzte bezeugten dieses Wunder, und das feierliche Urteil der Kirche beglaubigte es. Meine Tochter war das Patenkind meines Bruders ; doch dieses Wunder ging ihm noch mehr zu Herzen, weil es zu Gottes Ruhm diente und weil es zu einer Zeit geschah, da der Glaube der meisten Menschen gering war. Das bereitete ihm eine so große Freude, daß er ganz von ihr durchdrungen war, und da sich sein Geist nie mit etwas beschäftigte, ohne gründlich darüber nachzudenken, fielen ihm bei diesem besonderen Wunder einige sehr bedeutsame Gedanken über die Wunder des Alten wie des Neuen Testaments im allgemeinen ein. Wenn es Wunder gibt, so gibt es etwas, das über jenes hinausgeht, was wir die Natur nennen. Daraus ergibt sich die vernünftige Schlußfolgerung : Man braucht sich nur von der Gewißheit und Wahrheit der Wunder zu überzeugen. Hierfür gibt es nun aber Regeln, die gleichfalls der gesunden Vernunft entsprechen, und diese Regeln erweisen sich bei den Wundern im Alten Testament als richtig. Diese Wunder sind also wahr : Also gibt es etwas, das über die Natur hinausgeht. Doch diese Wunder tragen auch noch Zeichen, daß Gott ihr Ursprung ist ; und für die im Neuen Testament gilt im besonderen, daß jener, der sie wirkte, der Messias war, den die Menschen erwarten mußten. Wie also die Wunder des Alten und des Neuen Testaments beweisen, daß es einen Gott gibt, beweisen die des Neuen Testaments im besonderen, daß Jesus der wahre Messias war. Er ergründete das alles mit wunderbarer Hellsichtigkeit, und wenn wir ihn hiervon sprechen hörten und er uns alle besonderen Umstände des Alten und des Neuen Testaments erläuterte, unter denen diese Wunder berichtet werden, er-

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schienen sie uns klar. Man konnte die Wahrheit dieser Wunder und die Folgerungen nicht leugnen, die er daraus ableitete, um Gott und den Messias zu beweisen, ohne gegen die allgemeinsten Prinzipien zu verstoßen, auf deren Grundlage man Sicherheit bei allen Dingen gewinnt, die als unzweifelhaft gelten sollen. Man hat einige von diesen Gedanken zusammengetragen ; aber es sind wenige, und ich würde mich für verpflichtet halten, hierüber ausführlicher zu schreiben, um sie nach alldem, was wir von ihm hierüber gehört haben, deutlicher zu veranschaulichen, wenn uns nicht ein Freund von ihm eine Abhandlung über die Taten des Moses geliefert hätte 15, wo das alles bewundernswert gut aufgeklärt wird, und das auf eine Art, die meines Bruders nicht unwürdig wäre. Daher verweise ich auf dieses Werk und füge nur das hinzu, was so wichtig ist, daß es hier anzuführen ist, nämlich, daß all diese Überlegungen, die mein Bruder über die Wunder anstellte, ihm viele neue Einsichten über die Religion vermittelten. Da sich alle Wahrheiten voneinander ableiten lassen, reichte es aus, daß er sich mit einer beschäftigte, dann strömten ihm die anderen gleichsam haufenweise zu und läuterten sich so sehr in seinem Geiste, daß es ihn selbst entzückte, wie er uns oft gesagt hat, und bei dieser Gelegenheit geriet er in solchen Zorn gegen die Atheisten, daß er, da er in den Erleuchtungen, die Gott ihm gegeben hatte, die Mittel sah, um sie zu überzeugen und rettungslos zu beschämen, sich diesem Werk widmete, dessen Bruchstücke, die man später zusammengetragen hat, uns zutiefst bedauern lassen, daß es ihm unmöglich war, sie selbst zu sammeln und mit allem, was er noch hinzufügen konnte, daraus ein Gesamtwerk von vollendeter Schönheit zu machen.16 Gewiß wäre er dessen

Vgl. Filleau de La Chaise : Discours sur les preuves des livres de Moïse. 1672. Der Text ist vielen älteren Ausgaben der Pensées zusammen mit dem Discours sur les Pensées de M. Pascal desselben Autors beigegeben, z. B. der Ausgabe Amsterdam : Wetstein, 1699. 16 Nämlich das in den Pensées dokumentierte Projekt. 15

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fähig gewesen, doch Gott, der ihm allen Geist gegeben hatte, wie er für ein so großes Vorhaben notwendig war, gab ihm nicht genug Gesundheit, um es so zu vollenden. Er wollte zeigen, daß die christliche Religion ebenso viele Zeichen der Gewißheit wie jene Dinge hat, die von der Welt als ganz unanfechtbar anerkannt werden. Hierfür bediente er sich keiner metaphysischen Beweise : nicht etwa, weil er geglaubt hätte, sie seien geringzuschätzen, wenn man sie richtig veranschaulichte. Aber er sagte, sie lägen dem gewöhnlichen Denken der Menschen sehr fern, nicht alle seien für sie empfänglich, und denen, die sich für sie eigneten, nützten sie nur einen Augenblick, denn eine Stunde später wüßten sie nicht, was sie dazu sagen sollten, und fürchteten, sich getäuscht zu haben.17 Er sagte außerdem, daß uns derartige Beweise nur zu einer spekulativen Gotteserkenntnis führen können und daß es bedeute, Gott nicht zu erkennen, wenn man Gott auf diese Weise erkenne. Er durfte sich auch nicht der gewöhnlichen Überlegungen bedienen, die man aus den Werken der Natur ableitet ; gleichwohl achtete er sie, weil die Heilige Schrift sie bestätigt hatte und weil sie der Vernunft entsprechen, aber er glaubte, sie seien dem Geist und der Herzensneigung derjenigen, die er überzeugen wollte, nicht angemessen genug. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß, so weit man sie auch mit diesem Mittel bringen konnte, doch nichts eher geeignet war, sie abzustoßen und ihnen die Hoffnung zu nehmen, die Wahrheit zu fi nden, als wenn man sie auf diese Weise, lediglich mit derartigen Überlegungen, überzeugen wollte, denen sie sich so oft widersetzt haben, daß die Verhärtung ihres Herzens sie für diese Stimme der Natur taub gemacht habe, und so wäVgl. Laf. 190 : »Die metaphysischen Gottesbeweise liegen dem menschlichen Denken so fern und sind so verwickelt, daß sie kaum zu Herzen gehen, und wenn das auch einigen nützlich sein sollte, so würde es ihnen nur in dem Augenblick nützen, da sie diese Beweisführung vor Augen haben, doch eine Stunde danach fürchten sie, sich getäuscht zu haben.« 17

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ren sie schließlich einer Verblendung erlegen, aus der sie sich nur durch Jesus Christus befreien könnten, ohne den uns jede Gottesgemeinschaft genommen ist, denn es steht geschrieben : Niemand kennet den Vater denn nur der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren [Mt 11, 27]. Die Gottheit der Christen ist kein Gott, der lediglich ein Schöpfer geometrischer Wahrheiten und der Ordnung der Elemente wäre : Das ist den Heiden eigen. Sie ist kein Gott, der seine Vorsehung über das Leben und die Güter der Menschen walten läßt, um ihnen eine glückliche Folge von Jahren zu geben : Das ist den Juden eigen. Aber der Gott Abrahams und Jakobs, der Gott der Christen ist ein Gott der Liebe und des Trostes : Es ist ein Gott, der Herz und Seele derjenigen erfüllt, die ihn besitzen. Es ist ein Gott, der sie im Inneren ihr Elend und seine unendliche Barmherzigkeit fühlen läßt, der sich mit ihnen in ihrer tiefsten Seele vereinigt und sie mit Demut, Glauben, Vertrauen und Liebe erfüllt, der sie unfähig macht, ein anderes Ziel als ihn selbst zu haben. Der Gott der Christen ist ein Gott, der die Seele fühlen läßt, daß er ihr einziges Gut ist, daß all ihre Ruhe in ihm ist und daß sie nur Freude finden wird, wenn sie ihn liebt, und zugleich läßt er sie die Hemmnisse verabscheuen, die sie zurückhalten und daran hindern, ihn mit aller Kraft zu lieben. Die Eigenliebe und die Begierde, die sie aufhalten, sind ihr unerträglich, und Gott läßt sie fühlen, daß sie an ihrem Grunde diese Eigenliebe hat und daß er allein sie davon heilen kann. Das heißt, Gott auf christliche Weise zu erkennen. Um ihn aber so zu erkennen, muß man zugleich sein Elend und seine Unwürdigkeit erkennen, und daß man einen Mittler braucht, um Gott zu nahen und sich mit ihm zu vereinigen. Man darf diese Erkenntnisse nicht trennen, denn getrennt sind sie nicht nur unnütz, sondern auch schädlich. Die Erkenntnis Gottes ohne die Erkenntnis unseres Elends führt zu Hochmut 18 ; die

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Vgl. Laf. 192.

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Erkenntnis unseres Elends ohne Jesus Christus führt zu Verzweiflung. Aber die Erkenntnis Jesu Christi befreit uns von Hochmut und Verzweiflung, weil wir durch sie Gott als einzigen Tröster in unserem Elend und als den einzigen Weg fi nden, es zu überwinden. Wir können Gott erkennen, ohne unser Elend zu erkennen, oder unser Elend erkennen, ohne Gott zu erkennen, oder sogar Gott und unser Elend erkennen, ohne das Mittel zu erkennen, uns aus dem Elend zu erretten, das uns erdrückt. Aber wir können Jesus Christus nicht erkennen, ohne sowohl Gott als auch unser Elend zu erkennen, weil er nicht lediglich Gott, sondern ein Gott ist, der uns von unserem Elend erlöst. So fi nden all jene, die Gott ohne Jesus Christus suchen, kei ne Erleuchtung, die sie befriedigen oder ihnen wahrhaft nützlich sein kann, denn entweder gelangen sie nicht zu der Erkenntnis, daß es einen Gott gibt, oder wenn sie so weit kommen, ist das für sie unnütz, weil sie sich ein Mittel schaffen, ohne Mittler mit diesem Gott zu verkehren, den sie ohne Mittler erkannt haben, und dadurch verfallen sie dem Atheismus und dem Deismus, zwei Dinge, die der christlichen Religion beinahe in gleicher Weise ein Greuel sind.19 Man muß also ausschließlich danach streben, Jesus Christus zu erkennen, denn allein durch ihn können wir beanspruchen, Gott auf eine Weise zu erkennen, die uns nützt. Er ist der wahrhaftige Gott der Menschen, der Elenden und der Sünder ; er ist der Mittelpunkt von allem und das Ziel von allem, und wer ihn nicht erkennt, erkennt nichts in der natürlichen Ordnung der Welt noch in sich selbst, denn wir erkennen nicht allein Gott nur durch Jesus Christus, sondern wir erkennen auch uns selbst nur durch Jesus Christus. Ohne Jesus Christus ist der Mensch notwendig in Sünde und Elend ; mit Jesus Christus ist der Mensch frei von Sünde Vgl. Laf. 449 : »… Deismus …, der bei nahe ebenso weit von der christlichen Religion wie der Atheismus, ihr vollständiges Gegenteil, entfernt ist.« 19

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und Elend. In ihm sind all unser Glück, unsere Tugend, unser Leben, unsere Einsicht und unsere Hoffnung, und ohne ihn gibt es nur Sünde, Elend, Finsternis und Verzweiflung, und wir sehen nur Dunkelheit und Verwirrung in der Natur Gottes und in unserer eigenen Natur. Diese Aussprüche stammen Wort für Wort von ihm selbst, und ich hielt es für notwendig, sie hier anzuführen, weil sie uns wunderbar deutlich zeigen, welcher Geist sein Werk beseelte und wie die Art, in der er es gestalten wollte, gewiß am besten geeignet war, auf das menschliche Herz einzuwirken. Ein Hauptpunkt der Redekunst, die er sich erarbeitet hatte, bestand nicht nur darin, nichts Unverständliches oder Schwerverständliches zu sagen, sondern auch darin, Dinge zu sagen, bei denen sich die Angesprochenen betroffen fühlten, denn er war überzeugt, daß uns in diesem Fall die Eigenliebe stets unfehlbar veranlassen würde, darüber nachzudenken, und da wir außerdem die Dinge auf zwei unterschiedliche Arten aufnehmen können (denn entweder betrüben oder trösten sie uns), meinte er, man dürfe nie betrüben, ohne zu trösten, und es sei das Geheimnis der Redekunst, alles maßvoll zu ordnen.20 Bei den Beweisen für Gott und die christliche Religion, die er anführen mußte, wollte er nur etwas sagen, das der Fassungskraft all jener entsprach, für die sie bestimmt waren, und der Mensch sollte sich von ihnen betroffen fühlen, weil er entweder in sich selbst all die guten oder bösen Dinge spürte, auf die man ihn hinwies, oder weil er klar erkannte, daß er keinen besseren und vernünftigeren Entschluß fassen könnte, als zu glauben, daß es einen Gott, an dem wir uns erfreuen können, und einen Mittler gibt, der gekommen ist, um uns Gottes Gnade zu verdienen, und der uns schon in diesem Leben durch die Tugenden, die er in uns erweckt, viel glücklicher macht, als man es durch alles sein könnte, was uns die Welt verspricht, und der uns die Gewißheit gibt, daß wir im Himmel vollkom-

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Vgl. Laf. 43 : »Wenig tröstet uns, weil wenig uns betrübt.«

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men glücklich sein werden, wenn wir ihn auf den Wegen verdienen, die er uns gezeigt und beispielhaft vorgelebt hat. Obwohl er überzeugt war, daß alles, was er auf diese Weise über die Religion zu sagen hatte, sehr klar und beweiskräftig schien, glaubte er gleichwohl nicht, daß es auch auf jene so wirken mußte, die in Gleichgültigkeit dahinlebten und die, da sie in sich selbst keine überzeugenden Einsichten fanden, es versäumten, sie anderswo und vor allem in der Kirche zu suchen, wo sie in größter Fülle erscheinen. Denn er stellte diese beiden Wahrheiten als fest begründet dar : daß Gott vor allem in der Kirche wahrnehmbare Zeichen gesetzt hat, damit er denjenigen erkennbar wurde, die ihn aufrichtig suchen, und daß er sie indes so verhüllt hat, daß nur diejenigen ihn bemerken werden, die ihn von ganzem Herzen suchen. Wenn er ein Gespräch mit Atheisten führen mußte, begann er darum nie gleich mit dem Disput und führte auch nicht als erstes die Grundsätze ein, die er vorzutragen hatte, vielmehr wollte er zuvor erkennen, ob sie die Wahrheit von ganzem Herzen suchten, und das bestimmte sein Verhalten ihnen gegenüber, indem er ihnen entweder half, die ihnen fehlende Einsicht zu finden, wenn sie aufrichtig nach ihr suchten, oder indem er ihre Bereitschaft weckte, nach ihr zu suchen und daraus ihre ernsthafteste Beschäftigung zu machen, bevor er sie belehrte, wenn sie wollten, daß ihnen seine Belehrung von Nutzen sein würde. Seine Beschwerden hinderten ihn daran, sich gründlicher um sein Vorhaben zu bemühen. Er war ungefähr vierunddreißig Jahre alt, als er sich diesem Vorhaben widmete ; er verbrachte ein ganzes Jahr damit, sich darauf vorzubereiten ; und zwar so, wie es ihm seine übrigen Beschäftigungen gestatteten, indem er nämlich die verschiedenen Gedanken sammelte, die ihm dazu einfielen ; und am Ende des Jahres, das heißt in seinem fünfunddreißigsten Jahr, dem fünften Jahr seines zurückgezogenen Lebens, litt er aufs neue unter derart übermächtigen Beschwerden, daß er in den vier Jahren, die er noch lebte – wenn man das zutiefst erbarmenswerte Dahinsiechen, in dem er sie verbrachte, Leben nennen darf –, nichts mehr tun konnte.

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Man kann nicht ohne innigste Betrübnis an dieses Werk denken, wenn man sieht, daß die schönste und in dem Jahrhundert, in dem wir leben, vielleicht nützlichste Arbeit nicht vollendet wurde. Ich würde es nicht wagen, zu behaupten, daß wir ihrer nicht würdig waren. Wie dem auch sei, Gott wollte gewissermaßen durch diese Probe zeigen, wozu mein Bruder dank der Größe seines Geistes und der Talente, die er ihm gegeben hatte, fähig war, und wenn ein anderer dieses Werk vollenden könnte, würde ich glauben, daß sich ein so großes Gut nur erlangen läßt, indem man wiederum viel betet. Als die Krankheiten meinen Bruder nun aufs neue heimsuchten, begannen sie mit Zahnschmerzen, die ihm vollständig den Schlaf raubten. Aber welche Möglichkeit gibt es für einen Geist wie den seinen, zu wachen und an nichts zu denken ? Darum fielen ihm gerade in einer jener schlaflosen Nächte, die er außerdem sehr häufig erlebte und die ihn sehr erschöpften, einige Gedanken über die Rollkurve ein. Dem ersten Gedanken folgte ein zweiter, dem zweiten ein dritter ; und schließlich kam eine ganze Fülle von Gedanken hinzu, die sich auseinander ergaben. Gleichsam ohne sein Zutun enthüllten sie ihm den Beweis der Rollkurve, über den er selbst überrascht war. Da er jedoch seit langem auf all diese Dinge verzichtet hatte, dachte er nicht einmal daran, etwas aufzuschreiben. Gleichwohl hatte er einer Persönlichkeit, der er aus Achtung vor ihren Verdiensten und aus Dankbarkeit für die Zuneigung, mit der sie ihn beehrte, alle erdenkliche Ehrerbietung schuldete, hiervon erzählt, und diese Persönlichkeit entwarf einen Plan, der von dieser Entdeckung ausging und allein zu Gottes Ruhm dienen sollte : Sie forderte meinen Bruder auf, alles aufzuschreiben, was ihm eingefallen war, und es drucken zu lassen.21

Es handelt sich laut Mesnar d OC 1, S. 586, um Arthur Gouffier duc de Roannez (1627– 1696), seit 1653 enger Freund Pascals, vgl. zu ihm DicPR , S. 874 – 878. 21

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Es ist unglaublich, wie schnell er das zu Papier brachte, denn er schrieb ununterbrochen, solange sich seine Hand bewegen konnte, und er hatte es in sehr wenigen Tagen beendet. Er machte keine Abschrift, sondern gab die Blätter nacheinander ab, sobald er sie fertig hatte. Man druckte auch noch etwas anderes von ihm, das er gleichfalls nach und nach abgab, wie er es verfaßt hatte, und so lieferte er den Druckern zwei unterschiedliche Arbeiten. Für seinen Geist war das nicht zuviel, aber sein Körper konnte dem nicht standhalten, denn diese letzte Belastung richtete seine Gesundheit vollends zugrunde und versetzte ihn in jenen zutiefst betrüblichen Zustand, von dem wir gesprochen haben, in dem er nicht mehr schlucken konnte. Aber wenn es ihm seine Beschwerden unmöglich machten, den anderen zu dienen, so waren sie doch für ihn selbst nicht nutzlos, denn er erduldete sie mit so großer Geduld, daß man glauben und sich mit diesem Gedanken trösten darf, daß Gott ihn in den Zustand versetzen wollte, in dem er nach seinem Willen vor ihm erscheinen sollte. Tatsächlich dachte er nur noch daran, und indem er sich die beiden Grundsätze, die er sich gegeben hatte, nämlich auf alle Freuden und auf alles Überflüssige zu verzichten, stets vor Augen hielt, verwirklichte er sie mit noch größerer Inbrunst, als drängte ihn die schwere Bürde der christlichen Liebe, die schon spürte, daß er sich dem Mittelpunkt näherte, in dem er sich der ewigen Ruhe erfreuen sollte. Indes kann man die besondere Haltung, in der er alle neuen Beschwerden der vier letzten Jahre seines Lebens ertrug, durch nichts besser als durch jenes bewundernswerte Gebet zu Gott um den rechten Gebrauch der Krankheiten 22 erkennen, das er uns mitgeteilt und in jener Zeit verfaßt hat. Denn man darf nicht zweifeln, daß er all diese Dinge, da sie in seinem Geist waren, auch im Herzen bewahrte und daß er sie allein auf diese Weise niedergeschrieben hat, weil er sie auch selbst verwirklicht hat.

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Vgl. unten in diesem Band.

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Wir können sogar versichern, daß wir es als Zeugen miterlebt haben und daß, wenn nie jemand besser über den guten Gebrauch der Krankheiten geschrieben hat, auch noch nie jemand diesen Gedanken besser verwirklicht hat, um all jene zu erbauen, die es sahen. Einige Jahre zuvor hatte er einen Brief über den Tod meines Vaters geschrieben 23, in dem man sieht, wie er verstand, daß ein Christ dieses Leben als ein Opfer betrachten muß und daß die verschiedenen Unglücksfälle, die uns heimsuchen, uns nur in dem Maße zu Herzen gehen dürfen, wie sie dieses Opfer unterbrechen oder vollenden. Darum bedeutete der todesnahe Zustand, dem er in seinen letzten Lebensjahren unterworfen war, für ihn ein Mittel, sein Opfer zu vollenden, das durch den Tod abgeschlossen werden sollte. Er betrachtete diesen Zustand des Dahinsiechens mit Freude, und wir erlebten alle Tage, daß er Gott mit seiner ganzen Dankbarkeit dafür pries. Wenn er mit uns über den Tod sprach, den er näher glaubte, als es dann wirklich der Fall war, sprach er mit uns zugleich immer über Jesus Christus und sagte, der Tod ohne Jesus Christus sei entsetzlich, aber in Jesus Christus sei er liebenswert, heilig und die Freude des Gläubigen ; wenn wir unschuldig wären, würde zwar das Grauen vor dem Tod vernünftig sein, weil es der Naturordnung widerspreche, daß ein Unschuldiger bestraft werde ; und in dem Fall würde man ihn zu Recht hassen, wenn er eine heilige Seele von einem heiligen Leib trennen könnte. Doch nun sei es gerecht, ihn zu lieben, weil er eine heilige Seele von einem unreinen Leib trenne ; es wäre gerecht gewesen, [ihn] zu hassen, wenn er den Frieden zwischen Seele und Leib zerstörte, das gelte aber nicht für diese Zeit, in der er ihre unversöhnliche Zwietracht besänftige, da er dem Leib die unheilvolle Freiheit zu sündigen nehme und die Seele in die glückliche Notwendigkeit versetze, nur noch Gott

Vgl. den Brief vom 17. 10. 1651 in B. Pascal : Briefe. Leipzig 1935, S. 99 – 117. 23

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loben zu können und mit ihm in einer ewigen Gemeinschaft verbunden zu sein. Dennoch dürfe man die uns von der Natur gegebene Liebe zum Leben nicht verdammen, weil wir sie von Gott selbst empfangen haben ; man müsse sie jenem Leben widmen, wofür sie uns von Gott gegeben sei, das heißt einem unschuldigen und glückseligen Leben und nicht einem entgegengesetzten Ziel. Jesus Christus habe sein Leben geliebt, weil es unschuldig war, er habe den Tod gefürchtet, weil er bei ihm einen Gott wohlgefälligen Leib traf. Da es sich aber bei unserem Leben, das ein sündiges Leben sei, nicht ebenso verhalte, müßten wir uns entschließen, ein Leben zu hassen, das dem Jesu Christi widerspreche, und einen Tod zu lieben und nicht zu fürchten, der, indem er in uns ein solcherart sündhaftes und überaus elendes Leben beende, uns die Freiheit gebe, zusammen mit Jesus Christus vor Gott zu erscheinen und ihn von Angesicht zu Angesicht zu schauen, ihn ewiglich und vorbehaltlos anzubeten, zu preisen und zu lieben. Dieselben Grundsätze bewogen ihn, sich so hingebungsvoll der Buße zu widmen, denn er sagte, man müsse einen sündigen Leib bestrafen, nämlich ihn durch ständige Buße vorbehaltlos bestrafen, weil er sich sonst gegen den Geist empöre und sich allen Vorstellungen des Heils widersetze. Da wir indes nicht den Mut hätten, uns selbst zu bestrafen, müßten wir uns Gott sehr verpfl ichtet fühlen, wenn es ihm gefalle, das zu tun ; darum pries er ihn unablässig für die Leiden, die er ihm gesandt hatte und die er als ein Feuer ansah, das durch ein tägliches Opfer nach und nach seine Sünden verbrannte, und so bereitete er sich vor, während er darauf wartete, daß es Gott gefallen möge, ihm den Tod zu schicken, der das vollkommene Opfer abschließen sollte. Er hatte die Armut stets so sehr geliebt, daß er fortwährend an sie dachte ; und sobald er etwas unternehmen wollte oder jemand ihn um einen Rat bat, war es darum der erste Gedanke, der ihm vom Herzen in den Geist empordrang, daß er prüfte, ob sich dabei die Armut anwenden ließe. Doch die Liebe zu dieser Tugend wuchs an seinem Lebensende so sehr, daß ich ihm keine größere Freude bereiten konnte, als wenn ich mit

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ihm davon redete und mir anhörte, was er uns stets bereitwillig darüber sagte. Nie hat er jemandem ein Almosen verweigert, obwohl er sehr wenig besaß und die Ausgaben, zu denen er durch seine Krankheiten genötigt war, seine Einkünfte überstiegen. Er gab immer nur etwas von dem, was für ihn unbedingt notwendig war. Doch wenn man ihm darüber Vorhaltungen machen wollte, besonders, wenn er einige beträchtliche Almosen spendete, so bekümmerte ihn das, und er sagte uns : »Ich habe erkannt, daß man, wie arm man auch sein mag, bei seinem Tod doch immer etwas hinterläßt.« Damit ging er zuweilen so weit, daß er, um leben zu können, sein Vermögen verpfänden und Geld auf Zinsen leihen mußte, weil er den Armen alles gegeben hatte, was er besaß, und sich danach nicht an seine Freunde wenden wollte, denn er hielt sich an die Grundregel, sich niemals von den Nöten anderer belästigt zu fühlen, aber stets zu befürchten, die anderen mit seinen Nöten zu belästigen. Sobald das Unternehmen für den Kutschendienst gegründet war 24, sagte er mir, er wolle auf seinen Anteil einen Vorschuß von tausend Livres erbitten, um sie den Armen von Blois und der umliegenden Gegend zu schicken, die damals sehr große Not litten. Und da ich ihm sagte, dieses Geschäft sei noch nicht sicher und man müsse zunächst ein Jahr warten, antwortete er, darin sehe er keinen großen Nachteil, wenn nämlich diejenigen, mit denen er verhandelte, verlieren sollten, so werde er es ihnen von seinem Besitz zurückerstatten, und es falle ihm gar nicht ein, noch ein Jahr zu warten, weil die Not zu dringlich sei. Da solche Geschäfte aber nicht von einem Tag auf den anderen zustande kommen, erhielten die Armen von Blois einen Beistand von anderer Seite, und mein Bruder war nur mit seinem guten Willen daran beteiligt, der uns zeigt, wie sehr das zutrifft, was er uns so oft gesagt hatte, daß er nur

Vgl. die Dokumente zu den »Carosses à cinq sols« OC 4 (Mesnar d), S. 1374 – 1437 und OC 2 (Le Guern), S. 525 – 540. 24

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Besitz haben wolle, um den Armen damit beizustehen, denn während er dachte, daß er möglicherweise etwas bekam, fing er gleich damit an, es im voraus zu verteilen, und das sogar schon, bevor er dessen sicher war. Man darf sich nicht wundern, daß jemand, der Jesus Christus so gut kannte, die Armen so sehr liebte und daß der Jünger sogar das hingab, was für ihn notwendig war, denn er trug ja im Herzen das Beispiel seines Meisters, der sich selbst hingegeben hatte. Doch die Lebensregel, zu der er sich bekannt hatte, nämlich, auf alles Überflüssige zu verzichten, hatte in ihm eine zuverlässige Grundlage für seine Liebe zur Armut geschaffen. Denn etwas, wobei er sich in Hinsicht auf diese Regel am gründlichsten prüfte, war jene allgemeine Maßlosigkeit, sich in allem auszeichnen zu wollen, die uns besonders beim Gebrauch der Weltdinge verleitete, stets die besten, schönsten und bequemsten haben zu wollen. Darum konnte er es nicht ertragen, daß man die Dienste der besten Arbeiter beanspruchen wollte, vielmehr sagte er uns, man müsse stets die ärmsten und die rechtschaffensten suchen und auf jene Vortrefflichkeit verzichten, die nie notwendig sei, und er tadelte es auch sehr, daß man sich derart eifrig um alle möglichen Bequemlichkeiten bemühe, wie etwa, alles nahe bei der Hand zu haben, ein Zimmer, in dem nichts fehle, und andere derartige Dinge, wie man es ohne Bedenken tue ; da er sich den Geist der Armut, der alle Christen beseelen müsse, zur Richtschnur machte, glaubte er, daß alles, was dem entgegenstünde, selbst wenn es von den üblichen Sittenregeln der Welt gutgeheißen würde, stets etwas Übermäßiges bedeute, weil wir in der Taufe darauf verzichtet hätten. Manchmal rief er laut : »Wenn mein Herz so arm wäre wie mein Geist, wäre ich sehr glücklich ; denn ich bin vom Geist der Armut wunderbar überzeugt und auch davon, daß die Übung dieser Tugend ein bedeutendes Mittel ist, um sein Heil zu erlangen.« All diese Reden bewirkten, daß wir in uns gingen, und manchmal veranlaßten sie uns auch, nach allgemeinen Regelungen zu suchen, mit denen man für alle Bedürfnisse sorgen

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könnte, und das trugen wir ihm vor. Aber er fand so etwas nicht gut und sagte, wir seien nicht zum Allgemeinen, sondern zum Besonderen berufen ; und er glaube, die Gott wohlgefälligste Art, den Armen zu dienen, bestehe darin, den Armen mit den Mitteln der Armut zu dienen, das heißt den eigenen Möglichkeiten entsprechend, ohne sich von großen Plänen überwältigen zu lassen, die zu jenem Drang nach Vortrefflichkeit gehören, den er bei allem tadele, sowohl im Geist als auch bei den Taten. Deshalb hielt er es nicht etwa für schlecht, daß man allgemeine Krankenhäuser einrichtete, doch er sagte, diese großen Unternehmungen seien bestimmten Personen vorbehalten, die Gott dazu ausersehen hätte und die er beinahe un merklich führe ; gleichwohl sei das nicht die gewöhnliche Berufung aller, wie dies für die besondere und tägliche Unterstützung der Armen gelte. Er hätte es gern gesehen, daß ich mich dem gewöhnlichen Dienst an den Armen gewidmet hätte, den ich mir gleichsam als Strafe für mein Leben auferlegen würde. Dazu ermahnte er mich mit großem Eifer, und er wollte auch, daß ich meinen Kindern diesen Wunsch eingab. Als ich entgegnete, ich müsse befürchten, daß mich so etwas von meinen Familienpflichten ablenke, antwortete er, es fehle nur an gutem Willen, und da es verschiedene Stufen bei der Ausübung dieser Tugend gebe, könne man durchaus die Zeit fi nden, sie zu verwirklichen, ohne seine häuslichen Beschäftigungen zu vernachlässigen, die christliche Liebe selbst gebe den entsprechenden Geist ein, und man brauche ihm nur zu folgen. Er erklärte, man habe kein besonderes Zeichen nötig, um zu wissen, ob man dazu berufen sei, vielmehr sei dies die allgemeine Berufung aller Christen ; denn danach werde Jesus Christus die Welt richten, es genüge, daß die Not allgemein verbreitet sei, damit wir es uns zur Aufgabe machen, sie mit allen Mitteln, die in unserer Macht stehen, zu überwinden, und wenn man im Evangelium sehe, daß allein die Unterlassung dieser Pfl icht der Grund zu ewiger Verdammnis sei, so müsse schon dieser Gedanke ausreichen, um uns zu veranlassen, auf alles zu verzichten und uns

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selbst hundertmal hinzugeben, wenn wir Glauben haben. Oft erklärte er auch noch, es sei außerordentlich nützlich, die Armen zu besuchen, wenn man nämlich ständig das Elend sehe, das sie bedrücke, und wie ihnen sogar oft die notwendigsten Dinge fehlen, müsse man schon sehr hart sein, um nicht freiwillig den unnützen Bequemlichkeiten und dem überflüssigen Putz zu entsagen. Das ist ein Teil der Lehren, die er uns gab, um die Liebe zur Armut in uns zu erwecken, die einen so großen Platz in seinem Herzen einnahm. Nicht weniger groß war seine Reinheit, denn er hatte so hohe Achtung vor dieser Tugend, daß er ständig auf der Hut war, damit sie weder bei ihm noch bei den anderen auch nur im geringsten verletzt wurde. Es ist nicht zu glauben, wie genau er es in diesem Punkt nahm. Anfangs brachte mich das sogar in Verlegenheit, denn an fast allen Redensarten, die man in der Welt gebrauchte und für ganz unschuldig hielt, fand er etwas auszusetzen. Wenn ich zum Beispiel zufällig sagte, ich hätte eine schöne Frau gesehen, wies er mich zurecht und erklärte, man dürfe solche Ausdrücke niemals vor Dienern und jungen Leuten gebrauchen, denn ich wisse ja nicht, zu welchen Gedanken sie dadurch verleitet würden. Ich wage kaum zu sagen, daß er nicht einmal die Liebkosungen ertragen konnte, die ich von meinen Kindern empfi ng. Er behauptete, das könne ihnen nur schaden, man könne ihnen seine innige Zuneigung auf tausend andere Arten zeigen. Es fiel mir weitaus schwerer, diesem letzten Rat zu folgen, doch danach gelangte ich zu der Einsicht, daß er darin ebenso recht hatte wie bei allem übrigen, und ich erkannte durch Erfahrung, daß ich gut daran tat, mich dem zu unterwerfen. All das geschah im häuslichen Bereich ; doch ungefähr drei Monate vor seinem Tod wollte ihm Gott eine Gelegenheit bieten, seinen gottgegebenen Eifer für die Reinheit nach außen zu zeigen. Denn als er eines Tages aus Saint-Sulpice zurückkam, wo er die heilige Messe gehört hatte, näherte sich ihm ein ungefähr fünfzehnjähriges Mädchen und bat ihn um ein Almosen. Sogleich dachte er an die Gefahr, der sie ausgesetzt

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war. Er erfuhr von ihr, daß sie vom Lande stammte, daß ihr Vater gestorben war und daß man gerade an diesem Tag ihre Mutter ins Krankenhaus Hôtel-Dieu gebracht hatte, so daß nun dieses arme Mädchen allein dastand und nicht wußte, was aus ihr werden sollte. Daraufhin glaubte er, Gott hätte sie ihm geschickt, und er schaffte sie unverzüglich ins Seminar, wo er sie der Fürsorge eines guten Priesters anvertraute ; er gab ihm Geld und bat ihn, ihr eine Stellung zu suchen, die ihr Sicherheit bieten würde. Um ihm die Mühe zu erleichtern, sagte er, er wolle ihm gleich am nächsten Tag eine Frau schicken, die diesem Mädchen Kleider und alles Notwendige kaufen werde, was es für eine Stellung brauchen würde. Tatsächlich schickte er ihm eine Frau, die mit diesem guten Priester so gewissenhaft zusammenarbeitete, daß sie dem Mädchen bald danach eine ehrbare Stellung verschafften. Dieser Geistliche kannte den Namen meines Bruders nicht, und er dachte zunächst nicht daran, ihn nach dem Namen zu fragen, weil er mit der Sorge um dieses Mädchen beschäftigt war. Da es nun aber untergebracht war, sann er (über diese Tat) nach, die er für so schön hielt, daß er den Namen des Mannes erfahren wollte, der sie ausgeführt hatte. Er erkundigte sich bei der Frau, doch sie erklärte, man habe sie angewiesen, den Namen vor ihm geheimzuhalten. »Verschaffen Sie sich die Erlaubnis«, sagte er. »Ich bitte Sie darum ; ich verspreche Ihnen, daß ich nicht darüber reden werde, solange er lebt. Sollte es Gott aber geschehen lassen, daß er vor mir stirbt, so würde es mir ein großer Trost sein, diese Tat öffentlich bekanntzumachen, denn ich fi nde sie so schön und beachtenswert, daß ich es nicht ertragen könnte, wenn sie vergessen bliebe.« Aber er hatte keinen Erfolg, und daher erkannte er, daß jener Mann, der verborgen bleiben wollte, ebenso bescheiden wie barmherzig war, und wenn er sich voller Eifer bemühte, die Reinheit der anderen zu bewahren, so bemühte er sich nicht weniger eifrig, seine eigene Bescheidenheit zu bewahren. Seinen Freunden und jenen gegenüber, von denen er glaubte, sie gehörten Gott, war er auf das innigste zugetan ; und

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man kann sagen, wenn nie ein Mensch würdiger war, geliebt zu werden, so hat es auch nie ein Mensch besser als er verstanden, zu lieben und diese Liebe in die Tat umzusetzen. Aber seine Zuneigung war nicht nur eine Wirkung seiner Gemütsart, denn obgleich sein Herz stets bereit war, sich von der Not seiner Freunde rühren zu lassen, ließ er sich doch immer nur so rühren, wie es den Grundsätzen des Christentums entsprach und wie es ihm Vernunft und Glauben vor Augen führten : Darum ging seine innige Zuneigung nie bis zur Anhänglichkeit, und sie war auch frei von aller Lust. Er konnte niemanden inniger lieben, als er meine Schwester liebte, und damit hatte er recht. Er sah sie oft ; er sprach mit ihr vorbehaltlos über alles ; bei allem ohne Ausnahme bereitete sie ihm Freude, denn zwischen ihren Gefühlen bestand eine so große Übereinstimmung, daß sie sich bei allem einigten ; ihre Herzen waren wahrhaftig nur ein Herz, und der eine fand beim anderen einen Trost, den nur jene verstehen können, die ein wenig vom gleichen Glück gekostet haben und wissen, was es bedeutet, derart vertrauensvoll zu lieben und geliebt zu werden, ohne zu befürchten, daß etwas zur Trennung führt – eine Liebe, in der alles Freude ist. Als er die Nachricht vom Tod meiner Schwester erhielt, der zehn Monate vor dem seinigen eintrat, sagte er dennoch nichts anderes als dies : »Gott gebe uns die Gnade, ebenso christlich zu sterben !« Danach sprach er mit uns nur über die Gnaden, die Gott meiner Schwester während ihres Lebens erwiesen hatte, und über die Umstände und die Zeit ihres Todes ; dann wandte er sich mit dem Herzen zum Himmel empor, wo sie, wie er glaubte, als Selige weilte, und er sagte uns in einer gewissen Verzückung : »Selig sind, die da sterben und die so im Herrn sterben.«25 Als er sah, daß ich betrübt war (denn es ist wahr, daß ich unter diesem Verlust sehr litt), tat ihm das leid, und er erklärte, das sei nicht gut, beim Tod der Gerechten

25

Vgl. Offb 14, 13.

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dürfe man solche Gefühle nicht haben, ganz im Gegenteil müßten wir Gott dafür loben, daß er sie so früh für die kleinen Dienste belohnt habe, die sie ihm erwiesen hätte. So zeigte er, daß er ohne Anhänglichkeit liebte, und hierfür erhielten wir einen weiteren Beweis beim Tod meines Vaters, für den er gewiß alle Empfi ndungen hegte, die ein dankbarer Sohn einem sehr liebevollen Vater entgegenbringen muß : Denn wir sehen in dem Brief, den er anläßlich seines Todes schrieb 26, daß, wenn ihn zunächst ein natürliches Gefühl rührte, doch die Vernunft bald die Oberhand gewann und daß seine Seele, da er dieses Ereignis im Licht des Glaubens betrachtete, zwar davon getroffen wurde, ihn dies jedoch nicht veranlaßte, meinen Vater zu beweinen, den er für die Erde verloren hatte, sondern ihn in Jesus Christus zu erblicken, in dem er ihn für den Himmel gewonnen hatte. Er unterschied zwei Arten von inniger Zuneigung, eine empfi ndsame und eine vernünftige, wobei er zugab, daß die erste von geringem Nutzen für die Weltkenntnis sei. Gleichwohl erklärte er, daß das Verdienst keinen Anteil an ihr habe und daß ehrbare Leute nur die vernünftige Zuneigung schätzen sollen, die nach seiner Ansicht darin bestehe, daß wir Anteil an allem, was unseren Freunden widerfahre, auf jede vernunftgemäße Weise nehmen, was auf Kosten unseres Vermögens, unserer Bequemlichkeit, unserer Freiheit und sogar unseres Lebens geschehen müsse, wenn es sich um jemanden handele, der es verdiene und der es immer verdiene, und wenn es darum gehe, ihm um Gottes willen zu dienen, der das einzige Ziel für alle Zuneigung der Christen sein müsse. »Ein Herz ist hart«, sagte er, »wenn es erkennt, was dem Nächsten nützt, und wenn es sich der Verpfl ichtung widersetzt, die es drängt, Anteil daran zu nehmen ; hingegen ist ein Herz weich, wenn es sich allem, was den Nächsten betrifft, leicht

Vgl. den schon genannten Brief in Pascal : Briefe. Leipzig 1935, S. 99 – 117. 26

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öffnet, indem es sich gewissermaßen nach allen Gefühlen richtet, die wir, wie es uns die Vernunft vorschreibt, bei solchen Gelegenheiten füreinander empfi nden sollen ; ein Herz, das sich freut, wenn es sich freuen soll, und das sich betrübt, wenn es sich betrüben soll.« Doch er fügte hinzu, daß die innige Zuneigung nur vollkommen sein könne, wenn die Vernunft vom Glauben erleuchtet werde und uns nach den Grundsätzen der christlichen Liebe handeln lasse. Deshalb machte er keinen großen Unterschied zwischen inniger Zuneigung und christlicher Liebe, ebensowenig zwischen christlicher Liebe und Freundschaft. Er verstand es lediglich so, daß die Freundschaft eine engere Bindung voraussetze, und diese Bindung wiederum eine ganz besondere Zuwendung, die bewirke, daß man sich von der Not seiner Freunde stärker rühren lasse, weil wir sie früher kennenlernen und wir uns von ihr leichter überzeugen können. Auf diese Weise verstand er die innige Zuneigung, und so bewirkte sie in ihm weder Anhänglichkeit noch Lust, denn da die christliche Liebe kein anderes Ziel als Gott haben kann, durfte sie nur ihm anhängen und sich auch nicht um etwas kümmern, das Lust bereitet, weiß sie doch, daß keine Zeit zu verlieren ist und daß Gott, der alles sieht und richtet, von uns Rechenschaft über alles in unserem Leben verlangen wird, was kein neuer Schritt voran auf dem einzigen erlaubten Weg, nämlich dem Weg zur Vollkommenheit, ist. Aber er hatte nicht nur keine Anhänglichkeit für die anderen, er wollte ebensowenig, daß die anderen sie für ihn hätten. Damit meine ich nicht jene sündhaften und gefährlichen Anhänglichkeiten, denn so etwas ist augenfällig und von allen deutlich zu erkennen ; vielmehr spreche ich von den unschuldigsten Freundschaften, deren Freuden gewöhnlich die Annehmlichkeiten der menschlichen Gesellschaft ausmachen. Sie gehörten zu den Dingen, bei denen er am strengsten auf sich achtete, um hierzu keinen Anlaß zu geben und ihre Entwicklung zu verhindern, sobald er entsprechende Anzeichen entdeckte ; und da ich von dieser Vollkommenheit weit entfernt

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war und glaubte, daß ich mich gar nicht eifrig genug um einen Bruder wie ihn kümmern konnte, der das Glück der Familie bedeutete, ließ ich es an keiner Aufmerksamkeit fehlen, die notwendig war, um ihm bei allem, was ich konnte, zu dienen und meine Freundschaft zu bekunden. Mit einem Wort, ich gestehe, daß ich an dieser Aufgabe hing und es mir als Verdienst anrechnete, jede Hilfe zu leisten, die ich als meine Pfl icht ansah : Doch er teilte diese Ansicht nicht, und da er, wie mir schien, äußerlich nicht genug Anteilnahme zeigte, um meine Gefühle zu erwidern, war ich nicht zufrieden und ging hin und wieder zu meiner Schwester, um ihr mein Herz zu eröffnen, und es fehlte wenig, daß ich mich darüber beklagt hätte. Meine Schwester beruhigte mich, so gut sie es vermochte, indem sie mich an die Gelegenheiten erinnerte, bei denen ich den Beistand meines Bruders gebraucht und er sich so eifrig und liebevoll bemüht habe, daß es für mich überhaupt keinen Grund gebe, daran zu zweifeln, daß er mich innig liebe. Doch das Geheimnis, warum er sich mir gegenüber derart zurückhaltend benahm, wurde mir erst am Tag seines Todes vollkommen [ent schleiert], als eine wegen ihrer Geistesgröße und Frömmigkeit höchst angesehene Persönlichkeit, mit der er in engem Austausch über tugendhaftes Handeln gestanden hatte, zu mir sagte, er habe es ihr immer als einen entscheidenden Grundsatz seiner Frömmigkeit dargestellt, nicht zu gestatten, daß man ihn anhänglich liebte, und daß dies ein Fehler sei, bei dem man sich nicht gründlich genug prüfe, der ernste Folgen nach sich ziehe und um so mehr zu fürchten sei, als wir ihn oft für weniger gefährlich halten. Noch nach seinem Tod erhielten wir einen Beweis dafür, daß ihm dieser Grundsatz sehr am Herzen lag ; denn damit er ihm stets gegenwärtig blieb, hatte er ihn eigenhändig auf ein kleines Blatt Papier geschrieben, das wir bei ihm fanden und das er, wie wir erkannten, oft gelesen hatte. Darauf stand : »Es ist unrecht, daß man sich an mich anschließt, wenn man es auch gern und freiwillig tut. Ich würde jene enttäuschen, bei denen ich ein solches Verlangen weckte, denn ich kann nie-

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mandem als Endziel dienen und habe nichts, womit ich sie zufriedenstellen könnte. Bin ich nicht auf den Tod vorbereitet ? Damit wird ja der Gegenstand ihrer Anhänglichkeit sterben. Wie ich also schuldig wäre, wenn ich den Glauben an etwas Falsches verbreitete, obwohl ich dazu im guten überredete und man mir damit eine Freude bereitete ; ebenso schuldig bin ich, wenn ich mich lieben lasse und wenn ich die Leute dafür gewinne, sich mir anzuschließen, denn sie sollen ihr Leben und ihre Bemühungen darauf verwenden, sich Gott anzuschließen und ihn zu suchen.« So belehrte er sich selbst, und so gut verwirklichte er seine eigenen Lehren. Daher hatte ich mich getäuscht, als ich über sein Verhalten mir gegenüber so urteilte, wie ich es getan hatte, denn ich hielt das für fehlende Zuneigung, was bei ihm eine Vollkommenheit seiner christlichen Liebe war. Wenn er aber nicht wollte, daß die Geschöpfe, die heute sind und morgen vielleicht nicht mehr sein werden, die es außerdem so wenig vermögen, sich selbst glücklich zu machen, sich auf diese Weise aneinander anschließen, so erkennen wir seine Absicht, daß sie sich allein Gott anschließen sollten ; das ist tatsächlich die rechte Ordnung, und man kann darüber nicht anders urteilen, wenn man es ernsthaft beachtet und dem wahren Licht folgen will. Deshalb darf man sich nicht wundern, daß er, der so erleuchtet und dessen Herz so gut geleitet war, sich diese überaus gerechten Grundsätze gegeben hatte und daß er sie so genau befolgte. Das geschah nicht nur bei diesem ersten Prinzip, das die Grundlage der christlichen Moral ist ; sondern er richtete sich auch mit solch großem Eifer nach Gottes Ordnung in allen anderen Dingen, die sich hieraus ergeben, daß er es nicht ertragen konnte, wenn sie bei irgend etwas verletzt wurde : Dies ließ ihn zu einem so eifrigen Diener des Königs werden, daß er sich während der Unruhen in Paris allen widersetzte. Sämtliche Gründe, die man vorbrachte, um die Rebellion zu rechtfertigen, bezeichnete er als Vorwände. Er erklärte, in einem als Republik eingerichteten Staatswesen wie etwa Venedig sei

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es ein sehr großes Übel, wenn man dazu beitrage, einen König einzusetzen und die Freiheit der Völker, die ihnen Gott gegeben habe, zu unterdrücken ; doch in einem Staat, in dem die Königsmacht fest eingerichtet sei, könne man nicht die dem König geschuldete Achtung verletzen, ohne so etwas wie ein Sakrileg zu begehen, weil die Macht, die Gott mit dem Königtum verbunden habe, nicht nur ein Ebenbild der Macht Gottes, sondern auch eine Teilhabe an ihr sei und man sich ihr darum nicht widersetzen dürfe, ohne sich offenkundig gegen Gottes Ordnung zu stellen. Da überdies der Bürgerkrieg, der sich daraus ergebe, das größte Übel sei 27, das man gegen die Nächstenliebe begehen könne, könne man die Größe dieses Vergehens gar nicht zu sehr übertreiben, denn die ersten Christen hätten uns nicht den Aufruhr, sondern Geduld für den Fall gelehrt, daß die Fürsten ihre Pfl icht nicht gut erfüllten. Gewöhnlich sagte er, von dieser Sünde sei er ebenso weit entfernt wie von der, jemanden zu ermorden oder auf der Landstraße zu rauben, und schließlich gebe es nichts, was seiner Natur mehr widerspreche und was ihn am wenigsten in Versuchung führe, und das veranlaßte ihn, beträchtliche Vorteile zurückzuweisen, um nicht an diesen Unruhen teilzunehmen. Das sind seine Ansichten darüber, wie man dem König dienen sollte : Gegenüber allen, die sich dem widersetzten, verhielt er sich deshalb unversöhnlich. Daß aber diese Unversöhnlichkeit nicht von seiner Gemütsart oder von seinem Eigensinn bewirkt wurde, zeigt sich daran, daß er sich jenen gegenüber, die ihn persönlich beleidigten, bewundernswert mild verhielt ; so hat er denn zwischen ihnen und den anderen nie einen Unterschied gemacht und alles, was nur ihn persönlich anging, so vollständig vergessen, daß es schwerfiel, ihn daran zu erinnern ; hierfür mußte man ihm die Angelegenheiten ganz ausführlich schildern. Und da man ihn zuweilen deshalb bewunderte, sagte er : »Wundert euch nicht darüber, das geschieht

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Vgl. Laf. 94.

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nicht aus Tugend, sondern weil ich es wirklich vergessen habe ; ich erinnere mich nicht mehr daran.« Trotzdem besaß er ein so vorzügliches Gedächtnis, daß er nie etwas von dem vergessen hatte, was er behalten wollte. Aber es entsprach der Wahrheit, daß Beleidigungen, die nur ihn persönlich betrafen, nicht den geringsten Eindruck auf eine so große Seele wie die seine machten, die von den Dingen nur noch in dem Maße berührt werden konnte, wie sie sich auf die erhabene Ordnung der christlichen Liebe bezogen, während sich alles übrige gleichsam außerhalb von ihm befand und ihn nicht betraf. Es ist wahr, daß ich nie eine andere Seele gefunden habe, die sich, wie es ihrem Wesen entsprach, entschiedener als seine über alle menschlichen Regungen der natürlichen Verderbnis hinwegsetzte ; und dabei ging es nicht nur um Beleidigungen, für die er also geradezu unempfi ndlich war, sondern er war es auch bei dem, was alle anderen Menschen verletzt und ihnen schlimmstes Leid bereitet. Er besaß gewiß eine große Seele, jedoch nicht den geringsten Ehrgeiz, denn er strebte nicht nach Größe, Macht oder Ehre in der Welt und sah sogar in alldem mehr Elend als Glück. Er verlangte nur nach Besitz, um andere daran teilhaben zu lassen, und er fand seine Freude an Vernunft, Ordnung, Gerechtigkeit und schließlich an allem, was die Seele stärken konnte, und nur wenig an den sichtbaren Dingen. Er war nicht ohne Fehler, doch man durfte ihn ganz offen darauf hinweisen, und er hielt sich sehr fügsam an die Ratschläge seiner Freunde, wenn sie gerecht waren ; und wenn sie es nicht waren, nahm er sie doch stets freundlich entgegen. Sein außerordentlich lebhafter Geist machte ihn so ungeduldig, daß er ihn nur mit Mühe zufriedenstellen konnte ; doch sobald man ihn darauf hinwies oder er selbst merkte, daß er jemanden durch diese Ungeduld seines Geistes verärgert hatte, machte er seinen Fehler sogleich durch eine so ehrenhafte Behandlung wieder gut, daß er dadurch nie die Freundschaft eines Menschen verloren hat. Die Eigenliebe der anderen wurde durch die seine nicht belästigt, und man hätte sogar gesagt, daß er gar keine hatte,

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denn er sprach nie über sich selbst oder über etwas, das mit ihm zu tun hatte ; und bekanntlich wollte er, daß es ein Ehrenmann vermeidet, sich selbst zu nennen oder auch nur die Wörter ich oder mir zu benutzen. Zu diesem Thema sagte er gewöhnlich : »Die christliche Frömmigkeit löscht das menschliche Ich aus, und die menschliche Höflichkeit verbirgt und unterdrückt es.« Das sah er als eine Richtschnur an, und genau das befolgte er. Auch andere belästigte er nicht wegen ihrer Fehler ; wenn er aber gezwungen war, über diese Dinge zu sprechen, äußerte er sich stets, ohne sich zu verstellen, und da er es nicht verstand, durch Schmeicheleien zu gefallen, war er auch unfähig, die Wahrheit zu verschweigen, wenn er verpfl ichtet war, sie zu sagen. Wer ihn nicht kannte, war zunächst überrascht, wenn man hörte, wie er sich in den Gesprächen äußerte, weil er anscheinend stets die Oberhand behielt, indem er gewissermaßen die Herrschaft ausübte ; doch sein lebhafter Geist war auch hierfür der Grund, und man konnte nicht lange mit ihm zusammen sein, ohne bald zu bemerken, daß es sogar darin etwas Liebenswertes gab, und ohne schließlich ebensolchen Gefallen an seiner Ausdrucksweise zu fi nden, wie man ihn an den Dingen fand, die er sagte. Außerdem verabscheute er alle Arten von Lügen, und die kleinsten Täuschungen waren ihm unerträglich ; und wie Scharfsinn und Gerechtigkeit seinen Geist und Redlichkeit und Freudlosigkeit sein Herz kennzeichneten, so bestimmten Aufrichtigkeit und Treue seine Taten und sein Verhalten. Wir haben einen Zettel von ihm gefunden, auf dem er sich gewiß selbst beschrieben hat, damit er, wenn er stets den Weg vor Augen hatte, den Gott ihn führte, niemals von ihm abweichen konnte. Auf diesem Zettel steht : »Ich liebe die Armut, weil Jesus Christus sie geliebt hat. Ich liebe die Güter, weil sie mir die Mittel geben, den Elenden beizustehen. Ich halte allen die Treue. Ich vergelte das Böse nicht jenen, die es mir antun ; aber ich wünsche ihnen eine der meinen gleiche Lage, in der man von den meisten Menschen weder Böses noch Gutes emp-

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fängt. Ich versuche, allen Menschen gegenüber stets aufrichtig, wahrhaftig und treu zu sein, und ich empfi nde herzliche Zärtlichkeit für diejenigen, mit denen Gott mich enger vereint hat ; und selbst wenn ich vor den Augen der Menschen stark erscheine, habe ich bei all meinen Taten Gott vor Augen, der sie richten muß und dem ich sie alle geweiht habe. Das sind meine Gefühle, und alle Tage segne ich deshalb meinen Erlöser, denn er hat sie mir eingegeben und aus einem Menschen voller Schwäche, Elend, Begierde, Ehrgeiz und Stolz einen Menschen gemacht, der von all diesen Übeln durch die Kraft seiner Größe befreit ist, welcher der ganze Ruhm dafür gebührt, da ich durch mich selbst nur Elend und Täuschung habe.« Man könnte gewiß noch vieles zu diesem Bild hinzufügen, wenn man ihm letzte Vollkommenheit geben wollte ; doch ich überlasse es anderen, die fähiger als ich sind, die letzten Striche anzubringen, die nur Meistern zustehen, und ich möchte nur noch erwähnen, daß dieser in allem so große Mann einfältig wie ein Kind in seiner Frömmigkeit war. Wer regelmäßigen Umgang mit ihm hatte, wunderte sich darüber. Sein Verhalten war nicht nur ungezwungen und frei von Heuchelei, sondern wie er es verstand, sich bis zu den höchsten Tugenden zu erheben und von ihnen tief durchdrungen zu sein, so konnte er sich auch erniedrigen, indem er die alltäglichsten Tugenden übte, die der frommen Erbauung dienen. In seinem Herzen waren alle Dinge groß, wenn sie zur Ehre Gottes dienten. Er führte sie wie ein Kind aus. Vor allem in seinen letzten Lebensjahren, als er nicht mehr arbeiten konnte, war es seine größte Freude, die Kirchen zu besuchen, in denen Reliquien zur Schau gestellt wurden oder eine andere Feier stattfand, und er hatte sich eigens zu diesem Zweck einen Geistlichen Almanach beschafft, der ihm die Orte angab, wo alle Andachtsübungen abgehalten wurden ; danach richtete er sich aber mit solcher Frömmigkeit und Einfalt, daß diejenigen, die ihn sahen, sich darüber wunderten, so etwa hat sich eine sehr tugendhafte und sehr einsichtsvolle Persönlichkeit mit diesen schönen Worten hierzu geäußert : Gottes Gnade offenbare sich in den großen

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Geistern durch die kleinen Dinge und in den gewöhnlichen Geistern durch die großen Dinge. Von Herzen liebte er das ganze Offizium (das heißt die Gebete des Breviers), und er hielt sich streng daran, diese Gebete so oft zu verrichten, wie er konnte ; dies galt jedoch vor allem für die kleinen Horen, die aus dem Psalm CXVIII 28 zusammengestellt sind, in dem er so viele wunderbare Dinge entdeckte, daß es ihm immer wieder eine neue Freude war, ihn aufzusagen ; und wenn er sich mit seinen Freunden über die Schönheit dieses Psalms unterhielt, war er davon ganz hingerissen und übertrug seine Begeisterung auf all jene, mit denen er darüber sprach. Wenn man ihm jeden Monat einen Zettel mit einem Spruch zuschickte, wie man es mancherorts zu tun pflegt, so las er ihn und nahm ihn mit tiefer Ehrfurcht auf, und er versäumte nicht, den Spruch jeden Tag aufs neue zu lesen. So verhielt es sich bei allen Dingen, die mit der Frömmigkeit zu tun hatten und ihn erbauen konnten. Der Herr Pfarrer von Saint-Etienne, der ihn während seiner Krankheit besucht hat, bewunderte ebenfalls diese Einfalt ; und er sagte immer wieder : »Er ist ein Kind, er ist demütig und fügsam wie ein Kind.« Am Tag vor seinem Tod hatte ihn ein Geistlicher, ein sehr gelehrter und sehr tugendhafter Mann, besucht, und nachdem er eine Stunde bei ihm geblieben war, kam er heraus und war so erbaut, daß er mir sagte : »Wohlan, trösten Sie sich, wenn Gott ihn zu sich ruft, haben Sie allen Grund, ihn für die Gnaden zu preisen, die er ihm erwiesen hat. Er stirbt mit dem einfältigen Gemüt eines Kindes. Bei einem Geist wie dem seinen ist das etwas Unübertreffliches ; von ganzem Herzen wünschte ich, an seiner Stelle zu sein, ich kenne nichts Schöneres.« Seine letzte Krankheit begann mit einer sonderbaren Appetitlosigkeit, die ihn zwei Monate vor seinem Tod befiel. In seinem Haus hatte er einen guten Mann mit dessen ganzer

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Ps 119 = 118 Vg.

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Familie und Dienerschaft, der nicht den Auftrag hatte, ihm irgendeinen Dienst zu erweisen, den er jedoch als ein ihm von der göttlichen Vorsehung anvertrautes Gut bei sich behielt und um den er sehr besorgt war. Ein Kind dieses guten Mannes erkrankte an Pocken, und nun gab es zwei Kranke im Haus meines Bruders, nämlich ihn selbst und dieses Kind. Ich mußte bei meinem Bruder bleiben, und da die Gefahr bestand, daß ich von den Pocken angesteckt wurde und sie auf meine Kinder übertrug, dachte man daran, dieses Kind fortzubringen, aber die christliche Liebe bewog meinen Bruder zu einer ganz anderen Entscheidung, denn sie gab ihm den Entschluß ein, selbst das Haus zu verlassen und in meines zu ziehen. Er war schon sehr krank, doch er sagte, es sei für ihn weniger gefährlich als für dieses Kind, fortgebracht zu werden, und darum müßte er und nicht das Kind aus dem Haus. Und tatsächlich ließ er sich zu uns bringen. Vor diesem Werk der Nächstenliebe hatte er eine Beleidigung vergeben, mit der ihn eine Person, die ihm zu großem Dank verpfl ichtet war, an einer sehr empfi ndlichen Stelle getroffen hatte. Mein Bruder fand sich damit so ab, wie es für ihn üblich war, nicht nur ohne den geringsten Groll, sondern auch mit einer Sanftmut, die von allen Höflichkeiten begleitet war, wie sie nötig sind, um einen Menschen zu gewinnen. Und es geschah sicher durch eine besondere Fügung der göttlichen Vorsehung, daß er in dieser letzten Zeit, da er so kurz davorstand, vor Gott zu erscheinen, die Gelegenheit hatte, diese beiden Werke der Barmherzigkeit zu vollbringen, die im Evangelium als Zeichen der Vorherbestimmung erscheinen, damit ihm, wenn er sterben sollte, diese zwei Taten der Nächstenliebe sogleich als Zeugnis dienten, daß Gott ihm seine Fehler verzeihen und ihm das Reich geben sollte, das er ihm bereitet hatte, weil er ihm die Gnade erwies, die Fehler der anderen zu vergeben und ihnen in der Not mit solcher Bereitwilligkeit beizustehen. Doch wir werden bald sehen, daß Gott ihn noch durch weitere Handlungen, in denen kein geringerer Trost liegt, auf den Tod eines wahrhaft Auserwählten vorbereitet hat.

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Nachdem er drei Tage bei uns war, bekam er eine sehr heftige Kolik, die ihm vollständig den Schlaf raubte ; da er jedoch große Geistesstärke und viel Mut hatte, verzichtete er nicht darauf, alle Tage aufzustehen und seine Arzneien selbst einzunehmen, und er wollte es nicht gestatten, daß man ihm den kleinsten Dienst erwies. Die Ärzte, die ihn untersuchten, hielten seine Krankheit für sehr ernst ; da er allerdings kein Fieber hatte, glaubten sie gleichwohl nicht, daß sein Leben gefährdet wäre. Doch mein Bruder, der kein Wagnis eingehen wollte, ließ schon am vierten Tag seiner Kolik, noch bevor er ans Bett gefesselt war, den Herrn Pfarrer von Saint-Etienne holen und beichtete bei ihm ; doch so früh empfi ng er noch nicht die heilige Kommunion. Da ihn der Herr Pfarrer von Zeit zu Zeit aufsuchte, wie es seine gewöhnliche Wachsamkeit als Seelenhirt von ihm verlangte, ließ mein Bruder nicht eine dieser Gelegenheiten vorübergehen, um wieder zu beichten ; aber er sagte uns nichts davon, um uns nicht zu erschrecken. Zuweilen ging es ihm etwas weniger schlecht ; er nutzte diese Zeit, um sein Testament zu machen, in dem die Armen nicht vergessen wurden, und er tat sich Gewalt an, um ihnen nicht noch mehr zu schenken. Er sagte mir, wenn Monsieur Périer in Paris gewesen wäre und zugestimmt hätte, so hätte er den Armen seinen ganzen Besitz vermacht. Zuletzt hatte er nichts anderes im Herzen und im Geist als die Armen, und manchmal sagte er mir : »Woher kommt es, daß ich noch nie etwas für die Armen getan habe, obwohl ich sie stets so innig geliebt habe ?« Ich antwortete : »Der Grund ist, daß Sie nie genug Vermögen hatten.« Hierauf erwiderte er : »Ich hätte ihnen also meine Zeit und meine Mühe opfern müssen ; daran habe ich es fehlen lassen. Und wenn die Ärzte die Wahrheit sagen und Gott erlaubt, daß ich von dieser Krankheit genese, so bin ich entschlossen, für den Rest meiner Tage keine andere Beschäftigung und kein anderes Amt als den Dienst an den Armen zu haben.« Diese Gefühle beseelten ihn, als Gott ihn zu sich nahm.

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Seine Geduld war nicht geringer als seine christliche Liebe ; und diejenigen, die mit ihm Umgang hatten, waren davon so erbaut, daß sie alle bekannten, sie hätten noch nie etwas Ähnliches gesehen. Wenn man ihm manchmal sagte, daß man ihn bedauere, entgegnete er, ihn bekümmere sein Zustand nicht, er habe sogar Angst davor, gesund zu werden, und wenn man ihn nach dem Grund fragte, erklärte er : »Weil ich die Gefahren der Gesundheit und die Vorteile der Krankheit kenne.« Und da wir es nicht unterlassen konnten, ihn zu bedauern, vor allem, wenn seine Schmerzen am schlimmsten waren, sagte er auch noch : »Bedauert mich nicht, die Krankheit ist der natürliche Zustand der Christen, denn durch sie sind wir, wie wir stets sein sollten, das heißt, wir sind den Leiden und Übeln ausgeliefert, uns werden alle Güter und die Sinnenfreuden entzogen, wir sind frei von allen Leidenschaften, ohne Ehrgeiz und ohne Habsucht, und wir warten ständig auf den Tod. Müssen die Christen nicht ihr Leben auf diese Weise verbringen ? Und ist es nicht ein großes Glück, wenn man sich notgedrungen in einem Zustand befi ndet, zu dem man verpfl ichtet ist ?« Tatsächlich erkannte man, daß er diesen Zustand liebte, wozu nur wenige Menschen imstande wären. Denn man soll ja nichts anderes tun, als diesen Zustand demütig und ruhig hinzunehmen. Deshalb bat er uns nur, Gott zu bitten, ihm diese Gnade zu erweisen. Nachdem man ihn angehört hatte, konnte man ihm wirklich nichts mehr sagen, vielmehr fühlte man sich von dem gleichen Geist wie er beseelt, man wollte leiden und begreifen, daß dies der Zustand ist, in dem sich die Christen stets befi nden müßten. Er sehnte sich inbrünstig nach der heiligen Kommunion, aber die Ärzte widersetzten sich stets, weil sie ihn nicht für krank genug hielten, um die Kommunion als Viatikum zu empfangen, und sie hielten es nicht für ratsam, sie ihm in der Nacht, während er nüchtern war, bringen zu lassen, ohne daß es hierfür einen dringlicheren Grund gab. Indessen litt er immer weiter an Koliken ; die Ärzte verordneten ihm eine Wasserkur, und für einige Tage verschafften sie ihm Erleichte-

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rung, doch am sechsten Tag dieser Wasserkur bekam er einen heftigen Schwindelanfall und starke Kopfschmerzen. Obwohl sich die Ärzte wegen dieser Verschlimmerung nicht beunruhigten und erklärten, dies sei lediglich auf den Wasserdampf zurückzuführen, beichtete er immer aufs neue und bat äußerst inständig, man möge ihn die Kommunion empfangen lassen und in Gottes Namen ein Mittel fi nden, um all jene Hindernisse zu beseitigen, auf die man sich ihm gegenüber berufen hätte ; und er drängte so sehr, daß ihm ein Anwesender sagte, so etwas sei nicht gut, er müsse sich der Ansicht seiner Freunde fügen, er habe ja kaum noch Fieber und solle selbst beurteilen, ob es richtig wäre, das heilige Altarsakrament ins Haus bringen zu lassen, da es ihm doch besser gehe, und ob es nicht angebrachter wäre, abzuwarten und die Kommunion in der Kirche zu empfangen, denn er dürfe hoffen, bald in der Lage zu sein, dort hinzugehen. Er antwortete : »Man fühlt nicht, was ich leide, und darum läßt man sich täuschen ; meine Kopfschmerzen sind ganz ungewöhnlich schlimm.« Da er gleichwohl erkannte, daß man sich seinem Wunsch so entschieden widersetzte, wagte er es nicht mehr, davon zu sprechen. Mir aber vertraute er an : »Da man mir diese Gnade nicht gewähren will, möchte ich sie durch ein gutes Werk ersetzen, und weil ich nicht im Haupt kommunizieren kann, möchte ich gern in den Gliedern kommunizieren ; und hierfür habe ich daran gedacht, hier im Haus einen armen Kranken zu haben, dem man die gleichen Dienste wie mir erweist. Denn es bekümmert und verwirrt mich, daß man mich so gut pflegt, während es unendlich vielen Armen, denen es schlechter als mir geht, an den notwendigen Dingen fehlt. Man nehme eine eigene Wärterin für ihn, und es soll zwischen ihm und mir keinen Unterschied geben. Das wird meinen Kummer darüber mildern, daß es mir an nichts fehlt, den ich nicht mehr ertragen kann, außer wenn man mich Trost fi nden läßt, weil ich weiß, daß es hier einen Armen gibt, der ebenso gut wie ich behandelt wird ; ich bitte Sie, daß man zum Herrn Pfarrer geht und nach einem solchen Kranken verlangt.«

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Sogleich schickte ich jemanden zum Herrn Pfarrer, der mir ausrichten ließ, er habe keinen Kranken, dessen Zustand es erlaube, ihn fortzuschaffen ; doch er werde ihm, sobald er geheilt sei, die Möglichkeit geben, ein Werk der Nächstenliebe zu tun, indem er ihm einen alten Mann anvertraue, um den er sich dann für den Rest seiner Tage kümmern könne ; denn der Pfarrer zweifelte nicht daran, daß er genesen würde. Da er sah, daß er keinen Kranken bei sich zu Hause haben konnte, bat er mich, daß man ihn ins Hospital für unheilbar Kranke schaffen sollte, denn er hatte ein großes Verlangen, in der Gesellschaft der Armen zu sterben. Ich sagte ihm, daß die Ärzte es nicht für ratsam halten würden, ihn in seinem gegenwärtigen Zustand fortzuschaffen. Diese Antwort betrübte ihn sichtbar, und er nahm mir wenigstens das Versprechen ab, daß ich ihm diese Freude bereiten sollte, sobald er sich ein wenig erholt hätte. Dieser Mühe mußte ich mich jedoch nicht unterziehen, denn seine Schmerzen verschlimmerten sich so sehr, daß er mich um eine ärztliche Konsultation bat, als ihn die Schmerzen am heftigsten plagten ; aber ihm kamen zugleich Bedenken, und er sagte : »Ich fürchte, daß diese Bitte zu weit geht.« Trotzdem unterließ ich es nicht, sie zu erfüllen. Die Ärzte verordneten ihm, Buttermilch zu trinken, und sie behaupteten immer noch, es bestehe nicht die geringste Gefahr und er habe lediglich Kopfschmerzen, zu denen die Wirkung des Wasserdampfes hinzukomme. Doch sie konnten sagen, was sie wollten, er glaubte ihnen nie. Er bat mich, einen Geistlichen zu holen, der die Nacht mit ihm verbringen sollte, und ich selbst fand seinen Zustand so ernst, daß ich, ohne ihm etwas zu sagen, anordnete, Kerzen bereitzuhalten und für alles zu sorgen, was notwendig war, damit man ihm am nächsten Morgen die heilige Kommunion reichen konnte. Diese Vorbereitungen waren nicht umsonst, vielmehr brauchten wir sie eher, als wir gedacht hatten : denn ungefähr um Mitternacht wurde er von so heftigen Krämpfen befallen, daß wir ihn für tot hielten, als sie vorüber waren. Und es bereitete

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uns und allen anderen außerordentlichen Kummer, daß wir zusehen mußten, wie er ohne Kommunion starb, nachdem er so oft und so inständig um diese Gnade gebeten hatte. Aber Gott, der ein so inbrünstiges und so gerechtes Verlangen belohnen wollte, ließ diese Krämpfe wie durch ein Wunder verschwinden und gab ihm seine ganze Urteilskraft zurück, wie er sie besessen hatte, als er vollkommen gesund war ; und nachdem der Pfarrer mit dem Leib unseres Herrn in sein Zimmer getreten war und ihm zugerufen hatte : »Hier bringe ich Ihnen Den, nach dem Sie sich so gesehnt haben«, weckten ihn diese Worte daher ganz auf, und als der Herr Pfarrer zu ihm ging, um ihm die Kommunion zu reichen, gab er sich größte Mühe und richtete sich ohne Hilfe halb auf, um sie mit größerer Ehrerbietung zu empfangen ; und nachdem ihn der Herr Pfarrer, wie es Brauch ist, über die wichtigsten Geheimnisse des Glaubens befragt hatte, antwortete er auf alles in frommer Demut : »Ja, Monsieur, ich glaube das alles, und das von ganzem Herzen.« Hierauf empfi ng er die heilige Wegzehrung und die Letzte Ölung, und er war davon so gerührt, daß er Tränen vergoß. Er antwortete auf alles und bedankte sich zuletzt sogar beim Pfarrer, und als dieser ihn mit dem heiligen Altarsakrament segnete, sagte er : »Möge Gott mich nie verlassen !« Das waren gleichsam seine letzten Worte. Denn kaum hatte er seine Danksagung gesprochen, da befielen ihn wieder Krämpfe, die ihn nicht mehr verließen und ihm keinen Augenblick geistiger Klarheit mehr gönnten ; sie dauerten bis zu seinem Tod, der vierundzwanzig Stunden später eintrat : nämlich am neunzehnten August des Jahres eintausendsechshundertzweiundsechzig, um ein Uhr morgens, als er neununddreißig Jahre und zwei Monate alt war.29

Der folgende Text erscheint in einer Abschrift von 1684. G. Périer hatte ihn verfaßt, weil sie damit auf mögliche Publikationen antworten wollte, zu denen es jedoch nicht gekommen ist. Der Text steht im Manuskript der Bibliothèque Nationale 20945, S. 275. 29

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[Der Herr Pfarrer von Saint-Etienne empfahl ihn am darauffolgenden Sonntag in seiner Predigt der Fürbitte der Anwesenden, und er lobte ihn in einer Trauerrede, die bekundete, welche Hochachtung er für dessen Frömmigkeit empfand und wie sehr er den Verlust beklagte, den man durch seinen Tod erlitten hatte. Auf die gleiche Weise sprach er über ihn mit dem inzwischen verstorbenen Herrn Erzbischof von Paris, der sich danach erkundigte, weil er erfahren hatte, daß jener ihm geistlichen Beistand in dessen Todesstunde geleistet hatte. Und obwohl das, was er ihm bei derselben Gelegenheit über ein Gespräch berichtete, das er mit Monsieur Pascal während dessen Krankheit geführt hatte, einige Personen – die, wenn es ihnen möglich gewesen wäre, gern sein Andenken und seinen Ruf befleckt hätten – veranlaßte, das Gerücht zu verbreiten, er hätte dem Herrn Pfarrer von Saint-Etienne vor seinem Tod einen Widerruf anvertraut, gibt es doch heute nur noch wenige Leute, die diese Verleumdung nicht ganz durchschaut haben, über die der Herr Pfarrer von Saint-Etienne selbst, der noch lebt und jetzt Abt von Sainte-Geneviève und General dieses Ordens ist, all jene aufklären kann, die es noch nicht deutlich genug erkannt haben und die ihn um eine Erläuterung bitten wollen. Hierüber hat er sich bereits im voraus in mehreren Briefen geäußert, mit denen er uns zu diesem Thema beehrt hat und die uns vorliegen ; darin erklärt er, er habe niemals irgend jemandem gegenüber mündlich oder schriftlich geäußert, daß Monsieur Pascal widerrufen hätte, denn das sei tatsächlich ganz unwahr. Und er gebe sogar zu, daß er das falsch verstanden hätte, was Monsieur Pascal ihm bei jenem Gespräch sagte, von dem er dem Herrn Erzbischof berichtete und das zu diesem unwahren Gerücht geführt habe, obwohl überhaupt nicht die Rede davon war. Ich hielt es für notwendig, allgemein bekanntzumachen, daß diese Behauptung unwahr ist, und das Andenken an einen Mann rein zu bewahren, der immer nur gut katholische Ansichten vertreten hat, die er nicht hätte widerrufen müssen, an einen Mann, der stets alle Glaubenswahrhei-

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ten mit größter Hochachtung behandelt und sich ihnen vollkommen unterworfen hat und dessen ganzer Eifer und einzige Mühe während seiner letzten fünf oder sechs Lebensjahre darin bestanden, die Feinde der Religion und der christlichen Moral zu bekämpfen.]

Vorrede zur A bhandlung über die Leere (1651)

Da die Hochachtung, die man dem Altertum entgegenbringt, heute in jenen Wissensgebieten, in denen sie am wenigsten stark sein muß, derart groß ist, daß man alle Ansichten der Antike, ja selbst ihre geheimnisvollen Unklarheiten für Orakelsprüche hält und nichts Neues mehr vorbringen kann, ohne sich in Gefahr zu begeben, und daß der Text eines Autors genügt, um die stärksten Argumente zunichte zu machen …1 Ich habe nicht etwa die Absicht, einen Fehler durch einen anderen zu korrigieren und den Alten überhaupt keine Achtung entgegenzubringen, weil man sie zu sehr achtet. Ich beanspruche nicht, ihre Autorität zu verwerfen, um ganz allein die vernünftige Überlegung zu bevorzugen, selbst wenn man deren alleinige Autorität gegen die vernünftige Überlegung durchsetzen will … Um diese bedeutsame Unterscheidung sorgfältig vorzunehmen, muß man berücksichtigen, daß die einen [Wissenschaften] allein auf dem Gedächtnis beruhen und rein historisch sind, so daß sie lediglich ermitteln wollen, was die Autoren geschrieben haben ;2 die anderen beruhen allein auf der vernünftigen Überlegung und stützen sich vollständig auf Lehrsätze,

Vgl. F. Bacon : Novum organum 1, 84, dt. Bacon : Neues Organon. Teilbd. 1. Hamburg 1990 ( PhB 400 a), S. 179 : »Weiter nun hemmte und verzauberte die Menschen im Fortschritt in den Wissenschaften die Ehrfurcht vor dem Altertum und vor den Männern, die in der Philosophie großes Ansehen genossen, und denen die Menge zustimmte.« 2 Vgl. C. Jansenius : Augustinus. Bd. 2. Rouen 1643, S. 3 – 4 (Liber prooemialis, cap. IV : Discrimen inter Philosophiam et Theologiam) : »Sic igitur quemadmodum intellectus Philosophiae suscipiendae propria facultas est, ita memoria Theologiae. Illa quippe intellecta principia penetrando Philosophum facit ; haec ea quae sibi scripto aut praedicatione tradita sunt, recordando, Theologum Christianum.« 1

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so daß sie die verborgenen Wahrheiten suchen und entdecken wollen. Die der ersten Art sind ebenso eng begrenzt wie die Bücher, die sie enthalten … Dieser Unterscheidung entsprechend muß man einer derartigen Hochachtung ein unterschiedlich großes Ausmaß geben. Die Hochachtung, die man für … haben muß … In jenen Wissensgebieten, in denen man allein zu er mitteln sucht, was die Autoren geschrieben haben, wie etwa in der Geschichtswissenschaft, Geographie, Jurisprudenz, den Sprachen und vor allem der Theologie sowie schließlich in all jenen, die entweder die einfache Tatsache oder die göttlichen oder auch menschlichen Satzungen als Grundlage haben, muß man zwangsläufig zu ihren Büchern greifen, denn sie enthalten alles, was sich hierüber erfahren läßt : Das zeigt eindeutig, daß man dies vollständig kennenlernen kann und daß es nicht möglich ist, dem etwas hinzuzufügen. Welche anderen Mittel als die Bücher könnten uns zu den entsprechenden Kenntnissen verhelfen, wenn man wissen will, wer der erste französische König war, an welche Stelle die Geographen den ersten Meridian legen oder welche Wörter in einer toten Sprache häufig vorkommen ? Und das gilt auch für alle übrigen derartigen Sachverhalte. Und wer könnte dem, was sie uns lehren, etwas Neues hinzufügen, denn man will ja nur das wissen, was sie enthalten ? Allein die Autorität kann uns hierüber Aufschluß geben. Doch in der Theologie hat diese Autorität ihre größte Stärke, weil sie in ihr untrennbar mit der Wahrheit verbunden ist und wir sie nur durch sie erkennen : Um vollständige Gewißheit bei den Dingen zu erreichen, die der Vernunft am unverständlichsten sind, genügt es daher, sie in der Heiligen Schrift zu zeigen (wie man auch, um die Ungewißheit der wahrscheinlichsten Sachverhalte zu beweisen, lediglich zeigen muß, daß sie nicht in ihr enthalten sind) ; denn ihre Prinzipien gehen ja über Natur und Vernunft hinaus, und da der menschliche Geist zu schwach ist, um durch eigene Anstrengungen zu ih-

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nen zu gelangen, kann er diese erhabenen Kenntnisse nur erreichen, wenn er durch eine allmächtige und übernatürliche Kraft dazu gebracht wird. Anders verhält es sich bei den Problemen, die sich von den Sinnen oder der vernünftigen Überlegung erfassen lassen : Hierbei ist die Autorität unnütz ; allein die Vernunft vermag sie zu erkennen. Sie haben voneinander abgesonderte Rechte : Die eine hatte vorhin alle Vorteile ; hier herrscht nunmehr die andere. Da aber derartige Probleme der Fassungskraft des Geistes angepaßt sind, fi ndet er hier die ganz uneingeschränkte Freiheit, in ihnen voranzuschreiten : Seine unerschöpfliche Fruchtbarkeit bringt ständig etwas hervor, und seine Erfi ndungen können endlos und zugleich ununterbrochen sein … Deshalb müssen Geometrie, Arithmetik, Musik, Physik, Medizin, Architektur und alle Wissenschaften, die von der Erfahrung und der vernünftigen Überlegung abhängen, erweitert werden,3 um Vollkommenheit zu erreichen. Die Alten haben sie lediglich als ersten Entwurf vorgefunden, den ihre Vorgänger geschaffen hatten ; und wir werden sie jenen, die nach uns kommen, in einem vollendeteren Zustand hinterlassen, als wir sie empfangen haben. Da deren Vollkommenheit von Zeit 4 und Mühe abhängt, ist es offensichtlich, daß, selbst wenn unsere Mühe und Zeit uns weniger als ihre von den unsrigen abgesonderten Anstrengungen eingebracht hätten, alle beide vereint gleichwohl eine größere Wirkung als jede für sich allein haben müssen. Wenn wir uns über diesen Unterschied klargeworden sind, müssen wir die Verblendung derjenigen beklagen, die als Be»augmentées« – Vgl. den Titel von Francis Bacon : De dignitate et augmentis scientiarum. – Eine französische Ausgabe ist 1632 erschienen, übersetzt von Sieur de Golefer, einem mit der Familie Pascal bekannten Auvergnaten (vgl. Mesnar d in : OC 2, S. 779). – Dt. : Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften. Nachdruck der Ausgabe Pest 1783. Darmstadt 1966. 4 Vgl. Bacon : Novum organum. I , c. 84, dt. a. a. O., S. 181. 3

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weis bei physikalischen Sachverhalten allein die Autorität an Stelle der vernünftigen Überlegung oder der Experimente anführen, und die Bosheit der anderen verabscheuen, die sich der vernünftigen Überlegung allein in der Theologie an Stelle der Autorität der Heiligen Schrift und der Kirchenväter bedienen.5 Man muß den Mut dieser Hasenherzen hervorheben, die es nicht wagen, in der Physik irgend etwas zu erfi nden, und die Dreistigkeit jener Vermessenen zuschanden machen, die Neuerungen in der Theologie ersinnen. Dennoch ist das Unglück dieses Jahrhunderts so groß, daß man in der Theologie viele neue Meinungen sieht, die dem ganzen Altertum unbekannt waren und nun hartnäckig verteidigt und beifällig aufgenommen werden ; statt dessen werden die Neuerungen, die man, wenn auch in kleiner Zahl, in der Physik erreicht, anscheinend zwangsläufig der Unrichtigkeit überführt, sobald sie den althergebrachten Meinungen auch nur im geringsten widersprechen : Als wäre die Hochachtung, die man für die alten Philosophen hat, eine Pfl ichtaufgabe, und diejenige, die man den ältesten Kirchenvätern entgegenbringt, lediglich eine Frage der Schicklichkeit ! Ich überlasse es den Verständigen, festzustellen, wie folgenschwer dieser Mißbrauch ist, der die Ordnung der Wissenschaften so ungerecht umkehrt ; und ich glaube, es gibt wenige, die nicht wünschen, daß diese [Freiheit] bei anderen Dingen angewandt wird, denn neue Erfi ndungen sind bei Dingen, die man damit straflos entweiht, unfehlbar Irrtümer, während solche Neuerungen unbedingt notwendig sind, um so viele andere Sachverhalte zu vervollkommnen, die unvergleichlich tiefer stehen, die man jedoch nicht anzutasten wagte. Teilen wir unsere Leichtgläubigkeit und unser Mißtrauen gerechter auf und schränken wir jene Hochachtung ein, die

Vgl. dazu die Affäre Jaques Forton, Sieur de Saint-Ange (s. Einleitung), aber auch die »Neuerer« in der Gnadenlehre in den »Schriften über die Gnade«. 5

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wir für die Alten haben. Da die Vernunft diese Hochachtung eingibt, muß sie diese auch mäßigen ; und bedenken wir : Hätten sie sich eine derartige Zurückhaltung auferlegt und nicht gewagt, etwas den Kenntnissen hinzuzufügen, die sie empfangen hatten, und hätten sich ihre Zeitgenossen ebenso unwillig gezeigt, die Neuerungen anzunehmen, die sie ihnen boten, so hätten sie sich selbst und ihre Nachkommen um die Früchte ihrer Erfi ndungen gebracht. Da sie sich jener Erfi ndungen, die man ihnen hinterlassen hatte, nur als Mittel bedient haben, um weitere zu erreichen, und da diese glückliche Kühnheit ihnen den Weg zu den großen Dingen eröffnet hatte, müssen wir jene, die sie uns übereignet haben, auf die gleiche Weise nutzen und sie nach deren Vorbild zu Mitteln und nicht zum Zweck unseres Studiums machen, uns somit bemühen, sie zu übertreffen, indem wir sie nachahmen. Denn was gibt es Ungerechteres, als daß wir unsere Alten mit größerer Zurückhaltung behandeln, als sie diese ihren Vorgängern gegenüber gezeigt haben, und daß wir ihnen jene unantastbare Hochachtung entgegenbringen, die wir ihnen nur schulden, weil sie denen, die ihnen gegenüber denselben Vorteil hatten, nicht die gleiche Hochachtung entgegenbrachten ? … Die Geheimnisse der Natur sind verborgen ; obwohl sie stets handelt, entdeckt man ihre Wirkungen nicht immer : Die Zeit offenbart sie von Geschlecht zu Geschlecht, und obwohl sie immer sich selbst gleich ist, ist sie nicht immer gleichermaßen bekannt. Die Experimente, die sie uns erkennen lassen, nehmen ständig zu ; 6 und da sie die einzigen Grundlagen der Physik sind, nehmen die Folgerungen im gleichen Maße zu. Auf diese Weise kann man heute andere Ansichten und neue Meinungen vertreten, ohne geringschätzig oder undankbar zu sein, denn die ersten Kenntnisse, die sie uns übermittelt ha-

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Vgl. Bacon : Novum organum 1, 84, dt. a. a. O., S. 181.

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ben, dienten ja den unsrigen als Vorstufen, und da wir diesen Vorteil haben, verdanken wir ihnen die Überlegenheit, die wir über sie haben ; weil sie sich bis zu einer bestimmten Stufe erhoben hatten, zu der sie uns geführt haben, können wir mit der kleinsten Anstrengung höher hinaufsteigen, und mit weniger Mühe und geringerem Ruhm stehen wir über ihnen. Von dort aus können wir Dinge entdecken, deren Wahrnehmung ihnen unmöglich war. Unser Blick reicht weiter, und obwohl sie ebenso wie wir alles erkannten, was sie in der Natur beobachten konnten, haben sie trotzdem nicht soviel erkannt, und wir sehen mehr als sie.7 Gleichwohl ist es sonderbar, wie man ihre Ansichten verehrt. Man erklärt es zum Verbrechen, ihnen zu widersprechen, und zur Freveltat, ihnen etwas hinzuzufügen, als hätten sie keine Wahrheiten übriggelassen, die noch erkannt werden müßten. Heißt das nicht, die menschliche Vernunft unwürdig zu behandeln und sie mit dem Instinkt der Tiere gleichzusetzen, denn man nimmt ihr den wichtigsten Unterschied, der darin besteht, daß die Ergebnisse der vernünftigen Überlegung unablässig zunehmen, während der Instinkt stets im gleichen Zustand verharrt ? Die Bienenstöcke waren vor tausend Jahren ebensogut wie heute abgemessen, und jeder einzelne bildet beim ersten wie beim letzten Mal ebenso genau ein bestimmtes Sechseck. Das gleiche gilt für alles, was die Tiere durch diesen verborgenen Trieb hervorbringen. Die Natur unterrichtet sie in dem Maße, wie sie von den Bedürfnissen gedrängt werden ; doch solche unsicheren Kenntnisse gehen verloren, wenn sie diese nicht mehr benötigen : Da sie ihnen ohne Mühe zuteil werden, haben sie nicht das Glück, sie zu bewahren ; und im-

Seit dem Mittelalter ein klassischer Topos, vgl. Bernh ar d von Ch artres ( PL 199, 900 C). Vgl. jetzt Robert K. Merton : Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. Frankfurt a. M. 1980, Neuausgabe 1989 (Athenäum Taschenbücher. 128). 7

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mer wenn sie ihnen gegeben werden, sind sie ihnen etwas Neues, denn da die Natur nur das Ziel verfolgt, die Tiere in einer Ordnung eng begrenzter Vollkommenheit zu erhalten, gibt sie ihnen diese notwendigen und immer gleichen Kenntnisse ein, damit sie nicht dem Untergang verfallen, und sie gestattet nicht, daß sie etwas hinzufügen, damit sie nicht die Grenzen überschreiten, die sie ihnen bestimmt hat. Etwas anderes gilt für den Menschen, der nur für die Unendlichkeit geschaffen ist. In seinem ersten Lebensalter ist er unwissend ; doch während er sich entwickelt, eignet er sich unablässig Kenntnisse an : Er nutzt nämlich nicht nur seine eigene Erfahrung, sondern auch die seiner Vorgänger, weil er die Kenntnisse, die er einmal erworben hat, stets im Gedächtnis behält und weil die Kenntnisse der Alten ihm stets in den Büchern zugänglich sind, die sie hierüber hinterlassen haben. Und da er diese Kenntnisse bewahrt, kann er sie auch leicht vermehren ; deshalb befi nden sich die Menschen heute gewissermaßen in dem gleichen Zustand, in dem sich jene alten Philosophen befi nden würden, wenn es ihnen möglich gewesen wäre, ihr Greisenalter bis in unsere Zeit auszudehnen und ihren früheren Kenntnissen diejenigen hinzuzufügen, die ihre Studien ihnen im Verlauf so vieler Jahrhunderte hätten einbringen können. Daher kommt es, daß durch ein besonderes Vorrecht nicht nur jeder einzelne Mensch in den Wissenschaften täglich voranschreitet, sondern daß auch alle Menschen zusammen in ihnen ständig weitere Fortschritte machen, je älter die Welt wird, denn bei der Aufeinanderfolge der Menschen geschieht das gleiche wie in den unterschiedlichen Lebensaltern eines einzelnen. So muß denn die ganze Reihe der Menschen im Verlauf aller Jahrhunderte als ein und derselbe Mensch angesehen werden, der stets weiterexistiert und ständig hinzulernt : 8 Hieran sieht

Vgl. Augustinus : De civitate Dei 10, 14 : »So wie die rechte Erziehung des einzelnen Menschen sich nach seinen Altersstufen richtet, so schritt auch die Erziehung des Menschengeschlechts, so weit 8

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man, wie ungerecht es ist, wenn wir das hohe Alter der antiken Philosophen achten ; denn wer erkennt nicht, da das Alter der am weitesten von der Kindheit entfernte Lebensabschnitt ist, daß man das Alter dieses in allen Zeiten lebenden Menschen nicht in den Jahren kurz nach der Geburt, sondern in denen, die von ihr am weitesten entfernt sind, suchen muß ? Jene, die wir die Alten nennen, waren tatsächlich neu in allen Dingen, und sie stellten die eigentliche Kindheit der Menschen dar ; und da wir ihren Kenntnissen die Erfahrung der ihnen folgenden Jahrhunderte hinzugefügt haben, kann man bei uns jenes hohe Alter fi nden, das wir bei den anderen verehren.9 Man muß sie wegen der Schlüsse bewundern, die sie aus den wenigen ihnen zur Verfügung stehenden Prinzipien richtig gezogen haben, und man muß sie wegen derjenigen entschuldigen, bei denen ihnen eher das Glück der Erfahrung als die Kraft der vernünftigen Überlegung gefehlt hat. Waren sie denn nicht wegen der Auffassung zu entschuldigen, die sie über die Milchstraße hatten, wo ihre schwachen Augen doch noch nicht von Instrumenten unterstützt wurden, als sie jene Farbe einer größeren Festigkeit des betreffenden Himmelsteils zuschrieben, der das Licht stärker zurückstrahle ?10 es sich im Volke Gottes darstellte, in gewissen Zeitabschnitten voran, um sich allmählich vom Sichtbaren zum Unsichtbaren emporzuschwingen.« Augustinus : Der Gottesstaat / Dt. von Carl Johann Perl. Bd. 2. Salzburg 1952, S. 126. 9 Vgl. F. Bacon : Novum organum 1, 84, dt. a. a. O., S. 179. 10 Es handelt sich um die aristotelische Theorie (A ristoteles : Meteorologica 1, 8. Dt. : Meteorologie. Paderborn 1955 [Die Lehrschriften. 4, 3], S. 38– 42 bzw. A ristoteles : Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 12. Berlin 1970, S. 22– 25), die durch Galileo Galilei : Sidereus nuncius. Venedig 1610, destruiert wurde. Vgl. die dt. Auswahl G. Galilei : Sidereus Nuncius. Nachricht von neuen Sternen … / Hrsg. und eingeleitet von Hans Blumenberg. Frankfurt a. M. 1965 (Sammlung Insel. 1). Engl. Ausgabe : Sidereus nuncius or the Sidereal messenger / Albert Van Helden (Übers.). Chicago 1989

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Doch wären wir nicht unentschuldbar, wenn wir die gleiche Auffassung beibehielten, nun, da wir die Vorteile nutzen, die uns das Fernrohr bietet, und dort unendlich viele kleine Sterne entdeckt haben, deren hellerer Glanz uns erkennen ließ, was die wirkliche Ursache dieses weißen Lichts ist ? Hatten sie nicht auch Grund zu der Behauptung, daß alle vergänglichen Körper in der Sphäre des Mondhimmels eingeschlossen seien, wenn sie im Verlauf so vieler Jahrhunderte noch keine Untergänge oder Zeugungen außerhalb dieses Raums beobachtet hatten ? Müssen wir aber nicht das Gegenteil versichern, wenn die ganze Erde deutlich gesehen hat, wie Kometen sehr weit außerhalb dieser Sphäre aufglühten und verschwanden ?11 Daher hatten sie das Recht, über die Leere zu sagen, daß die Natur keine zulasse, weil sie bei all ihren Experimenten stets beobachtet hatten, daß sich die Natur vor der Leere scheute und sie nicht zulassen konnte. Wären ihnen jedoch die neuen Experimente bekannt gewesen, so hätten sie vielleicht einen Grund gefunden, das zu bejahen, was sie aus dem Grund verworfen hatten, weil sich die Leere noch nicht gezeigt hatte. Als sie urteilten, daß die Natur keine Leere zulasse, hatten sie daher von der Natur nur in dem Zustand gehört, in dem sie diese kannten ; um es ganz allgemein zu sagen : Es würde nämlich nicht genügen, sie ständig bei hundert, tausend oder beliebig vielen anderen Gelegenheiten beobachtet zu haben, so groß deren Zahl auch sein mag ; wenn nämlich die Untersuchung eines einzigen Falls übrigbliebe, so würde dieser eine genügen, um eine allgemeine Defi nition zu verhindern, und wenn ihr ein einziger widerspräche, so würde dieser einzige … Denn bei allen Sachverhalten, die sich durch Experimente und nicht durch Beweisführungen

Möglicherweise bezieht sich Pascal auf Johannes K eplers Schrift De cometis libelli tres. Vgl. Ders. : Gesammelte Werke. Bd. 8. München 1963, S. 128– 262. 11

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begründen lassen, kann man eine allgemeingültige Aussage nur durch die allgemeine Aufzählung aller Teile oder aller unterschiedlichen Fälle erreichen. Wenn wir deshalb sagen, der Diamant sei der härteste aller Körper, verstehen wir darunter : aller Körper, die wir kennen. Und wir können und dürfen nicht diejenigen einbeziehen, die wir überhaupt nicht kennen. Und wenn wir sagen, Gold sei der schwerste aller Körper, wären wir leichtfertig, in diesen allgemeinen Lehrsatz diejenigen Körper einzubeziehen, die wir noch gar nicht kennen, obwohl es nicht unmöglich ist, daß es sie in der Natur gibt. Wenn die Alten versichert haben, daß die Natur keine Leere zulasse, haben sie ebenso darunter verstanden, daß die Natur bei allen Experimenten, die sie beobachtet hatten, keine Leere zulasse, und sie hätten nicht die ihnen unbekannten Experimente einbeziehen können, ohne leichtfertig zu sein. Wenn sie diese gekannt hätten, würden sie daraus zweifellos die gleichen Schlüsse wie wir gezogen und sie durch ihre Anerkennung in jenem Altertum autorisiert haben, aus dem man heute die einzige Grundlage der Wissenschaften machen will. Deshalb können wir, ohne ihnen zu widersprechen, das Gegenteil von dem versichern, was sie sagten, und so beweiskräftig auch schließlich dieses Altertum sein mag, die Wahrheit muß immer den Vorrang haben, selbst wenn sie erst vor kurzem entdeckt wurde, denn sie ist immer älter als alle Meinungen, die man über sie vertreten hat, und es hieße, ihre Natur zu verkennen, wenn man sich vorstellte, daß sie erst entstanden wäre, als sie zum ersten Mal bekannt wurde.

Betr achtungen über die Geometrie im allgemeinen – Vom geometrischen Geist und Von der Kunst zu überzeugen (1655)

Beim Studium der Wahrheit kann man drei Hauptziele haben : als erstes, sie zu entdecken, wenn man sie sucht ; als zweites, sie zu beweisen, wenn man sie besitzt ; als letztes, sie vom Falschen zu unterscheiden, wenn man sie prüft. Ich spreche nicht über das erste : Ich behandle vor allem das zweite, und dieses schließt das dritte ein. Wenn man nämlich die Methode kennt, mit der sich die Wahrheit beweisen läßt, so wird man gleichzeitig auch jene Methode beherrschen, mit der sie sich unterscheiden läßt, denn sobald man prüft, ob der Beweis, den man für sie liefert, den Regeln entspricht, die man kennt, wird man auch erfahren, ob sie genau bewiesen ist. Die Geometrie 1, die sich in diesen drei Gattungen auszeichnet, hat die Kunst erläutert, wie man unbekannte Wahrheiten entdeckt ; und das nennt sie Analyse, und nach so vielen vorzüglichen Arbeiten, die man darüber vorgelegt hat, wäre es un nütz, diese eingehend zu erörtern.2 Die einzige Kunst, die ich behandeln will, ist diejenige, mit der man die bereits gefundenen Wahrheiten beweist und sie derart erhellt, daß der Beweis für sie unwiderlegbar ist ; und hierfür brauche ich nur die Methode zu erklären, nach der sich die Geometrie auf diesem Gebiet richtet : Denn sie lehrt diese vollkommen (durch ihre Beispiele), obgleich sie hierüber

Zum Sprachgebrauch Geometrie = Mathematik vgl. Jean-Pierre Schobinger : Blaise Pascals Refl exionen über die Geometrie im allgemeinen : »De l’esprit geometrique« und »De l’art de persuader«. Basel 1974, S. 113, 135 ff. (Ausgabe, Übersetzung und ausführlicher historisch-systematischer Kommentar). 2 Meint Pascal Des cartes : Discours de la méthode … ? So Mesnard OC 3, S. 390. Zu weiteren Möglichkeiten vgl. J.-P. Schobinger, S. 157 f. 1

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keine eigenen Untersuchungen vorlegt. Und da diese Kunst aus zwei Hauptpunkten besteht, zum einen, wie man jeden Lehrsatz im besonderen beweist, und zum anderen, wie man alle Lehrsätze in der besten Ordnung gliedert, werde ich dies in zwei Abteilungen darlegen, deren erste die Regeln für die geometrische – das heißt die methodische und vollkommene – Beweisführung enthalten wird, und die zweite wird die Regeln der geometrischen – das heißt der methodischen und vollendeten – Ordnung umfassen : So werden denn die zwei Abteilungen alles vereinen, was für die Durchführung des Vernunftschlusses notwendig ist, mit dem man die Wahrheiten beweist und unter scheidet, und diese Wahrheiten will ich als ein Ganzes vorstellen.

Abteilung I : Von der Methode der geometrischen, das heißt der methodischen und vollkommenen Beweisführung Ich kann das Verfahren, das man befolgen muß, um die Beweise überzeugend zu machen, nicht besser erklären, als wenn ich jenes Verfahren darlege, das die Geometrie befolgt, und dies kann ich nicht vollständig erreichen, wenn ich nicht zuvor die Vorstellung von einer noch erhabeneren und vollkommeneren Methode vermittle, zu der jedoch die Menschen nie gelangen können : Denn was über die Geometrie hinausgeht, das geht über uns hinaus ; und gleichwohl ist es notwendig, etwas darüber auszusagen, wenn es auch unmöglich ist, es anzuwenden, und es weitaus mehr bedeutet, mit der einen Erfolg zu haben als mit der anderen. Und ich habe, um das zu erreichen, diese Wissenschaft nur gewählt, weil sie allein die wahren Regeln des Vernunftschlusses kennt und – ohne sich mit den Regeln der Syllogismen aufzuhalten, die so natürlich sind, daß man sie nicht übersehen kann – sich eingehend mit der wahren Methode befaßt und sich auf sie stützt, welche die Vernunft bei allen Dingen leitet und doch beinahe von allen übersehen wird, denn es ist ja derart

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vorteilhaft, sie zu kennen, daß wir aus Erfahrung sehen, wie bei gleichwertigen Geistern, wenn völlig gleiche Umstände vorhanden sind, derjenige, der in der Geometrie bewandert ist, die Überlegenheit und eine ganz neuartige Wirksamkeit gewinnt. Ich will also erklären, was die Beweisführung ist, indem ich die Beweisführungen der Geometrie als Beispiel nehme, denn sie ist beinahe die einzige menschliche Wissenschaft, die unfehlbare Beweise vorlegt, weil allein sie die wahre Methode befolgt, während alle anderen aus natürlicher Notwendigkeit irgendeiner Verwirrung ausgesetzt sind, die allein von den Geometern auf das genaueste aufgeklärt werden kann. Wenn es möglich wäre, zu dieser wahren Methode zu gelangen, die Beweise von höchster Vortrefflichkeit hervorbringen würde, so bestünde sie in zwei Hauptpunkten : zum einen, daß man nie irgendeinen Begriff gebrauchte, dessen Sinn man zuvor nicht klar auseinandergesetzt hätte ; zum anderen, daß man nie irgendeinen Lehrsatz aufstellte, den man nicht durch bereits bekannte Wahrheiten bewiesen hätte ; das heißt, kurz gesagt, daß man alle Begriffe defi nierte und alle Lehrsätze bewiese. Um jedoch der Ordnung zu folgen, die ich ja gerade erklären will, muß ich nun angeben, was ich unter Defi nition verstehe. Man erkennt in der Geometrie nur diejenigen Defi nitionen an, die von den Logikern »Namensdefi nitionen« genannt werden, das heißt nur solche, bei denen man den Sachverhalten, die man eindeutig mit vollkommen bekannten Begriffen bezeichnet hat, einen Namen beilegt, und ich spreche einzig und allein über diese. Ihr Nutzen und ihre Brauchbarkeit bestehen darin, die Darlegung zu erhellen und abzukürzen, indem sie allein durch den Namen, den man den Sachverhalten beilegt, das ausdrücken, was sich sonst nur mit mehreren Begriffen sagen ließe ; dies jedoch in der Art, daß der beigelegte Name frei von jedem anderen Sinn bleibt, falls er einen solchen hat, und nun keinen anderen als jenen hat, für den man ihn ausschließlich bestimmt. Hierfür ein Beispiel : Wenn man bei den Zahlen diejenigen, die in zwei gleiche teilbar sind, von denjenigen unterscheiden

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muß, die es nicht sind, gibt man einer solchen Zahl, um die häufige Wiederholung dieser Bestimmung zu vermeiden, einen Namen in der folgenden Art : Ich nenne jede Zahl, die in zwei gleiche teilbar ist, eine gerade Zahl.3 Das ist eine geometrische Definition : Denn nachdem man einen Sachverhalt eindeutig bezeichnet hat, und zwar jede in zwei gleiche teilbare Zahl, gibt man ihm einen Namen, dem man jeden anderen Sinn entzieht, falls er einen solchen hat, und gibt ihm nun jenen des bezeichneten Sachverhalts. Hieraus erhellt, daß die Defi nitionen sehr frei und niemals dem Widerspruch ausgesetzt sind ; denn nichts ist ja zulässiger, als einem Sachverhalt, den man eindeutig bezeichnet hat, einen solchen Namen zu geben, wie man ihn haben will. Man muß sich lediglich in acht nehmen, daß man seine Freiheit, Namen beizulegen, nicht mißbraucht, indem man zwei unterschiedlichen Sachverhalten denselben Namen gibt. Das soll nicht heißen, etwas Derartiges sei unzulässig, allerdings muß vorausgesetzt werden, daß man die sich daraus ergebenden Folgerungen nicht verwechselt und sie nicht von dem einen Sachverhalt auf den anderen ausweitet. Wenn man jedoch in diesen Fehler verfällt, kann man gegen ihn ein sehr sicheres und ganz unanfechtbares Mittel anwenden ; es besteht darin, im Gedanken die Defi nition an die Stelle des Defi nierten zu setzen und die Defi nition stets so gegenwärtig zu haben, daß man immer, wenn man beispielsweise von einer geraden Zahl spricht, genau versteht, daß es diejenige ist, die in zwei gleiche Teile zerlegbar ist, und daß diese zwei Sachverhalte im Gedanken derart unzertrennlich vereinigt sind, daß der Geist, sobald die Darlegung einen von beiden wiedergibt, unverzüglich den anderen damit verknüpft. Die Geometer und all jene, die methodisch vorgehen, legen nämlich den Sachverhalten nur Namen bei, um die Rede ab-

Vgl. Euklid : Die Elemente. 3. Teil. Leipzig 1935 (Ostwald’s Klassiker der exakten Wissenschaften. 240), S. 1 (Elemente 7, Def. 6). 3

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zukürzen, und nicht, um die Vorstellung von den Sachverhalten, die sie darlegen, zu verkleinern oder umzuwandeln. Denn sie verlangen, daß der Geist stets durch die vollständige Defi nition die kurzen Begriffe ersetzt, die sie nur benutzen, um der Verwirrung zu entgehen, die eine Vielzahl von Worten mit sich bringt. Nichts hält schneller und wirksamer die verfänglichen Trugbilder der Sophisten fern als diese Methode, die man stets gegenwärtig haben muß und die allein genügt, um alle möglichen Schwierigkeiten und Doppeldeutigkeiten auszuräumen. Nachdem diese Dinge genau verstanden wurden, komme ich auf die Erklärung der wahren Ordnung zurück, die, wie ich gesagt habe, darin besteht, alles zu defi nieren und alles zu beweisen. Gewiß wäre diese Methode schön, doch sie ist völlig unmöglich : Denn es ist ja offensichtlich, daß die ersten Begriffe, die man defi nieren wollte, vorhergehende andere Begriffe voraussetzen würden, die zu deren Erklärung dienen müßten, und daß ebenso die ersten Lehrsätze, die man beweisen wollte, ihnen vorhergehende andere Lehrsätze voraussetzen würden ; und somit ist es klar, daß man niemals zu den ersten Lehrsätzen vordringen würde. Wenn man die Untersuchungen immer weiter vorantreibt, kommt man daher zwangsläufig zu ursprünglichen Wörtern, die man nicht mehr defi nieren kann, und zu Prinzipien, die so klar sind, daß man keine anderen mehr fi ndet, die noch klarer wären und zu deren Beweis dienen könnten. Dies erhellt, daß die Menschen einer natürlichen und unabänderlichen Ohnmacht preisgegeben sind, die sie daran hindert, irgendeine Wissenschaft in einer ganz vollendeten Ordnung zu behandeln. Hieraus ergibt sich jedoch nicht, daß man jede Art von Ordnung aufgeben müßte. Denn es gibt eine, und das ist jene der Geometrie, die zwar darin niedriger steht, daß sie weniger beweiskräftig ist, jedoch nicht darin, daß sie weniger sicher wäre. Sie defi niert nicht

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alles und beweist nicht alles, und darin ist sie der anderen unterlegen ; aber sie setzt nur Sachverhalte voraus, die durch das natürliche Erkenntnisvermögen klar und beständig sind, und darum ist sie vollkommen wahr, weil die Natur sie stützt, wo die Untersuchungen fehlen. Diese Ordnung, die bei den Menschen die vollkommenste ist, besteht nicht darin, alles zu defi nieren oder alles zu beweisen, und ebensowenig darin, nichts zu defi nieren oder nichts zu beweisen, sondern darin, sich in dieser Mitte zu halten, wo man die klaren und von allen Menschen verstandenen Sachverhalte nicht defi niert und dafür alle anderen defi niert, wo man alle den Menschen bekannten Sachverhalte nicht beweist und dafür alle anderen beweist. Gegen diese Ordnung vergehen sich gleichermaßen diejenigen, die es unternehmen, alles zu defi nieren und alles zu beweisen, wie diejenigen, die es versäumen, dies bei den Sachverhalten vorzunehmen, die nicht von selbst einleuchten. Gerade das lehrt die Geometrie vollkommen klar. Sie defi niert keinen derartigen Sachverhalt wie Raum, Zeit, Bewegung, Zahl, Gleichheit oder ähnliche andere, die sehr zahlreich sind, weil diese Begriffe für alle, die diese Sprache verstehen, so natürlich die von ihnen bezeichneten Sachverhalte bestimmen, daß eine Erklärung, die man zu ihnen geben wollte, mehr Verwirrung als Belehrung brächte. Denn nichts ist schwächer als die Darlegungen derjenigen, die diese ursprünglichen Wörter defi nieren wollen. Welche Notwendigkeit gibt es etwa, das zu erklären, was man unter dem Wort »Mensch« versteht ? Weiß man nicht gut genug, welchen Sachverhalt man mit diesem Begriff bezeichnen will ? Und welchen Vorteil meinte uns Platon zu verschaffen, als er sagte, dies sei ein zweibeiniges Tier ohne Federn ?4 Als wäre Das Beispiel ist schon bei Montaigne zitiert, vgl. Essais 2, 12, éd. Pierre Villey. Paris 1965, S. 544 ; dt. : Übers. von Hans Stilet t. Frankfurt a. M. 1998, S. 272. Die Ursprungsstelle – keineswegs eine »Defi nition Platos« – ist Plato : Politikos 266 E. Vgl. Schobinger, a. a. O., S. 254. 4

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die Vorstellung, die ich naturgegeben von ihm habe und die ich nicht ausdrücken kann, nicht viel eindeutiger und sicherer als jene, die er mir mit seiner unnützen und sogar lächerlichen Erklärung gibt ; denn ein Mensch verliert ja sein menschliches Wesen nicht, wenn er seine beiden Beine verliert, und ein Kapaun erwirbt es nicht, wenn er seine Federn verliert. Es gibt manche, die es selbst bis zu der Absurdität bringen, daß sie ein Wort durch dieses Wort selbst erklären. Ich weiß, daß es einige gibt, die das Licht auf diese Art definiert haben : »Das Licht ist eine lichtvolle Bewegung der leuchtenden Körper« ; als könnte man die Wörter »lichtvoll« und »leuchtend« ohne das Wort »Licht« verstehen. Man kann es nicht unternehmen, das Sein zu defi nieren, ohne in die folgende Absurdität zu verfallen:5 Man vermag nämlich ein Wort nicht zu defi nieren, ohne gerade damit – »das ist« – zu beginnen, indem man es entweder ausspricht oder stillschweigend einschließt. Also müßte man, um das Sein zu defi nieren, sagen : »das ist« und somit das defi nierte Wort in der Defi nition gebrauchen. Hieraus ersieht man ziemlich gut, daß es Wörter gibt, die sich nicht defi nieren lassen ; und wenn die Natur diesem Mangel nicht dadurch abgeholfen hätte, daß sie allen Menschen eine gleichartige Vorstellung eingegeben hat, so wären alle unsere Ausdrücke verworren ; man benutzt sie hingegen mit der gleichen Sicherheit und Gewißheit, als wären sie auf eine jeder Doppeldeutigkeit vollkommen entbehrende Art erklärt, denn die Natur selbst hat uns von ihnen ohne Worte eine eindeutigere Kenntnis als jene gegeben, die wir durch unsere Erklärungen künstlich erwerben. Das bedeutet nicht etwa, daß alle Menschen die gleiche Vorstellung vom Wesen der Sachverhalte haben, über die ich sage, daß es unmöglich und unnütz ist, sie zu defi nieren.

Vgl. dazu auch M. Heidegger : Sein und Zeit [1927]. Frankfurt a. M. 1977 (Gesamtausgabe. I , 2), S. 5. 5

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Denn die Zeit gehört zum Beispiel zu dieser Art. Wer kann sie defi nieren ?6 Und warum sollte man es versuchen, da alle Menschen ja begreifen, was man sagen will, wenn man von der Zeit spricht, ohne daß man sie genauer bezeichnet ? Indessen gibt es sehr viele unterschiedliche Meinungen über das Wesen der Zeit. Die einen sagen, sie sei die Bewegung einer geschaffenen Sache, die anderen, das Maß der Bewegung, usw. Daher sage ich auch nicht, die Natur dieser Dinge sei allen bekannt : Dies trifft lediglich auf die Beziehung zwischen dem Namen und dem Sachverhalt zu ; so richten denn bei diesem Ausdruck »Zeit« alle den Gedanken auf dieselbe Gegebenheit : Das genügt, um zu bewirken, daß dieser Begriff nicht definiert werden muß, obgleich man später, wenn man untersucht, was die Zeit ist, zu unterschiedlichen Ansichten kommt, nachdem man hierüber erste Überlegungen angestellt hat ; denn die Defi nitionen werden nur vorgenommen, um die Dinge, denen man Namen gibt, zu bezeichnen, und nicht, um deren Natur zu zeigen. Das soll nicht etwa heißen, es sei unzulässig, der Bewegung einer geschaffenen Sache den Namen »Zeit« zu geben ; denn wie ich soeben gesagt habe, ist nichts freier als die Defi nitionen. Indes wird es als Folge dieser Defi nition zwei Sachverhalte geben, denen man den Namen »Zeit« beilegen wird : zum einen denjenigen, den alle naturgemäß unter diesem Wort verstehen und den all jene, die sich unserer Sprache bedienen, mit diesem Begriff bezeichnen ; zum anderen wird es die Bewegung einer geschaffenen Sache sein, denn ihr wird man, dieser neuen Defi nition zufolge, ebenfalls diesen Namen beilegen. Man muß also Doppeldeutigkeiten vermeiden und Folgerungen nicht verwechseln. Denn hieraus ergibt sich nicht, daß der Sachverhalt, den man naturgemäß unter dem Wort »Zeit« Vgl. Augustinus : Confessiones 11, 17, mit der Gemeinsamkeit, daß »es ein nicht aussprechbares Wissen um den Bedeutungsgehalt eines Wortes gibt« (Schobinger, a. a. O., S. 261). Zu Augustins Zeitverständnis vgl. A. Augustinus : Was ist Zeit ? (Confessiones XI / Bekenntnisse II ) / Norbert Fischer (Hrsg.). Hamburg 2000 ( PhB 534). 6

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versteht, tatsächlich die Bewegung einer geschaffenen Sache sei. Es stand frei, diesen beiden Sachverhalten denselben Namen zu geben ; aber man wird nicht die gleiche Freiheit haben, wenn man bewirken will, daß sie in ihrer Natur ebenso wie in ihrem Namen übereinstimmen. Wenn man somit diese Aussage vorbringt : »Die Zeit ist die Bewegung einer geschaffenen Sache«, so muß man fragen, was man unter diesem Wort »Zeit« versteht, das heißt, ob man ihm den gewöhnlichen und von allen angenommenen Sinn beläßt, oder ob man ihm diesen Sinn entzieht, um ihm bei dieser Gelegenheit jenen der Bewegung einer geschaffenen Sache zu geben. Wenn man ihm nämlich jeden anderen Sinn nimmt, so ist kein Widerspruch möglich, und dies wird eine freie Definition sein, als deren Folge, wie ich gesagt habe, es zwei Sachverhalte geben wird, die denselben Namen haben. Wenn man ihm jedoch seinen gewöhnlichen Sinn beläßt und gleichwohl behauptet, was man unter diesem Wort verstehe, sei die Bewegung einer geschaffenen Sache, so ist Widerspruch möglich. Dies ist nicht mehr eine freie Defi nition, sondern ein Lehrsatz, den man beweisen muß, wenn er nicht von selbst ganz eindeutig ist ; und dann wird das ein Prinzip und ein Axiom sein, niemals jedoch eine Defi nition, weil man bei dieser Aussage nicht meint, daß das Wort »Zeit« dasselbe bedeutet wie : »die Bewegung einer geschaffenen Sache« ; damit meint man vielmehr, dies, was man sich unter dem Begriff »Zeit« vorstellt, sei jene angenommene Bewegung. Wenn ich nicht wüßte, wie notwendig es ist, dies vollkommen zu verstehen, und wie oft es bei zwanglosen wie bei wissenschaftlichen Gesprächen jederzeit zu Umständen kommt, die dem von mir als Beispiel angeführten ähneln, so hätte ich mich damit nicht aufgehalten. Doch mir scheint auf Grund meiner Erfahrung mit verworrenen wissenschaftlichen Streitgesprächen, daß man sich diesen Geist der Klarheit, um dessentwillen ich diese ganze Abhandlung verfasse – weitaus mehr als um des Themas willen, das ich hier behandle –, gar nicht genug zu eigen machen kann.

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Denn wie viele Leute gibt es, die glauben, sie hätten die Zeit defi niert, wenn sie gesagt haben, sie sei das Maß der Bewegung, und ihr gleichwohl ihren gewöhnlichen Sinn belassen ? Und trotzdem haben sie ja einen Lehrsatz und nicht eine Defi nition gebildet. Wie viele gibt es auch, die glauben, sie hätten die Bewegung defi niert, wenn sie gesagt haben : Motus nec simpliciter actus nec mera potentia est, sed actus entis in potentia.7 Und trotzdem, wenn sie dem Wort »Bewegung« seinen gewöhnlichen Sinn belassen, wie sie es tun, so ist das keine Defi nition, sondern ein Lehrsatz ; und da sie somit die Defi nitionen, die sie »Namensdefi nitionen« nennen und die in Wahrheit die freien, zulässigen und geometrischen Defi nitionen sind, mit jenen anderen verwechseln, die sie »Sachdefi nitionen« nennen und die eigentlich Lehrsätze sind, welche durchaus nicht frei, sondern dem Widerspruch ausgesetzt sind, nehmen sie sich dabei die Freiheit, einige von diesen ebenso wie von den anderen zu bilden ; und da ein jeder dieselben Sachverhalte auf seine Art defi niert, mit einer Freiheit, die bei derartigen Defi nitionen ebenso verboten ist, wie sie bei den erstgenannten zulässig ist, bringen sie alle Sachverhalte durcheinander und verlieren jede Ordnung und jede Einsicht, so daß sie sich selbst verlieren und sich in unentwirrbaren Schwierigkeiten verirren. In derartige Schwierigkeiten wird man niemals verfallen, wenn man der Ordnung der Geometrie folgt. Diese vernünftig urteilende Wissenschaft ist weit davon entfernt, solche ursprünglichen Wörter wie Raum, Zeit, Bewegung, Gleichheit, Mehrheit, Verringerung, Ganzes und die anderen zu defi nieren, die ein jeder von selbst versteht. Wenn man jedoch von diesen absieht, so werden die übrigen Begriffe, die sie benutzt, derart zutreffend erklärt und definiert, daß man kein WörterA ristoteles : Physik 3, 1 : »Die Bewegung ist nicht einfach eine Wirklichkeit und auch keine bloße Möglichkeit, sondern die Verwirklichung des Möglichkeitszustandes eines Seienden.« Vgl. A ristoteles : Physik. Vorlesung über Natur. Bd. 1. Hamburg 1987 ( PhB 380), S. 103. 7

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buch benötigt, um irgendeinen von ihnen zu verstehen ; so sind denn, kurz gesagt, alle diese Begriffe entweder mit dem natürlichen Erkenntnisvermögen oder mit den Defi nitionen, die von der Geometrie gegeben werden, vollkommen erfaßbar. Auf diese Art vermeidet sie alle Fehler, die beim ersten Punkt vorkommen können, der darin besteht, allein die Sachverhalte zu defi nieren, die es benötigen. Ebenso verhält sie sich zum anderen Punkt, der darin besteht, die Lehrsätze zu beweisen, die nicht eindeutig sind. Wenn sie nämlich zu den ersten bekannten Wahrheiten gelangt ist, bleibt sie bei ihnen stehen und verlangt, daß man sie anerkennt, da sie nichts Klareres hat, um sie zu beweisen : So wird denn alles, was die Geometrie aussagt, entweder durch das natürliche Erkenntnisvermögen oder durch die Beweise vollkommen richtig begründet. Daher kommt es, daß diese Wissenschaft, wenn sie nicht alle Sachverhalte defi niert oder beweist, dies aus dem einzigen Grunde unterläßt, daß uns dies unmöglich ist. Da jedoch die Natur für alles sorgt, was diese Wissenschaft nicht bietet, gibt uns ihre Ordnung zwar keine Vollkommenheit, die über das Menschliche hinausgeht, aber sie hat die ganze Vollkommenheit, zu der die Menschen gelangen können. Ich habe es für angebracht gehalten, gleich am Anfang der vorliegenden Abhandlung diese … zu geben … Man wird es vielleicht seltsam fi nden, daß die Geometrie keinen von jenen Sachverhalten defi nieren kann, die sie hauptsächlich zum Gegenstand hat : Denn sie vermag ja die Bewegung, die Zahlen oder den Raum nicht zu defi nieren ; und gleichwohl sind es diese drei Sachverhalte, die sie im einzelnen untersucht und deren jeweilige Erforschung entscheidet, welchen dieser drei unterschiedlichen Namen sie annimmt : Mechanik, Arithmetik oder Geometrie, wobei dieser letztgenannte Begriff der Gattung und der Art eigen ist. Doch man wird hierüber nicht erstaunt sein, wenn man feststellt, daß diese bewundernswerte Wissenschaft sich nur mit den einfachsten Sachverhalten beschäftigt und dieselbe

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Eigenschaft, die diese zu ihrer würdigen Gegenständen macht, diese somit auch ungeeignet macht, defi niert zu werden ; so ist denn das Fehlen einer Defi nition eher ein Vorzug als ein Mangel, weil es sich nicht aus ihrer Dunkelheit, sondern im Gegenteil aus ihrer äußersten Eindeutigkeit herleitet, die so beschaffen ist, daß sie die ganze Gewißheit der Beweise, wenn auch nicht deren Überzeugungskraft hat. Sie setzt also voraus, daß man weiß, welchen Sachverhalt man unter diesen Begriffen – Bewegung, Zahl, Raum – versteht ; und ohne daß sie sich unnütz damit aufhält, diese zu defi nieren, ergründet sie deren Natur und entdeckt deren wunderbare Eigenschaften. Diese drei Sachverhalte, die das ganze All umfassen – wie es diesen Worten entspricht : Deus fecit omnia in pondere, in numero, et mensura 8 –, haben eine gegenseitige und notwendige Verbindung. Denn man kann sich ja keine Bewegung vorstellen ohne etwas, was sich bewegt ; und da dieses Etwas eine Einheit bildet, liegt diese Einheit allen Zahlen zugrunde ; da schließlich die Bewegung nicht ohne Raum existieren kann, erkennt man, daß diese drei Sachverhalte in dem ersten enthalten sind. Selbst die Zeit ist darin auch eingeschlossen : Denn Bewegung und Zeit stehen ja in gegenseitiger Beziehung, da Schnelligkeit und Langsamkeit, durch die sich die Bewegungen unterscheiden, einen notwendigen Zusammenhang mit der Zeit haben. Also gibt es Eigenschaften, die allen diesen Sachverhalten gemeinsam sind und deren Erkenntnis den Geist für die größten Wunder der Natur empfänglich macht. Deren bedeutungsvollste umfaßt die zwei Unendlichkeiten, die in allen vorhanden sind : zum einen die Unendlichkeit im Großen und zum anderen die Unendlichkeit im Kleinen. Denn so schnell auch eine Bewegung sein mag, man kann sich eine andere vorstellen, die noch schneller ist, und selbst

Vgl. »Gott hat alles nach Maß, Zahl und Gewicht geschaffen«, Weish 11, 21. 8

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diese letztgenannte kann man weiter beschleunigen ; und so geht es ständig bis ins Unendliche weiter, ohne daß man jemals eine Bewegung erreicht, die derart schnell wäre, daß man ihr nichts mehr hinzufügen könnte. Und so langsam im Gegensatz dazu auch eine Bewegung sein mag, man kann sie weiter verlangsamen und auch diese letztgenannte noch weiter ; und so geht es bis ins Unendliche weiter, ohne daß man jemals einen solchen Grad der Langsamkeit erreicht, von dem man nicht noch weiter zu unendlich vielen anderen hinabsteigen könnte, wobei man nie in einen Ruhezustand verfällt. Ebenso kann man, so groß auch eine Zahl sein mag, sich eine größere vorstellen und dazu noch eine Zahl, die über die letztgenannte hinausgeht ; und so setzt es sich bis ins Unendliche fort, ohne daß man jemals eine erreicht, die nicht mehr vergrößert werden könnte. Und so klein im Gegensatz dazu auch eine Zahl sein mag, wie etwa ein Hundertstel oder ein Zehntausendstel, man kann sich eine kleinere vorstellen, und so geht es ständig bis ins Unendliche weiter, ohne daß man jemals die Null oder das Nichts erreicht. Ebenso kann man, so groß auch ein Raum sein mag, sich einen größeren vorstellen, und darüber hinaus einen, der noch größer ist ; und so geht es bis ins Unendliche weiter, ohne daß man jemals zu einem gelangt, der nicht mehr vergrößert werden könnte. Und so klein im Gegensatz dazu auch ein Raum sein mag, man kann immer noch einen kleineren in Betracht ziehen, und das ständig weiter bis ins Unendliche, ohne daß man jemals zu einem unteilbaren gelangt, der keine Ausdehnung mehr hätte. Ebenso verhält es sich mit der Zeit. Man kann sich immer eine größere vorstellen, ohne daß es eine letzte gibt, und eine kleinere, ohne daß man einen Augenblick und ein reines Nichts an Dauer erreicht. Das heißt, kurz gesagt, um welche Bewegung, welche Zahl, welchen Raum oder welche Zeit es sich auch handeln mag, es gibt immer etwas von ihnen, was größer, und etwas, was kleiner ist : So stehen sie denn alle zwischen dem Nichts und

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dem Unendlichen, wobei sie immer unendlich weit von diesen Extremen entfernt sind. Alle diese Wahrheiten lassen sich nicht beweisen, und gleichwohl sind sie die Grundlagen und die Prinzipien der Geometrie. Da jedoch die Ursache, die deren Beweis unmöglich macht, nicht deren Dunkelheit, sondern im Gegenteil deren äußerste Eindeutigkeit ist, erscheint dieses Fehlen eines Beweises nicht als ein Mangel, sondern vielmehr als ein Vorzug. Hieraus ersieht man, daß die Geometrie weder die Gegenstände defi nieren noch die Prinzipien beweisen kann, dies jedoch aus dem einzigen und nutzbringenden Grund, daß die einen und die anderen äußerste natürliche Klarheit haben, mit der die Vernunft stärker als durch eine Darlegung überzeugt wird. Denn was gibt es Eindeutigeres als diese Wahrheit, daß eine Zahl, wie sie auch immer sein mag, vergrößert werden kann ? Kann man sie nicht verdoppeln ? Kann die Schnelligkeit einer Bewegung nicht verdoppelt werden, und kann ein Raum nicht auch verdoppelt werden ? Und wer kann ebenso daran zweifeln, daß eine Zahl, wie sie auch immer sein mag, sich halbieren läßt und deren Hälfte sich wiederum halbieren läßt ? Denn sollte diese Hälfte etwa ein Nichts sein ? Und wie sollten diese beiden Hälften, die zwei Nullen wären, zusammen eine Zahl bilden ? Kann nicht ebenso eine Bewegung, so langsam sie auch sein mag, noch um die Hälfte verlangsamt werden, so daß sie denselben Raum in der doppelten Zeit durchläuft, und läßt sich diese letztgenannte Bewegung nicht wiederum um die Hälfte verlangsamen ? Denn könnte sie ein reiner Ruhezustand sein ? Und wie wäre es möglich, daß diese beiden halben Geschwindigkeiten, die zwei Ruhezustände wären, die ursprüngliche Geschwindigkeit ergäben ? Kann demzufolge ein Raum, so klein er auch sein mag, nicht halbiert werden, und können dessen Hälften nicht wieder um halbiert werden ? Und wie könnte es geschehen, daß diese Hälften unteilbar und ohne jede Ausdehnung wären, wo sie

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doch, als sie miteinander verbunden waren, die ursprüngliche Ausdehnung gebildet haben ? Dem Menschen ist keine natürliche Erkenntnis gegeben, die diesen vorausginge und sie an Klarheit überträfe. Damit es gleichwohl ein Beispiel für alles gibt, findet man auch Geister, die bei allen anderen Dingen vortrefflich sind und die sich doch von diesen Unendlichkeiten abstoßen lassen und sich auf keinen Fall mit ihnen einverstanden erklären können. Ich habe nie einen Menschen kennengelernt, der gemeint hätte, daß sich ein Raum nicht vergrößern lasse. Aber ich habe einige gesehen, die im übrigen sehr kluge Leute waren und die doch versichert haben, ein Raum könne in zwei unteilbare Teile zerlegt werden, so absurd dies auch ist. Ich habe mich bemüht, bei ihnen nachzuprüfen, welchen Grund diese Unklarheit haben mochte, und ich habe gefunden, daß es hierfür nur einen Hauptgrund gibt, nämlich, daß sie sich einen bis ins Unendliche teilbaren Inhalt nicht vorstellen können : Und hieraus schließen sie, daß er nicht bis ins Unendliche teilbar sei. Es ist eine dem Menschen naturgegebene Krankheit, daß er glaubt, er besitze die Wahrheit unmittelbar ; und daher kommt es, daß er stets geneigt ist, alles zu leugnen, was ihm unbegreiflich ist ; statt dessen erkennt er von Natur aus tatsächlich nur die Lüge9 und darf nur jene Sachverhalte als wahr annehmen, deren Gegenteil ihm falsch erscheint. Und darum muß man jedes Mal, wenn ein Lehrsatz unvorstellbar ist, mit seinem Urteil zurückhalten und ihn nicht auf Grund dieses Kennzeichens ablehnen, sondern dessen Gegenteil prüfen ; und wenn man dieses als offensichtlich falsch erVgl. Augustinus : Enarrationes in Psalmos 24, 5 : »nam per meipsum non noui nisi mendacium« ; Ders. : In Ioannis evangelium tractatus CXXIV 5, 1 »habet de suo, nisi mendacium et peccatum« (aufgenommen vom 2. Konzil von Orange, can. 22, DH 392). Dazu Schobinger, a. a. O., S. 334 f. mit weiteren Belegen aus dem Umkreis PortRoyals. 9

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kennt, kann man kühn den ursprünglichen Lehrsatz bejahen, so unbegreiflich er auch sein mag. Wenden wir diese Regel nun auf unser Thema an. Jeder Geometer glaubt, daß der Raum bis ins Unendliche teilbar ist. Ohne dieses Prinzip kann man ebensowenig Geometer sein, wie man ohne Seele ein Mensch sein kann. Und gleichwohl gibt es keinen, der eine unendliche Teilung begreift ; und man überzeugt sich von dieser Wahrheit nur aus einem einzigen Grund, der indes gewiß ausreicht, nämlich, daß man vollkommen begreift, es sei falsch, daß man, wenn man einen Raum teilt, zu einem unteilbaren Teil gelangen könnte, das heißt zu einem Teil, der keine Ausdehnung hat. Denn was ist absurder, als zu behaupten, wenn man einen Raum immer weiter teile, gelange man schließlich zu einem solchen Teil, bei dem, wenn man ihn halbiere, jede Hälfte unteilbar und ohne Ausdehnung sei, somit diese beiden Teile ohne jede Ausdehnung zusammen eine Ausdehnung ergäben ? Ich möchte doch diejenigen fragen, die diese Vorstellung haben, ob sie klar erfassen, wie zwei Unteilbare einander berühren können : Wenn sie sich überall berühren, so sind sie nur ein und dasselbe, und demnach sind die beiden zusammen unteilbar ; und wenn sie sich nicht überall berühren, so ist das folglich nur an einem Teil : Folglich haben sie auch Teile, folglich sind sie nicht unteilbar. Wenn sie nämlich bekennen, wie sie es tatsächlich auch tun, sobald man sie drängt, daß ihr Lehrsatz ebenso unbegreiflich ist wie der andere, so sollen sie weiter anerkennen, daß wir nicht auf Grund unserer Fähigkeit, diese Sachverhalte zu begreifen, über ihre Wahrheit urteilen dürfen, denn diese zwei Gegensätze sind ja alle beide unbegreiflich, und gleichwohl ist es gewiß notwendig, daß einer von beiden wahr ist. Sie sollen aber diesen wahnhaften Schwierigkeiten, die nur zu unserer Schwäche in einem angemessenen Verhältnis stehen, diese natürlichen Klarheiten und diese beständigen Wahrheiten entgegenhalten : Wenn es wahr wäre, daß der Raum aus einer bestimmten endlichen Zahl von Unteilbaren zusammen-

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gesetzt wäre, würde sich daraus ergeben, daß bei zwei Räumen, von denen jeder quadratisch, das heißt an allen Seiten gleich und ähnlich wäre, wobei der eine doppelt so groß wie der andere wäre, der eine doppelt so viele Unteilbare wie der andere enthalten würde. Sie sollen sich diese Folgerung gut einprägen und sich hierauf bemühen, Quadrate geordnet mit Punkten zu füllen, bis sie zwei Quadrate gefunden haben, deren eines doppelt so viele Punkte wie das andere hat, und dann will ich von allen Geometern der Welt ihren Vorrang anerkennen lassen. Wenn etwas Derartiges aber von Natur aus unmöglich ist – das heißt, wenn es einen unüberwindlichen Grund gibt, der verhindert, Quadrate geordnet mit Punkten zu füllen, so daß deren eines doppelt so viele wie das andere enthielte, wie ich es an dieser Stelle sofort beweisen würde, wenn die Sache es verdiente, daß man sich mit ihr aufhielte –, so sollen sie den entsprechenden Schluß daraus ziehen. Und um sie bei den Schwierigkeiten zu unterstützen, die sie in gewissen Fällen haben würden, wie etwa, wenn sie sich vorstellen sollen, daß ein Raum unendlich viele Teilbare enthält, wo man ihn doch in so kurzer Zeit durchläuft, während der man also diese unendlich vielen Unteilbaren durchlaufen hätte, muß man sie unterrichten, daß sie Sachverhalte nicht vergleichen dürfen, die untereinander in einem derartigen Mißverhältnis stehen, wie es die Unendlichkeit der Teilbaren und die kurze Zeit ist, in der man sie durchläuft : Sie sollen vielmehr den gesamten Raum mit der gesamten Zeit und die unendlich vielen Teilbaren des Raums mit den unendlich vielen Augenblicken dieser Zeit vergleichen ; und so werden sie entdecken, daß man unendlich viele Teilbare in unendlich vielen Augenblicken und einen kleinen Raum in kurzer Zeit durchläuft ; darin entdecken sie nicht mehr das Mißverhältnis, das sie in Erstaunen versetzt hatte. Wenn sie es schließlich seltsam finden, daß ein kleiner Raum so viele Teile wie ein großer hat, dann sollen sie auch verstehen, daß diese Teile in einem entsprechenden Verhältnis kleiner sind, und sie sollen das Firmament durch ein kleines Glas

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betrachten, um sich an diese Erkenntnis zu gewöhnen, indem sie jeden Teil des Himmels in jedem Teil des Glases sehen. Wenn sie jedoch nicht verstehen können, daß Teile, die so klein sind, daß sie für uns unsichtbar bleiben, sich ebenso teilen lassen wie das Firmament, dann gibt es kein besseres Mittel, als daß man sie diese Teile durch Vergrößerungsgläser betrachten läßt, die eine derart feine Spitze zu einer ungeheuren Masse anwachsen lassen ; das wird ihnen unschwer ermöglichen, sich vorzustellen, daß man diese Teile mit Hilfe eines anderen, noch kunstvoller geschliffenen Glases so weit vergrößern könnte, daß sie jenem Firmament gleich werden, dessen Ausdehnung sie bewundern. Und da ihnen somit diese Gegenstände nun als sehr leicht teilbar erscheinen, sollen sie sich darauf besinnen, daß die Natur unendlich mehr als die Kunst vermag. Denn wer hat ihnen schließlich die Sicherheit gegeben, daß diese Gläser die natürliche Größe jener Gegenstände verändert haben ? Oder wenn sie im Gegenteil deren wahre Größe wiederhergestellt haben, die von der Gestalt unseres Auges verwandelt und zusammengezogen worden war, wie es die Verkleinerungsgläser bewirken ? Es ist unangenehm, sich mit derartigen Kleinigkeiten aufzuhalten ; aber es gibt ja Zeiten, da man sich an Albernheiten erfreut. Es genügt, Geistern, die einen klaren Blick für dieses Sachgebiet haben, zu sagen, daß zweimal nichts an Ausdehnung keine Ausdehnung bilden kann. Doch da es manche gibt, die sich dieser Erkenntnis mit der wundervollen Antwort entziehen wollen, daß zweimal nichts an Ausdehnung ebensogut eine Ausdehnung bilden könne, wie zwei Einheiten, von denen keine eine Zahl sei, durch ihre Verbindung eine Zahl bilden, muß man ihnen entgegnen, daß sie ebensogut einwenden könnten, zwanzigtausend Mann bilden eine Armee, obgleich keiner von ihnen eine Armee sei ; tausend Häuser bilden eine Stadt, obgleich keines eine Stadt sei ; oder : Die Teile bilden das Ganze, obgleich keiner das Ganze sei ; oder auch, um bei

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den Zahlenvergleichen zu bleiben : Zwei durch zwei teilbare Zahlen bilden eine durch vier teilbare Zahl und zehn durch zehn teilbare eine durch hundert teilbare, obgleich diese keine einzige von jenen sei. Doch es bedeutet nicht, einen scharfen Geist zu haben, wenn man durch so unverhältnismäßige Vergleiche die unwandelbare Natur der Dinge mit ihren freien und aus eigenem Willen gewählten Namen verwechselt, die von der Laune ihrer Autoren abhängen. Denn es ist klar, daß man, um die Gespräche zu erleichtern, zwanzigtausend Mann den Namen »Armee« gegeben hat, vielen Häusern den Namen »Stadt«, zehn Einern den Namen »Zehner« ; und es ist auch klar, daß durch diese Freiheit die Namen »Einer«, »Zweier«, »Vierer«, »Zehner« und »Hunderter« entstehen, die sich durch unsere willkürlichen Namenserfi ndungen unterscheiden, obgleich diese Sachverhalte durch ihre unveränderliche Natur tatsächlich derselben Gattung angehören und sie alle untereinander in einem angemessenen Verhältnis stehen und sich nur durch ihre höhere oder niedrigere Stufe unterscheiden und obgleich infolge dieser Namen ein Zweier kein Vierer und ein Haus keine Stadt ist, ebenso wie eine Stadt kein Haus ist. Doch obgleich ein Haus keine Stadt ist, ist es außerdem durchaus nicht ein Nichts von einer Stadt ; es gibt einen großen Unterschied zwischen der Tatsache, eine Sache nicht zu sein, und der, das Nichts von ihr zu sein. Denn damit man den Sachverhalt gründlich versteht, muß man wissen, daß der einzige Grund, warum der Einer nicht zur Zahlenreihe gehört, darin besteht, daß Euklid und die ersten Autoren, welche die Arithmetik behandelt haben, den Zahlen mehrere Eigenschaften beizulegen hatten, die sich auf alle anwenden ließen, außer dem Einer, und um sich die häufige Aussage zu ersparen, daß bei jeder Zahl außer dem Einer diese oder jene Bedingung vorkomme, haben sie den Einer aus der Bedeutung des Wortes »Zahl« ausgeschlossen, und das auf Grund der Freiheit, die man hat, wie wir bereits sagten, Defi nitionen nach eigenem Belieben aufzustellen. Wenn

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sie daher gewollt hätten, so hätten sie ebenso den Zweier und den Dreier sowie alles davon ausgeschlossen, was ihnen beliebt hätte ; denn hierüber bestimmt man, vorausgesetzt, daß man darauf hinweist : Wie auch im Gegenteil der Einer in die Zahlenreihe aufgenommen wird, wenn man will, und ebenso die Brüche. Und tatsächlich ist man verpfl ichtet, dies bei den allgemeinen Lehrsätzen zu tun, um sich zu ersparen, jedesmal zu sagen : »Bei jeder Zahl und bei dem Einer sowie den Brüchen fi ndet sich diese oder jene Eigenschaft« ; und in diesem unbestimmten Sinne habe ich sie bei allem, was ich über sie geschrieben habe, benutzt. Doch derselbe Euklid, der den Namen »Zahl« nicht auf den Einer angewandt hat, was ihm möglich war, defi niert, um gleichwohl zu zeigen, daß er kein Nichts ist, sondern im Gegenteil zu derselben Gattung gehört, die homogenen Größen folgendermaßen : »Die Größen«, sagt er, »werden zu derselben Gattung gerechnet, wenn die eine, sobald sie mehrmals vervielfacht wird, schließlich die andere übertreffen kann.«10 Und da der Einer, wenn er mehrmals vervielfacht wird, jede beliebige Zahl übertreffen kann, gehört er folglich zu derselben Gattung wie die Zahlen, und das gerade durch sein Wesen und seine unwandelbare Natur im Sinne desselben Euklid, der ihm nicht den Namen »Zahl« zuerkennen wollte. Nicht ebenso verhält es sich bei einem Unteilbaren im Hinblick auf eine Ausdehnung ; denn es unterscheidet sich nicht nur im Namen, was vom freien Willen abhängt, sondern auch in der Gattung, was dieselbe Defi nition bestimmt, weil ein Unteilbares, das so oft, wie man will, vervielfacht wird, so weit davon entfernt ist, eine Ausdehnung übertreffen zu können, daß es immer nur einzig und allein ein Unteilbares bilden kann ; das ist natürlich und notwendig, wie es schon gezeigt wurde. Und da dieser letzte Beweis auf der Defi nition dieser beiden Sach-

Vgl. Euklid : Die Elemente. 2. Teil. Leipzig 1933 (Ostwald’s Klassiker der exakten Wissenschaften. 236), S. 17 (= Elemente 5, def. 5). 10

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verhalte – »Unteilbares« und »Ausdehnung« – beruht, werden wir nun die Beweisführung abschließen und vollenden. Ein Unteilbares ist etwas, was keinen Teil hat, und die Ausdehnung ist etwas, was verschiedene getrennte Teile hat. Ausgehend von diesen Defi nitionen sage ich, daß zwei Unteilbare, wenn sie vereinigt sind, keine Ausdehnung ergeben. Wenn sie nämlich vereinigt sind, so berühren sie sich gegenseitig an einem Teil ; und daher sind die Teile, mit denen sie einander berühren, nicht getrennt, denn sonst würden sie sich ja nicht berühren. Nun haben sie aber auf Grund ihrer Defi nition keine anderen Teile : Folglich haben sie keine getrennten Teile ; und folglich sind sie auch keine Ausdehnung, wie es der Defi nition der Ausdehnung entspricht, die besagt, daß diese aus getrennten Teilen besteht. Aus demselben Grund wird man das gleiche bei allen anderen Unteilbaren zeigen, die man dem hinzufügt. Und demzufolge wird ein Unteilbares, das man so oft vervielfachen mag, wie man will, niemals eine Ausdehnung ergeben. Also gehört es auf Grund der Defi nition für die Sachverhalte, die zu derselben Gattung gehören, nicht zu derselben Gattung wie die Ausdehnung. So beweist man, daß die Unteilbaren nicht zu derselben Gattung wie die Zahlen gehören. Daher kommt es, daß zwei Einer durchaus eine Zahl ergeben können, weil sie zu derselben Gattung gehören, und daß zwei Unteilbare keine Ausdehnung ergeben, weil sie nicht zu derselben Gattung gehören. Hieraus ersieht man, wie wenig Grund es gibt, die Beziehung zwischen dem Einer und den Zahlen mit derjenigen zwischen den Unteilbaren und der Ausdehnung zu vergleichen. Wenn man aber den Zahlen einen Vergleich entnehmen will, der genau darstellt, was wir bei der Ausdehnung beobachten, so muß es die Beziehung der Null zu den Zahlen sein ; denn die Null gehört nicht zu derselben Gattung wie die Zahlen, weil die Null, wenn sie vervielfacht wird, die Zahlen nicht übertreffen kann : So ist sie denn ein wahrhaft Unteilbares von der Zahl, wie das Unteilbare eine wahrhaftige Null von der

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Ausdehnung ist. Und man wird eine gleiche Beziehung zwischen dem Ruhezustand und der Bewegung sowie zwischen einem Augenblick und der Zeit fi nden ; denn all diese Sachverhalte sind heterogen im Verhältnis zu ihren Größen, weil sie, wenn sie unendlich oft vervielfacht werden, niemals etwas anderes als Unteilbare ergeben, wie das auch aus dem gleichen Grund für die Unteilbaren an Ausdehnung zutrifft. Und dann wird man eine vollkommene Entsprechung zwischen diesen Sachverhalten entdecken ; denn all diese Größen sind bis ins Unendliche teilbar, ohne daß sie zu Unteilbaren herabsinken, so daß sie alle die Mitte zwischen dem Unendlichen und dem Nichts halten. Das ist die wunderbare Beziehung, die von der Natur zwischen diesen Sachverhalten hergestellt wurde, und das sind die zwei wunderbaren Unendlichkeiten, die sie den Menschen dargeboten hat, wobei diese sie nicht begreifen, sondern bewundern sollen ; und um deren Betrachtung mit einem letzten Hinweis abzuschließen, will ich hinzufügen, daß diese zwei Unendlichkeiten, obwohl sie unendlich unterschiedlich sind, dennoch untereinander in einem Verhältnis stehen, so daß die Erkenntnis der einen notwendig zur Erkenntnis der anderen führt. Denn bei den Zahlen folgt daraus, daß sie immer weiter vergrößert werden können, auch notwendig, daß sie immer weiter verkleinert werden können, und das ergibt sich klar : Wenn man nämlich zum Beispiel eine Zahl bis auf einhunderttausend vervielfachen kann, so kann man auch einen einhunderttausendsten Teil davon entnehmen, wenn man sie durch dieselbe Zahl dividiert, mit der man sie multipliziert, und so wird jedes Vergrößerungsglied zu einem Divisionsglied, indem man das Ganze in einen Bruch verwandelt. So schließt denn die unendliche Vergrößerung notwendig auch die unendliche Division ein. Und beim Raum ist die gleiche Beziehung zwischen diesen zwei entgegengesetzten Unendlichkeiten zu sehen ; das heißt, da ein Raum unendlich erweitert werden kann, folgt daraus, daß er unendlich verkleinert werden kann, wie es sich an die-

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sem Beispiel erweist : Wenn man durch ein Glas ein Schiff betrachtet, das sich immer weiter in gerader Linie entfernt, ist es klar, daß die Stelle der Linse, auf der man einen beliebigen Punkt des Schiffes beobachtet, sich immer weiter in einer fortwährenden Strömung erhebt, je weiter das Schiff enteilt. Wenn also der Lauf des Schiffes sich immer weiter und bis ins Unendliche fortsetzt, wird sich dieser Punkt fortwährend weiter erheben ; und trotzdem wird er niemals mit jenem Punkt zusammentreffen, an dem der waagerechte Strahl, der vom Auge zum Glas führt, einfällt ; so wird er denn jenem Punkt immer näher kommen, ohne ihn jemals zu erreichen, und unaufhörlich den Raum teilen, der unterhalb des Punktes an jenem waagerechten Strahl übrigbleibt, ohne jemals ganz zu ihm zu gelangen. Hieran erkennt man die notwendige Folgerung, die man aus der unendlichen Ausdehnung der Schiffsbahn zieht, für die unendliche und unendlich kleine Teilung dieses kleinen Raums, der unterhalb des Punktes an jenem waagerechten Strahl übrigbleibt. Diejenigen, die mit diesen Gründen nicht zufrieden sind und weiter glauben, daß der Raum nicht bis ins Unendliche teilbar sei, können keinen Anspruch auf geometrische Beweisführungen erheben ; und obgleich sie sich durchaus bei anderen Sachverhalten aufklären lassen, ist ihnen so etwas bei diesen sehr wenig möglich : Denn man kann leicht ein sehr kluger Mensch und ein schlechter Geometer sein. Diejenigen aber, die diese Wahrheiten klar sehen, können die Größe und Macht der Natur an dieser doppelten Unendlichkeit bewundern, die uns überall umgibt, und aus dieser wunderbaren Betrachtung lernen, sich selbst zu erkennen,11 indem sie wahrnehmen, wie sie zwischen eine Unendlichkeit und ein Nichts an Ausdehnung, zwischen eine Unendlichkeit und ein Nichts an Zahl, zwischen eine Unendlichkeit und ein Nichts

Vgl. das augustinische »noli foras ire, in teipsum redi« : Augustinus : De vera religione 72. 11

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an Bewegung, zwischen eine Unendlichkeit und ein Nichts an Zeit gestellt sind. Auf dieser Grundlage kann man es lernen, sich nach seinem richtigen Wert zu schätzen und Gedanken zu bilden, die mehr als die ganze übrige Geometrie bedeuten. Ich glaubte mich verpfl ichtet, diese lange Betrachtung vorzunehmen, um denjenigen zu helfen, die diese doppelte Unendlichkeit zunächst nicht begreifen und doch fähig sind, sich von ihr überzeugen zu lassen. Und obgleich es manche gibt, die genug Erkenntnisvermögen haben, um ohne sie auszukommen, kann es dennoch geschehen, daß diese Abhandlung, die für die einen notwendig ist, für die anderen nicht ganz unnütz sein wird.

Abteilung II : Von der Kunst zu überzeugen Die Kunst zu überzeugen steht in einer notwendigen Beziehung zu der Art, wie die Menschen dem zustimmen, was man ihnen vorlegt, und zu den Eigenschaften der Sachen, von denen man sie überzeugen will. Niemandem ist unbekannt, daß es zwei Wege gibt, auf denen die Meinungen in die Seele eingehen, und dies sind deren beide Hauptkräfte : Verstand und Wille.12 Der natürlichste Weg ist der des Verstandes, denn man sollte stets nur bewiesenen Wahrheiten zustimmen ; aber der gewöhnlichste Weg, obgleich er sich gegen die Natur richtet, ist der des Willens ; denn beinahe immer lassen sich alle Menschen nicht durch den Beweis, sondern durch das Wohlgefallen zum Glauben bewegen. Dieser Weg ist niedrig, unwürdig und widersinnig : Daher verleugnen ihn alle. Jeder legt das Bekenntnis ab, etwas nur zu glauben und sogar nur zu lieben, wenn er wisse, daß es dies verdiene.

Vgl. zu den beiden Vermögen und dem zeitgenössischen Kontext ausführlich Schobinger, a. a. O., S. 389 – 404. 12

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Ich spreche hier nicht von den göttlichen Wahrheiten, die ich wohlweislich nicht der Kunst zu überzeugen unterwerfe, denn sie stehen unendlich hoch über der Natur : Gott allein kann sie der Seele eingeben, und das in der Art, wie es ihm gefällt. Ich weiß, daß sie nach seinem Willen aus dem Herzen13 in den Geist eingehen und nicht aus dem Geist ins Herz, um diese hochmütige Macht der Vernunft zu demütigen,14 die beansprucht, Richter über jene Sachverhalte sein zu müssen, die der Wille auswählt, und um diesen gebrechlichen Willen zu heilen, den seine unreinen Neigungen ganz verdorben haben. Und daher kommt es, daß man sagt, wenn man von den menschlichen Dingen spricht, man müsse sie erkennen, bevor man sie liebe, was zu einer sprichwörtlichen Redensart geworden ist, während die Heiligen hingegen sagen, wenn sie von den göttlichen Dingen sprechen, daß man sie lieben müsse, um sie zu erkennen, und daß man nur durch die christliche Liebe zur Wahrheit gelange,15 und daraus haben sie eine ihrer nützlichsten Lehren gemacht.

Vgl. zum »Herz« bei Pascal ebd. 399 – 404. Zum »Hochmut« vgl. Augustinus : De civitate Dei 14, 13 : »initium enim omnis peccati superbia est [Eccli 10, 15]. quid est autem superbia nisi peruersae celsitudinis appetitus ?« (»Der Anfang jeder Sünde ist der Hochmut. [Sir 10, 15] Ist Hochmut nicht das Streben nach verkehrter Hoheit ?«, dt. Augustinus : Der Gottesstaat. Bd. 2, Salzburg 1952, S. 359) und den Kommentar bei Schobinger, a. a. O., S. 411. Vgl. in den Pensées z. B. Laf. 131 : »Erkenne also, du Hochmütiger, welches Paradoxon du für dich selbst bist. Demütige dich, ohnmächtige Vernunft ! Schweig still, törichte Natur, erfahre, daß der Mensch unendlich über den Menschen hinausgeht, und höre von deinem Herrn, welches deine wirkliche Lage ist, die du nicht kennst«, ferner Laf. 208, 219, 260 u. ö. 15 Vgl. Augustinus : Contra Faustum 32, 18 : »… quia non intratur in ueritatem nisi per caritatem«. Zitiert von Jansenius im Liber prooemialis des 2. Bandes seines Augustinus, den Pascal auch in der »Vorrede zur Abhandlung über die Leere« benutzt hatte. 13 14

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Hieraus erhellt, daß Gott diese übernatürliche Ordnung eingerichtet hat, die jener Ordnung ganz entgegengesetzt ist, wie sie den Menschen bei den natürlichen Dingen naturgegeben sein sollte. Gleichwohl haben sie diese Ordnung verdorben, indem sie aus den weltlichen Dingen das gemacht haben, was sie aus den heiligen Dingen machen sollten, da wir in der Tat beinahe nur glauben, was uns gefällt. Und daher kommt es, daß wir so weit davon entfernt sind, die Wahrheiten der christlichen Religion gutzuheißen, da diese unseren Freuden ganz widerstrebt. »Sag uns angenehme Dinge, so wollen wir auf dich hören«, sprachen die Juden zu Moses ;16 als dürfte das Angenehme den Glauben bestimmen ? Und um diese Unordnung durch eine ihm gemäße Ordnung zu bestrafen, gießt Gott seine Erleuchtungen in den Geistern erst aus, nachdem er den Aufruhr des Willens durch eine ganz himmlische Milde bezwungen hat, die den Willen entzückt und mitreißt.17 Ich spreche also nur von den Wahrheiten, die unserer Fassungskraft entsprechen ; und von ihnen sage ich, daß Geist und Herz gleichsam die Tore sind, durch die sie in der Seele aufgenommen werden, daß indes sehr wenige durch den Geist in sie eingehen, während sie scharenweise von den leichtfertigen Launen des Willens ohne den Rat der Vernunft in die Seele eingeführt werden. Von diesen Kräften hat jede ihre eigenen Prinzipien und die ersten Beweggründe für ihre Handlungen. Beim Geist sind es natürliche und allgemein bekannte Wahrheiten, wie etwa, daß das Ganze größer ist als sein Teil,18 überdies mehrere besondere Axiome, die von den einen anerkannt werden und von anderen nicht, die aber, sobald man sie zuläßt, ebensolche Wirkungskraft haben, obgleich sie falsch sind, um den Glauben herbeizuführen, wie die wahrhaftigsten.

16 17 18

(Freie) Anspielung auf Ex 20, 19 ? Vgl. hierzu auch die »Schriften über die Gnade«. Vgl. Euklid : Elemente 1, Axiome 8 (9).

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Beim Willen sind es gewisse natürliche und allen Menschen gemeinsame Triebe, wie der, glücklich zu sein, der bei keinem Menschen fehlen kann, überdies mehrere besondere Ziele, denen jeder nachstrebt, um sie zu erreichen, und die, da sie die Macht haben, uns zu gefallen, ebensolche Macht haben, obgleich sie in der Tat verderblich sind, um den Willen handeln zu lassen, als machten sie sein wahrhaftiges Glück aus. Dies sei über die Kräfte gesagt, die uns zur Zustimmung bewegen. Was aber die Eigenschaften der Dinge betrifft, von denen wir andere überzeugen müssen, so sind sie sehr vielfältig. Die einen werden durch eine notwendige Folgerung aus den allgemeinen Prinzipien und den anerkannten Wahrheiten abgeleitet. Von diesen kann man unfehlbar überzeugen ; indem man nämlich ihre Beziehung zu den vereinbarten Prinzipien zeigt, überzeugt man mit unausweichlicher Notwendigkeit. Und es ist unmöglich, daß sie nicht in der Seele aufgenommen werden, sobald man sie jenen Wahrheiten angliedern konnte, die sie schon zugegeben hat. Es gibt einige, die eine enge Verbindung zu den Gegenständen unseres Vergnügens haben ; und diese werden auch noch mit Gewißheit aufgenommen, denn sobald man die Seele erkennen läßt, daß etwas sie zu dem führen kann, was sie am leidenschaftlichsten liebt, wendet sie sich dem unausweichlich und mit Freuden zu. Doch diejenigen, die diese Beziehung sowohl zu den anerkannten Wahrheiten als auch zu den Trieben des Herzens haben, sind in ihrer Wirkung so sicher, daß es in der Natur nichts gibt, was es in höherem Maße ist. Wie im Gegenteil das, was keinen Zusammenhang mit unseren Glaubensvorstellungen und mit unseren Freuden hat, uns lästig, falsch und völlig fremd vorkommt. In allen diesen Fällen gibt es keinen Grund zu zweifeln. Doch es gibt andere, bei denen die Sachverhalte, von denen man überzeugen will, fest auf bekannten Wahrheiten begründet sind, jedoch gleichzeitig den Freuden, die uns am meisten

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berühren, entgegenstehen. Und diese befi nden sich in großer Gefahr, auf Grund einer nur allzu gewöhnlichen Erfahrung zu veranschaulichen, was ich zu Beginn sagte : daß diese herrische Seele, die sich rühmte, bei ihren Handlungen nur der Vernunft zu gehorchen, infolge einer schmachvollen und leichtfertigen Wahl dem folgt, was ein verderbter Wille begehrt, welchen Widerstand der überaus aufgeklärte Geist dem auch entgegensetzen mag. Dann ergibt sich ein ungewisser Schwebezustand zwischen Wahrheit und Lust, und die Erkenntnis jener und das Empfi nden dieser bewirken einen Kampf, dessen Ausgang sehr unsicher ist, denn um über ihn ein Urteil abgeben zu können, müßte man alles wissen, was im tiefsten Inneren des Menschen geschieht und was der Mensch selbst beinahe nie weiß. Hieraus erhellt, daß man, wovon man auch immer überzeugen will, die Person berücksichtigen muß, auf die man es abgesehen hat, deren Geist und Herz man kennen und von der man außerdem wissen soll, welche Prinzipien sie gutheißt, welche Dinge sie liebt, und darauf hat man herauszufi nden, welche Beziehungen der betreffende Sachverhalt zu den vereinbarten Prinzipien oder den Gegenständen hat, die wegen der Reize, die man ihnen zuschreibt, Lust bereiten. So besteht denn die Kunst zu überzeugen ebensosehr in der Kunst, Gefallen zu erwecken, wie in der Kunst, etwas eindeutig zu beweisen, so sehr lassen die Menschen sich mehr von ihren Launen als von der Vernunft leiten ? Doch von diesen zwei Methoden, der, eindeutig zu beweisen, und der zu gefallen, werde ich hier nur die Regeln für die erstgenannte geben ; und das wiederum nur für den Fall, daß man die Prinzipien zugestanden hat und sich entschlossen weiter zu ihnen bekennt : Andernfalls weiß ich nicht, ob es eine Kunst geben könnte, mit der die Beweise sich der Unbeständigkeit unserer Launen anpassen ließen. Aber die Art, wie man gefällt, ist ja unvergleichlich schwieriger, subtiler, nützlicher und bewundernswerter ; und wenn ich sie nicht behandle, so deshalb, weil ich dessen nicht fähig

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bin ; das ist, wie ich fühle, mir derart unangemessen, daß ich die Sache für völlig unmöglich halte. Zwar glaube ich durchaus, daß es Regeln gibt, um zu gefallen, die ebenso sicher sind wie jene, mit denen man etwas beweist, und daß jemand, der sie vollkommen zu erkennen und anzuwenden wüßte, sich ebenso sicher bei den Königen und allen möglichen Leuten beliebt machen könnte, wie man jenen die Elemente der Geometrie bewiese, die genug Vorstellungskraft haben, um deren Hypothesen zu verstehen. Doch ich meine, und vielleicht bringt mich meine Schwäche zu dieser Annahme, daß es unmöglich ist, das zu erreichen. Wenigstens weiß ich, wenn jemand dessen fähig ist, so sind dies Leute, die ich kenne, und niemand sonst hat hierüber so klare und umfassende Einsichten. Der Grund für diese außerordentliche Schwierigkeit rührt daher, daß die Prinzipien des Vergnügens nicht fest und dauerhaft sind. Sie sind bei allen Menschen unterschiedlich und bei jedem einzelnen in einer solchen Vielfalt veränderlich, daß es keinen Menschen gibt, der sich nicht zu unterschiedlichen Zeiten stärker von sich selbst als von einem anderen unterscheidet. Ein Mann hat andere Vergnügen als eine Frau ; ein Reicher und ein Armer haben unterschiedliche Vergnügen ; ein Fürst, ein Krieger, ein Kaufmann, ein Bürger, ein Bauer, die Alten, die Jungen, die Gesunden, die Kranken, alle unterscheiden sich ; die geringsten Zufälle verändern sie. Nun gibt es aber eine Kunst, und diese stelle ich hier vor, mit der sich der Zusammenhang zwischen den Wahrheiten und ihren Prinzipien zeigen läßt, wobei diese entweder dem Wahren oder dem Vergnügen angehören, vorausgesetzt, daß die Prinzipien, die man einmal anerkannt hat, entschlossen beibehalten und niemals geleugnet werden. Da es aber wenig derartige Prinzipien gibt und außerhalb der Geometrie, die sich nur mit sehr einfachen Gebilden beschäftigt, beinahe keine Wahrheiten bestehen, denen wir immer zustimmen würden, und noch weniger Gegenstände des Vergnügens, die wir nicht jederzeit wechselten, weiß ich nicht,

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ob es ein Mittel gibt, feste Regeln aufzustellen, mit denen sich die Untersuchungen auf unsere unbeständigen Launen ausrichten ließen. Diese Kunst, die ich die Kunst zu überzeugen nenne und die eigentlich nur die methodisch vollkommene Beweisführung ist, besteht aus drei wesentlichen Teilen : daß man die Begriffe, deren man sich bedienen muß, mit klaren Defi nitionen bestimmt ; daß man eindeutige Prinzipien oder Axiome aufstellt, um den betreffenden Sachverhalt zu beweisen ; daß man im Geiste bei der Beweisführung stets die Defi nitionen an die Stelle der defi nierten Sachverhalte setzt. Und der Grund für diese Methode ist eindeutig, weil es unnütz wäre, etwas als Behauptung aufzustellen, was man beweisen will, und dessen Erklärung vorzunehmen, wenn man nicht zuvor alle Begriffe klar defi niert hätte, die nicht verständlich sind ; und ebenso muß der Beweisführung die Ermittlung der hierfür notwendigen eindeutigen Prinzipien vorausgehen, denn schafft man kein sicheres Fundament, so kann man keinen sicheren Bau schaffen ; und schließlich muß man bei der Beweisführung im Geiste die Defi nitionen an die Stelle der defi nierten Sachverhalte setzen, weil man sonst die verschiedenen Bedeutungen, die in den Begriffen enthalten sind, mißbräuchlich benutzen könnte. Und es läßt sich leicht erkennen, daß man, wenn man diese Methode befolgt, mit Sicherheit überzeugt, da die Begriffe ja alle verständlich und durch die Defi nitionen frei von Doppeldeutigkeiten sind und die Prinzipien anerkannt werden, wenn man bei der Beweisführung im Geiste immer die Defi nitionen an die Stelle der defi nierten Sachverhalte setzt, deshalb auch die unwiderlegbare Macht der Folgerungen unfehlbar ihre ganze Wirkung hat. Daher konnte eine Beweisführung, bei der diese Begleitumstände beachtet werden, nie dem geringsten Zweifel ausgesetzt sein ; und nie können jene Beweisführungen, bei denen diese Begleitumstände fehlen, Wirkungskraft haben. Es ist also sehr wichtig, diese zu verstehen und zu beherrschen, und deshalb, um das Problem leichter und anschaulicher

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zu machen, werde ich sie alle in Gestalt dieser wenigen Regeln aufführen, die alles enthalten, was zur Vollkommenheit der Defi nitionen, der Axiome und der Beweisführungen, also der ganzen Methode der geometrischen Beweise für die Kunst zu überzeugen, notwendig ist. Regeln für die Definitionen. – 1. Nicht die Defi nition solcher Sachverhalte versuchen, die von selbst derart bekannt sind, daß man keine noch klareren Begriffe hat, mit denen sie sich erklären ließen. 2. Keine Begriffe, die auch nur etwas dunkel oder doppeldeutig sind, ohne Defi nition zulassen. 3. Bei der Defi nition der Begriffe nur vollkommen bekannte oder schon erklärte Wörter benutzen. Regeln für die Axiome. – 1. Kein notwendiges Prinzip zulassen, ohne daß man gefragt hat, ob man es anerkennt, so klar und eindeutig es auch sein mag. 2. Nur solche Sachverhalte als Axiome annehmen, die von selbst vollkommen eindeutig sind. Regeln für die Beweisführungen. – 1. Nicht den Beweis solcher Sachverhalte versuchen, die von selbst derart eindeutig sind, daß man nichts noch Klareres hat, womit sie sich beweisen ließen. 2. Alle Lehrsätze beweisen, die auch nur etwas dunkel sind, und zu ihrem Beweis nur höchst eindeutige Axiome oder schon anerkannte beziehungsweise bewiesene Lehrsätze benutzen. 3. Im Geiste immer die Definitionen an die Stelle der defi nierten Sachverhalte setzen, damit man sich nicht durch die Doppeldeutigkeit der Begriffe täuschen läßt, deren Bedeutung von den Defi nitionen eingegrenzt wurde. Das sind die acht Regeln, die alle Vorschriften für zuverlässige und unwandelbar gültige Beweise enthalten. Von ihnen sind drei nicht unbedingt notwendig und können übergangen werden, ohne daß man in einen Irrtum verfällt ; sie immer genau zu befolgen ist sogar schwierig und so gut wie unmöglich, obgleich man größere Vollkommenheit erreicht, wenn man sie so gut befolgt, wie man es vermag ; es handelt sich in allen drei Abteilungen um die jeweils erste Regel : Bei den Definitionen : Keinen von den Begriffen defi nieren, die vollkommen bekannt sind.

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Bei den Axiomen : Nicht zulassen, daß nach einem der Axiome gefragt wird, die vollkommen eindeutig und einfach sind. Bei den Beweisführungen : Keinen von den Sachverhalten beweisen, die von selbst sehr gut bekannt sind. Denn ohne Zweifel ist es kein großer Fehler, wenn man Sachverhalte sehr klar defi niert und erläutert, obwohl sie von selbst ganz klar sind, und auch nicht, wenn man es zuläßt, daß im voraus nach solchen Axiomen gefragt wird, die sich dort, wo sie notwendig sind, nicht bestreiten lassen, schließlich ebensowenig, wenn man Lehrsätze beweist, die man auch ohne Beweis anerkennen würde. Die fünf anderen Regeln jedoch sind unbedingt notwendig, und man kann sich nicht über sie hinwegsetzen, ohne in einen wesentlichen Fehler und oftmals in einen Irrtum zu verfallen ; und daher werde ich sie hier im einzelnen erneut anführen. Notwendige Regeln für die Definitionen. – Keine Begriffe, die auch nur etwas dunkel oder doppeldeutig sind, ohne Defi nition zulassen. Bei den Defi nitionen nur vollkommen bekannte oder schon erklärte Begriffe benutzen. Notwendige Regeln für die Axiome. – Nur solche Sachverhalte als Axiome annehmen, die vollkommen eindeutig sind. Notwendige Regeln für die Beweisführungen. – Alle Lehrsätze beweisen, indem man zu ihrem Beweis nur von selbst höchst eindeutige Axiome oder schon bewiesene beziehungsweise anerkannte Lehrsätze benutzt. Niemals die Doppeldeutigkeit der Begriffe mißbrauchen, indem man es unterläßt, im Geiste an deren Stelle die Defi nitionen zu setzen, die deren Bedeutung eingrenzen oder erklären.19 Das sind die fünf Regeln, die alles Notwendige enthalten, um die Beweise zwingend, unwandelbar gültig und – damit

Vgl. Antoine A rnauld / Pierre Nicole : Die Logik oder die Kunst des Denkens. Darmstadt 21994, S. 298– 300 (4. Teil, Kap. 3), wo dies übernommen wird. 19

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ist alles gesagt – geometrisch zu machen ; und die acht Regeln zusam men machen sie noch vollkommener. Ich gehe jetzt zu jener Regel über, die bestimmt, in welcher Ordnung man die Lehrsätze gliedern muß, damit sie eine unfehlbare und geometrische Folge ergeben … Nachdem ich begründet habe … Darin besteht diese Kunst zu überzeugen, die in den folgenden zwei Regeln enthalten ist : Alle Namen defi nieren, die man einem Sachverhalt gibt ; alles beweisen, indem man im Geiste die Defi nitionen an die Stelle der defi nierten Sachverhalte setzt. Davon ausgehend scheint es mir angebracht, drei Haupteinwänden zuvorzukommen, die man vorbringen kann. Erstens, daß diese Methode nichts Neues biete. Zweitens, daß sie sehr leicht zu erlernen sei, ohne daß man hierfür die Elemente der Geometrie studieren müßte, da sie ja in jenen zwei Worten bestehe, die man nach dem ersten Lesen behalte. Und schließlich, daß sie recht unnütz sei, da ihre Anwendung fast ausschließlich auf die geometrischen Probleme beschränkt sei. Daraufhin muß man also zeigen, daß es nichts derart Unbekanntes, nichts schwerer Anzuwendendes und auch nichts Nützlicheres und Allgemeingültigeres gibt. Was den ersten Einwand angeht, der besagt, diese Regeln, daß man alles defi nieren und alles beweisen müsse, seien in der Welt allgemein verbreitet und selbst die Logiker hätten sie unter die Vorschriften ihrer Kunst aufgenommen, so möchte ich, dies sei wahr und so bekannt, daß ich mir nicht die Mühe zu machen brauchte, mit solcher Sorgfalt nach der Quelle für alle fehlerhaften Vernunftschlüsse zu suchen, die wahrhaftig allgemein verbreitet sind. Aber das ist so wenig zutreffend, daß – wenn man allein die Geometer ausnimmt, die so wenig zahlreich sind, daß sie in einem ganzen Volk und in einem langen Zeitraum etwas Einzigartiges darstellen – man niemanden fi ndet, der sich auch darin auskennt. Das kann man jenen leicht

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begreiflich machen, die das wenige vollkommen verstanden haben, was ich hierüber gesagt habe ; wenn sie es jedoch nicht vollkommen erfaßt haben, so bekenne ich, daß es für sie dabei nichts zu lernen gibt. Wenn sie aber in den Geist dieser Regeln eingedrungen sind und diese einen Eindruck gemacht haben, der groß genug ist, um in ihnen Wurzeln zu schlagen und festen Halt zu fi nden, so werden sie wahrnehmen, welch großen Unterschied es zwischen dem, was hier gesagt wird, und dem gibt, was einige Logiker an einigen Stellen ihrer Werke auf gut Glück vielleicht annähernd richtig beschrieben haben. Jene, die einen urteilsfähigen Geist haben, wissen, welch großen Unterschied es zwischen zwei ähnlichen Worten gibt, was von dem jeweiligen Ort und den Begleitumständen abhängt. Wird man tatsächlich glauben, daß zwei Menschen, die dasselbe Buch gelesen und auswendig gelernt haben, es gleichermaßen kennen, wenn der eine es so versteht, daß er alle Prinzipien, die Kraft der Folgerungen, die Antworten auf die Einwände, die man dagegen vorbringen kann, und den ganzen Aufbau des Werkes kennt, während das für den anderen tote Worte sind, Samenkörner, die zwar jenen ähneln, aus denen so fruchtbare Bäume hervorgegangen sind, die aber in dem hohlen Geist, der sie vergebens empfangen hat, verdorrt und unfruchtbar geblieben sind ? All jene, die das gleiche sagen, beherrschen es deshalb nicht auf die gleiche Weise ; und daher erklärt der unübertreffliche Autor der Kunst des Gesprächs 20 so sorgfältig und eingehend, daß man über die Fähigkeit eines Menschen nicht nach der Vortrefflichkeit einer geistreichen Äußerung, die man von ihm hört, urteilen dürfe : Anstatt die Bewunderung für eine gute

Michel de Montaigne : Essais 3, 8 : De l’art de conférer. Éd. Pierre Villey. Paris 1965, S. 921 – 942 ; dt. : Über die Gesprächs- und Diskussionskunst. Übers. von Hans Stilet t. Frankfurt a. M. 1998, S. 462– 475. 20

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Rede auf den Redenden zu übertragen, soll man vielmehr, wie er sagt, den Geist ergründen, aus dem sie hervorgegangen ist ; man soll prüfen, ob er sie seinem Gedächtnis oder einem glücklichen Zufall verdankt ; man soll sie kühl oder geringschätzig aufnehmen, um zu sehen, ob er sich ärgert, daß man dem, was er sagt, nicht die Achtung gewährt, die ihm verdientermaßen zusteht : Meistens wird man sehen, daß man ihn dazu bringt, sie auf der Stelle zu verleugnen, und daß man ihn ganz weit von diesem Gedanken abbringt, der besser ist, als er glaubt, um ihn in einen anderen, ganz niedrigen und lächerlichen Gedanken verfallen zu lassen. Man muß also untersuchen, welche Stellung dieser Gedanke bei einem Autor einnimmt, wie, wodurch und wie weit er ihn beherrscht : Sonst wird das Urteil übereilt sein : Ich bin leichtfertig gewesen. Ich möchte gerecht urteilende Leute fragen, ob dieses Prinzip »Die Materie ist von Natur aus zwangsläufig unfähig zu denken« und dieses andere »Ich denke, also bin ich« tatsächlich ein und dasselbe sind im Geiste Descartes’ und im Geiste des heiligen Augustinus, der eintausendzweihundert Jahre früher das gleiche gesagt hat.21 Ich bin wahrhaftig weit davon entfernt zu behaupten, Descartes wäre nicht der wirkliche Autor dieser Prinzipien, selbst Antoine A rnauld hat zuerst darauf hingewiesen, vgl. René Des cartes : Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hamburg 1994 ( PhB 27), Vierte Einwände und Erwiderungen [von A. A rnauld], S. 178 : »Zunächst muß man sich hier über eines wundern, daß nämlich der hochverehrte Mann genau dasselbe als Grundlage seiner ganzen Philosophie aufgestellt hat wie der heilige Augustinus …« mit Hinweis auf Augustinus : De libero arbitrio 2, 7 : »… utrum tu ipse sis. an fortasse tu metuis ne in hac interrogatione fallaris, cum utique si non esses falli omnino non posses«, vgl. weiter De civitate Dei 11, 26 : »si enim fallor sum«. – Zum anderen z. B. : De trinitate 10, 10 : »in his omnibus sententiis quisquis uidet mentis naturam et esse substantiam et non esse corpoream«. Zum Ganzen Henri Gouhier : Cartésianisme et augustinisme au XVII e siècle. Paris : Vrin, 1978, zum obigen Text S. 140 – 146. Schobinger, a. a. O., S. 452 f. 21

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wenn er sie nur aus der Lektüre jenes großen Heiligen gewonnen hätte ; denn ich weiß, welch großer Unterschied darin besteht, ob man ein Wort auf gut Glück hinschreibt, ohne eine ausführlichere und weiterreichende Überlegung darüber anzustellen, oder ob man in diesem Wort eine bewundernswerte Reihe von Folgerungen wahrnimmt, welche die Unterscheidung der materiellen und der geistigen Natur beweist, und daraus ein festes, von einem ganzen physikalischen System abgesichertes Prinzip macht, wie Descartes es beansprucht hat. Denn ohne zu untersuchen, ob er seinen Anspruch tatsächlich verwirklicht hat, setze ich voraus, daß es ihm gelungen ist, und dieser Voraussetzung entsprechend sage ich, daß dieses Wort sich in seinen Schriften von demselben Wort bei den anderen, die es beiläufig geäußert haben, ebenso unterscheidet wie ein toter Mensch von einem Menschen voller Leben und Kraft. Manch einer mag von sich aus etwas sagen, ohne dessen Vortrefflichkeit zu begreifen, während ein anderer darin eine wunderbare Reihe von Folgerungen erkennt, die uns zu der kühnen Behauptung bringt, daß es nicht mehr dasselbe Wort sei und daß er es jenem, von dem er es gelernt hat, nicht mehr verdanke, als ein wunderschöner Baum jenem gehören würde, der dessen Samen, ohne daran zu denken und ohne ihn zu kennen, in fruchtbare Erde gelegt hätte, die dank ihrer eigenen Ergiebigkeit solchen Nutzen aus ihm gewonnen hätte. Dieselben Gedanken entfalten sich manchmal ganz anders bei einem anderen als ihrem Urheber : Während sie auf ihrem natürlichen Boden unfruchtbar waren, bringen sie reiche Frucht, nachdem sie verpflanzt wurden.22 Doch es geschieht weitaus häufiger, daß ein kluger Geist aus seinen eigenen Gedanken alle Frucht, die sie hervorbrin-

Vgl. Michel de Montaigne : Essais 3,5. Éd. Pierre Villey. Paris 1965, S. 874, dt. M. de Montaigne : Essais. Hans Stilet t (Übers.). Frankfurt a. M. 1998, S. 437 : »Wie die Kräuter veredeln und kräftigen sich auch die Redeweisen, wenn man sie verpflanzt.« 22

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gen können, selbst gewinnt und daß sie hierauf einige andere, die sie rühmen hörten, entlehnen und sich mit ihnen schmükken, ohne jedoch deren Vortrefflichkeit zu erkennen ; und gerade dann zeigt sich der Unterschied bei ein und demselben Wort, wenn es von Mund zu Mund weitergetragen wird, am deutlichsten. Vielleicht hat die Logik auf diese Weise die Regeln der Geometrie entlehnt, ohne deren Wirkungskraft zu verstehen : Und da sie diese somit auf gut Glück unter jene Regeln aufgenommen hat, die ihr selbst eigentümlich sind, folgt hieraus nicht, daß die Logiker sich den Geist der Geometrie zu eigen gemacht hätten ; und ich werde weit davon entfernt sein – wenn sie dafür keine anderen Zeichen vorweisen als jenes, es beiläufig gesagt zu haben –, sie mit jener Wissenschaft gleichzustellen, welche die wahrhaftige Methode lehrt, die Vernunft zu lenken. Doch ich werde im Gegenteil sehr große Neigung haben, sie davon auszuschließen, und das beinahe mit unumstößlicher Gewißheit. Wenn man es nämlich beiläufig gesagt hat, ohne darauf achtzugeben, daß alles in ihm enthalten ist, und diesen Erkenntnissen nicht folgt, sondern sich statt dessen aufs Geratewohl in unnütze Untersuchungen verliert, um dem nachzujagen, was derartige Untersuchungen versprechen und nicht geben können, so beweist das wahrhaftig, daß man nicht allzu scharfsichtig ist, und das weitaus mehr, als wenn man es versäumt hätte, diesen Erkenntnissen zu folgen, weil man sie nicht bemerkt hatte. Alle suchen nach der Methode, sich nicht zu irren. Die Logiker legen das Bekenntnis ab, zu ihr hinzuführen, doch allein die Geometer vermögen sie zu beherrschen, und außerhalb ihrer Wissenschaft und derjenigen Verfahrensweisen, die ihrem Vorbild folgen, gibt es keine wahrhaftigen Beweisführungen. Und deren ganze Kunst ist einzig in den Vorschriften enthalten, die wir genannt haben : Sie allein genügen, sie allein haben Beweiskraft ; alle anderen Regeln sind unnütz oder schädlich.

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Das weiß ich aus einer langen Erfahrung mit allen möglichen Büchern und Menschen. Und davon ausgehend gebe ich das gleiche Urteil über diejenigen ab, die behaupten, daß die Geometer ihnen mit diesen Regeln nichts Neues bieten, weil sie diese tatsächlich schon besäßen, allerdings unter eine Vielzahl von unnützen oder falschen anderen gemengt, von denen sie diese nicht unterscheiden könnten, wie über diejenigen, die einen sehr wertvollen Diamanten unter einer großen Anzahl falscher suchen, den sie indes nicht von den anderen zu unterscheiden wüßten, und die sich rühmen würden, während sie alle beieinander liegen hätten, sie besäßen den echten genausogut wie jener, der sich mit diesem erbärmlichen Haufen gar nicht aufhält und die Hand auf den gesuchten auserlesenen Stein legt, um dessentwillen man alle übrigen nicht weggeworfen hatte. Der Fehler eines falschen Vernunftschlusses ist eine Krankheit, die von diesen zwei Mitteln geheilt wird. Man hat dafür noch ein anderes Mittel aus unendlich vielen nutzlosen Kräutern zusammengebraut, unter denen die guten nur verborgen vorhanden sind und wegen der schlechten Eigenschaften dieser Mischung wirkungslos bleiben. Um alle Sophismen und alle Doppeldeutigkeiten der verfänglichen Vernunftschlüsse aufzudecken, haben sie barbarische Namen erfunden, die jene in Erstaunen setzen, die sie vernehmen ; und da man alle Verwicklungen dieses überaus komplizierten Knotens nur entwirren kann, wenn man an einem der beiden Enden zieht, die von den Geometern gewiesen werden, haben sie statt dessen eine merkwürdige Zahl von anderen bezeichnet, unter denen jene beiden enthalten sind, ohne daß diese Leute wissen, welches das richtige Ende ist. Und wenn sie uns also viele unterschiedliche Wege zeigen, die, wie sie sagen, uns zum angestrebten Ziel bringen, obwohl nur zwei zu ihm führen, so muß man es verstehen, sie im einzelnen zu bezeichnen ; man wird behaupten, daß die Geometrie, die diese Wege genau angibt, nur das biete, was man bereits von den anderen hätte, da diese tatsächlich das gleiche

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und noch mehr geboten haben, ohne daß man beachtet hatte, daß dieses Geschenk gerade durch seine Überfülle den Wert verlor und daß sie etwas entzogen, indem sie etwas hinzufügten. Nichts ist gewöhnlicher als die guten Dinge : Es geht lediglich darum, wie man sie aussondern kann ; und gewiß sind sie ganz natürlich und uns zugänglich, ja sogar allen bekannt. Aber man vermag sie nicht herauszufi nden. Das ist allgemeingültig. Nicht in den außerordentlichen und absonderlichen Dingen ist etwas Hervorragendes bei irgendeiner Gattung zu fi nden. Man erhebt sich, um es zu erreichen, und dadurch entfernt man sich von ihm : Meistens muß man tiefer hinabsteigen. Die besten Bücher sind jene, von denen ihre Leser glauben, sie selbst hätten sie verfassen können. Die Natur, die als einzige gut ist, ist ganz vertraut und gewöhnlich.23 Also bezweifle ich nicht, daß diese Regeln, da sie die wahren sind, einfach, ungekünstelt, natürlich sein müssen, wie sie es auch sind. Nicht Barbara und Baralipton bilden den Vernunftschluß.24 Man darf den Geist nicht überspannen ; angestrengte und mühselige Methoden erfüllen den Geist mit törichtem Dünkel, der aus einem ihm fremden Aufschwung und einem so eitlen wie lächerlichen Schwulst erwächst, und sie ersetzen eine feste und kräftige Nahrung. Und ein Hauptgrund, der jene, die sich in diese Kenntnisse hineinarbeiten, ebensoweit vom wahrhaftigen Weg abbringt,

Vgl. Montaigne : Essais 3, 13. Éd. Pierre Villey, S. 1073 ; dt. S. 542. Zum Ideal des Stils bei Pascal verweist Schobinger, a. a. O., S. 462 auf die Pensées : »Jesus Christus hat die großen Dinge so einfach gesagt, daß es scheint, er habe nicht über sie nachgedacht, und dennoch sagt er sie so deutlich, daß man wohl sieht, was er über sie dachte. Diese Klarheit ist in Verbindung mit dieser Einfachheit bewundernswert.« (Laf. 309). 24 Vgl. Montaigne : Essais 1, 26. Éd. Pierre Villey, S. 161 ; dt. S. 88, allerdings von Stillet so frei übersetzt, daß die Verbindung zu den Syllogismen ganz fehlt. 23

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dem sie folgen sollen, ist die Einbildung, der man zu Beginn erliegt, daß die guten Dinge unerreichbar seien, indem man sie groß, hoch, erhaben, vortrefflich nennt. Das verdirbt alles. Ich möchte sie niedrig, gewöhnlich, vertraut nennen : Diese Namen passen besser zu ihnen ; ich hasse jene schwülstigen Worte …

Auszug aus einem Fr agment zur Einführung in die Geometrie (1655)

Erste Prinzipien und Definitionen Prinzip 1 : Der Gegenstand der reinen Geometrie ist der Raum ; sie beschäftigt sich mit seiner dreifachen Ausdehnung in drei verschiedene Richtungen, die man Dimensionen nennt und mit den Namen Länge, Breite und Tiefe unterscheidet, wobei man jeden dieser Namen in gleicher Weise jeder dieser Dimensionen geben kann, unter der Bedingung, daß man nicht zwei von diesen Dimensionen zusammen denselben Namen gibt. Sie setzt voraus, daß alle diese Begriffe von selbst bekannt sind. Prinzip 2 : Der Raum ist unendlich in allen Dimensionen. Prinzip 3 : und unbeweglich in allen seinen Teilen und in jedem einzelnen von ihnen. – Defi nition des geometrischen Körpers durch die Fläche, die Linie, den Punkt : Prinzip 4, 5, 6. Prinzip 7 : Die Punkte … unterscheiden sich nur nach ihrer Lage, 8 : die Linien nach Lage, Größe, Richtung und Form. Die Geraden durch den kürzesten Weg. Prinzip 9 : Die Entfernung zwischen zwei Punkten ist die gerade Linie. Prinzip 10 : Die Flächen können sich nach Lage, Länge, Breite, Inhalt und Richtung unterscheiden. Die ebenen Flächen sind auf allen Seiten von geraden Linien begrenzt, die sich in gerader Richtung von einer Seite zur anderen erstrecken. Hinweis : Wir beschäftigen uns hier nur mit den ebenen Flächen. Eine Linie ist einer anderen gleich, wenn die Ausdehnung der einen jener der anderen gleich ist. Von Natur aus bekannte Lehrsätze : 1. Die untereinander gleichen geraden Linien unterscheiden sich nur nach ihrer Lage ; im übrigen ist die eine der anderen vollkommen ähnlich. 2. Kreise, die gleiche Halbmesser haben, sind gleich. Und die gleichen Kreise unterscheiden sich nur nach ihrer Lage. 3. Die gleichen Bogen derselben Kreise unterscheiden sich nur nach

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ihrer Lage. 4. Die Sehnen der gleichen Bogen zweier gleicher Kreise oder desselben Kreises unterscheiden sich nur nach ihrer Lage oder sind untereinander gleich. 5. Jeder Durchmesser teilt die Kreislinie in zwei gleiche Teile, von denen jeder »Halbkreis« genannt wird. 6. Der Schnitt zweier Linien ist ein Punkt. 7. Wenn eine unendliche gerade Linie einen Punkt durchläuft, der sich innerhalb eines überall von einer oder mehreren Linien begrenzten Raums befi ndet, so wird diese unendliche gerade Linie die Linien schneiden, die diesen Raum mindestens an zwei Punkten begrenzen. 8. Wenn es zwei Punkte gibt, von denen sich der eine diesseits und der andere jenseits einer geraden Linie befi ndet, dann schneidet eine gerade Linie, die von einem Punkt zum anderen geht, die gerade Linie, die sich zwischen beiden Punkten befi ndet, an einem Punkt und nur an einem Punkt. 9. Die unendliche gerade Linie, die einen innerhalb eines Kreises befi ndlichen Punkt durchläuft, schneidet die Kreislinie an zwei Punkten und nur an zwei Punkten. 10. Die Kreislinie, die zwei Punkte durchläuft, von denen sich der eine innerhalb eines anderen Kreises und der andere außerhalb von ihm befi ndet, schneidet ihn an zwei Punkten und nur an zwei Punkten. 11. Wenn zwei Kreislinien wechselseitig Punkte innerhalb der jeweils anderen haben, so werden sie sich an zwei Punkten und nur an zwei Punkten schneiden. 12. Wenn eine Kreislinie einen ihrer Punkte jenseits einer unendlichen geraden Linie und ihren Mittelpunkt jenseits oder an derselben geraden Linie hat, so wird sie dieselbe gerade Linie an zwei Punkten schneiden.

Gespr äch mit Herrn de Sacy über Epiktet und Montaigne (1655)

… Gleichwohl hielt also derselbe Herr de Sacy, über den ich soeben gesagt habe, daß seine Tür regelmäßig allen Außenstehenden, welch hohen Rang sie auch haben mochten, fest verschlossen war, sie sogar dem Geringsten unter diesen Einsiedlern,1 die er stets mit herzlichem Wohlwollen empfi ng, jederzeit offen ; und selbst wenn er sich ganz eifrig in etwas vertieft hatte, gab er nie zu erkennen, daß es ihm ein wenig naheging, abgelenkt zu werden. Sobald er zum Priester geweiht war, hatte er eingesehen, daß er nicht mehr um seiner selbst willen lebte, sondern ganz für jene da war, für die er auf Gottes Geheiß zu sorgen hatte, und daß er künftig allen alles sein mußte,2 wie es dem Beispiel des heiligen Paulus entsprach, den er immer als sein Vorbild und seinen Lehrmeister ansah. Um diesen Geist der Eintracht und christlichen Liebe, über den ich gesprochen habe, mit allen gemeinsam zu erhalten, riet er ihnen nichts so nachdrücklich an, als daß sie voreilige Urteile und das leichtfertige Verlangen meiden sollten, die Gedanken der Leute erraten zu wollen und Kommentare über deren Lebenswandel abzugeben. Er sagte, es gebe keinen anderen Spruch im Evangelium, den man auf Erden häufiger hören müsse, als diesen : Richtet nicht.3 Es sei höchst vermessen, wenn man Handlungen übel auslegen wolle, die an sich sehr gut sein können ; nur Gott vermöge sie zutreffend zu beurteilen ; überdies denke ein Kranker ja kaum an die Übel der anderen, weil »solitaires«, Personenkreis, der zurückgezogen im Umkreis des Klosters Port-Royal ein geistliches Leben führte. Vgl. Les Solitaires de Port-Royal. In : DicPR , S. 939 – 941. 2 1 Kor 9, 22 : Omnibus omnia factus sum. (»Allen bin ich alles geworden.«) 3 Mt 7, 1 ; Lk 6, 37. 1

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er ganz damit beschäftigt sei, jene Wunden zu heilen, die er selbst erkenne und fühle. Wenn nun die christliche Liebe ein wenig erkaltete, ging sein stets besonnener Eifer beinahe so weit, den Leuten die Personen vorzuhalten, die ihm am nächsten standen und ihm mehr vertrauten, um sie zu ermahnen, gerade jenen Genugtuung zu geben, die sie eigentlich ihnen erweisen mußten. Er sagte, das Christentum hebe in diesem Punkt wie auch bei allem übrigen sämtliche törichten Gesetze der Welt auf. Um den Frieden zu wahren, empfahl er außerdem höchst angelegentlich, einen Fehler zu meiden, den die Heilige Schrift streng tadelt, nämlich die Ohrenbläserei. »Dieses Laster«, erklärte er, »richtet den größten Schaden in einer Gesellschaft von ein paar Leuten an.« Danach fügte er hinzu, daß jemand, der ausplaudere, was man ihm gesagt habe, ein Kind mit einem Sabberlätzchen und zu jeder Gemeinschaft unfähig sei. Diese friedfertige Gesinnung hatte Herrn de Sacy ebenfalls stets bewogen, sich allen Disputen in den Wissenschaften, sowohl den theologischen als auch den Naturwissenschaften, zu entziehen. Dies könnte eigentlich wenig beachtenswert scheinen ; wenn man jedoch sah, daß er sich überall im Kreis von sehr geistvollen Leuten befand, die dank dieser Dispute hochberühmt waren, daß er bei den hitzigsten Streitgesprächen stets seine ruhige und ernste Haltung beibehielt, ohne die Inbrunst der anderen im geringsten zu verurteilen, und daß er mit großem Eifer in seinem Augustinus suchte, nicht um etwas zu fi nden, was ihm neue Argumente für einen guten Disput liefern konnte, sondern um seiner Frömmigkeit neue Nahrung zu geben, so war dies ein vielsagender Beweis für seine Geistesruhe und jenen Charakter, der ihm in ganz Frankreich stets den Ruf einbrachte, der maßvollste Mensch der Welt zu sein. Zu wie vielen erregten Geplänkeln kam es in dieser Wüstenei auch über die menschlichen Wissenschaften der Philosophie und die neuartigen Ansichten des Herrn Descartes ! Da sich Herr Arnauld in seinen Mußestunden mit den engsten Freunden hierüber unterhielt, verbreitete sich dies unmerk-

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lich überall, und die Einöde hallte in den Gesprächsstunden nur noch von derartigen Reden wider. Es gab kaum einen Einsiedler, der nicht vom Automaten 4 sprach. Man machte sich nichts mehr daraus, einen Hund zu schlagen ; es war einem ganz gleichgültig, ihn mit einem Stock zu verprügeln, und man kümmerte sich nicht um jene, die diese Tiere bedauerten, als hätten sie Schmerzen verspürt. Man sagte, sie seien Uhren ; und die Schreie, die sie ausstießen, wenn man sie schlüge, wären lediglich das Geräusch einer kleinen Feder, die man berührt hätte ; all das geschähe jedoch ohne Gefühl. Man nagelte arme Tiere mit den vier Pfoten auf Bretter, um sie bei lebendigem Leibe aufzuschneiden und den Blutkreislauf zu untersuchen, der damals auch viel Gesprächsstoff lieferte. Das Schloß des Herrn Herzogs von Luynes 5 war die Quelle dieser ganzen Wißbegierde, die allerdings nie versiegte. Man sprach dort unablässig über Herrn Descartes’ neues Weltsystem und bewunderte es. Doch man konnte nie erleben, daß sich Herr de Sacy auf diese die Neugier erregenden Wissenschaften einließ. »Welche neue Idee von Gottes Größe gibt man mir«, sagte er,

Zur cartesianischen Vorstellung von den Körpern (und Tieren) als »Automaten« vgl. Des cartes : Traité de l’homme, dt. Über den Menschen (1632). Nach der ersten französischen Ausgabe von 1664 übers. und mit einer historischen Einleitung und Anmerkungen versehen / von Karl E. Rothschuh. Heidelberg 1969. Vgl. die Übernahme dieses Gedankens in Pascals »Wette« (»la machine«) Pensées, Laf. 418 : Étienne Gilson : Le sens du terme abétir. In : Ders : Les idées et les lettres. Paris : Vrin, 1932, S. 263 – 274. Vgl. auch Laf. 5, 7, 11, 84. 5 In Vaumurier bei Port-Royal des Champs. Während der ersten Tage seines zurückgezogenen Lebens hielt sich Pascal im Januar 1655 dort auf. Der Herzog von Luynes hatte eine französische Übersetzung der Meditationes von René Descartes veröffentlicht : R. Des cartes : Les Méditationes métaphysiques de René Des-Cartes touchant la première philosophie. Et les Objections faites contre ces méditations par diverses personnes trés-doctes, avec les réponses de l’auteur / Claude Cler se lier / Louis Charles D’Albert de Luynes. Paris 1647. Vgl. Zu Louis Charles d’Albert, second duc de Luynes (1620 – 1690) : DicPR , S. 694 – 697. 4

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»wenn man mir erklärt, die Sonne sei ein Abfallhaufen, und die Tiere seien Uhren ?« Wenn man ihn auf diese Dinge ansprach, lachte er sanft, und so bekundete er eher, daß er jene, die sich damit abgaben, bedauerte, als daß er Lust bekommen hätte, sich selbst damit abzugeben. Eines Tages sagte er mir, als er mit mir unter vier Augen darüber sprach, er bewundere das Walten Gottes in diesen neuartigen Ansichten des Herrn Descartes, denen sich alle Hals über Kopf anschlössen. Er sehe in Herrn Descartes und Aristoteles gleichsam einen Dieb, der einen anderen Dieb ermordet und ihm seine Beute entrissen hätte. Schließlich sei Aristoteles allgemach zum Lehrer der Kirchenlehrer geworden. »In der Sorbonne habe ich erlebt«, sagte er, »und das konnte ich nicht ohne Schaudern mit ansehen, daß ein Doktor eine Stelle aus der Heiligen Schrift anführte und ihn ein anderer Doktor kühn mit einem Aristoteleszitat widerlegte. Das erstaunte den ersten dermaßen, daß er beinahe unbedacht antwortete : ›Valet hic Scriptura Sacra‹. 6 Hierauf erwiderte der andere schroff, ohne sich beirren zu lassen : ›Valet et Aristoteles‹.7 ›Attamen‹, entgegnete wieder der erste, ›et Scriptura Sacra et Aristoteles‹. 8 Und nach einem solch abscheulichen Raub kommt nun ein anderer daher, der den ersten ausplündert und tötet. Um so besser. Je mehr Tote, desto weniger Feinde. Vielleicht wird Herrn Descartes später das gleiche geschehen. Gott hat die Welt aus zwei Gründen geschaffen«, erklärte er mir weiter, »zum einen, damit man von ihm eine große Idee bekommt, und zum anderen, um die unsichtbaren Dinge in den sichtbaren abzubilden. Herr Descartes richtet beides zugrunde. ›Die Sonne ist ein so schönes Werk !‹, sagt man ihm. ›Durchaus nicht‹, erwidert er, ›sie ist ein Abfallhaufen.‹ Anstatt die unsichtbaren Dinge in den sichtbaren zu erkennen, wie

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»Hier gilt die Heilige Schrift.« »Es gilt auch Aristoteles.« »Aber doch sowohl die Heilige Schrift als auch Aristoteles.«

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etwa in der Sonne, die der Gott der Natur ist, und in allem, was sie bei den Pflanzen bewirkt, das Ebenbild der Gnade zu sehen, behaupten sie im Gegenteil, sie könnten alles mit gewissen Haken erklären, die sie ersonnen haben.9 Ich vergleiche sie mit Ignoranten, die sich ein wundervolles Gemälde ansehen und nicht die schöne Komposition bewundern, sondern sich eingehend mit jeder einzelnen Farbe beschäftigen und sagen – anstatt die ganze Gestaltung des Bildes zu bedenken, dessen Schönheit die es betrachtenden Weisen entzückt – : ›Was ist das für ein Rot ? Woraus setzt es sich zusammen ? Es besteht aus dem und dem ; nein, aus etwas anderem.‹ ›Ich behaupte nicht‹, sagt Herr Descartes, ›daß ich die Dinge darstelle, wie sie tatsächlich sind. Die Welt ist ein so großes Objekt, daß man sich in ihr nicht zurechtfi ndet ; doch ich sehe sie als eine Chiffre an. Manche versuchen, die Buchstaben dieses Alphabets von allen Seiten zu betrachten und fi nden etwas heraus ; ich habe auch etwas herausgefunden, allerdings ist es vielleicht nicht das, was Gott getan hat.‹ Nein«, betonte Herr de Sacy, »doch das ist, um es in der Sprache der Kirchenväter zu sagen : Infinita disputandi libido, tuncque demum magis ignorata veritas postquam praesumptum est quod posset agnosci.10 Jene Leute suchen die Wahrheit aufs Geratewohl ; es ist ein großer Zufall, wenn sie auf sie stoßen. Ich sehe sie so an, wie ich das Schild von Le Cadran 11 ansah, als ich über die Brücke Pont Notre-Dame lief. Das Zifferblatt gab gerade die wahre Zeit an,

Der Text geht vom Singular zum Plural, von Descartes zu den Cartesianern über. Sacy schließt sich an die von den Kirchenvätern übernommene symbolische Weltsicht an und stellt das cartesianische Weltsystem (nach den Prinzipien der Philosophie ) karikierend dar. 10 »Eine maßlose Lust zu disputieren ; nie ist man weiter von der Wahrheit entfernt, als wenn man geglaubt hatte, sie erkannt zu haben.« – Brief des Volusian an Augustinus, in dessen Briefwechsel als Epistula 135, 1. 11 »Das Zifferblatt«. – Ein Wirtshaus, dessen Schild aus einer Uhr bestand, die jedoch lediglich eine Attrappe war. 9

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und ich sagte : ›Gehen wir schnell vorüber, hier wird man sich bald nicht mehr wohl fühlen. Die Wahrheit hat das Zifferblatt getroffen ; es hat nicht die Wahrheit getroffen. Es gibt ja die Wahrheit nur einmal am Tage an.‹« Damals übersiedelte auch Herr Pascal nach Port-Royal des Champs. Ich halte mich nicht mit der Beschreibung auf, wer dieser Mann war, den nicht allein ganz Frankreich, sondern ganz Europa bewundert hat. Sein stets lebhafter und reger Geist hatte eine Weite, Höhe, Stärke, Schärfe und Klarheit, die über alles hinausgingen, was man für möglich halten kann. Alle in der Mathematik gebildeten Männer mußten seine Überlegenheit anerkennen : Das bezeugt die berühmte Geschichte der Radkurve,12 die damals der Gesprächsstoff aller Gelehrten war. Man weiß, daß er das Kupfer zu beseelen und dem Erz einen Geist einzuhauchen schien. Er bewirkte, daß kleine vernunftlose Räder, die alle die zehn ersten Zahlen trugen, den Vernünftigsten eine vernünftige Antwort gaben, und gewissermaßen ließ er stumme Maschinen sprechen, um spielend die bei den Zahlen vorhandenen Schwierigkeiten zu lösen, die selbst die Gelehrtesten aufgehalten hatten : Dies kostete ihn so viel Fleiß und geistige Mühe, daß er, um jene Maschine, die ich mit eigenen Augen gesehen habe, in der von allen bewunderten Form vernünftig zusammenzusetzen, beinahe drei Jahre seine Vernunft überanstrengte.13 Als dieser bewundernswerte Mann schließlich von Gott angerührt wurde, unterwarf er diesen unsagbar erhabenen Geist dem sanften Joch 14 Jesu Christi, und dieses überaus edle und große Herz widmete sich demütig der Buße. Er kam nach Paris Laut J. Mesnar d (OC 3, S. 128) verwechselt Fontaine die »Radkurve« (roulette) oder »Zykloide« genannte Kurve (mit der sich Pascal erst ab 1658 beschäftigte) mit der Rechenmaschine. 13 Vgl. dazu oben »Das Leben Monsieur Pascals« seiner Schwester Gilberte. 14 Mt 11, 30 : »Jugum enim meum suave est.« (»Denn mein Joch ist sanft.«) 12

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und warf sich Herrn Singlin 15 in die Arme, entschlossen, alles zu tun, was dieser ihm auftragen würde. Als Herr Singlin dieses große Genie kennenlernte, glaubte er, es sei angebracht, daß er ihn nach Port-Royal des Champs schickte, wo Herr Arnauld 16 es mit ihm bei den höheren Wissenschaften aufnehmen und Herr de Sacy ihn lehren würde, sie zu verachten. So übersiedelte er denn nach Port-Royal.17 Herr de Sacy konnte es aus Höflichkeit nicht ausschlagen, ihn zu besuchen, vor allem, weil Herr Singlin ihn darum gebeten hatte. Doch die heiligen Erleuchtungen, die er in der Schrift und bei den Kirchenvätern entdeckte, ließen ihn hoffen, daß alle glänzenden Eigenschaften Herrn Pascals ihn nicht verblenden würden, obwohl jeder von ihnen begeistert und entzückt war. Tatsächlich beurteilte er alles, was Herr Pascal sagte, als sehr zutreffend. Mit Freuden erkannte er an, welche Kraft dessen Geist und dessen Äußerungen hatten. Aber in ihnen fand er nichts Neues : Alles, was ihm Herr Pascal an Großem sagte, hatte er vor diesem beim heiligen Augustinus entdeckt ; und er ließ allen Gerechtigkeit widerfahren, indem er erklärte : »Herr Pascal verdient höchste Achtung, weil er, obwohl er die Kirchenväter nicht gelesen hat,18 Antoine Singlin (1607– 1664), Beichtvater in Port-Royal, vgl. DicPR , S. 931 – 933. 16 Antoine A rnauld (1612– 1694), der »große Arnauld«, bedeutendster Theologe Port-Royals. Vgl. J. A. G. Tans : Arnauld, Antoine. In : LThK 3 1, Sp. 1016 f. Die Polemik der Lettres Provinciales begann wegen seiner Verurteilung durch die Sorbonne. 17 Wenn man die von Fontaine angegebenen Einzelheiten mit denen vergleicht, die den Briefen Jacquelines vom 8. Dezember 1654, 19. Januar 1655 und 25. Januar / 8. Februar 1655 (OC 3 [Mesnar d], S. 61 – 75) zu entnehmen sind, ist nicht der geringste Zweifel möglich : Fontaine will den Aufenthalt Pascals in Port-Royal des Champs vom 7. bis zum 28. Januar 1655 als Zeitpunkt des Gesprächs ansetzen. 18 Zumindest hinsichtlich der Augustinus-Kenntnisse Pascals ist die Bemerkung falsch : vgl. Philippe Sellier : Pascal et saint Augustin, Paris 1970. – Taschenbuchausgabe 1995 und die entsprechenden Belege in dieser Edition. 15

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aus eigener Kraft durch seine Geistesschärfe dieselben Wahrheiten wie sie gefunden hatte. Er hält sie für eine über raschende Entdeckung«, sagte er, »weil er sie nirgendwo gefunden hat ; was aber uns betrifft, so sind wir daran gewöhnt, sie überall in unseren Büchern zu fi nden.« Da dieser kluge Geistliche also erkannte, daß die Alten nicht weniger Einsicht als die Modernen hatten, ließ er es dabei bewenden und schätzte Herrn Pascal sehr, weil dieser bei allem mit dem heiligen Augustinus übereinstimmte. Herr de Sacy verfuhr gewöhnlich so, wenn er sich unterhielt, daß er seine Gespräche jenen anpaßte, zu denen er redete. Wenn er zum Beispiel Herrn Champaigne 19 traf, unterhielt er sich mit ihm über Malerei. Wenn er Herrn Hamon 20 traf, redete er mit ihm über Medizin. Wenn er den Wundarzt des Ortes traf, stellte er ihm Fragen über die Wundarzneikunst. Wer Wein, Obst oder Getreide anbaute, erklärte ihm alles, was man dabei beachten muß. Alles diente ihm als Mittel, um sogleich zu Gott überzugehen und auch die anderen zu ihm zu führen. Er glaubte also, er müsse auch Herrn Pascal auf das Thema bringen, das ihm am besten vertraut war, und zu ihm über die philosophischen Schriften sprechen, mit denen er sich am meisten beschäftigte. Bei ihren ersten gemeinsamen Gesprächen brachte er ihn nun auf dieses Thema. Herr Pascal sagte ihm, die Autoren, die er am regelmäßigsten gelesen habe, seien Epiktet und Montaigne, und er sprach sich ihm gegenüber sehr lobend über diese beiden großen Geister aus. Herr de Sacy, der stets die Auf-

Der Maler stand dem Kloster nahe, in dem eine Tochter unter dem Ordensnamen Catherine de Saint-Suzanne lebte. Vgl. Philippe de Champaigne et Port-Royal. Musée National des Granges de Port-Royal, 29 avril– 28 août 1995. Paris 1995 (mit Abbildungen der einschlägigen Werke für Port-Royal). 20 Jean H amon (1618– 1687), Mediziner, zieht sich 1650 nach PortRoyal zurück, vgl. ausführlich DicPR , S. 504 – 509. 19

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fassung vertreten hatte, diese Autoren wenig lesen zu müssen, bat Herrn Pascal, ihn eingehend über sie zu unterrichten. »Epiktet«, sagte er ihm, »ist einer von jenen Philosophen, die am besten in der ganzen Welt die Pfl ichten des Menschen erkannt haben.21 Der Mensch soll Gott als sein Hauptziel ansehen, das vor allem will Epiktet ; der Mensch soll überzeugt sein, daß Gott alles gerecht leitet ; der Mensch soll sich Gott von ganzem Herzen unterwerfen und ihm freiwillig in allem folgen, da er alles mit sehr großer Weisheit vollbringt : Diese Gemütsverfassung werde folglich alle Klagen und Beschwerden verstummen lassen und den Geist des Menschen vorbereiten, alle, auch die widerwärtigsten, Ereignisse ruhig zu ertragen.22 ›Sagt niemals‹, erklärt er, ›ich habe dies oder jenes verloren, sagt vielmehr, ich habe es zurückgegeben. Mein Kind ist geDieser Begriff erscheint weiter unten im Singular. J. Mesnar d (OC 3) und P. Mengot ti-Thou venin zitieren in ihrer Kommentierung Epiktet nach der von Pascal benutzten französischen Übersetzung von Dom Jean de Saint-Fr ançois [Familienname : Goulu]. Paris 1609, auf die F. Strowski und P. Courcelle schon hingewiesen haben, die in den Überschriften von Pascal aufgegriffene Tendenzen signalisiert. Die Kapitel- und Seitenangaben unten beziehen sich zunächst auf diese Ausgabe (lateinische Kapitelzählung für das »Handbüchlein«), die ggf. nach den beigezogenen deutschen Ausgaben ergänzt werden. – Epiktet verwendet den Begriff »Pfl icht« ebenfalls im Singular. Vgl. insbesondere Lehrreden (Diatribai), II , IX , S. 194 f. 22 Pascal folgt hier frei dem Handbüchlein (Encheiridion) XXXVI , S. 671 f. (31 in den modernen Ausgaben) ; vgl. Epiktet : Handbüchlein der Moral. Griech./Dt. Übers. und hrsg. von Kurt Steinmann. Stuttgart 1992 (RUB 8788), S. 45 – 47, bzw. Epiktet : Ausgewählte Schriften. Griech./Dt. Hrsg. und übers. von Rainer Nickel. Zürich 1994, S. 43 – 45 (im folgenden wird die deutsche Übersetzung des Handbüchleins jeweils nach diesen beiden Ausgaben, getrennt durch Schrägstrich, zitiert ; die Diatriben [Lehrgespräche] nach der letztgenannten Übersetzung von R. Nickel). Es gibt verschiedene weitere Bezugspunkte bei Epiktet. 21

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storben ? Ich habe es zurückgegeben. Meine Frau ist gestorben ? Ich habe sie zurückgegeben. Ebenso bei den Gütern und allem übrigen. – Wer es mir nimmt, ist aber ein schlechter Mensch, sagt ihr. Worüber bekümmert ihr euch, wenn jener, der es euch geliehen hat, es von euch zurückfordert ? Solange er erlaubt, daß ihr euch dessen bedient, behandelt es mit solcher Sorgfalt wie ein Gut, das einem anderen gehört, gleich einem Reisenden, der sich in einem Gasthof seiner Lage bewußt ist.23 Ihr dürft nicht wünschen‹, sagt er, ›daß solche Dinge, die geschehen, so geschehen, wie ihr es wollt ; vielmehr müßt ihr wollen, daß sie so geschehen, wie sie geschehen.‹24 ›Besinnt euch‹, sagt er an einer anderen Stelle, ›daß ihr hier einem Schauspieler gleicht und daß ihr in einer Komödie jene Rolle spielt, die euch der Herr nach seinem Belieben zuweist. Gibt er euch eine kurze Rolle, so spielt sie kurz ; gibt er euch eine lange Rolle, so spielt sie lang. Will er, daß ihr wie ein Bettler auftretet, dann müßt ihr es so natürlich tun, wie es euch irgend möglich ist. Ebenso bei allem übrigen. Eure Sache ist es, die euch zugewiesene Rolle gut zu spielen ; doch sie auszuwählen ist die Sache eines anderen.‹25 ›Alle Tage sollt ihr den Tod und die am schrecklichsten scheinenden Übel vor Augen haben, und dann werdet ihr nie etwas Niedriges denken und nichts im Übermaß begehren.‹26

Nahezu wörtliche Wiedergabe des Handbüchleins, XIV, S. 648 bzw. dt. 11, S. 17/19 – 21. Vgl. auch Lehrgespräche, IV, I , S. 516, dt. S. 267 ; sowie für das Bild vom Gasthof : I , XXIV, S. 113, dt. S. 163 f. ; II , XXIII , S. 303, 305, dt. S. 149 – 151. 24 Beinahe wörtliche Wiedergabe des Handbüchleins, XII , S. 647 bzw. dt. 8, S. 15/17. 25 Nahezu wörtliche Wiedergabe des Handbüchleins, XXI , S. 654 f. bzw. dt. 17, S. 25/25 – 27. Das Bild des Theaterspiels fi ndet sich auch in den Lehrgespräche, insbesondere I , XXIV, S. 113 f., dt. S. 165. 26 Nahezu wörtliche Wiedergabe des Handbüchleins, XXVI , S. 658 bzw. dt. 21, S. 29 /29. 23

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Er zeigt auch tausendfach, was der Mensch tun soll.27 Er soll demütig sein, seine guten Vorsätze verbergen, dies vor allem in der ersten Zeit, und sie in aller Stille ausführen : Nichts richte sie mehr zugrunde, als wenn man sie an die Öffentlichkeit bringe.28 Unermüdlich wiederholt er, daß alles Streben und Verlangen des Menschen darin bestehen müsse, Gottes Willen zu erkennen und ihm zu gehorchen.29 Das, Monsieur«, sagte Herr Pascal zu Herrn de Sacy, »sind die Einsichten dieses großen Geistes, der die Pfl ichten des Menschen so gut erkannt hat. Ich wage die Behauptung, daß er es verdiente, angebetet zu werden, wenn er ebensogut dessen Ohnmacht erkannt hätte, weil man ja Gott sein müßte, um die Menschen das eine und das andere zu lehren. Da er indes Staub und Asche war,30 verliert er sich, nachdem er so genau Wahrscheinlich eine Anspielung auf mehrere Textstellen, die sich mit der den jeweiligen Situationen und Menschen angemessenen Pfl icht auseinandersetzen : Handbüchlein, XXXV, S. 671 bzw. dt. 30, S. 43 – 45/43, mit der Überschrift des Übersetzers Goulu : Man kann erfahren, welche Pflicht man hat, indem man den Namen und das Verhältnis zu den Personen berücksichtigt (das Verhältnis zum Vater, Bruder, Nachbarn, Oberhaupt usw.). 28 Anspielung auf das Handbüchlein, LX ( XLVI ), S. 691 bzw. dt. 46, S. 67– 69 /63, wo der Übersetzer die Überschrift eingesetzt hat : Daß man die Eitelkeit und Zurschaustellung meiden soll ; und LXI , S. 693 bzw. 47, S. 69 – 71/65, mit der Überschrift : Man darf sich nicht seiner Bußübungen rühmen und sie auch nicht durchführen, um gesehen zu werden. Siehe auch Lehrgespräche, IV, IX , S. 594 – 597 (dt. 195 – 201). Der Gedanke, daß gute Vorsätze »in der ersten Zeit« schwach sind, ist möglicherweise vom Handbüchlein, XXV II , S. 658 bzw. dt. 22, S. 29 /29, angeregt ; diese Stelle trägt die Überschrift : Die ersten Anzeichen der Tugend werden verspottet, aber die Standhaftigkeit wird bewundert. 29 Die Regel, »Gott zu folgen«, wurde bereits weiter oben angeführt. Siehe auch Handbüchlein, LXVIII , S. 699 f. bzw. dt. 53, S. 79 /71 (Ende des Handbüchleins ) ; Lehrgespräche, II , XIV, S. 225, dt. S. 103 ; IV, III , S. 542, dt. S. 353. 30 Nach Jesus Sirach 10, 9. 27

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verstanden hat, was man muß, folgendermaßen in dünkelhaften Annahmen31 über das, was man kann. Er sagt : Gott habe dem Menschen die Mittel gegeben, allen seinen Verpfl ichtungen nachzukommen ; diese Mittel seien in unserer Macht ;32 man müsse das Glück bei den Dingen suchen, die in unserer Macht seien, denn Gott habe sie uns ja zu diesem Zweck gegeben ;33 man müsse erkennen, was es an Freiem in uns gebe ; die Güter, das Leben und die allgemeine Wertschätzung seien nicht in unserer Macht und führen also auch nicht zu Gott ;34 den Geist aber könne man nicht zwingen, etwas zu glauben, was er als falsch erkenne, und auch nicht den Willen, etwas zu lieben, das ihn unglücklich mache, wie er fühle ;35 diese beiden Kräfte seien also frei, und durch sie könnten wir uns vollkommen machen ;36 durch diese Kräfte könne der Mensch vollkommen Gott erkennen, ihn lieben, ihm gehorDieser Begriff gehört selbstverständlich nicht zum Wortschatz Epiktets, sondern zu dem Montaignes : vgl. insbesondere die Überschrift des Essais 2, 17 »De la præsumption«. Er wird auch in der Sprache der Moraltheologie häufig gebraucht. Vgl. Michel de Montaigne : Essais. Éd. Pierre Villey. Paris 1965, S. 631, dt. M. de Montaigne : Essais. Hans Stilet t (Übers.). Frankfurt a. M. 1998, S. 314. 32 Pascal erinnert sich hier vor allem an : Lehrgespräche, I , VI , S. 35, dt. S. 301, mit der folgenden Inhaltsangabe als Randbemerkung : »Gott hat unser Wohl in unsere Macht gegeben.« 33 Man erkennt hier den Text aus Lehrgespräche, I , I , S. 7, (dt. S. 93) mit diesem Kommentar als Randbemerkung : »Eine schöne Lehre, um glücklich zu leben.« Siehe auch Handbüchlein, XXIV, S. 656 bzw. dt. 19, S. 27. 34 Handbüchlein, I , S. 637 f. bzw. dt. 1, S. 5 – 7/9 – 11. Pascal setzt allerdings die Vorstellung von einer Beziehung zwischen Freiheit und Gottessuche hinzu. 35 Epiktet unterscheidet nicht derart eindeutig zwischen Geist und Willen, glauben und lieben. Für ihn besteht das Problem eher darin, zu wissen, was der Wille gestatten müsse. 36 Epiktet entwickelt vor allem die Vorstellung von der Freiheit als Unterwerfung unter den Willen Gottes Lehrgespräche, II , XXIII , S. 299, dt. S. 151 ; III , XXII , S. 420 f., dt. S. 229, u. a. 31

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chen, ihm gefallen, sich selbst von allen Lastern heilen, alle Tugenden annehmen, sich heilig und zum Freund und Gefährten Gottes machen.37 Diese Prinzipien eines teuflischen Hochmuts bringen ihn zu anderen Irrtümern, wie etwa : daß die Seele ein Teil der göttlichen Substanz sei ;38 daß Schmerz und Tod keine Übel seien ;39 daß man sich töten dürfe, wenn man so sehr verfolgt werde, daß man glauben müsse, Gott rufe uns ; und andere mehr.40 Was nun Montaigne angeht, über den ich Sie auch unterrichten soll, Monsieur, so bekennt er sich, da er in einem christlichen Staat geboren wurde, zur katholischen Religion,41 und in dieser Hinsicht hat er nichts Besonderes an sich. Da er indes herausfi nden wollte, welche Moral von der Vernunft ohne das Licht des Glaubens vorgeschrieben werden müßte, hat er seine Prinzipien von dieser Voraussetzung abgeleitet ; und indem er

Zahlreiche Textstellen sind hier als Quellen möglich, z. B. Lehrgespräche, II , XIV, S. 225, dt. S. 103. Der Ausdruck »Freund Gottes« fi ndet sich oft z. B. Lehrgespräche, IV, III , S. 541, dt. S. 351 ; Handbüchlein, XIX , S. 653 bzw. dt. 15, S. 23/25. 38 Lehrgespräche, I , I , S. 5 f. (dt. S. 91) mit dieser Inhaltsangabe als Randbemerkung : »Irrtum der Stoiker, die glaubten, daß die Seele ein Teilchen des Wesens Gottes sei.« Diese Vorstellung fi ndet sich auch an anderen Stellen oft : I , XIV, S. 74 (dt. S. 131) ; II , V III , S. 190 (dt. S. 121). 39 Das erinnert besonders an : Handbüchlein, V, S. 641 bzw. dt. 2, S. 7– 9 /11 – 13. 40 Der unmittelbarste Textbezug läßt sich herstellen zu : Lehrgespräche, I , IX , S. 49, dt. S. 127. Doch die Vorstellung vom Selbstmord fehlt an dieser Stelle. Deshalb muß man u. a. einbeziehen : I , XXIV, S. 114, dt. S. 265. 41 Das eindeutigste Glaubensbekenntnis fi ndet sich in den Essais. Éd. Pierre Villey. Paris 1965, I , 56, S. 318, dt. Ausgabe übers. von Hans Stilet t. Frankfurt a. M. 1998, S. 159. Pascal richtete sich nach der Folioausgabe der Essais von 1652 mit nur geringen Abweichungen gegenüber den modernen Ausgaben. 37

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so den Menschen von jeder Offenbarung getrennt betrachtet,42 urteilt er folgendermaßen. Er setzt alle Dinge einem umfassenden und so allgemeinen Zweifel aus, daß dieser Zweifel sich selbst mit sich reißt, das heißt, er zweifelt, ob er zweifelt, und da er sogar an dieser letzten Voraussetzung zweifelt, dreht sich seine Ungewißheit in einem stetigen und ruhelosen Kreis um sich selbst, wobei er sich gleichermaßen gegen jene wendet, die versichern, alles sei ungewiß, wie gegen jene, die versichern, alles sei nicht ungewiß, weil er nichts als sicher anerkennen will. In diesem Zweifel, der an sich selbst zweifelt, und in dieser Unwissenheit, die nichts von sich selbst weiß43 und die er seinen ›maßgeblichen Wesenzug‹ 44 nennt, besteht das Wesen seiner Anschauung, die er mit keinem positiven Begriff ausdrücken konnte. Wenn er nämlich sagt, daß er zweifle, so verrät er ja sich selbst, indem er wenigstens als sicher anerkennt, daß er zweifelt ; und da dies ausdrücklich seiner Absicht widerspricht, konnte er sich nur durch eine Frage verständlich machen, so daß er, weil er nicht sagen will : ›Ich weiß nicht‹, statt dessen sagt : ›Was weiß ich ?‹ ; daraus macht er seinen Sinnspruch und setzt ihn über die zwei Schalen einer Waage, welche die Widersprüche wägen und sie in einem vollkommenen Gleichgewicht fi nden :45 Das heißt, er ist ein reiner Pyrrhoniker.46 Montaigne unterscheidet oft zwischen Vernunft und Glauben : so etwa II , XII , S. 449, dt. S. 222. Nirgendwo geht es aber eigentlich darum, eine Moral – oder vielmehr die Unmöglichkeit einer Moral – herauszuarbeiten, die auf der vom Glauben abgesonderten Vernunft beruht. 43 Essais 2, 12, S. 502, dt. S. 249. 44 »maîtresse forme« ; 1, 50, S. 302, dt. S. 153 : »… meinem maßgeblichen Wesenszug : dem Nichtwissen.« 45 Vgl. Essais 2, 12, S. 527. – dt. S. 263 : »Diese Anschauung läßt sich eindeutiger in die Frage fassen : Was weiß ich ? Daher habe ich sie als meinen Wahlspruch über dem Bild einer Waage auf eine Medaille prägen lassen.« 46 Das heißt : Skeptiker ; vgl. W. Schröder : Pyrrhonismus II . In : 42

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Auf diesem Prinzip beruhen alle seine Abhandlungen und Essais ; und das als einziges will er dort begründen, wenn er auch seine Absicht nicht immer zu erkennen gibt. Dabei vernichtet er unmerklich alles, was unter den Menschen als das Sicherste gilt, nicht etwa, um das Gegenteil mit einer Gewißheit zu begründen, die er ja gerade als einziges ablehnt, sondern allein, um zu zeigen, daß der Schein beiden Seiten gleichermaßen günstig sei und man daher nicht wisse, was man zur Grundlage seines Glaubens machen solle.47 In diesem Sinne verspottet er alle als sicher geltenden Behauptungen : Zum Beispiel bekämpft er jene, die geglaubt haben, durch die Vielzahl und die angebliche Gerechtigkeit der Gesetze ein sehr wirksames Mittel gegen die Rechtsstreitigkeiten in Frankreich einzuführen : Als ließen sich die Zweifel, aus denen Prozesse entstehen, an der Wurzel abschneiden und als gäbe es Dämme, die den Strom der Ungewißheit aufhalten und die Mutmaßungen unterdrücken könnten ! Dort, wo er sagt, es bleibe sich gleich, ob man die Entscheidung seines Prozesses dem erstbesten Vorübergehenden oder Richtern, die mit diesen zahlreichen Verordnungen ausgerüstet seien, anvertraue, erhebt er nicht den Anspruch, daß man die Staatsordnung verändern müsse, soviel Ehrgeiz hat er nicht ; und er möchte seine Meinung auch nicht als besser hinstellen, er hält keine einzige für gut. Damit will er lediglich die Nichtigkeit der am allgemeinsten anerkannten Ansichten beweisen ; und er zeigt deshalb, daß die Aufhebung aller Gesetze die Zahl der Streitfälle viel eher verringern würde als dieser Wust von Gesetzen, der nur dazu diene, jene Zahl zu erhöhen, weil Streitigkeiten in dem Maße zunehmen, wie man sie untersuche ; daß die Unklarheiten sich vermehren, wenn man sie kommentiere, und daß das sicherste Mittel, um den Sinn einer Abhandlung zu begreifen,

HWPh 7, S. 1721 – 1724, zum zeitgenössischen Hintergrund (ohne

Darstellung Pascals). 47 Essais 2, 12, S. 505, dt. S. 250 f.

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darin bestehe, sie nicht zu prüfen und sie so aufzufassen, wie es dem ersten Augenschein entspreche : Wenn man sie auch nur ein wenig näher untersuche, verfl iege die ganze Klarheit.48 Ebenso beurteilt er alle Handlungen der Menschen und Geschichtsepisoden aufs Geratewohl bald auf eine Art und bald auf eine andere, wobei er seinem ersten Eindruck widerstandslos folgt, ohne sein Denken den Regeln der Vernunft zu unterwerfen, die nur falsche Maßstäbe habe ; es begeistert ihn, an seinem eigenen Beispiel die in ein und demselben Geist vorhandenen Widersprüche zu zeigen.49 Seiner ganz unabhängigen Geisteshaltung gemäß ist es ihm vollkommen gleichgültig, ob er sich im Wortstreit durchsetzt oder nicht, da der eine wie der andere Fall ihm stets als Mittel dienen kann, um die Haltlosigkeit der Meinungen zu zeigen ; er fi ndet ja in diesem allumfassenden Zweifel eine derart vorteilhafte Stellung, daß er sich durch seinen Sieg wie durch seine Niederlage gleichermaßen darin bestärkt.50 Auf dieser Grundlage, so schwankend und unsicher sie auch ist, bekämpft er mit unbeugsamer Entschlossenheit die Ketzer seiner Zeit wegen deren Überzeugung, als einzige den wahren Sinn der Heiligen Schrift zu kennen ;51 und davon ausgehend schleudert er außerdem noch mächtigere Blitze gegen die abscheuliche Glaubenslosigkeit derjenigen, die sich zu der Behauptung hinreißen lassen, es gebe keinen Gott.52 Er greift sie in der Apologie für Raymond Sebond besonders hart an ; und da er fi ndet, daß sie freiwillig auf alle Offenbarung

Paraphrase von Essais 2, 13, S. 1065 – 1068, dt. S. 537– 539. Essais 2, 1, S. 335, dt. S. 167. 50 Anspielung auf das Kapitel De l’Art de conférer 3, 8, siehe vor allem S. 925, dt. S. 463. 51 Montaigne greift manchmal Luther an, jedoch nicht so entschieden, wie es Pascal zu verstehen gibt ; siehe 2, 12, S. 439, dt. S. 217 ; 3, 13, S. 1069, dt. S. 539. 52 2, 12, S. 440, dt. S. 217, im Zusammenhang mit der Theologia naturalis des Raimundus Sabundus (Ramon Sibiuda). 48 49

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verzichtet und sich allein auf ihr natürliches Erkenntnisvermögen verlassen haben, während sie jeden Glauben ablegten, fragt er sie, auf Grund welcher Autorität sie es unternehmen, über dieses höchste Wesen zu urteilen, das seiner eigenen Defi nition zufolge unendlich ist – sie, die in Wahrheit nichts von der Natur erkennen ! 53 Er fragt sie weiter, auf welche Prinzipien sie sich stützen ; er drängt sie, diese darzulegen. Er prüft all jene, die sie vorbringen können, und seine ihn auszeichnende Begabung erlaubt es ihm, sie so weit zu ergründen, daß er die Nichtigkeit all derer beweist, die als die natürlichsten und sichersten gelten.54 Er fragt, ob die Seele irgend etwas erkennt ;55 ob sie sich selbst erkennt ; ob sie Substanz oder Akzidens, Körper oder Geist ist ; was jeder von diesen Teilen ist und ob es etwas gibt, was keiner von diesen Ordnungen angehört ; ob sie ihren eigenen Körper erkennt ; was Materie ist ; ob sie die zahllose Vielfalt der Meinungen, die man hierüber vorgetragen hat, auseinanderhalten kann ; wie sie Gedanken zu bilden vermag, wenn sie materiell ist ; und wie sie mit einem besonderen Körper vereinigt sein und dessen Leidenschaften mitempfi nden kann, wenn sie geistig ist.56 Diese Anmerkungen beziehen sich einigermaßen frei auf die ausführliche Erörterung der Gottesidee in der Apologie für Raymond Sebond. In : Essais 2, 12, S. 512– 535, dt. S. 256 – 267. 54 Als Grundlage dieses Textes läßt sich keine bestimmte Quelle nachweisen. Zur Rolle der Erkenntnisprinzipien, vgl. jedoch 2, 12, S. 540 f., dt. S. 270. 55 Der Text der Essais, der als Anregung für diese Frage dienen konnte, zeigt gewisse Unterschiede und betrifft die Vernunft, 2, 12, S. 541, dt. S. 270. 56 Yoichi M aeda hat laut P. Thou venin in seiner japanischen Dissertation Les arguments apologétiques chez Montaigne et chez Pascal. 1941, S. 77 f., nachgewiesen, daß diese Alternative nirgendwo in den Essais angeführt wird. Sie steht statt dessen in den Pensées am Ende des Fragments Disproportion de l’homme (Laf. 199), dort mit einem Augustinus-Zitat : »Modus quo corporibus adhaeret Spiritus comprehendi ab 53

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Wann ihre Existenz begonnen hat – gemeinsam mit dem Körper oder zuvor ; ob sie mit ihm endet oder nicht ; ob sie sich niemals täuscht ; ob sie weiß, wann sie irregeht, da das Wesen eines Fehlurteils ja darin besteht, es nicht zu erkennen ; ob sie bei solchen Unklarheiten nicht ebenso fest glaubt, daß zwei und drei sechs seien, wie sie hernach glaubt, daß es fünf sind.57 Ob die Tiere vernünftig überlegen, denken und sprechen 58 – und wer dies entscheiden kann. Was die Zeit ist, was der Raum oder die Ausdehnung ist, was die Bewegung ist, was eine bestimmte Einheit ist 59 – alles Dinge, die uns umgeben und die uns völlig unerklärlich bleiben. Was Gesundheit, Krankheit, Leben, Tod, Gutes, Böses, Gerechtigkeit und Sünde sind, von denen wir zu jeder Zeit sprechen. Ob wir in uns Prinzipien für das Wahre haben und ob diejenigen, an die wir glauben und die man Axiome oder Allge-

homine non potest, et hoc tamen homo est«. (»Auch jene … Art, mit der der Geist sich dem Leibe verhaftet, um zu einem Lebewesen zu werden, ist durch und durch wunderbar und vom Menschen nicht zu begreifen ; und doch ist das der Mensch selbst.« Augustinus : De civitate Dei 21, 10 ; dt. von Carl Johann Perl. In : Augustinus : Der Gottesstaat. Bd. 3. Salzburg 1953, S. 441.) 57 Dieses Beispiel ist nicht Montaigne, sondern Des cartes entnommen, vgl. René Des cartes : Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hamburg 1994 ( PhB 27), S. 14 : »Woher weiß ich aber, daß er [Gott] nicht bewirkt hat, daß – wie ich urteile, daß bisweilen auch andere sich in dem irren, was sie aufs vollkommenste zu wissen meinen – so auch ich mich täusche, so oft ich 2 und 3 addiere …« 58 Pascal faßt den ausführlichen Vergleich zwischen Mensch und Tieren in der Apologie für Raymond Sebond. In : Essais 2, 12, S. 452 ff., dt. S. 224 ff., sehr summarisch zusammen. Er kommt allerdings weiter unten auf dieses Thema zurück. 59 Diese Grundbegriffe wurden weniger von Montaigne als vielmehr von den Wissenschaftlern des 17. Jahrhunderts und vor allem von Descartes defi niert. Siehe oben die Ausführungen in »Betrachtungen über die Geometrie im allgemeinen«.

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meinbegriffe nennt,60 weil sie allen Menschen gemeinsam sind, mit der wesentlichen Wahrheit übereinstimmen ; und – da wir ja allein durch den Glauben wissen, daß ein allgütiges Wesen uns solche gegeben hat, die wahrhaftig sind, indem es uns so geschaffen hat, daß wir die Wahrheit erkennen können – wer ohne diese Erleuchtung wissen wird, ob sie aufs Geratewohl gebildet und darum nicht doch ungewiß sind oder ob sie von einem falschen und bösen Wesen 61 gebildet wurden und dieses uns deshalb solche gegeben hat, die falsch sind, um uns zu verführen ; damit zeigt er, daß Gott und das Wahre unzertrennlich sind und daß, wenn eins von beiden existiert oder nicht, wenn es gewiß oder zweifelhaft ist, das andere zwangsläufig ebenso sein muß. Wer weiß also, ob der gewöhnliche Menschenverstand, den wir als den Richter der Wahrheit ansehen, ein solches Privileg 62 von jenem erhielt, der ihn geschaffen hat ? Wer weiß weiterhin, was Wahrheit ist, und wie kann man sicher sein, sie zu besitzen, ohne daß man sie kennt ? Wer weiß gar, was das Sein ist, das sich nicht defi nieren läßt, weil es nichts Allgemeineres gibt und man, um es zu erklären, sich zu-

Des cartes : Meditationen …, S. 149 (Gedanken zum Beweise des Daseins Gottes …) verwendet ebenfalls die Formulierung »Axiome oder Allgemeinbegriffe«. 61 Die Annahme eines »Bösen« oder »bösen Geistes« ist ebenfalls Des cartes entlehnt : Meditationen …, S. 16. Sie wird in den Pensées erneut behandelt, vgl. Laf. 131 : »… Nun ist dieses natürliche Gefühl kein überzeugender Beweis für ihre Wahrheit, denn da wir außer dem Glauben keine Gewißheit darüber haben, ob der Mensch von einem guten Gott, von einem bösen Dämon oder planlos geschaffen wurde, ist es zweifelhaft, ob diese Prinzipien uns, unserem Ursprung entsprechend, als wahre, falsche oder ungewisse gegeben sind.« 62 Dieses Bild ist Monta igne entnommen : »Qu’il [l’homme] nous montre lettres de cette belle et grande charge [de connaître le monde]«, 2, 12, S. 450, dt. S. 223 : »Er [der Mensch] weise uns gefälligst das Beglaubigungsschreiben für diese großartige Bestallung [die Welt zu kennen] vor.« 60

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nächst gerade desselben Wortes bedienen müßte, indem man sagte : ›Das ist usw. …‹ ? 63 Und da wir nicht wissen, was Seele, Körper, Zeit, Raum, Bewegung, Einheit, das Wahre und das Gute sind, nicht einmal, was das Sein ist, und da wir auch nicht die Vorstellung erklären können, die wir uns davon bilden – wie können wir dann sicher sein, daß diese Vorstellung bei allen Menschen die gleiche ist, weil wir ja hierfür kein anderes Merkmal als die Einheitlichkeit der Wirkungen haben, die nicht immer ein Zeichen für die Einheitlichkeit der Ursachen ist ? Denn diese können sehr wohl unterschiedlich sein und dennoch zu denselben Schlußfolgerungen führen ; jeder weiß ja, daß das Wahre oft aus dem Falschen geschlossen wird.64 Sehr gründlich untersucht er schließlich alle Wissenschaften und die Geometrie, deren Ungewißheit er bei den Axiomen und den Begriffen zeigt, die sie nicht defi niert, wie etwa Ausdehnung, Bewegung usw. ; 65 und die Ungewißheit der Naturkunde zeigt er auf sehr viele andere Arten, ebenso die der Medizin mit einer Unzahl von Beispielen, und er prüft die Geschichte, die Politik, die Moral, die Rechtswissenschaft und alles übrige, so daß wir am Ende überzeugt sind, daß wir, wenn uns keine Offenbarung zuteil wird, im Grunde zweifeln würden, ob wir wachen oder nicht, denn wir beurteilen es jetzt

Diese Idee ist nun ganz Pascal eigentümlich. In »Betrachtungen über die Geometrie im allgemeinen« wird sie mit ähnlichen Worten wiedergegeben, vgl. oben S. 75. 64 Diese geometrische Logik ist – trotz gewisser oberfl ächlicher Übereinstimmungen – Montaigne ganz fremd. 65 Bei Montaigne fi ndet sich durchaus eine Kritik der Geometrie, »die von allen Wissenschaften den Gipfel der Zweifelsfreiheit erreicht zu haben meint« (Essais 2, 12, S. 571, dt. S. 285 (vgl. auch S. 540, dt. S. 270). Doch das Problem wird nicht auf die gleiche Weise dargestellt. In Vom geometrischen Geist wird die Vorstellung erläutert, daß diese Begriffe nicht defi niert werden müssen : Pascal selbst trieb den Skeptizismus, den er Montaigne unterstellt, nicht bis zum Äußersten. 63

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nicht besser als in irgendeinem Traum und wissen nicht einmal, ob das Leben selbst nicht ein Traum ist, aus dem wir erst mit dem Tode erwachen und während desselben wir ebensowenig die Prinzipien der Wahrheit wie während des natürlichen Schlafs besitzen.66 Daher schmäht er die des Glaubens beraubte Vernunft so hart und grausam, daß er sie zweifeln läßt, ob sie selbst vernünftig ist, ob die Tiere es sind oder nicht, ob sie es in höherem oder geringerem Maße sind, und damit läßt er sie aus der erhabenen Höhe herabsteigen, die sie sich angemaßt hat, und stellt sie aus Gnade den Tieren gleich, ohne daß er ihr erlaubt, aus dieser Ordnung herauszutreten, ehe sie nicht von ihrem Schöpfer selbst über ihre richtige Stellung, die ihr unbekannt ist, unterrichtet wird, und dabei droht er ihr, sie, wenn sie murrt, tiefer als alle anderen zu setzen, was ebenso leicht wie das Gegenteil ist ; und gleichwohl gibt er ihr nur die Möglichkeit zum Handeln, wenn sie hierdurch mit aufrichtiger Demut ihre Schwäche entdeckt, anstatt sich in törichter Vermessenheit selbst zu erhöhen.« Herr de Sacy hörte Herrn Pascal ruhig an, wie er mir danach erzählte,67 und glaubte, in einem neuen Land zu leben und eine neue Sprache zu vernehmen. Zu sich selbst sagte er diese Worte des heiligen Augustinus : »O Gott der Wahrheit ! Sind jene, die derart scharfsinnige Überlegungen kennen, dir darum angenehmer ? Numquid, Domine Deus veritatis, quisquis novit ista jam placet tibi ? «68 Er beklagte jenen Philosophen, der

Der Vergleich des Lebens mit einem Traum kommt bei Montaigne vor : 2, 12, S. 596, dt. S. 297. Vgl. aber auch Des cartes : Meditationen …, S. 13 und den Discours de la méthode : Des cartes : Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Hamburg 1990 ( PhB 261), S. 53, 63. Dieser Vergleich wird in den Pensées wiederholt (Laf. 131). 67 Fontaine gibt sich also nicht als Zuhörer des Gesprächs aus. 68 Confessiones 5, 7 : »Doch sag mir, Herr, du Gott der Wahrheit, ist dir jeder wohlgefällig, der solches weiß ?« (Zit. nach : Augustinus : 66

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sich überall an den Dornen steche und reiße, die er selbst sich schaffe, Ipsi se compungunt aculeis suis, 69 wie Augustinus es von sich gesagt habe, als er in diesem Zustand war, Quasi acutule movebar.70 Jusseras enim et ita fiebat in me, ut terra spinas et tribulos pareret mihi.71 Nachdem er also recht lange geduldig überlegt hatte, sagte er zu Herrn Pascal : »Ich bin Ihnen zu Dank verpfl ichtet, Monsieur. Ich bin sicher, wenn ich Montaigne ausführlich gelesen hätte, würde ich ihn nicht so gut kennen wie nach diesem Gespräch, das ich gerade mit Ihnen geführt habe. Jener Mann müßte wünschen, daß man ihn nur durch die Berichte kennte, die Sie von seinen Schriften geben ; und er könnte mit Augustinus sagen : Ibi me vide, ibi me attende.72 Ich glaube, daß jener Mann unzweifelhaft Geist hatte, doch weiß ich nicht, ob Sie

Confessiones. Bekenntnisse. Lat./dt. Wilhelm Thimme [Übers.]. Norbert Fischer [Einf.]. Düsseldorf 2004, S. 173). Diese Textstelle bezieht sich auf die astronomischen Vorhersagen der Manichäer. Vgl. zum Zusammenhang A. R affelt : »Pie quaerere« – Augustins Weg der Wahrheitssuche. In : Norbert Fischer / Cornelius M ayer (Hrsg.) : Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Freiburg i. Br. 1998, Sonderausgabe 2004, S. 199 – 240. 69 Cicero : De oratore 2, 158 : »So schneiden sie sich schließlich mit ihren Spitzfi ndigkeiten ins eigne Fleisch« ; zit. nach : Cicero : De oratore. Über den Redner. Stuttgart 1976 (RUB 6884), S. 305/307. 70 Confessiones 3, 12 : »und es reizte meinen kindischen Scharfsinn« (a. a. O., S. 101). 71 Confessiones 4, 29 : »Denn du hattest befohlen und so geschah es auch, daß ›die Erde mir Dornen und Disteln tragen … sollte‹.« (a. a. O., S. 161). Dieser Text spricht über Augustinus’ Studium der Kategorien des Aristoteles und über die falsche Gottesidee, die er daraus abgeleitet hatte. Das Bild der Stiche und Risse erscheint mehrmals bei Augustinus, doch vor allem in bezug auf die sinnlichen Begierden. 72 Der genaue Text lautet : »Ibi me attende et vide« (»Dort gib acht auf mich und sieh«). Dieser Satz steht in Epistulae 231, 6 (an Darius). Augustinus, der seinem Brieffreund die Bekenntnisse schickt, erklärt, jener werde ihn dort so entdecken, wie er sei.

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durch diese von Ihnen vorgenommene und vollkommen zutreffende Verknüpfung seiner Prinzipien ihm nicht ein wenig mehr Geist zuschreiben, als er hat. Sie können sich vorstellen, daß man mir – da ich mein Leben so und nicht anders verbracht habe – kaum geraten hat, diesen Autor zu lesen, dessen Werke insgesamt nichts von dem haben, was wir nach der Regel des heiligen Augustinus hauptsächlich bei unserer Lektüre suchen müssen, Neque in Deum excitant humanum intellectum et affectum,73 denn die Äußerungen jenes Autors scheinen nicht aus einer sehr demütigen und frommen Grundhaltung zu kommen : Non sunt profundissimae humilitatis et eximiae pietatis ac sapientiae indices.74 Man würde es jenen früheren Philosophen, die man Akademiker nannte, verzeihen, daß sie alles in Zweifel gezogen haben.75 Doch wozu hatte Montaigne es nötig, sich den Geist zu erheitern, indem er eine Lehre erneuerte, die heutzutage den Christen als eine Narrheit gilt ? Talis dementia honestiores et uberiores litterae putantur. Incidi in homines, sagt Augustinus, superbe delirantes et loquaces, in quorum ore sunt laquei diaboli.76 Dieses Urteil fällt der heilige Augustinus über jene Leute. Ihm folgend kann man nämlich über Montaigne sagen, wenn es um die Jugend geht : Magnus diaboli laqueus, et multi implicantur in

Retractationes 2, 6, 4 : »Sie spornen die menschliche Seele nicht an, Gott zu erkennen und zu lieben.« Leicht veränderter Text. 74 »Sie sind keine Zeichen sehr tiefer Demut, außerordentlicher Frömmigkeit und Weisheit.« Dieses Zitat wurde nicht identifiziert. 75 Augustinus lobt die Akademiker, um damit die Manichäer herabzusetzen, die er als »Dogmatiker« ansieht. Doch er hat auch ein Contra Academicos geschrieben. 76 »Solch eine Torheit gilt als vornehmere, wertvollere Wissenschaft.« – »So geriet ich denn in die Gesellschaft hochmütig narrender, allzu irdisch gesinnter und geschwätziger Menschen. In ihrem Munde lauerten und lockten Teufelsstricke.« Zwei Zitate aus Confessiones 1, 21 und 3, 10 (dort lautet der vollständige Text : delirantes, carnales nimis et loquaces ). 73

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eo per illecebram suaveloquentiae.77 Von allem, was er vorbringt, sondert er den Glauben ab ; daher müssen wir, die wir den Glauben haben, ebenso alles absondern, was er vorbringt. Ich tadele durchaus nicht den Geist dieses Autors, der eine große Gottesgabe ist ; doch er konnte sich seiner besser bedienen und ihn lieber Gott als dem Teufel darbringen : Celeritatem intelligendi et disputandi acumen donum tuum est, sed non inde sacrificabam tibi, sagt Augustinus.78 Neque enim uno modo sacrifi catur transgressoribus angelis.79 Wozu dient ein Gut, wenn man es so schlecht nutzt ? Quid proderat bona res non utenti bene ? quid proderat ingenium per illas doctrinas agile ? 80, sagte vor seiner Bekehrung dieser heilige Kirchenlehrer über sich selbst. Sie sind glücklich, Monsieur, weil Sie sich über jene Leute erhoben haben, von denen man sagt, sie seien Doktoren, die sich in die Trunkenheit gestürzt haben, ebriis doctoribus,81 de»Eine arge Schlinge des Teufels, in der viele sich fi ngen, betrogen von seiner einschmeichelnden Beredsamkeit.« Confessiones 5, 3, über den manichäischen Bischof Faustus. Es müßte offensichtlich »suaviloquentiae« heißen. 78 »Denn Schnelligkeit der Auffassung und Schärfe des Verstandes sind dein Geschenk. Doch ich brachte dir kein Dankopfer davon.« Rückgriff auf das Kapitel, in dem Augustinus an sein Studium der Kategorien des Aristoteles erinnert : Confessiones 4, 30. Dort steht selbstverständlich der allein korrekte Nominativ celeritas. Die modernen Ausgaben ersetzen disputandi durch dispiciendi. Hinzuzufügen ist Confessiones 4, 3 : »Sacrifi cari pro me nollem daemonibus, quibus me illa superstitione ipse sacrifi cabam.« – »Ach, ich wollte nicht für mich den bösen Geistern opfern lassen und brachte mich doch selbst durch jenen abergläubischen Wahn ihnen zum Opfer dar.« 79 »Ach, auf mancherlei Weise opfert man den abtrünnigen Engeln.« Confessiones 1, 27. 80 »Was konnte die gute Gabe mir nützen, wenn ich sie nicht gut gebrauchte ? … Was half es mir, daß mein behender Geist sich leicht in jenen Wissenszweigen zurechtfand ?« Confessiones 4, 30 und 31. 81 »trunkene Lehrer«. Confessiones 1, 26. Diese Lehrer lassen Dichter lesen, die die unzüchtigen Liebesabenteuer der heidnischen Götter schildern. 77

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ren Herz aber keine Wahrheit enthalte, ceterum cor inane veri. 82 Gott hat in Ihrem Herzen andere süße Freuden und andere Zuneigungen 83 ausgegossen als jene, die Sie bei Montaigne fanden. Er hat Sie von jener gefährlichen Lust abgebracht, a jucunditate pestifera, 84 wie der heilige Augustinus sagt, der Gott dafür dankt, daß er ihm die Sünden vergeben hat, die er begangen hatte, als er zu großes Gefallen an der Eitelkeit fand : in eis vanis peccata delectationum mearum dimisisti mihi. 85 Der heilige Augustinus ist hierin um so glaubwürdiger, als er zuvor selbst derartige Ansichten vertreten hatte ; und wie Sie von Montaigne sagen, daß er mit diesem allumfassenden Zweifel die Ketzer seiner Zeit bekämpft, so hat auch der heilige Augustinus auf Grund des gleichen Zweifels der Akademiker die Ketzerei der Manichäer aufgegeben : Suborta est mihi cogitatio prudentiores fuisse illos philosophos quos Academicos appellant quod de omnibus dubitandum esse censuerunt, nec aliquid veri deprehendi posse ab homine decreverunt. Itaque Academicorum more dubitans de omnibus atque inter omnia fluctuans, Manichaeos relinquendos esse decrevi. 86

»Und ihr Herz wußte nichts von Wahrheit.« Confessiones 3, 10 ; gemeint sind die Manichäer. 83 Diese Bilder wie auch die Vorstellung vom »Genuß« der Gnade, mit der sie zusammengehören, erscheinen oft bei Augustinus. 84 »von der giftschwangeren Lust«. Confessiones 1, 23. De Sacy paraphrasiert die Übersetzung. 85 »… und hast mir nun meine sündhafte Freude daran vergeben.« Confessiones 1, 24. 86 »Es stieg mir auch der Gedanke auf, klüger als alle andern seien jene Philosophen gewesen, die man die Akademiker nennt. Denn sie waren der Meinung, man müsse an allem zweifeln, und hatten gelehrt, nichts Wahres könne vom Menschen sicher erkannt werden.« Confessiones 5, 19. – »So zweifelte ich nach Art der Akademiker … an allem, schwankte zwischen allen erdenklichen Ansichten hin und her und faßte den Entschluß, mich von den Manichäern loszusagen.« Confessiones 5, 25 (mit kleineren Änderungen). 82

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Sobald er Gott angehörte, entsagte er diesen Eitelkeiten, die er gottlos nennt, und tat, was er von einigen anderen berichtet hatte : Occidunt se tibi salubriter prostrati et elisi, et trucidant exaltationes suas sicut volatilia, et curiositates suas sicut pisces maris. 87 Er erkannte, mit welcher Weisheit der heilige Paulus uns warnt, damit wir uns nicht von derartigen Reden verführen lassen : Videte ne quis vos seducat per philosophiam et inanem seductionem. 88 Denn er gesteht, daß es darin ein gewisses mitreißendes Vergnügen gibt : Fiebat acceptius magisque seductorium moderamine ingenii, et quodam lepore naturali. 89 Manchmal halte man Dinge nur für wahrhaftig, weil diese beredt vorgetragen werden. Das sind gefährliche Speisen, sagt er, die man indes auf schönen Schüsseln darbringt, dulcissime vani sunt.90 Doch diese Speisen nähren nicht das Herz, vielmehr leeren sie es aus : nec nutriebar ex eis, sed exhauriebar magis.91 Man gleicht dann Schlafenden, die im Traum zu essen glauben : Diese eingebildeten Speisen lassen sie so leer, wie sie waren.« Herr de Sacy sagte Herrn Pascal noch dergleichen mehr. Hierauf entgegnete ihm

»Sie opfern dir ihre überheblichen Gedanken wie die Vögel, ihre vorwitzigen Grübeleien wie die Fische des Meeres.« Frei nach Confessiones 4, 4, mit Einschub von : salubriter prostrati et elisi (»die du niedergeworfen und zerschlagen hast«) Confessiones 4, 1. 88 »Sehet zu, daß euch niemand täusche durch die Philosophie und lose Verführung.« Confessiones 3, 8, nach Kol. 2, 4. Hier geht es um die Lektüre der (verlorenen) Schrift Ciceros Hortensius, vgl. AugL 1, Sp. 913 – 930, bes. 916 ff. 89 »[Er hatte sich eine gewisse Redefertigkeit erworben,] die um so einnehmender und verführerischer wirkte, da sie von taktvollem Benehmen und einer gewissen natürlichen Anmut begleitet war.« Confessiones 5, 11 ; über Faustus. 90 Confessiones 1, 23 : »dulcissime vanus est« : »[Denn auch Homer] … weiß gar anmutig zu schwindeln«. 91 »Und ich ward nicht satt davon, nur hungriger und schwächer.« Confessiones 3, 10. Dieses Bild vereint sich vollkommen mit dem vorhergehenden. 87

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Herr Pascal, wenn er ihm das Kompliment mache, er kenne Montaigne gründlich und wisse ihn gut auszulegen, so könne er Herrn de Sacy ohne Komplimente sagen, daß dieser Augustinus noch weitaus gründlicher kenne und ihn noch weitaus besser auszulegen wisse, obgleich das wenig vorteilhaft für den armen Montaigne ausfalle. Er bekannte Herrn de Sacy, daß er über die Zuverlässigkeit aller gerade von diesem vorgebrachten Gründe zutiefst erbaut sei. Da er indes noch ganz von seinem Autor eingenommen war, konnte er sich nicht zurückhalten und sagte : »Ich gestehe Ihnen jedoch, Monsieur, ich kann nicht ohne Freude sehen, wie bei diesem Autor die hochmütige Vernunft mit ihren eigenen Waffen so unausweichlich gedemütigt wird 92 und wie dieser überaus blutige Aufruhr des Menschen gegen den Menschen ihn aus der Gemeinschaft mit Gott, zu der er sich durch die Grundsätze der Stoiker erhoben hatte, durch die Grundsätze der Pyrrhoniker auf die Stufe der tierischen Natur herabstürzt. Und von ganzem Herzen hätte ich das Werkzeug einer derart bedeutenden Vergeltung geliebt, wenn er, der doch durch den Glauben ein Jünger der Kirche war, die Regeln der Moral befolgt hätte, indem er die Menschen, die er in so nützlicher Weise gedemütigt hatte, veranlaßt hätte, nicht durch neue Verbrechen jenen zu erzürnen, der als einziger vermag, sie von den Verbrechen zu erretten, die sie, wie er sie überführt hat, nicht einmal zu erkennen vermögen. Doch ganz im Gegenteil handelt er als ein Heide auf die folgende Weise. Aus diesem Prinzip, daß, wie er sagt, ohne den Glauben alles ungewiß sei, und aus der Erwägung, wie lange man schon nach dem Wahren und dem Guten suche, ohne der inneren Ruhe einen Schritt näher gekommen zu sein,93 schließt er, daß man den anderen diese Sorge überlassen – Quaerite quos agitat mundi

92 93

Essais 2, 12, S. 448, dt. 222. Vgl. Pensées, Laf. 52. Essais 3, 13, S. 1068, dt. S. 539.

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labor 94 – und sich unterdessen ruhig verhalten und über die Probleme leicht dahingleiten solle, damit man nicht in ihnen versinke, wenn man bei ihnen Halt suche ;95 und man solle das Wahre und das Gute so auffassen, wie es dem ersten Augenschein entspreche, ohne sie einzuzwängen, weil sie so wenig Festigkeit haben, daß sie, so schwach man auch nur die Hand zudrücke, durch die Finger schlüpfen und die Hand leer lassen.96 Darum richte er sich nach dem Zeugnis der Sinne und den allgemeinen Begriffen, denn er müßte ja sich selbst Gewalt antun, um sie zu verleugnen, und er wisse nicht, ob er dabei gewinnen würde, da ihm nun einmal unbekannt sei, wo sich das Wahre befi nde.97 Daher meide er Schmerz und Tod, weil sein Instinkt ihn dazu treibe, und aus demselben Grunde wolle er sich ihnen auch nicht widersetzen, doch ohne daraus zu schließen, daß sie wirkliche Übel seien, denn er traue diesen natürlichen Regungen der Furcht nicht allzusehr, da man ja auch solche des Vergnügens empfi nde, von denen man behaupte, sie seien böse, obgleich die Stimme der Natur das Gegenteil sage.98 Daher habe er in seinem Verhalten nichts Abartiges ;99 er handle wie die anderen ; und alles, was sie in dem törichten Gedanken tun, dem wahren Gut zu folgen, das tue er auf Grund eines anderen Prinzips, das darin bestehe – weil die Lucan : Pharsalia 1, 417 : »Suchet doch, wenn euch das Wirken des Weltalls beschäftigt !«, dt. : Lucan : Der Bürgerkrieg oder Die Schlacht bei Pharsalus. Berlin 1978, S. 14 ; zit. in den Essais 3, 13, S. 1073, dt. S. 541. 95 Essais 3, 10, S. 1005, dt. S. 506. 96 Essais 2, 12, S. 601, dt. S. 299. 97 Hier sind möglicherweise gewisse Zusammenhänge mit der Apologie für Raymond Sebond anzunehmen, doch die Argumentation ist für Pascal bezeichnend. 98 Diese Bemerkungen lassen sich mit dem Essai 3, 12, Über die Physiognomie, in Verbindung bringen. Doch man liest bei Montaigne nichts, was ihnen genau entspräche. 99 Essais 2, 12, S. 558, dt. S. 278. 94

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Wahrschein lichkeit auf beiden Seiten gleich schwer wiege –, daß das Beispiel und die Bequemlichkeit die beiden Gegengewichte seien, die ihn mit sich ziehen.100 Er folgt also den Sitten seines Landes,101 weil ihn die Gewohnheit hierzu treibt :102 Er steigt auf sein Pferd wie jemand, der kein Philosoph wäre, weil es ihn erträgt, aber er glaubt nicht, daß dies sich rechtlich begründen lasse, da er ja nicht weiß, ob jenes Tier nicht im Gegenteil das Recht hat, sich seiner zu bedienen.103 Er tut sich auch einigen Zwang an, um gewisse Laster zu vermeiden ; und er wahrt sogar die eheliche Treue wegen des Leids, das aus den Ausschweifungen erwächst ;104 wenn aber das Leid, das er auf sich nehmen würde, über das hinausgeht, das er vermeidet, so verhält er sich weiter ruhig, da Bequemlichkeit und Sorglosigkeit bei allem die Richtschnur seines Handelns sind. Er weist deshalb jene stoische Tugend 105 weit von sich, die man mit strenger Miene, wildem Blick, gesträubten Haaren, runzliger und schweißbedeckter Stirn, in angestrengter und gespannter Haltung, fern von den Menschen, düster schweigend und allein auf einer Felsspitze darstellt : ein Gespenst, wie er sagt, mit dem man Kinder erschrecken könne und das dabei nichts anderes tue, als mit beständigen Mühen nach der Ruhe zu suchen, zu der es nie gelange. Seine eigene Tugend ist unbefangen, umgänglich, lustig, gutgelaunt und sozusagen mutwillig. Sie folgt dem, was sie entzückt, und treibt lässig ihre Späße mit den guten oder schlechten Wechselfällen, während sie auf einem bequemen Ruhelager weich gebettet ist, und dort Essais 2, 12, S. 505, dt. S. 250. Essais 2, 12, S. 579, dt. S. 288. 102 Essais 3, 5, S. 852, dt. S. 426. 103 Essais 2, 12, S. 461, dt. S. 228. 104 Essais 3, 5, S. 852, dt. S. 426. 105 Dieser Ausdruck erscheint am Ende der Apologie für Raymond Sebond. In : Essais 2, 12, S. 604, dt. S. 300. 100 101

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zeigt sie den Menschen, die unter solchen Mühen das Glück suchen, daß dieses Glück nur da ist, wo sie sich der Muße hingibt,106 und daß die Unwissenheit und die Gleichgültigkeit zwei sanfte Ruhekissen für einen gescheiten Kopf sind, wie er selbst sagt.107 Ich darf Ihnen nicht vorenthalten, Monsieur, was ich, als ich diesen Autor las und ihn mit Epiktet verglich, gefunden habe : Sie waren gewiß die beiden größten Verteidiger der beiden berühmtesten Philosophenschulen der Welt und der einzigen, die mit der Vernunft übereinstimmen, denn man kann ja nur einem von diesen zwei Wegen folgen, das heißt : Entweder gibt es einen Gott, und dann sieht der Mensch in ihm sein höchstes Gut ; oder Gott ist ungewiß, und dann gilt das auch für das höchste Gut, weil es mit ihm untrennbar verbunden ist 108. Ich habe mit außerordentlichem Vergnügen an diesen unterschiedlichen Gedankengängen festgestellt, worin die einen und die anderen zu einer gewissen Übereinstimmung mit der wahrhaftigen Weisheit gelangt sind, die sie erkennen wollten. Wenn es nämlich angenehm ist, den Drang der Natur zu beobachten, Gott in allen ihren Werken darzustellen, an denen man ja einige von seinen Wesensmerkmalen wahrnimmt, weil sie seine Abbilder sind, die aber unendlich viele Unvollkommenheiten aufweisen, weil sie eben nur seine Abbilder sind,109 wieviel rechtmäßiger ist es dann, in den geistigen Schöpfungen jene Anstrengungen zu betrachten, die von den großen Geistern unternommen werden, um sich nach dem Beispiel

Pascal läßt sich hier unmittelbar von den Essais anregen, indem er auf die Tugend anwendet, was eigentlich über die Philosophie gesagt wurde, und zwei Bilder nacheinander anführt, die miteinander verknüpft waren ; Essais 1, 26, S. 160 f., dt. S. 88. 107 Essais 3, 13, S. 1073, dt. S. 542. 108 Zu den Philosophenschulen vgl. Laf. 131 und den Abschnitt »Philosophen«, Laf. 140 ff. 109 Diese Formulierung wird in den Pensées wiederholt, vgl. Laf. 934. 106

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der wesentlichen Tugend zu richten, selbst wenn sie sich ihr entziehen, und festzustellen, worin sie zu ihr gelangen und worin sie von ihr abirren, wie ich es in dieser Untersuchung darlegen wollte. Zwar haben Sie mir vorhin bewundernswert deutlich gezeigt, Monsieur, welch geringen Nutzen die Christen aus diesen philosophischen Studien ziehen können. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich trotzdem nicht darauf verzichten, Ihnen meine Gedanken noch weiter mitzuteilen, wobei ich jedoch bereit bin, mich von allen Einsichten loszusagen, die nicht von Ihnen kommen : Hierdurch werde ich den Vorteil haben, daß ich entweder selbst die Wahrheit glücklich entdeckt habe oder daß ich sie von Ihnen zuverlässig erhalte. Wie mir scheint, besteht die Quelle der Irrtümer dieser beiden Philosophenschulen darin, nicht gewußt zu haben, daß der gegenwärtige Zustand des Menschen sich von jenem seiner Schöpfung unterscheidet ;110 derart, daß der eine gewisse Spuren der ursprünglichen Größe des Menschen bemerkt und dessen Verderbnis verkannt hat, und deshalb hat er die Natur so behandelt, als sei sie gesund und brauche keinen Heiland, was ihn auf den Gipfel des Hochmuts führt ; der andere hat umgekehrt das gegenwärtige Elend des Menschen empfunden und dessen ursprüngliche Würde verkannt, und deshalb behandelt er die Natur so, als sei sie notwendig schwach und heilsunfähig, was ihn daran verzweifeln läßt, ein wahrhaftiges Gut zu erreichen, und das läßt ihn in äußerste Willenlosigkeit versinken. Da diese beiden Zustände des Menschen, die man zusammen erkennen müßte, um die ganze Wahrheit zu erfassen, also getrennt erkannt wurden, führen sie zwangsläufig zu einem dieser zwei Laster, dem Stolz und der Trägheit, denen alle

Laf. 149. Die ganze folgende Textpassage ist im Zusammenhang mit diesem Fragment sowie mit Laf. 208 zu sehen. Vgl. auch die »Schriften über die Gnade«, 1. Schrift, II . 110

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Menschen unfehlbar verfallen sind, bevor die Gnade sie erleuchtet ; wenn sie nämlich nicht aus Willenlosigkeit in ihren Ausschweifungen verharren, so überwinden sie diese durch ihre Eitelkeit ; solch große Wahrheit kommt dem zu, was Sie mir vorhin von Augustinus gesagt haben und was ich für sehr weitreichend halte. Non enim uno modo sacrifi catur transgressoribus angelis, usw.111 Denn tatsächlich huldigt man diesen in vieler Hinsicht. Auf Grund derart unvollkommener Einsichten geschieht es also, daß der eine, der die Pfl icht des Menschen kennt und nicht dessen Ohnmacht, sich in der Anmaßung verliert und daß der andere, der die Ohnmacht des Menschen kennt und nicht dessen Pfl icht, in Willenlosigkeit versinkt. Da der eine dort die Wahrheit besitzt, wo der andere dem Irrtum verfallen ist, scheint sich daraus zu ergeben, daß man, wenn man sie vereinigte, eine vollkommene Moral schaffen würde. Doch statt eines solchen Friedens würde man durch ihre Verbindung nur Krieg und allgemeine Vernichtung erreichen :112 Da der eine die Gewißheit und der andere den Zweifel begründet, der eine die Größe des Menschen und der andere dessen Schwäche, zerstört nun auch der eine die Wahrheiten des anderen ebenso wie dessen Irrtümer. Sie können also wegen ihrer Fehler nicht allein bestehen und wegen ihrer Gegensätze sich auch nicht vereinigen, und so zerstören und vernichten sie sich gegenseitig, um der Wahrheit des Evangeliums den Platz zu überlassen. Diese bringt die Widersprüche durch eine ganz göttliche Kunst in Einklang : Indem sie alles vereinigt, was es an Wahrem gibt, und alles von sich weist, was es an Falschem gibt, macht sie daraus eine wahrhaft himmlische Weisheit, in der sich die Gegensätze ausgleichen, die in jenen menschlichen »Ach, auf mancherlei Weise opfert man den abtrünnigen Engeln.« Confessiones 1, 27 ; bereits weiter oben zitiert. 112 Laf. 308 : »Aus allen Körpern zusammen kann man nicht einen kleinen Gedanken hervorbringen.« 111

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Lehren unvereinbar waren. Und der Grund dafür ist, daß jene Weltweisen die Widersprüche mit ein und derselben Ursache verbanden ; denn der eine schrieb der Natur Größe zu und der andere dieser gleichen Natur Schwäche, was nicht nebeneinander bestehen konnte ; statt dessen lehrt uns der Glaube, sie aus verschiedenen Ursachen herzuleiten ; alles, was es an Schwachem gibt, gehört ja der Natur ; alles, was es an Mächtigem gibt, gehört ja der Gnade. Das ist die erstaunliche und neuartige Vereinigung, die allein ein Gott lehren und die er allein bewirken konnte, und sie ist nur ein Abbild und eine Wirkung der unsagbaren Vereinigung zweier Naturen in der einen Person des Gottmenschen. Ich bitte Sie um Verzeihung, Monsieur«, sagte Herr Pascal zu Herrn de Sacy, »daß ich mich vor Ihnen so zur Theologie hinreißen lasse, anstatt bei der Philosophie zu bleiben, die allein mein Thema war ; doch dieses Thema hat mich unmerklich zu ihr geführt ; und es ist schwer, nicht auf sie einzugehen, welche Wahrheit man auch immer behandelt, weil sie der Mittelpunkt aller Wahrheiten ist ; und das zeigt sich hier vollkommen, denn sie enthält ganz offenkundig all jene Wahrheiten, die in den genannten zwei Anschauungen zu fi nden sind. Daher sehe ich nicht, wie einer von ihnen sich weigern könnte, ihr zu folgen. Wenn sie nämlich von dem Gedanken an die Größe des Menschen erfüllt sind, haben sie dann etwas ersinnen können, was nicht hinter den Verheißungen des Evangeliums zurückbliebe, die nichts anderes als der würdige Preis für den Tod eines Gottes sind ? Und wenn sie Gefallen daran fanden, die Gebrechlichkeit der Natur zu sehen, so kommen ihre Vorstellungen doch nicht mehr jenen von der wahrhaftigen Schwäche der Sünde gleich, für die derselbe Tod das Heilmittel gewesen ist. So fi nden denn alle darin mehr, als sie verlangt haben ; und was Bewunderung verdient : Sie fi nden sich darin vereint, sie, die sich auf einer unendlich tieferen Stufe nicht verbinden konnten.«

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Herr de Sacy konnte sich nun nicht enthalten, Herrn Pascal zu erklären, er sei überrascht, wie Herr Pascal die Dinge auszulegen wisse ; gleichzeitig bekannte er jedoch, nicht jeder sei wie Herr Pascal in das Geheimnis eingeweiht, derart weise und erhabene Überlegungen aus einer solchen Lektüre zu gewinnen. Er sagte, Herr Pascal gleiche jenen tüchtigen Ärzten, die durch ihr Geschick, die stärksten Gifte richtig zu mischen, aus ihnen die stärksten Heilmittel gewinnen können. Er setzte hinzu, obgleich er deutlich sehe, weil Herr Pascal es ihm soeben gesagt habe, daß diesem eine solche Lektüre nützlich sei, könne er dennoch nicht glauben, daß sie für viele Leute vorteilhaft sei, deren Geist sich ein wenig mühsam dahinschleppe und nicht die nötige Höhe habe, um jene Autoren lesen, beurteilen und aus dem Misthaufen die Perlen herausfi nden zu können, aurum ex stercore Tertulliani,113 wie ein Kirchenvater es nannte. Dies dürfe man weitaus mehr von jenen Philosophen sagen, deren Misthaufen durch seinen schwarzen Dunst den schwankenden Glauben ihrer Leser verfi nstern könnte : ex multo fumo scintillantem fi dem.114 Deshalb würde er solchen Leuten stets den Rat geben, sich nicht leichtfertig an eine derartige Lektüre zu wagen, um nicht gemeinsam mit jenen Philosophen unterzugehen und, nach der Ausdrucksweise der Heiligen Schrift, der Spielball der bösen Geister und die Nahrung der Winde 115 zu werden, wie es jenen Philosophen geschehen

»Gold aus dem Mist Tertullians.« – Die Verbindung mit Tertulli a n fi ndet sich in der Patrologia latina nicht, die Wendung selbst jedoch häufiger, z. B. bei Augustinus : Contra Iulianum opus imperfectum 1, 45 : »(Iulianus) o lucens aurum in stercore« ; weiteres in P. Courcelles Ausgabe des Entretien, S. 60, 109 f. und 111, Anm. 16. 114 »[mein] Glaube, dessen Funken unter dichtem Rauche noch glimmten«. Augustinus : Confessiones 4, 2. 115 Vgl. Spr 10, 4 : Qui nititur mendaciis pascit ventos. (»Wer auf Trug traut, weidet Winde.«) 113

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sei : Quid est aliud pascere ventos quam ipsos daemones, hoc est errando eis esse voluptati atque derisui ? 116 »Was den Nutzen einer solchen Lektüre angeht«, sagte Herr Pascal, »so werde ich Ihnen ganz offen sagen, was ich denke. Bei Epiktet fi nde ich eine unvergleichliche Kunst, die Ruhe jener zu stören, die diese Ruhe bei den äußerlichen Dingen suchen,117 um sie zu der Erkenntnis zu zwingen, daß sie wahrhaftige Sklaven 118 und elende Blinde 119 sind, daß sie unmöglich etwas anderes als Irrtum und Schmerz fi nden, vor denen sie fl iehen, wenn sie sich nicht vorbehaltlos Gott allein hingeben.120 Montaigne ist darin unvergleichlich, daß er den Stolz jener beschämt, die keinen Glauben haben und sich einbilden, wahrhaftige Gerechtigkeit zu besitzen, daß er jene aus ihrem Irr tum reißt, die mit aller Kraft an ihren Anschauungen festhalten und glauben, in den Wissenschaften unerschütterliche Wahrheiten zu fi nden, und daß er die Vernunft so klar überführt, wie wenig Einsicht sie hat und welchen Verirrungen sie unterliegt, so daß man schwerlich, wenn man von seinen Prinzipien einen guten Gebrauch macht, in Versuchung gerät, sich von den Mysterien abgestoßen zu fühlen.121 Denn der Geist

»Denn ›Winde weiden‹, was könnte anders damit gemeint sein, als bösen Geistern zur Weide dienen, das heißt, ihnen in seiner Verirrung ein Gegenstand der Lust und des Gelächters sein ?« Confessiones 4, 3. 117 Die Gesamtidee und die Formulierung »äußerliche Dinge« sind Epiktetsches Gedankengut, doch fällt es schwer, einen konkreten Text anzugeben. 118 Das in der Übersetzung mit dem Wort »Sklave« wiedergegebene Bild (z. B. Lehrgespräche, IV, I , dt. S. 233 ff.) kommt bei Epiktet häufig vor. 119 Lehrgespräche, III , XXII , dt. S. 209. 120 Lehrgespräche, II , XVI . 121 Diese Idee läßt sich annähernd auf mehrere Stellen in der Apologie für Raymond Sebond beziehen. 116

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wird von ihnen so sehr überwunden, daß er weit davon entfernt ist, sich zu unterstehen, darüber zu urteilen, ob die Menschwerdung Christi oder das Mysterium der Eucharistie möglich ist, was die gewöhnlichen Leute nur allzuoft erörtern. Indem Epiktet jedoch die Trägheit bekämpft, führt er zum Stolz, und daher kann er jenen sehr schädlich sein, die nicht von der Verderbnis selbst der vollkommensten Gerechtigkeit überzeugt sind, wenn diese nicht aus dem Glauben kommt. Und Montaigne ist ganz und gar unheilvoll für jene, die eine gewisse Neigung zur Gottlosigkeit und zu den Lastern haben. Darum muß eine derartige Lektüre mit großer Sorgfalt, Mäßigung und Rücksicht auf die Stellung und die Sitten jener, denen man sie anrät, geregelt werden. Es scheint mir lediglich, wenn man die Lektüre des einen und des anderen miteinander verbindet, so könnte das nicht allzu übel ausgehen, weil die Lektüre des einen sich der Schädlichkeit des anderen widersetzt : nicht, daß sie zusammen Tugend geben können, doch sie können immerhin Verwirrung stiften, wenn man den Lastern ergeben ist : Die Seele wird ja von diesen Gegensätzen bedrängt, deren einer den Stolz und der andere die Trägheit vertreibt ; und durch ihre Überlegungen kann sie keine Ruhe bei einem dieser Laster fi nden und auch nicht vor ihnen allen fl iehen.« So einigten sich schließlich diese beiden wahrhaft geistvollen Männer über das Problem, ob man jene Philosophen lesen solle, und trafen sich an einem gemeinsamen Endpunkt, den sie gleichwohl mit etwas unterschiedlichen Methoden erreichten : Herr de Sacy war ja mit einem Male durch die klare Einsicht in die Prinzipien des Christentums dorthin gelangt, und Herr Pascal erst nach vielen Umwegen, indem er sich an die Prinzipien jener Philosophen hielt. Als Herr de Sacy und ganz Port-Royal des Champs somit vollkommen von der Freude erfüllt waren, die Herrn Pascals Bekehrung und Einsichten hervorriefen, und man an ihm die allmächtige Kraft der Gnade bewunderte, die durch eine Barmherzigkeit, für die es wenig Beispiele gibt, sich diesen an

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sich so erhabenen Geist auf so demütige Weise unterworfen hatte, wurde man beinahe zur gleichen Zeit von noch größerer Freude über die ans Wunderbare grenzende Wandlung eines anderen Mannes erfüllt, die diese ganze Einöde überglücklich machte.122 Noch jetzt fühle ich mich ganz verzückt und außer mir, wenn ich an den unermeßlichen Trost denke, den Gott uns allen durch diese Bekehrung gewährte.

Es handelt sich um den Anwalt Nicolas Richer (1612– 1659), der zum Herzog von Luynes nach Vaumurier übersiedelte. Vgl. zu Richer DicPR , S. 873 – 874. 122

Kurze Beschreibung des Lebens Jesu Christi (1655)

Vorwort Das Wort, das war von aller Ewigkeit her, Gott in Gott, durch das alle Dinge und selbst die sichtbaren geschaffen wurden, ist Mensch in der Fülle der Zeiten geworden und in die Welt gekommen, die es geschaffen hat, um die Welt zu erretten ; es wurde von der Welt nicht aufgenommen, sondern allein von denen, welchen es die Macht gab, Gottes Kinder als Wiedergeborene aus dem Heiligen Geist durch den Willen Gottes und nicht als aus Fleisch und Blut Geborene durch den Willen der Menschen zu werden ; und es wohnte unter den Menschen, entäußerte sich seiner Herrlichkeit und nahm Knechtsgestalt an, und es ist durch viele Leiden hindurchgegangen bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz, an dem es unsere Schwachheit und Gebrechlichkeit getragen hat und durch seinen Tod den unsrigen vernichtet hat, und nachdem es freiwillig seine Seele gelassen hatte, die aufzugeben und wiederzunehmen in seiner Macht stand, hat es sich selbst am dritten Tage auferweckt, und durch sein neues Leben hat es all denen das Leben gebracht, die in ihm wiedergeboren sind, wie Adam all denen den Tod gebracht hatte, die von ihm geboren waren. Und da es endlich aus der Hölle aufgefahren ist über alle Himmel, auf daß es alles erfüllte, sitzt es zur Rechten des Vaters, von dannen es kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten und um die Auserwählten, die ein Leib sind mit ihm, in den Schoß Gottes zu führen, mit dem es vereinigt ist und durch sein Wesen vereinigt bleibt für immer. Als Gottes Güte erschienen war und diese großen Dinge auf Erden erfüllt waren, haben manche sich erboten, Bericht von der Geschichte seines Lebens zu geben. Da indes ein so heiliges Leben, dessen geringste Handlungen und Regungen es verdienen, erzählt zu werden, nur von demselben Geist,

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der dessen Geburt bewirkt hatte, beschrieben werden konnte, gelang es ihnen nicht, weil sie ihrem eigenen Geist folgten. Und darum erweckte Gott vier heilige Männer, die Zeitgenossen Jesu Christi waren und von Gott erleuchtet die Dinge aufschrieben, die er gesagt und getan hat. Nicht etwa, daß sie alles aufgeschrieben hätten, denn hierfür brauchte man mehr Bände, als die Welt fassen könnte, weil seine Regungen, Handlungen und Gedanken es insgesamt verdienen, mit all ihren Begleitumständen wiedergegeben zu werden, denn sie alle waren auf die Herrlichkeit des Vaters gerichtet und vom inneren Wirken des Heiligen Geistes geleitet. Doch alles, was aufgeschrieben wurde, soll uns zu dem Glauben führen, daß Jesus der Sohn Gottes ist und daß wir, wenn wir glauben, das ewige Leben ererben um seines Namens willen. Was nun die heiligen Evangelisten aus Gründen geschrieben haben, die vielleicht nicht alle bekannt sind, und in einer Ordnung, bei der sie nicht immer die zeitliche Reihenfolge berücksichtigt haben, das stellen wir hier in zeitlicher Reihenfolge zusammen, indem wir jede Schriftstelle jedes Evangelisten in der Ordnung anführen, in der das darin beschriebene Ereignis geschehen ist, soweit unsere Schwäche uns das erlauben konnte. Wenn der Leser etwas Gutes darin fi ndet, so danke er dafür Gott, dem einzigen Urheber alles Guten. Und was er an Schlechtem darin fi nden wird, das verzeihe er meiner Schwäche.1 Da das Wort noch im Schoß des Vaters war, bevor es in die Welt kam, wollte es dem Mittler zwischen Gott und den Menschen durch seinen Vorläufer den Weg bereiten. Und um dieses Geheimnis wahrhaftig zu verkündigen :

Die Ausgabe von Le Guern (OC 2, S. 49 ff.) nennt für die folgenden Paragraphen zumeist die Bibelstellen, auf die sie sich beziehen. 1

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1. Während der Herrschaft des Kaisers Augustus, zu der Zeit des Herodes, des Königs in Judäa, am 24. September, fünfzehn Monate vor der Geburt Jesu Christi, ward der Engel Gabriel gesandt zu Zacharias, einem Priester, ihm zu verkündigen, daß sein Weib Elisabeth, obwohl es unfruchtbar war, einen Sohn empfangen und gebären werde, den er Johannes nennen solle, den Vorläufer des Messias. Da Zacharias ihm nicht geglaubt hatte, verstummte er. 2. Sechs Monate danach, am 25. März, neun Monate vor der Geburt Jesu Christi, ward derselbe Gabriel zu einer Jungfrau gesandt, die Maria hieß, ihr zu verkündigen, daß sie durch das Wirken des Heiligen Geistes in ihr einen Sohn empfangen werde, dessen Name Jesus sei. 3. Als sie schwanger war, besuchte sie Elisabeth, ihre Verwandte, und lobte Gott mit ihrem Lied. 4. Am 24. Juni, sechs Monate vor der Geburt Jesu Christi, ward Johannes geboren. Danach ward er beschnitten. Zacharias fand die Sprache wieder und lobte Gott mit seinem Lied. 5. Joseph, der sich über die Schwangerschaft seiner Frau verwunderte, weil sie noch keinen ehelichen Umgang gehabt hatten, ward indessen vom Engel kundgetan, daß das, was in ihr war, vom Heiligen Geist war. 6. Am 25. Dezember im ersten Jahr des Heils ward Jesus Christus zu Bethlehem, einer Stadt in Judäa, geboren. Seine Stammtafel aus Salomo wird bei Matthäus 1, 1 und die aus Nathan bei Lukas 3, 23 erzählt. 7. Die Engel verkündigen seine Geburt den Hirten, die kom men und ihn anbeten. 8. Acht Tage nach seiner Geburt, am 1. Januar, ward er beschnitten und Jesus genannt. 9. Am 6. ( Januar) kamen die Weisen und beteten ihn an. Herodes, der über dessen Geburt erschrak, fürchtet, daß dieser sein Reich an sich reißen werde, und gebietet den Weisen, ihm den Ort kundzutun, wo sie ihn fi nden würden, doch vom Engel gewarnt kehrten sie nicht zu Herodes zurück.

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10. Am 2. Februar, sechsundzwanzig Tage [danach, vierzig Tage]2 nach der Geburt Jesu Christi, begab sich die Jungfrau zur Reinigung in den Tempel, und der Sitte gemäß stellt sie Jesus dar, weil er ihr Erstgeborener war. Simeon, der ihn in seinen Armen hielt, lobte Gott mit seinem Lied und sagte Maria voraus, daß das Schwert des Schmerzes durch ihr Herz dringen werde. Hanna, eine Prophetin, prophezeit, als sie Jesus Christus berührt. 11. Da Herodes sah, daß er von den Weisen betrogen war, und Jesus nicht entdecken konnte, weil die Dunkelheit seiner Geburt ihn in der Menge des Volks verbarg, entschloß er sich, alle Kinder töten zu lassen, um auch ihn dabei zu treffen. Doch bevor sein Anschlag ausgeführt wurde, nahm Joseph, den der Engel gewarnt hatte, Jesus und Maria zu sich und floh nach Ägypten. 12. Herodes läßt unterdessen alle Kinder töten, da er meint, daß auch Jesus Christus diesem allgemeinen Mord zum Opfer fallen werde. 13. Dann ging Johannes in die Wüste und ward stark im Geist. 14. Einige Jahre später, da Herodes gestorben war, tat der Engel dies Joseph kund, und (er kam zurück) in das Land Israel. Da er aber hörte, daß Archelaus, der Sohn des Herodes, König war anstatt seines Vaters, zog er deshalb auf den Rat des Engels nach Galiläa und wohnte in Nazareth. 15. Einige Jahre später, zwölf Jahre nach seiner Geburt, führten ihn seine Eltern zum Fest nach Jerusalem (obgleich Archelaus noch herrschte, denn er regierte zwölf Jahre ; Josephus, Jüdische Altertümer, 17, Kap. 15 3), und er blieb im TemLafum as Text korrigiert nach der Ausgabe von OC 3 (Mesnar d), S. 251. 3 Wohl Buch 17, Kap. 13, vgl. Flavius Josephus : Jüdische Altertümer. Wiesbaden 2002, S. 500 – 502 bzw. Jewish antiquities, books XV– XVII [griech./engl.]. Cambridge, Mass. 1963 (Josephus. 8), S. 530 – 533. Archelaus regierte nach Josephus zehn Jahre. 2

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pel mitten unter den Schriftgelehrten und disputierte mit ihnen. Seine Eltern suchten ihn in größter Unruhe. Er sagte ihnen, er müsse die Dinge erfüllen, die sein Vater ihm aufgetragen habe ; und nachdem er mit ihnen zurückgekehrt war, war er ihnen untertan und nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen. So führte Jesus von seinem zwölften bis zu seinem einunddreißigsten Jahr ein verborgenes Leben. 16. Im fünfzehnten Herrschaftsjahr des Kaisers Tiberius, da Pontius Pilatus Landpfleger in Judäa war und Herodes ein Vierfürst in Galiläa und sein Bruder Philippus ein Vierfürst in Ituräa und in Trachonitis und Lysanias ein Vierfürst zu Abilene, da Hannas und Kaiphas Hohepriester waren : Da sich die Zeit nahte, in der Jesus predigen sollte, gibt Johannes, sein Vorläufer, auf ausdrückliche Weisung Gottes sein Schweigen und seine Einsamkeit auf, und er kam an den Jordan, um alles Volk durch die Predigt und die Taufe der Buße aufzurufen, dem Messias den Weg zuzurichten und sich für seine Ankunft bereitzumachen. Und um zu verkündigen, daß sein Erscheinen nahe sei. 17. Und zu der Zeit kam Jesus aus Galiläa an den Jordan, damit er auch mit der Taufe des Johannes getauft würde. Da tat sich der Himmel auf, der Heilige Geist fuhr hernieder in leiblicher Gestalt auf ihn wie eine Taube und ruhte auf ihm, und eine Stimme vom Himmel sprach : »Dies ist mein lieber Sohn.« So ward Jesus getauft, obgleich Johannes widerstrebt hatte, er wagte es zuerst nicht ohne eine ausdrückliche Weisung seines Herrn, der ihm sagte, er solle es jetzt zulassen, da es also gebühre, alle Gerechtigkeit zu erfüllen. Das heißt, der, welcher ein Abbild des sündlichen Fleisches hatte, wurde gereinigt durch das Abbild der Taufe mit dem Heiligen Geist, denn in Wirklichkeit mußte der, welcher aus dem Heiligen Geist geboren war, nicht aus dem Heiligen Geist wiedergeboren werden. Aber er forderte uns durch sein Beispiel und seine Demut auf, Zuflucht bei der Taufe zu suchen. Und durch die Reinheit seines Fleisches reinigte er das Wasser, das hierauf

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die Unreinheit unseres Fleisches reinigen sollte, und durch seine Berührung teilte er ihm die Kraft der Wiedergeburt mit, zu der er es bestimmt hatte. Und damit alle Völker durch die sichtbare Herabkunft des Heiligen Geistes und durch das Zeugnis des Johannes erkennen sollten, daß er wahrhaftig der Christus war. 18 a. Als Jesus getauft war, ward er sogleich vom Heiligen Geist in die Wüste geführt, wo er vierzig Tage und vierzig Nächte fastete. 18 b. Dann ward er vom Teufel versucht. 18 c. Und als ihn der Teufel eine Zeitlang verließ, traten die Engel zu ihm und dienten ihm. 19. Unterdessen erklärte Johannes den Pharisäern, die zu ihm gesandt wurden, um zu erfahren, ob er Christus sei, daß er es nicht sei. 20. Des andern Tages kam Jesus zu Johannes, und dieser wies mit dem Finger auf ihn und bezeugte, daß er Gottes Lamm ist, welches der Welt Sünde trägt. 21. Des andern Tages wiederholt er das gleiche Zeugnis, und als Andreas und ein anderer Jünger des Johannes dieses Zeugnis gehört haben, folgen sie dann Jesus nach. Und sie bleiben an diesem Tag bei ihm. Und da Andreas seinen Bruder Simon traf, führte er ihn zu Jesus, und dieser nannte ihn Petrus. 22. Des andern Tages zog Jesus nach Galiläa und begegnete Philippus, zu dem er sprach : »Folge mir nach ?« Und Philippus folgte ihm nach und brachte Nathanael zu ihm. 23. Drei Tage darauf kam er nach Kana in Galiläa, wo er auf den Rat Marias, seiner Mutter, sein erstes Wunder wirkte, indem er das Wasser in Wein verwandelte. 24. Danach zog er mit seinen Jüngern nach Kapernaum, wo er seitdem gewöhnlich wohnte, so daß diese Stadt in einem Evangelium »seine Stadt«4 genannt wird.

4

Mt 9, 1.

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25. Und kurze Zeit vor Ostern zog er nach Jerusalem, wo er die Händler aus dem Tempel trieb und im Bild des Tempels die Zerstörung und Wiederherstellung seines Leibes voraussagte, und viele glaubten an ihn, da sie seine Wunder sahen, er aber vertraute sich ihnen nicht, weil er ihr Inneres kannte. 26. In der Zeit des Osterfestes läßt Nikodemus sich während der Nacht über die Wiedergeburt belehren, daß der Geist weht, wo er will, daß niemand zum Himmel aufgefahren ist außer dem Sohn Gottes, der vom Himmel herniedergekommen ist und der im Himmel ist – womit er seine doppelte Natur zu verstehen gab (und zeigte), daß er Gott und Mensch war, weil er vom Himmel herniedergekommen war und doch weiter im Himmel war, und nunmehr zeigte er, daß es außerhalb dieses Sakraments der Einverleibung in Christo kein Heil gibt, das heißt nur für die, welche durch die Taufe ein Leib mit ihm würden, denn niemand außer ihm kann ja zum Himmel auffahren –, daß die in der Wüste erhöhte Schlange sein Bild war, daß Gott die Welt so sehr geliebt hat, daß er ihr seinen eingeborenen Sohn gab, daß er nicht gekommen ist zu verdammen, sondern zu erretten, daß man glauben muß, das Licht sei gekommen, daß jemand, der Arges tut, das Licht haßt usw. 27. Von dort kam er nach Judäa und taufte durch seine Jünger. Und da die Jünger des Johannes und die Juden sich wunderten, daß Jesus mehr als Johannes taufte und Jünger machte, sagte ihnen Johannes, daß der, welcher vom Himmel komme, wachsen müsse und daß er, der nur von Erde sei, abnehmen müsse, daß Gott den Geist nicht nach dem Maß an Jesus gegeben habe, vielmehr alle Dinge in seiner Macht stehen, und daß man an ihn glauben müsse, um dem Zorn Gottes zu entgehen. 28. Und da Jesus erkannte, daß die Kunde von ihm (sich) überall (ausbreitete) und den Pharisäern ein Ärgernis gab, verließ er Judäa und zog sich nach Galiläa zurück. Als er durch Nazareth kam, ward er übel empfangen und bezeugte, daß ein Prophet nirgend weniger gilt denn in seinem Vaterland. 29. Kurze Zeit später, nachdem Johannes den Vierfürsten Herodes getadelt hatte, weil dieser seine Schwägerin, das Weib

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seines Bruders Philippus, heiraten wollte, legte er ihn gefangen und fügte dieses Übel so vielen anderen hinzu, die er begangen hatte. 30 a. Als Jesus dies erfahren hatte, zog er sich in die Wüste von Galiläa zurück. 30 b. Auf seinem Weg zog er mitten durch Samaria, wo er die Samariterin über die Gabe Gottes belehrte, über das Wasser, das in das ewige Leben quillt, über die Anbetung im Geist und in der Wahrheit usw., und daß er der Messias sei. Und da er lange nicht gegessen hatte, boten seine Jünger ihm Speise an, er aber sprach zu ihnen, er habe eine Speise zu essen, von der sie nicht wüßten. Und da die Samariterin die Kunde von ihm in der Stadt verbreitet hatte, ward er dort aufgenommen und lehrte sie zwei Tage lang. Nach den zwei Tagen zog er aus der Stadt, und am Ende seiner Reise kam er nach Galiläa, wo er ehrenvoll aufgenommen ward, da mehrere von ihnen am Osterfest die Wunder gesehen hatten, die er in Jerusalem gewirkt hatte. Von dort kam er nach Kana, der Stadt in Galiläa, wo er das Wasser in Wein verwandelt hatte, welches sein erstes Wunder war, und wo er auch sein zweites wirkte, indem er den Sohn eines vornehmen Herrn, obgleich jener abwesend war und krank zu Kapernaum lag, auf die Bitte seines Vaters gesund machte. 31. Als er von dort fortging, wandte er sich ab von Nazareth, seiner Vaterstadt, und zog nach Kapernaum. 32 a. Seit dieser Zeit fi ng Jesus an, zu predigen und zu sagen : »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen«, was der Inbegriff seiner Predigt und der des Johannes ist. 32 b. Von dort zog er durch Galiläa und predigte. Und eines Tages stieg er in das Boot des Petrus. Nachdem er darin das Wunder des großen Fischzugs gewirkt hatte, bei dem das Netz zerriß. 33. Er berief Petrus und Andreas und hierauf Jakobus und Johannes, und er verhieß ihnen, besonders Petrus, er werde sie

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zu Menschenfischern machen, und sie folgten ihm nach und verließen alles. 34. Endlich kommt er mit seinen Jüngern nach Kapernaum, wo er die Besessenen heilte. 35. Dann kam er in das Haus des Petrus und heilte dessen Schwiegermutter vom Fieber. 36. Am Abend, da sein Ruf zunahm, trieb er an der Tür bei vielen Besessenen die Geister aus. 37. Am Morgen des folgenden Tages ging er von Kapernaum hinaus an eine wüste Stätte, und als die Jünger und das Volk ihn suchten, sprach er zu ihnen, daß er auch andern Städten predigen müsse. Und daß er dazu gesandt sei, und er ging in die Synagogen Galiläas, wo er predigte und heilte. 38. Dann ging er wiederum nach Kapernaum und heilte einen Gichtbrüchigen, der durch das Dach herabgelassen ward, weil die Menge es unmöglich machte, daß man durch die Tür hereinkam. 39. Da er von dannen ging, berief er Matthäus, der am Zoll gesessen hatte, und er folgte ihm sogleich nach und verließ alles. 40. Matthäus lud ihn in seinem Haus zu Tisch, und während des Essens lehrte Jesus sie und auch die Jünger des Johannes und die Pharisäer, wobei er vom jungen Wein in alten Schläuchen, vom neuen Lappen auf einem alten Kleid usw. sprach. 41. Während er zu ihnen sprach, kommt Jairus, der Vorsteher der Synagoge, und bittet ihn, seine Tochter von den Toten zu erwecken. 42. Jesus ging zu ihr, und auf dem Weg heilt er die Frau, die den Blutfluß hatte, indem sie den Saum seines Kleides berührt, und hierauf erweckt er die Tochter des Jairus von den Toten, und niemand außer Petrus, Jakobus und Johannes waren bei ihm. 43. Hierauf ging er aus Kapernaum fort, und unterwegs heilte er zwei Blinde, die schrieen : »Jesus, du Sohn Davids.« 44. Dann brachten sie zu ihm einen Menschen, der war stumm und besessen, und er heilte ihn. Und die Pharisäer schreiben dieses Wunder dem Beelzebub zu.

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45. Und da er in den Städten umherging, ermahnte er seine Jünger, Gott zu bitten, daß er Schnitter sende, weil die Ernte groß sei. 46. Zum Osterfest (kommt) Jesus nach Jerusalem, wo er an einem Teich den Gichtbrüchigen heilt, und seinetwegen redet er mit den Pharisäern über die Einhaltung des Sabbats. 47. Als er acht Tage später mit seinen Jüngern durch die Saat ging und diese Ähren ausrauften, verteidigt er sie gegen die Pharisäer. 48. Danach heilt er eine verdorrte Hand am Sabbat und verteidigt seine Tat gegen den Aberglauben der Pharisäer. Und da sie ihn umbringen wollten, wich er von dannen, predigte und heilte überall. 49. Als er kurze Zeit später die Absicht hatte, zwölf von seinen Jüngern zu erwählen, die Zeugen seiner Auferstehung werden und allen Völkern und allen Nationen der Welt sein Evangelium bringen sollten, das er den Juden vergebens gepredigt hatte, blieb er über Nacht auf einem Berg, um zu beten, bevor er diese Wahl traf. 50. Und am Morgen erwählte er zwölf von ihnen, denen er Gewalt über den Teufel und über die Krankheiten gab. 51. Und sogleich hielt er ihnen jene schöne und gehaltvolle Bergpredigt, die den Inbegriff der christlichen Vollkommenheit enthält. 52. Da er vom Berge herabging, heilte er einen Aussätzigen. 53. Als er dann nach Kapernaum kam, heilte er den Sohn des Hauptmanns, der zu ihm sprach : »Herr, ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach gehest.« 54. Danach kommt er durch das Städtchen Nain und erweckt den einzigen Sohn der Witwe von den Toten. 55. Da sich die Kunde von seinen Wundern überall ausbreitete, hörte Johannes, der hier im Gefängnis war, davon und sandte zwei seiner Jünger zu Jesus, der ihnen sagte, sie sollten Johannes berichten, daß die Blinden sehen und den Armen das Evangelium gepredigt werde. Und als sie gegangen waren, sagte er der Menge : »Unter allen, die von Weibern geboren

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sind, ist nicht aufgekommen, der größer sei denn Johannes« usw. 56. Er schilt die Juden wegen ihrer Unbußfertigkeit, und insbesondere die Städte Chorazin, Bethsaida und Kapernaum. 57. Es bat ihn ein Pharisäer, bei ihm zu essen, und dort vergab er Magdalena die Sünden, und er lehrt, daß die Sünden in dem Maße vergeben werden, wie man Gott liebe. 58. Dann lehrt er das Gebet des Herrn, und daß man im Gebet beharren müsse. 59. Er heilt einen Besessenen, der blind und stumm war, und die Juden schreiben dieses Wunder dem Beelzebub zu ; er sagt, daß die Sünden gegen ihn vergeben werden, nicht aber die Sünden gegen den Heiligen Geist. 60. Und wenn der unsaubere Geist aus einem Leib ausgefahren sei, so fi nde er sieben andere, die ärger sind denn er selbst. 61. Er lehrt sie mehrere andere Dinge, und da er noch zu ihnen sprach, 62. bat ihn ein Pharisäer, daß er mit ihm das Mittagsmahl äße, und er richtet verschiedene Verwünschungen gegen deren falsche äußerliche Reinheit, über der sie die Reinheit des Herzens vernachlässigen. 63. Unterdessen meinen seine Eltern, daß er von Sinnen sei, und wollen ihn halten. Und als man ihm mitteilt, seine Eltern ließen ihn rufen, spricht er zu ihnen, wer Gottes Willen tue, der sei seine Mutter und seine Brüder. 64. An demselben Tage geht er am Meer entlang mit seinen Jüngern, zu denen seine Apostel, Magdalena und die anderen Frauen, die ihm nachfolgten, gehörten, und er redet zu ihnen mancherlei durch Gleichnisse : vom Säemann, vom Unkraut, vom Senfkorn, vom Schatz, vom Sauerteig, von den Fischzügen und Netzen. 65. Am Abend desselben Tages stieg er in ein Boot und befahl, ans andere Ufer hinüberzufahren, und während sie über das Meer fuhren, schlief er auf einem Kissen. Und es erhob sich ein Sturm. Und da das Boot von Wellen überspült

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wurde, weckten seine Jünger ihn auf, und er ließ den Sturm verstummen. 66. Als er ans andere Ufer gekommen war, das die Gegend der Gerasener war, heilte er dort zwei Besessene und erhörte die Bitte der Teufel, die baten, in die Schweine fahren zu dürfen. 67. Und die Gerasener baten ihn, sie zu verlassen und anderswohin zu gehen. 68. So kam er denn nach Nazareth, wo er nicht gut aufgenommen ward und wegen ihres Unglaubens nur kurze Zeit blieb, und er wiederholte, daß kein Prophet in seinem Vaterland gut aufgenommen wird. 69. Er beginnt, die Apostel je zwei zu zwei auszusenden, daß sie predigen. Und er gibt ihnen verschiedene Weisungen : zuerst zu den Juden zu gehen, zu predigen, daß das Reich Gottes nahe herbeigekommen sei, die Kranken gesund zu machen, die Toten aufzuwecken usw., es umsonst zu geben, wie sie es umsonst empfangen haben, kein Geld bei sich zu tragen, weder Tasche noch Stab und auch nicht zwei Röcke, den Staub von ihren Füßen zu schütteln ; er sagt ihnen die Leiden voraus, die sie ertragen werden wie Schafe mitten unter den Wölfen, daß sie klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben sein und Gott allein fürchten sollen, daß er nicht gekommen sei, Frieden zu bringen, sondern das Schwert, daß, wer sie aufnehme, ihn aufnehme usw. 70. Unterdessen predigt Jesus selbst in Galiläa. 71. Während diese Dinge geschehen, ließ Herodes den Johannes töten, und als er das Gerücht von den Wundern Jesu hört, glaubt er, dieser sei der von den Toten auferstandene Johannes. 72. Da das Jesus hörte, wich er von dannen in eine Wüste. 73. Da das Volk des inneward, zog es ihm nach. 74. Kurz vor dem Osterfest kamen die Apostel zurück und berichten Jesus, was sie gelehrt hatten. 75. Jesus nimmt sie zu sich und entweicht in eine Wüste bei Bethsaida, um frei zu sein, weil das Volk ihn derart bedrängte,

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daß er nicht einmal Zeit genug zu essen hatte, aber das Volk kam auch dorthin. 76. Und da es Jesus gegen Abend des großen Volkes jammerte, wirkte er für sie das Wunder der fünf Brote. 77. Nachdem er am Abend den Aposteln befohlen hatte, über das Meer zu fahren, stieg er allein auf einen Berg, daß er betete. 78. Und um sich der Volksmenge zu entziehen, die ihn zum König machen wollte. 79. Als er von dort zurückkam, ging er in der vierten Nachtwache auf dem Meer daher, er läßt Petrus auf dem Wasser gehen, besänftigt den Sturm und kommt in den Hafen von Genezareth, 80. wo er mehrere Kranke heilt, die den Saum seiner Kleider anrühren. 81. Des andern Tages lehrt er jene, die ihn (in) Kapernaum aufgesucht hatten, weil er sie (mit) Brot (gespeist) hatte, daß sie sich nicht um Speise bemühen sollen, die vergänglich sei, sondern um Speise, die bis zum ewigen Leben bleibe, welche ihnen des Menschen Sohn geben werde, denn den habe Gott versiegelt (das heißt, Gott hat ihm das Siegel der Göttlichkeit eingeprägt, wodurch er ebenso Gottes Sohn wie des Menschen Sohn ist) ; daß es Gottes Werk sei, daß sie an ihn glauben (das heißt, es ist Gottes Sache, dieses Wunder zu wirken), daß Mose nicht das Brot vom Himmel gegeben habe, daß Gott das Brot vom Himmel gebe, daß er das Brot des Lebens sei, daß alles, was ihm der Vater gebe, zu ihm komme, daß niemand zu ihm kommen könne, es sei denn, daß ihn der Vater ziehe, daß jene, die von diesem Brot essen, nicht sterben, daß man sein Fleisch essen und sein Blut trinken müsse, um das Leben zu haben, daß sein Fleisch die rechte Speise und sein Blut der rechte Trank seien, daß jene, die ihn essen, um seinetwillen leben, daß das Fleisch nichts nütze sei, daß der Geist lebendig mache, daß seine Worte Geist und Leben seien. Hierauf hatten viele seiner Jünger ihn verlassen, weil sie diese Rede hart fanden, und nun fragte er die Zwölf, ob auch sie ihn verlassen wollten. Petrus

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sagte im Namen der anderen : »Wohin sollen wir gehen ? Du hast Worte des ewigen Lebens« usw. 82. Bei diesem Osterfest scheint Jesus nicht in Jerusalem gewesen zu sein, wo die Juden ihn suchten, um ihn zu töten. Und es scheint, daß er sogleich nach Ostern in Galiläa umherging. 83. Und da zu ihm die Schriftgelehrten und Pharisäer von Jerusalem kamen, belehrt er sie über die Handwaschung und die Satzungen der Ältesten. Von dort ging er in die Gegend von Tyrus und Sidon, wo er die Tochter der (Kanaaniterin) heilte. 84. Als er von Tyrus fortging, kam er an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte, wo er den Tauben, der stumm war, heilte, indem er zu ihm sprach : »Hephatha ?« 85. Und da Jesus nahe an das Meer gekommen war, heilte er mehrere Kranke, Lahme, Blinde usw. 86. Und da er das viele Volk in der Wüste sah, jammerte es ihn, und er wirkte das Wunder der sieben Brote und der wenigen Fische. 87. Nach diesem Wunder stieg er sogleich in ein Boot und kam in die Gegend von Magadan und Dalmanuta, 88. wo die Pharisäer und Sadduzäer ein Zeichen vom Himmel begehren. Er aber seufzte in seinem Geist und wies sie ab, dann gebot er, ans andere Ufer hinüberzufahren, und dort warnte er sie, sich vor dem Sauerteig der Pharisäer, der Sadduzäer und des Herodes zu hüten. 89. Von dort kam er nach Bethsaida, wo er einen Blinden hinaus vor die Stadt führte, um ihn zu heilen. 90. Als Jesus von Bethsaida fortging, kam er ringsum in die Dörfer, in die Gegend von Cäsarea [Philippi] ; und nachdem er sein Gebet verrichtet hat, befragt er seine Jünger, was die Leute von ihm sagen. Petrus erkennt ihn als Christus. Er verbietet ihnen, es zu sagen ; 91. Und er erklärt, Petrus sei selig, weil ihm diese Offenbarung zuteil ward, und verheißt, daß er auf diesen Felsen seine Kirche bauen wolle und die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen sollen.

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92. Und von der Zeit an zeigt er ihnen, daß er viel leiden und nach Jerusalem gehen, dort sterben und auferstehen müsse ; und als Petrus sich diesen traurigen Voraussagen widersetzt, wird er Satan genannt. 93. Und da er das Volk zu sich gerufen hatte, erklärt er allen, daß jeder sein Kreuz tragen müsse. 94. Und er sagt, daß etliche bei dieser Rede zugegen seien, die nicht sterben werden, bis daß sie das Reich Gottes gesehen haben. 95. Nach sechs Tagen einschließlich oder nach acht Tagen ausschließlich nahm Jesus zu sich Petrus, Jakobus und Johannes (das heißt Jakobus den Älteren, den Herodes hinabstoßen ließ, und nicht Jakobus den Jüngeren, den Bruder des Herrn, den Bischof von Jerusalem und Verfasser des Katholischen Briefes ; denn Matthäus nennt ihn den Bruder des Johannes) und führte sie auf einen Berg, und nachdem er sein Gebet verrichtet hatte, ward er verklärt. Und eine Stimme vom Himmel sprach : »Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe ; den sollt ihr hören.« 96. Da sie vom Berge herabgehen, verbietet er ihnen, über dieses Gesicht zu sprechen, bis er von den Toten auferstanden wäre. 97. Und die Jünger behielten dieses Wort bei sich – »Bis er von den Toten auferstanden wäre« – und verstanden es nicht. 98. Hierauf fragten sie ihn über die Ankunft des Elia. 99. Den Tag hernach, da er von dem Berge herabgestiegen und zu seinen Jüngern gekommen war, heilte er einen Mondsüchtigen, den die Jünger nicht heilen konnten, und sagte ihnen, sie hätten ihn um ihres Unglaubens willen nicht heilen können. 100. Und daß ein derartiger Teufel nur durch Beten und Fasten ausfährt. 101. Dann wandelte er durch Galiläa und sagte voraus, daß des Menschen Sohn in der Menschen Hände überantwortet werde, sie aber verstanden dieses Wort nicht.

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102. Er kam nach Kapernaum, wo man den Zinsgroschen von ihm verlangte. Er erklärt dem Petrus, daß er als Sohn des Königs davon befreit sei ; damit er ihnen aber kein Ärgernis gibt, läßt er einen Fisch fangen, aus dessen Kopf er eine Münze nahm, mit der er den Zinsgroschen bezahlte. 103. Und da er in Kapernaum daheim ist, fragt er sie, was sie auf dem Wege verhandelt hätten, denn sie hatten miteinander gestritten, welcher der Größte wäre, und er (rief) ein Kind und unterrichtete sie über die christliche Kindschaft. 104. Er verbietet ihnen, dieser Geringsten einen zu ärgern, weil ihre Engel das Angesicht Gottes sehen – nämlich die zu ihrem Schutz bestellten Engel –, denn er (sei gekommen), selig zu machen, was verloren ist. Er belehrt sie über die brüderliche Zurechtweisung und die Sündenvergebung am Beispiel des Königs, der seine Knechte abrechnen läßt. 105. Und da Johannes jemandem verboten hatte, einen Teufel im Namen Jesu auszutreiben, unterrichtet er ihn, wer nicht wider sie sei, der sei für sie. 106. Gegen Ende des Monats September, als das Laubhüttenfest nahe war, 107. wollte er nicht nach Jerusalem hinaufgehen, denn auch seine Eltern und seine Brüder glauben nicht an ihn ; doch er spricht zu ihnen, daß seine Zeit noch nicht da sei und daß ihre Zeit aber allewege sei, daß die Welt sie (nicht) hassen könne, ihn aber hasse sie, denn er zeuge von ihr, daß ihre Werke böse seien, und er wolle noch nicht nach Jerusalem hinaufgehen. Als aber seine Zeit gekommen war, da ging er auch hinauf. Und er verließ Galiläa, um nach ihnen hinzugehen. 108. Da auch die Zeit seiner Himmelfahrt (das heißt seines Todes, seiner Auferstehung und Auffahrt) nahte und gekommen war, begann er, sein Angesicht stark zu machen, um nach Jerusalem zu gehen. 109. Er verließ also Galiläa und kam zu der Gegend von Judäa. 110. Und da er mitten durch Samaria ziehen wollte, ward er dort nicht angenommen, weil sie erfuhren, daß er nach Je-

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rusalem ging (und der Grund, aus dem sie ihn zurückwiesen, weil er nach Jerusalem ging, ist, daß es einen Streit zwischen den Juden und ihnen über den Ort gab, wo man anbeten müsse, da die einen behaupteten, dies müsse im Tempel zu Jerusalem geschehen, und die anderen, auf dem Berge Garizim. – Josephus, Jüdische Altertümer, 12, Kap. 1 ;5 Johannes, 4, 9) ; und die Jünger, die sich über diese Zurückweisung entrüsteten, wollten, daß Feuer vom Himmel falle, Jesus aber hielt ihren Eifer zurück. 112.6 Auf dem Wege weist er einen ab, der sein Jünger werden wollte. 113. Im Monat September, am Laubhüttenfest, war Jesus in Jerusalem. 114. Und es entstand Zwietracht unter dem Volk über seine Person. 115. Denn die einen behaupteten, daß er Prophet sei, und die anderen redeten Böses von ihm, aber nicht öffentlich, denn sie waren die kleinere Zahl. Da das Fest halb vorüber war, das heißt am vierten Tag des Festes, ging Jesus in den Tempel und lehrte öffentlich, und er klagt, daß man ihn töten wolle ; die Juden sagen, daß er den Teufel habe, und suchen, wie sie ihn greifen können, aber sie wagten es nicht. Die Pharisäer sandten Leute aus, daß sie ihn geschickt griffen, doch sie konnten sich nicht dazu entschließen. Aber am letzten Tage des Festes, der am herrlichsten war (der nicht der siebente, sondern der achte Tag ist), versammelte sich das ganze Volk, um zurückzukehren : »Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke.« (Um ihnen gleichsam die WegFlavius Josephus : Jüdische Altertümer. Wiesbaden 2002, S. 30 : »… da die Jerusalemer ihren Tempel als Heiligtum betrachtet [sic] und die Opfer dorthin geschickt wissen wollten, die Samariter aber dasselbe für den auf dem Berge Garizin gelegenen Tempel forderten« bzw. Jewish antiquities, books XII – XIV [griech./engl.]. Cambridge, Mass. 1963 ( Josephus. 7), S. 6/7. 6 111 fehlt bei Pascal. 5

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zehrung zu geben.) Und das Volk war geteilt, die einen waren für ihn, die anderen gegen ihn. Und als jene, welche die Pharisäer gesandt hatten, ihn so kraftvoll reden hörten, konnten sie sich nicht entschließen, ihn zu greifen, und den Pharisäern, die sich über sie beklagten, sagten sie, um sich zu entschuldigen : »Noch nie hat ein Mensch so geredet wie dieser.« Und die Pharisäer sagten ihnen, weil sie versuchten, ihnen diesen Glauben zu nehmen, daß seine Rede zwar das Volk verführen könne, daß aber keiner von den Pharisäern und Gelehrten an ihn geglaubt [hätte] und sie sich deshalb nicht der Einfalt eines unwissenden Volkes anschließen sollten. Und daß man in der ganzen Schrift nicht fi nden würde, daß ein Prophet aus Galiläa hervorgehen solle. 116. Am Abend zog er sich auf den Berg zurück, und da er am nächsten Morgen in den Tempel kam, entließ er die Frau, die beim Ehebruch ergriffen war, ohne sie zu verdammen, indem er mit dem Finger auf die Erde schrieb und sagte : »Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.« Hierauf sagte er bei der Schatzkammer im Tempel, daß er das Licht der Welt sei, und noch andere Dinge mehr. Aber niemand griff ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen, obgleich er sie über alle Maßen aufbrachte, indem er ihnen sagte, sie seien Kinder des Teufels und nicht Abrahams, Abraham hätte vor Sehnsucht gezittert, daß er ihn sehen sollte : So hoben sie denn in ihrem Zorn schließlich Steine auf, um nach ihm zu werfen. Er aber ging zum Tempel hinaus und verbarg sich. 117. Da er vorüberging, heilte er einen, der blind geboren war ; die Pharisäer befragten jenen, an dem das Wunder getan war, und da sie sahen, daß er hartnäckig dabei blieb, die Wahrheit zu bekennen, stießen sie ihn aus dem Tempel. Und Jesus nimmt ihn auf und fragt ihn, ob er an den Sohn Gottes glaube, und er erklärt ihm, daß er es sei und daß er gekommen sei, damit die Blinden sehend werden, das heißt diejenigen, die ihre Blindheit erkennen, Und damit die Sehenden blind werden, das heißt diejenigen, die nicht glauben, daß sie blind sind.

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118. Er lehrt sie noch mancherlei anderes durch das Gleichnis vom guten Hirten, vom Mietling und von seinen wahren Schafen. 119. In jenen Zeiten setzte Jesus zweiundsiebzig Jünger ein, die er vor sich her in alle Orte sandte, wohin er gehen wollte, und er lehrte sie beinahe das gleiche wie vorher die Apostel. 120. Bei ihrer Rückkehr, während sein Geist sich hoch erhebt, dankt er Gott, daß er diese Dinge den Weisen der Welt verborgen und den Unmündigen offenbart habe. 121. Dann versucht ihn ein Schriftgelehrter, und er unterrichtet ihn durch die Geschichte vom guten Samariter, wer sein wahrhaftiger Nächster ist. 122. Und auf seiner Reise kam er nach Bethanien, wo er die Ruhe Marias, die sich zu seinen Füßen gesetzt hatte, dem Eifer Marthas vorzieht, die sich viel zu schaffen machte, ihm zu dienen, und er sagt, daß Maria das bessere Teil erwählt habe. Und daß eins not sei. 123. In dieser Zeit lehrt er die Seinen. Und er streitet mit den Pharisäern über verschiedenes, was an anderer Stelle gesagt ist. Und er lehnt es ab, das Erbe zwischen zwei Brüdern zu teilen. Und er sagt : »O ihr Menschen ? Wer hat mich zum Richter oder Erbteiler über euch gesetzt ?« Und er gibt ihnen mehrere Weisungen, die ebenfalls bei anderen Gelegenheiten mitgeteilt werden. 124. Zu der Zeit bringt man ihm die Nachricht von den Galiläern, die Pilatus getötet hatte. Aus diesem Anlaß ermahnt er alle zur Buße, indem er ihnen das Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum vorträgt. Hierauf heilt er die Frau, die seit achtzehn Jahren krumm war. Er trägt ihnen das Gleichnis vom Senfkorn und das vom Sauerteig vor, das an anderer Stelle mitgeteilt wird. Und hierauf ging er durch Städte und Dörfer. Man fragte ihn nach der Zahl jener, die gerettet werden. Er ermahnt sie, durch die enge Pforte hineinzugehen, wenn diese nämlich einmal verschlossen sei, werde man vergebens anklopfen. 125. An demselben Tage, da man ihn warnt, er solle sich vor Herodes hüten, antwortet er : »Saget diesem Fuchs, daß

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mein Ende nahe ist.« Und dieser Löwe aus dem Stamm Juda ließ jenem Fuchs ausrichten, daß er kühn nach Jerusalem hinaufziehe. Hierauf beklagt er sich über Jerusalem mit den Worten : »Jerusalem, Jerusalem, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, und du hast nicht gewollt ?« Doch ungeachtet ihres Widerstandes tat er es, als er es wollte. 126. Da er an einem Sabbat bei einem Pharisäer zum Essen geladen war, heilte er einen Wassersüchtigen, und durch einen Vergleich zeigte er, daß dies erlaubt ist. Er lehrt die Demut. Und daß man die Armen und nicht die Reichen zum Mahl laden müsse. 127. Er setzte dann das Gleichnis vom Abendessen hinzu, dessen Geladene sich unter drei verschiedenen Vorwänden entschuldigten. Und zu dem alle möglichen Leute gerufen wurden. Und das Gleichnis vom Turm und verschiedene andere Dinge, die zum größten Teil auch bei anderen Gelegenheiten mitgeteilt werden. 128. Da die Pharisäer murrten, daß er die Sünder annahm, überzeugt er sie mit drei Gleichnissen : vom verlorenen Schaf, vom verlorenen Groschen und vom verlorenen Sohn. 129. Hierauf trägt er ihnen das Gleichnis vom Haushalter vor, der bei seinem Herrn verklagt ward, das vom bösen Reichen und weitere Dinge, die bei anderen Gelegenheiten mitgeteilt werden. 130. Dann sagt er seinen Aposteln, es sei notwendig, daß die Ärgernisse kommen. Sie bitten ihn, daß er ihnen den Glauben stärke. Er sagt, wer Glauben habe wie ein Senfkorn, der könne Wunder tun …, daß wir alle unnütze Knechte seien, usw. 131. Im Monat Dezember, im Winter, als er zum Tempelweihfest in Jerusalem in der Halle Salomos ist, wird er gefragt, ob er Christus sei, und da sie mit seiner Antwort nicht zufrieden waren, wollen sie ihn steinigen. Er fragt, für welches von den guten Werken, die er getan habe, man ihn steinigen wolle. Er entging ihnen aus ihren Händen und zog über den Jordan, und er blieb einige Zeit an demselben Ort, wo Johannes getauft hatte.

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132. Da er jenseits des Jordan ist, 133. Kommen die Juden in Scharen zu ihm. Er belehrt sie über die Unauflöslichkeit der Ehe, 134. über die Scheidung, über jene, die um des Himmelreichs willen verschnitten sind. 135. Er verbietet, die Kinder von ihm zu entfernen, nimmt sie in seine Arme und küßt sie. 136. Und da er von dort fortging, fragte ein vornehmer Jüngling, was er tun müsse, um das ewige Leben zu haben, und er kehrte traurig zurück, weil er den Rat erhalten hatte, seinen ganzen Besitz zu verkaufen und den Armen zu geben. 137. Aus diesem Anlaß erklärt er, wie schwer es sei, daß ein Reicher gerettet werde. Und mit einem Ausruf verwundert er sich über diese Schwierigkeit. 138. Und sagt, welche Belohnung jenen zuteil werde, die alles um seinetwillen verlassen haben. 139. Hierauf lehrt er, daß viele die Letzten sein werden, welche die Ersten seien. Und umgekehrt, 140. was er mit dem Gleichnis von den Arbeitern bekräftigt, die zu verschiedenen Stunden gemietet wurden. 141. Als er sich dann an der Grenze Judäas befi ndet, erfährt er, daß Lazarus krank ist, und nachdem er es erfahren hat, bleibt er zwei Tage, ohne aufzubrechen. Darauf zog er nach Bethanien, wo er fand, daß Lazarus seit vier Tagen tot war. Er weint und fordert von Martha, daß sie ihn als Sohn Gottes anerkennt. Er betet und weckt Lazarus, der schon stank, von den Toten auf. Da dieses Wunder viele zum Glauben bekehrt hatte, weil Lazarus ein bekannter und geachteter Mann war und Bethanien nahe bei Jerusalem lag, fürchten ihn die Pharisäer. Und da der Haß, den sie auf ihn hatten, noch stärker ward, weil sie sahen, daß das Volk ihm wegen seiner Wunder nachfolgte, beschlossen sie, ihn zu greifen und zu töten. Kaiphas selbst weissagt, weil er Hoherpriester war, daß es ratsam sei, daß er für das Volk sterbe. Und Jesus zog sich nach Ephrem zurück. 142. Da das Osterfest nahte, machte Jesus sich auf den Weg, um nach Jerusalem zu gehen. Unterwegs begegnet er zehn aus-

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sätzigen Männern, von denen einer ein Samariter war. Er heilt sie alle, und allein der Samariter dankt ihm. 143. Unterwegs rief er die Zwölf zu sich und sagte ihnen, daß er verspottet, angespieen, gegeißelt und gekreuzigt werde, daß er sterben und am dritten Tage wieder auferstehen werde. 144. Sie aber verstanden diese Rede nicht. 145. Im Gegenteil : Da die Söhne des Zebedäus hieraus erkannt hatten, daß sein Reich nahe war, baten sie durch ihre Mutter, daß sie in seinem Reich sitzen dürften, einer zu seiner Rechten und der andere zu seiner Linken. 146. Da die zehn anderen über diesen ehrgeizigen Wunsch unwillig wurden, ruft Jesus sie alle zu sich und sagt ihnen, wer groß werden wolle unter ihnen, der solle der Geringste sein. 147. Da er nahe an (Jericho) kam, gab er einem Blinden das Augenlicht wieder. 148. Nach jenen Reden ziehen sie in Jericho ein. 149. Als er durch die Stadt ging, begehrte Zachäus, ihn zu sehen, und er stieg auf einen Maulbeerbaum, denn er war zu klein. Jesus ruft ihn und wird in dessen Haus mit Freuden aufgenommen, und Jesus belehrt ihn mit dem Gleichnis von den zehn Pfunden, die zehn Knechten gegeben werden, usw. 150. Er zog fort aus Jericho, und da er ging, heilte er zwei Blinde, deren einer Bartimäus hieß. 151. Am 9. März, sechs Tage vor Ostern, kam Jesus nach Bethanien, wo er in Simons, des Aussätzigen, Hause zu Tische saß und wo Maria ihn mit ihrem Salböl salbte, und als die Jünger darüber murren, werden sie getadelt, und der erzürnte Judas beschloß, ihn den Pharisäern zu überantworten. 152. Und die Hohenpriester beschlossen nun, ihn und auch Lazarus zu töten, denn um seinetwillen folgten viele Jesus nach. 153. Des andern Tages, nämlich am Sonntag, dem 10. März, an dem man das für das Opfer bestimmte Osterlamm auswählte und zur Opferstätte führte, wo man es bis zum 14. März bewahrte, wollte Jesus, das wahrhaftige Lamm Gottes, das für

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die Sünden der Welt geopfert werden mußte, und die wahrhaftige Erfüllung dieses Vorbildes im Gesetz, sich noch an demselben Tage nach Jerusalem begeben, das der für seine Opferung bestimmte Ort war, um bis zum 14. März dort zu bleiben, dem Tage, da er geopfert werden sollte. Und als er dort hinging, kam er durch Bethphage am Ölberg, von wo er ausschickte, um ein Eselsfüllen und eine Eselin zu holen. 154. Seine Jünger verstehen seine Absicht nicht. 155. Und da Jesus sich auf die Eselin gesetzt hatte, breitete das ganze Volk Kleider und Palmenzweige auf den Weg und schrie : »Hosianna ?« Unter diesen öffentlichen Zurufen zieht er über den Ölberg. 156. Und die Pharisäer, die diese allgemeine Freude aufbrachte, deren sie nicht Herr werden konnten, baten Jesus, ihnen Einhalt zu gebieten. Er aber sagte ihnen : »Wenn diese schweigen werden, dann werden die Steine schreien.« 157. Da die Pharisäer jene Zurufe nicht verhindern konnten, waren sie äußerst besorgt. 158. Unterdessen nähert Jesus sich Jerusalem in diesem feierlichen Aufzug, und als er nahe hinzukam, weinte er über die Stadt, weil sie nicht die Zeit ihrer Heimsuchung und der Dinge, die zu ihrem Frieden dienten, erkannt hatte. Und er sagte ihre Zerstörung, nämlich durch Titus und Vespasian, voraus. 159. Schließlich zieht er in Jerusalem ein. 160. Unterdessen wollen die Heiden ihn sehen und bitten die Apostel inständig darum. Er gibt ihnen verschiedene Weisungen, die bei anderen Gelegenheiten mitgeteilt werden. Und auf sein Gebet hin kommt eine Stimme vom Himmel und sagt : »Ich habe ihn verklärt und will ihn abermals verklären.« Jesus sprach, er sei nicht um seinetwillen, sondern um ihretwillen gekommen. Jesus sagt seinen Tod voraus und ermahnt sie zu wandeln, solange sie das Licht haben. Und trotz all dieser Zeichen glaubten sie doch nicht an ihn. Von den Obersten selbst glaubten indes viele an ihn. Sie aber fürchteten sich und hatten lieber die Ehre bei den Menschen als die Ehre bei Gott.

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161. Und als der Abend gekommen war, ließ Jesus sie da und ging mit den Aposteln nach Bethanien. 162. Des andern Tages, am Montag, dem 11. März, ging Jesus in die Stadt, und da ihn unterwegs hungerte, suchte er Feigen an einem Feigenbaum, und er fand keine daran, denn es war nicht die Zeit für Feigen, und er verfluchte ihn. 163. Er kam in die Stadt und ging in den Tempel, aus dem er die Verkäufer trieb. 164. Und er heilt die Blinden und Lahmen und antwortet auf das Murren der Schriftgelehrten. 165. Und da der Abend gekommen war, zog er sich nach Bethanien zurück. 166. Des andern Tages, am Dienstag, dem 12. März, gehen die Apostel am Morgen wieder an dem Feigenbaum vorüber, und mit Erstaunen sehen sie, daß er verdorrt ist. Davon ausgehend lehrt er sie die Kraft des Glaubens an Gott. 167. Und da er in den Tempel gekommen war, ward er gefragt, woher er seine Macht habe ; und hierauf antwortet er mit einer anderen Frage, nämlich, woher Johannes seine Macht hätte. 168. Dann erzählte er das Gleichnis von den zwei Söhnen, die von ihrem Vater ein Gebot erhalten hatten. 169. Hierauf erzählte er das Gleichnis von den Weingärtnern, die den Erben des Weinbergs töteten. 170. Danach bringt er ihnen den Vergleich mit dem Eckstein. 171. Da all diese Gleichnisse ihnen zu verstehen gaben, daß er gegen sie sprach und ihnen die Übertragung des Reiches Gottes 7 voraussagte, wurden sie zornig und wagten es gleichwohl nicht, Hand an ihn zu legen. 172. Und Jesus redete weiter in Gleichnissen, indem er ihnen das vom Hochzeitsmahl vortrug, dessen Gäste sich mit drei verschiedenen Vorwänden entschuldigen, die an anderer

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Das heißt : die Übertragung des Reiches Gottes an die Heiden.

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Stelle mitgeteilt werden. Doch dem fügt er den besonderen Umstand hinzu, daß jemand kein hochzeitliches Kleid anhatte. 173. Da die Schriftgelehrten und Pharisäer richtig urteilen, daß sie ihn bei der Auslegung der Schriften nicht fangen könnten, versuchen sie ihn auf dem Gebiet der Politik, weil sie ihn der Gewalt des Landpflegers überantworten wollen. 174. Daher befragten sie ihn über die Steuern, die man dem Kaiser schuldete. Er aber verwirrt sie mit seiner Antwort, und infolgedessen wollten die Sadduzäer ihn auch noch bei der Religion versuchen, und sie legen ihm eine Streitfrage vor, die sich für die Ehen bei der Auferstehung ergebe, und da diese leicht zu lösen war, legt er selbst ihnen eine andere vor, nämlich, ob Christus der Sohn Davids sei, und er offenbart die verborgenen Laster der Schriftgelehrten. 175. Und von dem Tage an wagte denn auch niemand mehr, ihn zu fragen. 176. Dennoch gebietet er, auf die Schriftgelehrten zu hören, so böse sie auch sein mögen, weil sie auf Moses’ Stuhl sitzen. Er verbietet allen, sich Meister nennen zu lassen, und verbietet auch, irgend jemanden Vater zu nennen, und er richtet acht Verwünschungen gegen sie. 177. Als er nach dieser Rede dem Gotteskasten gegenüber saß, gibt er dem Almosen der Witwe den Vorzug vor dem der Reichen. 178. Da die Jünger aus dem Tempel gingen, bewundern sie dessen Bau, er aber sagt dessen Untergang voraus. 179. Und da er auf den Ölberg gekommen war, setzte er sich dem Tempel gegenüber. Da befragen die Jünger ihn über die Zeichen seiner letzten Ankunft. Er erklärt es ihnen ausführlich und ermahnt alle, zu wachen und zu beten. Er lehrt sie, um jene Übel fernzuhalten, müsse man allezeit beten, und er bekräftigt dieses Gebot mit dem Beispiel vom ungerechten Richter, dem die Witwe beschwerlich fällt, und man müsse demütig und mit einem wahrhaftigen Gefühl für seine Not beten, was er mit dem Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner bekräftigt,

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180. Und auch mit dem Gleichnis von den zehn Jungfrauen und mit dem von den Pfunden, die, damit sie Gewinn brächten, den Knechten gegeben wurden. Und er beendet diese Rede, indem er die Form des Jüngsten Gerichts erklärt. 181. Er verbringt die ganze Nacht auf dem Ölberg. 182. Am Mittwoch, dem 13. März, erinnert er sie am Morgen, daß das Osterfest zwei Tage danach gefeiert werden müsse, nämlich dem Gesetz entsprechend in der Nacht zwischen Donnerstag und Freitag, zwischen dem 14. und dem 15. März. 183. An demselben Tag fuhr der Satan in Judas Ischariot, und er ging hin zu den Hohenpriestern, die mit allen Mitteln versuchten, Jesus zu fangen, und er vereinbarte mit ihnen, daß er ihn überantwortete. 184. Am Donnerstag, dem 14. März, am ersten Tag der Ungesäuerten Brote, an welchem man das Osterlamm opfern mußte, usw. Und an welchem Jesus das Osterlamm aß, um dem Gesetz zu gehorchen, und sein Ostern einsetzte, um das Gesetz zu erfüllen, und selbst geopfert und dargebracht wurde (nämlich in der Nacht zwischen Donnerstag und Freitag), sendet er zwei seiner Jünger, um ihm das Osterfest zu bereiten, und als Zeichen für den Ort, wohin er gehen müsse, nennt er einen Mann, der einen Wasserkrug trage. 185. Am Abend, da die Stunde gekommen war, 186. aß Jesus das Osterlamm mit seinen Jüngern. 187. Er erklärt ihnen, es habe ihn herzlich verlangt, dieses Osterlamm mit ihnen zu essen. 188. Nach dem Essen wäscht er ihnen die Füße, was Petrus zunächst zurückweist und dann annimmt. 189. Hierauf setzt er das Sakrament seines Leibs und seines Bluts ein, und er überträgt es ihnen und sagt, daß er nicht mehr davon trinken werde bis an den Tag, da er es neu trinken werde im Reich Gottes. 190. Dann ward er betrübt im Geist. 191. Und er sagte voraus, daß Judas ihn verraten werde.

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192. Und daß es demselben Menschen besser wäre, daß er nie geboren wäre. Johannes liegt an der Brust Jesu. 193. Judas fragt, ob er von ihm spreche. Jesus bestätigt es. 194. Und nachdem Judas den eingetauchten Bissen genommen hatte, fuhr der Teufel in ihn. Dieser Bissen war nicht der Leib des Herrn, denn er hatte ihn ja schon empfangen. (Augustinus, Tract. 62.8 Conc. Bracarens. tertium. c. I .9) Und Jesus sprach zu ihm : »Was du tun mußt, das tue bald.« (Wobei er es nicht gebot, sondern gestattete, so wie er zu den Juden gesagt hatte : »Brecht diesen Tempel ab, und ich will ihn wieder aufrichten.« Und wie Elisa zu jenen sagte, die hartnäckig darauf bestanden, nach Elia suchen zu lassen : »Laßt hingehen.« Und wie der zum Sterben bereite Cyprian sagte : »Tue schnell, was dir befohlen ist.« Denn Jesus gab den Absichten des Judas nach, damit er es tun könnte, doch er bewirkte nicht, daß er es wollte.) 195. Judas geht hinaus, und Jesus sagt sogleich, daß er jetzt verherrlicht und Gott in ihm sei und daß Gott ihn auch weiter verherrlichen werde. 196. Und er gab ihnen das neue Gebot, einander zu lieben, als Kennzeichen und Siegel des Christentums. 197. Dann sagt er ihnen voraus, daß sie in dieser Nacht sich alle an ihm ärgern werden, daß er aber auferstehe und vor ihnen hingehe nach Galiläa.

Augustinus : In Ioannis evangelium tractatus CXXIV 6, 15. 3. Synode von Braga, 675 [auch als 4. gezählt], vgl. Hermann Th. Bruns : Canones apostolorum et conciliorum veterum selecti. Bd. 2. Berlin 1839, S. 98. M ansi 11, 154 f. In dem Kapitel heißt es »Nam intinctum panem aliis Christum praebuisse non legimus, excepto illi tantum discipulo quem intincta buccella magistri proditorem ostenderet, non quae sacramenti hujus institutionem signaret«. Die Angabe bei Pascal stammt aus dem Tetrateuchus des Jansenius, vgl. J. Mesnar d, OC 3, S. 286. Lafum a zitiert »Cant. 1«, Mesnar d OC 3, S. 286 und Le Guern OC 2, S. 68, »Can.« ; die Konzilsakten enthalten aber keine Canones, sondern Kapitel. 8

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198. Aus diesem Grund zanken sie untereinander, welcher für den Größten gehalten werden solle (vielleicht, weil sie, wie auch kurz zuvor, glauben, daß sein Reich nahe herbeigekommen sei). 199. Jesus tadelt sie und sagt ihnen, daß der Größte wie der Geringste sein solle. 200. Und dennoch gibt er Petrus den Vorzug (vielleicht, weil er nicht zu jenen gehört, die nach dem Vorrang strebten) und wendet sich an ihn mit den Worten : »Simon, Simon, siehe, der Satanas hat verlangt, daß er euch sieben darf wie Weizen, ich aber habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhört.« Damit wollte er ihm zu verstehen geben, daß sein Beharren im Glauben eine Gabe Gottes und nicht eine reine Wirkung seiner eigenen Kraft sei.10 201. Petrus aber, den Gefühle erfüllten, wie die Natur sie eingibt, und der noch nicht den Heiligen Geist empfangen hatte, sagte zu ihm, wobei er sich auf seine eigenen Kräfte verließ, selbst wenn die anderen von ihm gehen, er werde ihm überallhin nachfolgen. Jesus aber sagte ihm voraus, daß er ihn dreimal verleugnen werde. Und hierauf gebietet er ihnen, Beutel und Schwerter zu tragen, und dann sagt er noch einmal seinen Tod voraus. 202. Petrus und die anderen halten ihm beharrlich die Treue. 203. Zum Abschied bereit, tröstet und stärkt Jesus schließlich ein letztes Mal seine Apostel, er enthüllt ihnen große Mysterien : die Ankunft des Trösters, des Heiligen Geistes. Und seinen Sieg über den Fürsten dieser Welt. Dies geschieht in der ausführlichen Rede, die er bei seinem Abschied hielt. 204. Er krönt diesen Abschied durch dieses herrliche Gebet, das er an Gott richtet, um sie seiner Vorsehung zu empfehlen, wenn er nicht mehr in der Welt sein werde. Und er bittet

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Vgl. unten die »Schriften über die Gnade«.

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nicht allein für sie, sondern auch für all jene, die an das Evangelium glauben sollen. Und er bittet nicht für die Welt. 205. Er geht aus dem Haus, weil er sich zum Ölberg begeben will, und da er den Bach Kidron überquert hatte, 206. Kam er in den Garten Gethsemane, 207. und er ließ seine Jünger zurück und ging auf den Ölberg, wie er es gewöhnlich tat. 208. Er nimmt Petrus, Jakobus und Johannes mit sich, und da er trauert, spricht er zu ihnen, seine Seele sei betrübt bis an den Tod. 209. Er entfernt sich ein wenig von ihnen, 210. etwa einen Steinwurf weit. 211. Er betet. 212. Mit dem Angesicht auf der Erde. 213. Dreimal. 214. Jedesmal kommt er zu seinen Jüngern und fi ndet sie schlafend. 215. Der Engel stärkt ihn (da seine menschliche Natur in einen Zustand verfallen war, dem jeder göttliche wie menschliche Trost fehlte). Und da er mit dem Tode ringt, wird sein Schweiß wie Blutstropfen.11 216. Judas und seine Schar nahen sich. 217. Jesus läßt sie mit einem Wort alle zu Boden fallen. 218. Judas küßt ihn, und Jesus liefert sich aus. Petrus schlägt dem Malchus ein Ohr ab. Jesus tadelt ihn deshalb, 219. Und er heilt den Malchus. 220. Als Jesus sich ausliefert, bittet er, daß man die Seinen gehen lasse. 221. Jesus wird abgeführt, und die Jünger fl iehen. Und einen Jüngling, der ihm nachfolgte und mit Leinwand auf der bloßen Haut bekleidet war, will man greifen. Er läßt die Leinwand fahren und entfl ieht nackt.

Vgl. zu solchen Stellen etwa das »Mysterium Jesu«, Laf. 919 und das »Gebet um den rechten Gebrauch der Krankheiten« Nr. XII . 11

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222. Jesus wird zuerst zu Hannas geführt. 223. Dann zu Kaiphas, und Petrus folgte ihm von weitem. 224. Und Johannes folgte ihm auch, und da er dem Hohenpriester bekannt war, konnte er ohne Schwierigkeit hineingehen, und er führte auch Petrus hinein. 225. So kommt Petrus denn hinein und wärmt sich, da es kalt war. 226. Jesus wird über seine Lehre und über seine Jünger befragt. 227. Er bekommt einen Backenstreich und beklagt sich darüber. 228. Die Hohenpriester halten unterdessen Rat und suchen falsches Zeugnis gegen Jesus. 229. Jesus antwortet nichts auf ihre falschen Zeugenaussagen. 230. Da diese Zeugnisse nicht ausreichten und auch nicht übereinstimmten, beraten die Hohenpriester und Kaiphas … die ganze Nacht, und sie beschlossen, ihn zu dem Geständnis zu bringen, ob er sich selbst Christus nenne, damit sie ihn auf Grund seiner eigenen Reden verurteilen könnten. 231. Während sich diese Dinge im Rat ereigneten, saß Petrus draußen im Hof, wo er bei dem Licht des Feuers von den Knechten und Mägden erkannt ward, und er verleugnete Jesus mit lauter Stimme. 232. Alsbald kräht der Hahn, und Petrus geht hinaus und weint bitterlich, 233. nachdem Jesus ihn angesehen hatte (und zwar in seinem Innern, denn Jesus und Petrus befanden sich an verschiedenen Orten, von wo sie einander nicht sehen konnten. Ambr.12) 234. Unterdessen schmähen und verspotten ihn die Kriegsknechte. Der Hinweis ist dem Tetrateuchus des Jansenius entnommen. Dort Verweisung : A mbrosius, lib. 10 in Lucam (vgl. OC 3 [Mesnar d], S. 292). 12

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235. Am Freitag, dem 15. März, am Morgen, lassen Kaiphas und die anderen, wie es ihrem Beschluß entsprach, ihn vor den Rat bringen, und sie fragen ihn, ob er Christus sei ; Jesus bekennt es, und man urteilt, daß er den Tod verdient habe. 236. Und dann ward er von den Kriegsknechten angespieen, verspottet, ins Angesicht geschlagen und verhöhnt. 237. So wird er gebunden vor den Landpfleger Pilatus geführt. 238. Da Judas sieht, daß er zum Tode verurteilt ist, wirft er voller Reue sein Geld hin, mit dem man den Töpfersacker als Begräbnisplatz für die Fremden kaufte ; und Judas erhängte sich. 239. Pilatus fragt die Juden, was für eine Anklage sie gegen Jesus vorbringen. Die Hohenpriester, die sich zu Richtern über ihn gemacht hatten, wollten sich nicht zu Klägern gegen ihn machen. Und Pilatus wollte ihn nicht ohne Sachkenntnis verurteilen. 240. Schließlich wurden sie gezwungen, ihn anzuklagen, und sie beschuldigen ihn mehrerer Verbrechen, wie etwa, daß er das Volk aufwiegeln wollte und sich selbst König genannt habe. 241. Als Pilatus ihn daraufhin fragt, ob er König sei, bekennt er es. 242. Er sagt aber, sein Reich sei nicht von dieser Welt. 243. Als Pilatus sieht, daß dessen Anspruch nicht im Gegensatz zur weltlichen Macht oder zur Autorität des Kaisers steht, sagt er, daß er keine Schuld an ihm fi nde. 244. Da die Juden, die seinen Tod wollten, sahen, daß diese erste Anklage nicht ausreichte, fügten sie ihr andere hinzu, was ordnungs- und formwidrig war und eher einem Zustand des Aufruhrs als dem einer vorschriftsmäßigen Rechtsprechung angehörte. Jesus aber antwortete nichts mehr darauf. 245. Und Pilatus wunderte sich über dessen Zurückhaltung. 246. Schließlich klagen sie ihn weiter unnachgiebig an, daß er das Volk aufwiegeln wollte, und um ihre Anklage mit einem wahrscheinlichen Begleitumstand abzusichern, sagen sie,

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er habe in Galiläa angefangen, woran Pilatus erkannte, daß er unter des Herodes Obrigkeit gehörte, und da dieser in den Tagen zu Jerusalem war, entledigt er sich seiner und sendet ihn zu Herodes. Dieser empfängt ihn mit Freuden, denn er hätte ihn längst gern gesehen und gehört, damit er sähe, wie er ein Zeichen täte ; Jesus antwortete aber nichts, und Herodes verachtete ihn, legte ihm ein weißes Kleid an und sandte ihn zurück, um ihn lächerlich zu machen. Und Herodes und Pilatus wurden Freunde : Der zeitliche Grund hierfür ist, daß sie sich bei dieser Gelegenheit einen Beweis der Höflichkeit und Ehrerbietung gegeben hatten, doch der mystische Grund hierfür ist, daß Jesus in seiner Person die beiden Völker, das jüdische und das heidnische, versöhnen mußte, indem er in seiner Person durch sein Kreuz die Feindschaften tötete, und als Zeichen für diesen Frieden während seiner Leiden diese beiden in Freundschaft versöhnen wollte. 247. Da Pilatus sah, daß Herodes ihn nicht verurteilt hatte, sagte er zu den Juden, daß auch er ihn nicht verurteilen und ihn nach einer leichten Züchtigung freilassen werde. 248. Und da das Volk hartnäckig seinen Tod forderte, versuchte er ein anderes Mittel, um ihn freizugeben, indem er ihnen vorschlug, nach der Gewohnheit einen Gefangenen zum Osterfest loszulassen. Und zu diesem Zweck ließ er ihnen die Wahl zwischen Jesus und Barabbas, einem Mörder, wobei er hoffte, daß sie Jesus vorziehen würden. 249. Die Hohenpriester, die fürchten, daß diese List gelingt, bitten nachdrücklich um Barabbas. 250. (Unterdessen sitzt Pilatus auf dem Richterstuhl, und seine Frau bittet ihn, die Hände von dieser Sache zu lassen.) 251. So fordert denn das ganze Volk mit einer Stimme die Freilassung des Barabbas. Und den Tod Jesu. 252. Da Pilatus seine Absicht, Jesus freizugeben, nicht durchsetzen konnte, ließ er ihn geißeln, um ihn zum Gegenstand des Mitleids zu machen. 253. Da er also den Kriegsknechten überantwortet war, zogen sie ihn aus, legten ihm einen Purpurmantel an, floch-

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ten ihm eine Dornenkrone und gaben ihm ein Rohr in seine Hand. 254. In diesem Zustand stellt Pilatus ihn dem Volk dar, um es zu rühren. 255. Sie aber klagen ihn aus falscher Frömmigkeit und wegen der eifrigen Bitten der Priester immer mehr an und sagen dem Pilatus, Jesus habe sich selbst zu Gottes Sohn gemacht und verdiene darum den Tod. Als Pilatus ihn über diese Sache befragte, gibt Jesus keine Antwort. Pilatus sagt ihm, er habe Macht, ihn leben oder sterben zu lassen, und mit diesem Hinweis drängt er Jesus, ihm zu antworten. Jesus sagt ihm, er habe diese Macht von oben. Da Pilatus keine Schuld an ihm fi nden kann, bemüht er sich mehr denn je, ihn freizugeben. 256. Er ging dreimal hinaus zu den Juden, um das Volk zu beruhigen, weil er deutlich sah, daß sie ihn aus Neid überantwortet hatten. Aber es war vergeblich. 257. Pilatus konnte sich dennoch nicht entschließen, ihn auf Grund ihrer Anklagen zu verurteilen. Und (da sie sahen), daß das Interesse der Religion, das sie anstachelte und das den Priestern wichtig war, Pilatus nicht berührte und ihn nicht zu einer derartigen Ungerechtigkeit veranlaßt hätte, stachelten sie ihn mit seinem eigenen Interesse an und sagten ihm, er könne dem Zorn des Kaisers nicht entgehen, wenn er Jesus freilasse, denn dieser hätte den frevelhaften Versuch unternommen, sich zum König zu machen. Diese Überlegung zwang Pilatus zum Nachgeben. Und da er sich auf den Richterstuhl gesetzt hatte, bemühte er sich gleichwohl noch einmal, ihn freizugeben. Doch das Volk hielt ihm weiter vor, daß es keinen anderen König als den Kaiser anerkenne. 258. Und da die Stimme des Volkes immer lauter ward, um dessen Tod zu fordern, 259. nahm Pilatus Wasser und wusch sich die Hände vom Blut dieses Gerechten. Das Volk verlangt, daß dessen Blut über sie und über ihre Kinder komme. 260. Pilatus richtet ihn daraufhin, um das Volk für sich einzunehmen, und er überantwortet ihn, daß er gekreuzigt würde.

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261. So nahmen sie denn Jesus und führten ihn beladen mit seinem Kreuz vor die Stadt. 262. Da sie draußen vor der Stadt waren, trafen sie einen Mann aus Kyrene mit Namen Simon, den zwangen sie, daß er ihm sein Kreuz trug. 263. Es folgte ihm ein großer Haufe Volks und Weiber, die ihn beweinten, zu denen sprach er, sie sollten über sich selbst weinen, und er sagte ihnen all das Unglück voraus, das hereinbrechen würde. 264. Und als sie an die Schädelstätte kamen, gaben sie ihm Essig zu trinken, 265. Mit Galle vermischt ; und als er es schmeckte, wollte er nicht trinken. 266. Am Mittag oder, nach der Zeiteinteilung der Juden, um die sechste Stunde heftet man ihn ans Kreuz. 267. Während man ihm Füße und Hände durchbohrt, bittet er für seine Henker. 268. Unterdessen, von Mittag bis drei Uhr, ward eine Finsternis über das ganze Land. 269. Auf sein Kreuz setzt man den Rechtsgrund für seine Verurteilung : J. N. R. J. 270. Da Pilatus dies geschrieben hatte, wollte er es nicht ändern. 271. Um seine Schmach zu vergrößern, kreuzigte man mit ihm zwei Räuber, einen zu seiner Rechten und einen zur Linken. 272. Die Kriegsknechte teilen seine Kleider und werfen das Los darum. 273. Sie machten vier Teile daraus, einem jeglichen Kriegsknecht ein Teil, und weil der Rock ungenäht war, zerteilten sie ihn nicht, sondern losten darum. 274. Das Volk und selbst die Obersten, die ihn ansahen, und auch die Kriegsknechte verspotteten ihn in seinem Todeskampf. 275. Ebenso die Vorübergehenden und der Hohepriester, 276. Wie auch die zwei mit ihm gekreuzigten Räuber, sie alle schmähten ihn.

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277. Einer von den beiden Räubern aber bekehrt sich plötzlich, während der andere weiter Jesus lästert, und er tadelt den anderen, bekennt sich zu Jesus und bittet diesen, an ihn zu denken. Und Jesus verheißt ihm, daß er noch an diesem Tage mit ihm im Paradies sein werde. 278. Er empfiehlt seine Mutter dem Jünger, den er liebhatte. 279 a. Und ungefähr um drei Uhr oder, nach der Zeiteinteilung der Hebräer, um die neunte Stunde schrie Jesus laut : »Eli, Eli, lama asabthani ?«, das ist : »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen ?« – nämlich verlassen in seiner menschlichen Natur, die ohne Trost allen ihm durch seine Henker und seine Feinde bereiteten Qualen preisgegeben war. Und er wendet sich an Gott, um nach dem Grund für dieses Verlassensein zu fragen, folglich (sieht man hieran), daß er die Sünde der Menschen in seinem unschuldigen Fleisch sühnte. Gleichwohl wird diese Sünde von den Menschen nicht richtig erkannt, und deren Greuel wird nur von Gott allein richtig erkannt. Und selbst diese Rede kann als ein Gebet verstanden werden, das Jesus an den Vater richtet, damit er des Endzwecks gedenke, um dessentwillen er ihn betrübt und verläßt, als wollte er sagen : »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen ? Du weißt, mein Gott, daß dies für das Heil der Welt geschieht, laß also die Frucht dieses Opfers dem Menschengeschlecht zuteil werden, für das du sie bestimmt hast.« Und diese Worte sind voller Hoffnung und nicht voller Verzweiflung, denn er sagt ja : »Mein Gott, mein Gott !«, nun ist Gott aber nicht ein Gott der Toten und auch nicht der Verzweifelten. 279 b. Er sagt auch : »Mich dürstet.« 280. Da machen die Kriegsknechte aus diesen Mysterien einen Spott und reichen ihm Essig. 281. Und sagen, er rufe den Elia. 282. Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er : »Alles ist vollbracht«, das heißt alles, was er in diesem Leben tun mußte. 283. Und Jesus schrie abermals

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284. Laut : »In manibus«13 usw. 285. Er neigte das Haupt 286. Und gab den Geist auf, den er in die Hände seines Vaters überantwortete, nachdem er ihn dem Vater anbefohlen hatte, und verschied, nicht aus natürlicher Notwendigkeit, sondern aus eigenem Willen, was sowohl daran zu erkennen ist, daß er es selbst gesagt hat, als auch daran, wie er gestorben ist, an seinem Schrei, der nicht natürlich sein konnte, denn jene, die vor Schwäche sterben, verlieren lange vorher ihre Stimme, und er schrie gerade in diesem Augenblick laut. Daher erkannte auch der Hauptmann ihn an diesem Zeichen als Gottes Sohn. Als er das Haupt neigte, tat er es aus eigenem Willen und im Vollbesitz seiner Kräfte, während die anderen es nach dem Tod aus Schwäche tun. Er wartete, bis alle Dinge vollbracht waren, und dann verschied er. 287. Er, den man kurz zuvor herausgefordert hatte, Wunder zu tun, tat aber solche Wunder nach seinem Tod … Denn die Sonne verfi nsterte sich. 288. Der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stücke 289. von oben bis unten. 290. Die Erde erbebte, die Gräber taten sich auf, die Leiber der Heiligen standen auf nach der Auferstehung des Herrn und kamen in die Heilige Stadt und erschienen vielen, und sie standen auf zur ewigen Herrlichkeit nach der Auferstehung des Herrn, denn er ist der Erstling von den Toten, und sie erschienen jenen, die würdig waren, verklärte Leiber zu sehen, um ihnen zu bestätigen, daß die Auferstehung des Herrn wahr ist. Und um ihnen die Hoffnung, das Unterpfand und die Gewißheit der allgemeinen Auferstehung zu geben, von der sie die Vorläufer waren und Jesus der Urheber. 291. Der Hauptmann erkennt, daß er Gottes Sohn ist, weil er ihn sterben sah und hörte, wie er mit solchem Geschrei verschied.

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»(Vater, ich befehle meinen Geist) in (deine) Hände« (Lk 23, 46).

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292. Und weil er all diese Wunder sieht, die auf Jesu Tod folgten. 293. Und alles Volk, das ihn bewacht hatte, wandte wieder um, von diesem Anblick bekehrt, und schlug sich an die Brust. 294. Unterdessen bitten die Juden wegen des Sabbats, daß man den Gekreuzigten die Knochen breche, damit man sie vor dem Sabbat sterben lasse, was man bei den Räubern tat, nicht aber bei Jesus, weil er schon gestorben war und durch seine Macht jener des Henkers zuvorgekommen war (Tert.).14 Man öffnete aber seine Seite, und es kamen Wasser und Blut heraus, da man fürchtete, daß er noch nicht ganz tot sei ; und das ist ein großes Wunder, denn aus einem Leichnam, wo man ihn auch immer öffnet, kann, der übereinstimmenden Meinung der Ärzte zufolge, kein Blut herauskommen und noch viel weniger Wasser, und dennoch, dem Evangelium und der Erklärung des Papstes Innozenz III . in seinem Dekretale de celeb. miss. zufolge, kam wirkliches Wasser heraus.15 295. Da es Abend geworden war, bittet Joseph von Arimathia den Pilatus um die Erlaubnis, den Leichnam begraben zu dürfen. 296. Pilatus verwundert sich, daß Jesus schon tot sei, und als er es von dem Hauptmann erkundet hat, 297. Bewilligt er es ihnen. 298. Sie nehmen ihn vom Kreuz ab, 299. Und nachdem sie ein reines Leinentuch gekauft hatten, salben sie den Leichnam und wickeln ihn in das Leinentuch, und sie legten ihn in ein neues Grab, in dem noch nie jemand gelegen hatte, 300. das in den Felsen gehauen war, und (sie wälzen) vor den Eingang des Grabes einen Stein, 301. einen sehr großen Stein. 302. Nikodemus brachte auch hundert Pfund Salböl. Tertullian : Apologeticus adversus gentes 21 zu Joh 19, 33. Vgl. Innozenz III . : Cum Marthae circa (1202), DH 782– 784, hier 784. 14

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303. Die Frauen sehen von ferne, was geschieht und wohin sein Leib gelegt ward. 304. Und sie bereiten Salben ; und dann ruhten sie aus, weil der Sabbat begann, wobei sie die Absicht hatten, gleich am Tag nach dem Sabbat, nämlich am Sonntag, den Leichnam zu salben. 305. Am Ostertag der Juden, nämlich am Sonnabend, dem 16. März, erbitten die Hohenpriester, die fürchten, daß die Jünger den Leichnam stehlen und zum Volk sagen, er sei auferstanden, von Pilatus, daß das Grab bewacht werde ; Pilatus bewilligt es, und sie selbst gingen hin, um das Grab zu versiegeln und Wachen aufzustellen. 306. Am Sonntag, dem 17. März, kauften Magdalena und die anderen Frauen noch mehr Salböl. 307. Und sehr früh kamen sie, um den Leichnam Jesu zu salben. 308. Und auf dem Wege sorgten sie sich, wie sie den Stein fortwälzen könnten, denn er war sehr groß. 309. Und es geschah ein großes Erdbeben, denn der Engel kam vom Himmel herab und wälzte den Stein fort und setzte sich darauf. Und die Wachen wurden, als wären sie tot. 310. Und so sahen die Frauen, als sie zum Grabe kamen, daß der Stein abgewälzt war. 311. Und der Engel sprach zu den Frauen und sagte ihnen, daß sie sich nicht fürchten sollten, das heißt, die Wachen hatten recht, seinen Anblick zu fürchten, weil es kein Verhältnis zwischen ihnen und himmlischen Geistern gibt, die Frauen aber müssen sich nicht fürchten, da sie ja ihre Mitbrüder und Mitbürger sehen ; und er sagte ihnen weiter, daß Jesus auferstanden ist ; er läßt sie eintreten, er zeigt ihnen die Stätte, wohin man ihn gelegt hatte, und er gibt ihnen den Auftrag, hinzugehen und es den Jüngern und Petrus zu verkündigen. 312. Also fi nden sie den Leib des Herrn nicht. 313. Diese Ereignisse erfüllen sie mit einer Freude, die ungewiß und mit Furcht vermischt ist. 314. Und da sie in großer Bestürzung weggingen, sahen sie zwei Engel. Dieses Gesicht verwirrt sie. Sie neigen ihr An-

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gesicht zur Erde. Die Engel sagen ihnen, daß Jesus auferstanden ist, daß er sterben und auferstehen mußte. Diese Worte lassen die Frauen jener Worte gedenken, die Jesus während seines Lebens gesagt hatte. 315. So beruhigen sie sich denn und verkündigen das alles den Aposteln, besonders dem Petrus und Johannes. 316. Dieser Bericht, den die Frauen ihnen geben, erscheint ihnen als leeres Gerede. 317. Petrus aber 318. und Johannes laufen trotzdem zum Grabe. Und Johannes kommt zuerst an. 319. Und sie sahen den Leichnam nicht. 320. Und Petrus sah hierauf die Leinenbinden und nicht den Leichnam. 321. Und Johannes ging nach Petrus hinein in das Grab. Und als Johannes gesehen hatte, daß der Leib nicht da war, glaubte er, daß Jesus von den Toten auferstanden war ; denn er wußte diese Wahrheit noch nicht durch den Glauben und durch die Schrift. Und sie gingen wieder heim. 322. Hierauf geht Maria [aus Magdala] weinend zum Grabe, und da sie sich bücken will, um in das Grab zu schauen, sieht sie zwei Engel, den einen zu Häupten und den anderen zu Füßen der Stelle, wohin man Jesus gelegt hatte ; und die Engel trösten sie, und als sie sich zurückwendet, sieht sie Jesus in der Gestalt eines Gärtners. 323. Jesus spricht zu ihr : »Rühre mich nicht an.« (Denn ich habe jetzt eine viel größere Würde als früher. Und wenn ich bald den Frauen und dir selbst erlaube, meine Füße zu berühren, so geschieht das nur, damit ihr mich anbetet. Und wenn ich meine Hände berühren lasse, so nur, um die Ungläubigen zu überzeugen.) »Gehe aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen : Ich fahre auf zu meinem Vater und zu ihrem Vater, zu meinem Gott und zu ihrem Gott.« Er sagt nicht : »zu unserem Vater und zu unserem Gott«, denn Gott ist auf andere Art der Vater und Gott Jesu Christi als der unsrige, da Jesus Christus von Natur aus sein Sohn ist, und wir sind seine Söhne durch

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Adoption ; und Gott ist sein Gott durch die Mitteilung seiner Göttlichkeit, und er ist unser Gott durch die Mitteilung seiner Gnade. 324. Und sie ging zusammen mit den anderen Frauen und verkündigte es den Aposteln, daß sie ihn als Auferstandenen gesehen hatte, während sie beim ersten Mal nur gesehen hatte, daß der Leib nicht da war. 325. Auf dem Wege begegnet ihnen Jesus. Und Magdalena war besser unterrichtet, und, ihrem Beispiel folgend, werfen sich die anderen ihm zu Füßen und beten ihn an. Er gebietet ihnen, hinzugehen und seinen Brüdern zu sagen, daß sie nach Galiläa ziehen sollen und daß sie ihn daselbst sehen werden. 326. Die Kriegsknechte, die am Grab aufgestellt waren, verkündigen unterdessen den Hohenpriestern, was geschehen war ; und diese geben ihnen Geld, damit sie sagen, man hätte den Leichnam gestohlen, während sie schliefen. 327. Die Apostel glauben dem Bericht der Frauen nicht. 328. Hierauf zeigt Jesus sich dem Petrus. 329. Und auch zwei Jüngern, die nach Emmaus gehen. 330. Denen er alle Schriften auslegt, die von ihm gesagt waren. Sie erkannten ihn aber erst beim Brechen des Brotes, das heißt beim Essen seines Leibes (Aug., Serm. 140 de temp. c. 3,16 und l. 3 de consensu, cap. 35) ;17 damit wollte er ihnen dieses göttliche Sakrament anbefehlen. Und niemand darf deshalb bezweifeln, daß die Teilnahme an diesem Sakrament uns in die Erkenntnis des Herrn einführt (Epist. 59, quaest. 8).18 Denn dieses Wort vom Brechen des Brotes bedeutet im Neuen Testament das eucharistische Mahl, wie es sich aus der Apostelgeschichte und aus den Briefen des heiligen Paulus ergibt : »Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft mit dem Leib des Herrn ?«

16 17 18

Vgl. z. B. Augustinus : Sermones 253, 3. Augustinus : De consensu evangelistarum 3, 72. Augustinus : Epistulae 149, 31.

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331. Und die beiden Jünger gingen hin und verkündigten es den anderen, die mit den übrigen in Jerusalem versammelt waren. 332. Sie aber glaubten es nicht. 333. Endlich, am Sonntag, da die beiden Jünger zurückkehrten, 334. trat Jesus selbst mitten unter sie. 335. Am Abend des Sonntags, da die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, trat er ein, ohne die Türen zu öffnen, was gegen unsere Häretiker spricht : Denn es stand durchaus in der Macht desjenigen, der geboren wurde, ohne den Mutterschoß zu durchbrechen, daß er eintrat, während die Türen verschlossen waren, weil einem mit der Gottheit vereinigten Leib nichts undurchdringlich ist. 336. Er gab ihnen seinen Frieden und blies ihnen den Heiligen Geist durch seinen Atem ein, der dessen äußeres Symbol war, und dies bezeichnet, daß er auch von ihm ausgeht (Aug., Cyrill., Hil.).19 Um jedoch zu zeigen, daß er ihnen den Geist nicht ohne Maß, sondern nach dem Maß gab, nennt er ihnen den Zweck, zu dem er ihnen den Geist gibt, indem er spricht, daß sie die Macht haben werden, die Sünden zu erlassen und vorzubehalten. 337. Und da sie zweifelten, nicht aus boshaftem Starrsinn, sondern aus übermäßiger Freude, und da sie es kaum glauben konnten und meinten, sie sähen einen Geist, zeigt er ihnen seine Füße und seine Hände, an denen noch – nicht mehr blutend, sondern heil – die offenen Wundmale waren (Aug., Cyrill., Leo).20 welche er im Himmel zur Rechten des Vaters traAugustinus, Cyrillus, Hil arius : Die Namenshinweise sind dem Tetrateuchus des Jansenius entnommen. Dort Verweis auf Hilarius : De trinitate 4 ; vgl. Augustinus : De trinitate 15, 27. 20 Augustinus, Cyrillus, Leo : Die Namenshinweise sind dem Tetrateuchus des Jansenius entnommen mit Verweis auf Cyrill von A lex andrien : In Jo 12, 58 ; Leo der Grosse : Sermo 1 de Ascensione und Augustinus : In Ioannis evangelium tractatus CXXIV, 121, 4. 19

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gen wollte, um sie ihm ewiglich als den Preis unserer Freiheit und als das ewige Zeichen seines Sieges darzustellen (Ambr.).21 Denn sie sind keine Gebrechen, sondern Kraftbeweise. Und er sprach zu ihnen, daß er es selber sei. Und da sie immer noch zweifelten, aß er, um einen letzten Beweis zu erbringen, wobei das, was er aß, sich nicht etwa in seine Substanz verwandelte, es wurde vielmehr im Magen (aufgezehrt). Denn er hatte es nicht mehr nötig zu essen. Ein auferstandener Leib hätte ja nur eine unvollkommene Macht, wenn er nicht fähig wäre zu essen, und er hätte ebenfalls nur eine unvollkommene Macht, wenn er es nötig hätte. Thomas war damals nicht bei ihnen, und er glaubte den zehn anderen nicht. 338. Acht Tage danach, nämlich am Sonntag, dem 24. März, erschien Jesus den Elfen, da sie versammelt und die Türen verschlossen waren, und er ließ seine Hände und seine Seite vom heiligen Thomas berühren, der nun glaubte und sprach : »Mein Herr und mein Gott«, und damit erkannte er die göttliche und die menschliche Natur in der Person Jesu an (Ambr.).22 339 a. Er gab ihnen die Taufformel und verkündigte ihnen die Zeichen, die denen folgen werden, die glauben, das heißt die Wunder, mit denen er ihre Predigt bestätigen und die Völker zum Glauben bringen wird ; und diese (werde) er durch seine Kirche ebenso (austeilen), wie er sie in seinem sterblichen Leib ausgeteilt habe, das heißt nicht allgemein und allerorten, sondern an den Orten und zu den Zeiten, da es notwendig zum Nutzen der Kirche sein wird, die der Endzweck der Wunder ist. Daher sind sie am Anfang häufig und dennoch so selten gewesen, daß die Gewohnheit nicht die Inbrunst abkühlte, wel-

A mbrosius : Der Namenshinweis ist dem Tetrateuchus des Jansenius entnommen. 22 A mbrosius : Der Namenshinweis ist dem Tetrateuchus des Jansenius entnommen. 21

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che die Neuheit entflammt hatte. (Greg., Hom. 29 in Ev.)23 Und diese Wunder können auch im mystischen Sinne verstanden werden. Und sie sind sehr wohltätig und nützlich – und nicht wie jene des Moses. 339 b. Hierauf erschien er den Sieben, die im Meer von Tiberias fischten, und er wirkte das Wunder des Fischfangs, bei dem das Netz nicht zerriß : Hierin bemerkt der heilige Augustinus 24 große Mysterien, die auf dem Unterschied zwischen diesem Fischfang und dem anderen beruhen, wobei dieser nach der Auferstehung und jener vor der Auferstehung geschah. Jener bezeichne den Zustand der Kirche vor der allgemeinen Auferstehung und dieser ihren Zustand nach der allgemeinen Auferstehung. Bei jenem werden die Netze nach allen Seiten auf gut Glück ausgeworfen und bei diesem allein an der rechten Seite ; bei jenem (bezeichnen) die zerrissenen Netze die Spaltungen und Schismen, und bei diesem (bezeichne) ihre Unversehrtheit die Einheit ; bei jenem werden die Fische in zwei Boote gebracht, nämlich das der Heiden und das der Juden, die alle beide dem Untergang nahe seien ; bei diesem werden sie in den Hafen gebracht, das heiße in die Zusicherung der Ewigkeit. Bei jenem werden die großen und kleinen Fische gefangen, bei diesem allein die großen. Hierauf folgt das (Mahl) usw. Johannes erkennt Jesus als erster. Jesus fordert von Petrus ein dreifaches Zeugnis seiner Liebe. Er trägt ihm die Sorge über seine Schafe auf, das heißt über die Schafe Jesu Christi und nicht die des Petrus, und er sagt ihm die Todesart voraus, die ihn erwartet und die ihn führen wird, wohin er nicht will. Dies bezeichnet den Willen der Natur und den Willen der Gnade, den des äußeren Menschen und den des inneren Menschen, der als Toter in Jesus Christus erschienen ist.

Gregor der Grosse, Hom. 29 in Evang. nach dem Tetrateuchus des Jansenius. 24 Augustinus : In Ioannis evangelium tractatus CXXIV, 122, 6 f. 23

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339 c. Jesus erschien auch ungefähr fünfhundert Jüngern und dem Jakobus. 340. Endlich erschien er den Elfen in Galiläa, da diese auf den Berg gingen, wohin Jesus sie bestellt hatte. Und er sagte ihnen, daß ihm alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben sei, das heißt überall, nach der Ausdrucksweise der Hebräer, die alles in zwei Worten zusammenfaßten, wie dies hier der Fall ist oder auch bei (dem Guten und) dem Bösen, bei (zuviel) und genug, usw. Und er sendet sie aus, daß sie auf der ganzen Erde lehren und taufen, und er verheißt ihnen, daß er bei ihnen sei bis an der Welt Ende, durch seine Gnade, seine Autorität und seinen Geist. Hiermit verheißt er zwei Dinge, zum einen, daß die Kirche nie untergehen und es ihr nie an Hirten fehlen wird – daran zeigt er deren Heilsordnung ; zum anderen, daß ihr nie die Kenntnis der Wahrheit fehlen wird. Wenn eins von beidem fehlte, wäre diese Verheißung nämlich nichtig (Hyeron.).25 341. Am 26. April, vierzig Tage nach der Auferstehung, führte er sie nach Bethanien. 342. Und da er bereit war, von ihnen zu scheiden, fragten ihn die Apostel. 343. Wann er wiederkommen werde. 344. Jesus aber tadelte ihre Neugierde. 345. Da er solches gesagt hatte, hob er die Hände auf, nicht um zu beten, sondern um sie zu segnen, wie es der Sitte entsprach (3 Mose 9, 2226) und wie man es in der Kirche tut, wie auch die Apostel es getan haben. Und vielleicht geht diese Sitte der Kirche und der Apostel von jener Handlung Jesu Christi aus. Hyeron., in v. 19, Cap. 66, Jesaja,27 sagt, daß Jesus uns als Ursprung allen Segens das (Zeichen) des Tau 28 auf unHieronymus : Hinweis nach dem Tetrateuchus des Jansenius. »Und Aaron hob seine Hand auf zum Volk und segnete sie« Lev 9, 22. 27 Hieronymus Hinweis nach dem Tetrateuchus des Jansenius. 28 Letzter Buchstabe des althebräischen Alphabets (‫)ת‬. Zur Symbolik vgl. Mathias H aman : Tau. In : LThK 3 9, Sp. 1275 f. 25

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serer Stirn hinterlassen habe, als er zu seinem Vater auffuhr. Und Jesus segnete sie, und dieser Segen bewahrte sie bis zum Pfi ngsttag. Und während sie ihm nachsahen, ward er aufgehoben und fuhr auf gen Himmel. 346. Und eine Wolke nahm ihn auf und entzog ihn ihren Blicken … Und als sie ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr, zeigten sich ihnen zwei Engel, die ihnen sagten, daß er ebenso, wie er unter ihren Blicken aufgefahren sei, wiederkommen werde. 347. Und er ist aufgefahren über alle Himmel, auf daß er alles erfüllte (Eph 4, 10), und er ward in den Himmel aufgenommen und sitzt nun zur Rechten des Vaters …, in vollkommener Gleichheit mit dem Vater und in der Fülle der Macht. Denn daß er zur Rechten des Vaters sitzt, ist etwas anderes als das Amt der Engel, das geringer erscheint, Hebr 1 (13 und 14), Phil 2, 9, Eph 1, 20, (1.) Kor 15, 25, usw., wo der Apostel unter dem Sitzen zur Rechten des Vaters die Fülle der Macht versteht, die ihm nie gefehlt hat, die er aber doch scheinbar an diesem Tag (empfangen) hat. Und obwohl der Sohn zur Rechten des Vaters ist, heißt das nicht, daß der Vater zur Linken des Sohnes sei. Denn im Psalm Dixit Dominus, 29 in dem gesagt wird, daß der Sohn zur Rechten des Vaters sitzt, wird auch gesagt, daß der Vater zur Rechten des Sohnes sitzt. Doch das kommt daher, daß, wenn man von (jeder einzelnen) Person spricht, man ihr alles und beinahe mehr zuerkennen muß, damit man ihr nicht zuwenig zuerkennt. Ambrosius … Und von dort leitet und lenkt er seine Kirche mit seiner vollen Macht und seiner Vorsehung. 348. Die Apostel kehren in großer Freude nach Jerusalem zurück, und sie waren stets im Tempel und lobten Gott. 349. Und mit Maria, der Mutter Jesu, hielten sie einmütig fest am Gebet und warteten auf den Heiligen Geist, der verheißen war.

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Ps 110 = 109 Vg.

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350. Und da sie den Heiligen Geist zehn Tage später, nämlich am 7. Mai, empfangen hatten, trugen sie das Evangelium in alle Welt, und der Herr bestätigte ihre Predigt durch ihre Wunder. 351. Und er bleibt mit der Kirche bis an der Welt Ende, wie es seiner Verheißung entspricht. 352. Dann wird er in demselben Zustand wiederkommen, wie er aufgefahren ist, 353. zu richten die Lebendigen und die Toten und um die Bösen von den Guten zu scheiden, die Ungerechten in das ewige Feuer und die Guten in sein Reich zu schicken, nach der Form, die er hierfür vorausgesagt hat, und er wird bleiben in des Vaters Schoß (Joh 1, 18). 354. Und dieses Reich wird ohne Ende sein, und in ihm wird Gott alles in allen sein. Und dort wird er mit Gott vereinigt in Gottes Schoß bleiben, und seine Auserwählten in ihm, in Ewigkeit. Amen.

Schriften über die Gna de (1656)

Erste Schrift I

Es steht fest, daß manche Menschen verdammt und manche gerettet sind. Es steht weiter fest, daß jene, die gerettet sind, es sein wollten und daß Gott es auch gewollt hat ; wenn Gott es nämlich nicht gewollt hätte, so wären sie nicht gerettet, und wenn sie es nicht selbst gewollt hätten, so wären sie auch nicht gerettet. Jener, der uns ohne uns geschaffen hat, kann uns nicht ohne uns retten. Ebenso wahr ist es, daß jene, die verdammt sind, durchaus die Sünden begehen wollten, die ihre Verdammnis verdient haben, und daß auch Gott sie durchaus verdammen wollte. Es ist also offensichtlich, daß der Wille Gottes und jener des Menschen gemeinsam zum Heil und zur Verdammnis derjenigen führen, die gerettet oder verdammt sind. Und bei all diesen Dingen ist nichts fraglich. Wenn man also wissen möchte, warum die Menschen gerettet oder verdammt sind, so kann man in einer Hinsicht sagen, das geschehe, weil Gott es wolle, und in einer anderen Hinsicht, das geschehe, weil die Menschen es wollen. Doch es handelt sich darum, daß man erfahren möchte, welcher von diesen zwei Willen, nämlich der Wille Gottes oder der Wille des Menschen, der bestimmende und herrschende, die Quelle, der Ursprung und Grund des anderen sei. Es handelt sich darum, daß man erfahren möchte, ob der menschliche Wille die Ursache des göttlichen Willens oder der göttliche Wille die Ursache des menschlichen Willens ist. Und derjenige, der den anderen beherrscht und bestimmt, ist gewissermaßen als der einzige anzusehen : nicht etwa, daß er es sei, sondern weil er die Mitwirkung des nachfolgenden Willens einschließt. Und die Wirkung wird jenem ersten Willen und nicht dem anderen zugeschrieben. Nicht, daß sie sich in

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einer gewissen Hinsicht nicht auch dem nachfolgenden Willen zuschreiben läßt : Doch im eigentlichen Sinne wird sie dem bestimmenden Willen als ihrem Ursprung zugeschrieben. Denn der nachfolgende Wille ist so beschaffen, daß man in einer Hinsicht sagen kann, die Wirkung rühre von ihm her, da er ja zu ihr beiträgt, und in einer anderen Hinsicht, sie rühre nicht von ihm her, weil er nicht ihr Ursprung ist ; doch der erste Wille ist so beschaffen, daß man von ihm durchaus sagen kann, die Wirkung rühre von ihm her, man kann aber keinesfalls von ihm sagen, die Wirkung rühre nicht von ihm her. Darum sagt der heilige Paulus : Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Jesus Christus lebt in mir [Gal 2, 20]. Gewiß ist sein erster Ausspruch – Ich lebe – nicht falsch, denn er war lebendig, und das bezieht sich nicht allein auf das leibliche Leben (worum es sich an dieser Stelle nicht handelt), sondern auch auf das geistliche Leben, denn er war in Gnaden, und er selbst sagt an mehreren anderen Stellen [Eph 2, 5] Wir waren tot, und wir sind lebendig gemacht usw. Doch wenn es auch vollkommen wahr ist, daß er lebendig war, widerruft er es sogleich mit den Worten : Ich lebe nicht – »Non ego vivo«. Der Apostel ist kein Lügner ; also ist es wahr, daß er lebt, da er ja sagt : Ich lebe. Und es ist also auch wahr, daß er nicht lebt, da er ja sagt : »Jam non ego« – ich lebe nicht. Und diese beiden Wahrheiten haben gemeinsam Bestand, weil sein Leben, obgleich es ihm eigen ist, ursprünglich nicht von ihm kommt. Er lebt nur durch Jesus Christus, das Leben Jesu Christi ist die Quelle seines Lebens. Darum ist es in einer Hinsicht wahr, daß er lebt, da er ja das Leben besitzt ; in einer anderen Hinsicht ist es auch wahr, daß er nicht lebt, da er ja nur mit dem Leben eines anderen lebt. Aber es ist wahr, daß Jesus Christus lebt, und man kann nicht sagen, daß er nicht lebe. Darum sagt Jesus Christus selbst (Jesus Christus will nicht der Ursprung sein, und ihr wollt es) : Nicht ich, sondern der Vater, der in mir wohnt, der tut die Werke. Und dennoch sagt er an einer anderen Stelle : die Werke, die ich tue [ Joh 14, 10.12]. Jesus Christus ist kein Lügner, und seine Demut hat seine Wahrhaftigkeit

Schriften über die Gnade

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nicht beeinträchtigt. Man kann also sagen, da er es gesagt hat, daß er Werke getan und daß er sie nicht getan habe ; doch es steht fest, daß die Gottheit sie in ihm getan hat, und man kann nicht sagen, daß sie diese nicht getan habe. Darum sagt der Prophet : Herr, alles, was wir ausrichten, das hast du für uns getan [ Jes 26, 12]. Diese Werke sind also Gottes, da er sie getan hat, und diese Werke sind die unsrigen, da sie uns gehören. Darum sagt der heilige Paulus : Ich habe gearbeitet, nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist (1 Kor 15, 10). Wie hat er gearbeitet und nicht gearbeitet, sondern die Gnade, die mit ihm war, hat gearbeitet, wenn es nicht so ist, daß seine Arbeit als die seinige bezeichnet werden kann, da sein Wille zu ihr beigetragen hat, und daß sie nicht als die seinige bezeichnet werden kann, da sein Wille nicht die Quelle seiner eigenen Wünsche gewesen ist ? Aber von Gottes Gnade kann man sagen, daß sie gearbeitet hat, denn sie hat seinen Willen vorbereitet, sie hat in ihm das Wollen und die Wirkung vollbracht, und von ihr kann man nicht sagen, daß sie nicht gearbeitet habe, da sie der Ursprung und die Quelle seiner Arbeit war. Darum sagt er an anderer Stelle [Röm 7, 20] : Non ego, sed quod inhabitat in me peccatum,1 als er von seinen unbedachten Willensregungen spricht. In der Heiligen Schrift gibt es sehr zahlreiche Beispiele für derartige Reden, die uns zeigen, sobald zwei Willen zu einer Wirkung beitragen und wenn der eine Wille beherrschend, bestimmend und die unfehlbare Ursache des anderen ist, kann die Wirkung dem nachfolgenden Willen zugeschrieben und abgesprochen werden, und sie kann dem beherrschenden Willen zugeschrieben, ihm aber nicht abgesprochen werden. Wir sehen also den beherrschenden Willen als den einzigen an, obgleich er es nicht ist, weil man ihm als einzigem die Wirkung zuschreiben und sie ihm zugleich nicht verweigern

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»nicht ich, sondern die Sünde, die in mir wohnt«.

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kann. Dieser Verfahrensweise entsprechend geht es um die folgende Frage : Ob die Tatsache, daß es gerettete und verdammte Menschen gibt, darauf zurückzuführen ist, daß Gott es will oder daß die Menschen wollen. Das heißt : Es geht um die Frage, ob Gott, als er sich den Willen der Menschen unterwarf, einen absoluten Willen hatte, die einen zu retten und die anderen zu verdammen, und ob er, diesem Ratschluß gemäß, den Willen der Auserwählten zum Guten und jenen der Verworfenen zum Bösen neigt, um so die einen oder auch die anderen seinem absoluten Willen anzugleichen, sie zu retten oder zu verderben. Oder ob er, als er es dem freien Willen der Menschen unterwarf, seine Gnadenmittel zu gebrauchen, vorhergesehen hat, in welcher Art die einen oder die anderen sie gebrauchen wollten, und ob er ihrem jeweiligen Willen gemäß den zu ihrem Heil oder ihrer Verdammnis gebildet hat. Diese Frage wird heute öffentlich erörtert und von drei Lehr meinungen unterschiedlich beurteilt. Die ersten sind die Calvinisten, die zweiten die Molinisten, die letzten die Anhänger des heiligen Augustinus.

Calvinisten Die Ansicht der Calvinisten ist : Als Gott die Menschen geschaffen hat, habe er die einen zur Verdammnis und die anderen zum Heil bestimmt, und dies aus einem absoluten Willen und ohne Vorsehung irgendeines Verdienstes. Gott habe, um diesen absoluten Willen zu erfüllen, Adam sündigen lassen und dessen Fall nicht allein gestattet, sondern verursacht. Bei Gott gebe es keinen Unterschied zwischen Tun und Zulassen.

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Gott habe, nachdem er Adam und in ihm alle Menschen sündigen ließ, Jesus Christus gesandt, um jene zu erlösen, die er bei ihrer Schöpfung retten wollte, und ihnen gebe er unzweifelhaft die christliche Liebe und das Heil. Gott verlasse jene, deren Verdammnis er bei ihrer Schöpfung beschlossen habe, und versage ihnen zeitlebens die christliche Liebe. Das ist die entsetzliche Ansicht dieser Ketzer, die schmachvoll für Gott und unerträglich für die Menschen ist. Das sind die Lästerungen, mit denen sie begründen, es gebe in Gott einen absoluten Willen ohne jegliche Vorsehung des Verdienstes oder der Sünde, um seine Geschöpfe zu verdammen oder zu retten.

Molinisten Aus Abscheu gegen diese grauenerregende Ansicht und gegen die in ihr enthaltene Maßlosigkeit haben die Molinisten eine Meinung angenommen, die der anderen nicht nur widerspricht, was genügt hätte, sondern ihr vollkommen entgegengesetzt ist. Gott habe nämlich einen bedingten Willen, alle Menschen insgesamt zu retten. Jesus Christus sei darum Mensch geworden, um sie alle zu erlösen, ohne auch nur einen auszunehmen, und da seine Gnadenmittel allen gegeben seien, hänge es von deren Willen und nicht von dem Gottes ab, sie gut oder schlecht zu gebrauchen. Gott, der von Ewigkeit her den guten oder schlechten Gebrauch vorhergesehen habe, den man allein mit dem freien Willen, ohne den Beistand einer unterscheidenden Gnade, von jenen Gnadenmitteln machen würde, wollte diejenigen retten, die sie gut gebrauchten, und diejenigen verdammen, die sie schlecht gebrauchten, wobei er selbst keinen absoluten Willen hätte, irgendeinen Menschen zu retten oder zu verdammen. Diese Ansicht, die jener der Calvinisten entgegengesetzt ist, bringt auch eine ganz entgegengesetzte Wirkung hervor. Sie schmeichelt dem gesunden Menschenverstand, der von der

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anderen verletzt wird. Sie schmeichelt ihm, indem sie ihn über das Heil oder das Verderben des Menschen bestimmen läßt. Sie hebt bei Gott jeden absoluten Willen auf und bewirkt, daß Heil und Verdammnis vom menschlichen Willen herrühren, während nach der Ansicht Calvins beides vom göttlichen Willen herrührt. Dies sind die einander widersprechenden Irrmeinungen, während die Anhänger des heiligen Augustinus, die mit größerer Zurückhaltung und Besonnenheit vorgehen, in der Mitte stehen und ihre Ansicht folgendermaßen begründen :

Anhänger des heiligen Augustinus Sie bedenken, daß es zwei Zustände in der menschlichen Natur gibt : Der eine ist jener, mit dem sie in Adam geschaffen wurde, gesund, makellos, recht und billig, aus Gottes Hand kommend, ein Zustand, von dem alles nur rein, heilig und vollkommen ausgehen kann. Der andere ist der Zustand, in den die Sünde und der Aufruhr des ersten Menschen sie versetzt haben und durch den sie in Gottes Augen unrein, abscheulich und verächtlich geworden ist. Als die Menschen sich im Stand der Unschuld befanden, konnte Gott keinen zu Recht verdammen, er konnte ihnen selbst nicht die zu ihrem Heil hinreichenden Gnadenmittel 2 verweigern.

In der katholischen Schultheologie wird zwischen hinreichender Gnade (gratia sufficiens) und wirksamer Gnade (gratia efficax) unterschieden. »Erstere gibt die Befähigung zum Heilskart, letztere führt den Heilsakt wirklich herbei.« (Ludwig Ot t : Grundriß der katholischen Dogmatik. Freiburg 71965, S. 269). Zu den Lösungen im frühneuzeitlichen Gnadenstreit vgl. knapp unter dem Stichwort »Gnadensysteme« LThK 2 4, Sp. 1007– 1010 (F. Stegmüller) ; LThK 3 4, Sp. 798– 799 (L. Scheffczyk). 2

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Als die Menschen sich im Stand der Verderbnis befanden, konnte Gott die ganze Masse insgesamt zu Recht verdammen ; und jene, die heute geboren werden, ohne diesem Stand durch die Taufe entzogen zu sein, sind immer noch verdammt und ewiglich der seligmachenden Anschauung Gottes beraubt, was das größte aller Übel ist. Diesen zwei so ganz unterschiedlichen Zuständen entsprechend kommen sie zu zwei unterschiedlichen Ansichten, die Gottes Willen, die Menschen zum Heil zu führen, betreffen. Sie versichern, daß Gott für den Stand der Unschuld einen allgemeinen und bedingten Willen hatte, alle Menschen zu retten, vorausgesetzt, daß sie es durch den freien Willen mit dem Beistand der hinreichenden Gnadenmittel wollten, die er ihnen zu ihrem Heil gab, die sie aber nicht unfehlbar veranlaßten, im Guten zu beharren. Daß Adam aber, als er durch seinen freien Willen diese Gnade schlecht gebraucht und sich gegen Gott empört hatte, was durch eine Regung seines Willens und ohne göttlichen Antrieb geschah (denn ein derartiger Gedanke wäre abscheulich), die ganze Masse der Menschen verdorben und verunreinigt habe, so daß sie zu Recht der Gegenstand des Zorns und Unwillens Gottes gewesen sei. Sie nehmen an, daß Gott diese ganz gleichermaßen schuldige und insgesamt der Verdammnis würdige Masse aufgeteilt habe, daß er einen Teil von ihr durch seinen absoluten Willen retten wollte, der auf seiner ganz reinen und unverdienten Barmherzigkeit beruhe, und daß er, als er den anderen Teil der Verdammnis überließ, in der dieser Teil sich zuvor befunden hatte und in der er zu Recht die ganze Masse lassen konnte, entweder die besonderen Sünden, die ein jeder beging, oder wenigstens die Erbsünde, deren sie alle schuldig sind, vorhergesehen habe und daß er sie infolge dieser Vorsehung verdammen wollte. Daß Gott deshalb Jesus Christus gesandt habe, um unbedingt und durch sehr wirksame Mittel jene zu retten, die er aus dieser Masse erwählt und vorherbestimmt habe, daß er durch seinen Tod nur diesen das Heil unbedingt verschaffen

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wollte und daß er denselben Willen nicht für das Heil der anderen hätte, die nicht von diesem allgemeinen und gerechten Verderben befreit seien. Daß gleichwohl einige von jenen, die nicht vorherbestimmt seien, zum Besten der Auserwählten durchaus berufen wären und somit an der Erlösung durch Jesus Christus teilhaben. Daß es die Schuld dieser Menschen sei, wenn sie nicht im Glauben beharren ; daß sie es könnten, wenn sie wollten, da sie jedoch nicht zur Zahl der Auserwählten gehören, gebe Gott ihnen nicht diese wirksame Gnade, ohne die sie es tatsächlich nie wollen. Und daß es also drei Arten von Menschen gebe : die einen, die nie zum Glauben gelangen ; die anderen, die zu ihm gelangen und die, da sie nicht in ihm beharren, in der Todsünde sterben ; und die dritten, die zum Glauben gelangen und in ihm und der christlichen Liebe bis zum Tode beharren. Jesus Christus habe durchaus nicht den absoluten Willen gehabt, daß die ersten durch seinen Tod keine Gnade erhielten, weil sie durch ihn tatsächlich keine Gnade erhalten haben. Die zweiten wollte er erlösen ; er habe ihnen Gnadenmittel gegeben, die sie zum Heil geführt hätten, wenn sie diese gut gebraucht hätten, doch er wollte ihnen nicht diese besondere Gnade des Beharrens geben, ohne die man die Gnadenmittel nie gut gebraucht. Aber Jesus Christus habe unbedingt das Heil der dritten gewollt, und er führe sie durch sichere und unfehlbare Mittel zu ihm. Daß alle Menschen der Welt zum Glauben verpfl ichtet seien, doch sollen sie einen mit Furcht vermischten Glauben haben, der nicht von der Gewißheit begleitet sei, daß sie zu jener kleinen Zahl von Auserwählten gehören, die Jesus Christus retten wolle, und sie sollen nie über einen der Menschen urteilen, die auf Erden leben, so böse und gottlos sie auch sein mögen, solange ihnen noch ein Augenblick zu leben bleibe, daß sie nicht zur Zahl der Vorherbestimmten gehören, indem man es Gottes unerforschlichem Geheimnis überlasse, die Auser-

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wählten von den Verworfenen zu sondern. Dies verpfl ichte sie, für jene das zu tun, was zu deren Heil beitragen könne. Das ist ihre Ansicht, der zufolge man erkennt, daß Gott einen absoluten Willen habe, jene zu retten, die gerettet werden, und einen bedingten und vorhersehenden Willen, die Verdammten zu verdammen, und daß das Heil durch Gottes Willen und die Verdammnis durch den Willen der Menschen komme. Das ist die Meinung der Anhänger des heiligen Augustinus oder vielmehr jene der Kirchenväter, der ganzen Tradition und demnach der Kirche, während die anderen Meinungen lediglich als Verirrungen des menschlichen Geistes anzusehen sind. Obgleich es der Kirche nun sehr spürbaren Kummer bereitet, wenn sie sieht, wie sie von einander entgegengesetzten Irrlehren zerrissen wird, welche die heiligsten Wahrheiten bestreiten, und obgleich sie Grund hat, sowohl über die Molinisten als auch über die Calvinisten zu klagen, erkennt sie dennoch, daß sie weniger von jenen geschmäht wird, die durch ihre Irrtümer vom rechten Weg abkommen und doch in deren Schoß verbleiben, als von jenen, die sich von ihr getrennt haben, um sich einen eigenen Altar gegen den der Kirche zu errichten, ohne daß sie noch liebevolle Zuneigung für deren mütterliche Stimme, die sie ruft, oder Ehrerbietung für deren Entscheidungen haben, die sie verdammen. Wenn der Irrtum der Molinisten sie betrübt, so fi ndet sie Trost in deren Unterwerfung, doch der Irrtum der Calvinisten, zu dem deren Aufruhr hinzukommt, läßt sie zu Gott rufen : Ich habe Kinder großgezogen, und sie sind von mir abgefallen.3 Sie weiß, daß es für die Molinisten genügt, wenn sie durch ihre Päpste und Konzilien spricht, daß die Tradition der Kirche von ihnen in Ehren gehalten wird, daß sie es nicht versuchen, den Worten der Heiligen Schrift besondere Auslegungen zu geben, und daß sie willens sind, jenen Auslegungen zu folgen, die der große

3

Jes 1, 2.

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Haufen und die Reihe der heiligen Lehrer der Kirche, deren Päpste und Konzilien ihnen gegeben haben. Der Aufruhr der Calvinisten aber bereitet ihr unbezwinglichen Kummer. Ihnen gegenüber muß sie wie mit ihresgleichen verfahren, ihre Autorität hintanstellen und sich der Vernunft bedienen. Sie ruft diese gleichwohl alle zu sich und macht sich bereit, sie zu überzeugen, einen jeden nach seinen eigenen Prinzipien. Sie tröstet sich damit, daß diese entgegengesetzten Irrlehren ihre eigene Wahrheit begründen, daß es genügt, jene sich selbst zu überlassen, um sie zugrunde zu richten, und daß die Waffen, die jene unterschiedlichen Feinde gegen sie benutzen, ihr nicht schaden und nur jene selbst zuschanden machen können. Nicht allein bei dieser Gelegenheit leidet sie unter einander entgegengesetzten Feinden. Sie hat beinahe nie ohne diesen doppelten Kampf bestanden. Und da sie diesen Widerspruch in der Person Jesu Christi, ihres Oberhauptes, erduldet hat, den die einen nur zu einem Menschen und die anderen nur zu Gott gemacht haben, hat sie darunter bei fast allen ihren übrigen Glaubenssätzen gelitten. Doch indem sie ebenso ihrem Oberhaupt folgt, streckt sie den einen und den anderen die Arme entgegen, um sie alle zu rufen und sie hierauf gemeinsam zu umarmen, um eine selige Gemeinschaft zu bilden. Darum wendet sie sich an euch und fragt euch nach dem Grund für eure Klagen, und zuerst wendet sie sich an euch Molinisten, da ihr deren Kinder seid …4

Laut Mesnar d OC 3, S. 791 und Le Guern OC 2, S. 263 f. gehört dieser Absatz noch zum vorangehenden (gegen Chevalier und Lafuma hier geändert). 4

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II

Gott habe den nämlichen gleichen, allgemeinen und bedingten Willen gehabt, sie alle zu retten, vorausgesetzt, daß sie es wollen, und durch das Mittel der hinreichenden Gnade, die er durch die Wunder Jesu Christi allen Menschen gebe, habe er es ihrem freien Willen überlassen, es zu wollen oder nicht. Daß die einen gerettet werden und die anderen nicht, komme also nicht durch den absoluten Willen Gottes, sondern durch den Willen der Menschen … Darin besteht ihr Irrtum … Calvinisten. Gott habe, als er in Adam die Menschen schuf, einen absoluten Willen vor der Vorsehung irgendeines Verdienstes oder Mißverdienstes gehabt, einen Teil von ihnen zu retten und den anderen Teil zu verdammen. Gott habe hierfür Adam und in ihm alle Menschen sündigen lassen, damit alle schuldig wären und er zu Recht diejenigen verdammen könnte, deren Verdammnis er bei ihrer Schöpfung beschlossen hätte, und er habe Jesus Christus gesandt, um allein diejenigen zu erlösen, deren Rettung er bei ihrer Schöpfung beschlossen hätte. All dies ist voller Irrtümer. Diese drei Meinungen haben heute Gültigkeit. Jene der Calvinisten ist so entsetzlich und befremdet als erstes den Geist so stark, da sie Gottes Grausamkeit seinen eigenen Geschöpfen gegenüber zu erkennen gibt, daß sie unerträglich ist. Jene der Molinisten hingegen ist so sanft und entspricht so sehr dem gesunden Menschenverstand, daß sie höchst angenehm und gefällig ist. Jene der Kirche nimmt die Mitte ein, und sie ist nicht so grausam wie jene Calvins und auch nicht so sanft wie jene Molinas. Da man jedoch nicht nach dem äußeren Schein über die Wahrheit urteilen darf, muß man diese Meinungen eingehend prüfen. Um diese Prüfung zu beginnen, muß man die Größe der Erbsünde im Geist eindringlich ermessen und sich vorstellen, welche Wunde sie dem Menschengeschlecht geschlagen hat. Man muß bedenken, wie sehr sich der Zustand der Menschen

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bei ihrer Schöpfung vom Zustand der Menschen nach dem Sündenfall unterscheidet. Die Menschen waren in Adam am Tage ihrer Schöpfung gerecht, Gott gefällig und gehorsam. Dieselben Menschen sind in Adam nach seiner Untreue sündhaft, verabscheuenswert und gegen Gott empört. Und die von Adam auf seine ganze Nachkommenschaft vererbte Sünde ist so ungeheuerlich, daß, obgleich man ihre Größe nicht erfassen kann, es genügt, wenn man sagt, daß zu ihrer Sühne ein Gott zum Menschen werden und bis zum Tode leiden mußte, um die Größe des Übels begreiflich zu machen, indem man es an der Größe des Heilmittels mißt. Die Kirche, welche die Menschen in diesen beiden unterschiedlichen Zuständen betrachtet, hat deshalb zwei sehr unterschiedliche Ansichten in bezug auf Gottes Willen für deren Heil und auf seinen Willen für deren Verdammung. Sie erkennt in Gott einen gleichen, allgemeinen und bedingten Willen für das Heil der Menschen bei ihrer Schöpfung. Aber sie erkennt in Gott einen absoluten Willen, nach dem Sündenfall unfehlbar einige von ihnen zu retten und einige andere nach demselben Sündenfall zu verlassen, ohne sie retten zu wollen. Und die Quelle des Irrtums der einen und der anderen ist, daß sie es versäumen, diese beiden Zustände zu unterscheiden. Und da der nur von einem ausgefüllte Geist jene schwachen Menschen, die diese Zustände entdeckt haben, geführt hat, haben die einen, die Gottes Willen den schuldigen Menschen gegenüber als einzig ansahen, in Gott einen absoluten Willen begründet, die einen im Augenblick der Schöpfung zu verdammen und die anderen zu retten. Und die zweiten, die Gottes Willen für die unschuldigen Menschen bedachten, haben ihn auch auf die schuldigen Menschen ausgedehnt und in Gott einen allgemeinen und bedingten Willen begründet, sie alle zu retten. So stimmen denn die Molinisten und wir in dem Glauben überein, daß Gott bei der Schöpfung der Menschen ihr Heil

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gewollt hat, ohne irgendeine Unterscheidung vorzunehmen, nach Adams Fall jedoch sehen wir einen unterscheidenden Willen Gottes. Und die Calvinisten und uns trennt ein entsetzlicher Unterschied in bezug auf Gottes Willen bei der Schöpfung des Menschen, und wir stimmen in den Worten bei Gottes absolutem Willen für die Erlösung überein, aber wir unterscheiden uns im Sinn, weil wir annehmen, daß Gottes Ratschluß auf die Vorsehung des Sündenfalls Adams folgt und den schuldigen Menschen erteilt wird, und sie behaupten, daß dieser Ratschluß nicht allein vorausgehe, sondern die Ursache des Sündenfalls Adams sei und den noch unschuldigen Menschen erteilt werde. So behaupten denn die Molinisten, daß die Vorherbestimmung und die Verwerfung auf Grund der Vorsehung der Verdienste und der Sünden der Menschen erfolgen. Die Calvinisten behaupten, daß die Vorherbestimmung und die Verwerfung auf Grund des absoluten Willens Gottes erfolgen. Und die Kirche behauptet, daß die Vorherbestimmung durch Gottes absoluten Willen und die Verwerfung durch die Vorsehung der Sünde komme. So setzen denn die Molinisten den Willen der Menschen als die Quelle des Heils und der Verdammnis. So setzen denn die Calvinisten den Willen Gottes als die Quelle des Heils und der Verdammnis. So setzt denn die Kirche den Willen Gottes als die Quelle des Heils und den Willen der Menschen als die Quelle der Verdammnis. Da die Stellung dieser Meinungen somit erhellt wurde, muß man nun erkennen, daß die Meinung der Kirche wahr und die anderen falsch sind. Die Richtschnur, die wir hierfür nehmen, ist die ununterbrochene Weitergabe dieser Lehre von Jesus Christus bis zu uns. Wir wollen zeigen, daß wir sie von unseren Vätern erfahren haben und sie von jenen, die ihnen vorausgegangen sind, diese von ihren Vorgängern und diese von den alten Kirchenvätern, die sie den Aposteln verdankten, die sie wiederum un-

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mittelbar von Jesus Christus selbst erhalten haben, der die Wahrheit ist. So werden wir denn den unerschütterlichen Stein des Evangeliums und der Heiligen Schriften als Grundlage nehmen : Doch wir wollen sie nicht nach unserem eigenen Geist erklären, sondern nach dem Geist der alten Kirchenväter, der Päpste, der Konzilien, der Gebete der Kirche. Dieser Richtschnur werden wir folgen, und sie ist der katholischen Kirche eigen, nur den Häretikern nicht, die sich zwar auf die Heilige Schrift stützen, aber deren Sinn durch besondere Auslegungen entstellen, wie sie es heute in bezug auf die wirkliche Gegenwart des Leibes Jesu Christi in der Eucharistie tun, indem sie sich weigern, der Tradition der Kirchenväter und der Konzilien zu folgen. Hierauf werden wir die Neuheit der Meinungen Molinas und Calvins zeigen, wie sie selbst es anerkennen, damit der Vergleich zwischen dem hohen Alter der Meinung der Kirche und der Neuheit der anderen zu jener Ansicht führt, die man über die einen und die anderen haben muß, und damit die Achtung vor dieser Vielzahl der heiligen Verteidiger der Kirche dem Geist der Gläubigen die Gewißheit (eingibt, daß sie) die einzigen waren, die diese Ansichten vertraten, als sie diese erstmals vorgebracht haben. Und obgleich es nicht notwendig ist, andere Beweise für die Wahrheit und die Falschheit dieser Meinungen anzuführen, werden wir dennoch eine Antwort auf die Stellen der Heiligen Schrift geben, die von diesen und jenen Irrgläubigen ihrer jeweiligen Anschauung entsprechend erklärt werden und die sie scheinbar begünstigen. Und obgleich der gesunde Menschenverstand nicht mit einer Glaubenssache wetteifern darf, werden wir dennoch auf die Einwände der einen und der anderen antworten. Und schließlich werden wir zeigen, wie sehr diese Lehre selbst mit dem gesunden Menschenverstand übereinstimmt. Es geht um die Hauptfrage, ob Gott einen allgemeinen Willen hat, alle Menschen zu retten, und ob es keine Menschen

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gibt, die Gott nicht retten will. Oder, was das gleiche ist : ob Gott allen Menschen zu ihrem Heil hinreichende Gnadenmittel gibt oder ob es keine Menschen gibt, denen Gott seine Gnadenmittel verweigert. Oder, was auch noch das gleiche ist : ob die Vorherbestimmung eine Wirkung des absoluten Willens Gottes ist, der den einen retten will und den anderen nicht. Deshalb muß man an Hand der ununterbrochenen Tradition zeigen, daß alle Kirchenlehrer zu allen Zeiten als eine beständige Wahrheit festgelegt haben, daß Gott nicht alle Menschen retten will, oder, daß Gott nicht allen Menschen hinreichende Gnadenmittel zu ihrem Heil gibt, oder auch, daß die Vorherbestimmung ohne die Vorsehung der Werke erfolgt. Zunächst einmal haben wir diese große Zahl von gelehrten und vortrefflichen Verteidigern der Lehre des heiligen Augustinus, mit denen das gegenwärtige Jahrhundert durch eine besondere Gnadengabe Gottes an seine Kirche geehrt wird und die es sind, welche heute diese These gegen die Molinisten verteidigen, die sie aufheben wollen. Diesen gingen zahlreiche andere voraus, zu denen als ein Hauptvertreter der irische Erzbischof Florent Conrius 5 gehört, der diese These in seinem vor kurzem unter dem Titel Peregrinus Hiericontinus 6 gedruckten Buch vertreten und eingehend dargestellt hat. Ungefähr zur gleichen Zeit beschloß der ganze Orden der Prämonstratenser auf einem Provinzialkapitel, das vom Generalkapitel bestätigt wurde : Daß in der Sache der Gnade alle den Ansichten des heiligen Augustinus folgen sollten, und diese Ansicht Florent Conry (1560 oder 1561 – 1629), Franziskaner, Bischof von Tuam (Irland). Vgl. DicPR , S. 293. 6 Peregrinus Jerichuntinus. Paris, 1641. Antoine A rnauld übersetzte daraus : F. Conrius : Abrégé de la doctrine de S. Augustin touchant la grâce. Paris 1645. Pascal ist hier abhängig von A. A rnauld : Apologie de Monsieur Jansénius. Paris 1644. Vgl. J. Mesnar d, OC 3, S. 549 f., 770. Zu Conry ebd. S. 348 f. 5

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ist zweifellos so beschaffen, wie sie sich im folgenden zeigen wird. Kurz zuvor zensurierten die zwei berühmten Fakultäten von Löwen und Douai die neuartigen Meinungen der Molinisten, die damals von den Jesuiten vertreten wurden. Dies ist eine der zensurierten Thesen : »Seit dem Sündenfall hat Gott den Willen gehabt, Adam und allen seine Nachkommen hinreichende Mittel gegen die Sünden und Gnadenmittel zu geben, um das ewige Leben zu erwerben.« Diesen Satz hat die Fakultät von Douai mit den folgenden Worten zensuriert : »Der Wortlaut dieser Aussage widerspricht der Heiligen Schrift und den Kirchenvätern, und er scheint sogar die eigene und wahrhaftige Gnade Jesu Christi aufzuheben, die, dem heiligen Augustinus zufolge, nicht den Guten und den Bösen gemeinsam ist, sondern die Guten von den Bösen unterscheidet.« Und hierauf fügt sie hinzu : »Jesus Christus hat nicht für alle gebeten, und alle sind nicht Jesus Christus vom Vater gegeben, denn es ist gesagt : Ich bitte nicht für die Welt, sondern für die, die du mir gegeben hast.7 Also haben nicht alle einen hinreichenden Beistand Gottes, um das Heil zu erwerben, denn sonst könnten sie das Heil erwerben, ohne daß Jesus Christus für sie bäte und ohne daß der Vater sie Jesus Christus gegeben hätte, was kein Katholik sagen darf.« Diese gelehrten Theologen meinen also, daß Gott nicht allen Menschen hinreichende Gnadenmittel gibt, mit denen sie das Heil erwerben können ; ihnen zufolge will also Gott nicht alle Menschen retten, weil er ihnen nicht einmal hinreichende Gnadenmittel für ihr Heil gibt ; und gerade das wollten wir beweisen. Eine andere These der damaligen Jesuiten lautet : »Die ganze Heilige Schrift ist voller Gebote und Ermahnungen, damit sich die Sünder zu Gott bekehren ; nun gebietet Gott aber keine unmöglichen Dinge, also gibt er ihnen hinreichende Gnadenmittel, damit sie sich bekehren können.«

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Joh 17, 9.

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Jene hochgelehrten Theologen zensurierten diese These in der folgenden Art : » Diese Folgerung ist lächerlich ; denn gerade jener, der uns gebietet, es zu tun, gebietet uns auch, das zu erbitten, was wir nicht tun können, das heißt, was wir nicht vollbringen können, weil uns dafür ein hinreichendes Mittel fehlt : Und darum sagt der heilige Augustinus : Gott gebietet uns unmögliche Dinge, damit wir erkennen, was wir von ihm erbitten müssen. Wenn nämlich einige von jenen, die darum bitten, es nicht können, wieviel weniger werden es dann jene können, die nicht darum bitten, und weitaus weniger jene, die nicht darum bitten wollen, und noch viel weniger jene, die nicht einmal denjenigen erkennen, von dem sie es erbitten müssen. Wenn es nämlich wahr ist, daß es allen gegeben ist, und das sogar, bevor man darum bittet, muß man den größten Teil des Vaterunsers und der Kirchengebete streichen, denn, wie der heilige Augustinus sagt : Was gibt es Lächerlicheres, als zu bitten und zu beten, um etwas zu vollbringen, was in unserer Macht steht.«8 Aus dieser Zensur geht hervor, wie fest jene großen Kirchenlehrer (glaubten), daß Gott seine Gnadenmittel nicht allen gibt, und demzufolge, daß Gott nicht alle Menschen ohne Ausnahme retten will, da man nicht ohne Gnade gerettet werden kann. Hier eine weitere These derselben Jesuiten : »Gott wollte Jesus Christus für die Erlösung aller geben, ohne einen einzigen auszunehmen, also wollte er allen durch Jesus Christus hinreichende Gnadenmittel geben, denn Jesus Christus ist nur insofern der Erlöser aller, als er ihnen hinreichende Gnadenmittel gibt, damit sie sich aus ihren Sünden erheben können ; wenn ihnen nämlich diese hinreichenden Gnadenmittel nicht gegeben wären, so wäre er nicht ihr wahrer Erlöser, weil er es dann weder in bezug auf das Hinreichende noch auf das Wirksame sein würde.«

Das Zitat fi ndet sich bei Augustinus : De natura et gratia liber unus 20. 8

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Und diese berühmte Fakultät sprach die folgende Zensur aus : »Das Hinreichende, das die allgemeine Erlösung durch Jesus Christus verlangt, besteht im Preis seines Bluts, aber nicht in einem Beistand, der allen gegeben ist, wie es diese These behauptet, denn sonst müßte man den Beistand auch den Kindern zuerkennen, denen man nicht durch die Taufe helfen kann, oder man müßte wenigstens sagen, daß Jesus Christus sich nicht zur Erlösung für sie gegeben hat, und somit hat er sich nicht zur Erlösung für alle gegeben.« An dieser These zeigt sich ganz offensichtlich, daß Jesus Christus sich nicht zur Erlösung für alle gegeben hat und Gott nicht will, daß alle Menschen gerettet werden, wie es sich diesen Theologen zufolge verhält. Eine weitere These derselben molinistischen Jesuiten lautet : »Die Verhärteten und die Verblendeten erhalten einen hinreichenden Beistand von Gott, um sich zu bekehren.« Und dann weiter unten : »Alle Ungläubigen erhalten immer und überall einen hinreichenden Beistand von Gott.« Das sind die Lehrsätze derjenigen, die behaupten, Gott wolle alle Menschen retten, und dieselbe Fakultät zensurierte sie folgendermaßen : »Diese These muß insgesamt verworfen werden, da sie die Wohltat der alleinigen Gnade Jesu Christi schimpflich herabsetzt, die nicht allen gegeben ist und die gleichwohl allen notwendig ist, damit sie sich bekehren und sich retten können.« Es erweist sich also, da diese für das Heil notwendige Gnade Jesu Christi nicht allen gegeben ist, daß Gott nicht diejenigen retten will, denen er diese Gnade verweigert, wie es sich diesen Theologen zufolge verhält. All diese von derselben Fakultät bestätigten Zensuren wurden 1591 dem Papst zugeschickt, da man das Gerücht verbreitet hatte, die Fakultät habe ihre Meinung geändert ; und 1613 bestätigte sie schließlich ihre Zensur erneut durch das einmütige Urteil aller ihrer Doktoren. In diesem Schriftstück erklärt sie : »Da sich in Italien, in Spanien und anderswo das Gerücht verbreitet hat, die Löwener Fakultät habe in der Sache der Gnade ihre Meinung geändert und ihre frühere Zensur, die sie vormals dem Papst zugeschickt hatte, widerrufen, und sie hätte dies wegen der

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Beweiskraft der von Lessius 9 sowohl mündlich als auch in einem im Druck erschienenen Buch vorgebrachten Argumente getan, wollte die Fakultät sich gegen die weitere Verbreitung dieses falschen Gerüchtes wenden und all jenen die Wahrheit kundtun, die sie erfahren möchten ; und nachdem die gesamte Fakultät am dreizehnten Juli des Jahres 1613 nach der Vesper im kleinen Sankt-Petri-Kapitelsaal versammelt und vereidigt war, hat sie einmütig erklärt und bezeugt, ohne daß ein Doktor widersprochen hätte, daß sie allezeit vertreten hat und gegenwärtig weiter vertritt, daß sie an ihren früheren Ansichten, die sie in dieser Zensur vertreten und erklärt hat, immer festgehalten hat und gegenwärtig weiter festhält und daß sie mit Gottes Hilfe niemals von ihnen abweichen wird. Dies gilt unter der Voraussetzung, daß es nicht vom Papst und der heiligen römischen Kirche anders entschieden und als Glaubenssatz verordnet wird, und die Fakultät legt deren Zensur und Durchsicht demütig alles vor, was in ihrer besagten Zensur enthalten ist, und alles, was sie im übrigen gesagt hat, wie auch alles, was sie in Zukunft sagen wird. Sie erklärt außerdem, daß Lessius’ Argumente sie bei weitem nicht von ihren Meinungen abgebracht haben und daß sie im Gegenteil, wie sie früher mehrere von ihm vorgetragene Sätze mißbilligt hat, jetzt ebenso seine Bücher und seine über diesen Gegenstand im Druck erschienenen Werke mißbilligt. Und die Fakultät hat gestattet und beabsichtigt, daß die Kopie dieses Schriftstücks jedem, der nach ihr verlangt, gegeben und überallhin geschickt wird.« Es zeigt sich überaus klar, daß die beiden Fakultäten von Löwen und Douai die Meinung vertreten haben, Gott gebe seine Gnadenmittel nicht allen Menschen, und daß es das gleiche ist, wenn man sagt, er wolle nicht, daß alle Menschen gerettet werden. Sehen wir, was hierüber die Pariser Fakultät am Ende des Magister Sententiarum und in der Bibliothek der Kirchenvä-

Leonardus Lessius S J (1554 – 1623), vgl. Marcel Gielies. In : LThK 3 6, Sp. 852 f. und Gerhard Ludwig Müller : Kongruismus. Ebd. Sp. 253 f. 9

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ter sagt. Diese zwei Thesen werden verdammt : »Daß Gott von Ewigkeit her einige wegen gewisser guter Werke, die sie tun mußten, vorherbestimmt habe.« Und diese : »Daß Gott jenen, den er vorherbestimmt hat, nicht derart unverdient vorherbestimmt habe, sondern in Erwägung der guten Werke, die er entweder selbst oder ein anderer tun mußte.« Es erweist sich also, daß die Pariser Fakultät damals die Vorherbestimmung vor die Vorsehung des menschlichen Verdienstes setzte und daß sie demzufolge, da sie nicht vom Willen der Menschen ausging, vom einfachen Willen Gottes ausging. »S. Thomas 10, 1a p., q. 23, a. 5 ad 3. Daß Gott die einen erwählt und die anderen verwirft, ohne daß man andere Gründe für diese Unterschiede als allein seinen Willen finden kann. 2a 2ae, q. 2, a. 5 ad 1. Daß Gott, um die Tatsünde oder die Erbsünde zu bestrafen, in seiner Gerechtigkeit jene Gnadenmittel verweigert, ohne die man nicht die Dinge tun kann, zu denen man verpflichtet ist, wie etwa, Gott zu lieben und die Glaubensartikel zu glauben. 1a 2ae, q. 106, a. 3, in c. Daß das neue Gesetz, welches das Gesetz der Gnade ist, erst sehr spät gegeben wurde, damit der Mensch im alten Gesetz sich selbst überlassen war und damit er, wenn er von selbst fiel, die Notwendigkeit erkannte, die für ihn die Gnade hatte. Daß alle Menschen es (als) Strafe für die Ursünde verdient haben, des Beistandes der Gnade beraubt zu sein, und daß Gott also Gerechtigkeit übt, wenn er sie nicht gibt, und Barmherzigkeit, wenn er sie gibt. Ibid., ad 3. Daß Gott hinreichend für die Menschen sorgt, was das leibliche Leben betrifft, weil die Natur durch die Sünde nicht aufgehoben wird, daß er aber nicht ebenso bei dem Leben in der Gnade und dem geistlichen Leben handelt, weil die Gnade von der Sünde aufgehoben wurde. 3a, q. 22, a. 4 ad 2. Jesus Christus hat kein Gebet verrichtet, das nicht erhört worden wäre, und darum hat er nicht zu seinem Vater

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Nämlich : Summa theologiae.

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gebetet, all jenen das ewige Leben zu geben, die ihn gekreuzigt haben, und auch nicht all jenen, die an ihn glauben werden, sondern allein den Vorherbestimmten. « Also ist dem heiligen Thomas zufolge diese Meinung, daß die hinreichende Gnade nicht allen Menschen gegeben werde, nicht häretisch, sondern im Gegenteil gut katholisch, was den Molinisten widerspricht. Aber dieser Wille Gottes, den einen oder anderen Menschen nicht zu retten, leitet seine Macht und seinen Ursprung von der Erbsünde her, was den Calvinisten widerspricht. Petrus Lombardus. Sehen wir, was Petrus Lombardus,11 der Bischof von Paris und Magister Sententiarum, hierüber gedacht hat. Lib. Sent., Distinctio 41, § 46. Als eine grundfalsche Meinung verwirft er die Ansicht derjenigen, die sagen, Gott wolle, daß alle Menschen insgesamt gerettet werden, ohne einen einzigen auszunehmen ; und er erkennt durchaus nicht an, daß Gott diesen Willen anderen als jenen gegenüber habe, die tatsächlich gerettet werden. Und an anderer Stelle : Daß die Vorherbestimmung nur von Gottes Willen abhängt. Daß er jene erwählt hat, für die er es durch eine ganz unverdiente Barmherzigkeit gewollt hat. Ibid. Wie die Gabe der Gnade eine Wirkung der Vorherbestimmung ist, so ist die Verhärtung gewissermaßen eine Wirkung der ewigen Verwerfung : Gott aber verhärtet nicht, wie der heilige Augustinus zu Sixtus sagt, indem er die Bosheit erteilt, sondern indem er die Barmherzigkeit nicht erteilt, und es ist gesagt, daß er sie verhärtet, und nicht, daß er sie zur Sünde verleitet, daß er sich vielmehr ihrer nicht erbarmt, und er erbarmt sich jener nicht, denen er nach seinem Urteil seine Gnade nicht gibt, was durch eine tief verborgene und vom Menschenverstand weit entfernte Gerechtigkeit geschieht,

Ca. 209 – 226. Die Sententiae sind »die erfolgreichste S[amm]l[un]g theol[ogischer] Fragestellungen des 12. Jahrhunderts« und als solche das meistverwendete mittelalterliche einschlägige Schulbuch, vgl. Stephen F. Brown : Petrus Lombardus. In : LThK 3 8, Sp. 128 f. 11

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die der Apostel uns nicht (enthüllt), sondern bewundert hat, indem er ruft : ›O Altitudo‹ 12 usw. Ich glaube, selbst die Blindesten sehen klar, daß Gott einige ohne Vorsehung der Verdienste vorherbestimmt und einige andere verworfen hat, denen er seine Gnade nicht gibt, wie es sich dem Magister Sententiarum und der Scholastik zufolge verhält.

Zweite Schrift : Lehre des heiligen Augustinus Der heilige Augustinus unterscheidet die zwei Zustände der Menschen vor und nach dem Sündenfall, und über diese zwei Zustände vertritt er dementsprechend zwei unterschiedliche Ansichten.

Vor Adams Sündenfall Gott hat den ersten Menschen und in ihm die ganze menschliche Natur geschaffen. Er hat ihn gerecht, gesund und stark geschaffen. Ohne irgendeine Begierde. Mit dem freien Willen, der sich gleichermaßen dem Guten und dem Bösen zuneigen konnte. Wobei er dessen Seligkeit wünschte und gar nicht anders konnte, als sie zu wünschen.

Die Zitate aus Petrus Lombar dus : Sententiae in IV libris distincta dist. 46, c. 2, dist. 41, c. 2 und dist. 40, c. 2, sind nach Le Guern OC 2, S. 1253 eine Rückübersetzung aus Antoine A rnauld : Première apologie pour M. Jansénius. III , S. 242. Vgl. als moderne Ausgabe : Lombar dus : Sententiae … Bd. 1. Grottaferrata 31971, S. 313 f., 289 – 292 und 287 f. Zum Schlußzitat vgl. Röm 11, 33 : »O Tiefe [des Reichtums, der Weisheit und Wissenschaft Gottes ? Wie unerforschlich sind seine Ratschlüsse, wie unbegreiflich seine Wege ?]«. 12

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Gott konnte mit dem absoluten Willen, die Menschen zu verdammen, keinen von ihnen schaffen. Gott hat nicht mit dem absoluten Willen, die Menschen zu retten, diese geschaffen. Gott hat in dem bedingten Willen, alle Menschen insgesamt zu retten, wenn sie seine Gebote hielten, die Menschen geschaffen. Wenn sie seine Gebote nicht hielten, wollte er über sie als Herr bestimmen, das heißt sie nach seinem Gutdünken verdammen oder sich ihrer erbarmen. Der unschuldige und aus Gottes Hand kommende Mensch konnte, obgleich er stark, gesund und gerecht war, die Gebote nicht ohne Gottes Gnade halten. Gott konnte Adam und den unschuldigen Menschen keine Gebote zu Recht auferlegen, ohne ihnen die notwendige Gnade zu geben, damit sie diese erfüllen konnten. Wenn die Menschen bei ihrer Schöpfung keine hinreichende und notwendige Gnade gehabt hätten, um die Gebote zu erfüllen, so hätten sie nicht gesündigt, wenn sie diese übertraten. Gott gab Adam hinreichende Gnade, das heißt, außer ihr war keine andere notwendig, um die Gebote zu erfüllen und gerecht zu bleiben. Durch das Mittel dieser Gnade konnte er nach seinem Gutdünken im Glauben beharren oder nicht. So konnte denn sein freier Wille als Herr über diese hinreichende Gnade sie nach seinem Gutdünken nichtig oder wirksam machen. Gott überließ und gestattete Adams freiem Willen den guten oder schlechten Gebrauch dieser Gnade. Wenn Adam durch das Mittel dieser Gnade im Glauben beharrt hätte, so hätte er die ewige Seligkeit verdient, das heißt, er wäre ewiglich in der Gnade fest geworden, ohne die Gefahr, jemals zu sündigen : wie es die guten Engel durch das Verdienst einer gleichartigen Gnade verdient haben. Und jeder von seinen Nachkommen wäre als Gerechter und mit einer hinreichenden, der seinen gleichen Gnade geboren, durch die er nach seinem Gutdünken im Glauben beharren

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könnte oder nicht und wie Adam die ewige Seligkeit verdienen könnte oder nicht. Als Adam vom Teufel versucht wurde, erlag er der Versuchung, er empörte sich gegen Gott, übertrat dessen Gebote, wollte von Gott unabhängig und ihm gleich sein.

Nach Adams Sündenfall Nachdem Adam gesündigt und sich des ewigen Todes würdig gemacht hatte, als Strafe für seinen Aufruhr, hat Gott ihn der Liebe zu den Geschöpfen überlassen. Und sein Wille, der vorher in keiner Weise und durch keine Begierde zu den Geschöpfen hingezogen war, fand sich nun voller Begierde, die der Teufel und nicht Gott in ihm ausgesät hat. Die Begierde hat sich also in seinen Gliedern erhoben, seinen Willen gekitzelt und im Bösen erfreut, und die Finsternis hat seinen Geist derart erfüllt, daß sein Wille – der zuvor dem Guten und dem Bösen gegenüber gleichgültig, ohne Wohlgefallen und ohne Kitzel beim einen oder beim anderen war, vielmehr ohne jedes eigene zuvorkommende Verlangen dem folgte, was er als seiner Glückseligkeit am besten angemessen erkannte – jetzt von der Begierde bestrickt ist, die sich in seinen Gliedern erhoben hat. Und sein überaus starker, überaus gerechter und überaus klarer Geist ist nun verdunkelt und unwissend. Da diese Sünde von Adam auf seine ganze Nachkommenschaft übergegangen ist, die in ihm wie eine aus schlechtem Samen stammende Frucht verdorben wurde, werden alle von Adam abstammenden Menschen in Unwissenheit, in Begierde, schuldig an Adams Sünde und des ewigen Todes würdig geboren. Der freie Wille kann sich weiter dem Guten und dem Bösen zuneigen, dies jedoch mit dem Unterschied, daß, während er in

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Adam sich nicht zum Bösen gereizt fühlte und es ihm genügte, das Gute zu erkennen, damit er sich ihm zuwenden konnte, er jetzt durch die Begierde eine solche Annehmlichkeit und ein so machtvolles Wohlgefallen im Bösen hat, daß er sich unfehlbar ihm von selbst zuwendet, als sei es zu seinem Besten, und daß er es freiwillig, ganz ohne Zwang und mit Freuden als den Gegenstand wählt, in dem er seine Glückseligkeit fi ndet. Da alle Menschen zu dieser verderbten Masse gehörten und gleichermaßen des ewigen Todes und des göttlichen Zorns würdig waren, konnte Gott sie alle ohne Barmherzigkeit und zu Recht der Verdammnis überlassen. Und gleichwohl gefällt es Gott, aus dieser gleichermaßen verderbten Masse, in der er nur Mißverdienste sah, eine gewisse Zahl von Menschen jeden Geschlechtes und Alters, aller Stellungen und Veranlagungen, aller Länder, aller Zeiten und schließlich aller Arten auszusuchen, zu erwählen und abzusondern. Daß Gott seine Auserwählten von den anderen aus Gründen, die den Menschen und den Engeln unbekannt sind, und durch reine Barmherzigkeit ohne jedes Verdienst gesondert hat. Daß die von Gott Auserwählten eine Gesamtheit bilden, die bald Welt genannt wird, weil sie in der ganzen Welt verbreitet sind, bald alle, weil sie ein Ganzes bilden, bald mehrere, weil sie mehrere unter den anderen sind, bald wenige, weil sie im Verhältnis zu allen Verlassenen wenige sind. Daß die von Gott Verlassenen ein Ganzes bilden, das Welt, alle und mehrere und niemals wenige genannt wird. Daß Gott durch seinen absoluten und unumstößlichen Willen und in seiner vollkommen unverdienten Güte seine Auserwählten retten wollte und daß er die anderen ihren bösen Gelüsten überlassen hat, denen er zu Recht alle Menschen überlassen konnte. Gott hat, um seine Auserwählten zu retten, Jesus Christus gesandt, um seine Gerechtigkeit zu erfüllen und um durch seine Barmherzigkeit die Gnade der Erlösung, die heilsame Gnade, die Gnade Jesu Christi zu verdienen, die nichts an-

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deres als eine Annehmlichkeit und ein Wohlgefallen im Gesetz Gottes ist, das vom Heiligen Geist im Herzen ausgegossen wurde und der Begierde des Fleisches nicht allein gleichkommt, sondern sie sogar übertrifft, den Willen mit einem größeren Wohlgefallen im Guten erfüllt, als die Begierde es ihm im Bösen bietet, so daß der freie Wille, mehr von den Wohltaten und Freuden bestrickt, die der Heilige Geist ihm eingibt, als von den Lockungen der Sünde, unfehlbar von selbst das Gesetz Gottes aus dem einzigen Grunde wählt, daß er in ihm größere Genugtuung entdeckt und seine Seligkeit und sein Glück fi ndet. So sind denn jene, denen Gott nach seinem Willen diese Gnade gibt, von selbst aus freiem Willen geneigt, Gott unfehlbar den Geschöpfen vorzuziehen. Darum sagt man unterschiedslos entweder, daß der freie Wille sich von selbst durch dieses Gnadenmittel dem zuneige, weil er sich dem tatsächlich zuneigt, oder, daß diese Gnade den freien Willen dazu neige, denn immer, wenn sie gegeben wird, ist der freie Wille unfehlbar dazu geneigt. Und jene, denen Gott nach seinem Willen diese Gnade bis zum Ende gibt, beharren unfehlbar in dieser besonderen Neigung, und da sie so aus eigenem Willen die Wahl treffen, bis zum Tode das Gesetz zu erfüllen und es nicht zu übertreten, weil sie darin größere Genugtuung empfi nden, verdienen sie die ewige Seligkeit sowohl durch den Beistand dieser Gnade, welche die Begierde überwunden hat, als auch durch ihre eigene Wahl und die Regung ihres freien Willens, der sich von selbst und ohne Zwang dem zugeneigt hat. Und all jene, denen diese Gnade nicht oder nicht bis zum Ende gegeben ist, werden weiter von ihrer Begierde derart gekitzelt und bestrickt, daß sie aus dem Grunde unfehlbar lieber sündigen als nicht sündigen, weil sie darin größere Genugtuung fi nden ; und da sie also in ihren Sünden sterben, verdienen sie den ewigen Tod, denn sie haben aus eigenem und freiem Willen das Böse gewählt.

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So werden die Menschen denn gerettet oder verdammt, je nachdem, ob Gott sie nach seinem Willen ausgewählt hat, um ihnen innerhalb der verderbten Masse der Menschen, in der er sie zu Recht alle lassen konnte, diese Gnade zu geben. Alle Menschen sind ja von sich aus gleichermaßen schuldig, wenn Gott sie gesondert hat.

Ansichten der restlichen Pelagianer 13 Die restlichen Pelagianer stimmten unschwer mit Sankt Augustinus in bezug auf den Stand der Unschuld überein, nämlich : daß Gott den Menschen gerecht und mit einer hinreichenden Gnade geschaffen habe, durch die er, wenn er wollte, im Glauben beharren konnte oder nicht ; und daß Gott bei der Schöpfung einen bedingten Willen gehabt hätte, sie alle zu retten, vorausgesetzt, daß sie diese Gnade gut gebrauchten ; und da deren Gebrauch dem freien Willen Adams überlassen war, haben er und in ihm die ganze menschliche Natur gesündigt ; daß er für seine Begierde und Unwissenheit bestraft wurde ; daß seine ganze Nachkommenschaft mit den beiden Geißeln der Unwissenheit und der Begierde als der Verdammnis würdig geboren werde. In all diesen Dingen stimmen sie überein. Aber sie unterscheiden sich in bezug auf das Walten Gottes den Menschen gegenüber nach dem Sündenfall. Und sie vertreten diese Meinung : Daß Gott ungerecht gewesen wäre, wenn er nicht alle Menschen (in der verderbten Masse) retten wollte und wenn er ihVgl. Otto Wermlinger /Gisbert Gresh ake : Pelagius, Pelagianismus. In : LThK 3 8, Sp. 5 – 9. Pascal verwendet den Begriff hier in einem weiteren polemischen Sinn : »Im weiteren Sinn bez[eich net] P[elagianismu]s jene Formen der abendländ. Anthropologie, welche die Freiheit des Menschen u. sein sittl. Vermögen hervorheben u. die Notwendigkeit einer heilenden u. heiligenden Gnade leugnen od. unterbewerten« (Greshake, Sp. 9). 13

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nen nicht allen die hinreichenden Gnadenmittel gegeben hätte, mit denen sie sich retten konnten. Daß er nicht, ohne unbedacht zu sein, die einen von den anderen sondern könnte, wenn sie nicht von sich aus eine Gelegenheit für diese Unterscheidung geboten hätten. Daß Gott nicht, ohne ihren freien Willen zu verletzen, mit absolutem Willen wollen könnte, so zu wirken, daß sie die Gebote durch seine Gnade erfüllen. Und auf diesen Grundlagen stellen sie die Behauptung auf, daß Gott einen allgemeinen, gleichen und bedingten Willen gehabt hätte, alle Menschen (in der verderbten Masse) wie bei der Schöpfung zu retten, und zwar unter der Voraussetzung, daß sie die Gebote erfüllen wollten. Doch da sie ihres Sündenfalls wegen eine neue Gnade brauchten, sei Jesus Christus zum Menschen geworden, um für sie, ohne Ausnahme eines einzigen und ohne Unterbrechung während ihres ganzen Lebens, eine hinreichende Gnade zu verdienen, die allein bewirke, daß sie an Gott glauben und Gott um Hilfe bitten, und um allen diese Gnade anzubieten. Daß jene, die diese Gnade nicht gebrauchen und die trotz dieses Beistandes bis zum Tode sündhaft bleiben, von Gott zu Recht verlassen, bestraft und verdammt werden. Daß jene, die diese Gnade gut gebrauchen und an Gott glauben oder zu ihm beten, dadurch Gott die Gelegenheit geben, sie von den anderen zu unterscheiden und sie mit weiteren Gnadenmitteln zu versehen – die von den einen wirksam und den anderen nur hinreichend genannt werden –, damit sie sich retten können. So erhalten denn all jene, die diese allgemeine und hinreichende Gnade gut gebrauchen, Gnadenmittel von Gottes Barmherzigkeit, um gute Werke zu tun und zum Heil zu gelangen. Und jene, die diese Gnade nicht gut gebrauchen, unterliegen weiter der Verdammnis. So seien die Menschen gerettet oder verdammt, je nachdem, wie es ihnen gefalle, diese hinreichende Gnade, die allen Men-

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schen gegeben wäre, damit sie glauben oder beten könnten, nichtig oder wirksam zu machen, während Gott von sich aus einen gleichen Willen habe, sie alle zu retten.

Ansicht Calvins Calvin stimmt mit dem heiligen Augustinus nicht im geringsten überein und unterscheidet sich vom Anfang bis zum Ende bei allem von ihm. Er behauptet, daß Gott, als er Adam und in ihm alle Menschen geschaffen hatte, bei ihrer Schöpfung keinen bedingten Willen gehabt habe, sie zu retten. Daß der Zweck, den er verfolgt habe, als er das edelste seiner Geschöpfe bildete, nicht zwiespältig gewesen sei, sondern er die einen in dem absoluten Willen geschaffen habe, sie zu verdammen, und die anderen in dem absoluten Willen, sie zu retten. Daß Gott es um seiner Herrlichkeit willen so verfügt habe. Daß diese Verfügung folglich gerecht sei, obgleich sich uns nicht zeige, wie, denn alles, was ihm Herrlichkeit verleiht, sei gerecht, da es gerecht sei, daß er die ganze Herrlichkeit habe. Daß Gott sie auf Grund seiner Gerechtigkeit gleichwohl nicht ohne Sünde verdammen könnte und deshalb die Sünde Adams nicht gestattet, sondern sie vielmehr verfügt und geboten habe. Daß Adam, nachdem er auf Gottes Ratschluß notwendig gesündigt hätte, den ewigen Tod verdient habe. Daß er seinen freien Willen verloren habe. Daß er selbst mit der größten wirksamen Gnade keine Neigung zum Guten mehr hätte. Daß Adams Sünde sich auf seine ganze Nachkommenschaft übertragen habe, nicht auf natürlichem Wege, wie der Fehler eines Samenkorns auf die Frucht, die es hervorbringt, sondern nach dem Ratschluß Gottes, durch den alle Menschen als Schuldige an der Sünde ihres ersten Vaters geboren werden, ohne freien Willen, ohne jegliche Neigung zum Guten, selbst mit dem Beistand der wirksamen Gnade, und des ewigen Todes würdig.

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Da alle Menschen schuldig seien, habe Gott über sie als Herr verfügt. Er habe nur jene retten wollen, die er geschaffen hätte, um sie zu retten. Er habe jene verdammen wollen, die er geschaffen hätte, um sie zu verdammen. Daß Jesus Christus hierfür Mensch geworden sei, um jenen das Heil zu verdienen, die aus der noch unschuldigen Masse vor der Vorsehung der Sünde auserwählt worden seien. Daß Gott jenen, und nur jenen, die Gnade Jesu Christi gebe, die sie niemals verlieren, sobald sie diese einmal empfangen haben, und die deren Willen zum Guten bewege (die nicht etwa bewirke, daß der Wille sich dem zuwende, sondern die ihn trotz seines Widerstrebens dem zuwende), wie einen Stein, wie eine Säge, wie tote Materie, wenn diese Gnade tätig sei, ohne daß jene die geringste Fähigkeit hätten, sich mit dem Beistand der Gnade selbst zu rühren und mit ihr zusammenzuwirken, weil der freie Wille verloren und völlig erstorben sei. So wirke denn die Gnade allein ; und obgleich sie bis zum Tode bestehe und gute Werke hervorbringe, sei es durchaus nicht der freie Wille, der sie tue und sich nach seiner Wahl ihnen zuwende ; während die Gnade in ihm diese guten Werke hervorbringe, verdiene er im Gegenteil den ewigen Tod. Daß Jesus Christus das alleinige Verdienst zukomme und – da den Gerechten kein Verdienst zukomme – daß die Verdienste Jesu Christi ihnen lediglich zugerechnet und beigelegt werden und sie so gerettet seien. Darum seien jene, denen diese Gnade einmal gegeben werde, unfehlbar gerettet, und das nicht durch ihre guten Werke oder ihren guten Willen, denn so etwas haben sie nicht, sondern durch die Verdienste Jesu Christi, die ihnen beigelegt werden. Und jene, denen diese Gnade nicht gegeben werde, seien unfehlbar der Sünden wegen verdammt, die sie nach Anordnung und Ratschluß Gottes begehen, der sie um seiner Herrlichkeit willen zu ihnen bewege. So seien denn die Menschen gerettet oder verdammt, je nachdem, wie es Gott gefallen habe, sie bei ihrer Schöpfung

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aus der Nachkommenschaft Adams auszuwählen, und wie es Gott auch gefallen habe, sie um seiner Herrlichkeit willen entweder zum Guten oder zum Bösen zu neigen. Denn alle Menschen wären subjektiv gleichermaßen unschuldig, als Gott sie unterschieden habe.

Dritte Schrift : Brief über die Möglichkeit, die Gebote zu halten, über die scheinbaren Widersprüche bei dem heiligen Augustinus, die Theorie von der doppelten Verlassenheit der Gerechten und die unmittelbare Fähigkeit Ich habe nicht die erforderliche Zeit, die Bücher und das Geschick, um Euch eine so genaue Antwort zu geben, wie ich es möchte : Ich werde dennoch antworten, wie ich es jetzt vermag, damit Ihr Dinge in schriftlicher Form seht, die ich Euch oft gesagt habe, und sie dadurch einen größeren Eindruck auf Euch machen, so daß Ihr keine nochmalige Wiederholung nötig habt. Ihr bittet mich, auf diese Worte im XI . Kapitel der sechsten Sitzung des Tridentinischen Konzils 14 zu antworten : Daß die Gebote den Gerechten nicht unmöglich sind. Ich werde Euch zufriedenstellen, so gut ich es vermag. Diese These – die Gebote sind den Gerechten möglich – hat zwei ganz unterschiedliche und voneinander weit entfernte Bedeutungen. Hier handelt es sich nicht um zwei abweichende Schulmeinungen ; der Unterschied ist wirklich und wahrhaftig, er

Die Texte des Trienter Konzils fi nden sich in Giuseppe A lberigo u. a. (Hrsg.) : Conciliorum oecumenicorum decreta. Basel u. a. 1968, S. 633 – 775, Kap. 11 des Rechtfertigungsdekrets S. 651 – 652, dt.-lat. Parallelausgabe : Conciliorum oecumenicorum decreta = Dekrete der ökumenischen Konzilien. Ed. tertia. [Dt. Ausg.] Josef Wohlmuth (Hrsg.). 3 Bde. Paderborn 1998– 2004, hier Bd. 3, S. 657– 799, Kap. 11 S. 675 – 676. – Als praktische Handausgabe DH 1500 – 1835, Kap. 11 hier : DH 1536 – 1539. 14

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liegt sowohl im Wesen der Sache als auch in den Worten des Konzils. Die erste Bedeutung, die sich zunächst anbietet und die Ihr an dieser Stelle für die des Konzils haltet – was Ihr deutlich als unwahr erkennen werdet –, ist, daß der in einem Augenblick seiner Gerechtigkeit betrachtete Gerechte stets die unmittelbare Fähigkeit hat, die Gebote im folgenden Augenblick zu erfüllen – was die Meinung der restlichen Pelagianer ist und von der Kirche immer, und gerade auf diesem Konzil, bekämpft wurde. Die zweite Bedeutung, die sich nicht so leicht anbietet und die an dieser Stelle gleichwohl die des Konzils ist, besteht darin, daß der Gerechte, der als Gerechter und in einer Regung christlicher Liebe handelt, die Gebote in der Handlung, die er aus christlicher Liebe ausführt, erfüllen kann. Ich weiß wohl, daß es so wenig Anlaß zu dem Zweifel gibt, ob diese aus christlicher Liebe ausgeführten Handlungen mit den Geboten übereinstimmen, daß man kaum glauben kann, das Konzil habe etwas derart Eindeutiges näher bestimmen wollen : Wenn Ihr aber bedenkt, daß die Lutheraner ausdrücklich behauptet haben, die Handlungen der Gerechten, selbst die aus christlicher Liebe ausgeführten, seien notwendig immer Sünden, und die Begierde, die immer in diesem Leben herrsche, hebe die Wirkung der christlichen Liebe derart weitgehend auf, daß, so gerecht die Menschen auch sein und aus welchen Regungen der christlichen Liebe sie auch handeln mögen, das Gelüste immer so sehr daran teilhabe, daß sie nicht nur die Gebote nicht erfüllen, sondern sie übertreten, und daß sie darum vollkommen unfähig seien, diese zu halten, welche Gnade ihnen auch immer beistehe, so werdet Ihr es zweifellos für notwendig halten, daß das Konzil eine derart unerträgliche Irrlehre verurteilte. Ihr seht, wie sehr sich diese zwei Bedeutungen unterscheiden : Bei der einen versteht man im eigentlichen Sinne, daß die Gerechten die Fähigkeit haben, in der Gerechtigkeit zu beharren ; bei der anderen versteht man im eigentlichen Sinne, daß der christlichen Liebe, so wie sie bei den Gerechten in

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diesem Leben beschaffen ist, die Gebote möglich seien – und obgleich diese zwei Bedeutungen hier mit so unterschiedlichen Worten ausgedrückt werden, lassen sie sich gleichwohl alle beide mit diesen Worten ausdrücken : Die Gebote sind den Gerechten möglich. Da diese These jedoch doppeldeutig ist, werdet Ihr es nicht für sonderbar halten, daß man ihr in dem einen Sinne zustimmen und sie in dem anderen Sinne ablehnen kann. Darum hat es auch Ketzer gegeben, die ihr in diesem wie in jenem Sinne widersprochen haben. Die restlichen Pelagianer behaupten, daß den Gerechten die Gebote im ersten Sinne immer möglich seien ; die Kirche verwirft es. Die Lutheraner behaupten, daß die Gebote im zweiten Sinne unmöglich seien ; die Kirche verwirft es. So mußte das Konzil zwei derart unterschiedliche Irrmeinungen bekämpfen, denn die Behauptung, die Gebote seien im ersten Sinne immer möglich, ist ebenso häretisch wie jene, sie seien im zweiten Sinne unmöglich ; und da es sich um voneinander völlig getrennte Probleme handelt, widerlegt es sie auch voneinander getrennt. Es bekämpft die Irrmeinung Luthers in diesem XI . Kapitel, das nur gegen jenen Ketzerführer geschrieben wurde, und in den Canones 18 und 25, die aus diesem Kapitel gebildet sind ;15 und es bekämpft die Irrmeinung der Semipelagianer 16 im XIII . Kapitel 17 und in den Canones 16 und 22,18 die aus ihm gebildet sind. Darum besteht sein Ziel in diesem XI . Kapitel allein darin zu zeigen, daß der aus Liebe zu Gott handelnde Gerechte sündenfreie Werke tun und also die Gebote halten kann, wenn er aus christlicher Liebe handelt, und nicht darin, daß er immer die unmittelbare Fähigkeit 15

DH 1568, 1575.

Vgl. Gerhard Ludwig Müller : Semipelagianismus. In : LThK 3 9, Sp. 451 – 453 zum historischen Kontext im 17. Jahrhundert. 17 DH 1541. 18 DH 1566, 1572. 16

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habe, diese christliche Liebe, welche die Erfüllung der Gebote möglich macht, zu bewahren. Und sein Ziel im XIII . Kapitel besteht darin zu erklären, es sei falsch, daß die Gerechten immer die unmittelbare Fähigkeit haben, in der Gerechtigkeit zu beharren ; und es belegt im Canon 22,19 der aus diesem Kapitel gebildet ist, jene mit dem Bannfluch, die sagen, der Gerechte habe die Fähigkeit, ohne einen besonderen Beistand in der Gerechtigkeit zu beharren ; und folglich ist dieser Beistand nicht allen Gerechten gemeinsam. Und obgleich das Konzil hiermit begründet, daß die Gerechten nicht nur ohne einen besonderen Beistand nicht die Gabe des augenblicklichen Beharrens haben, ihnen vielmehr selbst die Fähigkeit fehle, ohne einen besonderen Beistand überhaupt zu beharren, was nichts anderes bedeutet, als daß alle Gerechten, denen diese besondere Fähigkeit fehlt, nicht die Fähigkeit haben, die Gebote im folgenden Augenblick zu erfüllen, denn das Beharren bedeutet ja nichts anderes, als daß man die Gebote in den folgenden Augenblicken erfüllt, widerspricht seine Entscheidung dennoch nicht jener des Kapitels XI , daß die Gebote den Gerechten nicht unmöglich sind, weil diese These verschiedene Bedeutungen hat. Um meine Worte zu beweisen, müßte man nur dieses ganze Kapitel XI übersetzen ; und wenn Ihr es übersetzen laßt, werdet Ihr die dem Konzil entsprechende Bedeutung klar erkennen. Das Konzil legt zunächst seine These dar, daß den Gerechten die Gebote nicht unmöglich sind, was der heilige Augustinus gesagt hat. Und um zu prüfen, in welchem Sinne es dies versteht, bitte ich Euch lediglich, den Beweis anzusehen, den es hierfür vorbringt, die Schlußfolgerung, die es aus seinem Beweis zieht, und die Canones, die es hieraus bildet. Wenn nämlich der Beweis, den es hierfür angibt, nur für die erste Bedeutung zutrifft, wenn die Schlußfolgerung, die es hieraus

19

DH 1572.

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zieht, in eindeutigen Begriffen derselben ersten Bedeutung entspricht und die Canones sich ebenfalls nur auf diese erste Bedeutung beziehen – wer könnte dann an der Bedeutung dieser These zweifeln ? Dies ist sein Beweis : Die Gebote sind den Gerechten nicht unmöglich ; denn jene, die Gottes Kinder sind, das heißt die Gerechten, lieben Jesus Christus, und er hat gesagt, daß, wer ihn liebe, sein Wort halten werde,20 das heißt : seine Gebote. Dieser Beweis ist ein vortreffliches Mittel, um die Möglichkeit im ersten Sinne zu zeigen : das heißt, um zu zeigen, daß der christlichen Liebe die Gebote möglich sind ; denn Jesus Christus hat gesagt, daß, wer seine Gebote halte, der sei es, der ihn liebe.21 Doch dieser Beweis kann nicht gelten, um die Möglichkeit im zweiten Sinne zu zeigen, das heißt für die Zukunft ; denn es ist wohl gesagt, daß jene, die Jesus Christus gegenwärtig lieben, in derselben gegenwärtigen Zeit, in der sie ihn lieben, seine Gebote halten, aber nicht, daß sie die Fähigkeit haben werden, die Gebote in Zukunft zu halten. Daher weist das Konzil an derselben Stelle darauf hin, daß sie durch den Beistand Gottes die Gebote halten können. Nachdem es demzufolge viele Stellen der Heiligen Schrift zitiert hat, welche die Gerechtigkeit und die Beobachtung der Gebote verlangen, was lächerlich wäre, wenn die menschliche Natur sogar mit dem Beistand der Gnade dazu absolut unfähig wäre, zieht es den folgenden Schluß : Hieraus gehe zuverlässig hervor, daß jene dem wahren Glauben widersprechen, die behaupten, daß der Gerechte in all seinen guten Taten sündige. Und da das Konzil somit versichert, seine These bewiesen zu haben – daß die Gebote den Gerechten nicht unmöglich sind –, als es mittels dieses Beweises – denn jene, die Jesus Christus lieben, halten sein Wort – den folgenden Schluß zieht : Also

20 21

Joh 14, 23. Joh 14, 21.

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sündigt der Gerechte nicht in allen seinen guten Taten – kann man dann in Abrede stellen, daß es in seiner These, der man einen doppelten Sinn gibt, nichts anderes sagen wollte als das, was es in seiner Schlußfolgerung sagt, die man nicht unterschiedlich auslegen kann, nämlich : daß der Gerechte nicht sündigt, wenn er gute Taten durch eine von der Gnade eingegebene Regung vollbringt ? Und dies wird von den Canones vollkommen erhellt, die das Konzil hieraus bildet und die stets das Wesen und gleichsam die Seele der Kapitel sind. Hier nun all jene, die es in bezug auf diese Möglichkeit aus ihnen ableitet : Canon 25.22 Wer sagt, der Gerechte sündige in jedem guten Werke wenigstens verzeihlich oder (was noch unerträglicher ist) tödlich, und verdiene deswegen ewige Strafen ; und er werde nur deshalb nicht verurteilt, weil Gott diese Werke nicht zur Verurteilung anrechnet ; der sei mit dem Anathema belegt. Ist der vom Konzil gemeinte Sinn etwa nicht klar ? Canon 18.23 Wer sagt, die Gebote seien auch für einen gerechtfertigten und unter der Gnade stehenden Menschen unmöglich zu beobachten : der sei mit dem Anathema belegt. Gibt es etwas Klareres ? Es scheint, das Konzil habe gefürchtet, man könnte seinen Ausspruch mißbrauchen, und deshalb habe es sich nicht mit den Worten begnügt : wenn jemand sagt, daß den Gerechten die Gebote unmöglich seien, der sei verflucht ; es erklärt vielmehr : wenn jemand sagt, daß dem Gerechten, der sich im Stand der Gnade befindet, die Gebote unmöglich seien, der sei verflucht, damit man nicht glauben könnte, es spreche von dieser Möglichkeit im pelagianischen Sinne, und damit es sich klar erwies, daß es nur jene bekämpft, die behaupten, die Gebote seien den Gerechten unmöglich, selbst wenn ihnen die Gnade beistehe und während sie sich im Stand der Gnade befi nden, um diese Worte zu benutzen : Denn nachdem das Kon-

22 23

DH 1575. Im Text fälschlich Can. 15. DH 1568.

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zil vom Gerechtfertigten gesprochen hatte, hätte es nicht hinzugefügt : der sich im Stand der Gnade befi ndet, wenn es seine Absicht nicht noch offenkundiger und den von ihm gemeinten Sinn ganz unzweideutig machen wollte, da die Canones ja immer in sehr kurzen und knappen Worten abgefaßt sind. Ich überlasse es also Eurem Urteil, wie jenen alle Beweiskraft genommen ist, die sie in diesem Kapitel des Konzils suchen. Und obgleich dies eine ausreichende Antwort auf Eure Frage ist, will ich dennoch einen weiteren Beweis hinzufügen, um Euch noch vollkommener zufriedenzustellen. Da diese Worte – die Gebote sind den Gerechten nicht unmöglich – dem heiligen Augustinus entnommen sind, der am Rand des Konzils zitiert wird,24 darf man nicht denken, daß sie von diesem in einem Sinne gebraucht wären, der jenem des heiligen Augustinus widerspricht, denn es hat diese Worte nur angeführt, um ihren Sinn anzuführen, andernfalls hieße das ja, es hätte unredlich gehandelt. Nun braucht man aber nur einen Blick in die Werke des heiligen Augustinus zu werfen, um darüber aufgeklärt zu werden, daß er unter diesen Worten, wenn er sie gebraucht hat, nie etwas anderes verstand als an dieser Stelle das Konzil. Ich glaube, er hat es beinahe nie gesagt, ohne es folgendermaßen zu erklären : das heiße, daß der christlichen Liebe die Gebote nicht unmöglich und sie ohne die christliche Liebe unmöglich seien und daß der einzige Grund, aus dem sie gegeben werden, darin bestehe zu zeigen, daß man es nötig habe, von Gott diese christliche Liebe zu erhalten. Darum sagt er : Gott, der gerecht und gut ist, konnte keine unmöglichen Dinge gebieten (Augustinus, De nat. et gratia, cap. LXIX 25), was uns unterrichtet, das zu tun, was leicht ist, und das zu erbitten, was schwierig ist. Denn der christlichen Liebe sind alle Dinge leicht. Und an anderer Stelle

Vgl. die Zitation von Augustinus : De natura et gratia 50 in DH 1536. 25 Augustinus : De natura et gratia 83. 24

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heißt es : Wer weiß nicht, daß das, was aus Liebe getan wird, nicht schwer ist ? (De perfect. just., cap. X .26) Es wäre überflüssig, hierzu weitere Textstellen anzuführen. Doch nachdem ich Euch gezeigt habe, daß das Konzil nicht die Meinung vertreten hat, daß die Gerechten die unmittelbare Fähigkeit haben, die Gebote in Zukunft zu halten, werdet Ihr sehr leicht erkennen, daß es dies auch nicht behaupten konnte und daß es dies somit nicht nur nicht getan hat, sondern auch nicht tun konnte. Dies erweist sich offenkundig am Canon 22, denn da er unter Androhung des Bannfluchs verbietet, daß man sagt, alle Gerechten haben die Fähigkeit, in der Gerechtigkeit zu beharren, folgt daraus nicht notwendig, daß alle Gerechten nicht die unmittelbare Fähigkeit haben, die Gebote im folgenden Augenblick zu halten, weil es keinen Unterschied zwischen dem Besitz der Fähigkeit, die Gebote im folgenden Augenblick zu halten, und dem Besitz der Fähigkeit gibt, in der Gerechtigkeit zu beharren, ist doch das Beharren in der Gerechtigkeit nichts anderes als die Beobachtung der Gebote im folgenden Augenblick ? Aus dieser Defi nition im Canon 22 folgt auch notwendig, daß die Gerechten nicht immer die unmittelbare Fähigkeit haben, im Gebet zu beharren, denn da die Verheißungen des Evangeliums und der Heiligen Schrift uns zusichern, daß wir unfehlbar die heilsnotwendige Gerechtigkeit erlangen, wenn wir sie durch den Geist der Gnade und rechtschaffen erbitten, steht es dann nicht außer Zweifel, daß es keinen Unterschied zwischen dem Beharren im Gebet und dem Beharren bei der Erlangung der Gerechtigkeit gibt ; und wenn somit alle Gerechten die unmittelbare Fähigkeit haben, im Beten zu beharren, haben sie ja auch alle die unmittelbare Fähigkeit, in der Gerechtigkeit zu beharren, die ihrem Gebet nicht verweigert werden kann ? Dies widerspricht ausdrücklich der im Canon vorgetragenen Entscheidung.

26

Augustinus : De perfectione justitiae hominis 22.

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Ergibt sich aus derselben Entscheidung nicht auch noch als eine notwendige Folge, daß es nicht wahr ist, wenn man sagt, Gott lasse die Gerechten niemals ohne die unmittelbare und hinreichende Fähigkeit, im nächsten Augenblick zu beten, denn es gibt ja keinen Unterschied zwischen dem Besitz der unmittelbaren Fähigkeit, im folgenden Augenblick zu beten, und dem Besitz der unmittelbaren Fähigkeit, im Gebet zu beharren ; und wenn somit alle Gerechten die unmittelbare Fähigkeit haben, im folgenden Augenblick zu beten, haben sie auch alle die unmittelbare Fähigkeit, im Gebet zu beharren, und demzufolge haben sie alle die unmittelbare Fähigkeit, in der Gerechtigkeit zu beharren – was den ausdrücklichen Worten des Konzils widerspricht, das erklärt, daß die Gerechten nicht nur das Beharren, sondern selbst die Fähigkeit nicht haben, ohne einen besonderen Beistand zu beharren, das heißt einen Beistand, der nicht allen gemeinsam ist. Hieran erkennt Ihr, wie dies zur notwendigen Folge hat, daß – selbst wenn es in einer Hinsicht zutrifft, daß Gott niemals einen Gerechten verläßt, sofern der Gerechte ihn nicht als erster verläßt, das heißt, daß Gott seine Gnade jenen niemals verweigert, die ihn rechtschaffen bitten, und daß er sich niemals von jenen abwendet, die ihn aufrichtig suchen – es gleichwohl in einer anderen Hinsicht zutrifft, daß Gott manchmal die Gerechten verläßt, bevor sie ihn verlassen haben ; das heißt, daß Gott den Gerechten nicht immer die unmittelbare Fähigkeit gibt, im Gebet zu beharren. Denn da das Konzil erklärt, daß die Gerechten nicht immer die Fähigkeit des Beharrens haben, woran wir gesehen haben, daß notwendig daraus folgt, es bedeutet, dem Konzil zu widersprechen, wenn man über jeden beliebigen Gerechten sagt, daß Gott ihm die unmittelbare Fähigkeit gebe, im folgenden Augenblick zu beten – zeigt es sich daran nicht, daß es Gerechte gibt, die Gott ohne diese Fähigkeit läßt, während sie noch gerecht sind, das heißt, bevor sie Gott, selbst durch irgendeine läßliche Sünde, aufgegeben haben ? Wenn Gott nämlich diesen unmittelbaren Beistand keinem von jenen verweigerte, die seit ihrer Recht-

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fertigung keine läßliche Sünde begangen haben, würde ja daraus folgen, daß alle Gerechtfertigten zusammen mit ihrer Rechtfertigung die unmittelbare Fähigkeit erhielten, durch einen allgemeinen und nicht einen besonderen Beistand zu beharren. Hieraus schließen wir also, daß, dem Konzil zufolge, den Gerechten die Gebote immer in einer Hinsicht möglich sind und daß sie ihnen in einer anderen Hinsicht manchmal unmöglich sind, daß Gott niemals den Gerechten verläßt, wenn dieser ihn nicht aufgibt, daß in einer anderen Hinsicht manchmal Gott den Gerechten als erster verläßt und daß man entweder sehr blind oder sehr wenig aufrichtig sein muß, um einen Widerspruch in diesen Thesen zu fi nden, die so unschwer nebeneinander bestehen, denn damit ist ja nichts anderes gesagt, als daß die Gebote der christlichen Liebe immer möglich sind und daß alle Gerechten nicht immer die Fähigkeit des Beharrens haben, was durchaus nicht widersprüchlich ist, daß Gott niemals verweigert, was man im Gebet rechtschaffen von ihm erbittet, und daß Gott nicht immer das Beharren im Gebet gibt, was einander keinesfalls widerspricht. Das hatte ich über dieses Thema zu sagen, auf das ich mit großer Freude eingegangen bin, um Euch zu zeigen, daß Thesen, die in den Worten widersprüchlich sind, es nicht immer in ihrer Bedeutung sind. Und da Ihr oft geglaubt habt, in den Dingen, die ich Euch vortragen durfte, Widersprüche zu entdecken, und man heute viele Leute fi ndet, die leichtfertig genug sind, um zu behaupten, es gebe Widersprüchliches in den Ansichten des heiligen Augustinus, kann ich mich einer derart günstigen Gelegenheit nicht verschließen, um Euch ausführlich die Prinzipien auseinanderzusetzen, die all diese scheinbar widersprüchlichen Thesen, die jedoch in Wirklichkeit durch einen bewundernswerten Zusammenhang miteinander verbunden sind, überaus zuverlässig in Einklang bringen. Man braucht nur zu erkennen, daß es zwei Arten gibt, in denen der Mensch Gott sucht, zwei Arten, in denen Gott den Menschen sucht, zwei Arten, in denen Gott den Menschen ver-

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läßt, zwei Arten, in denen der Mensch Gott verläßt, zwei Arten, in denen der Mensch beharrt, und zwei Arten, in denen Gott darin beharrt, ihm Gutes zu tun, und so weiter. Denn die Art, in der Gott den Menschen sucht, wenn er ihm die schwachen Anfangsgründe des Glaubens gibt, um zu bewirken, daß der Mensch angesichts seiner Verirrung zu ihm ruft : »Herr, suche deinen Knecht«, 27 unterscheidet sich grundsätzlich von jener Art, in der Gott den Menschen von neuem sucht, wenn er dieses Gebet erhört und ihn sucht, um sich fi nden zu lassen. Denn jener, der gesagt hat : »suche deinen Knecht«, war ohne Zweifel schon gesucht und gefunden worden. Doch da er sehr wohl wußte – er, der den Geist der Weissagung hatte –, daß es eine andere Art gibt, in der Gott ihn von neuem suchen konnte, bediente er sich der ersten, um die zweite zu erlangen. So unterscheidet sich denn die Art, in der wir Gott mit unseren schwachen Kräften suchen, wenn er uns das erste Verlangen gibt, unsere Bindungen zu lösen, grundsätzlich von der Art, in der wir ihn suchen, wenn wir, nachdem er unsere Ketten zerbrochen hat, auf dem Wege seiner Gebote eilends auf ihn zugehen. All diese Dinge, die unbestritten sind, werden uns unmerklich dahin bringen, jene zu begreifen, die bestritten werden. Ebenso gibt es zwei Arten, in denen der Mensch beharrt. Das Beharren im Beten und im einfachen Bitten um die Kräfte, deren man sich entblößt fühlt, unterscheidet sich grundsätzlich vom Beharren im Gebrauch derselben Kräfte und in der Ausübung derselben Tugenden. So gibt es zwei Arten, in denen Gott den Menschen verläßt, wie wir bereits gesagt haben ; und ebenso verhält es sich bei allem übrigen. Das Verständnis dieser Unterschiede klärt alle Schwierigkeiten und alle scheinbaren Widersprüche auf, die keine tat-

27

Ps 119, 176 = 118, 176 Vg.

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sächlichen Widersprüche sind, weil von den zwei Thesen, die einander scheinbar widersprechen, die eine zur einen Art und die zweite zur anderen Art gehören. Denn so, wie man die Rechtfertigung in zwei Arten betrachten kann, die eine in ihren besonderen Wirkungen und die andere in allen ihren gemeinsamen Wirkungen, kann man auch in zwei unterschiedlichen Arten über sie sprechen. Wer bezweifelt, daß man das erste Licht des Glaubens für sich allein betrachten kann und ebenfalls für sich allein die aus ihm hervorgehenden Handlungen, daß man jedoch auch den Glauben und die Werke gemeinsam und als ein Ganzes betrachten und daher unterschiedlich über sie sprechen kann ? So verfährt der heilige Augustinus, wenn er sich jenen, zu denen er spricht, anpaßt und sagt : Man kann den Glauben von den Werken unterscheiden, wie man im Königreich der Hebräer Juda von Israel unterscheidet, obgleich Juda zu Israel gehörte. 28 Als der heilige Thomas über die unverdiente Vorherbestimmung spricht ([Summa theologiae ] 1a, q. 23, a. 5), bei der Ihr keine Schwierigkeiten seht, sagt er dann nicht, daß man sie entweder gemeinsam oder in ihren besonderen Wirkungen betrachten und daher in zwei unterschiedlichen Arten über sie sprechen könne : Wenn man sie in ihren Wirkungen betrachte, könne man Ursachen für sie angeben, da die ersten die verdienstlichen Ursachen der zweiten und die zweiten der Endzweck der ersten seien, wenn man sie jedoch alle gemeinsam betrachte, haben sie keine andere Ursache als den göttlichen Willen ; das heiße, wie er erklärt, daß die Gnade gegeben werde, um die Seligkeit zu verdienen, und daß die Seligkeit gegeben werde, weil man sie durch die Gnade verdient habe ; aber die gemeinsame Gabe der Seligkeit und der Gnade zusammen habe keine andere Ursache als den göttlichen Willen. Wenn wir also das christliche Leben betrachten, das dem heiligen Augustinus zufolge nichts anderes als ein heiliges

28

Augustinus : De praedestinatione sanctorum 12.

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Sehnen ist,29 so werden wir sowohl entdecken, daß Gott dem Menschen zuvorkommt, als auch, daß der Mensch Gott zuvorkommt ; daß Gott gibt, ohne daß man darum bittet, und daß Gott gibt, was man erbittet ; daß Gott wirkt, ohne daß der Mensch mitwirkt, und daß der Mensch mit Gott zusammenwirkt ; daß die Seligkeit eine Gnade und ein Lohn ist ; daß Gott als erster den Menschen verläßt und daß der Mensch Gott als erster verläßt ; daß Gott den Menschen nicht ohne den Menschen retten kann und daß es durchaus nicht am Menschen liegt, der will und läuft, sondern allein an Gott, der Barmherzigkeit übt.30 Hieran erkennt Ihr, daß beinahe alles, was die Semipelagianer über die gemeinsame Rechtfertigung gesagt haben, für deren besondere Wirkungen zutrifft und daß man also das gleiche wie sie sagen kann, ohne ihre Ansicht zu teilen, weil dieselben Thesen unterschiedliche Inhalte haben, und daß somit alle folgenden Aussprüche dem heiligen Augustinus und seinen Gegnern gemeinsam sind : Die Gebote sind den Gerechten immer möglich ; Gott rettet uns nicht ohne unsere Mitwirkung ; 31 wir können die Gebote halten, wenn wir wollen ; 32 es steht in unseren Kräften, die Gebote zu halten ; 33 es steht in unseren Kräften, unseren Willen zum Besseren zu wandeln ; 34 die Seligkeit wird den Verdiensten gegeben ; 35 bittet, so Augustinus : In epistulam Iohannis ad Parthos 4, 6 : »tota uita christiani boni, sanctum desiderium est.« 30 Nach Röm 9, 16. 31 Vgl. Augustinus : Sermones 156, 11 : »si non esses operator, ille non esset cooperator.« 32 Vgl. Sir 15, 16 : »Si volueris mandata servare, conservabunt te«. Augustinus : De gratia et libero arbitrio 32 : »certum est enim nos mandata seruare, si uolumus«. 33 Vgl. Augustinus : De natura et gratia 83. 34 Vgl. Augustinus : Retractationes 1, 22, 4. 35 Augustinus : De correptione et gratia 41 : »uerumtamen quia et ipsa uita aeterna quam certum est bonis operibus debitam reddi, a tanto apostolo gratia dei dicitur …«. 29

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werdet ihr’s empfangen ; 36 ich habe auf den Herrn gewartet ; 37 ich bin dem Herrn zuvorgekommen ; 38 nicht alle Menschen werden gerettet, weil sie es nicht wollen ; 39 Gott verläßt den Menschen nicht, wenn er nicht von ihm verlassen wird ; 40 Gott will, daß alle Menschen gerettet werden,41 usw. Alle derartigen Reden sind beiden Parteien gemeinsam, der heilige Augustinus hätte es ebensogut wie seine Feinde gesagt. Und wie sollte er es auch nicht tun, da die meisten Aussprüche ja aus der Heiligen Schrift sind ? Die entgegengesetzten Aussprüche sind indes dem heiligen Augustinus und seinen Schülern eigentümlich, wie etwa : Das Heil hängt nur von Gott ab ; 42 die Seligkeit ist unverdient ; 43 es liegt nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen ; 44 nicht durch die Werke werden wir gerettet, sondern durch die Berufung ; 45 Gott wirkt nach seinem Gutdünken das Wollen und das Vollbringen ; 46 die Gebote sind nicht immer möglich ; die

Joh 16, 24. Ps 40, 1 = Ps 39, 1 Vg. : »Exspectans, exspectavi Dominum«. 38 Ps 119, 147 f. = Ps 118, 147 f. Vg. : »Praeveni in maturitate et clamavi ; … Praevenerunt oculi mei ad te diluculo …«. 39 Augustinus : Contra Julianum 4, 42 : »ideo non omnes saluos fieri, et in agnitionem ueritatis uenire, quia ipsi nolunt petere, cum deus uelit dare«. – Der Text ist allerdings aus einer Objektion entnommen. Vgl. zum augustinischen Gehalt J. Mesnard, OC 3, S. 660. Pascals direkte Quelle ist hier wie bei auch bei anderen Zitaten das Werk Sanctorum Patrum de gratia Christi et libero arbitrio dimicantium Trias unter dem Pseudonym Paul Erynach von dem Löwener Theologen Jean Sinnich 1648 veröffentlicht. Vgl. OC 3 (Mesnar d), S. 551. 40 Prosper von Aquitanien : Responsiones ad objectiones Vincentianas obj. 14, resp. 41 1 Tim 2, 4. 42 Vgl. Röm 6, 23. 43 Vgl. z. B. Augustinus : De gratia et libero arbitrio 20. 44 Röm 9, 16. 45 Röm 9, 12. 46 Phil 2, 13. 36 37

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Gnade wird nicht allen gegeben ; 47 nicht alle Menschen werden gerettet, nicht deshalb, weil sie es nicht wollen, sondern weil Gott nicht will ; 48 jede Handlung, die wir in Gott tun, wird in uns von Gott selbst getan.49 Alle derartigen Aussprüche sind dem heiligen Augustinus eigentümlich ; so gereicht es denn seiner Lehre wunderbar zum Vorteil, daß die semipelagianischen Aussprüche auch augustinisch sind, was aber im umgekehrten Fall nicht zutrifft. Hieran erkennt man, wie ungerecht die Behauptung ist, daß die Stellen der Heiligen Schrift, die scheinbar die Semipelagianer begünstigen, die Ansichten des heiligen Augustinus zunichte machen sollen, denn alle Schriftstellen können zwei Bedeutungen haben ; diejenigen hingegen, welche die Lehre des heiligen Augustinus begründen, machen notwendigerweise die Ansichten der Semipelagianer zunichte, weil sie eindeutig sind, und das veranlaßte den heiligen Prosper in seinem Brief an Rufi nus zu jener Abhandlung über denselben Gegenstand.50 Das gleiche muß man jenen sagen,51 welche die doppeldeutigen Textstellen bei dem heiligen Augustinus mißbrauchen, anstatt sie durch die eindeutigen zu erklären. Ich werde mich nicht mit solchen aufhalten, die schwach sind, wie etwa die folgenden : Der Mensch kommt niemals Gott zuvor ; und : Der gute Wille des Menschen geht vielen Gaben Gottes voraus (Aug., Enchir., cap. XXXII 52), denn er selbst gibt dazu an der Stelle, der die letztgenannten Worte entnommen sind, eine überaus deutliche Erklärung : Der gute Wille des Menschen geht vielen Gaben Gottes vor-

Augustinus : Epistulae 217, 16. Augustinus : Epistulae 217, 19. 49 Fulgentius von Ruspe : Ad Monimum 1, 9. 50 Prosper von Aquitanien : Epistula ad Rufi num de gratia et libero arbitrio 5, 6. 51 Bezieht sich auch nach Mesnar d, OC 3, 677, der aus philologischen Gründen die Abschnitte separiert, auf das Vorangehende. 52 Augustinus : Enchiridion De fi de, spe et caritate 32. 47

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aus, jedoch nicht allen. Und er selbst gehört zu jenen, denen er nicht vorausgeht. Denn das eine wie das andere ist in der Heiligen Schrift zu lesen : sowohl »seine Barmherzigkeit wird mir zuvorkommen«53 als auch »seine Barmherzigkeit wird mir folgen«.54 Er kommt jenem zuvor, der nicht will, um zu bewirken, daß er will, und er folgt jenem, der will, um zu bewirken, daß er nicht vergebens will. Der wahre Grund für all diese unterschiedlichen Aussprüche ist, daß alle unsere guten Taten zwei Quellen haben : unseren Willen als die eine und Gottes Willen als die andere ; denn, wie der heilige Augustinus sagt : Gott rettet uns nicht ohne uns ; 55 und wenn wir wollen, so halten wir seine Gebote ; 56 und es hängt von unserer Willensregung ab, Verdienste oder Mißverdienste zu erwerben.57 Wenn man fragt, warum ein Erwachsener gerettet werde, hat man also recht zu antworten, das geschehe, weil er es gewollt habe, und ebenso, das geschehe, weil Gott es gewollt habe. Wenn nämlich der eine oder der andere es nicht gewollt hätte, so wäre es nicht geschehen. Doch selbst wenn diese beiden Ursachen zu dieser Wirkung beigetragen haben, gibt es gleichwohl einen großen Unterschied zwischen ihren Beiträgen, da der menschliche Wille nicht die Ursache für den Willen Gottes ist, während der Wille Gottes die Ursache, die Quelle und der Ursprung des menschlichen Willens ist und Gott im Menschen diesen Willen bewirkt. Selbst wenn man also die Taten entweder dem Willen des Menschen oder dem Willen Gottes zuschreiben kann und diese beiden Ursachen scheinbar gleichermaßen zu ihnen beitragen, gibt es dennoch diesen grundsätzlichen Unterschied, daß man die Tat allein dem Willen Gottes zuschreiben und den Willen des Menschen Nach Ps 59, 11 = Ps 58, 11 Vg. Nach Ps 23, 6 = Ps 22, 6 Vg. 55 Vgl. Augustinus : Sermones 156, 11 : »si non esses operator, ille non esset cooperator.« 56 Augustinus : De gratia et libero arbitrio 32 : »certum est enim nos mandata seruare, si uolumus«. 57 Augustinus : Retractationes 1, 22, 4. 53

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von ihr ausschließen kann, während man sie niemals allein dem Willen des Menschen zuschreiben und den Willen Gottes von ihr ausschließen kann. Wenn man nämlich sagt, die Tat rühre von unserem Willen her, so sieht man den menschlichen Willen als Zweitursache an, jedoch nicht als Erstursache ; wenn man aber die Erstursache sucht, so schreibt man sie allein dem Willen Gottes zu und schließt den Willen des Menschen aus. Nachdem der heilige Paulus gesagt hat : Ich habe viel mehr gearbeitet denn sie alle, fügt er darum hinzu : nicht aber ich, das heißt, ich habe nicht gearbeitet, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist, hat gearbeitet.58 Hieran erkennt man, daß er seine Arbeit dem eigenen Willen zuschreibt und daß er sie dem eigenen Willen aberkennt, je nachdem, ob er ihre Zweit- oder Erstursache sucht, doch er schreibt sie niemals sich allein zu, während er sie der Gnade auch allein zuerkennt, und gerade wenn er im eigentlichen Sinne spricht, erkennt er sie der Gnade allein zu. Darum sagt er : Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Jesus Christus lebt in mir.59 Er sagt also : ich lebe, und er fügt hinzu : ich lebe nicht. So sehr trifft es zu, daß das Leben ihm gehört und daß es ihm nicht gehört, je nachdem, ob er dessen Erst- oder Zweitursache bezeichnen will. Wenn er jedoch im eigentlichen Sinne spricht, schreibt er dieses Leben Jesus Christus und niemals allein sich selbst zu. Darin liegt der Ursprung all jener scheinbaren Widersprüche, welche die Fleischwerdung des Wortes, die Gott mit dem Menschen und die Macht mit der Schwachheit vereint hat, in die Werke der Gnade gelegt hat. Hiernach werdet Ihr Euch nicht verwundern, wenn Ihr bei dem heiligen Augustinus solche Widersprüche entdeckt, die jenen der Heiligen Schrift gleichen. Ich will Euch nur auf eine oder zwei wichtige Stellen hinweisen, wie etwa die folgende : Dieses Licht ergötzt nicht die Augen der unvernünftigen Tiere, son-

58 59

1 Kor 15, 10. Gal 2, 20.

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dern die reinen Herzen jener, die an Gott glauben und die sich von der Liebe zu den sichtbaren Dingen abwenden, um die Gebote zu erfüllen : was alle Menschen können, wenn sie es wollen. 60 Wer würde nicht glauben, daß der heilige Augustinus darin mit Pelagius übereinstimmt ? Denn dieser Ketzer hat niemals etwas gesagt, was ausdrücklicher für die Kräfte der Freiheit spräche. Der heilige Augustinus jedoch findet diesen Ausspruch so doppeldeutig, daß er der Meinung ist, jener könne einen Sinn bekommen, der seiner Absicht ganz widerspricht : Da er jedoch auch einen schlechten Sinn haben kann, korrigiert und überarbeitet der heilige Augustinus ihn in seinen Retractationes, c. X : Die neuen pelagianischen Häretiker sollen nicht denken, daß dies sie begünstige : Es ist zwar voll und ganz wahr, daß alle Menschen es können, wenn sie es wollen, aber der Wille wird vom Herrn vorbereitet, und er wird von der Gabe der christlichen Liebe gestärkt : Derart können sie es, was ich an jener Stelle nicht gesagt hatte, weil es dort nicht für die Sache notwendig war. 61 Hieran erkennt man, wenn dem heiligen Augustinus derartige Aussprüche beiläufig entschlüpft sind, und das bei Gelegenheiten, bei denen deren Erklärung nicht notwendig war, wie lächerlich es ist, diesen doppelsinnigen Worten solche Bedeutungen beizulegen, die seinen Prinzipien ganz widersprechen ; und im Grunde erkennt man auch, daß der katholische Sinn seiner Worte, man könne die Gebote halten, wenn man es wolle, darin besteht, daß dies für den Fall gilt, wenn die Gabe der christlichen Liebe uns die entsprechende Fähigkeit verleiht. Diese andere Stelle ist von gleicher Art : Kein Mensch kann Gutes tun, wenn er nicht seinen Willen ändert, was, wie der Herr uns gelehrt hat, in unserem Vermögen steht, als er gesagt hat : »Setzt entweder einen guten Baum, so wird die Frucht gut ; oder setzt einen faulen Baum, so wird die Frucht faul.« 62

60 61 62

Augustinus : De Genesi adversus Manichaeos 1, 6. Augustinus : Retractationes 1, 10, 2. Augustinus : Retractationes 1, 22, 4 ; das Bibelzitat : Mt 12, 33.

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Derartige Aussprüche müßte man dem heiligen Augustinus entnehmen, um ihn anzuklagen, Widersprüchliches zu sagen, und nicht einfach den folgenden : Die Gebote sind den Gerechten möglich. Und wer sieht indes nicht, daß das Wort Vermögen derart unbestimmt ist, daß es alle Ansichten einbezieht ? Wenn man schließlich von einer Sache sagt, sie stehe in unserem Vermögen, wir sie also tun, sobald wir wollen, was eine ganz natürliche und übliche Ausdrucksweise ist, ergibt sich daraus denn nicht, daß wir in diesem Sinne fähig sind, die Gebote zu halten und unseren Willen zu ändern, da es, sobald wir es wollen, nicht allein geschieht, sondern auch ausgeschlossen ist, daß es nicht geschieht ? Wenn man jedoch von einer Sache sagt, wir haben die Fähigkeit, sie zu tun, selbst wenn es lediglich die Fähigkeit ist, die man unmittelbar nennt, was ebenfalls eine ganz gewöhnliche Art ist, das Wort Fähigkeit zu gebrauchen, werden wir diese Fähigkeit nur noch haben, wenn sie uns von Gott gegeben wird. Daher ist dieser Ausspruch des heiligen Augustinus im ersten Sinne katholisch und im zweiten pelagianisch. Folgendermaßen spricht er hiervon in seinen Retractationes (l. I , c. XXII ) : Das richtet sich durchaus nicht gegen die Gnade Gottes, die wir predigen, denn es steht im Vermögen des Menschen, seinen Willen zum Besseren zu wandeln : Doch dieses Vermögen ist unwirksam, wenn es nicht von Gott gegeben wird. Denn da eine Sache, die wir tun, wenn wir wollen, in unserem Vermögen steht, steht ja nichts so sehr in unserem Vermögen wie unser Wille selbst. Der Wille aber wird vom Herrn vorbereitet. Auf diese Weise gibt er also das entsprechende Vermögen ; und in diesem Sinne muß man auffassen, was ich danach gesagt habe : Es steht in unserem Vermögen, entweder Lohn oder Strafe zu verdienen ; denn in unserem Vermögen steht nur etwas, was unserem Willen folgt, und sobald Gott diesen stark und mächtig vorbereitet, wird ebenjene gute Tat leicht, die zuvor schwer, ja sogar unmöglich war. 63

63

Augustinus : Retractationes 1, 22, 4 ; das Zitat ist leicht gekürzt.

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Nach derart gewichtigen Beispielen könnt Ihr nicht zweifeln, daß es keine semipelagianische These gibt, die nicht auch augustinisch ist. Somit widerspricht der heilige Augustinus nicht sich selbst, wenn er, nachdem er zwei ganze Bücher geschrieben hatte, um zu beweisen, daß das Beharren eine Gabe Gottes ist,64 gleichwohl an einer Stelle in seinen Büchern sagt, daß das Beharren von den Gebeten verdient werden kann,65 denn es steht außer Zweifel, daß das Beharren in der Gerechtigkeit vom Beharren im Gebet verdient werden kann ; aber das Beharren im Gebet kann nicht verdient werden ; und im eigentlichen Sinne ist gerade dieses Beharren die besondere Gabe Gottes, von der das Konzil spricht ; und somit ist das Beharren im allgemeinen eine besondere Gabe, und jenes Beharren, das verdient werden kann, ist das Beharren der Werke ; das erweist sich gerade an diesem Ausspruch : Das Beharren kann von den Gebeten verdient werden. Somit widerspricht er sich nicht selbst, wenn er, nachdem er mit allen diesen Prinzipien begründet hat, die Gnade sei derart wirksam und notwendig, daß der Mensch niemals Gott aufgebe, wenn Gott ihn zuvor nicht ohne diesen Beistand lasse, denn solange es ihm gefalle, ihn festzuhalten, trenne der Mensch sich niemals von ihm, gleichwohl an einigen Stellen sagt, Gott gebe den Gerechten nicht auf, wenn der Gerechte ihn nicht aufgegeben habe, weil diese beiden Tatsachen wegen ihrer unterschiedlichen Bedeutung gemeinsam bestehen. Denn Gott gibt seine Gnadenmittel ohne Unterlaß jenen, die ohne Unterlaß um sie bitten. Aber der Mensch würde es auch niemals unterlassen, um sie zu bitten, wenn Gott es nicht unterließe, ihm die wirksame Gnade zu geben, um sie zu bitten : So geschieht es denn bei dieser zweifachen Unterlassung, daß

Augustinus : De dono perseverantiae, und : De praedestinatione sanctorum. 65 Augustinus : De dono perseverantiae 10. 64

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bei der einen Gott immer den Anfang macht und niemals bei der anderen. Diese doppelte Verlassenheit, die eine, bei der Gott den Anfang macht, und die andere, bei der Gott nachfolgt, wird Euch deutlich von dem heiligen Prosper bezeichnet, wenn er sagt : Gott verläßt den Menschen nicht, wenn er ihn nicht verläßt, und er bewirkt sehr oft, daß man ihn nicht verläßt. Doch woher kommt es, daß er diese festhält und jene nicht ? Es ist nicht erlaubt, danach zu suchen, und auch nicht möglich, es zu finden.66 Hieran erkennt man, daß wohl Gott den Menschen nicht verläßt, wenn er ihn nicht verläßt : Das ist eine Verlassenheit, deren Anfang beim Menschen liegt, und Gott bewirkt sehr oft, daß man ihn nicht verläßt. Also bewirkt er es nicht immer. Wenn man ihn also verläßt, dann deshalb, weil er nicht bewirkt, daß man ihn nicht verläßt, und weil er nicht festhält ; also geschieht es zuerst, daß Gott nicht festhält, und hierauf verläßt man ihn ; denn jene, die er festhält, verlassen ihn nicht : Habe ich vorhin nicht ebendies gesagt ? Die erste Verlassenheit besteht darin, daß Gott nicht festhält, worauf ihn der Mensch verläßt und Grund für die zweite Verlassenheit gibt, bei der Gott ihn verläßt. Bei der zweiten Verlassenheit folgt Gott nach, und in ihr fi ndet sich kein Geheimnis, denn es gibt nichts Sonderbares darin, daß Gott solche Menschen verläßt, die ihn verlassen. Die erste Verlassenheit aber ist ganz geheimnisvoll und unbegreiflich. Und der heilige Augustinus, der Lehrmeister des heiligen Prosper, behandelt auch diese Frage mit der gleichen Deutlichkeit, wenn er sagt, als er über den Fall aller Verworfenen im allgemeinen spricht, die eine Zeitlang zur Rechtfertigung gelangen, daß sie die Gnade empfangen, jedoch für eine gewisse Zeit ; sie verlassen Gott, und sie werden von ihm verlassen, denn durch ein gerechtes, aber verborgenes Urteil wurden sie ihrem freien Willen

Prosper von Aquitanien : Responsiones ad objectiones Vincentianas obj. 14, resp. 66

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preisgegeben ; 67 hieran erkennt man, daß sie Gott verlassen und danach von ihm verlassen werden : Das ist die Verlassenheit, bei der Gott nachfolgt und die nichts Geheimnisvolles hat. Wenn man aber fragt, warum sie Gott verlassen, gibt er als Grund an : denn sie wurden ihrem freien Willen preisgegeben. Sie wurden also preisgegeben, bevor sie Gott verlassen haben, und sie verlassen ihn sogar nur, weil sie verlassen wurden. Das ist die Verlassenheit, bei der Gott den Anfang macht, und diese kommt durch ein verborgenes und unerforschliches Urteil. Es erweist sich also, daß Gott den Menschen nur verläßt, weil er von ihm verlassen wurde, und daß der Mensch Gott nur verläßt, weil er von ihm verlassen wurde ; und somit ist es absurd zu folgern, es entspreche den Ansichten des heiligen Augustinus, daß Gott den Menschen niemals als erster verlasse, weil er gesagt hat, daß Gott den Menschen nicht als erster verlasse ; und das eine wie das andere ist zusammen wahr : sowohl, daß er als erster den Menschen verläßt, als auch, daß er ihn nicht verläßt, weil es unterschiedliche Arten des Verlassens gibt. Mehr ist nicht nötig, um Euch zu zeigen, wie man diese scheinbaren Widersprüche in Einklang bringen muß. Ich werde mich also nicht weiter über dieses Thema auslassen. Da es mich jedoch unmerklich dahin gebracht hat, über die Verlassenheit der Gerechten zu sprechen, und ich weiß, daß dies die einzige Schwierigkeit ist, die Euch aufhält, und der einzige Punkt, den man heute bestreitet, so daß Ihr es kaum glauben könnt, daß dies auf den heiligen Augustinus zurückgeht, will ich diesen Brief nicht beenden, ohne Euch über diesen Punkt vollkommen aufzuklären, wenn Gott mir hierfür die notwendigen Kräfte gibt. Ich will Euch also an Hand des heiligen Augustinus zeigen, daß der Gerechte niemals Gott verlassen würde, wenn Gott ihn nicht verließe, indem er ihm nicht die ganze notwendige Gnade gibt, um im Beten zu beharren, und daß dies nicht al-

67

Augustinus : De correptione et gratia 43.

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lein ein Punkt in der Theologie jenes Kirchenvaters ist, sondern man dies auch nicht ablehnen kann, ohne alle Prinzipien und Grundlagen seiner Lehre aufzuheben und ohne in die Verirrungen seiner Gegner und der Feinde der Gnade zu verfallen, die er zeitlebens mit ebenjenen Schriften bekämpft und überwunden hat, mit denen die Kirche sie immer bekämpfen und überwinden wird. Daher 68 ist gesagt, daß Gott den Gerechten nicht verläßt, wenn der Gerechte ihn nicht verläßt,69 und gleichwohl zeigt er an überaus vielen Stellen, daß Gott den Menschen als erster verläßt. So kommt es denn auf die aufrichtige und ehrliche Haltung an, wenn man entweder den wahren Sinn dieser Stellen erschließen will oder sich abschrecken und aus freiem Willen verblenden läßt. Diese beiden Tatsachen, daß Gott manchmal als erster den Menschen verläßt und daß der Mensch als erster Gott verläßt, haben gemeinsam Bestand. Denn es ist wahr, daß Gott seine Gnadenmittel unablässig jenen gibt, die unablässig um sie bitten ; aber es trifft auch zu, daß der Mensch es niemals unterlassen würde, um sie zu bitten, wenn Gott es nicht unterließe, dem Menschen die Gnade zu geben, ihn darum zu bitten : Wenn man also diese doppelte Unterlassung durch Gott betrachtet – die eine, mit der er es unterläßt, das Gebet zu geben, die andere, mit der er es unterläßt, die Wirkung des Gebets zu geben –, ist es ebenso gewiß, daß Gott es niemals unterläßt, jenen die Wirkung des Gebets zu geben, die ihn bitten, wie es gewiß ist, daß der Mensch es niemals unterläßt, ihn zu bitten, wenn Gott es nicht unterläßt, ihm das Bitten zu geben. Diese doppelte Verlassenheit – die eine, bei der Gott vorausgeht, und die andere, bei der Gott nachfolgt – wird uns deutlich von dem heiligen Prosper bezeichnet, wenn er diese

68 69

Das folgende ist eine erneue Redaktion des Sachverhaltes. Vgl. Ps 9, 11.

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Worte sagt : Gott verläßt den Menschen nicht, wenn er ihn nicht verläßt ; und er bewirkt sehr oft, daß man ihn nicht verläßt.70 Also trifft es unfehlbar zu, daß er es nicht immer bewirkt. An jenen, bei denen er nicht bewirkt, daß sie ihn nicht verlassen, zeigt es sich also klar, daß Gott es in der erstgenannten Art unterläßt, da er nicht bewirkt, daß der Mensch ihn nicht verläßt, und wenn der Mensch hierauf Gott verläßt, so verläßt Gott ihn nun in der zweiten Art. Wenn man nämlich den heiligen Prosper fragt, woher es denn komme, daß Gott die einen festhalte und die anderen nicht, so antwortet er unmittelbar darauf mit diesen Worten : Doch woher kommt es, daß er diese festhält und jene nicht ? Es ist nicht erlaubt, danach zu suchen, und auch nicht möglich, es zu finden. Hieran erkennen wir, daß jene, die Gott nicht festhält, ihn verlassen, worauf er sie verläßt, und ebendies habe ich gesagt. Und der heilige Augustinus, der Lehrmeister des heiligen Prosper, zeigt uns das gleiche, als er über den Fall aller Verworfenen im allgemeinen spricht, die eine Zeitlang zur Gerechtigkeit gelangen, und erklärt, daß sie die Gnade empfangen, aber vergänglich seien, das heißt, sie empfangen sie für eine gewisse Zeit. Sie verlassen Gott, und sie werden von ihm verlassen, denn durch ein gerechtes, aber verborgenes Urteil wurden sie ihrem freien Willen preisgegeben.71 Hieran erkennen wir, daß diese Gerechten, die es für eine gewisse Zeit sind, Gott verlassen, bevor er sie verläßt, daß jedoch der Grund, warum sie Gott verlassen, darin besteht, daß er sie ihrem freien Willen preisgegeben hat ; das gleiche sagt der heilige Prosper, und diese These hatte auch ich vorgetragen. Ihr seht daran, daß es diese zwei Arten von Verlassenheit gibt : die eine, bei der Gott nachfolgt und die nichts Geheimnisvolles hat, sowie die andere, bei der Gott vorausgeht und die zutiefst geheimnisvoll ist. Ich will das nicht weiter her-

Prosper von Aquitanien : Responsiones ad objectiones Vincentianas obj. 14, resp. 71 Augustinus : De correptione et gratia 43. 70

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vorheben. Doch um Euch zu zeigen, daß, wenn wir über diese ausdrücklichen Zitate nicht verfügten, es in der Lehre des heiligen Augustinus eine ganz unanfechtbare Tatsache ist, daß der Mensch niemals Gott verlassen würde, wenn Gott ihn nicht verlassen hätte, will ich Euch beweisen, daß das Gegenteil nur Bestand haben kann, wenn alle seine Prinzipien zunichte gemacht werden. Sobald man erst einmal diesen Unterschied vollkommen verstanden hat,72 ist man nicht mehr überrascht, wenn man feststellt, daß der heilige Augustinus sagt, die Gebote seien dem Menschen möglich, und zwar immer möglich, nicht allein den Gerechten, sondern allen Menschen, denn das Heil könne nur durch die Mitwirkung des Menschen erreicht werden ; es stehe in unserem Vermögen, die Gebote zu halten ; denn all diese Dinge sind ja in ihren besonderen Wirkungen wahr. Das sind keine besonderen Aussprüche, durch die sich die Parteien unterscheiden. Wenn man aber bei dem heiligen Augustinus sieht, daß der Mensch die Gebote nicht erfüllen könne, daß allein die Gnade das ganze Heil wirke, erkennt man an diesen Zeichen, welche Ansicht er vertritt, und seine letztgenannten Aussprüche stehen nicht im Gegensatz zu den ersten, weil sie unterschiedliche Tatsachen betreffen. Und was wir vom heiligen Augustinus sagen, muß man auch als gültig für die Heilige Schrift verstehen. Alle Schriftstellen, welche die Notwendigkeit der Mitwirkung, der Gebote und der Zurechtweisungen bezeichnen, und selbst diese Aussprüche : Wenn du willst, so halte die Gebote ; 73 Kommet her zu mir Nach Mesnar d OC 3, S. 663, der in der dritten Schrift genannte Unterschied : »Als der heilige Thomas über die unverdiente Vorherbestimmung spricht ([Summa theologiae ] 1a, q. 23, a. 5), … sagt er dann nicht, daß man sie entweder gemeinsam oder in ihren besonderen Wirkungen betrachten und daher in zwei unterschiedlichen Arten über sie sprechen könne …«. 73 Nach Mt 19, 17. 72

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alle 74 und alles übrige, was so beschaffen ist – Ich bin dem Herrn zuvorgekommen75 usw., Ich habe gewartet,76 ich habe gearbeitet 77 usw. –, begünstigen keinesfalls den semipelagianischen Irrglauben ; aber die folgenden Schriftstellen : Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen ; 78 Ohne mich könnt ihr nichts tun ; 79 Es kann niemand zu mir kommen, wenn ihn nicht der Vater zu mir zieht ; 80 So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen 81 usw. und alle derartigen, die überaus zahlreich sind, machen im Gegenteil jenen Irrglauben vollkommen zunichte. Die ersten sind doppeldeutig, diese sind eindeutig. Und all diese Aussprüche stehen in der Heiligen Schrift ebensowenig wie bei Sankt Augustinus im Gegensatz zueinander, weil sie sich auf unterschiedliche Sachverhalte beziehen. Denn Ihr wißt, daß die Widersprüchlichkeit der Thesen im Sinn und nicht in den Worten besteht, sonst wäre die Heilige Schrift voller Widersprüche, wie etwa, wenn gesagt ist : Der Vater ist größer als ich, 82 und an einer anderen Stelle gesagt ist, Jesus Christus ist Gott gleich ; 83 Wenn ich mich rühmen soll 84 usw. ; Damit auch ich mich rühme 85 usw. Und : Der Mensch wird gerecht ohne die Werke, allein durch den Glauben. 86 Und : Der Glaube ohne Werke ist tot. 87 Und alle übrigen, die so beschaffen sind.

74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87

Mt 11, 28. Vgl. Ps 119, 147 f. = Ps 118, 147 f. Vg. Vgl. Ps 40, 1 = Ps 39, 1 Vg. : »Exspectans, exspectavi Dominum.« 1 Kor 15, 10. Phil 2, 13. Joh 15, 5. Joh 6, 44. Röm 9, 16. Joh 14, 28. Nach Phil 2, 6. 2 Kor 11, 30. 2 Kor 11, 16. Röm 3, 28. Jak 2, 26.

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Ihr versteht also gut, daß man ohne Widerspruch sagen kann, Gott komme dem Menschen zuvor, und der Mensch komme Gott zuvor ; die Gebote seien dem Gerechten immer möglich, und einige Gebote seien manchmal einigen Gerechten nicht möglich ; Gott verlasse den Gerechten nicht, wenn dieser ihn nicht als erster verlasse, und Gott verlasse den Gerechten als erster. All diese Dinge können gemeinsam zutreffen, weil es sich um unterschiedliche Sachverhalte handelt ; und dies werde ich Euch bei dem heiligen Augustinus und den Kirchenvätern an Hand der wenigen Textstellen zeigen, die ich vor Augen habe. (Aug., Enchir., c. XXXII .) Da der Mensch nicht glauben, hoffen und Gott lieben kann, wenn er nicht will, und auch nicht in den Himmel kommen kann, wenn er nicht aus eigenem Willen läuft, wie erklärt es sich dann, daß es nicht an jemandes Wollen oder Laufen liegt, sondern an Gottes Erbarmen,88 es sei denn, »weil dieser Wille vom Herrn zubereitet wird«, 89 denn sonst, wenn es durch das eine und das andere geschähe – wie etwa, wenn gesagt wäre, daß der Wille des Menschen nicht genüge, wenn Gott nicht Barmherzigkeit übe –, genügte also auch Gottes Barmherzigkeit nicht, wenn der Mensch nicht ebenfalls wollte … Und folglich könnte man aus demselben Grunde sagen : Es liege nicht an Gott, der Barmherzigkeit übe, sondern am Menschen, der wolle, da Gottes Barmherzigkeit es nicht ganz allein vollbringen könne. Wenn aber kein Christ es wagt, so etwas zu behaupten, muß man doch weiter verstehen, daß gesagt ist, es liegt nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen, damit alles Gott gegeben ist, der den Willen des Menschen vorbereitet, um ihm hierauf zu helfen, und der ihm hilft, nachdem er ihn vorbereitet hat. Denn der gute Wille des Menschen geht vielen Gaben Gottes voraus, jedoch nicht allen, und er selbst gehört zu jenen, denen er nicht vorausgeht. Denn das eine wie das andere ist in der Heiligen Schrift zu lesen : sowohl »seine Barmher-

88 89

Röm 9, 16. Spr 8, 35 LXX .

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zigkeit wird mir zuvorkommen« 90 als auch »seine Barmherzigkeit wird mir folgen«.91 Er kommt jenem zuvor, der nicht will, um zu bewirken, daß er will, und er folgt jenem, der will, um zu bewirken, daß er nicht vergebens will.92 (Aug., De grat. et lib. arbitr., c. XVII .) Denn er beginnt und bewirkt, daß wir wollen, und er selbst wirkt mit jenen zusammen, die wollen, um sein Werk zu vollenden. Darum sagt der Apostel : »Ich bin in guter Zuversicht, daß, der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird’s auch vollführen bis an den Tag Jesu Christi.« 93 Also bewirkt er ohne uns, daß wir wollen ; und wenn wir es so wollen, daß wir es tun, wirkt er mit uns zusammen.94 (S. Fulg., l. 1 ad Monim, c. XIV.) Ich will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten.95 Was soll »Ich will machen, daß ihr macht« anderes heißen als : »Alles Gute, das ihr tun werdet, wird durch mein Wirken geschehen.« Also macht er, daß wir machen, und durch sein Wirken in uns wird alles Gute getan, das wir tun, wovon im Brief an die Hebräer gesagt ist : »Er mache euch fertig in allem guten Werk und schaffe in euch, was vor ihm gefällig ist.« 96 (Aug., l. 1, Retractat., c. X .) Das habe ich gesagt : »Nun ergötzt dieses Licht aber nicht die Augen der unvernünftigen Tiere, sondern die reinen Herzen jener, die an Gott glauben und die sich von der Liebe zu den sichtbaren und zeitlichen Dingen abwenden, um Gottes Gebote zu erfüllen, was alle Menschen können, wenn sie es wollen.« Niemals haben die Pelagianer etwas Beweiskräftigeres gesagt ; und dennoch fi ndet der heilige Augustinus diese Stelle, als er sie in seinen Retractationes berichtigt, nicht völlig unverein-

Nach Ps 59, 11 = Ps 58, 11 Vg. Nach Ps 23, 6 = Ps 22, 6 Vg. 92 Augustinus : Enchiridion De fi de, spe et caritate 32. 93 Phil 1, 6. 94 Augustinus : De gratia et libero arbitrio 33. 95 Vgl. Ez 36, 27. 96 Fulgentius von Ruspe : Ad Monimum 1, 8 ( PL 65). Die Bibelzitate : Ez 36, 27, Hebr 13, 21. 90 91

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bar mit der heiligen Lehre, indem er lediglich die folgenden Worte hinzufügt : Die neuen Pelagianer sollen nicht denken, daß dies sie begünstige. Es ist zwar voll und ganz wahr, daß alle Menschen es können, wenn sie es wollen, aber der Wille wird vom Herrn vorbereitet, und er wird von der Gabe der christlichen Liebe gestärkt, so daß sie es können. Das hatte ich an jener Stelle nicht gesagt, weil es dort nicht für die Sache notwendig war. Mit welcher Beweiskraft würde man sich auf das erste Augustinuszitat stützen, wenn er es nicht selbst berichtigt hätte ? Und wer sieht gleichwohl nicht, daß dieser Ausspruch : Daß alle Menschen die Gebote halten können, wenn sie es wollen, den beiden Parteien gemeinsam ist ? Was sie jedoch unterscheidet, ist das folgende : Daß dieser Wille vom Herrn gegeben wird und daß die Gabe der christlichen Liebe die Gebote möglich machen kann.97 Diese andere Stelle ist von der gleichen Art : (Idem, c. XXII .) Ich habe an einer anderen Stelle gesagt : »Man kann nichts Gutes tun, wenn man nicht seinen Willen ändert, was, wie der Herr lehrt, in unserem Vermögen steht : Setzt entweder einen guten Baum, so wird die Frucht gut ; oder setzt einen faulen Baum, so wird die Frucht faul.« 98 Was wir denken, ist durchaus nicht gegen die Gnade Gottes gerichtet, denn es steht im Vermögen des Menschen, seinen Willen zum Besseren zu wandeln, doch dieses Vermögen ist unwirksam, wenn es nicht von Gott gegeben wird ; denn da eine Sache, die wir tun, wenn wir wollen, in unserem Vermögen steht, steht ja nichts so sehr in unserem Vermögen wie unser Wille selbst, der Wille aber wird vom Herrn vorbereitet ; auf diese Weise gibt er also das entsprechende Vermögen. In diesem Sinne muß man auffassen, was ich danach gesagt habe : »Es steht in unserem Vermögen, entweder Gottes Güte oder seinen Zorn zu verdienen.« Denn in unserem Vermögen steht nur etwas, was unserem Willen folgt, und sobald Gott diesen stark und mächtig vorbereitet, wird ebenjene gute Tat leicht, die zuvor schwer, ja sogar unmöglich war.99 97 98 99

Augustinus : Retractationes 1, 10, 2. Mt 12, 33. Augustinus : Retractationes 1, 22, 4.

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Auf diese Weise kann man Katholik und Pelagianer sein, wenn man sagt, es stehe in unseren Kräften, unseren Willen zum Besseren zu wandeln ; aber man ist Pelagianer, wenn man glaubt, dieses Vermögen komme von uns, und man ist Katholik, wenn man glaubt, es komme von Gott, und das gleiche sei uns nur möglich, wenn Gott uns einen starken und mächtigen Willen gewähre, und es sei uns unmöglich, wenn er es nicht tue. Ich wollte Euch diese gewichtigen Augustinusworte anführen, die scheinbar die Pelagianer so stark begünstigen, damit Ihr nicht von bestimmten Worten überrascht seid, die unvergleichlich weniger bedeuten und von denen Euer kleines Schreiben voll ist : Gott gebietet keine unmöglichen Dinge 100 und ähnliches. Also komme ich jetzt zu der Frage, die Euch am stärksten bewegt. Und ich will Euch zeigen, daß nach der Lehre des heiligen Augustinus die Gebote manchmal einigen Gerechten unmöglich sind, daß – da man immer die Gnade erbitten muß, um es zu erlangen – man ein zweifaches Beharren zu bedenken hat, das Beharren im Gebet und das Beharren in der christlichen Liebe, und daß Gott hierfür zwei Gnadenmittel gibt, das eine, um im Gebet beharren zu lassen, und das andere, um in den Werken beharren zu lassen : Und daß es wahr ist, daß Gott jenen den Beistand für die Werke niemals verweigert, die ihn unablässig darum bitten, und daß Gott in diesem Sinne den Gerechten nicht verläßt, wenn der Gerechte ihn nicht verläßt ; daß Gott aber auch nicht immer den Beistand zum Beten gibt und daß Gott in diesem Sinne den Gerechten verläßt, bevor der Gerechte ihn verläßt, so daß dieses Verlassen immer derart geleitet wird, daß Gott zuerst den Menschen ohne den notwendigen Beistand läßt, mit dem er beten kann, und daß hierauf der Mensch zu beten aufhört, und hierauf verläßt Gott den Menschen, der nicht mehr zu ihm betet.

100

Augustinus : De natura et gratia 83.

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Diese doppelte Verlassenheit wurde in dem Brief eine Abbés an einen Präsidenten 101 so zutreffend behandelt, daß es lächerlich ist, mehr darüber zu sagen, und ich tue es nur, weil Ihr es wollt. Hier einige Beweise : (Aug., De corr. et grat., c. XII .)102 Als der heilige Augustinus über die Verworfenen spricht, die der Gerechtigkeit teilhaftig geworden sind und die nicht in ihr beharren, sagt er : Sie empfangen die Gnade ; sie sind jedoch nur eine gewisse Zeit in diesem Stand ; sie verlassen Gott, und sie werden von ihm verlassen ; denn durch ein gerechtes, aber verborgenes Urteil wurden sie ihrem freien Willen preisgegeben. Diese wenigen Worte erklären Euch die doppelte Verlassenheit, die ich meine. Sie verlassen Gott, sagt er, und sie werden von ihm verlassen ; bei dieser Verlassenheit geht der Mensch voraus, und Gott folgt nach ; bei dieser Verlassenheit gibt es nichts Geheimnisvolles, wenn man aber die Ursache wissen will, warum usw. Das gleiche werden wir bei dem Grund erkennen, den der heilige Augustinus für die Verlassenheit der Gerechten angibt ; wenn er nämlich überall begründet, daß der Rückfall möglich ist, um die Menschen zu lehren, nur auf Gott zu hoffen, ist es dann nicht offensichtlich, daß nichts dieser Absicht so sehr widerspricht, als wenn man ihnen zusichert, daß sie immer die unmittelbare Fähigkeit zum Beten haben, da das Gebet ja immer gewiß bewirkt, daß man erlangt, was man erbittet ? Wenn man aber die Ursache wissen will, warum sie Gott verlassen haben, gibt er als einzigen Grund an, daß Gott sie ihrem freien Willen überlassen hätte. Und wenn man fragt, warum Gott sie, da sie ebenso gerecht wie die Auserwählten waren, ihrem

Lettre d’un Abbé à un Président sur la conformité de saint Augustin avec le Concile de Trente touchant la manière dont jes justes peuvent délaisser Dieu et être ensuite délaissés de lui. o. O. 1649. Verfasser der anonymen Schrift ist der Abée de Bourzeis. Vgl. Mesnar d OC 3, S. 552. 102 Augustinus : De correptione et gratia 43. 101

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freien Willen überläßt und die Auserwählten nicht, erklärt er, dies geschehe durch ein verborgenes Urteil. Hieran erkennt man, daß dies nicht geschieht, weil sie die Gnade schlecht gebraucht hätten, die in ihnen war, und auch nicht, weil sie sich die Wirkung der Gnade zugeschrieben hätten, denn in diesem Falle hätte die Unterscheidung keine verborgene, sondern eine wohlbekannte Ursache. Kurz, es geschieht nicht aus einem Grund, der uns bekannt sein könnte, weil es vielmehr durch ein geheimes Urteil geschieht ; das ist von einer derart großen Beweiskraft, daß ich es Euch überlasse, sie weiter hervorzuheben. Und da der heilige Augustinus an dieser Stelle von allen Verworfenen spricht, die eine Zeitlang die Gnade haben, ersieht man aus der von ihm vorgebrachten Erkenntnis, auf welche Art ihr Sturz erfolgt. Diese doppelte Verlassenheit, die sich in allen Schriften der Heiligen fi ndet, doch bei den einen deutlicher als bei den anderen, wird auch noch bei dem heiligen Prosper 103 sehr einleuchtend erklärt, wenn er sagt : Gott verläßt einen Gerechten nicht, wenn der Gerechte ihn nicht zuvor verläßt. Er fügt hinzu : Und er bewirkt sehr oft, daß jener ihn nicht verläßt. Hieran erkennt Ihr, daß Gott nicht immer bewirkt, daß die Gerechten ihn nicht verlassen. Wenn man aber den heiligen Prosper fragt, warum Gott bewirkt, daß einige Gerechte ihn nicht verlassen, und warum er es nicht bei den anderen bewirkt, antwortet er, daß diese Frage – Warum hält Gott diese fest und nicht jene ? – etwas ist, wonach zu suchen verboten und was zu finden unmöglich ist. Und demzufolge müsse man ausrufen : O Tiefe ! 104 O Größe ! 105 Usw. Hieran erkennt Ihr jene doppelte Verlassenheit, die ich Euch erklärt habe. Wenn uns aber diese Ausführungen und auch alle übrigen nicht zur Verfügung stünden, in denen sie Prosper von Aquitanien : Responsiones ad objectiones Vincentianas obj. 14, resp. 104 Vgl. Röm 11, 33. 105 Vgl. Eph 1, 19. 103

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bei bestimmten Gelegenheiten deutlich erklärt worden wäre, so bliebe dieser Sachverhalt dennoch offenkundig und grundsätzlich von unbedingter Notwendigkeit. Denn wer weiß nicht, daß es ein unumstößlicher Grundsatz in der Lehre des heiligen Augustinus ist, daß die Ursache, um derentwillen von zwei Gerechten der eine beharrt und der andere nicht, ein vollkommen unbegreifliches Geheimnis ist ? Hieran ist zu erkennen, daß nicht alle Gerechten das unmittelbare Vermögen des Beharrens haben, wenn nämlich der unterschiedliche Gebrauch, den ihr freier Wille von dieser Fähigkeit machte, der Grund für ihre Unterscheidung wäre, so gäbe es kein Geheimnis. Wer weiß nicht, daß dem heiligen Augustinus zufolge alle Auserwählten, das heißt all jene, die beharren, durch eine Gnade beharren, die sie ganz unbeirrbar beharren läßt und ohne die sie nicht beharren könnten ? Wer weiß nicht, welchen Unterschied er zwischen dem Beharren Adams sowie der Engel und jenem der gegenwärtigen Menschen macht ? Wer weiß nicht, daß es Gott ist, der das Beharren im Gebet gibt ? Daß die Gnade bewirkt, daß man nach ihr selbst verlangt, und daß sie im Menschen alles Gute wirkt, das er tut ? Daß die Gerechten in diesem Leben festgehalten werden, bis die Gnade deren Willen gebessert hat, und ihnen dieses Leben genommen wird, sobald ihr Wille böse werden sollte ? Und daß hingegen die Verworfenen, die gerecht sind, in diesem Leben gelassen werden, bis ihr Wille sich geändert hat, obgleich das Leben sich ihnen schon zuvor nehmen ließe ? Wer erkennt nicht an all diesen Grundsätzen, wie falsch diese These ist, daß die Gerechten immer eine unmittelbare Fähigkeit haben sollen, wenigstens im Gebet zu beharren ? Wenn es sich nämlich so verhielte und diese Fähigkeit unmittelbar wäre – und nicht so wie die hinreichende Gnade der Thomisten, die niemals deren Wirkung hat, jene wäre ja vielmehr eine unmittelbare Fähigkeit –, folgte daraus, daß die Gerechten, selbst wenn sie verworfen sind, beharren könnten, daß es keinen Unterschied zwischen dem Beharren Adams oder der Engel und dem heutigen Beharren gäbe, daß es nichts Geheim-

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nisvolles mehr gäbe bei der Unterscheidung zwischen jenen, die beharren, und jenen, die nicht beharren : und schließlich alle anderen Absurditäten, die den Hauptsätzen des Lehrers der Gnade widersprechen. Und da die Textstellen, in denen er all diese Punkte begründet, Euch vielleicht nicht bekannt sind, werde ich Euch diejenigen anführen, die mir jetzt zur Verfügung stehen. (St. August., l. 2, De Peccator. merit., c. XVII .) Es kommt vor, daß jeder von uns manchmal ein gutes Werk beginnen, durchführen und vollenden kann und manchmal nicht : Manchmal fi nden wir darin unsere Lust und manchmal nicht, damit wir lernen, daß wir es nicht durch unser Vermögen, sondern durch Gottes Gabe können und diese Lust finden, und damit wir so vom Hochmut geheilt werden und wissen, wie wahr es ist, wenn es heißt, daß uns der Herr Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe.106 Begründet der heilige Augustinus in dieser Textstelle nicht offenkundig, daß man nicht die Macht hat, irgendein gutes Werk zu vollenden, da er ja sagt, daß dieses Gute für uns nicht immer vorhanden ist, damit wir es lernen, uns nicht zu erhöhen ? Und dies würde nicht zutreffen, wenn wir die unmittelbare Fähigkeit hätten, es zu vollenden. (St. Aug. ibidem, c. XIX .) Aus diesem Grunde heilt er später selbst seine Heiligen und seine Gläubigen von einigen Fehlern, so daß ihr Wohlgefallen am Guten kleiner ist, als ausreichend wäre, um die Gerechtigkeit vollständig zu erreichen. Und dann : Und hierbei will er nicht, daß sie verdammt werden, sondern daß sie demütig werden. Ist es nicht offenkundig, daß diese Absicht Gottes nicht bei seinen Heiligen gelingen kann, wenn sie immer diesen unmittelbar ausreichenden Beistand haben ? 107 (Fulg., l. 1 de Veritate praedestin. c. XV et XVI .) Prüft auch die Beweiskraft der folgenden Textstellen : Diese Gnade, die Gott

Augustinus : De peccatorum meritis et remissione et de baptismo parvulorum 2, 27. Das Bibelzitat : Ps 85, 13 = 84, 13 Vg. 107 Augustinus : De peccatorum meritis … 2, 33. 106

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den Gefäßen der Barmherzigkeit 108 gibt, beginnt mit der Erleuchtung des Herzens, und sie findet den Willen des Menschen nicht gut vor, sondern läßt ihn gut werden ; und damit sie erwählt wird, erwählt sie selbst als erste ; und sie wird nur empfangen oder geliebt, wenn sie selbst diese Wirkung im Herzen des Menschen hervorbringt : Also sind sowohl das Empfangen der Gnade als auch das Verlangen nach ihr das Werk der Gnade selbst. Und dann : Also bewirkt sie selbst, daß man sie mehr erkennt, liebt und nach ihr verlangt.109 Also ist die Fähigkeit, nach der Gnade zu verlangen, welche die Gerechten immer haben, entweder nur eine hinreichende Fähigkeit und keine unmittelbare wie bei den Thomisten, oder, wenn sie unmittelbar ist, können sie die Gnade lieben, ohne daß sie diese Wirkung in ihnen hervorbringt. Da dies den Prinzipien dieses Heiligen jedoch so sehr widerspricht, müssen wir folgern, weil die Gnade immer nur empfangen und verlangt wird, wenn sie selbst diese Wirkung hervorbringt, daß es nicht wahr ist, daß die Gerechten diese unmittelbare Fähigkeit haben, mit der ihr freier Wille diese Wirkung hervorbringen könnte. Ich will das nicht weiter hervorheben. (Fulg., l. 2. de Verit. praedest. c. IV.) Wenn uns also geboten wird, das Gute zu wollen, so wird uns gezeigt, was unsere Pflicht ist, doch da wir es nicht von selbst können, werden wir unterrichtet, diesen Beistand von jenem zu erbitten, der uns dieses Gebot gibt : Und dies können wir gleichwohl nicht erbitten, wenn Gott nicht in uns bewirkt, daß wir es wollen.110 Er sagt nicht, daß wir es nicht erbitten, wenn Gott nicht in uns bewirkt, daß wir es erbitten wollen, sondern, daß wir es nicht erbitten können, wenn Gott nicht in uns den Willen selbst bewirkt, es zu erbitten. Dem heiligen Fulgentius zufolge gibt es also bei jenen keine unmittelbare

Röm 9, 23. Fulgentius von Ruspe : De veritate praedestinationis et gratia Dei 1, 15, 33 und 1, 16, 34. 110 Fulgentius von Ruspe : De veritate praedestinationis et gratia Dei 2, 4, 6. 108 109

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Fähigkeit, die Erfüllung der Gebote zu erbitten, die nicht den entsprechenden Willen haben, und ihm zufolge sind das Können und das Wollen derart eng verbunden, daß der Mensch niemals die Fähigkeit hat, wenn Gott ihm nicht den entsprechenden Willen gibt. (Fulg., Epist. 4 , c. 2) Denn wer kann rechtschaffen beten, wenn dieser göttliche Arzt uns nicht selbst den Ursprung dieses Verlangens eingibt, oder wer kann im Gebet beharren, wenn Gott in uns nicht stärkt, was er begonnen hat, wenn er nicht nährt, was er gesät hat, und nicht infolge seiner Barmherzigkeit zur Verwirklichung der Vollkommenheit führt, was er Unwürdigen in seiner zuvorkommenden Barmherzigkeit unverdient gegeben hat ? Also hat man nicht die Fähigkeit, im Gebet zu beharren, wenn Gott nicht beharren läßt.111 (St. Aug., De dono persever., c. XXIII .) Und sie wollen nicht begreifen, daß, wenn wir beten, gerade dies eine Gabe Gottes ist.112 (Idem in Psal. [ CXVIII 113], Conc. 14.) Er ist es, der uns um alles bitten läßt, was wir zu empfangen wünschen, er ist es, der uns alles suchen läßt, was wir zu finden wünschen, er ist es, der uns anklopfen läßt. Und dann : Denn der Geist Gottes, der in uns wohnt, läßt uns beten. Also bittet und betet man nicht durch eine unmittelbare Fähigkeit.114 (Aug., Epist. CV. ) Das Gebet gehört selbst zu den Gottesgaben.115 (Fulg., l. I de verit. praedest., c. XVIII .) Damit wir also an Gott glauben wollen, hat er uns diesen guten Willen gegeben ; damit wir augenblicklich glauben, hat er uns den Glauben gegeben ; damit wir ihn lieben, hat er uns die Gnade seiner christlichen Liebe gegeben. Und danach : Also bewirkt allein die Gnade in uns den guten Willen. Dem Willen gibt allein sie den Glauben ein, wenn aber der gute Fulgentius von Ruspe : Epistulae IV ad Probam 2. Augustinus : De dono perseverantiae 64. Pascal zitiert hier und im folgenden fälschlich »De bono …« nach J. Sinnich : Sanctorum Patrum de gratia Christi et libero arbitrio dimicantium Trias. 113 Ps 119 = Ps 118 Vg. 114 Augustinus : Enarrationes in psalmos 118, 14, 2. 115 Augustinus : Epistulae 194, 16. 111

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Wille den Glauben empfangen hat, beginnt er, Gutes zu wirken, sofern uns allerdings der Beistand der Gnade nicht fehlt, denn die Gnade bewirkt ja in uns den guten Willen.116 (S. Aug., de Dono persever., cap. VII .) Damit wir uns nämlich nicht von Gott entfernen, wird uns dies nur von Gott gegeben. Dies steht jetzt nicht mehr in den Kräften des freien Willens. Und dann : Und Gott hat gewollt, daß es nach dem Fall des Menschen nur noch seiner Gnade allein zukommt, wenn der Mensch sich ihm nähert, und daß es auch nur noch seiner Gnade allein zukommt, wenn der Mensch sich ihm nicht entzieht.117 (Aug., de Grat. et lib., c. XV, XVI .) Durch sie wird bewirkt, daß der Mensch guten Willens ist, während er zuvor böse war. Durch sie wird bewirkt, daß dieser gute Wille, der jetzt gerade entstanden ist, gestärkt und groß genug wird …118 Prüfen wir also bitte diese Frage gründlich, denn ich weiß ja, daß dieser Punkt Euch am stärksten bewegt ; und wir wollen sehen, ob es nach der Lehre dieser Heiligen möglich ist, daß die Gerechten Gott verlassen, bevor Gott sie ein wenig sich selbst überlassen hat. Hierfür muß man als anerkannte Grundlage nehmen, daß Gott niemals diejenigen verläßt, die zu ihm beten, und daß er ihnen im Gegenteil immer die zu ihrem Heil notwendigen Mittel gewährt, wenn sie ihn aufrichtig darum bitten. Es handelt sich also nicht um die Frage, ob Gott es unterläßt, jenen seine Gnadenmittel zu geben, die darin beharren, sie zu erbitten, denn niemals ist jemand auf diesen Gedanken verfallen. Es geht vielmehr um die Frage, ob Gott es niemals unterläßt, den Gerechten alle zum Beten notwendigen Gnadenmit-

Fulgentius von Ruspe : De veritate praedestinationiset gratia Dei 1, 18, 38. 117 Augustinus : De dono perseverantiae 13. 118 Augustinus : De gratia et libero arbitrio 31. 116

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tel zu geben : So stellt sich das Problem. Prüfen wir es jetzt nach den Prinzipien des heiligen Augustinus. Wenn wir fi nden, daß es bei dem heiligen Augustinus ein fester Grundsatz ist, daß all jene, denen das augenblickliche Gebet eigen ist, es durch eine wirksame Gnade besitzen und daß keiner von denjenigen, denen das augenblickliche Gebet nicht eigen ist, die unmittelbare Fähigkeit des Betens hat, ist dann die Frage nicht gelöst und ergibt sich daraus nicht notwendig, daß die Gerechten, solange sie beten, einen wirksamen Beistand erhalten, daß sie das Beten nicht unterlassen, solange sie dieses wirksamen Beistandes teilhaftig sind, und daß sie, wenn sie das Beten unterlassen, nicht die unmittelbare Fähigkeit des Betens haben ? Und folglich hat Gott sie als erster – ich meine zwar nicht ohne jeden Beistand, jedoch ohne unmittelbaren Beistand – allein gelassen. Dies ergibt sich mit Gewißheit. Sehen wir also, ob ich diese Grundsätze beweisen kann. Wenn wir fi nden, daß es bei dem heiligen Augustinus ein fester Grundsatz ist, daß nicht allein die großen Taten, woran heute niemand mehr zweifelt, Gottesgaben sind, sondern daß das Gebet selbst und der Glaube, die geringere Dinge sind, mit denen man sich Gott anschließt und ohne die man ihn unzweifelhaft verläßt, ebenfalls Gnadengaben, Wirkungen und Werke der Gnade sind und daß sie bei einem Menschen nur durch das ausdrückliche Wirken der Gnade vorhanden sind, wird das nicht genügen, um zu beweisen, daß man das Gebet immer nur durch eine Gnade besitzt, die zum Beten bewegt ? Vielleicht antwortet Ihr mit nein : Wenn auch alle Gerechten durchaus die hinreichende Gnade haben, um zu beten, komme es dennoch so, daß man immer nur durch eine wirksame Gnade bete und daß daher, wenn auch keiner des Gebets teilhaftig sei, sofern es nicht von der Gnade hervorgebracht werde, dennoch alle Gerechten der Fähigkeit des Betens teilhaftig seien. Das ist jedoch unhaltbar. Denn es ist eine Tat sachenfrage, wenn man wissen möchte, ob kein Gerechter seine unmittelbare Fähigkeit zu beten in die Tat umsetzt, und man

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kann sie nur beantworten, wenn man sich über alle Gerechten im einzelnen unterrichtet, wie das Gebet in ihnen hervorgebracht wird. So wäre es denn eine ungebührliche Leichtfertigkeit, wenn man versicherte, alle vergangenen und zukünftigen Gerechten seien niemals, indem sie ihre unmittelbare Fähigkeit in die Tat umsetzen, des Gebetes teilhaftig geworden. Nun kann man aber nicht das gleiche über die hinreichende Gnade der Thomisten sagen, das heißt, man kann ohne Ungebühr sagen, daß sie niemals in die Tat umgesetzt wird, weil sie diese nicht als unmittelbar hinreichend begründen. Wenn diese angeblich den Gerechten eigene Fähigkeit des Betens aber unmittelbar ist, kann man nicht mit Sicherheit sagen, daß all jene, die des Gebetes teilhaftig sind, es nicht durch diese unmittelbare Fähigkeit, sondern durch eine wirksame Gnade besitzen. Und wenn der heilige Augustinus und alle Kirchenväter also eindeutig erklären, daß das Gebet immer die Folge einer wirksamen Gnade ist, ergibt sich notwendig aus dieser allgemeingültigen Erklärung, daß jene, die des Gebetes nicht teilhaftig sind, keine unmittelbare Fähigkeit zu beten haben. Um also zu beweisen, daß all jene, die nicht beten, nicht die unmittelbare Fähigkeit des Betens haben, genügt es zu beweisen, daß all jene, die beten, durch eine wirksame Gnade beten. Und gerade das fi nden wir im ganzen Augustinus, und das ist auch der Grund, warum er all seine Werke über die Gnade geschrieben hat, ohne daß es beinahe eine Ausnahme gibt. (Fulgentius [Trias 119], 160.)120 Damit diese Gnade erwählt werden soll, erwählt sie selbst als erste, und sie wird nur empfangen und geliebt, wenn sie dies im Herzen des Menschen bewirkt. Also sind sowohl der Empfang der Gnade als auch das Verlangen nach ihr das Werk der Gnade. Und dann : Also bewirkt sie, daß man sie erkennt, liebt, verlangt und erbittet. Von Pascal zitiert nach J. Sinnich : Sanctorum Patrum de gratia Christi et libero arbitrio dimicantium Trias. 120 Fulgentius von Ruspe : De veritate praedestinationis et gratia Dei 1, 15, 33 und 1, 16, 34. 119

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(Fulgentius, 278.) Man kann nicht einmal das Verlangen nach dem Gebet haben, wenn es uns nicht von Gott gegeben wird.121 (Augustinus, 438.) Diejenigen, die denken, das Gebet sei von uns, während es uns doch gegeben wird, sollen achtgeben, wie sehr sie sich irren. Und danach : Und sie wollen nicht begreifen, daß gerade das Beten selbst eine Gottesgabe ist.122 (Augustinus, 438.) Und daher ist er es selbst, der uns um alles bitten läßt, was wir zu empfangen wünschen, er läßt uns alles suchen, was wir zu finden wünschen, er läßt uns dort anklopfen, wohin wir zu gelangen wünschen.123 (Augustinus, 438.) Denn das Gebet ist selbst eine Gottesgabe.124 (Fulgentius, 490.) Damit wir also an Gott glauben wollen, gibt er uns diesen guten Willen ; damit wir an ihn glauben, gibt er uns den Glauben ; damit wir ihn lieben, gibt er uns die christliche Liebe. Und danach : Also bewirkt allein die Gnade in uns den guten Willen ; sie allein gibt diesem Willen den Glauben ein.125 Es wäre unnötig, hierüber weitere Zeugnisse anzuführen, denn gerade dies ist ja das ganze Anliegen des heiligen Augustinus und seiner Schüler. Prüfen wir daher die Beweiskraft seiner Äußerungen. Wenn es also wahr ist, daß diese Gnade nur geliebt und empfangen wird, sobald sie selbst diese Wirkung im Herzen hervorbringt, wie kann man dann sagen, daß diejenigen, die sie nicht lieben, die unmittelbare Fähigkeit haben, sie zu lieben, und daß es von ihnen abhänge, sie ohne den Beistand einer wirksamen Gnade zu lieben, da sie ja immer nur durch ihre eigene Wirksamkeit geliebt wird ? Wie kann man so kühn sein und behaupten, das Gebet sei eine Gnadengabe, und sie lasse uns alles erbitten, was wir wünschen, wenn Fulgentius von Ruspe : Epistula VI ad Theodorum senatorem 7, 10 ( PL 65). 122 Augustinus : De dono perserverantiae 64. 123 Augustinus : Enarrationes in psalmos 118, 14, 2. 124 Augustinus : Epistulae 194, 16. 125 Fulgentius von Ruspe : De veritate praedestinationis et gratia Dei 1, 18, 38. 121

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es doch geschehen kann, daß man durch eine unmittelbare Fähigkeit bittet, obwohl die Gnade nicht zum Bitten bewegt ? Wie kann man behaupten, dem Willen gebe allein die Gnade den Glauben ein, wenn es so viele gibt, die eine unmittelbare Fähigkeit haben, um zu glauben, und es daher geschehen kann, daß sie glauben, indem sie diese unmittelbare Fähigkeit in die Tat umsetzen, und daß es somit nicht wahr sein kann, daß allein die Gnade ihnen den Glauben gegeben hat ? Doch um mit eindeutigen Textstellen zu beweisen, daß die Fähigkeit des Betens nicht jenen eigen ist, die nicht des Gebets teilhaftig sind, wollen wir den heiligen Fulgentius hören : Man kann selbst das Verlangen nach dem Gebet nicht haben, wenn dieses Verlangen nicht von Gott gegeben wird. Also haben diejenigen, die nicht dieses Verlangen haben, nicht die Fähigkeit des Betens. (Fulgentius, 178.) Wenn uns also geboten ist zu wollen, wird damit unsere Pflicht bezeichnet ; weil wir es aber nicht von selbst erreichen können, werden wir unterrichtet, von jenem die entsprechende Fähigkeit zu erbitten, der uns dieses Gebot gibt : Dies können wir indes nicht erbitten, wenn Gott nicht in uns den Willen selbst bewirkt. Also haben diejenigen, die nicht den Willen selbst haben, auch nicht die Fähigkeit.126 Nicht etwa, daß sie keine entfernte Fähigkeit haben, wie es zum Beispiel die Möglichkeit ist, gerettet zu werden, die alle Menschen haben. Denn sobald man sagt, man habe nicht die Fähigkeit, etwas zu tun, schließt man nicht immer diese entfernten Fähigkeiten aus, aber es gibt keinen Zweifel, daß man immer die unmittelbar hinreichende Fähigkeit ausschließt. Wenn also gesagt ist, daß man nicht den Willen zum Gebet haben kann, sofern er nicht von Gott gegeben wird, ist es gewiß, daß dieses Unvermögen wenigstens im Hinblick auf die unmittelbar hinreichende Fähigkeit besteht.

Fulgentius von Ruspe : De veritate praedestinationis et gratia Dei 2, 4, 6. 126

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Diese Textstellen, die ausdrücklich die Fähigkeit derjenigen ausschließen, die nicht die Tat ausführen können, sind so beweiskräftig, wie man es sich nur wünschen kann. Doch das verhindert nicht, daß diejenigen, die nicht ausdrücklich die Fähigkeit ausschließen und die immer nur der Wirksamkeit der Gnade die Tat zuschreiben, unfehlbar die gleiche Beweiskraft haben, um diese unmittelbar hinreichende Fähigkeit auszuschließen, weil es nicht möglich ist, wie wir es so oft gesagt haben, die Wirksamkeit der Gnade als einzige Ursache des Glaubens und des Gebets zu bezeichnen, wenn alle Gerechten eine unmittelbar hinreichende Fähigkeit haben, die deren Ursache sein kann. Ziehen wir also den Schluß, daß all jene, denen der Glaube und das Gebet eigen sind, sie durch eine wirksame Gnade haben und daß all jene, die sie nicht haben, nicht die unmittelbare Fähigkeit besitzen, ihrer teilhaftig zu werden. Daraus ergibt sich, daß all jene, die im Gebet beharren, eine wirksame Gnade haben, die sie beten und im Gebet beharren läßt, und daß all jene, die diese Gnade haben, beten und daß jenen, die nicht im Gebet beharren, sowohl diese wirksame Gnade wie auch eine unmittelbar hinreichende Gnade entzogen sind und daß jene, denen diese hinreichende Gnade entzogen ist, nicht beten und daß somit ein Gerechter erst vom Beten abläßt, nachdem Gott ihm die wirksame und unmittelbar hinreichende Gnade für das Gebet entzogen hat. Dieser Hauptpunkt der Lehre des heiligen Augustinus wird sowohl durch den Grundsatz, der ihn soeben erläutert hat, wie auch durch alle übrigen unwiderlegbar bewiesen. Wenn wir fi nden, daß es ein fester Grundsatz ist, daß die Auserwählten bis zum Ende solchen Wegen folgen, auf denen sie sehr wirksam beharren, das heißt, daß die einzigen, die bis zum Ende beharren, durch sehr wirksame Mittel beharren, ergibt sich dann nicht, daß keiner von all jenen, die nicht beharren, die unmittelbare Fähigkeit des Beharrens hat, und das auf Grund derselben Beweisführung, die wir soeben vorgebracht haben ? Wenn nämlich die Verworfenen, die der Gerechtigkeit

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teilhaftig sind, die unmittelbare Fähigkeit haben, im Gebet zu beharren und folglich das Beharren in der Gerechtigkeit zu erlangen, wie kann man dann die Behauptung wagen, daß keiner von all jenen, die beharrt haben und die tatsächlich beharren, nur beharrt, indem er sehr wirksamen Wegen folgt, weil es ja nichts Absurdes oder Unmögliches dabei gibt, daß so viele, die eine unmittelbare Fähigkeit des Beharrens haben, auch wirklich beharren und daß es im Gegenteil aller Wahrscheinlichkeit nach unmöglich ist, daß es unter so vielen Tausenden von Menschen, die diese unmittelbare Fähigkeit haben, nicht wenigstens einen gäbe, der sie in die Tat umsetzte, und daß es anzunehmen ist, daß es viele darunter gibt, und daß es absolut falsch ist, daß man mit Gewißheit sagen könnte, es gebe darunter nicht einen einzigen ? Wenn also der heilige Augustinus ausdrücklich begründet, daß alle Auserwählten durch eine wirksame Gnade gerettet werden und daß alle Gerechten, die nicht auserwählt sind, unzweifelhaft nicht beharren werden, steht es dann nicht außer Zweifel, daß sie nicht die entsprechende unmittelbare Fähigkeit haben ? Wenn sie diese nämlich hätten, wäre die Behauptung unzulässig, daß diese unmittelbare Fähigkeit niemals in die Tat umgesetzt würde, weil die wesentliche Eigenschaft des Unmittelbaren solcherart ist, daß sie dem Menschen eine absolute (Gewißheit) gibt, sie in die Tat umsetzen zu können. Und wer weiß gleichwohl nicht, daß ein Prinzip dieses Kirchenvaters, das sich sehr oft in allen seinen Werken fi ndet und grundlegend für seine Lehre ist, besagt, daß die Auserwählten, das heißt all jene, die beharren, ganz gewiß durch sehr wirksame Mittel beharren und daß die Gerechten, die ganz gewiß verworfen sind, nicht beharren. Wenn es ein fester Grundsatz in der Lehre des heiligen Augustinus ist, daß Adam und die Engel einen unmittelbar hinreichenden Beistand hatten, um sich nicht von Gott zu entfernen, mit dem sie sich nun entweder nicht von ihm entfernen oder sich auch von ihm entfernen konnten, sobald sie sich seiner nicht bedienten, und daß dies jetzt nicht in den Kräften unseres freien Willens steht, daß Gott aber will, daß

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es nur noch seiner Gnade allein zukommt, wenn wir uns Gott nähern, wie auch, wenn wir uns nicht von ihm entfernen : Haben wir dann nicht Grund zu der Schlußfolgerung, die auf dem unterschiedlichen Willen Gottes im Hinblick auf die unschuldige und auf die verderbte Natur sowie auf den unterschiedlichen Mitteln beruht, durch die er uns gewährt, uns nicht von ihm zu entfernen, daß sowohl diejenigen, die beharren, durch die Wirksamkeit seiner Gnade beharren, wie auch diejenigen, die nicht beharren, nicht der unmittelbaren Fähigkeit des Beharrens teilhaftig sind ; und was ist doch in der Lehre des heiligen Augustinus geläufiger als die Unterscheidung dieser Gnadenmittel ? Haben wir nicht Grund zu der Schlußfolgerung, daß Gott jetzt das Beharren nicht mehr dem freien Willen der Menschen anvertrauen will und daß sie jetzt nicht mehr fähig sind, sich eines unmittelbar hinreichenden Beistandes zu bedienen ? Gerade dies begründet Augustinus jedoch in allen seinen Werken, und besonders in dem ganzen Buch Über die Zurechtweisung und die Gnade 127 und beinahe auch überall in dem Buch Über die Gabe des Beharrens. Diese gewichtige Textstelle daraus genügt : Und damit wir uns nämlich nicht von Gott entfernen (er beweist, daß uns dies nur von Gott gegeben werden kann), steht dies keinesfalls mehr in den Kräften des freien Willens. Dies war dem Menschen vor seinem Fall eigen, und diese Willensfreiheit zeigte sich in der Herrlichkeit jenes ursprünglichen Zustandes bei den Engeln, die, als der Teufel gemeinsam mit den Seinen gefallen ist, weiter an der Wahrheit festgehalten und es verdient haben, zu ewiger Gewißheit zu gelangen. Aber nach dem Fall des Menschen hat Gott gewollt, daß es nur noch seiner Gnade zukommt, daß der Mensch sich ihm nähert, und daß es auch nur noch seiner Gnade zukommt, daß der Mensch sich ihm nicht entzieht.128 Hieran erkennen wir deutlich genug, daß der erste Mensch einen unmittelbar hinreichenden Bei-

127 128

De correptione et gratia. Augustinus : De dono perserverantiae 13.

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stand erhalten hatte (was in der Lehre des heiligen Augustinus unzweifelhaft ist, und sollte man doch Zweifel hegen, braucht man nur zu dem Buch Über die Zurechtweisung und die Gnade zu greifen, das überall davon spricht), durch den er beharren und auch nicht beharren konnte, so daß es seinem freien Willen überlassen war, diese Fähigkeit nach seinem Gutdünken zu gebrauchen, und der heilige Augustinus erklärt uns dann zwei Dinge : erstens, daß der freie Wille in seinem jetzigen Zustand nicht mehr dieses Vermögen hat ; zweitens, daß Gott nicht mehr diesem freien Willen das Beharren anvertrauen will, sondern daß es nur seiner Gnade zukommen soll, daß der Mensch sich Gott nähert, und daß es weiter nur seiner Gnade zukommen soll, daß der Mensch sich nicht von Gott entfernt. Prüft auf dieser Grundlage, ob etwas dieser Lehre mehr widerspricht, als wenn man sagt, daß Gott den Gerechten jetzt einen unmittelbaren Beistand gebe, damit sie beharren können, und daß er es ihrem freien Willen anvertraue, daß sie sich nicht von ihm entfernen. Der heilige Augustinus versichert, daß der freie Wille jetzt nicht diese unmittelbare Fähigkeit besitzen könne, und sie behaupten, daß der freie Wille tatsächlich diese unmittelbare Fähigkeit besitze. Der heilige Augustinus sagt, Gott wolle nicht mehr, daß dem mit einer solchen Fähigkeit ausgestatteten freien Willen die Entscheidung unterworfen sei, ob die Menschen sich nicht von ihm entfernen ; und sie sagen, Gott gebe in der Tat den Menschen eine solche Fähigkeit, damit sie sich nicht von ihm entfernen. Der heilige Augustinus sagt, während die heiligen Engel die Seligkeit verdient haben, indem sie durch ihren freien Willen beharren, dem eine derartige Fähigkeit beistehe, wolle Gott jetzt, daß es nur noch seiner Gnade zukomme, daß die Menschen sich nicht von ihm entfernen ; und sie sagen, Gott gebe den Gerechten eine derartige Fähigkeit, damit sie sich nicht von ihm entfernen. Ihr seht, daß diese Lehre bei weitem nicht die gleiche wie die des heiligen Augustinus ist, und ich glaube, daß man unmöglich eine aufstellen kann, die ihr ausdrücklicher widerspricht.

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Gott will nicht, daß jetzt etwas anderes als seine Gnade bewirkt, daß man sich nicht von ihm entfernt, das heißt, daß man unablässig zu ihm betet ; dies hatte er hingegen Adams freiem Willen überlassen. Wird man behaupten, es gebe heute solche Menschen, die durch diesen unmittelbaren Beistand im Gebet beharren, obwohl Gott wolle, daß dies nicht geschehe ? Und wenn der freie Wille jetzt nicht mehr die Möglichkeit und die Kraft hat, sich dieser unmittelbaren Fähigkeit gleich derjenigen Adams zu bedienen, wie kann es dann dazu kommen, daß er sich seiner bedient ? Und sobald man schließlich diese beiden Dinge miteinander verbindet : wenn Gott will, daß es nicht durch einen solchen Beistand geschieht, daß der Mensch sich nicht von ihm entfernt, und wenn der freie Wille unfähig ist, sich eines solchen Beistandes zu bedienen – in welchen Abgrund der Absurdität stürzen sich dann jene, die behaupten, daß man sich durch diesen Beistand nicht von Gott entferne ? Doch nichts wird besser diese unmittelbare Fähigkeit ausschließen als … Wenn es ein fester Grundsatz in der Lehre des heiligen Augustinus ist, daß der freie Wille jetzt nicht mehr in der Lage ist, sich eines unmittelbar hinreichenden Beistandes zu bedienen, haben wir dann nicht Grund zu der Schlußfolgerung, daß es nichts Absurderes als die Behauptung gibt, daß die Gerechten einen unmittelbar hinreichenden Beistand haben, um sich im Gebet nicht von Gott zu entfernen ? Und man muß doch im Verständnis dieser grundlegenden Lehrsätze sehr wenig geübt sein, um das zu übersehen. Der Grund für dieses Unvermögen des jetzigen Menschen, dieses Gleichgewichts und dieses den beiden entgegengesetzten Seiten nahen Gleichmuts teilhaftig zu werden, die Adam besessen hatte, besteht darin, daß Adams freier Wille von keiner Begierde angezogen wurde. Sein Wille, sagt der heilige Augustinus, hatte in sich selbst nichts, was sich ihm zugunsten der Begierde widersetzte, und dies wird von niemandem bestritten : So konnte er denn, da er ganz frei und ungebunden

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war, durch diesen unmittelbar hinreichenden Beistand weiter an der Gerechtigkeit festhalten oder sich von ihr abwenden, ohne daß er von der einen oder der anderen Seite genötigt oder angezogen würde. Aber jetzt, da Leib und Seele von der Verderbnis befallen wurden, da die Begierde sich erhoben und den Menschen zum Sklaven ihrer Lust gemacht hat, kann er als Sklave der Sünde von dieser Knechtschaft nur durch eine noch mächtigere Lust, die ihn zum Sklaven der Gerechtigkeit macht, befreit werden. Daher müßte diese bewundernswerte Lehre des heiligen Paulus genügen, um uns aufzuklären, wenn er sagt, daß der Mensch entweder Knecht der Gerechtigkeit und frei von der Sünde oder frei von der Gerechtigkeit und Knecht der Sünde ist ;129 das heißt : entweder Knecht der Sünde oder Knecht der Gerechtigkeit ; immer muß er Knecht entweder des einen oder des anderen sein, und folglich niemals von dem einen und dem anderen frei. Jetzt ist er Sklave der Lust ; was ihm größere Lust bereitet, zieht ihn unfehlbar an : Und dies ist ein so klarer Grundsatz sowohl dem gesunden Menschenverstand wie auch dem heiligen Augustinus zufolge, daß man ihn nicht ablehnen kann, ohne sich von dem einen und dem anderen loszusagen. Denn was gibt es Klareres als diese These, daß man stets das tut, was die größte Lust bereitet ? Das heißt ja nichts anderes, als daß man stets das tut, was am besten gefällt, das heißt, daß man stets will, was gefällt, das heißt, daß man stets will, was man will, und daß es sich in dem Zustand, in den heute unsere Seele versetzt ist, nicht begreifen läßt, daß sie etwas anderes will als das, was ihr zu wollen gefällt, das heißt, was ihr die größte Lust bereitet. Und man soll sich nicht auf Spitzfi ndigkeiten verlegen wollen und sagen, daß der Wille, um seine Macht zu bezeichnen, manchmal das erwählen wird, was ihm am wenigsten gefällt ; dann nämlich wird es ihm mehr gefallen,

129

Röm 6, 17– 18.20.22.

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seine Macht zu bezeichnen, als das Gute zu wollen, das er aufgibt, so daß er, wenn er sich dem entziehen möchte, was ihm gefällt, nur gerade das tut, was ihm gefällt, da es unmöglich ist, daß er etwas anderes will als das, was ihm zu wollen gefällt. Und das ließ den heiligen Augustinus diesen Lehrsatz aufstellen, um zu begründen, wie der Wille handelt : Quod amplius delectat, secundum id operemur necesse est.130 Es ist notwendig, daß wir in Übereinstimmung mit dem handeln, was uns mehr Lust bereitet. Und daraus gehen all diese Betrachtungen hervor. In dieser Weise ist der Mensch heute ein Sklave der Lust und folgt unfehlbar jener des Fleisches oder jener des Geistes, und er wird von der Herrschaft der einen nur durch die der anderen befreit. Aber man wird vielleicht sagen, wenn man die Lust des Geistes und die des Fleisches gleichstelle, werde er seine ursprüngliche unbeteiligte Haltung und sein ursprüngliches Gleichgewicht wiedererlangen, und in diesem Zustand werde er ebenso frei sein, die entgegengesetzten Seiten zu wählen, die ihm gleichermaßen Lust bereiten, wie Adam frei war, sich zu ihnen hinzuneigen, als er keinerlei Lust empfand. Doch die Antwort auf diesen Einwand ist, wenn er auch scheinbar große Beachtung verdient, sehr leicht. Es trifft zwar durchaus zu, daß in diesem Zustand der freie Wille weder von dieser noch von jener Begierde mitgerissen wird, doch es ergibt sich daraus nicht, daß er frei ist, sich der einen oder der anderen zuzuwenden, vielmehr ergibt sich daraus, daß er weder die eine noch die andere wählen kann. Denn wie würde er eine Wahl zwischen zwei gleichstarken Lüsten treffen, er, der jetzt nur das will, was ihm die größte Lust bereitet ?

»Man muß nach dem handeln, was mehr erfreut« ; Augustinus : Expositio epistulae ad Galatas 49. Vgl. auch Pascal : Lettres provinciales 18, B. Pascal : Briefe in die Provinz. Übers. von Karl August Ot t. Heidelberg 1990 (Werke. 3), S. 389. 130

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Wenn wir uns daher mit dieser metaphysischen Betrachtung aufhalten wollen, die in Wirklichkeit niemals zutrifft, so läßt sie sich ganz eindeutig mit diesem Vergleich erhellen : Stellen wir uns vor, wie ein Mann zwischen zwei Freunden steht, die ihn rufen, dieser von der einen Seite und jener von der anderen, ohne ihm jedoch Gewalt anzutun, um ihn auf ihre Seite zu ziehen – zeigt es sich dann nicht klar, daß er frei ist, auf jenen zuzugehen, für den er sich entscheiden will ? Stellen wir uns aber vor, wie derselbe Mann von einem der beiden Freunde gerufen wird, ohne daß dieser ihm Gewalt antut, um ihn auf seine Seite zu ziehen, während der andere ihn jedoch mit einer eisernen Kette auf seine Seite zieht – ist es dann nicht offensichtlich, daß er dem Stärkeren folgen wird ? Und stellen wir uns schließlich vor, daß diese beiden Freunde ihn mit je einer Kette auf ihre jeweilige Seite ziehen, dies aber mit unterschiedlicher Kraft – ist es dann nicht offensichtlich, daß er unfehlbar der stärkeren Anziehungskraft folgen wird ? Und wenn es vorkommt, daß die Kräfte, mit denen die beiden in unterschiedliche Richtungen ziehen, gleichstark sind, zeigt es sich klar, daß er auf keine Seite zugehen wird. Stellen wir uns jetzt vor, daß derselbe Mann zwischen diese beiden Freunde gestellt ist und jeder von den beiden ihn mit einer Kette festhält, damit er sich nicht weiter von ihnen entfernt : Wird man dann sagen, daß dieser Mann seine ursprüngliche Freiheit wiedererlangt habe und daß er sich in demselben Zustand wie zuvor befinde und unbeteiligt wählen könne ? Und trifft es nicht vielmehr zu, daß er außerstande ist, auf diese oder jene Seite zuzugehen, und daß er sich der einen nicht nähern kann, wenn die Kette, die ihn an die andere bindet, nicht zerrissen wird ? Das ist gewissermaßen ein Bild für die zwei Freiheiten : Die ursprüngliche, in der sich Adam befand, war unmittelbar gleich unbeteiligt an den beiden entgegengesetzten Seiten, ohne auf der einen oder der anderen gebunden zu sein, doch seitdem sie in die Bande der Begierde geraten ist, vermag sie jetzt nicht mehr, sich Gott zuzuwenden, es sei denn,

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daß das Band der Gnade den Menschen mit größerer Kraft anzieht, die Bande der Lust zerreißt und ihn sagen läßt : Herr, du hast meine Bande zerrissen (Psalm 115, 16).131 Wenn aber jene metaphysische Annahme eintrifft, daß das gute und das böse Gelüste ihn gleichermaßen binden, wer sieht dann nicht, daß der Mensch bei weitem nicht seine ursprüngliche unbeteiligte Stellung einnimmt, sondern ihr weniger als je zuvor teilhaftig sein wird, daß er bei weitem nicht unabhängig, sondern vollkommen abhängig sein wird, daß er bei weitem nicht frei, sondern Sklave nach beiden Seiten sein wird, und daß er sich bei weitem nicht den entgegengesetzten Seiten zuwenden kann, sondern unbeweglich bleiben wird ? Dieser Vergleich erklärt dessen Zustand annähernd, jedoch nicht vollkommen, weil sich unmöglich in der Natur irgendein Beispiel oder irgendein Vergleich fi nden läßt, der den Willensregungen vollkommen entspricht. Denn es gibt diesen Unterschied zwischen dem freien Willen in den beiden Zuständen und diesem Mann in jenen beiden Lagen, daß, wenn er derart gebunden ist, dies zwar für seinen Leib zutrifft, sein Wille jedoch frei bleibt, so daß es ihm möglich ist, sich dem Ort zuwenden zu wollen, der jenem entgegengesetzt ist, zu dem er hingezogen wird : Wenn es hingegen um die Freiheit des Menschen in den beiden Zuständen geht, ist der Wille selbst gebunden, und zwar von der Lust gebunden. Darum könnte der Vergleich nur in dem Fall zutreffen, daß dieselbe Kette, die den Mann auf eine Seite zieht, die Kraft hätte, seinem Willen ein siegreiches Vergnügen einzugeben, das ihn ebenso unfehlbar jenen lieben ließe, der ihn an sich zieht, wie dessen Kette unfehlbar seinen Leib an sich zieht ; und dann wäre die Unbeweglichkeit des Leibes zwischen diesen beiden Ketten, die ihn festhalten, ein vollkommenes Bild für die Unbeweglichkeit des Willens zwischen zwei gleichgroßen Lüsten.

131

Ps 116, 16 = Ps 115, 16 Vg.

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Daher ist es so, um diesen Vergleich abzuschließen : Wie dieser Mann, dem seine ihn in gegensätzliche Richtungen ziehende Ketten nicht die Freiheit wiedergeben, sich nur befreien könnte, wenn er seine Ketten zerrisse, ebenso kann der Mensch nicht wieder in seinen unbeteiligten Zustand durch das Gleichgewicht seiner entgegengesetzten Gelüste zurückgebracht werden, und er könnte es nur durch die Befreiung von seinen beiden Gelüsten erreichen : So zeigt es sich diesen Grundsätzen zufolge klar, da der Mensch in diesem Leben niemals von der ganzen Begierde befreit ist, daß er nicht jene unmittelbar unbeteiligte Haltung seines ursprünglichen Zustandes wiedererlangen kann. Hoc non est amplius in viribus 132 usw. Daher hat der heilige Augustinus niemals angenommen, daß der Mensch die Sünden und die Begierde ablegen könnte, in die ihn seine Verderbnis gestürzt hat, wenn er nicht durch eine machtvollere Lust von ihnen befreit wird, die nicht allein ebenso stark, sondern noch stärker und unbedingt siegreich ist, wie man aus allen seinen Schriften ersieht. Hieran erkennt Ihr, wie sehr diese unmittelbare Fähigkeit sowohl den Einsichten des gesunden Menschenverstandes als auch den Lehrsätzen des heiligen Augustinus widerspricht, außerdem ist sie in sich selbst so lächerlich, daß sie nicht ernsthaft vertreten werden kann ; denn da der Mensch sich jederzeit ändert und niemals in demselben Zustand bleiben kann, wäre es notwendig, daß in dem Maße, wie er sich an die Dinge dieser Welt bindet oder von ihnen löst (was zu tun stets mehr oder weniger, wenn auch nicht vollständig, in seiner Macht steht), auch diese Lust an der Gnade, die ihm stets diese unmittelbare Fähigkeit gäbe, sich ebenso jederzeit änderte, um sich seiner Unbeständigkeit anzugleichen, und (was etwas Ungeheuerliches für die Gnade wäre) daß diese Lust in dem

»Das steht nicht mehr in (seinen) Kräften«. Vgl. Augustinus : De dono perseverantiae 13. 132

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Maße zunähme, wie er sich stärker an die Welt bindet, und daß sie in dem Maße an Kraft abnähme, wie er sich von der Welt löst. Aug., 571.133 – Wenn dem heiligen Augustinus zufolge Gott durch seine Erlaubnis oder durch seine Vorsehung und Anordnung unter die Auserwählten solche Gerechte mischt, die nicht beharren sollen, um jene, die standhaft bleiben, durch den Sturz der Abfallenden in Furcht zu halten,134 so gäbe es nichts, was dieser Absicht Gottes so sehr widerspräche, als wenn man jenen, die nicht fallen, eine hinreichend unmittelbare Fähigkeit gewährte und ihnen zusicherte, daß sie ihnen stets gegenwärtig sei, da das Beispiel der anderen, die dem schlechten Gebrauch dieser Fähigkeit verfallen wären, doch nichts an sich hätte, was sie zwangsläufig erschrecken müßte. Wenn Gott diese Fähigkeit nämlich keinem Menschen entzieht, solange dieser gerecht ist, welche Folgerung könnte man dann aus dem Sturz derjenigen ableiten, die sie schlecht gebrauchen, um die anderen in Schrecken zu versetzen, da es doch in ihrer Macht stünde, sie gut zu gebrauchen ? Und ist es nicht notwendig, daß diese Entziehung ganz in der freien Entscheidung Gottes steht, um zu bewirken, wenn diese Fähigkeit einigen Gerechten genommen wird, daß jene, die nicht gerechter als sie sind, Grund haben, für sich eine gleichartige Tat ihres Herrn zu befürchten ? Wenn sie aber in sich selbst die Gewißheit haben, diesen Beistand ebenso wie ihre Gerechtigkeit zu bewahren, und wenn ihnen zugesichert ist, daß sie ihn nur verlieren, wenn sie ihn schlecht gebrauchen, wie könnte man sie dann durch das Beispiel der anderen zur Demut bewegen, da es doch bei den anderen nichts gäbe, was ihnen Furcht bereiten müßte, außer dem schlechten Gebrauch dieser Fähigkeit, was zu unterlassen in ihrer Macht steht ? Die Seitenangabe bezieht sich auf Jean Sinnich : Sanctorum Patrum de gratia Christi et libero arbitrio dimicantium Trias. 134 Augustinus : Epistulae 217, 14. 133

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(527)135 Wer weiß in diesem Leben, ob er vorherbestimmt ist ? Es ist notwendig, daß dies in der Welt verborgen bleibt, wo der Stolz so stark zu fürchten ist, daß ein so großer Apostel von einem Engel Satans mit Fäusten geschlagen wurde, auf daß er sich nicht überhebe.136 Darum ist den Aposteln selbst gesagt : »So ihr in mir bleibet«,137 obgleich jener, der es sagte, sehr wohl wußte, wer jene waren, die in ihm bleiben sollten ; und darum hat der Prophet gesagt : »Wollt ihr mir gehorchen«,138 obgleich er sehr wohl wußte, wer jene waren, in denen er bewirken würde, daß sie es wollten. Und so ist dergleichen mehr gesagt, um dieses Geheimnis zu wahren.139 Wenn man also glauben muß, daß, um dieses Geheimnis zu wahren, einigen Verworfenen die Gerechtigkeit gegeben und ihnen dieses Leben nicht genommen wird, bis sie fallen, damit sie die Auserwählten unterrichten, daß diese niemals mit Gewißheit beharren können, und da dies nicht allein das Fürchten lehrt, bevor man die Gerechtigkeit erlangt, sondern auch noch danach, ergibt sich daraus nicht, daß die Gerechten keine unmittelbare Fähigkeit haben, standhaft zu bleiben ? Wenn es also ein weiterer fester Grundsatz bei dem heiligen Augustinus ist, daß die Gerechten keine Gewißheit haben, im Gebet zu beharren, wie kann man ihnen dann die Gewißheit geben, sie besäßen eine unmittelbare Fähigkeit zum Gebet, deren guter Gebrauch ihnen die Gewißheit gäbe, daß ihre Bitte wirksam würde ? Ist es nicht offensichtlich, daß nach der Ansicht nicht allein des heiligen Augustinus, sondern ausnahmslos der ganzen Kirche und selbst desjenigen, der Euch mit dem Gegenteil belästigt, man niemals die Gewißheit hat, im Gebet zu beharren, und daß die Gerechtesten nicht von dieser Furcht befreit sind, daß somit nichts die Gerechtigkeit Die Seitenangabe bezieht sich auf Jean Sinnich : Sanctorum Patrum … Trias. 136 2 Kor 12, 7. 137 Joh 15, 7. 138 Jes 1, 19. 139 Augustinus : De correptione et gratia 40. 135

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gründlicher zerstörte als die Zerstörung dieser Furcht ; und wie kann diese indes bei den Gerechten fortbestehen, da man ihnen doch zusichert, daß sie immer die unmittelbare Fähigkeit des Betens haben, und da außerdem das Evangelium ihnen zusichert, daß sie immer empfangen werden, was sie mit Gerechtigkeit erbitten ? Kann es etwas geben, was dem gesunden Menschenverstand und der Wahrheit mehr widerspricht ? Nicht allein ihre Furcht, sondern selbst ihre Hoffnung würde zerstört, denn da man keine gewissen Dinge erhofft, werden sie nicht die Fortdauer dieses Beistandes erhoffen, weil er für sie gewiß ist ; ihre Hoffnung wird auch nicht sein, das zu empfangen, was sie erbitten, weil ja selbst das gewiß ist. Was wird also der Gegenstand ihrer Hoffnung sein außer ihnen selbst, von denen sie erhoffen, daß sie eine Fähigkeit, die ihnen zugesichert ist, gut gebrauchen ? Da Gott also aus diesem einzigen Grunde den Gerechten die Lust gibt und manchmal nicht gibt, damit jeder erkennt, daß sie eine Gottesgabe ist, und damit man so von der Eitelkeit geheilt wird, was widerspricht dem dann mehr, als wenn man sagt, daß diese Lust immer gegenwärtig sei ? Wenn also aus diesem Grunde selbst die Heiligen später von einigen Fehlern geheilt werden, damit sie Demut lernen, was widerspricht dem dann mehr, als wenn man sagt, daß es immer in der Fähigkeit des Menschen stehe, diese Heilung zu erbitten ? Aus diesen neuen Dogmen erseht Ihr, daß die Gerechten keine Furcht mehr haben und nur noch auf sich selbst hoffen sollen. So erklären sie auch diese Schriftstelle : Müht euch um euer Heil mit Furcht ;140 das bedeute, sagen sie, mit der Furcht, die Gnadenmittel nicht gut zu gebrauchen, aber nicht mit der Furcht, daß man von Gott verlassen werde. Das sind ihre Worte, wie Ihr wißt. Und folglich ist diese Furcht darauf begründet, daß man nach seinem Willen diese Fähigkeit gut

140

Phil 2, 12.

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gebrauchen könne, während der heilige Paulus sie darauf begründet, daß Gott selbst in uns dieses Wollen schafft, und er schafft dieses Wollen nicht nach der Neigung unseres Willens, sondern nach seinem eigenen guten Willen. Erkennt also an, wie es dem heiligen Augustinus entspricht, daß das Gebet immer die Folge einer wirksamen Gnade ist, daß jene, die diese Gnade haben, beten, daß jene, die sie nicht haben, nicht beten und nicht die unmittelbare Fähigkeit des Betens haben, daß man betet, solange Gott nicht die Gnade des Betens entzieht, daß jenen, die nicht beten, diese Fähigkeit entzogen ist, daß es ein unbegreifliches Geheimnis ist, warum Gott von zwei Gerechten den einen festhält und den anderen nicht, daß jene, die beharren, einen wirksamen Beistand haben, daß jene, die nicht beharren, nicht die entsprechende unmittelbare Fähigkeit haben, daß der freie Wille nicht mehr die Kraft hat, sich ihrer zu bedienen, daß Gott es ihm nicht anvertrauen will, daß den Engeln das Beharren durch eine unmittelbare Fähigkeit zukam, wie sie in dieser Art nicht mehr den Menschen eigen ist, daß das, was die Wirkung ihrer Verdienste war, jetzt die Wirkung der Gnade ist, daß es nicht mehr dem freien Willen zukommt, daß man beharrt : daß es das Werk der Gnade ist, daß sie zum Beten bewegt, daß sie allein bewirkt, daß man sich Gott nähert, daß sie allein bewirkt, daß man sich nicht von ihm entfernt, daß Gott will, daß sie allein und nichts außer ihr bewirkt, daß man sich nicht von ihm entfernt, daß von all jenen, die beharren, jeder einzelne nur durch eine wirksame Gnade beharrt, daß von all jenen, die nicht beharren, jeder einzelne, wenn er sich zum ersten Mal von Gott abwendet, zuvor von ihm verlassen wird : daß es einen großen Unterschied zwischen dem Sturz der Engel und dem Sturz der gegenwärtigen Gerechten gibt, daß Adams Fall nichts Unbegreifliches hat, daß aber der Fall der Gerechten, die verworfen sind, unbegreiflich ist, daß der freie Wille jetzt nicht mehr die Kräfte hat, sich dieser unmittelbaren Fähigkeit zu bedienen, und daß er mit einer solchen Fähigkeit nicht beharren könnte. Wenn den Verworfenen die Gerechtigkeit nur gegeben wird, um die

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Auserwählten in Furcht zu halten, wenn die Auserwählten selbst manchmal verlassen werden, um sie Furcht und Demut zu lehren, und wenn es schließlich unbegreiflich ist, warum von zwei Zwillingskindern, wenn man es so haben will, oder besser gesagt von zwei beliebigen Kindern das eine die Taufe empfängt und das andere nicht, daß es aber noch unerforschlicher ist, warum von zwei Gerechten der eine beharrt und der andere nicht : Erkennt freimütig an, daß es diesen Lehrsätzen zufolge grundfalsch ist, daß alle Gerechten die Fähigkeit haben, unmittelbar hinreichend zu beten ; wenn es sich nämlich so verhielte, wäre daraus zwangsläufig das Gegenteil von allem zu schließen, was ich soeben von dem heiligen Augustinus angeführt habe, das heißt, daß es sowohl nicht unerforschlich wäre, warum von zwei Gerechten der eine beharrt und der andere nicht, als auch alles übrige, was Ihr ebenso leicht mit Euren Gedanken verfolgen könnt, wie Ihr es lest. Erkennt also freimütig an, wie groß dieses Geheimnis ist, warum der eine beharrt und der andere nicht. Um dies nämlich in seiner ganzen Tiefe zu betrachten, begreift Ihr ja gut : Hätte Gott alle Menschen verdammen wollen, so hätte er Gerechtigkeit geübt, ohne daß es jedoch ein Geheimnis dabei gäbe. Hätte er tatsächlich alle Menschen retten wollen, so hätte er Barmherzigkeit geübt, ohne daß es jedoch ein Geheimnis dabei gäbe. Und dadurch, daß er die einen retten wollte und die anderen nicht, hat er Barmherzigkeit und Gerechtigkeit geübt, und selbst hierin gibt es kein Geheimnis. Aber da alle doch gleichermaßen schuldig sind und er diese retten wollte und jene nicht, hierin eben besteht die Größe des Geheimnisses. Und wenn folglich das Geheimnis groß ist, daß er von zwei gleichermaßen Schuldigen diesen rettet und jenen nicht, ohne Ansehen ihrer Werke, so sagt der heilige Augustinus gewiß zu Recht, daß das Geheimnis noch erstaunlicher sei, warum er von zwei Gerechten dem einen das Beharren gebe und dem anderen nicht. Denn es scheint nicht derart sonderbar, daß er einem Schuldigen seine Gnade verweigert, als wenn er einem Gerechten

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verweigert, sie ihm weiter zu erhalten, weil es ja bei dem einen Mißverdienste gibt, die den Ausschluß der Gnade nach sich ziehen, und weil man ja bei dem anderen keine derartigen Mißverdienste fi ndet. Doch dieses Erstaunen wird enden, wenn man bedenkt, daß Gott dem gerechten Menschen nur die gleiche Gnade schuldet, wie er sie dem gerechten Adam schuldete, und sofern er ihm den Beistand gibt, der für dessen ursprünglichen Zustand hinreichend war, darf ihn nichts verpfl ichten, dem Menschen alles zu geben, was für ihn in der Verderbnis, in die er sich gestürzt hat, notwendig ist. Nun ziehe ich aber nicht in Zweifel, daß Gott immer allen Gerechten weitaus mächtigere Kräfte als diejenigen Adams gibt, die so mächtig sein mögen, wie man will, sofern man einräumt, daß sie manchmal nicht groß genug sind, um eine unmittelbare Fähigkeit zu verleihen. Wenn dieser Beistand jetzt den Menschen ebensowenig nützlich ist wie das Fehlen jeden Beistandes, so ist ihnen dieses Unvermögen durch die Sünde zuteil geworden, die sie in Adam begangen haben. Und da Gott folglich jetzt nicht mehr verpfl ichtet ist, diese Gnadenmittel zu gewähren, hat niemand Grund zur Klage, wenn man sie nicht empfängt. Es trifft zwar zu, daß Gott sich verpfl ichtet hat, sie jenen zu geben, die sie erbitten : Darum werden sie niemals verweigert. Und man soll nicht meinen, man könne dies im schlechten Sinne umdeuten, indem man sagt, man werde das Beharren im Gebet erbitten, und deshalb werde man es erlangen, und wenn man daher im gegenwärtigen Augenblick die Gnade erbitte, im kommenden Augenblick zu beten, so werde man sie erlangen, und dadurch werde man sich das Beharren sichern : Das heißt, mit den Worten zu spielen. Denn Gott gibt jenen, die bitten, und nicht jenen, die gebeten haben, und darum muß man im Bitten beharren, um etwas zu erlangen ; denn es genügt nicht, heute mit reinem Geist die Enthaltsamkeit für morgen zu erbitten, wenn man nämlich hierauf der Unreinheit verfällt, wer sieht dann nicht, daß die Wandlung des Herzens die Wirkung des vorhergehenden Gebets zerstört und daß man, um morgen

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der Enthaltsamkeit teilhaftig zu sein, unablässig um sie bitten muß ? Und wenn man daher im gegenwärtigen Augenblick die Gabe des Gebets für den folgenden Augenblick erbittet, zeigt es sich dann nicht klar, daß man sie nicht erlangen wird, wenn man nicht weiter darum bittet ? Wenn man nun aber sagt, man werde den Geist des Gebets im folgenden Augenblick haben, wenn man in diesem folgenden Augenblick bete, bedeutet das nicht, daß man ihn haben wird, wenn man ihn hat, und daß man so mit den Worten spielt ? Es steht also fest, daß Gott nur verpfl ichtet ist, jenen seine Gnadenmittel zu geben, die sie erbitten, und nicht jenen, die sie nicht erbitten. Und da man die Gnade des Betens nicht erbitten kann, ohne ihrer teilhaftig zu sein, zeigt es sich offensichtlich, daß Gott nicht genötigt ist, irgendeinem Menschen die Gnade des Betens zu geben, da kein Mensch sie beharrlich erbitten kann, wenn er ihrer nicht weiter teilhaftig ist. Da Gott sich aber durch seine Verheißungen verpfl ichtet hat, sie den Kindern der Verheißung zu geben, selbst wenn sie ihn nicht darum bitten, hat er sich verpfl ichtet, diesen die Gnade des Betens zu geben, um damit die Gnade des rechtschaffenen Lebens zu erlangen ; weil jedoch die Verpfl ichtung nur aus der Verheißung folgt, schuldet er sie nur jenen, denen er es verheißen hat, nämlich allein den Vorherbestimmten. Und aus diesem Grunde müssen alle Menschen, da ihnen allen unbekannt ist, ob sie zu dieser Zahl gehören, Furcht empfi nden, weil es ja keine Gerechten gibt, die nicht jederzeit fallen können, wie es auch keinen Sünder gibt, der nicht jederzeit wieder erhoben werden kann, denn die Gnade des Betens kann immer entzogen und gegeben werden. Dies sind die Gründe für Furcht und Hoffnung, die fortwährend die Heiligen beseelen müssen : Und dem heiligen Augustinus zufolge wollte Jesus Christus deshalb, als er am Kreuz hing, ein außerordentliches Beispiel für das eine und das andere geben, nämlich im Verlassensein des heiligen Petrus ohne die Gnade und in der Bekehrung des Schächers durch eine wunderbare Wirkung der Gnade.

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In dieser Art müssen sich alle Menschen unter der Hand Gottes als Arme demütigen und wie David sagen (Psalm 39, 18) :141 Herr, ich bin arm und elend. Gewiß sprach er nicht über die Glücksgüter, denn er war ja König. Er sprach auch nicht über die Gnadengüter, denn er war ja Prophet und Gerechter. Worin bestand also die Armut dieses überaus reichen Mannes, wenn nicht darin, daß er jederzeit seinen Reichtum verlieren konnte und daß er keine Fähigkeit hatte, ihn zu bewahren ? Hätte er nämlich die unmittelbare Fähigkeit gehabt, dieser Gerechtigkeit weiter teilhaftig zu sein, was hätte ihm dann gefehlt, damit er sich reich und nicht arm nennen könnte ? Gewiß kann man keinen Menschen arm nennen, wenn er die unmittelbare Fähigkeit des Bittens und die Sicherheit hat, etwas zu erlangen, wenn er bittet. Und darum fehlt allen Armen unfehlbar entweder die Fähigkeit des Bittens oder die Fähigkeit des Erlangens. Nun fehlt den Armen in der Gnade aber niemals die Fähigkeit, etwas zu erlangen, wenn sie darum bitten ; es bleibt also zwangsläufig übrig, daß ihnen die Fähigkeit des Bittens fehlt. Daher gibt es diesen Unterschied zwischen den Armen in der Naturordnung und den Armen in der Gnadenordnung, daß die Armen der Welt immer die unmittelbare Fähigkeit des Bittens haben und niemals der Fähigkeit sicher sind, es zu erlangen : Die Armen in der Gnade hingegen sind immer sicher, das zu erlangen, was sie erbitten, aber sie sind niemals sicher, die Fähigkeit des Bittens zu haben. Das ist alles, was ich Euch jetzt in der wenigen freien Zeit und mit dem geringen Geschick sagen kann, über die ich verfüge, und ich bete zu Gott, er möge bewirken, daß es Euch zur Erkenntnis seiner Wahrheit dient.

141

Ps 40, 18 = Ps 39, 18 Vg.

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Vierte Schrift : Abhandlung über die Möglichkeit, die Gebote zu halten, und über den wahren Sinn dieser Worte der heiligen Kirchenväter und des Tridentinischen Konzils : Die Gebote sind den Gerechten nicht unmöglich I

Diese Abhandlung soll zeigen, welchen wahren Sinn diese Worte der heiligen Kirchenväter und des Tridentinischen Konzils haben : Die Gebote sind den Gerechten nicht unmöglich.142 Welche von diesen zwei Bedeutungen ist die wahre : die erste : daß es nicht unmöglich ist, daß die Gerechten die Gebote erfüllen ; die zweite : daß die Gebote immer allen Gerechten möglich sind, und das dank jener vollkommenen und höchsten Fähigkeit, die nichts von Gott braucht, um tätig zu werden. Die Mittel, die wir verwenden werden, um zu erkennen, welche von diesen zwei Bedeutungen die wahre ist, sind die folgenden : 1. Das erste wird darin bestehen, am Wortlaut der These zu prüfen, welchen Sinn sie ausdrückt und welchen Sinn man naturgemäß aus ihm bildet. 2. Das zweite darin, auf Grund der Absicht, die von den Kirchenvätern und dem Konzil bei dieser Entscheidung verfolgt wurde, zu prüfen, welche von diesen zwei Bedeutungen sie hier gemeint haben. 3. Und das dritte wird darin bestehen, an den weiteren Ausführungen sowie an den übrigen Texten der Kirchenväter als auch des Konzils, die diesen Sinn erklären, zu prüfen, welche Bedeutung die wahre ist. Und wenn man hier sieht : daß der Wortlaut dieser These ausschließlich nur den ersten Sinn ausdrückt und bildet ;

142

Vgl. DH 1568.

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daß es allein die Absicht der Kirchenväter und des Konzils gewesen ist, nur diesen ersten Sinn zu begründen ; daß ihre weiteren Ausführungen und unendlich viele andere Textstellen ihn in demselben Sinn erklären ; daß die Beweise, die sie hierfür geben, nur auf diesen einzigen Sinn schließen lassen ; daß der Schluß, den sie aus ihren Beweisen ziehen, in anderen, sehr eindeutigen Worten nur diesen einzigen Sinn enthält ; daß sie an keiner Stelle ihrer Werke jemals den zweiten Sinn ausdrücklich begründet haben ; daß sie nicht allein den ersten Sinn ausdrücklich begründet haben, sondern auch den zweiten Sinn ausdrücklich verworfen haben ; so darf ich, wie ich hoffe, bezweifeln, daß man nach derart vielen Beweisen noch bezweifeln kann, daß sie ausschließlich nur den ersten Sinn gemeint haben. Demzufolge werden wir diese Abhandlung in Abteilungen gliedern.

Erstes Mittel Den Sinn am bloßen Wortlaut prüfen. Daß der Wortlaut dieser These nur den ersten Sinn enthält. Es ist nicht notwendig, sich einer langen Abhandlung zu bedienen, um zu zeigen, daß der Wortlaut dieser These, daß den Gerechten die Gebote nicht unmöglich sind, nur den einfachen Sinn enthält, daß es nicht unmöglich ist, daß die Gerechten die Gebote halten, und daß er nicht den folgenden hat : daß alle Gerechten immer die vollkommene und uneingeschränkte Fähigkeit haben, die nichts von Gott braucht, um die Gebote zu erfüllen. Dies wird vom einfachen Verständnis des sprachliche Sinns bezeugt, und es gibt keine Grammatikregeln, auf deren Grundlage man behaupten könnte, wenn man sage, etwas sei nicht unmöglich, so heiße das, daß es immer dank der vollkommenen und höchsten Fähigkeit möglich sei, da es ja genügt, daß es manchmal

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möglich ist, um zu bewirken, daß es nicht unmöglich ist, ohne daß es notwendig wäre, daß es immer möglich ist. Und wenn man etwas so Klares mit Beispielen erläutern muß : Ist es nicht wahr, daß es den Menschen nicht unmöglich ist, Krieg zu führen ? Und gleichwohl ist nicht allen Menschen immer die Fähigkeit eigen, ihn zu führen. Es ist nicht unmöglich, daß ein Prinz von Geblüt die Königswürde erhält, und gleichwohl ist den Prinzen von Geblüt nicht immer die vollkommene Fähigkeit eigen, sie zu erhalten. Es ist den Menschen nicht unmöglich, sechzig Jahre zu leben, und gleichwohl ist nicht allen Menschen die vollkommene Fähigkeit eigen, dieses Alter zu erreichen oder auch nur einen Augenblick ihres Lebens sicher zu sein. Um schließlich beim Wortlaut unseres Themas zu bleiben : Die Gebote sind den Menschen nicht unmöglich, und gleichwohl wäre es ein pelagianischer Irrtum, wenn man sagte, daß alle Menschen, und selbst jene, die das Maß ihrer Sünden vollgemacht haben, immer die vollkommene und höchste Fähigkeit haben, die Gebote zu erfüllen. Und es genügt, daß es offensichtlich ist, daß den Gerechten die Gebote nicht unmöglich sind, ohne daß es notwendig wäre, daß alle Gerechten immer die vollkommene Fähigkeit haben, die Gebote zu erfüllen. Diejenigen, die diese Entscheidung solcherart verstehen, sollen an die Wichtigkeit des Wortes immer denken, das von ihrer Deutung vorausgesetzt wird. Und ich wünsche, daß diejenigen, die ohne Furcht dieses Zitat anführen, wobei sie das Wort immer hinzusetzen, sich des Fluches erinnern, der jene bedroht, die den Worten des Heiligen Geistes etwas hinzufügen, und daß diejenigen, die diesen Wortlaut zwar getreuer wiedergeben, aber den genannten Sinn hinzufügen, bedenken, daß Gott nicht allein jene bestraft, die derartiges tun, sondern auch jene, die dem zustimmen.

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Zweites Mittel Den Sinn dieser Worte an der Absicht prüfen, usw. Wenn man zeigt, daß die Kirchenväter und das Konzil, als sie diese Irrmeinung, daß den Menschen die Gebote unmöglich sind, widerlegen mußten, die den Sinn hatte, daß diese Unmöglichkeit absolut und unausweichlich wäre, ihr einfach diese Worte entgegengehalten haben : Die Gebote sind den Menschen nicht unmöglich, so wird es zweifellos zutreffen, daß man nicht behaupten kann, sie hätten damit etwas anderes getan, als zu verneinen, was jene bejaht hatten, und das gerade in demselben Sinn, das heißt, daß sie begründet haben, daß es nicht unmöglich ist, daß man die Gebote hält, und daß die Behauptung lächerlich ist, diese Entscheidung schließe eine ständige und vollkommene Fähigkeit ein, mit der man die Gebote augenblicklich halten könne. Denn ist es nicht offensichtlich, wenn jemand zum Beispiel sagt, es sei unmöglich, daß man fünfzig Jahre ohne Krankheit lebe, so hat derjenige, der einfach im Gegenteil sagen wird, es sei nicht unmöglich, daß man fünfzig Jahre ohne Krankheit lebe, nichts anderes getan, als zu verneinen, was der andere bejaht hatte, und das in demselben Sinn, das heißt, er hat nichts anderes getan, als jene absolute Unmöglichkeit zu verneinen, ohne gleichwohl damit eine ständige und vollkommene Fähigkeit zu begründen, daß man diese ganze Lebenszeit ohne Unwohlsein verbringt. Nachdem dies als allgemeiner Grundsatz aufgestellt worden ist, geht es bei diesem besonderen Thema nur noch um den Nachweis, daß die Kirchenväter und die Konzilien diese Irrmeinung zu bekämpfen hatten, den Gerechten seien die Gebote unmöglich, und zwar vollkommen unmöglich, um so allen begreiflich zu machen, daß die von ihnen begründete entgegengesetzte These keinen anderen Sinn als diesen hat : daß es nicht unmöglich ist, daß die Menschen die Gebote halten. Ich werde mich nicht mit der Darlegung aufhalten, daß das Tridentinische Konzil solche Häretiker zu widerlegen hatte,

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die diese Irrmeinung vertraten, da man ja weiß, daß es diejenige Luthers war. Da diese Häretiker noch am Leben waren,143 läßt sich das ja nicht bezweifeln. Daher bestreitet man auch nicht mehr, daß der Sinn dieser Konzilsentscheidung demjenigen Luthers entgegengesetzt ist und daß er der Behauptung widerspricht, es sei unmöglich, die Gebote zu halten, und zwar im Sinne jenes Ketzerführers, das heißt im ersten Sinn. Man behauptet jedoch, man könne nicht das gleiche über dieselbe Entscheidung sagen, die bei den Kirchenvätern zu fi nden ist, weil man sagt, es habe in ihrer Zeit keine Häretiker gegeben, die diese Ansicht vertreten hätten, und da sie somit vor der Entstehung dieser Irrmeinung gesprochen haben, könne ihre Äußerung unter keinen Umständen auf diesen Sinn eingeschränkt werden, so daß sie allgemein aufgefaßt und im zweiten Sinn verstanden werden müsse, das heißt in diesem Sinn : daß die Gerechten immer die vollkommene Fähigkeit haben, die Gebote zu erfüllen. In dieser Weise versucht man, den Sinn der heiligen Kirchenväter zu erklären, und man macht derart viel Aufhebens von dieser Beweisführung, daß es außerordentlich wichtig ist, sie zu widerlegen, um damit die einzige Grundlage dieser Deutung zu zerstören. Diese Überlegungen gehen von drei Voraussetzungen aus : Die erste, daß die Kirchenväter nicht an Häretiker dachten, die behauptet hätten, es sei vollkommen unmöglich, die Gebote zu halten. Die zweite, daß sie, da es keine Häretiker gab, die diese Irrmeinung vertreten hätten, keinen anderen Grund haben konnten, dagegen aufzutreten. Die dritte, daß sie, da sie keinen Grund hatten, diese Irrmeinung zu widerlegen, es auch nicht versuchen konnten, denn

Das Konzil von Trient tagte von 1545 – 1563, Martin Luther lebte von 1483 – 1546. Während der Verhandlungen der 6. Session über die Rechtfertigung 1547 war er nicht mehr am Leben. 143

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sie hätten ja Hirngespinste bekämpft, wenn sie Irrmeinungen widerlegten, die niemand vertrat. Und darauf muß man drei besondere Antworten geben und mit ihnen jene drei Grundlagen zerstören : Die erste : Auch wenn niemand eine derartige Irrmeinung erwähnt hätte, so hätten die Kirchenväter sie dennoch verurteilt, wenn sich die Gelegenheit dafür geboten hätte, ohne daß man deshalb sagen könnte, daß sie Hirngespinste bekämpft hätten. Die zweite : Auch wenn es keine Häretiker gegeben hätte, die eine derartige Irrmeinung vertraten, so hätten sie andere Gründe haben können, um gegen diese aufzutreten, denn es hätte ja geschehen können, daß man ihnen selbst diese Irrmeinung zugeschrieben und sie mit einer solchen Verleumdung gezwungen hätte, diese zu widerlegen, um sich zu verteidigen, was tatsächlich so sehr zutrifft, daß man nicht die geringsten Kenntnisse über die Geschichte der pelagianischen Häresie und über die Schriften der heiligen Kirchenväter zu diesem Thema haben muß, um an den ständigen Vorwürfen zu zweifeln, die jene Ketzer gegen sie erhoben, sie hätten diese Irrmeinung geteilt. Die dritte : daß die Kirchenväter sehr wohl an Ketzer dachten, nämlich an die Manichäer, die diese Irrmeinung als ein Hauptdogma ihrer Lehre vertraten, die Luther nicht erfunden, sondern erneuert hat, daß die Gebote absolut unmöglich seien, daß die Menschen keinen freien Willen haben und daß sie zwangsläufig sündigen und unausweichlich unfähig seien, nicht zu sündigen. So werden denn diese drei Beweise gemeinsam zeigen, daß die Kirchenväter gezwungen waren, diese These, daß die Gebote nicht unmöglich sind, in dem Sinne zu begründen, daß es nicht unmöglich ist, sie zu halten, und das nicht allein aus ebenso vielen Erwägungen wie das Konzil, sondern aus mehr Gründen, als sie das Konzil hatte, weil sie ja ähnliche Ketzer zu überzeugen und außerdem derart schimpfliche Vorwürfe zurückzuweisen hatten.

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Beweise für den ersten Punkt Da die Kirche oft Irrmeinungen verurteilt, die von keinem Ketzer vertreten werden, ohne daß man deshalb sagen müßte, sie bekämpfe Hirngespinste, hätten somit auch die Kirchenväter sehr wohl begründen können, daß die Gebote in dem Sinne nicht unmöglich sind, daß es nicht unmöglich ist, sie zu halten, selbst wenn es keine Häresie gegeben hätte, welche die entgegengesetzte Ansicht vertrat. Ich weiß nicht, auf Grund welcher haltlosen Beweisführung man behaupten kann, daß die Kirche nicht Übeln vorbeugen dürfe, indem sie die Häresien vor ihrem Entstehen mit der Wurzel ausrotte, ohne daß sie sich deshalb dem Spott aussetzte, sie bekämpfe Hirngespinste. Genügt es nicht, daß eine Irrmeinung wahrhaftige Grundlagen hat, damit diese ein würdiger Gegenstand ihres Eifers ist, und warum soll sie unbedingt verpfl ichtet sein, mit deren Verurteilung so lange zu warten, bis diese sich in das Herz ihrer Kinder eingeschlichen hat ? Wird man aus ihrem Walten, das zutiefst weise und klug ist, die Vorsorge ausschließen, die ein so wesentlicher – und der nützlichste – Teil der Klugheit ist ? Und infolge welcher seltsamen Umkehrung wird diese überaus heilsame Wachsamkeit, die bei den Personen, den Familien, den Staaten und allen Arten von Regierungen lobenswert ist, obgleich diese dem Untergang geweiht sind, Anlaß zum Spott bei der Kirche sein, deren Mühewaltungen weitaus umfassender sein müssen, da sie die Gewißheit ewiger Dauer hat ? Doch was ich bekämpfe, ist wahrhaftig ein Hirngespinst ; und es gibt nichts Haltloseres als eine derartige Beweisführung. Die Kirche betrachtet die Kinder, die ihr in allen Jahrhunderten verheißen sind, so, als seien sie ihr gegenwärtig ; und weil sie alle in ihrem Schoß vereint, sucht sie in der Nachfolge der Dahingegangenen die Verhaltensregeln für diejenigen, die da kommen werden, und bereitet ihnen die Mittel zu ihrem Heil mit ebensolcher Liebe vor, wie sie es bei jenen tut, die sie gegenwärtig nährt, und das durch eine Vorsorge, die eben-

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sowenig Grenzen hat wie die christliche Liebe, die sie ihnen entgegenbringt. Daher trägt sie nicht allein besonders Sorge dafür, daß sie sich den gegenwärtigen Irrmeinungen widersetzt und jenen vorbeugt, die noch nie aufgetaucht sind, wenn sich die Gelegenheit für ein solches Vorgehen geboten hat, vielmehr verurteilt sie auch die bereits erloschenen Irrmeinungen, um zu verhindern, daß sie eines Tages wieder aufkommen. Die Konzilien liefern hierfür alle erdenklichen Beispiele. Man stellt fest, daß das Konzil von Trient die Meinung verurteilt, daß die Gerechten die Fähigkeit haben, ohne die Gnade zu beharren,144 obwohl die Lutheraner, welche die einzigen lebenden Feinde waren, die es angriff, diese Ansicht, die rein pelagianisch ist, nicht im entferntesten vertraten. Und gleichwohl ist man sich heute über die Wirkung einer Entscheidung im klaren, die damals so wenig notwendig schien und jetzt tatsächlich so nützlich ist. So verurteilt das Konzil von Orange diejenigen, welche die Behauptung wagen sollten, daß Gott die Menschen für die schlechten Handlungen vorherbestimme, obwohl es ihm nach dem Zeugnis seiner eigenen Worte unbekannt ist, daß diese Irrmeinung jemals vorgebracht wurde (Conc. Araus. II , can. 25).145 Und so bestätigt das Konzil von Valence dieselbe Verurteilung, ohne ebensowenig vorauszusetzen, daß diese Irrmeinung Vgl. DH 1572, can. 22. 2. Synode von Orange (529, Arausicanum secundum), ein einschlägiger Text fi ndet sich in der Definitio fi dei, nach dem can. 25, vgl. DH 397 : »Daß aber irgendwelche durch göttliche Macht zum Bösen vorherbestimmt seien, daß glauben wir nicht nur nicht, sondern, wenn es welche gibt, die so Übles glauben wollen, so sagen wir diesen auch mit ganzer Abscheu : Anathema !«, kritischer Text in Concilia Galliae. Bd. 2 : A. 511 – A. 695. Cura et studio C. de Clercq. Turnhout 1963 (CChr.SL 148 a), 53 – 76, hier S. 63. In seinen Exzerpten hat Pascal diese Stelle mit der nicht ganz exakten Quellenangabe zitiert, vgl. Mesnar d OC 3, S. 737 ; zur Geschichte und Quelle der Zitation dieser und der folgenden Synodenstellen vgl. ebd. 560. 144 145

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von irgend jemandem vertreten würde, sondern es tut dies allein, um zu verhindern, daß dieses Übel eintritt (Conc. Valent., can. 3).146 Mit ähnlichem Eifer sind die heiligen Kirchenväter einer so notwendigen Klugheit gefolgt und haben in ihren Schriften die Irrmeinungen widerlegt, die es noch gar nicht gab. Und wie könnte man sich ihnen sonst entgegenstellen, sobald sie erst einmal auftreten ? So verkünden die Kirchenväter, die Nestorius bekämpft haben, mit heiliger Freude, daß Sankt Augustinus diese Irrmeinung vor ihrem Entstehen zunichte gemacht habe, und sie bewundern Gottes besondere Vorsehung für seine Kirche, daß er ihr mit den Schriften dieses heiligen Kirchenlehrers so gesegnete Waffen gegeben habe, bevor der Teufel jenem Ketzerführer die Waffen des Irrglaubens gegeben hätte, mit denen er die Kirche bekämpfen sollte. Es wäre unnötig, hierfür weitere Beispiele anzuführen. Aus dem Obengesagten ersieht man deutlich genug, daß man aus der Tatsache, daß eine Häresie noch keine Anhänger gehabt hat, nicht folgern darf, es sei falsch, daß die Kirchenväter sich ihr entgegengestellt haben. Auf dieser Grundlage kann man für das Thema, das in dieser Abhandlung erörtert wird, den zutreffenden Schluß ziehen.

Beweise für den zweiten Punkt Daß die heiligen Kirchenväter, die begründet haben, daß die Gebote nicht unmöglich sind, verpflichtet gewesen wären, das in diesem Sinne zu begründen, daß es nicht unmöglich ist, daß die Menschen sie halten, selbst wenn es keine Häresie gegeben hätte, die sich zu der gegenteiligen Ansicht bekannte, und das aus dem einzigen Grunde,

Synode von Valence (855, Concilium Valentinum III ), can. 3 : DH 629 als Zitat des Arausicanum II . 146

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weil die Pelagianer ihnen ständig vorwarfen, dieser Ansicht zu folgen, den freien Willen zu leugnen und zu behaupten, daß die Gebote absolut unmöglich und die Menschen unausweichlich gezwungen seien zu sündigen. Man kann nicht bezweifeln – wenn es zutrifft, daß die Pelagianer ständig den Katholiken unterstellten, den freien Willen zu leugnen und die absolute Unmöglichkeit der Gebote zu behaupten, so daß die Menschen mit unausweichlicher Notwendigkeit gezwungen seien zu sündigen –, daß allein solche Vorwürfe ein hinreichender Grund waren, der diese heiligen Kirchenlehrer verpflichtete, derartige Irrmeinungen zu widerlegen, selbst wenn kein Ketzer diese vertreten hätte, denn sie hätten ja trotzdem die Erklärung abgeben müssen, daß es nicht unmöglich ist, daß die Menschen die Gebote halten, damit sie jene zum Schweigen brachten, die es wagten, ihnen so ungerechtfertigt einen dem widersprechenden Glauben zu unterstellen. Und daher wird es genügen, wenn man zeigt, daß jene Ketzer die Kirchenväter ständig mit derartigen Vorwürfen belästigten, um so ebenfalls zu zeigen, daß sie verpfl ichtet waren, sich dagegen zu verteidigen. Und das ist ganz leicht. Die Schriften der heiligen Kirchenväter, die als Verteidiger der Gnade gewirkt haben, sind voller Textstellen, die dies bezeugen. Auf jeder Seite sieht man, mit welchen Schmähworten jene Ketzer den Katholiken vorhielten, den freien Willen zu leugnen und die unüberwindliche Unmöglichkeit der Gebote zu behaupten. Diese Manichäer (sagt Julian,147 als er von den Verteidigern der Gnade spricht), mit denen wir keine Gemeinschaft mehr haben, ich meine all jene, denen wir nicht zugestehen wollen, daß der freie Wille durch die Sünde des ersten Menschen zugrunde gegangen sei und daß jetzt niemand das Vermögen habe, tugendhaft zu leben, Der Pelagianer Julian von Eclanum († 454), vgl. LThK 2 5, Sp. 1197. Im folgenden zitiert Pascal Texte nach Sinnich : Sanctorum Patrum de gratia Christi et libero arbitrio dimicantium Trias. Die lat. Texte fi nden sich bei OC 2 (Le Guern), S. 1222 ff. 147

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daß vielmehr alle Menschen unabwendbar sündigen müssen und daß das Fleisch sie mit Notwendigkeit dazu zwinge.148 Mußte der heilige Augustinus sich nicht gegen diesen Vorwurf verteidigen, und mußte er nicht notwendig antworten, daß er glaube, es sei nicht unmöglich, daß die Menschen tugendhaft leben, und sie seien nicht unausweichlich gezwungen zu sündigen ? Als Julian daher an anderer Stelle sagte : Wir sind täglich damit beschäftigt, uns gegen diese Lehre zu verteidigen ; und wir widersetzen uns diesen Abtrünnigen, weil wir sagen, daß der freie Wille naturgemäß allen Menschen eigen ist und daß er durch die Sünde Adams nicht zugrunde gehen konnte, was von der ganzen Heiligen Schrift bestätigt wird.149 Mußte der heilige Augustinus dann nicht erklären, daß er den freien Willen nicht leugne, was er gegen jene Einwände und gegen diesen, den Pelagius vorgebracht hatte, sagte : Wir versichern, daß dieses Vermögen des freien Willens allen Menschen im allgemeinen eigen ist, seien es Christen, Juden oder Heiden ; der freie Wille ist allen Menschen von Natur aus gleichermaßen eigen (mit diesen Worten wollte er sich von den Katholiken unterscheiden, denen jene unterstellten, dies zu leugnen), allein bei den Christen aber wird er von der Gnade unterstützt.150 (Und mit diesen letzten Worten wollte er den Anschein erwekken, als ob er sich nicht von den Katholiken unterschiede.) Und Julian : Alle Katholiken, sagte er weiter, erkennen ihn an (den freien Willen), während du (er meinte den heiligen Augustinus) ihn leugnest.151 Und an anderer Stelle : Jene, die befürchtet haben, daß man sie Pelagianer nennt, sind dem Manichäismus verfallen, und aus Angst, dem Namen nach Häretiker zu sein, sind sie tatsächlich Ma-

148 149 150 151

Augustinus : Augustinus : Augustinus : Augustinus :

Contra duas epistulas Pelagianorum 1, 4. Contra duas epistulas Pelagianorum 1, 29. De gratia et de peccato originali 1, 43. Contra Julianum opus imperfectum 1, 96.

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nichäer geworden, und da sie einer unbegründeten Infamie entgehen wollten, sind sie einer wirklichen Todsünde verfallen.152 Und als Pelagius sich gegen zwei einander widersprechende Häretiker wendet, um zu zeigen, daß er die Mitte hält, die gewöhnlich von der Wahrheit eingenommen wird : Wir erkennen den freien Willen an, sagt er, der jedoch so beschaffen ist, daß er immer den Beistand der Gnade benötigt ; so irren denn gleichermaßen diejenigen, die mit Mani sagen, daß der Mensch nicht der Sünde entgehen könne, wie diejenigen, die mit Jovinian 153 versichern, daß der Mensch keine Sünde tun könne. Denn die einen heben wie die anderen die Freiheit auf, während wir den Standpunkt vertreten, daß der Mensch immer die Fähigkeit hat, zu sündigen und nicht zu sündigen, damit wir aufrichtig anerkennen, daß er nicht des freien Willens beraubt ist.154 Daher antwortet der heilige Augustinus, als er sich über diese Irrmeinung beklagt, die man ihm unterstellt : Wer von uns hat denn jemals gesagt, daß bei den Menschen der freie Wille durch den Fall des ersten Menschen zugrunde gegangen sei ? Es ist wohl wahr, daß die Freiheit durch den Sündenfall zugrunde gegangen ist, doch es ist jene Freiheit, die im irdischen Paradies herrschte.155 Und der heilige Prosper : Es ist eine Irrmeinung, wenn man sagt, daß der freie Wille nichts sei oder daß er überhaupt nicht vorhanden sei.156 Und der heilige Augustinus, als er zeigen will, daß er die Freiheit nicht leugnet, wenn er die Gnade verteidigt : Es ist, sagt er, eine unerträgliche Vermessenheit unserer Feinde, wenn sie

Augustinus : Contra Julianum opus imperfectum 1, 75. Jovinian († 406), Häretiker. Er veranlaßte Augustinus zur Abfassung von De bono coniugali und De sancta virginitate. Vgl. LThK 3 5, Sp. 1020 f. 154 Augustinus : De gratia et de peccato originali 1, 36. 155 Augustinus : Contra duas epistulas Pelagianorum 1, 5 (gegen OC 2 [Le Guern], S. 1223). 156 Prosper : Responsiones ad Capitula Gallorum obj. 6, resp. 152 153

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behaupten, daß man durch diese Gnade, die wir verteidigen, der Willensfreiheit nichts übriglasse.157 Und an anderer Stelle : Denn der freie Wille ist durchaus nicht aufgehoben, weil er Beistand erhält ; vielmehr erhält er Beistand, weil er nicht aufgehoben ist.158 Und in dem Buch Über Geist und Buchstaben, c. XXIX : Zerstören wir durch die Gnade den freien Willen ? So soll es nicht sein, vielmehr begründen wir ihn damit. Denn der freie Wille wird von der Gnade nicht vernichtet, sondern begründet. Ebenso wie das Gesetz durch den Glauben.159 Und der heilige Prosper sagt im Brief an Demetrias zum gleichen Thema : Muß man befürchten, daß es aussieht, als höben wir den freien Willen auf, wenn wir sagen, daß alles, womit man sich Gunst verschafft, ihm zugeschrieben werden müsse ? 160 Und als der heilige Augustinus die Worte anführt, mit denen sich die Pelagianer von ihm unterscheiden wollten : Die Pelagianer, sagt er, meinen, sie hätten etwas überaus Wichtiges verstanden, wenn sie behaupten, daß Gott nicht Dinge gebieten würde, von denen er wüßte, daß die Menschen sie nicht halten könnten. Wer weiß das nicht ? 161 Und an anderer Stelle : Sie denken, daß sie uns ein völlig zwingendes Argument entgegenhalten, sobald sie behaupten, daß wir nicht sündigen, wenn wir es nicht wollen, und daß Gott nicht etwas gebieten würde, was dem Willen des Menschen unmöglich wäre. Als gäbe es jemanden unter uns, der es nicht wüßte ? 162 Und der heilige Hieronymus mußte sich ebenfalls gegen dieselben Ketzer und ihre Argumente verteidigen : Ihr haltet uns vor, daß Gott mögliche Dinge geboten hat. Und wer leugnet das ? Ihr pflegt uns zu sagen : Entweder sind die Gebote möglich, und

Tatsächlich Prosper : Epistula ad Rufi num de gratia et libero arbitrio 17, 18. 158 Augustinus : Epistulae 157, 10. 159 Augustinus : De spiritu et littera 52. 160 [Prosper von Aquitanien :] Epistula ad Demetriadem 13. 161 Augustinus : De gratia et libero arbitrio 32. 162 Augustinus : De peccatorum meritis et remissione et de baptismo parvulorum 2, 3. 157

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dann ist es gerecht, daß sie gegeben werden, oder sie sind unmöglich, und dann darf deren Übertretung jenen nicht als Sünde angerechnet werden, die diese Gebote erhalten haben, sondern Gott, der sie gegeben hat.163 Und der heilige Augustinus : Das trifft nicht zu ; dem ist nicht so, entweder täuscht ihr euch selbst gewaltig, oder ihr versucht, die anderen irrezuführen und zu täuschen ; wir leugnen den freien Willen durchaus nicht.164 Es wäre unnötig, weitere Beweise für diese so klare Wahrheit anzuführen, daß die Verteidiger der Gnade unaufhörlich mit derartigen Vorwürfen angegriffen wurden, sie leugneten den freien Willen und behaupteten, die Gebote seien absolut unmöglich und die Menschen unausweichlich gezwungen zu sündigen, was der Irrglaube der Lutheraner ist. Demnach gibt es nichts Offensichtlicheres, als daß sie wie auch die Konzilsväter verpfl ichtet waren, diese Irrmeinung zu widerlegen, selbst wenn es nämlich zu ihrer Zeit keine Häretiker gegeben hätte, die es behaupteten, so gab es doch solche, die es ihnen mit größter Dreistigkeit zur Last legten. Aber um unwiderlegbar zu bestätigen, daß sie genötigt waren, es zu tun, muß man hinzufügen, daß es zu ihrer Zeit tatsächlich Häretiker gab, die dies als Hauptpunkt ihres Irrglaubens vertraten, und daraus ergibt sich vollends ihre Verpfl ichtung, daß sie diese Ansichten verurteilen mußten. Dies ist das Thema des dritten Punktes.

Beweise für den dritten Punkt Daß die Kirchenväter, die begründet haben, daß die Gebote nicht unmöglich sind, verpflichtet waren, es in diesem Sinne zu erklären, Hieronymus : Epistula 133, 8 ad Ctesiphonem. Adversus Pelagianum = Pelagiana dogmata cum eorum refutatione 8 und Dialogus contra Pelagianos 21. 164 Augustinus : De nuptiis et concupiscentia 2, 8. 163

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daß es nicht unmöglich ist, die Gebote zu halten, und sie waren es wegen der Manichäer, die sie zu bekämpfen hatten und die behaupteten, dies sei den Menschen absolut unmöglich, und eine unausweichliche Notwendigkeit zwinge die Menschen zu sündigen. Man kann nicht bestreiten, daß die heiligen Kirchenväter, die begründet haben, daß den Menschen die Gebote nicht unmöglich sind, dazu in dem Sinne verpfl ichtet waren, daß es nicht unmöglich ist, sie zu halten, falls es zutrifft, daß sie zeitgenössische Feinde hatten, die das Gegenteil behaupteten, die den freien Willen leugneten und versicherten, es sei den Menschen absolut unmöglich, die Gebote zu halten, und es gebe eine unausweichliche Notwendigkeit, die sie zur Sünde zwinge. Wer weiß indes nicht, daß dies ein Hauptirrtum der Manichäer ist und daß sie versicherten, die böse Natur sei so beschaffen, daß es keine Macht gebe, die deren Bosheit überwinden könne, nicht einmal die Gottes ? Weiß man etwa nicht, daß der heilige Augustinus diese Irrmeinungen widerlegt hat und daß er einen für die Kirche ruhmvollen Sieg gegen sie errungen hat ? Ich will mich also nicht damit aufhalten, hierfür Beweise zu liefern, weil man nur nachzulesen braucht, was er zu diesem Punkt gegen sie geschrieben hat : Und ich werde es dabei bewenden lassen, einige Textstellen anzuführen, damit diese Tatsache nicht unbewiesen bleibt, so bekannt sie auch an sich sein mag. Nun sagt aber Mani, daß die Natur, die er böse nennt, durchaus nicht geheilt oder gebessert werden könne. Und er ist darin erbärmlich widersinnig, daß nach seiner Vorstellung die Natur des Bösen zu einem Wandel absolut unfähig sei.165 Dies läßt Pelagius sagen : Wir erkennen den freien Willen an usw.,166 und jene irren, die mit Mani versichern, der Mensch habe nicht das Vermögen, ohne Sünde zu sein.167 Dies bewirkt, daß Julian den heiligen Augustinus Augustinus : Contra Julianum opus imperfectum 1, 115. Augustinus : De gratia et de peccato originali 1, 36. 167 Sinnich : Sanctorum Patrum … Trias, S. 132 : »Quam liberi arbitrii potestatem dicimus in omnibus esse generaliter, in Christianis, 165

166

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und die Katholiken unablässig als Manichäer bezeichnet, wie es sich an den Zitaten erweist, die bei dem anderen Punkt angeführt wurden. Julian : Du leugnest mit Mani den freien Willen.168 Und der heilige Hieronymus,169 der gesagt hatte, daß die Gebote ohne die Gnade unmöglich sind, kommt darum dem üblichen Einwand dieser Häretiker mit den folgenden Worten zuvor : Ihr werdet unverzüglich aufschreien und uns anklagen, dem Dogma der Manichäer zu folgen. Es ist also nicht zu bezweifeln, daß alles, was die Lutheraner über die Begierde gesagt haben, schon tausend Jahre vor ihnen von jenen früheren Häretikern über die Bosheit der Natur gesagt wurde. Deshalb läßt sich nicht mehr bestreiten, daß die Kirchenväter genötigt waren, jene entsetzlichen und frevelhaften Ansichten zu verwerfen : daß der freie Wille vernichtet sei, daß die Gebote unausweichlich unmöglich seien, daß die Menschen notwendig und unvermeidlich zur Sünde gezwungen seien. Denn sie waren hierzu verpfl ichtet, sowohl, um jene des Irrglaubens zu überführen, die diese Ansichten vertraten, wie auch, um jenen Verleumdern den Boden zu entziehen, die sie selbst beschuldigten, derartige Ansichten zu vertreten ; und somit soll diese These, die sie gezwungenermaßen aufstellten, daß die Gebote nicht unmöglich sind, nichts anderes als die Verneinung derjenigen sein, die man ihnen zuschrieb, daß die Ge-

Iudaeis, atque gentilibus. In omnibus est liberum arbitrium aequaliter per natura, sed in solis Christianis adjuvater a gratia. [Marginalie mit Quellenangabe : < Pelagius > in libello fidei ad Innocent. apud August. serm 191 de tempore] Liberum sic confitemur arbitrium, ut dicamus nos Dei semper indigere auxilio : et tam illos errare qui cum Manichaeo dicunt, hominem peccatum vitare non posse ; quam illos qui cum Ioviniano asserunt, hominem non posse peccare. Uterque enim tollit arbitrium libertatem …« [Marginalie mit Quellenangabe : Idem in Epist. Ad Demetriad. C. 3]. 168 Augustinus : Contra Julianum opus imperfectum 1, 196. 169 Hieronymus : Epistula 133, 9 ad Ctesiphonem. Adversus Pelagianum.

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bote absolut unmöglich sind ; und deshalb schließt ihre These nur diesen alleinigen Sinn aus, und sie soll nichts anderes sagen als : daß es nicht unmöglich ist, daß die Menschen die Gebote halten.

Letztes Mittel An Hand so vieler Beweise erkennt man deutlich genug, daß die Manichäer und die Lutheraner einer gleichartigen Irrlehre über die Möglichkeit, die Gebote zu halten, anhingen, und selbst wenn sie sich darin unterscheiden, daß jene einer bösen und unverbesserlichen Natur das beilegten, was diese der unüberwindlichen Verderbnis der Natur zuschreiben, so stimmen sie gleichwohl in diesen Folgerungen überein, daß der freie Wille nicht den Menschen eigen sei, daß sie mit unausweichlicher Notwendigkeit zur Sünde gezwungen seien und daß sie somit die Gebote absolut unmöglich halten können. Da sie sich also nur bei den Ursachen und nicht bei der Wirkung unterscheiden, die das einzige ist, worum es bei diesem Gegenstand geht, kann man wahrheitsgemäß sagen, daß ihre Ansichten über die Möglichkeit, die Gebote zu halten, gleichartig sind und daß die Manichäer die Lutheraner ihrer Zeit waren, wie die Lutheraner die Manichäer unserer Zeit sind. Wer wird also derart verblendet sein, um nicht anzuerkennen, daß früher die Kirchenväter und in jüngerer Zeit das Tridentinische Konzil eine gleichartige und gleichermaßen unumgängliche Verpfl ichtung hatten, jenen frevelhaften Ansichten den von uns behandelten Standpunkt entgegenzusetzen, daß die Gebote – im Sinn jener Häretiker – nicht unmöglich sind ? Daher erkennt jeder, der aufrichtig über diese Frage urteilt, eine so offenkundige Wahrheit an ; und all jene, die gleichmütig über sie geschrieben haben, haben es in ihren Werken bezeugt, aus denen man unschwer mehrere Textstellen anführen könnte. Doch ich werde mich mit diesem Estiuszitat begnügen, das alles zusammen zeigt : sowohl, daß die alten Kirchenväter diese Unmöglichkeit, die Gebote zu halten, nur im

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Sinn der Manichäer widerlegt haben, und damit sie sich so gegen die Vorwürfe der Pelagianer verteidigen konnten, als auch, daß das Konzil von Trient es ebenso nur im Sinn der Lutheraner widerlegt hat ; und das ist der ganze Inhalt dieses Punktes, der schon überaus klar erläutert ist und den ich mit diesen Worten abschließen werde : Nun wurde aber diese These, daß Gott von den Menschen unmögliche Dinge verlange, den Katholiken voller Erbitterung von den Pelagianern unterstellt, und die Katholiken wiesen sie mit ebensolcher Heftigkeit zurück, weil sie zur Lehre der Manichäer gehört, die behaupteten, daß die Menschen der Sünde nicht entgehen können, da die Natur, aus der sie bestehen, schlecht sei. Und die Kirchenväter haben diese Meinung in dem Sinn verurteilt, daß sie diese einfache Unmöglichkeit, die Gebote zu halten, verworfen haben, die entweder jenem in Wahrheit nicht existierenden bösen Prinzip oder der von Adam bewirkten Verderbnis der Natur zugeschrieben wurde : Selbst wenn es nämlich der Natur und dem Gesetz unmöglich ist, die Gebote zu halten, macht es die Gnade Jesu Christi dennoch möglich, und sie vollbringt es sogar. Und man kann diese Lehre im XI . Kapitel der sechsten Sitzung und im Canon 18 des Konzils von Trient dargestellt und klar erläutert finden.170 »Ideo porro eam sententiam qua dicitur impossibile aliquid homini a Deo praeceptum Pelagiani Catholicis odiose impingebant, et Catholici studiose a se repellebant, quod ea ad haeresim Manichaeorum pertineret, ponentium hominem propter naturam malam ex qua compositus esset, non posse peccatum vitare. Hoc autem ita damnant Catholici ut non tantum ex malo principio, cuiusmodi re vera nullum est, verum etiam ex corruptione naturae facta per Adam negent homini simpliciter impossibile esse ut Dei legem impleat. Quod enium naturae et legi impossibile est, possibile facit, imo et praestat, ut proximo capite ostendetur, gratia Dei per Christum. Huius dogmatis defi nitionem et claram explicationem videre licet in synodo Tridentia sess. 6, cap. 11 et can. 18.« Gulielmus Estius : In IV Libros Sententiarum Commentaria. T. 3. Douai 1616, S. 93 = l. 3, dist. 27 § 6. – Estius (Willem Hessels van Est), 1542– 1613, vgl. Peter Walter : LThK 3 3, Sp. 896 f. 170

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II

Daß es keinen notwendigen Zusammenhang zwischen der Möglichkeit und der Fähigkeit gibt Alle Dinge, die einer Person möglicherweise geschehen können, stehen nicht immer in der Fähigkeit dieser Person : Und obgleich man sich unschwer für die Meinung einnehmen läßt, daß ein notwendiger Zusammenhang zwischen dem einen und dem anderen besteht, ist doch nichts leichter und häufiger, als das Gegenteil festzustellen. Andererseits tritt auch dieser Zusammenhang recht häufig auf, aber er ist bei weitem nicht allgemein und notwendig. Hier nun Beispiele für das eine und das andere : Wenn ein Prinz der rechtmäßige Erbe eines Königreichs ist und von allen seinen Untertanen einmütig und ohne Widerstreben als wahrer König anerkannt wird, trifft es sowohl zu, daß es möglich ist, daß er König wird, wie auch gleichermaßen, daß es in seiner Fähigkeit steht, es zu werden. So ist es möglich, daß ein gesunder und freier Mann läuft, wenn es ihm gefällt, und es steht auch in seiner Fähigkeit, es zu tun. Bei diesen Beispielen gibt es einen Zusammenhang zwischen der Möglichkeit und der Fähigkeit. Aber man weiß auch, daß es möglich ist, daß ein Mensch sechzig Jahre lebt, und gleichwohl steht es nicht in der Fähigkeit irgendeines Menschen, daß er dieses Alter erreicht, ja, daß er auch nur einen Augenblick seines Lebens sicher sein kann. Und daß es möglich ist, daß ein Prinz von Geblüt, obwohl er der jüngste des Königshauses ist, rechtmäßiger König wird, ohne daß es immer in seiner Fähigkeit steht, es zu werden. Und daher läßt sich ebenso einfach und häufig feststellen, daß dieser Zusammenhang nicht auftritt, wie es das Gegenteil ist : Hieran erweist sich klar genug, daß er nicht beständig und notwendig ist.

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Und daher ergibt sich auch auf Grund der bloßen Beweiskraft der Worte kein notwendiger und überzeugender Widerspruch, wenn man sagt, daß die Gebote den Menschen möglich seien und daß die Menschen gleichwohl nicht immer die Fähigkeit haben, sie zu erfüllen [weil die Gnade, durch die sie ermöglicht werden, nicht immer und notwendig jedem Menschen eigen ist. Ebenso ergibt sich kein Widerspruch, wenn man zugleich sagt, daß ein gesunder, aber angeketteter Mann laufen könne, weil es möglich ist, daß seine Ketten zerreißen, ohne daß man sagen könnte, das Laufen stehe immer in seiner Fähigkeit, weil seine Freiheit ja nicht immer von ihm abhängt. Man kann das gleiche von einem Kranken und von tausend anderen Beispielen sagen.]171

Regel, um zu erkennen, unter welchen Umständen es einen Zusammenhang zwischen Möglichkeit und Fähigkeit gibt Aber es ist leicht, durch eine allgemeine Regel festzustellen, unter welchen Umständen dieser Zusammenhang zwischen Möglichkeit und Fähigkeit auftritt. Die folgende Regel erfüllt diesen Anspruch : Immer, wenn die Ursache, durch die eine Wirkung möglich wird, gegenwärtig existiert und der Person unterworfen ist, bei der die Wirkung hervorgebracht werden soll, gibt es einen Zusammenhang zwischen Möglichkeit und Fähigkeit ; das heißt : Die Wirkung steht in der Fähigkeit dieser Person und sonst nicht. So steht es in der Fähigkeit jenes rechtmäßigen Erben des Königreichs, den alle seine Untertanen mit Beifall aufnehmen, König zu werden oder nicht ; weil alles so eingerichtet ist, daß er anerkannt wird, ist allein sein Wille die alleinige Ursache

171

Der Passus in eckigen Kammern ist im Original gestrichen.

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und Herr des Geschehens ; und da sein Wille in seinem Ermessen und in ihm selbst liegt, sagt man, daß die Wirkung in seinem Vermögen stehe. Anders verhält es sich mit einem Gefangenen, der in Ketten gelegt ist ; seine Freiheit ist durchaus möglich, aber sie steht nicht in seinem Vermögen, weil das Zerreißen seiner Ketten nicht von ihm abhängt, das doch die Ursache ist, die ihm die Freiheit zu geben vermag. Und daher kann man nicht sagen, daß seine Befreiung in seinem Vermögen stehe, obwohl sie an sich durchaus möglich ist.

Daß man dieser Regel zufolge immer sagen kann, es stehe in der Fähigkeit aller Menschen, die Gebote zu halten Gleichwohl macht diese Regel, die scheinbar der Fähigkeit sämtlicher Menschen die Erfüllung der Gebote entzieht, sie ihnen vielmehr erreichbar und unterwirft sie ihnen. Denn da der Wille des Menschen die unmittelbare Ursache für die Beobachtung der Gebote ist – so daß, wie wir bereits gesagt haben, man sie hält, wenn man will, und sie übertritt, wenn man es will –, ist es offenkundig, daß diese Ursache immer im Menschen liegt und von ihm abhängt, man also dieser Regel zufolge nicht die These zurückweisen kann, die Beobachtung der Gebote stehe immer in der Fähigkeit sämtlicher Menschen.

Daß es derselben Regel zufolge nicht immer in der Fähigkeit der Menschen steht, die Gebote zu halten Eigenartig ist jedoch, daß es derselben Regel zufolge nicht immer in der Fähigkeit der Menschen steht, die Gebote zu halten. Selbst wenn es nämlich wahr ist, daß der Wille des Menschen die unmittelbare Ursache für die Beobachtung der Gebote ist, gibt es hierfür doch eine weitere Ursache, die ursprünglich,

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beherrschend und hauptsächlich ist und selbst als Ursache für den Willen des Menschen wirkt, und das ist Gottes Gnade und augenblicklicher Beistand. Da diese erste und Hauptursache nicht im Menschen, sondern in Gott liegt und auch nicht vom Menschen, sondern von Gott abhängt, ist es also in diesem Sinne offenkundig, daß die Beobachtung der Gebote nicht immer in der Fähigkeit der Menschen steht. Und in dieser Hinsicht bestreitet man nicht, daß die Ungläubigen, die auf dem Gipfel des Frevels und der Zügellosigkeit verlassen und der für die Erfüllung der Gebote notwendigen Gnadenmittel beraubt sind, da sie das Maß ihrer Sünden vollgemacht haben, in einem solchen Zustand sind, daß die Beobachtung der Gebote nicht in ihrer Fähigkeit steht. Und daher sind selbst jene, von denen man im rechtgläubigen Sinne sagen kann, daß es in ihrer Fähigkeit stehe, die Gebote zu erfüllen – in dieser Hinsicht, daß sie es tun würden, wenn sie es wollten –, gleichwohl in einem solchen Zustand, daß man auch im katholischen und rechtgläubigen Sinne sagt, es stehe nicht in ihrer Fähigkeit, es zu tun, weil die Entziehung der Gnade es ihnen unmöglich macht, es zu wollen.

Daß es einige mögliche und andere unmögliche Dinge gibt, die diese Eigenschaften verlieren, wenn man sie im Zusammenhang mit gewissen Umständen sieht Es ist also offensichtlich, daß die Eigenschaften des Möglichen und des Unmöglichen gemeinsam vielen Sachverhalten zukommen, je nach den unterschiedlichen Bedeutungen, die man ihnen gibt, aber es trifft auch zu, daß man solche Umstände voraussetzen kann, die eine von diesen zwei Eigenschaften ausschließen. Selbst wenn man daher von einem gesunden, aber angeketteten Mann sagen kann, daß es nicht unmöglich sei, daß er laufe, weil das Zerreißen seiner Ketten, das ihm die Möglich-

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keit hierzu geben wird, eine Ursache in der Natur hat, daß es jedoch nicht in seiner Fähigkeit stehe zu laufen, weil er nicht über diese Ursache verfügen kann ; wenn man gleichwohl diesen Gefangenen als Gefangenen betrachtet, kann man unbedingt sagen, solange er in Ketten liege, sei seine Flucht derart unmöglich, daß sie in keinem Sinne möglich sei, weil diese Voraussetzung ja die Ursache für seine Freiheit vollkommen ausschließt. Ebendies drückt der heilige Thomas mit dem Wort incompossibile 172 [unvereinbar] aus, wenn er sagt, obgleich es möglich sei, daß ein Mensch eine Todsünde begehe, sei es auch möglich, daß er auserwählt sei, und es sei weiter möglich, daß er in jedem Augenblick seines Lebens getötet werde, und dennoch sei es absolut und zu jeder beliebigen Zeit mit allen diesen Voraussetzungen unvereinbar, daß er im Zustand der Todsünde auserwählt und zugleich in diesem Zustand getötet werde. Auf diese Art kann man auch von einem Mann sagen, der gesunde Augen hat, daß er das Licht, das man ihm zeige, sehen könne, wenn er es wolle ; so kann man denn in keinem Sinne sagen, daß er nicht die Fähigkeit habe, das Licht zu sehen, das man ihm zeige, wenn er es unbedingt wolle. In diesem Hinblick kann man auch von einem Gerechten sagen, der alle notwendigen Gnadenmittel hat, um die Gebote zu erfüllen, und der solcherart in der Lage ist, ohne alles andere auszukommen, um sie augenblicklich zu erfüllen, daß er sie mit diesem einzigen Beistand manchmal tatsächlich erfülle, daß es in seiner Fähigkeit stehe, sie unter dieser Voraussetzung zu erfüllen, so daß man denn in keinem Sinne sagen kann, wenn alle diese Umstände als gegeben angenommen sind, daß es nicht in seiner Fähigkeit stehe, sie zu erfüllen, oder daß es ihm unmöglich sei, sie zu erfüllen. Thomas von Aquin : Summa theologiae I a q. 23, a. 6, ad 2 ist der Sachbezug ; das Wort selbst fi ndet sich II a II ae q. 10, a. 4, ad 3, allerdings auch nicht in allen Ausgaben. Genaueres bei Mesnar d, OC 3, S. 726. 172

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Und daher kann man im Gegenteil von einem Gerechten sagen, wenn man voraussetzt, daß er des notwendigen Beistandes beraubt ist, um sie erfüllen zu wollen, daß es nicht in seiner Fähigkeit stehe, sie zu erfüllen ; so kann man denn in keinem Sinne sagen, wenn man diesen Umstand voraussetzt, daß es vollkommen in seiner Fähigkeit stehe, die Gebote zu erfüllen. Aus diesem Grunde hat das Konzil, um die reine und ganz von den ihr widersprechenden und sie bekämpfenden Irrmeinungen befreite Wahrheit zu zeigen, zwei wichtige Entscheidungen getroffen, mit denen es zuerst begründet, daß die Gerechten die Fähigkeit des Beharrens haben, sobald sie die Gnade haben, und mit der zweiten begründet es weiter, daß sie nicht die Fähigkeit des Beharrens haben, sobald sie nicht die Gnade haben. Allein diese beiden Entscheidungen, deren eine die Folgen der anderen (festlegt), können nur gemeinsam die Gläubigen zuverlässig unterrichten : Da es die Fähigkeit oder die Unfähigkeit, die Gebote zu halten, nicht von dem natürlichen Vermögen oder Unvermögen der Menschen, sondern von der Gegenwart oder der Abwesenheit der Gnade abhängen läßt, hat es nicht mit den Pelagianern die Natur zu hoch erhoben und auch nicht mit den Lutheranern die Natur zu tief erniedrigt, sondern das wahre Reich der Gnade in den Seelen begründet, wie es die wahren Christen tun müssen. Und diese Entscheidungen bestätigen lediglich, was die Kirchenväter seit so vielen Jahrhunderten mit den folgenden heiligen Lehrsätzen begründet hatten : Si Deus miseretur, etiam volumus ; 173 Si Deus tangit cor, homo praeparat cor ; 174 Si audisset et didicisset a Patre, veniret 175 (De praedest., c. VIII 176). Augustinus : De diversis quaestionibus ad Simplicianum 1, 2, 12. Augustinus : Contra duas epistulas Pelagianorum 2, 19. 175 »Wenn Gott sich erbarmt, so wollen wir auch. Wenn Gott das Herz rührt, so bereitet der Mensch das Herz vor. Wenn er auf den Vater gehört und von ihm gelernt hätte, so käme er (zu ihm).« (Nach Joh 6, 45). 176 Augustinus : De praedestinatione sanctorum 13. 173 174

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(De grat. Chr., c. XIV. ) Quando Deus docet non per Legis litteram, sed per Spiritus gratiam, ita docet, ut quod quisque didicerit non tantum cognoscendo videat, sed etiam volendo appetat, agendoque perfi ciat.177 (Lib. II , Oper. Imperf., n. 157.) Cum vero dat incrementum Deus, sine dubio credit et profi cit.178 Tunc ergo effi cimur vere liberi, cum Deus nos fingit, id est, format et creat, non ut homines, quod jam fecit, sed ut boni homines simus, quod nunc sua gratia facit.179 All diese Äußerungen der Kirchenväter, in Übereinstimmung mit denen das Konzil seine Entscheidungen getroffen hat, zeigen uns also offenkundig, daß die Gerechten mit der Gnade und nicht ohne die Gnade die Gebote erfüllen können, daß sie es können, wenn sie die Gnade haben, und nicht, wenn sie nicht die Gnade haben, daß sie es können, sobald sie die Gnade haben, und nicht, sobald sie nicht die Gnade haben. Und man konnte zu Recht hoffen, daß eine so heilige Lehre die einander widersprechenden Irrmeinungen Luthers und Pelagius’ wie auch all jene, die aus ihnen hervorgehen konnten, für immer ersticken würde, indem sie gewissermaßen deren Geist zurückhielte. Und dennoch ist es geschehen, daß jene, die sich entschlossen haben, als einen unverletzlichen Glaubensartikel zu begründen, daß alle Gerechten immer die vollkommene Fähig»Wenn Gott nicht durch den Buchstaben des Gesetzes, sondern durch die Gnade des Geistes lehrt, so lehrt er, was jeder lernen sollte, daß man nicht nur mit der Erkenntnis wahrnehmen, sondern auch mit dem Willen verlangen und durch das Tun vollbringen muß.« Augustinus : De gratia Christi et de peccato originali 1, 15 178 »Wenn Gott wahrhaftig das Gedeihen gibt, so wächst und gedeiht er ohne Zweifel.« Augustinus : Contra Julianum opus imper fectum 2, 157. 179 »Dann also werden wir recht frei sein, wenn Gott uns schafft, das heißt bildet und erzeugt, nicht damit wir Menschen sind, was er schon getan hat, sondern damit wir gute Menschen sind, was nun seine Gnade bewirkt.« Augustinus : Enchiridion De fi de, spe et caritate 31. 177

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keit haben, die Gebote zu erfüllen, nicht von so offenkundigen Verurteilungen zurückgehalten wurden ; sie haben sich diesen durch einen lächerlichen und frevelhaften Kunstgriff entzogen, den man ans Licht bringen muß, um dessen ganze Arglist aufzudecken und ihn dem Urteil der Gläubigen zu unterwerfen. Sie führen nämlich den folgenden Grund an. Das Konzil, sagen sie, entscheide zwar, daß die Gerechten nicht die Fähigkeit haben, ohne die Gnade zu beharren, aber es sage nicht, wie sie behaupten, daß diese Gnade den Gerechten jemals fehle. Und das Fehlen einer derartigen Aussage haben sie zum Anlaß genommen, diese Lehre aufzustellen : daß diese Gnade den Gerechten immer gegenwärtig sei und daß sie durch diesen Beistand immer die Fähigkeit haben, die Gebote zu erfüllen. Nicht etwa, daß das Konzil jemals gesagt hat, diese Gnade sei immer gegenwärtig, sondern nur, weil es nicht entschieden habe, wie sie es darstellen wollen, ob diese Gnade immer oder niemals oder auch manchmal gegenwärtig ist, können sie nach ihrer Meinung ungehindert sagen, ohne die Entscheidung des Konzils zu übertreten, daß diese Gnade niemals fehle, und sie können, so glauben sie, daraus den Schluß ziehen, ohne der Entscheidung des Konzils zu widersprechen, daß alle Gerechten immer diese vollkommene Fähigkeit haben, die Gebote zu halten. Wenn man nun von ihnen verlangt, daß sie ihre Ansicht beweisen und eindeutige Texte des Konzils anführen, die eine derartige Ansicht aussprechen, so übergehen sie das zwangsläufig mit Stillschweigen, aber sie behaupten, daß man sie zumindest nicht widerlegen könne, und sie glauben, sie hätten genug getan, wenn sie sich in ein Dunkel hüllen, das ihren Gegnern die Möglichkeit nimmt, sie zu überführen, indem sie sich selbst jede Möglichkeit nehmen, ihre Ansicht zu beweisen. Und das Erstaunliche ist, daß sie sich nicht damit begnügten, es bei derartigen wahrscheinlichen Ausdrücken zu belassen und diese Meinung für vertretbar zu halten, so daß sie dieser hierauf Geltung als der wahren Ansicht des Konzils und

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einer Glaubenswahrheit verschaffen wollten ; und das liefert heute das Thema für alle Disputationen. So leicht vertragen sich Anmaßung und Irrlehre miteinander und erstarken in kurzer Zeit, wenn die Straflosigkeit ihre Fortschritte begünstigt. Aber genügt es nicht, um ihren ganz haltlosen und spitzfi ndigen Beweisführungen den Boden zu entziehen, wenn man ihnen sagt, da ihre Ansicht nicht auf ausdrücklichen Entscheidungen, die sie stützen, sondern darauf, daß es keine Entscheidungen gebe, mit denen sie verurteilt würden, nicht auf eindeutigen Texten, sondern auf dem Fehlen gegenteiliger Texte, nicht auf einer zuverlässigen und handgreiflichen Wahrheit, sondern auf dem Nichts, nicht auf Thesen, sondern auf einer Annahme beruhe, stehe es in der Fähigkeit eines jeden, mit ebensolchem Recht und der gleichen Begründung eine dem widersprechende Ansicht einzuführen, die auf einer entgegengesetzten Annahme beruhe ? Doch um ihrer haltlosen Spitzfi ndigkeit den Boden zu entziehen und um ihnen die Absurdität und die Lächerlichkeit ihrer Art, das Konzil zu verfälschen, begreiflich zu machen, muß man ihnen eine gleichartige Ansicht vortragen, damit sie unzweideutig bei den anderen das erkennen, was die Leidenschaften, die sie an die Ansicht binden, der sie sich angeschlossen haben, sie bei sich selbst nicht sehen läßt. Sie sollen sich also vorstellen, daß heute Menschen auftreten, die eine neue Meinung einführen und sie den Worten des Konzils anpassen wollen, indem sie folgendermaßen reden : »Wir unterwerfen uns dem Konzil und verdammen die Lutheraner und all jene, die sagen, daß man die Gebote nicht erfüllen könne, sobald man den Beistand der Gnade erhalte ; doch da das Konzil nur die Möglichkeit verteidigt, daß man mit der hierfür notwendigen Gnade die Gebote halten kann, ohne zu erklären, daß diese Gnade jemals gegenwärtig ist, läßt es uns die Freiheit, zu sagen, daß sie niemals gegenwärtig ist, und von dieser Annahme ausgehend zu versichern, daß es ständig unmöglich ist, die Gebote zu halten, ohne daß wir damit die Entscheidung des Konzils übertreten.«

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Wahrhaftig, was würden unsere Katholiken über eine so widersinnige Meinung sagen ? Fänden sie, diese stimme getreu mit dem Konzil überein ? Könnten sie urteilen, diese unterwerfe sich getreu dem Konzil ? Und wie würden sie es ertragen, daß man ihr gar nicht einmal Geltung als dem wahren Sinn des Konzils und dem rechtmäßigen und einzigen Glauben verschaffen, sondern sie lediglich als vertretbar und wahrscheinlich hinstellen wollte ? Würde man nicht mit Recht ausrufen, das heiße, sich über die Worte des Heiligen Geistes hinwegzusetzen ; es gebe keinen beträchtlichen Unterschied zwischen dieser Irrmeinung und derjenigen Luthers, weil sie übereinstimmend die Gebote für unmöglich halten, obgleich sie unterschiedliche Auffassungen über die Ursache dieser Unmöglichkeit haben ; diese Irrlehre werde mit dem Bannfluch belegt, und man müßte sie als ein bösartiges und abscheuliches Ungeheuer ersticken ? Ich bitte diejenigen, die einen derartigen Eifer für die Religion haben sollten, daß sie ihn nicht erkalten lassen, sondern ihm uneingeschränkt folgen und, ohne ihn auf diesen einzigen Gegenstand zu begrenzen, darüber hinaus mit ihm all jenen entgegentreten, die der Kirche ein ähnliches Unrecht antun. Denn ich setze voraus, daß ihre Inbrunst aus ihrer Liebe zur Wahrheit und nicht aus dem Haß herrührt, den sie einer einzelnen Irrmeinung gegenüber empfänden, und daß somit alles, was gleichermaßen falsch ist, ihnen gleichermaßen ein Ärgernis ist. Nun sollen sie bedenken, wie sie bei ihrer eigenen Ansicht verfahren und ob diese nicht vollkommen dem gleicht, was sie eben noch bei den anderen verabscheut haben. Gewiß müssen sie entweder blind sein, wenn sie nicht die vollkommene Übereinstimmung zwischen beidem sehen, oder sehr ungerecht, wenn sie nicht beides mit gleicher Abscheu behandeln, weil sie ja Sachverhalten, die ganz gleichartig sind, auch gleichartige Gefühle entgegenbringen müssen. Erkennen wir also aufrichtig an, daß man die heiligsten Wahrheiten, die Gott seiner Kirche eingegeben hat, nicht sol-

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cherart verfälschen darf und daß es heißt, sie ganz niederträchtig und schimpflich zu mißbrauchen, wenn man behauptet, daß das Konzil, das diese Häresien über die absolute Möglichkeit und die absolute Unmöglichkeit der Gebote widerlegen mußte, dieses Vermögen gegen die einen und dieses Unvermögen gegen die anderen in Fällen begründet habe, die niemals eintreten würden. Denn wäre es nicht weitaus angemessener und nützlicher gewesen usw. Doch wenn das Wort möglich einen derart weiten Sinn hat, so hat das Wort Fähigkeit keinen weniger umfassenden Sinn ; denn ist es nicht offensichtlich, daß – weil man ja von einer Sache sagt, sie stehe in unserem Vermögen, wenn sie getan wird, sobald wir es wollen, und wenn sie nicht getan wird, sobald wir es nicht wollen – nichts so sehr in unserem Vermögen steht wie unser eigener Wille ? Und in diesem Sinne trifft es zu, daß alle Menschen die Fähigkeit haben, die Gebote zu erfüllen, weil es ja sicher ist, daß man, um sie zu halten, es nur wollen muß : si vis, conservabis mandata.180 Und das ließ den heiligen Augustinus sagen, daß alle Menschen, wenn sie es wollen, sich von der Liebe zu den weltlichen Dingen lösen und zur Beobachtung der Gebote Gottes bekehren können, ohne daß die Pelagianer behaupten dürften, dies sei im Sinne ihrer Lehren gemeint. Denn, so sagt dieser Kirchenvater, es ist wahr, daß die Menschen es können, wenn sie es wollen, aber dieser Wille wird vom Herrn vorbereitet.181 Und das ließ ihn an anderer Stelle sagen, es stehe im Vermögen des Menschen, seinen Willen zu ändern und zu läutern, ohne daß dies die von ihm verkündete Gnade beeinträchtigte, weil er erklärt, daß dieses Vermögen nicht vorhanden ist, wenn es nicht von Gott gegeben wird : Denn, so erläutert er, da man

180 181

»Wenn du willst, so halte die Gebote« (nach : Mt 19, 17). Augustinus : Retractationes 1, 10, 2.

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von einer Sache sagt, sie stehe in unserem Vermögen, wenn wir sie tun, sobald wir es wollen, steht nichts so sehr in unserem Vermögen wie unser eigener Wille ; der Wille aber wird vom Herrn vorbereitet, auf diese Weise gibt er also das entsprechende Vermögen. In diesem Sinne muß man auffassen, erläutert dieser heilige Kirchenlehrer weiter, was ich an anderer Stelle gesagt habe : Es steht in unserem Vermögen, die Wirkungen der Barmherzigkeit oder des Zorns Gottes verdient zu empfangen, denn in unserem Vermögen steht nur etwas, was unserem Willen folgt, dem, sobald Gott ihn stark und mächtig vorbereitet, eben jene fromme Tat leicht wird, die zuvor schwer, ja sogar unmöglich war.182 Es ist also ganz offensichtlich, daß, wenn man das Wort Fähigkeit in diesem Sinne auffaßt, alle Menschen die Fähigkeit haben, die Gebote zu erfüllen. Und gleichwohl trifft es in einem anderen Sinne zu, daß diejenigen, die hierüber nicht unterrichtet sind, wie etwa die Ungläubigen, nicht die Fähigkeit haben, die Gebote zu erfüllen, weil sie ihnen ja unbekannt sind. Denn wie sollen sie sich einer Pfl icht unterziehen, von der sie nicht wissen, daß sie ihnen auferlegt ist ? Oder wie sollen sie jenen anrufen, an den sie nicht glauben ? Oder wie sollen sie auch an jenen glauben, von dem sie nicht gehört haben ? Oder wie sollen sie überhaupt von jenem hören, ohne daß sie einen Prediger haben ? Und das ließ den heiligen Augustinus sagen : Es ist notwendig und unvermeidlich, daß, wer die Gerechtigkeit nicht kennt, sie übertritt. – »Necesse est ut peccet a quo ignoratur justitia.«183 Und an anderer Stelle : Man kann wohl einem Menschen sagen : Du würdest bei den Dingen beharren, die du gelernt und befolgt hast, wenn du es wolltest ; aber man kann keinesfalls sagen : Du würdest,

Augustinus : Retractationes 1, 22, 4. Augustinus : Contra Julianum opus imperfectum 1, 106. Zitiert in Lettres provinciales 4, dt. Pascal : Briefe in die Provinz : Les Provinciales. Heidelberg 1990 (Werke. 3), S. 64 (mit irrtümlicher Quellenangabe). 182 183

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wenn du es wolltest, die Dinge glauben, von denen du überhaupt nicht gehört hast.184 Hieraus ersieht man, daß die Christen, die über das Gesetz Gottes unterrichtet sind, durch diese Kenntnis die Fähigkeit haben, es zu erfüllen, die ihnen nicht mit jenen gemeinsam ist, denen eine derartige Kenntnis fehlt, und da die Christen den Willen ihres Herrn kennen, hängt es nur noch von ihrem Einverständnis ab, ihm zu gehorchen. Doch man kann mit noch mehr Grund von den Gerechten sagen, daß sie immer die Fähigkeit haben, die Gebote zu halten ; da ihr Wille ja aus den Banden gelöst ist, die ihn gefangenhielten, und da er von seinem langen Siechtum geheilt wurde (obgleich ihm hiervon eine gewisse Schwachheit geblieben ist, die nicht verhindert, daß man mit den Kirchenvätern sagen kann, daß er frei, gesund und stark ist), zeigt es sich offensichtlich, daß sie die Fähigkeit haben, die Gebote zu halten, und diese haben sie nicht mit jenen gemeinsam, die, da sie der Liebe zu den Geschöpfen unterworfen sind, im Widerspruch zu Gott stehen und von Leidenschaften beherrscht werden, die sie daran hindern, sein Gesetz zu befolgen und zu halten. Denn ebenso, wie man sagt, daß ein Auge die Fähigkeit des Sehens habe, wenn kein inneres Unvermögen diese Tätigkeit verhindere, kann man auch wahrheitsgemäß über den Willen des Menschen sagen, wenn er von den Leidenschaften gelöst ist, die ihn zuvor beherrschten, daß er dann die Fähigkeit habe, Gott zu lieben. Zwar braucht er immer noch den Beistand der Gnade, so gesund er auch sein mag, denn, wie der heilige Augustinus sagt, wie das Auge, obgleich es vollkommen gesund ist, nicht sehen kann, wenn es nicht vom Licht unterstützt wird, ebenso kann der Mensch, obgleich er vollkommen gerechtfertigt ist, kein frommes Leben führen, wenn er nicht den göttlichen Beistand des ewigen Lichtes der Gerechtigkeit erhält.185

184 185

Augustinus : De correptione et gratia 11. Augustinus : De natura et gratia 29.

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Und wie man dennoch weiter sagt, daß das Auge, wenn es gesund ist, die Fähigkeit des Sehens habe, indem man nur dieses Vermögen an sich betrachtet, weil das Auge nicht größere Gesundheit, sondern lediglich äußeres Licht zum Sehen braucht, ebenso kann man von der Seele sagen, wenn sie gerechtfertigt ist, daß sie die Fähigkeit habe, Gott zu lieben, indem man sie nur an sich betrachtet, weil, wie der heilige Thomas erklärt, sie nicht größere Gerechtigkeit braucht, um Gott zu lieben, sondern allein augenblickliche Gnadenmittel.186 Doch es ist notwendig, daß diese augenblicklichen Gnadenmittel so beschaffen sind, daß das Wohlgefallen an der christlichen Liebe jenes an der Sünde übertrifft, da sonst das schlechte Wohlgefallen unbezwungen fortbesteht und immer jenen in Versuchung führt, den es in Knechtschaft hält, weil man jenem unterworfen ist, von dem man besiegt wurde,187 denn 188 gewiß werden wir stets besiegt, wenn wir keine solche Hilfe von Gott erhalten, daß wir nicht allein unsere Pflicht erkennen, sondern daß auch die nunmehr geheilte Seele in uns das Wohlgefallen an den Dingen besiegt und übertrifft, denn das Verlangen, sie zu besitzen, oder die Furcht, sie zu verlieren, läßt uns ja sündigen (Aug., lib. I , Oper. Imperf. ). Und gleichwohl kann man von jenem sagen, der den Beistand der Gnade erhält, obgleich dieser ihm weniger zuteil wird, als notwendig ist, um zu bewirken, daß er vollkommen auf dem Weg Gottes wandelt, daß er eine Fähigkeit habe, die er nicht besäße, wenn er jeden Beistandes beraubt wäre, weil er näher daran ist, den ihm notwendigen Beistand ganz zu haben, sobald er ihn teilweise hat, als wenn er überhaupt keinen Beistand hätte ; und man kann sogar sagen, daß dieser Beistand, der unvollkommen oder in der Versuchung, bei der man ihn zu

186 187

Thomas von Aquin : Summa theologiae I a II ae q. 109, a. 9, resp. Ungenau nach Augustinus : Contra Julianum opus imperfectum

1, 107. Ab hier wohl nach Augustinus : Enchiridion De fi de, spe et caritate 81. 188

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berücksichtigen hat, zu schwach sei, stark genug werde, wenn die Versuchung abnehmen sollte, und daß er dann tatsächlich dessen Sieg über die Versuchung bewirken werde, was nicht zutreffen würde, wenn er keinen Beistand hätte. Ebenso, wie man von einem Menschen sagen kann, dessen Augen von einer Krankheit geschwächt sind und viel Licht benötigen, daß, selbst wenn ein kleines Licht ihm nicht die ganze Sehkraft gebe, es ihm dennoch in einer gewissen Art oder einem gewissen Grad eine Fähigkeit gebe, die er nicht hätte, wenn er sich im Dunkeln befände, weil er näher daran ist, die ganze ihm in diesem Zustand notwendige Fähigkeit zu haben, und weil sogar, wenn sich seine Gesundheit kräftigt, dieses Licht stark genug wird, um ihm dann die vollkommene Fähigkeit des Sehens zu geben. Dies sind alle einzelnen Gesichtspunkte, unter denen man die verschiedenen Fähigkeiten, die alle wahr sind, betrachten kann, obgleich die einzige Fähigkeit, die ganz, vollständig und vollkommen genannt werden muß und die Tat selbst eingibt, diejenige ist, der nichts zum Handeln fehlt. Folglich kann man mit vollem Recht von jenen sagen, denen ein gewisser Beistand fehlt, ohne den sie gewiß niemals eine Tat vollbringen werden, daß sie in diesem Sinne nicht die Fähigkeit haben, die Tat zu vollbringen. So kann man wahrheitsgemäß sagen, daß ein Mensch im Dunkeln nicht die Fähigkeit des Sehens hat, wenn man an die vollständige und höchste Fähigkeit denkt, ohne die man nicht handelt. Und daher trifft es zu, daß ein Mensch, so gerecht er auch sein mag, wenn er nicht von einer ausreichend starken Gnade oder, um die Worte des Konzils zu gebrauchen, von einem besonderen Beistand Gottes 189 unterstützt wird, demselben Konzil zufolge nicht die Fähigkeit des Beharrens hat, selbst wenn er nämlich die Fähigkeit in den einzelnen erklärten Bedeutun-

189

DH 1572.

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gen hat, so hat er gleichwohl hierzu nicht die ganze und vollständige Fähigkeit, die nichts mehr von Gott braucht, um zu handeln : Und darum verbietet das Konzil bei Strafe des Bannfluchs, daß man sagt, er habe die entsprechende Fähigkeit.

III

(Erste Abteilung.) Über den wahren Sinn dieser Worte der heiligen Kirchenväter und des Konzils von Trient : Die Gebote sind den Gerechten nicht unmöglich Nachdem man ganz eindeutig nachgewiesen hat, daß der wahre Sinn des Tridentinischen Konzils in bezug auf die Möglichkeit, die Gebote zu halten, darin besteht, daß sie mit der Gnade möglich und ohne die Gnade unmöglich sind und daß der Beistand der Gnade, der sie mit dieser vollkommenen und höchsten Fähigkeit ermöglicht, die nichts mehr von Gott braucht, um zu handeln, den Gerechten gegenwärtig oder nicht gegenwärtig ist, so wie es Gott gefällt, der ihn niemandem schuldet, ihn nach den unerforschlichen Gesetzen seiner Weisheit zu geben oder zu entziehen, wird es zweifellos seltsam scheinen, wenn man hier sieht, wie diese besondere Frage der Bedeutung einer einzigen für sich genommenen Textstelle, daß den Gerechten die Gebote nicht unmöglich sind,190 behandelt wird, die von selbst überaus offenkundig ist, weil sie einfach bedeutet, daß es nicht unmöglich ist, daß die Gerechten die Gebote erfüllen, denn es ist nicht unmöglich, wie es die Lutheraner behauptet haben, daß Gott den Gerechten die entsprechende Fähigkeit gibt. Zu dieser Erläuterung zwingt indes der Widerstand, mit dem jene sich gegen die Wahrheit stellen, die in dieser falschen Lehre befangen sind, daß Gott den Gerechten immer den not-

190

Vgl. DH 1568.

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wendigen Beistand gebe und daß dieser nichts mehr von Gott brauche, um die Gebote zu erfüllen, und die diese Lehre als die des Konzils und der Kirchenväter ausgeben wollen, wobei sie als einzigen Grund anführen, daß die Kirchenväter und das Konzil gesagt haben, die Gebote seien den Gerechten nicht unmöglich. Um diesen einzigen Anhaltspunkt für ihre Ansicht zu widerlegen, muß man die näheren Umstände der Frage und die Mittel eindeutig erklären, die zu ihrer Lösung benutzt werden.

Zweite Abteilung. Über die Absicht des Tridentinischen Konzils und der heiligen Kirchenväter bei dieser Entscheidung : daß den Gerechten die Gebote nicht unmöglich sind Die Absicht des Tridentinischen Konzils bei dieser Entscheidung läßt sich nicht bezweifeln. Man weiß gut genug, daß die Kirche sich damals gegen Luther zusammengefunden hatte und in dieser sechsten Sitzung gegen seine Irrmeinung über die Rechtfertigung vorging, daß sie im 11. Kapitel 191 das Ziel verfolgte, diese beiden Irrlehren zu bekämpfen : Daß die Gerechten von der Beobachtung der Gebote befreit seien und diese andere, die deren Grundlage war : Daß den Gerechten die Gebote unmöglich seien. Da dem so ist, wäre es unnötig, hierfür Beweise anzuführen, und lächerlich, solche zu verlangen, denn die Sache ist ja von selbst klar, wie es die ersten Zeilen dieses Kapitels bezeugen : Niemand, so gerechtfertigt er auch sein mag, darf annehmen, ihm sei die Beobachtung der Gebote erlassen, und diese Zeilen machen eine derartige angebliche Befreiung von den Geboten hinfällig ; und um ihr die Grundlage zu entziehen, die in der angeblichen Unmöglichkeit besteht, die Gebote zu halten, fügt es unmittelbar danach hinzu : Niemand darf diese von den heiligen

191

DH 1536 – 1539.

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Kirchenvätern verurteilte These vorbringen, daß die Gebote unmöglich seien usw. Dieser Sachverhalt ist von selbst so offenkundig, daß usw.

IV

Erklärung dieser Stelle im 11. Kapitel der sechsten Sitzung : Daß die Gebote den Gerechten nicht unmöglich sind Der Sinn dieser Worte – Daß die Gebote den Gerechten nicht unmöglich sind – ist derart eindeutig, daß es seltsam scheint, wenn man ihn besonders erläutern will. Man erkennt ja klar genug, daß er bedeutet : Es ist den Gerechten nicht unmöglich, daß sie die Gebote halten, das heißt, es ist nicht unmöglich, daß die Gerechten gute Werke tun, um es mit anderen Worten zu sagen, wie es dasselbe Konzil in demselben Kapitel tut. Da sich jedoch heute Leute fi nden, die diesen ganz natürlichen und wahrhaft ursprünglichen Sinn ablehnen und ihn durch den folgenden ersetzen : daß die Gebote immer allen Gerechten dank jener unmittelbaren Fähigkeit möglich seien, die nichts mehr von Gott brauche, um zu handeln, wobei sie der Entscheidung des Konzils entweder das Wort immer hinzusetzen, wie es die meisten tun, oder den Sinn dieses Wortes, wie sie es alle tun – ist es angebracht, ihnen begreiflich zu machen, daß man damit den Sinn dieser These verfälscht, indem man nicht nur gegen die Grammatikregeln, sondern auch gegen die Absicht des Konzils und gegen die Erklärung verstößt, die es hierfür an derselben Stelle gibt, der diese Worte entnommen sind. Beim ersten Punkt, daß diese Auslegung gegen die Grammatikregeln verstößt, ist der Sachverhalt offenkundig. Denn es gibt einen großen Unterschied zwischen der Aussage, daß die Gebote nicht unmöglich sind, und derjenigen, daß sie dank einer derartigen vollkommenen und höchsten Fähigkeit immer möglich sind, was so eindeutig ist, daß eigentlich keine Notwendigkeit besteht, es mit diesem Beispiel zu beweisen : Es ist

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nicht unmöglich, daß die Menschen hundert Jahre leben, und gleichwohl steht es nicht in der vollständigen und vollkommenen Fähigkeit des Menschen, dieses Alter zu erreichen … Der Stelle aus dem 11. Kapitel – Die Gebote sind den Gerechten nicht unmöglich – geben sie den folgenden Sinn : Die Gebote seien den Gerechten dank jener vollkommenen und höchsten Fähigkeit, um die es gehe, immer möglich – als wäre es notwendig, daß alles, was nicht unmöglich ist, immer möglich sein müßte. Statt dessen ist der wahre und einzige Sinn dieser Stelle : daß die Gebote den Gerechten nicht unmöglich sind, sobald sie den Beistand der Gnade erhalten, wie das Konzil es an allen anderen Stellen erklärt : Das heißt, um unzweideutige Worte zu gebrauchen, die Gerechten können, wenn ihnen dieser Beistand zuteil wird, gute und sündenfreie Taten vollbringen. Auch die weiteren Ausführungen zeigen, daß dieser letzte Sinn der wahre ist, wie es sich aus allen folgenden Beweisen ergibt : Erstens aus der Absicht des Konzils bei dieser Entscheidung, die einfach darin bestand, die Häresie Luthers zu widerlegen, und diese widersprach allein dem letztgenannten Sinn. Zweitens aus den Beweisen, die das Konzil hierfür gibt und die nur im letztgenannten Sinn stichhaltig sind. Drittens aus der Schlußfolgerung, die es hieraus zieht und die nur diesen Sinn allein in eindeutigen Worten ausdrückt. Viertens aus den Canones, die es hieraus bildet und die nur diesen Sinn allein ausdrücken. Fünftens aus denselben Canones, die den erstgenannten Sinn ausschließen und mit dem Bannfluch belegen. Hiernach zweifle ich, daß man bezweifeln kann, daß es sich hier um den einzigen Sinn handelt, der dem Konzil entspricht. Alles, was ich sage, zeigt sich nun beim bloßen Lesen dieses 11. Kapitels 192 und der Canones 18, 21 und 25.193 Denn daß

192 193

DH 1536 – 1539. DH 1568, 1571 und 1575.

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das Konzil die Absicht hatte, gegen diese verderbliche Lehre Luthers aufzutreten, daß die Gerechten von den Geboten befreit seien, ergibt sich aus den ersten Worten dieses Kapitels : Niemand darf annehmen, ihm sei die Beobachtung der Gebote erlassen, so gerechtfertigt er auch sein mag. Und um den Ursprung dieser Irrlehre zu widerlegen, der in der angeblich unüberwindlichen Unmöglichkeit bestand, die Gebote mit der Gnade zu erfüllen und gute Werke zu tun, fährt das Konzil mit diesen Worten fort : Niemand darf diese von den Kirchenvätern mit dem Bannfluch belegte These vorbringen, daß die Beobachtung der Gebote unmöglich sei. Da nur die Lutheraner die absolute Unmöglichkeit der Gebote vertreten, ist diese Entscheidung nur gegen sie und nicht gegen die folgende These gerichtet, daß die Gebote den Gerechten, die nicht die Gnade haben, unmöglich sind. Denn das Konzil begründet sie ja selbst und belegt diejenigen mit dem Bannfluch, die sich nicht zu ihr bekennen. Das Konzil versteht unter dieser Aussage also nicht, daß die Gebote dank jener höchsten und vollkommenen Fähigkeit immer möglich seien, denn es trifft nicht nur an anderer Stelle eine gegenteilige Entscheidung, sondern diese Frage wurde an dieser Stelle auch gar nicht behandelt. Man dachte nicht an Häretiker, die behaupten, die Gebote seien manchmal unmöglich, denen man mit dieser entgegengesetzten These widersprechen müßte, daß die Gebote immer möglich seien, sondern allein an jene, die versicherten, die Gebote seien absolut unmöglich ; und gegen sie entscheidet das Konzil einfach, daß die christliche Liebe und die augenblickliche Gnade die Gebote möglich machen können. Und gerade das drückt es mit diesen Worten aus : Die Gebote sind nicht unmöglich. Und dies beweist es folgendermaßen : Denn Gott gebietet keine unmöglichen Dinge. Diese Begründung zeigt deutlich, daß die Gebote nicht absolut unmöglich sind, aber sie zeigt nicht, daß die Gerechten immer allen notwendigen Beistand haben, um die Gebote zu erfüllen. Denn es genügt, daß die Gnade sie möglich machen kann, um zu bewirken, daß Gott nicht ungerecht ist, wenn er

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sie auferlegt, weil man nur bei ihm seine Zuflucht suchen muß, um die entsprechende Fähigkeit zu erlangen. Daher zweifelt man nicht, daß diejenigen, die das Maß ihrer Sünden vollgemacht haben, der Gnade beraubt sind. Und dennoch verpfl ichten die Gebote sie auch in diesem Zustand weiter, obgleich sie ihnen nicht mit dieser vollkommenen Fähigkeit, um die es geht, möglich sind. Und darum fährt das Konzil folgendermaßen fort : Doch indem Gott sie auferlegt, unterrichtet er, daß man tun soll, was man kann, und erbitten soll, was man nicht kann. Also gebietet er manchmal, was man noch nicht kann. Und er hilft, damit man es kann. Also gibt er jenen, die es erbitten, den Beistand, den sie nicht hatten, als sie das Gebot empfangen haben. Und seine Gebote sind nicht schwer, denn jene, die Kinder Gottes sind, lieben Jesus Christus ; und jene, die ihn lieben, halten sein Wort.194 Was bezeichnen denn all diese Beweise anderes, als daß jene, welche die augenblickliche göttliche Liebe haben, die Gebote erfüllen können ? Damit man nicht annimmt, dies sei der andauernden christlichen Liebe zu verdanken, fügt das Konzil nämlich unmittelbar nach diesen Schriftworten die folgende Erklärung hinzu : Was sie allerdings durch den Beistand Gottes erfüllen können. Hierdurch verbindet es mit der heiligenden Gnade, welche die Menschen zu Kindern Gottes macht, den augenblicklichen Beistand, um ihnen die Fähigkeit zu geben, die Gebote zu erfüllen. Wer bezweifelt also, daß das Konzil nichts anderes gemeint hat, als daß die Gebote den Gerechten möglich sind, vorausgesetzt, daß Gott ihnen beisteht, was nur von den Lutheranern allein bestritten wird, die es damals auch allein zu bekämpfen hatte ? Hierauf erklärt das Konzil, daß die Gerechten nicht immer frei von läßlichen Sünden sind, daß diese indes nicht die Gerechtigkeit zerstören. Und nachdem es mehrere Schriftstel-

194

Nach 1 Joh 5, 2– 3.

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len angeführt hat, die zeigen, daß es nicht unmöglich ist, daß die von der Gnade unterstützten Heiligen die Gebote erfüllen, kommt es zu diesem Schluß : Hieraus ergibt sich notwendig – unde constat –, daß jene der Glaubenswahrheit widersprechen, die behaupten, daß die Gerechten in allen ihren Taten sündigen. Auf dieser Grundlage kann man unschwer urteilen, weil das Konzil ja gemeint hat, es habe mit diesen Worten – Also sündigen die Gerechten nicht in allen ihren Taten – die Schlußfolgerung aus seiner vorherigen These gezogen – Die Gebote sind den Gerechten nicht unmöglich –, daß es hierunter nichts anderes verstanden hatte, als daß es nicht unmöglich ist, daß sie manchmal die Gebote halten, und nicht, daß die Gerechten immer die Fähigkeit haben, sie zu halten ; sonst hätte es ja seine These nicht bewiesen und auch keine Schlußfolgerung aus ihr gezogen. Denn es ist durchaus ein und dasselbe, wenn man sagt, daß man nicht immer sündige und daß es möglich sei, manchmal die Gebote zu erfüllen ; doch es ist etwas ganz anderes, wenn man sagt, daß man nicht immer sündige, und wenn man sagt, daß man immer die Fähigkeit habe, die Gebote zu erfüllen ; und dieser Unterschied läßt sich nicht bestreiten. Die drei folgenden Canones, die diese Lehre zusammenfassen, erläutern sie schließlich vollständig, da sie nicht allein erklären, daß die Gebote den Gerechten nur mit der Gnade möglich sind, sondern daß sie auch nur mit diesem besonderen Beistand möglich sind. Canon 18.195 Wer sagt, die Gebote seien auch für einen gerechtfertigten und unter der Gnade stehenden Menschen unmöglich zu beobachten : der sei mit dem Anathema belegt. Canon 22.196 Wer sagt, der Gerechtfertigte könne ohne die besondere Hilfe Gottes in der empfangenen Gerechtigkeit verharren, oder er könne [es] mit ihr nicht : der sei mit dem Anathema belegt.

195

DH 1568.

196

Statt fälschlich 21. DH 1572.

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Canon 25.197 Wer sagt, der Gerechte sündige in jedem guten Werke wenigstens verzeihlich oder (was noch unerträglicher ist) tödlich, und verdiene deswegen ewige Strafen ; und er werde nur deshalb nicht verurteilt, weil Gott diese Werke nicht zur Verurteilung anrechnet ; der sei mit dem Anathema belegt. Hieraus ersieht man nicht allein, daß diese Worte – Daß die Gebote den Gerechten nicht unmöglich sind – auf die folgende Bedingung eingeschränkt sind : wenn sie den Beistand der Gnade erhalten, und daß sie nur die gleiche Beweiskraft wie diese anderen Worte haben : Daß die Gerechten nicht in allen ihren Taten sündigen, daß schließlich die unmittelbare Fähigkeit bei weitem nicht allen Gerechten zuteil wird, daß es verboten ist, sie jenen zuzuschreiben, die nicht von diesem besonderen Beistand unterstützt werden, der nicht allen gemeinsam ist, wie es erklärt wurde. Der heilige Augustinus und die Kirchenväter, die ihm gefolgt sind, haben von den Geboten immer nur so gesprochen, daß sie der christlichen Liebe nicht unmöglich seien und daß sie uns nur erteilt würden, um uns begreiflich zu machen, daß wir die christliche Liebe brauchen, die allein die Gebote erfülle. (Aug., De nat. et grat., c. LXIX , und de Perfectione justit., c. V. ) Gott, der gerecht und gut ist, konnte keine unmöglichen Dinge gebieten ; dies unterrichtet uns, das zu tun, was leicht ist, und das zu erbitten, was schwierig ist. Denn der christlichen Liebe sind alle Dinge leicht.198 Und an anderer Stelle : Wer weiß nicht, daß das, was aus Liebe getan wird, nicht schwer ist ? Jene empfinden Mühe, die Gebote zu erfüllen, die aus Furcht danach trachten, sie zu halten ; die vollkommene christliche Liebe aber vertreibt die Furcht und macht das Joch des Gebotes sanft ; und sie drückt uns mit ihrer Last durchaus nicht zu Boden, vielmehr hebt sie empor, als gebe sie uns Flügel. Und diese christliche Liebe kommt nicht aus unserem freien

197

DH 1575.

198

Augustinus : De natura et gratia 83.

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Willen, wenn die Gnade Jesu Christi uns nicht beisteht, weil sie nicht von uns selbst, sondern vom Heiligen Geist unserem Herzen eingegossen und eingegeben wird. Und die Heilige Schrift unterrichtet uns, daß die Gebote nicht schwierig sind, und das aus dem einzigen Grunde, damit die Seele, die sie als schwer empfi ndet, versteht, daß sie noch nicht die Kräfte empfangen hat, durch die es ihr sanft und leicht wird, usw.199 (Fulg., lib. II , De verit. praedest., c. IV.) Wenn uns geboten wird zu wollen, so wird uns bezeichnet, was unsere Pflicht ist : Doch da wir es nicht von selbst können, werden wir unterrichtet, von wem wir es erbitten müssen, und wir können diese Bitte gleichwohl nicht stellen, wenn Gott nicht in uns bewirkt, daß wir es wollen.200 (Prosp., Epist. ad Demetriad.) Die Gebote sind uns nur aus dem einzigen Grunde gegeben, um uns den Beistand desjenigen suchen zu lassen, der uns gebietet, usw. 201 (Aug., De nat. et grat., c. XV und XVI .) Die Pelagianer bilden sich ein, sie sagen etwas Wichtiges, wenn sie behaupten, daß Gott nicht das gebieten würde, wovon er wüßte, daß der Mensch es nicht vollbringen könnte. Wer weiß das nicht ? Aber er gebietet Dinge, die wir nicht tun können, damit wir erkennen, von wem wir es erbitten müssen. 202 (Aug., De corrept. et grat., c. III .) O Mensch, erkenne am Gebot, was du tun mußt, an der Zurechtweisung, daß du es aus eigenem Verschulden nicht tust, und am Gebet, woher du die Fähigkeit hierfür haben kannst. 203 (Aug., De perfect. justit. respon. ad ratiocin., XI , c. V. ) Denn das Gesetz gebietet, damit der Mensch begreift, daß ihm die Kraft fehlt, es zu erfüllen, und sich nicht voll Hochmut überhebt, sondern Augustinus : De perfectione justitiae hominis 21. Fulgentius : De veritate praedestinationis et gratia Dei 2, 4, 6. 201 [Prosper von Aquitanien :] Epistula ad Demetriadem 15. Die Zuschreibung dieser Schrift an Prosper ist unsicher, vgl. LThK 3 8, Sp. 644. 202 In Wirklichkeit Augustinus : De gratia et libero arbitrio 32. 203 Augustinus : De correptione et gratia 5. 199

200

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er mattet und seine Zuflucht bei der Gnade sucht, und damit das Gesetz ihn so in Schrecken hält und ihn zur Liebe Jesu Christi führt. 204 (Aug., De perfect. justit., c. XX .) Der heilige Augustinus führt den folgenden Einwand des Caelestius 205 an : Daß die Gebote nicht unmöglich, sondern im Gegenteil leicht sind, wie es sich am 5. Buch Mose erweist : »Denn der Herr wird sich wenden, daß er sich über dich freue, dir zugut, wie er sich über deine Väter gefreut hat, darum daß du der Stimme des Herrn, deines Gottes, gehorchest, zu halten seine Gebote und Rechte, die geschrieben stehen im Buch dieses Gesetzes, so du dich wirst bekehren zu dem Herrn, deinem Gott, von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu schwer noch zu ferne, noch im Himmel, daß du möchtest sagen : Wer will uns in den Himmel fahren und es uns holen, daß wir’s hören und tun ? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, daß du möchtest sagen : Wer will uns über das Meer fahren und es uns holen ? Denn es ist das Wort gar nahe bei dir, in deinem Munde, daß du es tust, in deinem Herzen und in deinen Händen.« 206 Darum sagt der Herr im Evangelium : »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid ; ich will euch erquicken. Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir ; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig ; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.« 207 So heißt es im Brief des Johannes : »Denn das ist die Liebe zu Gott, daß wir seine Gebote halten ; und seine Gebote sind nicht schwer.« 208 Und hierauf antwortet der heilige Augustinus folgendermaßen : Nachdem wir diese rechtmäßigen, evangelischen und apostolischen Zeugnisse vernommen haben, sollen wir hierdurch um der Gnade willen erbaut sein, die jene nicht verstehen, die, da Augustinus : De perfectione justitiae hominis 11. Der Pelagianer Caelestius (Celestius), in Nordafrika 411/ 412 verurteilt. Vgl. Vgl. LThK 2 8, Sp. 246 – 249, und ausführlich Gerald Bonner : Caelistus. In : AugL 1, Sp. 693 – 698. 206 Dt 30, 9 – 14. 207 Mt 11, 28– 30. 208 1 Joh 5, 3. 204 205

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sie Gottes Gerechtigkeit nicht erkennen und ihre eigene begründen wollen, nicht Gottes Gerechtigkeit unterworfen wurden, wenn sie nämlich nicht verstehen, was im 5. Buch Mose gesagt ist, wie es der Apostel Paulus erklärt hat, damit man von Herzen an die Gerechtigkeit glaubt und es mit dem Munde bekennt, um selig zu werden, 209 weil die Gesunden des Arztes nicht bedürfen, sondern die Kranken. 210 Wenigstens sollen sie sich von dieser Stelle bei dem heiligen Johannes belehren lassen, die er als letzte zitiert hat, daß Gottes Gebote für die Liebe zu Gott, die im Herzen nur vom Heiligen Geist ausgegossen wird, nicht mühsam und schwer sind.211 Es wäre unnötig, hierfür weitere Textstellen anzuführen. Man braucht die Prinzipien dieses Kirchenvaters nur oberflächlich zu kennen, um zu wissen, daß, wenn er sagt, die Gebote seien nicht unmöglich, er es in diesem Sinne versteht, nämlich, daß sie der christlichen Liebe nicht unmöglich sind, die der Heilige Geist im Herzen ausgießen kann : Hingegen behaupteten seine Widersacher, die Gebote seien dem Menschen in diesem anderen Sinne nicht unmöglich, nämlich, daß er immer die Kraft habe, sie zu erfüllen oder im folgenden Augenblick das Mittel hierfür zu erbitten. Ich glaube, das genügt, um Euch zu zeigen, daß das Konzil die Möglichkeit, die Gebote zu halten, in diesem einzigen Sinne begründet hat, daß sie der christlichen Liebe nicht unmöglich sind, weil sich das ja sowohl an den eigenen Worten des Konzils als auch an dem von ihm angeführten Beweis, an seiner Schlußfolgerung und seinen Canones wie ebenso an dem Sinn zeigt, den der heilige Augustinus selbst seinen eigenen Worten gibt, die das Konzil nur in demselben Sinn übernommen hat. Nun muß nur noch geprüft werden, welcher Sinn der des Konzils in bezug auf die Möglichkeit, die Gebote in Zukunft zu halten, ist und welchen Sinn die restlichen Pelagianer dieser Frage geben. 209 210 211

Nach Röm 10, 10. Nach Lk 5, 31. Augustinus : De perfectione justitiae hominis 22.

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Es würde genügen, wenn man hierüber nur das Notwendige sagen wollte, den Canon 22 212 des Konzils zu zitieren, der den Bannfluch gegen jenen ausspricht, der behauptet, der Gerechte könne ohne einen besonderen Beistand Gottes beharren ; doch da ich diesen Gegenstand so behandeln will, daß Ihr fortan nicht mehr den geringsten Zweifel habt, werde ich mich ausführlicher dazu äußern. Erkennt also, daß alle diese Fragen nur ein und dieselbe sind : ob die Gerechten im ersten Augenblick der Gerechtigkeit die unmittelbare Fähigkeit haben, die Gebote im folgenden Augenblick zu erfüllen, ob alle Gerechten im ersten Augenblick ihrer Gerechtigkeit die unmittelbare Fähigkeit haben, in ihr zu beharren (denn es ist ja nur ein und dasselbe, die Gebote in Zukunft zu erfüllen und zu beharren). Die nächste Frage ist auch noch von der gleichen Art : ob die Gerechten, während sie gerecht sind, die Fähigkeit haben, im Gebet und, wenigstens im folgenden Augenblick, im Verlangen danach zu beharren (wenn sie nämlich die Fähigkeit haben, in der Bitte um die Gerechtigkeit zu beharren, so haben sie auch die Fähigkeit, in der Gerechtigkeit selbst zu beharren, weil es nach den Verheißungen des Evangeliums unfehlbar eintrifft, daß sie durch die Gnade erlangen, was sie erbitten, und da das Konzil eine von diesen Thesen mit dem Bannfluch belegt hat, ist es offenkundig, daß dies auch für die andere gilt). Die nächste Frage unterscheidet sich ebensowenig von den vorhergehenden : Ob Gott einen Gerechten niemals ohne die notwendige Gnade läßt, mit der er im folgenden Augenblick beten kann, ohne daß dieser Gerechte zuvor Gott durch irgendeine, zumindest läßliche, Sünde verlassen hat ? Wenn Gott nämlich diese Gnade, im folgenden Augenblick zu beten, den Gerechten niemals verweigert, die noch nicht gesündigt haben, so kann man offenkundig von jedem Gerechten sagen, es stehe in seiner Fähigkeit, im Gebet zu beharren,

212

DH 1572.

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weil Gott ihm ja immer die unmittelbar hinreichende Gnade für das zukünftige Gebet gebe, und demgemäß werde er nach den Verheißungen des Evangeliums immer die Wirkung seines Gebets erlangen. Da die Fähigkeit, im Gebet zu beharren, die Fähigkeit einschließt, in der Gerechtigkeit zu beharren, habe also jeder Gerechte die Fähigkeit, ohne einen besonderen Beistand, jedoch mit einem Beistand, der allen Gerechten gemeinsam sei, in der Gerechtigkeit zu beharren – und dies widerspricht eindeutig dem Konzil. Und man suche sich dem nicht zu entziehen, indem man sagt, es sei aller Wahrscheinlichkeit nach unmöglich, daß der Gerechte ohne läßliche Sünde beharre, und so werde er diese Fähigkeit verlieren, indem er läßlich sündige, und folglich werde er nicht ohne einen besonderen Beistand beharren. Diese Ausflucht ist unnütz, denn das Konzil belegt nicht allein jene mit dem Bannfluch, die behaupten, daß der Gerechte ohne einen besonderen Beistand in der Gerechtigkeit beharre, sondern selbst jene, die behaupten, daß der Gerechte die Fähigkeit habe, ohne einen besonderen Beistand in der Gerechtigkeit zu beharren. Und demzufolge hat das Konzil auch diese letzte These mit dem Bannfluch belegt. Ziehen wir daher aus diesen so heiligen Entscheidungen den Schluß : daß Gott in seiner Barmherzigkeit den Gerechten die vollständige und vollkommene Fähigkeit gibt, die Gebote zu erfüllen, wenn es ihm gefällt, und daß er sie durch ein gerechtes, wenn auch verborgenes Urteil nicht immer gibt. Lernen wir aus dieser so reinen Lehre, jeweils beides gemeinsam zu verteidigen : die Macht der Natur gegen die Lutheraner und die Ohnmacht der Natur gegen die Pelagianer ; die Kraft der Gnade gegen die Lutheraner und die Notwendigkeit der Gnade gegen die Pelagianer, ohne durch die Gnade den freien Willen zunichte zu machen, wie es die Lutheraner tun, und ohne durch den freien Willen die Gnade zunichte zu machen, wie es die Pelagianer tun. Und denken wir nicht, es genüge, eine von diesen Irrlehren zu meiden, um in der Wahrheit zu wandeln.

Über die Bekehrung des Sünders (1657)

Das erste, was Gott der Seele eingibt, die er in seiner Güte wahrhaft rühren will, sind ein Wissen und eine ganz außerordentliche Sicht, die bewirken, daß die Seele die Dinge und sich selbst auf eine vollkommen neue Weise betrachtet. Dieses neue Licht1 läßt sie in Angst geraten und stürzt sie in eine solche Verwirrung, daß die Ruhe zunichte gemacht wird, die sie bei den Dingen fand, an denen sie ihre Wonne hatte. Sie kann nicht mehr sorglos die Dinge genießen, die sie entzückt hatten. Ein unaufhörlicher Zweifel bedrängt sie, wenn sie sich diesem Genuß hingeben will, und jene innere Einsicht läßt sie nicht mehr das gewohnte Wohlgefallen bei den Dingen fi nden, denen sie sich von ganzem Herzen ergab. Aber in den Andachtsübungen fi ndet sie noch mehr Bitternis als in den Eitelkeiten der Welt. Zum einen berührt die Gegenwart der sichtbaren Dinge sie stärker als die Hoffnung auf die unsichtbaren, und zum anderen berührt die Beständigkeit der unsichtbaren Dinge sie stärker als die Eitelkeit der sichtbaren. Und so machen die Gegenwart dieser und die Beständigkeit jener Dinge sich die Zuneigung der Seele streitig ; und die Eitelkeit dieser und die Abwesenheit jener Dinge erregen die Abneigung der Seele, so daß in ihr eine derartige Unordnung und Verwirrung entstehen, daß … Sie betrachtet die vergänglichen Dinge als vergehend und sogar als schon vergangen ; und während sie zuverlässig erkennt, daß alles vernichtet wird, was sie liebt, gerät sie bei dieser Betrachtung in Schrecken,2 da sie ja sieht, daß jeder AugenDie Lichtmetaphorik läßt an das »Mémorial« denken (Laf. 913). Zum »Visuellen« bei Pascal vgl. auch Hans Urs von Balthasar : Die Augen Pascals. In : Ders.: Homo creatus est. Einsiedeln 1986 (Skizzen zur Theologie. 5), S. 61– 77. Zu »Über die Bekehrung des Sünders« S. 70. 2 Vgl. Laf. 199 : »Wer sich auf diese Art betrachtet, wird über sich selbst erschrecken«. 1

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blick ihr den Genuß ihres Gutes entreißt und daß fortwährend dahinschwindet, was ihr am teuersten ist,3 daß schließlich der Tag gewiß kommen wird, an dem sie aller Dinge beraubt ist, auf die sie ihre Hoffnung gesetzt hatte … So begreift die Seele nun vollkommen, weil das Herz sich nur an unbeständige und eitle Dinge gehängt hatte, daß sie einsam und allein bleiben muß, wenn sie dieses Leben verläßt, da sie sich nicht bemüht hatte, sich einem wahrhaftigen und von selbst weiterbestehenden Gut anzuschließen,4 das ihr in und nach diesem Leben einen Halt geben konnte. Daher kommt es, daß sie nun alles als ein Nichts betrachtet, was ins Nichts zurückkehren muß : den Himmel, die Erde, ihren Geist, ihren Leib, Eltern, Freunde, Feinde, die Güter, die Armut, Unglück, Wohlergehen, Ehre, Schande, Achtung, Geringschätzung, Ansehen, Not, Gesundheit, Krankheit und das Leben selbst ; schließlich erweist sich alles, was von geringerer Dauer als die Seele sein muß, als ungeeignet, das Verlangen dieser Seele zu befriedigen, die ernsthaft danach strebt, sich ein Glück zu sichern, das ebenso dauerhaft wie sie selbst ist. Sie erstaunt jetzt über die Verblendung, in der sie bisher gelebt hatte. Und wenn sie zum einen bedenkt, wie lange sie ohne diese Überlegungen gelebt hat und wie viele Menschen immer noch auf diese Weise leben, und zum anderen, wie sicher es ist, daß die Seele, die nun einmal unsterblich ist, ihr Glück nicht bei vergänglichen Dingen fi nden kann, die ihr spätestens mit dem Tode genommen werden, so gerät sie in eine heilige Verwirrung und ein Erstaunen, das bei ihr eine sehr wohltätige Aufregung hervorruft.

Vgl. Laf. 757 : »Das Dahinschwinden. – Es ist etwas Schreckliches, wenn man wahrnimmt, wie alles dahinschwindet, was man besitzt«. 4 Vgl. in den Pensées den Abschnitt I , 10 : »Das höchste Gut«, Laf. 147 f. 3

Über die Bekehrung des Sünders

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Denn sie bedenkt, so groß die Zahl derer auch sein mag, die den Grundsätzen der Welt bis ins Alter folgen, und welches Ansehen auch die vielen Beispiele solcher Menschen haben können, die in der Welt die Grundlage ihres Glücks sehen, daß, selbst wenn die Dinge dieser Welt irgendeine beständige Freude enthielten, was ohnehin unendlich viele, überaus unglückliche und fortwährende Erfahrungen als falsch erwiesen haben, gleichwohl der Verlust dieser Dinge oder endlich der Tod uns sicher und unvermeidlich ihrer berauben wird. Wenn die Seele sich daher einen wie auch immer gearteten Schatz von zeitlichen Gütern gesammelt hat, sei das Gold, Wissen oder Ruhm, so ist es unbedingt notwendig, daß sie sich um all diese Gegenstände ihres Glücks gebracht sieht ; und wenn diese also etwas hatten, womit sie die Seele zufriedenstellen konnten, werden sie doch nichts haben, womit sie die Seele immer zufriedenstellen können ; und wenn der Besitz dieser Gegenstände durchaus bedeutet, sich ein wahrhaftiges Glück zu verschaffen, so bedeutet er nicht, sich ein dauerhaftes Glück zu verschaffen, da es ja auf die Zeit dieses Lebens beschränkt sein muß.5 Dank einer heiligen Demut, die Gott über den Hochmut stellt, beginnt also die Seele, sich über den großen Haufen der Menschen zu erheben. Sie verurteilt seinen Lebenswandel, sie verabscheut seine Grundsätze, sie beweint seine Verblendung. Sie macht sich auf die Suche nach dem wahrhaftigen Gut. Sie versteht, daß es diese zwei Eigenschaften haben muß : zum einen, daß es eine ebensolche Dauer wie sie selbst hat und daß es ihr nur mit ihrem Einverständnis genommen werden kann, zum anderen, daß es nichts Liebenswerteres gibt.6 Sie begreift, daß sie so verblendet war, durch die Liebe, die sie zur Welt hatte, diese zweite Eigenschaft gerade in der Welt

Vgl. das Fragment der »Wette«, Laf. 418. Vgl. Augustinus : De moribus ecclesiae 1, 3 – 4 (Augustinus : Opera = Werke. Bd. 25. Paderborn 2004, S. 46 – 49). 5

6

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zu fi nden, denn sie kannte nichts Liebenswerteres ; da sie aber in der Welt nicht die erstgenannte Eigenschaft entdeckt, sieht sie ein, daß die Welt nicht das höchste Gut ist. Sie sucht es also anderswo, und da sie durch eine ganz reine Erleuchtung erkennt, daß es nicht bei den Dingen in ihr selbst zu fi nden ist und ebensowenig außerhalb von ihr oder in ihrer Nähe, beginnt sie, es oberhalb von sich selbst zu suchen. Dieser Aufschwung 7 reicht so weit und strebt so sehr über sich selbst hinaus, daß die Seele nicht beim Himmel – er hat nichts, womit er sie zufriedenstellen kann – und ebensowenig über dem Himmel oder bei den Engeln oder selbst bei den voll kommensten Wesen stehenbleibt. Sie dringt durch alle Geschöpfe, und das Herz ruht nicht eher, bis sie zu Gottes Thron gelangt ist, wo sie nun ihren Frieden und jenes Gut fi ndet, das so beschaffen ist, daß es nichts Liebenswerteres gibt und daß es ihr nur mit ihrem Einverständnis genommen werden kann.8 Wenn sie nämlich auch jenes Entzücken nicht verspürt, mit dem Gott die zur Gewohnheit gewordene Frömmigkeit belohnt, so begreift sie doch, daß die Geschöpfe nicht liebenswerter als der Schöpfer sein können, und ihre vom Licht der Gnade bestärkte Vernunft läßt sie erkennen, daß es nichts Liebenswerteres als Gott gibt und daß er nur denjenigen genommen werden kann, die ihn verwerfen, denn es heißt ihn besitzen, wenn man nach ihm verlangt,9 und es heißt ihn verlieren, wenn man ihn zurückweist.

Vgl. zu diesem augustinischen Gedanken : Goulven M a dec : Ascensio, ascensu. In : AugL 1, Sp. 465 – 475. 8 Vgl. den bekannten Anfang der Confessiones 1, 1 ; dt. : Augustinus : Bekenntnisse. Lat./dt. Wilhelm Thimme [Übers.]. Norbert Fischer [Einf.]. Düsseldorf 2004, S. 9 : »Denn zu dir hin hast du uns geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir« sowie in den Pensées auch Laf. 136 (»Zerstreuung«). 9 Vgl. das »Mysterium Jesu« Laf. 919 : »Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht gefunden hättest.« 7

Über die Bekehrung des Sünders

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Daher freut sie sich, daß sie ein Gut gefunden hat, das ihr so lange nicht geraubt werden kann, wie sie nach ihm verlangt, und das über sich nichts hat. Und diese neuen Überlegungen führen sie zur Erkenntnis der Größe ihres Schöpfers, zu Demütigungen und inniger Anbetung. In seiner Gegenwart wird sie zu einem Nichts, und da sie von sich selbst keine Vorstellung gewinnen kann, die niedrig genug wäre, noch sich von jenem höchsten Gut eine Vorstellung bilden kann, die erhaben genug wäre, unternimmt sie weitere Anstrengungen, um sich bis zu den letzten Abgründen des Nichts zu erniedrigen, wobei sie Gott in Unendlichkeiten betrachtet, die von ihr noch vervielfacht werden ; in diesem Schauen, das ihre Kräfte erschöpft,10 betet sie ihn schließlich still an, sie betrachtet sich selbst als sein elendes und unnützes Geschöpf, und mit ihren zahlreichen Ehrfurchtsbezeigungen betet sie ihn an und preist ihn, und sie möchte ihn fortwährend preisen und anbeten. Hierauf erkennt sie die Gnade, die er ihr erwiesen hat, da er seine unendliche Majestät einem derart armseligen kleinen Wurm 11 offenbarte ; und nachdem sie den festen Entschluß gefaßt hat, dafür ewig dankbar zu sein, gerät sie in Bestürzung, daß sie diesem göttlichen Herrn so viele Eitelkeiten vorgezogen hat, und in zerknirschter und reuiger Geisteshaltung vertraut sie sich seiner Barmherzigkeit an, um seinen Zorn aufzuhalten, dessen mögliche Folgen sie angesichts seiner Unendlichkeit für furchtbar hält … Sie betet inbrünstig zu Gott, damit er ihr in seiner Barmherzigkeit gewährt – wie es ihm gefallen hat, sich ihr zu offenbaren –, daß es ihm auch gefalle, sie zu führen und ihr zu den Vgl. Laf. 199 mit dem Ausdruck »seine Kräfte bei diesen Vorstellungen erschöpft« – bei Betrachtung in diesem Fall des unendlich Kleinen. 11 Vgl. Laf. 131 : »ein schwacher Erdenwurm«. Vgl. sachlich aber auch wieder den Beginn der Confessiones : »aliqua portio creaturae« – »… ein Stücklein … deiner Kreatur« (dt. a. a. O., S. 9). 10

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Mitteln zu verhelfen, um zu ihm zu gelangen. Denn da sie zu Gott strebt, möchte sie ja in ihrem Streben, zu ihm zu gelangen, sich weiterhin nur solcher Mittel bedienen, die von Gott selbst kommen, weil sie will, daß er selbst ihr Weg,12 ihr Ziel und ihr Endzweck sein soll. Diese Gebete haben zur Folge, daß sie zu handeln anfängt und bei jenen sucht … Sie beginnt, Gott zu erkennen, und möchte zu ihm gelangen ; da sie aber die Mittel nicht weiß, ihn zu erreichen, tut sie, wenn ihr Wunsch aufrichtig und wahrhaftig ist, das gleiche wie jemand, der – da er zu einem bestimmten Ort gelangen möchte, nachdem er vom rechten Weg abgekommen war und erkennt, daß er sich verirrt hat – bei denjenigen Hilfe suchen würde, die diesen Weg vollkommen wissen und …13 Sie entschließt sich, ihr übriges Leben nach dem Willen Gottes einzurichten ; da jedoch ihre natürliche Schwäche zusammen mit den sündigen Neigungen, denen sie bisher gefolgt war, sie unfähig gemacht haben, dieses Glück zu erreichen, erfleht sie von Gottes Barmherzigkeit die Mittel, um zu ihm zu gelangen, sich ihm anzuschließen und ewig mit ihm vereint zu sein … So erkennt sie, daß sie Gott verehren muß, weil sie sein Geschöpf ist, daß sie ihm danken muß, weil sie in seiner Schuld steht, daß sie ihn versöhnen muß, weil sie sündig ist, daß sie zu ihm beten muß, weil sie sich in tiefster Not befi ndet.

Vgl. zum Bild des Weges Joh 14, 5 und besonders Laf. 140. Vgl. im Fragment der »Wette« Laf. 418 : »… Lernt von denjenigen usw., die wie Ihr gebunden waren und die nun ihr ganzes Gut einsetzen. Es sind Leute, die diesen Weg kennen, dem Ihr folgen möchtet, und sie sind von einem Übel geheilt, von dem auch Ihr genesen wollt ; befolgt die Art, in der sie begonnen haben. …« 12 13

Vergleich zwischen den Christen der ersten Zeiten und denen von heute (1657)

1. In den ersten Zeiten sah man nur Christen, die in allen heilsnotwendigen Fragen vollkommen unterrichtet waren ; statt dessen sieht man heute eine so grobe Unwissenheit, daß sie all jene in Klagen ausbrechen läßt, die der Kirche mit einem Gefühl zärtlicher Liebe zugetan sind. Man trat in die Kirche erst nach großen Mühen und langem Streben ein. Heute gehört man zu ihr ohne die geringste Anstrengung, ohne Sorge und ohne Mühe. Damals wurde man erst nach einer sehr gründlichen Prüfung in ihr zugelassen. Jetzt wird man in sie aufgenommen, bevor man in der Lage ist, geprüft zu werden. Damals wurde man erst aufgenommen, nachdem man seinem früheren Leben abgeschworen, der Welt, dem Fleisch und dem Teufel entsagt hatte. Jetzt tritt man in sie ein, bevor man in der Lage ist, eine von diesen Handlungen zu vollziehen. Schließlich mußte man früher die Welt verlassen, um in die Kirche aufgenommen zu werden, während man heute gleichzeitig in die Kirche und in die Welt eintritt. Durch jene Verfahrensweise kannte man damals einen wesentlichen Unterschied zwischen Welt und Kirche. 4.1 Damals betrachtete man Welt und Kirche als zwei Gegensätze, als zwei unversöhnliche Feinde, die sich gegenseitig unablässig verfolgen und von denen der scheinbar Schwächere eines Tages über den Stärkeren triumphieren soll, so daß man eine von diesen gegensätzlichen Parteien verließ und sich der anderen anschloß. Man gab die Grundsätze der einen auf, um

1

Zur Paragraphenzählung vgl. die Einleitung.

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die Grundsätze der anderen anzunehmen ; man legte die Ansichten der einen ab, um sich mit den Ansichten der anderen zu wappnen. 2. Schließlich verließ man die Welt, in der man zum ersten Mal geboren war, man entsagte ihr und schwor ihr ab, um sich ganz der Kirche zu weihen, in der man gleichsam zum zweiten Mal geboren wurde ; und daher erkannte man einen entsetzlichen Unterschied zwischen dieser und jener. 3. Heute hingegen gehört man beinahe im gleichen Augenblick zu beiden ; und der gleiche Augenblick, da wir in die Welt hineingeboren werden, läßt uns auch in der Kirche wiedergeboren werden ; wenn sich die Vernunft herausbildet, macht sie darum keinen Unterschied mehr zwischen diesen zwei Zuständen und diesen beiden so gegensätzlichen Geburten. Sie wächst und entwickelt sich in beiden gemeinsam. Man empfängt die Sakramente und genießt die Freuden der Welt usw. Und während man früher einen wesentlichen Unterschied zwischen dieser und jener sah, sieht man die beiden jetzt miteinander vermischt und vermengt, so daß man sie beinahe nicht mehr auseinanderhalten kann. 7. In der Zeit der entstehenden Kirche unterrichtete man die Katechumenen, das heißt diejenigen, welche die Taufe begehrten, bevor man sie ihnen erteilte, und man ließ sie zur Taufe erst nach einer vollständigen Unterweisung in den Mysterien der Religion zu, nach Abbüßung ihres früheren Lebens, nach umfassender Einführung in die Größe und Herrlichkeit des Glaubensbekenntnisses und der christlichen Grundsätze, die sie sich für immer zu eigen machen wollten, nach bedeutsamen Zeichen für eine wahrhaftige Bekehrung des Herzens und nach einem außergewöhnlich lebhaften Taufbegehren. Wenn diese Dinge von der ganzen Kirche anerkannt wurden, erteilte man ihnen das Sakrament der Einverleibung und Wiedergeburt in Christo, wodurch sie Glieder der Kirche wurden ; während es in der heutigen Zeit geschieht – da das Sakrament der Taufe aus sehr gewichtigen Gründen den Kindern vor

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dem vernünftigen Alter gewährt worden ist –, daß die Nachlässigkeit der Eltern die Christen alt werden läßt, ohne daß sie irgendeine Kenntnis über die Größe unserer Religion haben. 8. Als die Unterweisung der Taufe vorausging, waren alle unterrichtet. Doch jetzt, da die Taufe der Unterweisung vorausgeht, ist der Unterricht, der eine notwendige Pfl icht war, freiwillig geworden, und daraufhin wurde er vernachlässigt und schließlich beinahe abgeschafft. Der wahre Grund für dieses Verhalten ist, daß man von der Notwendigkeit der Taufe überzeugt ist und nicht von der Notwendigkeit der Unterweisung. Als die Unterweisung der Taufe vorausging, bewirkte darum die Notwendigkeit dieser, daß man sich zwangsläufig jener anvertraute ; während heute die Taufe der Unterweisung vorausgeht und man glaubt, da man zum Christen gemacht wurde, ohne daß man eine Unterweisung erhalten hatte, könne man auch Christ bleiben, ohne sich unterweisen zu lassen … 5. Daher kommt es, daß man früher bei den Christen nur sehr gründlich unterwiesene Personen fand ; während sie jetzt von einer Unwissenheit sind, die erschaudern läßt. 9. Wenn sich die ersten Christen der Kirche gegenüber so dankbar für eine Gnade zeigten, die diese ihnen erst auf lange Bitten gewährte, so zeigen sie sich heute derart undankbar für dieselbe Gnade, die diese gute Mutter ihnen gewährt, noch bevor sie in der Lage gewesen wären, sie von ihr zu erbitten. Und wenn ihr der Abfall von einigen der ersten Christen ein solcher Greuel war, obgleich er überaus selten vorkam, wie sehr muß sie dann den Abfall und ständigen Rückfall der Christen der letzten Zeiten verabscheuen, obgleich sie ihr weitaus mehr zu verdanken haben, denn sie hat sie doch viel früher und weitherziger der Verdammnis entzogen, in die sie durch ihre erste Geburt verstrickt waren. 10. Sie kann nicht ohne Klagen ansehen, wie man ihre größte Gnade mißbraucht und wie das, was sie getan hat, um das Heil der Christen zu sichern, beinahe sicher zu einer Ge-

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legenheit für deren Verderben wird ; denn sie hat zwar ihre Einrichtung, aber nicht ihren Geist verändert. 11. Davon macht man jedoch einen Gebrauch, der so sehr der Absicht der Kirche widerspricht, daß man hieran nicht ohne Entsetzen denken kann. Man stellt beinahe keine Betrachtung mehr über eine derart große Wohltat an, weil man sie nie begehrt und nie erbeten hat, ja sich nicht einmal erinnert, sie empfangen zu haben. (Man erinnert sich nicht, daß man sich durch ein Gelübde verpflichtet hat …) 12. Daher kommt es, daß in den ersten Zeiten jene, die durch die Taufe wiedergeboren waren und die Laster der Welt aufgegeben hatten, um in die Frömmigkeit der Kirche einzutreten, so selten von der Kirche in die Welt zurückfielen, während man jetzt nichts Alltäglicheres sieht, als es die Laster der Welt im Herzen der Christen sind. Die Kirche der Heiligen ist also jetzt von der Vermischung mit den Bösen ganz verunreinigt, und ihre Kinder, die sie empfangen, in ihrem Schoß getragen und vom zartesten Alter an genährt hat, sind gerade jene, die in deren Herz, das heißt selbst in die Teilnahme an deren erhabensten Mysterien, deren grausamsten Feind hineintragen, das heißt den Geist der Welt, den Geist der Ehrsucht, den Geist der Rache, den Geist der Unzucht, den Geist der Begierde : Und die Liebe zu ihren eigenen Kindern nötigt sie, den grausamsten ihrer Verfolger bis in ihr Innerstes eindringen zu lassen … 13. Doch nicht der Kirche darf man die Schuld für all das Unheil geben, das aus der Veränderung einer so heilsamen Ordnung erwachsen ist ; denn sie hat zwar ihre Einrichtung, aber nicht ihren Geist verändert. Als sie nämlich erkannt hatte, daß der Aufschub der Taufe viele Kinder dem Adam zuteil gewordenen Fluch überließ, wollte sie diese aus der Masse der Verdammnis 2 erretten, indem sie die Hilfe, die sie diesen lei-

Pascal übernimmt die augustinische Vorstellung der massa damnata. Vgl. Allan Fitzger ald : Damnatio. In : AugL 2, Sp. 224 – 227. 2

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stet, schneller gewährte. Und diese gute Mutter kann nur mit größtem Kummer ansehen, daß das, was sie zum Heil ihrer Kinder bereitgestellt hat, den Erwachsenen zu einer Gelegenheit des Verderbens wird. Ihrem wahren Geist entsprechend will sie, daß diejenigen, die sie in einem derart zarten Alter dem Pesthauch der Welt entzieht, sich zu Ansichten bekennen, die jenen der Welt völlig entgegengesetzt sind. Daher kommt sie dem vernünftigen Alter zuvor, um den Lastern zuvorzukommen, zu denen die verderbte Vernunft sie verleiten würde ; und bevor ihr Geist handeln kann, erfüllt sie ihn mit ihrem Geist, damit sie in großer Unkenntnis der Welt und in einem Zustand leben, der um so weiter vom Laster entfernt ist, als sie es niemals kennengelernt haben würden. 14. Dies erweist sich an den Taufzeremonien, denn sie gewährt den Kindern erst die Taufe, nachdem sie erklärt haben, wobei die Paten für sie sprechen, daß sie die Taufe begehren, daß sie glauben, daß sie der Welt und dem Satan entsagen. Und da sie will, daß sie diese Haltung in ihrem ganzen weiteren Leben bewahren, gebietet sie ihnen ausdrücklich, sie unverbrüchlich zu vertreten, und sie trägt den Paten durch ein unwiderrufliches Gebot auf, die Kinder in allen diesen Dingen zu unterweisen. Denn sie wünscht nicht, daß jene, die sie in ihrem Schoß von Kindheit an genährt hat, heute weniger unterrichtet und weniger eifrig als die Erwachsenen sind, die sie früher zu ihrer Gemeinschaft zuließ. Sie verlangt bei jenen, die sie aufnimmt, keine geringere Vollkommenheit. 15. Da es jedoch offensichtlich ist, daß die Kirche keinen geringeren Eifer von jenen verlangt, die als Hausgenossen des Glaubens 3 aufgezogen wurden, als von jenen, die den Wunsch haben, dies zu werden, muß man sich das Beispiel der Katechumenen vor Augen halten, deren Inbrunst, Hingabe, Abscheu vor der Sünde und großherzigen Verzicht auf die Welt beden-

3

Vgl. Gal 6, 10.

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ken ; und wenn man sie nicht für würdig hielt, die Taufe ohne diese Haltung zu empfangen, so (müssen) jene, die sie nicht in sich vorfi nden …4 16. Die heutigen Christen müssen sich also der gleichen Belehrung unterziehen, wie sie ihnen zuteil geworden wäre, wenn sie erst in die Gemeinschaft der Kirche eintreten wollten. (Und sie müssen sich außerdem einer solchen Buße unterwerfen, daß sie kein Verlangen mehr haben, die Kirche von sich zu weisen, und daß sie weitaus weniger Abneigung gegen die Härte ihrer Kasteiungen haben, als sie sich vom Genuß der lasterhaften Wonnen der Sünde verlocken lassen.5) Um sie zu dieser Belehrung hinzuführen, muß man ihnen begreiflich machen, welcher Unterschied zwischen den Bräuchen besteht, denen man in dieser und jener Zeit gefolgt ist. Sie müssen sich das Beispiel der Katechumenen vor Augen halten und deren Inbrunst, Hingabe, Abscheu vor der Welt und großherzigen Verzicht auf allen weltlichen Prunk bedenken. Wenn man diese nämlich nicht für würdig hielt, die Taufe ohne eine derartige Haltung zu empfangen, ist es dann nicht gerecht, daß diejenigen, die diese Haltung nicht in sich vorfinden, nachdem sie die Taufe empfangen haben, alle ihnen möglichen Anstrengungen unternehmen, um eine ebenso großherzige Gesinnung auszubilden, sich in den ihnen verbleibenden Lebenstagen einer heilsamen Buße unterwerfen und weniger Abneigung gegen ein Leben voller Kasteiungen haben, als sie sich vom Genuß der vergifteten Wonnen der Sünde verlokken lassen ?

Nach anderer (ursprünglicherer) Textüberlieferung (vgl. OC 4 [Mesnar d], S. 57) ist statt »so (müssen) jene fortzufahren : »müssen dann jene, die sie nicht in sich vorfi nden, sich nicht mit allen Kräften bemühen, zu solch hochherzigen Ansichten zu gelangen ?« 5 Vgl. Sir 27, 14 : »narratio peccantium odiosa et risus illorum delictis peccati«. 4

Drei A bhandlungen über die Stellung der Großen (1660)

Erste Abhandlung Um Eure Stellung wahrhaftig zu erkennen, sollt Ihr sie in dem folgenden Bild betrachten. Ein Mann wird vom Sturm an den Strand einer unbekannten Insel geworfen, deren Bewohner voller Sorge bemüht waren, ihren König wiederzufi nden, der sich verirrt hatte ; und da Körper und Gesicht jenes Mannes denen des Königs sehr ähneln, wird er für ihn gehalten und als solcher vom ganzen Volk anerkannt. Zuerst wußte er nicht, wie er sich verhalten sollte ; doch schließlich entschied er sich, sein Glück beim Schopfe zu packen. Er empfi ng nun alle Huldigungen, die man ihm erweisen wollte, und er ließ sich mit dem Königstitel anreden. Da er indes seine natürliche Stellung nicht vergessen konnte, dachte er, immer wenn er diese Huldigungen erhielt, daß er nicht jener König sei, den das Volk suchte, und daß jene Königswürde ihm nicht gehöre. So waren seine Gedanken zwiefach : Mit dem einen handelte er als König, mit dem anderen erkannte er seinen wahren Stand und auch, daß nur der Zufall ihn zu der Würde erhoben hatte, die er bekleidete. Diesen zweiten Gedanken verbarg er, und er offenbarte den anderen. Mit dem ersten wandte er sich an das Volk, und mit dem zweiten wandte er sich an sich selbst. Ihr sollt nicht meinen, es sei einem kleineren Zufall zu verdanken, daß Ihr die Schätze besitzt, deren Eigentümer Ihr seid, als es der Zufall war, durch den jener Mann die Königswürde innehatte. Ihr habt durch Euch selbst und durch Eure Natur kein Recht darauf, ebensowenig wie er : Und Ihr seid nur infolge unendlich vieler Zufälle nicht allein der Sohn eines Herzogs, sondern auch überhaupt auf der Welt. Eure Geburt ergibt sich aus einer Ehe oder vielmehr aus allen Ehen derjenigen, von denen Ihr abstammt. Doch woraus ergeben sich

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diese Ehen ? Aus einem zufälligen Besuch, aus einer grundlosen Plauderei, aus tausend unvorhergesehenen Gelegenheiten. Ihr habt, sagt Ihr, Euren Reichtum von Euren Vorfahren ; doch ist es nicht tausend Zufällen zu verdanken, daß Eure Vorfahren ihn erworben und bewahrt haben ? Stellt Ihr Euch dazu noch vor, es sei einem Naturgesetz zu verdanken, daß diese Güter von Euren Vorfahren auf Euch überkommen sind ? Das entspricht nicht der Wahrheit. Diese Ordnung beruht allein auf dem Willen der Gesetzgeber, die ihre guten Gründe haben mochten, von denen sich indes keiner aus einem natürlichen Recht herleitet, das Ihr über jene Dinge hättet. Wenn es ihnen gefallen hätte, anzuordnen, daß diese Güter, nachdem die Väter sie zu ihren Lebzeiten besessen hatten, nach deren Tod an den Staat zurückfallen sollten, so hättet Ihr deshalb keinen Anlaß zur Klage. Darum ist das ganze Anrecht, dem zufolge Ihr Euer Gut besitzt, kein naturgegebenes, sondern ein von Menschen eingeführtes Anrecht. Wenn jene, welche die Gesetze geschaffen haben, ihren Vorstellungen eine andere Richtung gegeben hätten, so hätte Euch das arm gemacht ; und nur diese Fügung des Zufalls, die zu Eurer Geburt geführt hat, und dazu noch die Willkür der für Euch günstigen Gesetze verschaffen Euch den Besitz all dieser Güter. Ich will nicht sagen, daß sie Euch unrechtmäßig gehören und es einem anderen erlaubt wäre, sie Euch zu rauben ; denn Gott, der über sie gebietet, hat den Gesellschaften erlaubt, Gesetze zu schaffen, um die Güter zu teilen ; und wenn diese Gesetze erst einmal eingeführt sind, so ist es ungerecht, sie zu verletzen. Dies unterscheidet Euch ein wenig von jenem Mann, der seine Königswürde nur durch den Irrtum des Volkes besitzen würde, weil Gott jenen Besitz nicht gutheißen und den Mann zwingen würde, auf ihn zu verzichten, während er Euren Besitz gutheißt. Was Ihr jedoch mit ihm vollkommen gemeinsam habt, das ist die Tatsache, daß das Recht auf diesen Besitz keineswegs, ebensowenig wie das seinige, auf einer Eigenschaft und einem Verdienst begründet ist, die in Euch selbst lägen

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und Euch dessen würdig machten. Eure Seele und Euer Leib sind von sich aus gleichgültig für den Stand eines Fährmanns oder den eines Herzogs ; und es gibt kein natürliches Band, das sie eher mit einer Stellung als mit einer anderen verknüpft. Was ergibt sich daraus ? Daß Ihr gleich jenem Mann, von dem wir erzählt haben, zwiefache Gedanken haben müßt ; und daß Ihr, wenn Ihr nach außen den anderen Menschen gegenüber Eurem Rang entsprechend handelt, mit einem verborgeneren, doch wahrhaftigeren Gedanken anerkennen müßt, daß Ihr von Natur aus nichts habt, was Euch über sie stellt. Wenn der für die Öffentlichkeit bestimmte Gedanke Euch über den großen Haufen hinaushebt, soll der andere Euch erniedrigen und Euch auf einer allen Menschen vollkommen gleichen Höhe halten ; denn das ist ja Euer natürlicher Stand. Das Volk, das Euch bewundert, kennt vielleicht dieses Geheimnis nicht. Es glaubt, der Adel sei eine wirkliche Größe, und es schätzt die Großen beinahe so, als hätten sie eine andere Natur als die übrigen. Offenbart ihnen, wenn Ihr wollt, diesen Irrtum nicht ; aber mißbraucht nicht anmaßend diesen hohen Rang, und verkennt Euch vor allem nicht selbst, indem Ihr glaubt, daß Euer Wesen etwas Höheres als jenes der übrigen habe. Was würdet Ihr über jenen Mann sagen, den der Irrtum des Volkes zum König gemacht hatte, wenn er seine natürliche Stellung so sehr vergessen sollte, daß er sich einbildete, diese Königswürde stehe ihm zu, er verdiene sie, und sie gehöre ihm von Rechts wegen ? Ihr würdet über seine Dummheit und seinen Aberwitz erstaunen. Doch gibt es denn weniger davon bei den Standespersonen, die in ihrem Leben ein so seltsames Vergessen ihrer natürlichen Lage zeigen ? Wie wichtig ist doch diese Einsicht ! Alles Eifern, das ganze Ungestüm und die ganze Eitelkeit der Großen kommen nämlich daher, daß sie nicht erkennen, was sie sind : Denn es läßt sich ja schwer glauben, daß jene, die sich in ihrem Inneren als allen Menschen gleich ansähen und die fest überzeugt wären, daß sie in sich selbst nichts haben, was diese kleinen Vorteile wert

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ist, die Gott ihnen vor den anderen gegeben hat, diese anderen voller Anmaßung behandelten. Dazu muß man seinen eigenen Stand vergessen und glauben, man habe irgendeinen wirklichen Vorzug vor den anderen, und darin besteht jene Wahnvorstellung, über die ich Euch die Augen öffnen möchte.

Zweite Abhandlung Es ist gut, Monsieur, daß Ihr wißt, was man Euch schuldet, damit Ihr nicht den Anspruch erhebt, Ihr dürftet von den Menschen verlangen, was man Euch nicht schuldet ; denn das ist eine offensichtliche Ungerechtigkeit : Und gleichwohl ist sie bei den Leuten Eures Standes sehr verbreitet, weil sie deren Wesen verkennen. In der Welt gibt es zwei Arten von Größen ; es gibt nämlich eingeführte Größen und natürliche Größen. Die eingeführten Größen hängen vom Willen der Menschen ab, die mit Recht geglaubt haben, sie müßten gewisse Stände achten und ihnen gewisse Ehrfurchtsbezeigungen zuerkennen. Die amtlichen Würden und der Adel sind von dieser Art. In einem Land ehrt man die Adligen, in einem anderen die Bürgerlichen ;1 in diesem die Erstgeborenen, in jenem anderen die Nachgeborenen. Warum ? Weil es den Menschen so gefallen hat. Dieser Sachverhalt war vor der gesetzlichen Regelung dem freien Ermessen anheimgestellt : Nach seiner Regelung wird er gerecht, weil es ungerecht ist, seine Ordnung zu stören.2 Die natürlichen Größen sind jene, die nicht von der Willkür der Menschen abhängen, weil sie aus wirklichen und tatsächlichen guten Eigenschaften der Seele oder des Körpers bestehen,

Vgl. Laf. 50 : »Die Schweizer nehmen es übel, wenn man sie Edelleute nennt, und beweisen ihre bürgerliche Abstammung, um als würdig für die hohen Ämter angesehen zu werden.« 2 Vgl. auch das Fragment über die Ordnungen Laf. 308. 1

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die der einen oder der anderen höhere Wertschätzung verleihen, wie etwa die Wissenschaften, die Geistesgaben, Tugend, Gesundheit und Kraft. Jeder von diesen beiden Größen sind wir etwas schuldig ; da sich ihr Wesen aber unterscheidet, schulden wir ihnen auch unterschiedliche Ehrfurchtsbezeigungen. Den gesetzlich eingeführten Größen schulden wir eine gesetzlich vorgeschriebene Ehrfurcht, das heißt gewisse äußere Förmlichkeiten, die jedoch, wie es der Vernunft entspricht, mit der inneren Anerkennung verbunden sein müssen, daß diese Ordnung gerecht ist, die uns allerdings nicht zu der Vorstellung bringen, jene, die wir auf diese Weise ehren, hätten irgendeine wirkliche gute Eigenschaft. Mit den Königen muß man kniend sprechen ; im Audienzsaal der Fürsten muß man stehen. Dumm und geistig niedrigstehend ist man, wenn man ihnen diese Höflichkeitsbekundungen verweigert. Doch die natürlichen Ehrfurchtsbezeigungen, die aus der Wertschätzung bestehen, schulden wir nur den natürlichen Größen ; und den Eigenschaften, die diesen natürlichen Größen widersprechen, schulden wir hingegen Verachtung und Abneigung. Es ist nicht notwendig, daß ich Euch schätze, weil Ihr Herzog seid ; aber es ist notwendig, daß ich Euch grüße. Wenn Ihr Herzog und Ehrenmann seid, so werde ich dieser und jener Eigenschaft die Achtung erweisen, die ich ihnen schulde. Ich werde Euch nicht die Förmlichkeiten verweigern, die Eurer Herzogswürde zukommen, und ebensowenig die Wertschätzung, die Euch als Ehrenmann zukommt. Wenn Ihr jedoch Herzog wäret, ohne Ehrenmann zu sein, würde ich Euch dennoch die schuldige Ehre erweisen ; wenn ich Euch nämlich die äußeren Höflichkeiten bezeigte, welche die menschliche Ordnung mit Eurer Herkunft verknüpft hat, so würde ich dennoch für Euch unausbleiblich die innere Verachtung empfi nden, die der Niedrigkeit Eures Geistes zukäme. Darin besteht nun die Gerechtigkeit jener Höflichkeitsbekundungen. Und die Ungerechtigkeit besteht darin, die natürlichen Ehrfurchtsbezeigungen mit den eingeführten Größen

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zu verbinden oder die eingeführten Ehrfurchtsbezeigungen für die natürlichen Größen zu fordern. Monsieur N… ist ein größerer Geometer als ich ; dieser Eigenschaft wegen will er mir gegenüber den Vorrang haben : Ich werde ihm sagen, daß er nichts davon versteht. Die Geometrie ist eine natürliche Größe ; sie verlangt eine bevorzugte Wertschätzung ; doch die Menschen haben mit ihr keine äußere Bevorzugung verbunden. Ich werde daher ihm gegenüber den Vorrang behaupten ; und als Geometer werde ich ihn höher als mich schätzen. Wenn Ihr Herzog und Pair seid und Euch nicht damit zufriedengebt, daß ich entblößten Hauptes vor Euch stünde, sondern außerdem wollt, daß ich Euch achte, so würde ich Euch ebenso bitten, mir die guten Eigenschaften zu zeigen, die meine Wertschätzung verdienen. Wenn Ihr das tut, so habt Ihr sie Euch erworben, und ich könnte sie Euch nicht von Rechts wegen verweigern ; wenn Ihr es aber nicht tut, so wäret Ihr ungerecht, meine Wertschätzung zu verlangen, und sicherlich werdet Ihr damit keinen Erfolg haben, selbst wenn Ihr der größte Fürst der Welt wäret.

Dritte Abhandlung Ich will Euch, Monsieur, Eure wahre Stellung erkennen lassen ; denn von allem auf der Welt wissen die Personen Eures Standes hierüber am wenigsten. Was bedeutet es nach Eurer Meinung, ein großer Herr zu sein ? Es bedeutet, mehrere Gegenstände zu besitzen, auf die sich die Begierde der Menschen richtet, und somit die Bedürfnisse und Wünsche mehrerer anderer zufriedenstellen zu können. Gerade diese Bedürfnisse und Wünsche ziehen sie zu Euch hin und bewirken, daß sie sich Euch unterwerfen : Sonst würden sie Euch nicht einmal ansehen ; aber sie hoffen, daß sie durch diese Dienste und diese Ehrerbietung, die sie Euch erweisen, von Euch irgendeinen Anteil an jenen Gütern erlangen, die sie begehren und über die, wie sie sehen, Ihr verfügt.

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Gott ist von Menschen umgeben, die von der christlichen Liebe erfüllt sind und ihn um die in seiner Macht stehenden Güter der christlichen Liebe bitten : So ist er eigentlich der König der Liebe.3 Ihr seid ebenso von einigen Menschen umgeben, über die Ihr nach Eurer Art herrscht. Diese Leute sind von der Begierde erfüllt. Sie bitten Euch um die Güter der Begierde ; denn die Begierde bindet sie an Euch. Also seid Ihr eigentlich ein König der Begierde. Euer Königreich hat eine geringe Ausdehnung ; hierin aber seid Ihr den größten Königen der Erde gleich : daß sie, wie Ihr, Könige der Begierde sind. Die Begierde macht deren Stärke aus : das heißt der Besitz der Dinge, nach denen die Begierde der Menschen verlangt. Wenn Ihr aber Eure natürliche Stellung erkennt, so bedient Euch der Mittel, die sie Euch gibt, und verlangt nicht, auf einem anderen Wege als auf jenem zu herrschen, der Euch zum König gemacht hat. Nicht Eure Stärke und Eure natürliche Macht unterwerfen Euch alle diese Leute. Verlangt also nicht, sie gewaltsam beherrschen oder hartherzig behandeln zu dürfen. Befriedigt ihre gerechten Wünsche ; lindert ihre Not ; fi ndet Eure Freude darin, Wohltätigkeit zu üben ; fördert sie, so gut Ihr könnt, und Ihr werdet als ein wahrer König der Begierde handeln. Was ich Euch sage, reicht nicht sehr weit ; und wenn Ihr es dabei bewenden laßt, werdet Ihr dennoch dem Verderben erliegen ; doch Ihr erliegt dem Verderben wenigstens als ein Ehrenmann. Es gibt Leute, die sich selbst so töricht durch Habsucht, Roheit, Ausschweifungen, Gewalttätigkeit, Raserei und Lästerungen verdammen ? Das Mittel, das ich Euch eröffne, ist ohne Zweifel ehrenhafter ; doch sich selbst zu verdammen ist wahrlich immer eine große Torheit ; und deshalb darf man es dabei nicht bewenden lassen. Man muß die Begierde und ihr Königreich verachten und nach jenem König-

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Vgl. das Fragment über die Ordnungen Laf. 308.

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reich der christlichen Liebe streben, dessen Untertanen alle nur nach der christlichen Liebe trachten und nur die Güter der christlichen Liebe wünschen. Andere als ich werden Euch den Weg dorthin weisen : Mir genügt es, Euch von jenem rohen Leben abgebracht zu haben, zu dem, wie ich sehe, manche Personen Eures Standes sich hinreißen lassen, weil sie die wahre Beschaffenheit dieser Stellung nicht richtig erkennen.

Gebet zu Gott um den rechten Gebr auch der K r ankheiten (1660)

I . O Herr, dessen Geist so gut und mild in allen Dingen ist

und der du so barmherzig bist, daß nicht nur die glücklichen, sondern auch die unglücklichen Wechselfälle, die deinen Auserwählten begegnen, Wirkungen deiner Barmherzigkeit sind, gewähre mir die Gnade, daß ich in dem Zustand, in den deine Gerechtigkeit mich versetzt hat, nicht als Heide handle : daß ich wie ein wahrer Christ dich als meinen Vater und meinen Gott anerkenne, in welchem Zustand ich mich auch immer befi nde, denn die Veränderung meiner Lage fügt der deinen nichts hinzu, da du immer derselbe bist,1 während ich hingegen der Veränderung unterworfen bin und du nicht weniger Gott bist, wenn du betrübst und strafst, als wenn du tröstest und Nachsicht übst. II . Du hast mir Gesundheit gegeben, damit ich dir diene, und ich habe von ihr einen ganz weltlichen Gebrauch gemacht. Jetzt schickst du mir die Krankheit, um mich zu läutern : Erlaube nicht, daß ich sie gebrauche, um dich durch meine Ungeduld zu erzürnen. Ich habe meine Gesundheit schlecht gebraucht, und du hast mir dafür eine gerechte Strafe auferlegt. Dulde nicht, daß ich deine Strafe schlecht gebrauche. Und da die Verderbnis meiner Natur so groß ist, daß sie deine Gunstbeweise für mich schädlich werden läßt, gib, o mein Gott, daß deine Züchtigungen mir durch deine allmächtige Gnade das Heil bringen. Wenn mein Herz der Welt voller Liebe zugetan war, solange es einige Kraft hatte, so vernichte diese Kraft um meines Heils willen und mache mich unfähig, mich der Welt zu erfreuen, sei es durch körperliche Schwäche, sei es durch

Vgl. Ps 102, 28 = Ps 101, 28 Vg : »tu autem idem ipse es« ; vielfach von Augustinus zitiert und kommentiert, vgl. z. B. in den Confessiones 1, 10 ; 11, 16 ; 12, 13 ; 13, 22. 1

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den Eifer der christlichen Liebe, damit ich allein an dir meine Freude habe. III . O Gott, vor dem ich am Ende meines Lebens und am Ende der Welt genaue Rechenschaft über alle meine Taten ablegen muß ? O Gott, der du die Welt und alle Dinge der Welt nur bestehen läßt, um deine Auserwählten zu prüfen oder um die Sünder zu bestrafen ? O Gott, der du die verstockten Sünder im köstlichen und frevelhaften Genuß der Welt verharren läßt ? O Gott, der du unsere Leiber sterben läßt und in der Todesstunde unsere Seele von allem trennst, was sie auf Erden liebte ? O Gott, der du mich in jenem letzten Augenblick meines Lebens von allen Dingen losreißen wirst, an die ich mich gebunden habe und an denen mein Herz hängt ? O Gott, der du am Jüngsten Tage den Himmel und die Erde und alle Geschöpfe darin vernichten sollst, um allen Menschen zu zeigen, daß außer dir nichts besteht und darum außer dir auch nichts Liebe verdient, denn außer dir ist ja nichts von Dauer ? O Gott, der du all jene eitlen Götzen und all jene unheilvollen Gegenstände unserer Leidenschaften zerstören sollst ? Ich lobe dich, mein Gott, und ich will dich alle Tage meines Lebens preisen,2 weil es dir gefallen hat, zu meinen Gunsten jenen schrecklichen Tag vorwegzunehmen, indem du mich in einen Zustand der Schwäche versetzt und so für mich alle Dinge zerstört hast. Ich lobe dich, mein Gott, und ich will dich alle Tage meines Lebens preisen, weil es dir gefallen hat, mich unfähig zu machen, die Annehmlichkeiten der Gesundheit und die Freuden der Welt 3 zu genießen, und weil du zu meinem Besten die trügerischen Götzen in gewisser Weise vernichtet

Ps 34, 2 = Ps 33, 2 Vg. : »Benedicam Dominum in omni tempore ; semper laus ejus in ore meo«. 3 In der Textfassung Mesnar ds, OC 4, S. 1000, »die Annehmlichkeiten der Gesundheit und die Gepflogenheiten [usage] der Welt«, womit augustinisch der korrekte Umgang mit den »Dingen« (uti) bezeichnet ist (was auch beim Titel der Schrift mitzudenken ist). 2

Gebet zu Gott

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hast, die du am Tage deines Zorns 4 wirklich vernichten willst, um die Bösen zu beschämen. Gib, o Herr, daß ich mich bei jener Zerstörung, die du für mich bewirkt hast, selbst richte, damit nicht du selbst mich bei der vollständigen Zerstörung richtest, die du meinem Leben und der Welt bereiten wirst. Denn, o Herr, so wie ich mich im Augenblick meines Todes von der Welt getrennt, von allen Dingen entblößt, allein vor deinem Angesicht fi nden werde, um vor deiner Gerechtigkeit für alle Regungen meines Herzens einzustehen, gib, daß ich mich in dieser Krankheit gleichsam als tot 5 betrachte, von der Welt getrennt, von allen Gegenständen meiner Zuneigung losgelöst, allein vor deinem Angesicht, um von deiner Barmherzigkeit die Bekehrung meines Herzens zu erflehen, und daß ich somit höchsten Trost darin fi nde, wenn du mir jetzt eine Art von Tod schickst, um Barmherzigkeit zu üben, bevor du mir wirklich den Tod schickst, um Gerechtigkeit zu üben. Gib darum, o mein Gott, daß, wie du meinen Tod vorweggenommen hast, ich die Strenge deines Richterspruchs vorwegnehme und ich vor deinem Urteil mich selbst prüfe, um Barmherzigkeit vor deinem Angesicht zu fi nden. IV. Gib, o mein Gott, daß ich schweigend die Ordnung anbete, in der deine verehrungswürdige Vorsehung mein Leben leitet, daß deine Geißel mich tröstet und daß ich, nachdem ich in der Bitterkeit 6 meiner Sünden lebte, solange ich Frieden hatte, die himmlische Süße deiner Gnade koste, während du mich mit heilsamen Leiden heimsuchst. Doch ich erkenne,

Ps 110, 5 = Ps 109, 5 Vg : »confregit in die irae suae reges«. Vgl. auch die Sequenz »Dies irae, dies illa«. In : Anselm Schot t (Hrsg.) : Das vollständige Römische Meßbuch. Freiburg i. Br. 1956, S. [178– 179]. Vgl. dazu Fidel R ä dle : »Dies irae«. In : Hansjakob Becker (Hrsg.) : Im Angesicht des Todes. Bd. 1. St. Ottilien 1987, S. 331 – 340. 5 »comme en une espèce de mort« : vgl. Augustinus : In Ioannis evangelium tractatus CXXIV 38, 10 : »mors quaedam«. 6 amertume – amaritudo : Vgl. hierzu das Buch Hiob (Vg.), z. B. 3, 5.20 ; 7, 11 ; 9, 18 u. ö. 4

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mein Gott, daß mein Herz derart verhärtet und so voll von den Gedanken, Sorgen, Unruhen und Bindungen der Welt ist, daß ebensowenig die Krankheit wie die Gesundheit, nicht die Gespräche und auch nicht die Bücher, nicht deine Heilige Schrift oder dein Evangelium, nicht deine heiligsten Mysterien oder die Almosen, das Fasten, die Kasteiungen, die Wunder, der Empfang der Sakramente oder das Opfer deines Leibes, all meine Anstrengungen oder die aller Menschen zusammen das geringste vermögen, um meine Bekehrung einzuleiten, wenn du nicht dies alles mit einem ganz außergewöhnlichen Beistand deiner Gnade begleitest.7 Darum, mein Gott, wende ich mich an dich, o allmächtiger Gott, um von dir eine Gabe zu erbitten, die alle Geschöpfe zusammen mir nicht gewähren können. Ich wäre nicht so vermessen, meine Rufe an dich zu richten,8 wenn ein anderer sie erhören könnte. Aber, mein Gott, da die Bekehrung meines Herzens, die ich von dir erbitte, ein Werk ist, das alle Kräfte der Natur übersteigt, kann ich mich nur an den Schöpfer und den allmächtigen Herrn der Natur und meines Herzens wenden. Zu wem soll ich rufen, o Herr, zu wem soll ich meine Zuflucht nehmen, wenn nicht zu dir ? Alles, was nicht Gott ist, kann meine Hoffnung nicht erfüllen.9 Gott selbst verlange und suche ich ; und an dich allein, mein Gott, wende ich mich, um dich zu erlangen. Öffne mir das Herz, o Herr ; zieh ein in diese aufrührerische Festung, welche die Laster besetzt halten. Sie haben sie sich unterworfen ; zieh in sie ein wie in das Haus des Starken ;10 aber lege zuvor den starken und mächtigen Feind in Fesseln, der sie beherrscht, und nimm dann die Schätze, die in ihr sind. O Herr, Mesnard OC 4, S. 1001 verweist auf 1 Kor 13, 1 – 3, vgl. auch die »Schriften über die Gnade«. 8 Zum Schreien nach Gott in den Psalmen vgl. Ps 3, 5 ; 17, 6 = 16, 6 Vg. ; 18, 7 = 17, 7 Vg. ; 57, 3 = 56, 3 Vg. ; 102, 2 = 101, 2 Vg. usw. 9 Vgl. Laf. 399 : »Wenn der Mensch nicht zu Gott geschaffen ist, warum ist er dann nur in Gott glücklich ?« 10 Vgl. Mt 12, 29. 7

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nimm meine Zuneigung, welche die Welt geraubt hatte ; raube du selbst diesen Schatz oder nimm ihn dir vielmehr wieder, denn dir gehört er ja als ein Tribut, den ich dir schulde, da ihm dein Bild eingeprägt ist. Du hattest es in ihm entstehen lassen, o Herr, bei meiner Taufe, die meine zweite Geburt ist ;11 doch es ist ganz ausgelöscht. Der Gedanke an die Welt ist derart tief in ihm eingegraben, daß der Gedanke an dich nicht mehr zu erkennen ist. Du allein konntest meine Seele schaffen : Du allein kannst sie neu schaffen. Du allein konntest in ihr dein Bild entstehen lassen : Du allein kannst sie umgestalten und ihr dein ausgelöschtes Abbild wieder einprägen, das heißt Jesus Christus, meinen Heiland, der dein Ebenbild und der Ausdruck deines Wesens ist.12 V. O mein Gott, wie glücklich ist ein Herz, das einen so anziehenden Endzweck lieben darf, der ihm nicht die Ehre nimmt und dessen Zuneigung ihm solches Heil bringt ? Ich fühle, daß ich die Welt nicht lieben kann, ohne dir zu mißfallen, ohne mir zu schaden und ohne meine Ehre zu verlieren ; und trotzdem ist die Welt immer noch der Gegenstand meiner Wonne. O mein Gott, wie glücklich ist eine Seele, deren Wonne du bist, denn sie kann sich der Liebe zu dir nicht allein ohne Gewissenszweifel, sondern auch noch als einem verdienstvollen Werk hingeben ?13 Wie fest und dauerhaft ist ihr Glück, denn ihre Hoffnung wird nicht getäuscht, sollst du doch niemals untergehen, und weder das Leben noch der Tod sollen sie jemals vom Ziel ihrer Wünsche trennen, und derselbe Augenblick, der die Bösen zusammen mit ihren Göt-

In der Textfassung OC 4 (Mesnar d), S. 1002 steht statt »Taufe … zweite Geburt ist« nur : »Geburt«. 12 Nach Mesnar d OC 4, S. 1002, Anspielung auf die Episode vom Tribut an den Kaiser Mt 22, 16 – 21 par. und das der Münze eingeprägte Bild. 13 Vgl. Philippe Sellier : Pascal et la liturgie. Paris : PUF, 1966, S. 84 – 85 bringt hierzu Vergleichstexte aus Port-Royal. Der Bezug zur Liturgie ist in dem Gebiet häufig herzustellen. 11

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zen in ein gemeinsames Verderben stürzen wird, soll die Gerechten mit dir in gemeinsamer Herrlichkeit vereinen ; und wie die einen zusammen mit den vergänglichen Gegenständen, an die sie ihr Herz gehängt haben, vergehen werden, so sollen die anderen ewiglich in dem ewigen und durch sich selbst bestehenden Wesen bestehen, mit dem sie sich innig vereint haben. Oh ? Wie glücklich sind jene, die in voller Freiheit und mit einem unbezwinglichen Hang ihres Willens 14 vollkommen und frei lieben, was zu lieben sie notwendig verpfl ichtet sind ? VI . Vollende, o mein Gott, die guten Regungen, die du mir eingibst. Sei du ihr Endzweck, wie du ihr Anfang bist. Kröne deine eigenen Gaben ; denn ich erkenne ja, daß es deine Gaben sind. Ja, mein Gott ; und ganz fern von mir sei der Anspruch, daß meine Gebete ein Verdienst hätten, das dich verpfl ichtet, sie aus Notwendigkeit zu erhören, und deshalb erkenne ich in aller Demut, da ich den Geschöpfen mein Herz gegeben hatte, das du nur für dich und nicht für die Welt oder für mich selbst geschaffen hast,15 darf ich nur von deiner Barmherzigkeit irgendeine Gnade erhoffen, weil ich in mir nichts habe, was dich dazu verpfl ichten kann, und weil alle natürlichen Regungen meines Herzens, die sich den Geschöpfen oder mir selbst zuwenden, dich nur erzürnen können. Darum danke ich dir, mein Gott, für die guten Regungen, die du mir eingibst, und gerade auch für diejenige, die du mir eingibst, dir dafür zu danken. VII . Rühre mein Herz zur Reue über meine Fehltritte, denn ohne diesen inneren Schmerz wären die äußeren Leiden, mit denen du meinen Leib triffst, für mich eine neue Gelegenheit zur Sünde. Laß mich gut erkennen, daß die Leiden des In der vermutlich ursprünglichen Textfassung folgt »und durch Reize, die sie für sich einnehmen«, nach OC 4 (Mesnar d), S. 1003 eine Streichung aus dogmatischen Gründen, um Angriffsflächen für die Polemik zu vermeiden. 15 Augustinus : Confessiones 1, 1 : »Fecisti nos ad te …«, dt. a. a. O., S. 9. 14

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Körpers nichts anderes als die Strafe wie auch das Abbild der Leiden der Seele sind. Aber, o Herr, gib ebenso, daß sie deren Heilmittel seien, indem sie mich bei den Schmerzen, die ich fühle, an jenen Schmerz denken lassen, den ich nicht in meiner Seele fühlte, obgleich sie ganz krank und mit Schwären bedeckt war.16 Denn, o Herr, ihre größte Krankheit sind diese Gefühllosigkeit und diese äußerste Schwäche, die ihr jedes Empfi nden für ihr eigenes Elend genommen hatten. Gib, daß ich sie lebhaft fühle und daß mein übriges Leben eine unablässige Buße sei, um mich von der Schuld reinzuwaschen, die ich auf mich geladen habe. VIII . O Herr, obgleich mein früheres Leben frei von schlimmen Freveltaten17 geblieben ist, da du derartige Möglichkeiten von mir ferngehalten hast, war es dir dennoch zutiefst verhaßt wegen seiner fortwährenden Nachlässigkeit,18 wegen des schlechten Umgangs mit deinen erhabensten Sakramenten, wegen der Mißachtung deines Wortes und deiner Eingebungen, wegen meiner haltlosen und völlig unnützen Taten und Gedanken, wegen meiner gänzlich vergeudeten Zeit, die du mir nur gegeben hattest, um dich anzubeten, um bei allen meinen Beschäftigungen nach den Mitteln zu suchen, dir zu gefallen, und um die Fehltritte abzubüßen, die man alle Tage begeht und die selbst bei den Gerechtesten etwas ganz Gewöhnliches sind, so daß ihr Leben eine unablässige Buße sein muß, ohne die sie in Gefahr sind, von ihrer Gerechtigkeit abzufallen.19 So, mein Gott, bin ich immer gegen dich gewesen.20

Anspielung auf Hiob 2, 7. Mesnar d OC 4, S. 1005, verweist als parallelen Text auf A. A rnauld : Apologie sur feu M. l’abbé de Saint-Cyran, 2. Teil, S. 122. 18 Die Fassung OC 4 (Mesnard), S. 1005 ergänzt : »wegen meines ständigen Widerstrebens gegen deine Eingebungen«. 19 Die Fassung OC 4 (Mesnar d), S. 1005 hat statt »ohne … abzufallen« : »ohne die sie zu Ungerechten und Sündern werden«. 20 Vgl. Hiob 7, 20, Laf. 399 : »Wenn der Mensch zu Gott geschaffen ist, warum steht er dann in solchem Widerspruch zu Gott ?« 16 17

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IX . Ja, o Herr, bis jetzt bin ich immer taub für deine Ein-

gebungen gewesen : Ich habe deine Weissagungen mißachtet ; ich habe im Gegensatz zu dir geurteilt ; ich habe den heiligen Lehren widersprochen, die du aus dem Schoß deines ewigen Vaters 21 in die Welt brachtest und nach denen du die Welt richten wirst. Du sagst : »Selig sind, die hier weinen, und wehe denen, die getröstet sind.«22 Und ich habe gesagt : »Unglücklich sind jene, die seufzen, und überglücklich jene, die getröstet sind.« Ich habe gesagt : »Glücklich jene, die sich eines guten Vermögens, eines rühmlichen Namens und einer kräftigen Gesundheit erfreuen.« Und warum habe ich sie für glücklich gehalten, wenn nicht aus dem einzigen Grund, daß all diese Vorteile ihnen sehr bequeme und zahlreiche Möglichkeiten boten, sich der Geschöpfe zu erfreuen, das heißt dich zu beleidigen ? Ja, o Herr, ich bekenne, daß ich die Gesundheit als ein Gut geachtet habe, nicht etwa, weil sie ein leichtes Mittel ist, um dir mit Nutzen zu dienen, um mehr Sorgen und schlaflose Nächte in deinem Dienst und zur Hilfe für den Nächsten auf sich zu nehmen, sondern weil ich von ihr begünstigt mich weniger zurückhalten mußte, wenn ich mich den überreichen Wonnen des Lebens hingeben und dessen unheilvolle Freuden besser auskosten wollte. Erweise mir die Gnade, o Herr, meine verderbte Vernunft zu bessern und meine Gedanken den deinen nachzubilden. Möge ich mich glücklich schätzen in der Trübsal, und da ich unfähig bin, nach außen zu wirken, reinige du meine Gedanken so, daß sie nicht mehr den deinen widerstreben ; und möge ich dich darum in meinem Inneren fi nden, weil ich dich wegen meiner Schwäche nicht außerhalb von mir suchen kann. Denn, o Herr, dein Reich ist in denen, die an dich glauben ;23 und ich werde es in mir Von Nr. IX an redet Pascal Jesus Christus an, vgl. hierzu J. Mesnar d, OC 4, S. 994. In Nr. XV wird die Struktur trinitarisch erweitert. 22 Nach Lk 6, 21.25 ; vgl. Mt 5, 5. 23 Nach Lk 17, 21. 21

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selbst fi nden, wenn ich darin deinen Geist und deine Gedanken fi nde. X . Aber, o Herr, was soll ich tun, um dich zu bewegen, daß du deinen Geist über diese unselige Erde 24 ausgießt ? Alles, was ich bin, ist dir verhaßt, und ich fi nde in mir nichts, was dir gefallen könnte. Ich sehe darin nichts weiter, o Herr, als allein meine Schmerzen, die eine geringe Ähnlichkeit mit den deinen haben.25 Bedenke darum die Übel, die ich erdulde, und jene, die mich bedrohen. Sieh mit barmherzigem Auge auf die Wunden, die deine Hand mir geschlagen hat,26 o mein Heiland, der du deine Leiden im Tode geliebt hast ? O Gott, der du nur darum Mensch geworden bist, um für das Heil der Menschen mehr als je ein Mensch zu leiden ? O Gott, der du nach dem Sündenfall der Menschen nur darum Fleisch geworden bist und leibliche Gestalt angenommen hast, um darin alle Leiden zu erdulden, die unsere Sünden verdient haben ? O Gott, der du die leidenden Körper so sehr liebst, daß du dir den am schlimmsten von Leiden heimgesuchten Leib erwählt hast, den es je auf Erden gab ? Nimm meinen Körper gütig an, nicht um seiner selbst willen und auch nicht wegen all der Dinge, die er in sich birgt, denn alles darin verdient deinen Zorn, sondern wegen der Übel, die er erträgt und die allein deiner Liebe würdig sein können. Liebe meine Leiden, o Herr, und meine Schmerzen mögen dich auffordern, mich aufzusuchen. Um aber deine Wohnung ganz zu bereiten, gib, o mein Heiland, daß, wenn mein Leib mit dem deinen dies gemeinsam hat, daß er um meiner Verfehlungen willen leidet, auch meine Seele dies mit der deinen gemeinsam habe, daß sie um derselben Verfehlungen willen betrübt sei ;27 und möge ich

Vgl. Hiob 10, 9. Die Fassung OC 4 (Mesnar d), S. 1006 formuliert statt dessen : »Ich sehe darin nichts weiter, o Herr, als allein deine Schmerzen«. 26 Vgl. Ps 39, 11 – 12 = Ps 38, 11 – 12 Vg. 27 Vgl. Mt 26, 37. 24 25

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darum gemeinsam mit dir und wie du an meinem Leib und in meiner Seele um der Sünden willen leiden, die ich begangen habe. XI . Erweise mir die Gnade, o Herr, deine Tröstungen mit meinen Leiden zu verbinden, damit ich als Christ leide. Ich bitte nicht darum, von den Schmerzen befreit zu sein, denn das ist der Lohn der Heiligen : Ich bitte aber, den natürlichen Schmerzen nicht ohne die Tröstungen deines Geistes ausgeliefert zu sein ; das nämlich ist der Fluch der Juden und der Heiden. Ich bitte nicht um eine Fülle von Tröstungen ohne irgend ein Leid ; das nämlich ist das selige Leben. Ich bitte auch nicht um eine Fülle von Übeln ohne Tröstung ; das nämlich ist ein Zustand des Judentums. Aber ich bitte darum, o Herr, daß ich beides zugleich empfi nde, sowohl die natürlichen Schmerzen um meiner Sünden willen als auch die Tröstungen deines Geistes um deiner Gnade willen ; das nämlich ist der wahre Zustand des Christentums. Möge ich keine Schmerzen ohne Tröstung fühlen ; möge ich aber Schmerzen und Tröstung zugleich fühlen, damit ich endlich dahin gelange, daß ich nur noch deine Tröstungen ohne allen Schmerz fühle. Denn, o Herr, vor der Ankunft deines eingeborenen Sohnes hast du die Welt ohne Tröstung in den natürlichen Leiden schmachten lassen : Durch die Gnade deines eingeborenen Sohnes tröstest du jetzt deine Gläubigen und linderst ihre Leiden : Und in der Herrlichkeit deines eingeborenen Sohnes erfüllst du deine Heiligen mit einer ganz reinen Seligkeit :28 Das sind die wunderbaren Stufen, über die du deine Werke emporführst. Du hast mich von der ersten befreit : Laß mich die zweite überschreiten, damit ich zur dritten gelange. Das, o Herr, ist die Gnade, um die ich dich bitte.

Zu Natur / Gnade / Herrlichkeit vgl. Laf. 275 : »Da die Natur ein Abbild der Gnade ist, hat er an den Dingen der Natur das vollbracht, was er an denen der Gnade vollbringen sollte … Und selbst die Gnade ist nur das Bild der Herrlichkeit«. 28

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XII . Laß mich nicht so fern von dir sein, daß ich um meiner

eigenen Sünden willen deine bis an den Tod betrübte Seele29 und deinen vom Tode geschlagenen Leib betrachten könnte, ohne daß ich mich freue, an meinem Leib wie in meiner Seele zu leiden. Denn was ist schimpflicher und gleichwohl alltäglicher bei den Christen und bei mir selbst, daß, während dein Schweiß wie Blutstropfen wird,30 um unsere Sünden zu sühnen, wir ein wonnevolles Leben führen und daß Christen, die sich zu dir bekennen – daß jene, die durch die Taufe der Welt entsagt haben, um dir nachzufolgen, daß jene, die vor dem Angesicht der Kirche feierlich geschworen haben, mit dir zu leben und zu sterben, daß jene, die sich zu dem Glauben bekennen, daß die Welt dich verfolgt und gekreuzigt hat, daß jene, die glauben, daß du dich dem Zorn Gottes31 und der Grausamkeit der Menschen ausgeliefert hast, um sie von ihren Sünden zu erlösen, daß jene, sage ich, die an alle diese Wahrheiten glauben, die deinen Leib als das Opfer betrachten, das sich für ihr Heil hingegeben hat, die als die einzige Ursache deiner Leiden die Freuden und die Sünden der Welt und die Welt selbst als deinen Henker ansehen –, danach trachten, ihrem Leib mit denselben Freuden inmitten derselben Welt zu schmeicheln ; und daß jene, die es nicht ansehen könnten, ohne vor Entsetzen zu erzittern, wie jemand den Mörder seines Vaters umschmeichelt und innig liebt, während sein Vater sich aufgeopfert hätte, um ihm das Leben zu geben, daß jene so leben könnten, wie ich es getan habe, voller Freuden mitten in der Welt, von der ich weiß, daß sie der wahre Mörder desjenigen gewesen ist, den ich als meinen Gott und meinen Vater anerkenne, der sich für mein eigenes Heil aufopferte und in seiner Person die Strafe für meine Missetaten trug ? Es ist gerecht, o Herr, daß du eine

Vgl. Mt 26, 38. Nach Lk 22, 44. – Vgl. Laf. 919 (Mysterium Jesu), aber auch oben »Kurze Beschreibung des Lebens Jesu Christi«, Nr. 215. 31 Vgl. z. B. Ps 88, 17 = Ps 87, 17 Vg. 29

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so sündhafte Freude wie jene gestört hast, von der umfangen ich im Schatten des Todes ruhte.32 XIII . Nimm denn von mir, o Herr, die Betrübnis, die mir die Eigenliebe über meine Leiden und über die weltlichen Dinge eingeben könnte, die nicht so geraten, wie meine Herzensneigungen es wünschen, und die nichts mit deiner Herrlichkeit zu tun haben ; erfülle mich aber mit einer Betrübnis, die der deinen gleicht. Mögen meine Leiden dazu dienen, deinen Zorn zu besänftigen. Mache aus ihnen einen Anlaß, mein Heil und meine Bekehrung herbeizuführen. Möge ich fortan Gesundheit und Leben nur wünschen, um es für dich, mit dir und in dir zu gebrauchen und zu beenden. Ich bitte dich weder um Gesundheit noch um Krankheit, weder um das Leben noch um den Tod, sondern darum, daß du über meine Gesundheit und meine Krankheit, über mein Leben und meinen Tod zu deiner Ehre, zu meinem Heil und zum Besten der Kirche und deiner Heiligen verfügst, deren Teil zu werden ich von deiner Gnade erhoffe.33 Du allein weißt, was zweckmäßig für mich ist : Du bist der allmächtige Herr, tue nach deinem Willen. Gib mir, nimm mir ; aber bilde meinen Willen dem deinen nach ; und möge ich mich in demütiger und vollkommener Unterwerfung und mit heiligem Vertrauen bereitmachen, die Anordnungen deiner ewigen Vorsehung anzunehmen, und möge ich alles gleichermaßen anbeten, was mir von dir kommt. XIV. Gib, mein Gott, daß ich mit immer gleichbleibender Seelenruhe alle Arten von Geschehnissen hinnehme,34 denn

Vgl. Ps 107, 10 = Ps 106, 10 Vg. L. Jerph agnon : Pascal et la souffrance, S. 88, verweist auf das augustinische »da quod iubes«, vgl. Cornelius M ayer : Da quod iubes et iube quod uis. In : AugL 2, Sp. 211 – 212 und Augustinus : Confessiones 10, 40.45.60. 34 Mesnar d OC 4, S. 1010, verweist auf Laf. 919 : »Wenn Gott uns eigenhändig Herren gäbe, oh, wie gern würde man ihnen gehorchen müssen. Die Notwendigkeit und die Folgen sind dabei etwas Unfehlbares.« 32 33

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wir wissen nicht, worum wir bitten sollen,35 und ich kann ohne Anmaßung das eine nicht mehr als das andere wünschen, ohne daß ich mich zum Richter 36 und zum Verantwortlichen für die Folgen mache, die deine Weisheit mir ja gerade verbergen wollte. O Herr, ich weiß, daß ich nur eines weiß : daß es gut ist, dir nachzufolgen, und daß es schlecht ist, sich an dir zu versündigen. Hierauf weiß ich nicht, welche Sache die beste oder die schlimmste bei allem ist. Ich weiß nicht, was mir nützlich ist, Gesundheit oder Krankheit, Vermögen oder Armut oder auch alles andere auf Erden. Das zu unterscheiden geht über die Kraft der Menschen und der Engel hinaus und ist in den Geheimnissen deiner Vorsehung verborgen, die ich anbete und die ich nicht ergründen will. XV. Gib denn, o Herr, daß ich, wie ich auch sein mag, mich nach deinem Willen richte und daß ich, krank wie ich bin, dich in meinen Leiden verherrliche. Ohne sie kann ich nicht die Herrlichkeit erlangen ; und du selbst, mein Heiland, wolltest nur durch Leiden zur Herrlichkeit eingehen.37 An deinen Leidensmalen wurdest du von deinen Jüngern erkannt ;38 und an den Leiden erkennst auch du jene, die deine Jünger sind. Erkenne mich darum als deinen Jünger in den Leiden, die ich an meinem Leib wie in meiner Seele wegen der Sünden ertrage, die ich begangen habe. Und da Gott nichts angenehm ist, wenn es ihm nicht von dir dargebracht wird, so vereine meinen Willen mit dem deinen und meine Schmerzen mit jenen, die du erlitten hast. Gib, daß meine Schmerzen die dei-

Vgl. Röm 8, 26. Mesnar d OC 4, S. 1010, formuliert : »ohne daß ich mich zum Richter über die Folgen mache, die es haben könnte und die ich nicht vorauszusehen vermag«. 37 Mesnar d OC 4, S. 1011, formuliert statt dessen : »du selbst, mein Heiland, wärest ohne sie nicht zu ihr [d. h. zur Herrlichkeit] eingegangen«. 38 Anspielung auf die Erscheinungen des Auferstandenen Lk 24, 39 – 40 und die Thomas-Szene Joh 20, 26 – 29. 35

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nen werden. Vereine mich mit dir ; erfülle mich mit dir und deinem Heiligen Geist.39 Geh ein in mein Herz und in meine Seele, um darin meine Leiden zu tragen und um weiter in mir zu erdulden, was noch von deinem Leidensweg vor dir liegt,40 den du in deinen Gliedern bis zur höchsten Vollendung deines Leibes abschließt ; damit, wenn ich ganz erfüllt von dir bin, ich nicht mehr als ich selbst lebe und leide, vielmehr du in mir lebst 41 und leidest, o mein Heiland : und damit, wenn ich also einen kleinen Anteil an deinen Leiden habe, du mich ganz mit der Herrlichkeit erfüllst, die sie dir gewonnen haben, mit der Herrlichkeit, in der du mit dem Vater und dem Heiligen Geist von Ewigkeit zu Ewigkeit lebst.42 So sei es.43

Mesnar d OC 4, S. 1011, formuliert statt dessen : »Gib, daß meine Schmerzen die deinen werden. Mache sie zu den deinigen und vereine mich mit dir, laß mich dich annehmen (revêtez-moi de vous), indem du mich mit dir selbst und deinem Heiligen Geist erfüllst«. Vgl. zu annehmen/anziehen Gal 3, 27, auch Eph 4, 24. 40 Vgl. Kol 1, 24. 41 Vgl. Gal 2, 20. 42 Mesnar d OC 4, S. 1012, formuliert statt dessen : »du mich ganz mit deiner Herrlichkeit erfüllst, in der du mit dem Vater und dem Heiligen Geist von Ewigkeit zu Ewigkeit lebst«. 43 Der Originaldruck schließt mit dem Vermerk »Ende« (Fin). 39

A N H A NG

A bhandlung über die Leidenschaften der Liebe

Der Mensch ist von Natur aus für das Denken geschaffen :1 Darum unterläßt er es auch keinen Augenblick ; jedoch erschöpfen und entmutigen ihn die reinen Gedanken, die ihn glücklich machen würden, wenn er sie ständig ertragen könnte. Mit einem derart einförmigen Leben vermag er sich nicht abzufi nden ; er braucht Unruhe und Tätigkeit, das heißt, es ist notwendig, daß er zuweilen von den Leidenschaften aufgewühlt wird, deren überaus lebhafte und tiefe Quellen er in seinem Herzen spürt. Diejenigen Leidenschaften, die dem Menschen am angemessensten sind und die viele andere Leidenschaften in sich bergen, sind Liebe und Ehrgeiz : Sie haben kaum eine gegenseitige innere Beziehung ; gleichwohl bringt man sie oft zusammen ; doch sie schwächen sich gegenseitig, um nicht zu sagen, daß sie einander vernichten. Welch weiten Geist man auch haben mag, man ist nur zu einer großen Leidenschaft fähig ; wenn Liebe und Ehrgeiz zusammentreffen, sind sie deshalb nur halb so groß, wie sie es wären, wenn es allein das eine oder das andere gäbe. Das Alter bestimmt nicht den Beginn und auch nicht das Ende dieser beiden Leidenschaften ; sie entstehen schon in den Vgl. Pensées, Laf. 620. – Im folgenden sind nur Anklänge an Pascal notiert. Der »cartesianische« Beginn wäre z. B. auch mit N. M alebr anche : La recherche de la vérité zu vergleichen, zu der sich noch weitere Anklänge fi nden. Zu den Parallelen zu M alebr anche etc. vgl. Georges Brunet : Un prétendu traité de Pascal. Le Discours sur les passions de l’amour. Paris : Éditions de Minuit, 1959, und J. Mesnar d, OC 4, S. 1655 ff. Dieser vermerkt auch ausdrücklich die Bezüge in Blick auf die Erstausgabe der Pensées von 1670, die sich ja von der historisch-kritischen Textfassung nach dem Manuskript wesentlich unterscheidet. Vor allem der Abschnitt XXXI der Port-Royal-Ausgabe scheint im Discours benutzt zu sein und zwar mit den Eigenheiten, die den Text vom Manuskript unterscheiden. 1

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ersten Lebensjahren, und sie erhalten sich sehr oft bis an die Schwelle des Grabes. Da sie jedoch viel Feuer verlangen, sind junge Leute besser für sie geeignet, und es scheint, daß sie im Lauf der Jahre nachlassen : Dennoch kommt das recht selten vor. Das menschliche Leben ist jämmerlich kurz. Man rechnet es vom ersten Eintritt in die Welt an. Ich allerdings möchte es erst vom Erwachen der Vernunft und jenem Zeitraum an rechnen, da man allmählich von ihr mitgerissen wird, was gewöhnlich nicht vor dem zwanzigsten Lebensjahr geschieht. Vorher ist man Kind, und ein Kind ist kein Mensch.2 Wie glücklich ist ein Leben, wenn es mit der Liebe beginnt und mit dem Ehrgeiz endet ? Wenn ich mir ein Leben aussuchen könnte, so würde ich mich für dieses entscheiden. Solange man Feuer hat, ist man liebenswert ; doch dieses Feuer erlischt und geht verloren : Wie schön und groß ist dann der Raum für den Ehrgeiz ? Das ruhelose Leben ist den großen Geistern angenehm, doch die mittelmäßigen fi nden keinen Gefallen an ihm ; sie sind ganz und gar Maschinen.3 Wenn die Liebe und der Ehrgeiz das Leben beginnen und beenden, ist man deshalb in dem glücklichsten Zustand, den die menschliche Natur erreichen kann. Je mehr Geist man hat, desto größer sind die Leidenschaften,4 denn da die Leidenschaften nur Gefühle und Gedanken sind, die einzig und allein dem Geist angehören, obgleich der

Schon diese Stelle müßte an der Autorschaft Pascals zweifeln lassen a) wenn man daran denkt, was er mit 20 Jahren bereits geleistet hatte (vgl. die Einleitung), b) wenn man die Pensées heranzieht, z. B. Laf. 82 : »Die Klugheit verweist uns auf die Kindheit. Nisi effi ciamini sicut parvuli «, Laf. 278, 328, 338, 382 u. a. 3 Das cartesianische Thema ist z. B. in Laf. 418 präsent. Vgl. Étienne Gilson : Le sens du terme abétir. In : Ders : Les idées et les lettres. Paris : Vrin, 1932, S. 263 – 274. Vgl. auch Laf. 5, 7, 11, 84. 4 Vgl. Laf. 510 : »Je mehr Geist man hat, desto mehr fi ndet man, daß es mehr originelle Menschen gibt.« 2

Über die Leidenschaften der Liebe

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Körper sie veranlaßt, ist es offensichtlich, daß sie nicht mehr als der Geist selbst sind und folglich sein ganzes Fassungsvermögen beanspruchen. Ich rede nur von den feurigen Leidenschaften : Denn die anderen Leidenschaften vermischen sich oft miteinander und bewirken ein sehr schwerfälliges Durcheinander ; doch das geschieht nie bei denjenigen Leuten, die Geist haben. In einer großen Seele ist alles groß. Man fragt, ob die Liebe etwas Notwendiges sei. Das darf man nicht fragen, man muß es fühlen ; darüber stellt man keine Überlegungen an, man wird dazu getrieben, und wenn man abwägt, hat man Gefallen daran, sich zu täuschen. Die Klarheit des Geistes verursacht auch die Klarheit der Leidenschaft : Darum liebt ein großer und klarer Geist mit Inbrunst, und er erkennt deutlich, was er liebt. Es gibt zwei Arten von Geist : Der eine ist der geometrische Geist, und den anderen kann man den feinsinnigen Geist nennen.5 Der erste erwirbt langsam und schwer Erkenntnisse, an denen er unbeugsam festhält ; der andere jedoch hat eine Gewandtheit des Denkens, die ihn gleichzeitig auf die verschiedenen liebenswerten Seiten des geliebten Wesens achten läßt : Von den Augen dringt er zum Herzen vor, und an der äußeren Regung erfaßt er, was im Inneren geschieht. Wenn man den einen und den anderen Geist zugleich hat, welche Lust bereitet dann die Liebe ? Denn man besitzt so Kraft und Geschmeidigkeit des Geistes in einem, was für die kunstvolle Zwiesprache sehr notwendig ist. Wir werden mit einer natürlichen, im Herzen eingeprägten Anlage zur Liebe geboren, die sich in dem Maße ausbildet, wie der Geist sich vervollkommnet, und die uns bewegt, das zu lieben, was wir für schön halten, ohne daß man uns jemals gesagt hätte, was es ist. Wer kann danach noch zweifeln, ob

5

Vgl. Laf. 511 – 513.

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wir zu etwas anderem auf der Welt sind als zu lieben ? Man mag sich tatsächlich so sorgfältig vor sich selbst verstecken, wie man will, man liebt immer ; sogar bei den Dingen, von denen man, wie es scheint, die Liebe abgesondert hat, ist sie doch still und heimlich zugegen, und unmöglich kann der Mensch einen Augenblick ohne sie leben. Der Mensch bleibt nicht gern mit sich allein ; 6 aber er liebt : Er muß also den Gegenstand seiner Liebe anderswo suchen. Er kann ihn nur in der Schönheit fi nden ; da er indessen selbst das schönste Wesen ist, das Gott jemals geschaffen hat, muß er in sich selbst das Muster jener Schönheit fi nden, die er außerhalb sucht. Jeder kann in sich selbst ihre ersten Strahlen wahrnehmen ; und je nachdem, ob man bemerkt, daß das außerhalb Vorhandene dem entspricht oder sich von ihm entfernt, bildet man sich bei allem seine Vorstellungen von schön und häßlich. Obgleich der Mensch nun nach etwas sucht, womit er die große Leere ausfüllen kann, die er bewirkt hat, als er über sich selbst hinausging, vermag er dennoch seine Zufriedenheit nicht bei allen beliebigen Gegenständen zu fi nden. Er hat ein zu weites Herz ; es muß etwas sein, was ihm wenigstens gleicht oder ihm so weit wie irgend möglich nahekommt. Darum besteht die Schönheit, die den Menschen zufriedenstellen kann, nicht allein in der Übereinstimmung, sondern auch in der Ähnlichkeit ; diese beschränkt die Schönheit und schließt sie in den Rahmen des Geschlechtsunterschiedes ein. Die Natur hat uns diese Wahrheit so tief in der Seele eingeprägt, daß wir das Feld ganz vorbereitet fi nden ; Kunst und Kenntnisse sind nicht erforderlich ; es scheint sogar, daß wir einen Platz im Herzen haben, den wir ausfüllen müssen und der tatsächlich ausgefüllt wird. Doch man fühlt es besser, als man es sagen kann. Nur diejenigen, die in der Lage sind, ihre eigenen Vorstellungen durcheinanderzubringen und geringzuachten, sehen das nicht.

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Vgl. Laf. 136.

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Obgleich uns diese allgemeine Vorstellung von der Schönheit mit unauslöschlichen Lettern tief in der Seele eingegraben ist, nimmt sie doch sehr unterschiedliche Formen bei ihrer jeweiligen Anwendung an ; indes bezieht sich dies lediglich auf die Art, wie man das, was gefällt, ansieht. Denn man ersehnt nicht unverhüllt eine Schönheit, sondern wünscht dabei tausend Begleitumstände, die von der Stimmung abhängen, in der man sich befi ndet, und in diesem Sinne kann man sagen, daß jeder sein eigenes Urbild der Schönheit hat, dessen Abbild er in der großen Welt sucht. Gleichwohl entscheiden die Frauen oft über jenes Urbild. Da sie über den Geist der Männer eine unumschränkte Herrschaft ausüben, führen sie ihm entweder jene Seiten der Schönheit vor, die sie selbst haben, oder jene, die sie schätzen, und damit fügen sie jener ursprünglichen Schönheit das hinzu, was ihnen gefällt. Darum gibt es ein Jahrhundert, das den Blonden geneigt ist, und ein anderes für die Brünetten, so daß die unterschiedliche Wertschätzung der Frauen für die einen oder die anderen auch die gleichzeitige unterschiedliche Wertschätzung der Männer für die einen und die anderen bewirkt. Selbst die Mode und die Länder bestimmen oft das, was man Schönheit nennt.7 Es ist seltsam, daß die Gewohnheit so stark an unseren Leidenschaften teilhat. Das verhindert nicht, daß ein jeder seine eigene Vorstellung von der Schönheit hat, auf deren Grundlage er die anderen beurteilt und zu der er sie in Beziehung setzt ; diesem Prinzip gemäß fi ndet ein Liebender seine Dame am schönsten und stellt sie als Vorbild hin. Die Schönheit ist auf tausend unterschiedliche Arten verteilt. Am besten eignet sich, um ihr gegenständlichen Ausdruck zu geben, eine Frau ; wenn sie Geist hat, so beseelt sie die Schönheit und verleiht ihr eine wunderbare Höhe. Wenn eine Frau gefallen will und alle Vorzüge der Schönheit oder wenigstens einen Teil davon besitzt, so wird sie er-

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Vgl. Laf. 51 (der Text findet sich nicht in der Edition von 1670).

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folgreich sein ; und sogar wenn die Männer nur ganz wenig darauf achteten oder sie selbst auch gar nicht diese Absicht verfolgte, würde sie doch deren Liebe gewinnen. Im Herzen der Männer gibt es einen freien Platz, und dort würde sie sich festsetzen. Der Mensch ist von Natur aus für die Lust geschaffen : Das fühlt er, dafür ist kein anderer Beweis nötig. Er folgt also seiner Vernunft, wenn er sich der Lust ergibt. Doch er fühlt sehr oft die Leidenschaft in seinem Herzen, ohne daß er wüßte, womit sie begonnen hat. Eine wahre oder eine vorgetäuschte Lust kann gleichermaßen den Geist einnehmen : Denn was macht es schon aus, daß diese Lust vorgetäuscht ist, wenn man nur überzeugt ist, daß sie wahr sei ?8 Sobald man lange genug von Liebe spricht, wird man verliebt ; nichts ist leichter als das : Sie ist die dem Menschen natürlichste Leidenschaft. Die Liebe hat kein Alter ; sie ist immer im Entstehen. Die Dichter haben es uns gesagt ; deshalb stellen sie uns die Liebe als ein Kind dar. Doch ohne daß wir sie überhaupt fragen, fühlen wir es. Die Liebe gibt Geist, und sie erhält sich durch den Geist. Man braucht Geschick, um zu lieben. Alle Tage schöpft man die Möglichkeiten aus, Gefallen zu erregen ; aber man muß ja gefallen, und man gefällt. Wir haben einen Grundsatz der Eigenliebe, der uns einen solchen Eindruck über uns selbst vermittelt, als könnten wir außerhalb von uns mehrere Plätze einnehmen : Das ist die Ursache, daß es uns sehr angenehm ist, geliebt zu werden. Da man es inbrünstig herbeiwünscht, nimmt man es sehr schnell wahr und erkennt es an den Augen des liebenden anderen : Denn die Augen sind ja die Dolmetscher des Herzens ; doch nur der, der innerlich daran beteiligt ist, versteht ihre Sprache.

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Vgl. Laf. 661.

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Der Mensch ist allein etwas Unvollkommenes ; er muß einen zweiten fi nden, um glücklich zu sein. Er sucht ihn sehr oft im gleichen Stand, weil die Freiheit und die Gelegenheit, sich zu offenbaren, dort am leichtesten zu fi nden sind. Dennoch erhebt man sich mitunter weit über seinen Stand hinaus, und man fühlt, daß das Feuer dann höher emporlodert, obgleich man nicht wagt, das derjenigen zu sagen, die es entfacht hat. Wenn man eine Dame liebt, die nicht dem gleichen Stand angehört, kann der Ehrgeiz den Beginn der Liebe begleiten ; doch in kurzer Zeit wird sie die Herrschaft übernehmen. Sie ist ein Tyrann, der keinen Gefährten duldet : Sie will allein sein, alle Leidenschaften müssen sich fügen und ihr gehorchen. Die Zuneigung zu einer hochgestellten Dame bringt eine weitaus vollkommenere Erfüllung als die zu einer gewöhnlichen und gleichgestellten Frau ; des Menschen Herz ist groß, und die kleinen Dinge treiben in seiner Weite hin und her ; nur die großen halten in ihm inne und bleiben. Man schreibt oft Dinge, die man nur beweist, indem man jedermann verpfl ichtet, über sich selbst nachzudenken und so die Wahrheit, von der man spricht, zu fi nden. Gerade darin besteht die Kraft der Beweise für meine Worte. Wenn ein Mensch irgendwo in seinem Geist empfi ndsam ist, so in der Liebe. Denn da er von einem Gegenstand der Liebe erregt werden muß, der sich außerhalb von ihm selbst befi ndet, so bemerkt er, wenn etwas seinen Vorstellungen widerspricht, und meidet es. Das maßgebliche Muster dieser Empfi ndsamkeit kommt aus einer reinen, edlen und erhabenen Vernunft. Daher kann man sich für empfi ndsam halten, ohne daß man es tatsächlich ist, und die anderen verurteilen uns dann zu Recht ; bei der Schönheit hingegen hat jeder sein unübertreffliches Muster, das von demjenigen der anderen unabhängig ist. Da man jedoch zwischen empfi ndsam und ganz unempfi ndlich unterscheidet, muß man auch anerkennen, daß man, wenn man empfi ndsam sein möchte, nicht weit davon entfernt ist, es voll und ganz zu werden.

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Die Frauen sehen gern Empfi ndsamkeit bei den Männern, und das, so scheint mir, ist die liebenswerteste Seite, mit der man sie gewinnen kann. Man sieht es mit Freuden, daß tausend andere Geringschätzung und nur wir selbst Achtung verdienen. Geistige Werte lassen sich nicht durch die Gewohnheit erwerben ; man vervollkommnet sie lediglich. Daher ist leicht zu erkennen, daß die Empfi ndsamkeit eine Gabe der Natur und keine Errungenschaft der Kunst ist. Je mehr Geist man hat, desto mehr ursprüngliche Schönheiten entdeckt man ; man darf indes nicht verliebt sein : Wenn man nämlich liebt, entdeckt man nur eine einzige Schönheit. Immer, wenn eine Frau aus sich herausgeht, um ihr wahres Wesen im Herzen der anderen zu offenbaren, scheint es dann nicht so, als räumte sie in ihrem eigenen Herzen einen freien Platz für die anderen ein ? Dennoch kenne ich manche, die sagen, dies sei nicht wahr. Dürfte man es wagen, das ungerecht zu nennen ? Es ist ja natürlich, daß man ebensoviel zurückgibt, wie man genommen hat. Es erschöpft und zerstört den menschlichen Geist, wenn er an ein und denselben Gedanken gebunden ist. Deshalb ist es für die Beständigkeit und Dauer der Liebeslust notwendig, manchmal nicht zu wissen, daß man liebt ; und das bedeutet nicht, sich einer Untreue schuldig zu machen, denn man liebt ja keine andere ; das bedeutet vielmehr, daß man Kräfte sammelt, um noch besser zu lieben. Dies geschieht, ohne daß man daran denkt ; der Geist wendet sich dem aus eigenem Antrieb zu ; die Natur will es ; sie gebietet es. Gleichwohl muß man zugeben, daß dies eine erbärmliche Folge der menschlichen Natur ist und daß man glücklicher wäre, wenn man sich nicht gezwungen sähe, an etwas anderes zu denken ; doch es gibt kein Mittel dagegen. Eine Liebe, die man nicht einzugestehen wagt, ist eine Lust, die ihre Bitternis, aber auch ihre Süße hat. In welcher Verzückung ist man doch befangen, wenn man alle seine Hand-

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lungen so einrichtet, daß man jemandem gefällt, den man über alle Maßen schätzt ? Jeden Tag sucht man eifrig nach den Wegen, sich zu erklären, und man verwendet darauf ebensoviel Zeit, als wenn man die geliebte Frau unterhalten müßte. In einem einzigen Augenblick werden die Augen hell und trübe, und obwohl man gar nicht eindeutig erkennt, daß die Urheberin dieser ganzen Verwirrung darauf achtet, hat man doch die Genugtuung, all diese Aufregungen um einer Frau willen zu verspüren, die sie so vollkommen verdient. Man möchte eine Sprache haben, um seine Gedanken kundzutun ; denn da man sich nicht des Wortes bedienen kann, ist man gezwungen, sich auf beredte Handlungen zu beschränken. Bis dahin ist man immer freudig gestimmt und stark genug beschäftigt ; somit ist man glücklich : Denn das Geheimnis, eine Leidenschaft ständig wachzuhalten, besteht darin, daß man im Geist keine Leere aufkommen läßt, indem man ihn zwingt, sich unaufhörlich mit dem zu befassen, was diese Leidenschaft so angenehm ausdrückt. Wenn jemand sich aber in dem gerade beschriebenen Zustand befindet, so kann er in ihm nicht lange verharren ; da er der einzige Beteiligte an einer Leidenschaft ist, zu der unbedingt zwei gehören müssen, ist es schwierig, daß er nicht bald alle Regungen erschöpft, von denen er aufgewühlt wird. Obgleich es immer ein und dieselbe Leidenschaft ist, braucht man Veränderungen ; der Geist fi ndet Gefallen an ihnen, und wer sie sich zu verschaffen weiß, der versteht es auch, die Liebe eines anderen zu wecken. Nachdem man einen solchen Weg zurückgelegt hat, schwächt sich diese Fülle zuweilen ab ; und wenn man aus ihrer Quelle keine Hilfe erhält, neigt man sich einem jämmerlichen Ende zu, und die entgegengesetzten Leidenschaften bemächtigen sich eines Herzens, das sie in tausend Stücke zerreißen. Dennoch wird man von einem Hoffnungsstrahl, so klein er auch sein mag, ebenso hoch getragen, wie man sich zuvor befunden hatte. An diesem Spiel fi nden die Damen mitunter Gefallen ; doch wenn sie sich zuweilen so stellen, als hätten sie Mitgefühl,

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haben sie es ganz im Ernst. Wie glücklich ist man, wenn das geschieht ? Eine beharrliche und feste Liebe beginnt stets mit beredten Handlungen ; die Augen haben daran den besten Anteil. Gleichwohl muß man raten, aber man muß richtig raten. Wenn zwei Menschen das gleiche Gefühl haben, so raten sie nicht, oder wenigstens versteht einer von ihnen, was der andere sagen will, ohne daß dieser es versteht oder es zu verstehen wagt. Wenn wir lieben, kommen wir uns selbst ganz anders vor, als wir es früher waren. Daher bilden wir uns ein, daß alle es bemerken ; dennoch ist nichts so falsch wie dies. Da indes die Leidenschaft den Blick der Vernunft trübt, kann man keine Gewißheit erlangen und bleibt stets mißtrauisch. Wenn man liebt, redet man sich ein, man könnte die Leidenschaft eines anderen entdecken : Daher hat man Angst. Je länger der Weg in der Liebe ist, desto mehr Lust verspürt ein empfi ndsamer Geist. Es gibt bestimmte Geister, denen man lange Hoffnungen machen muß, und das sind die empfi ndsamen Geister. Es gibt andere, die den Schwierigkeiten nicht lange widerstehen können, und das sind die gröberen Geister. Die ersten lieben länger und lustvoller ; die zweiten lieben schneller und freier, doch sie machen bald ein Ende. Die erste Wirkung der Liebe ist, daß sie große Achtung einflößt : Man verehrt, was man liebt. Das ist sehr gerecht : Man erkennt auf der Welt nichts anderes, was so groß wäre wie dies. Die Schriftsteller können uns die Liebesregungen ihrer Helden nicht richtig schildern ; dazu müßten sie selbst Helden sein. Die Verirrung, mehrere zugleich zu lieben, ist ebenso ungeheuerlich, wie es die Ungerechtigkeit im Geist ist. In der Liebe ist ein Schweigen mehr wert als etwas Ausgesprochenes. Es ist gut, sprachlos zu sein : Es gibt ein beredtes Schweigen, das tiefer dringt, als es die Sprache vermöchte. Wie

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gut überzeugt ein Liebender seine Dame, wenn er sprachlos ist und dazu noch Geist hat ? Wie lebhaft man auch auftreten kann, es gibt Gelegenheiten, bei denen es gut ist, daß die Lebhaftigkeit erstirbt. Das alles geschieht ohne Regel und ohne Überlegung, und wenn der Geist so handelt, hat er zuvor nicht daran gedacht ; es geschieht aus Notwendigkeit. Man betet oft ein Wesen an, das gar nicht glaubt, daß es angebetet wird, und man bewahrt ihm doch eine unverbrüchliche Treue, obgleich es nichts davon weiß ; dann muß die Liebe allerdings sehr feinsinnig und sehr rein sein. Wir erkennen den Geist der Menschen und folglich ihre Leidenschaften, indem wir uns mit den anderen vergleichen. Ich teile die Meinung desjenigen, der gesagt hat, in der Liebe vergesse man sein Vermögen, seine Eltern und seine Freunde ; die großen Zuneigungen gehen so weit. Was bewirkt, daß man in der Liebe so weit geht, ist, daß man meint, man werde nichts anderes nötig haben als das, was man liebt. Der Geist ist ausgefüllt : Für Besorgnis oder Unruhe gibt es keinen Platz mehr. Die Leidenschaft kann ohne dieses Übermaß nicht schön sein : Aus diesem Grunde kümmert man sich nicht darum, was die Welt sagt, denn man weiß ja schon, daß sie unser Verhalten, da es aus der Vernunft kommt, nicht verurteilen darf. Hier gibt es eine Fülle der Leidenschaft, und von ihr kann keine Überlegung ausgehen. Es ist keine Wirkung der Gewohnheit, sondern ein Gebot der Natur, daß die Männer die ersten Schritte tun, um die Zuneigung der Damen zu gewinnen. Jenes von der Liebe verursachte Vergessen der Welt und jene Bindung an das geliebte Wesen bilden Eigenschaften heraus, die man zuvor nicht hatte. Man wird großherzig, ohne daß man es jemals gewesen wäre. Sogar ein Geizhals wird freigebig, wenn er liebt, und er erinnert sich nicht, daß er jemals eine entgegengesetzte Gewohnheit hatte. Den Grund hierfür erkennt man, wenn man bedenkt, daß es Leidenschaften gibt, welche die Seele einengen und unbeweglich machen, und andere, die sie weiten und nach außen verströmen lassen.

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Zu Unrecht hat man der Liebe den Namen der Vernunft entzogen, und ohne zureichende Begründung hat man sie einander entgegengestellt, denn Liebe und Vernunft sind doch nur ein und dasselbe : Das ist eine Übereilung der Gedanken, die sich einer Seite zuwendet, ohne alles eingehend zu prüfen, jedoch ist das immer noch als Vernunft zu bezeichnen, und man darf und kann nicht wünschen, daß es sich anders verhielte, denn sonst wären wir höchst widerwärtige Maschinen. Sondern wir also die Vernunft nicht von der Liebe ab, da jene unzertrennlich mit ihr verbunden ist. Die Dichter hatten also unrecht, wenn sie uns die Liebe als eine Blinde schilderten. Man muß ihr die Binde abnehmen und ihr fortan die volle Sehkraft wiedergeben. Die zur Liebe fähigen Seelen verlangen nach einem tatenreichen Leben, das bis zum letzten mit immer neuen Ereignissen ausgefüllt ist. Da das Innere voller Bewegung ist, muß es auch das Äußere sein, und diese Lebensweise ist ein wunderbarer Weg, um zur Leidenschaft hinzuführen. Daher kommt es, daß die Angehörigen des Hofes einen besseren Zugang zur Liebe fi nden als die Stadtbürger, denn die einen sind ganz Feuer, und die anderen führen ein Leben, dessen Einför migkeit nichts Aufsehenerregendes hat. Das stürmische Leben überrascht, es bewirkt Aufsehen und tiefe Rührung. Es scheint, wenn man liebt, habe man eine ganz andere Seele, als wenn man nicht liebt ; durch diese Leidenschaft erhebt man sich und wächst zu reiner Größe empor ; also muß das übrige hierzu in einem richtigen Verhältnis stehen, sonst ist es unangemessen und erregt demzufolge Mißfallen. Das Angenehme und das Schöne sind nur ein und dasselbe, davon haben alle eine Vorstellung ; ich möchte indes von einer moralischen Schönheit sprechen, die in den Worten und den äußeren Handlungen besteht. Man hat durchaus eine Richtschnur, wie man sich angenehm machen kann ; gleichwohl ist auch die körperliche Veranlagung hierfür notwendig, diese aber kann man sich nicht aneignen.

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Die Menschen haben daran Gefallen gefunden, sich vom Angenehmen eine derart erhabene Vorstellung zu machen, daß niemand zu ihm vordringen kann. Kommen wir hierüber zu einem besseren Urteil und sagen wir, daß es allein das Natürliche zusammen mit einer solchen Ungezwungenheit und Lebhaftigkeit des Geistes ist, daß diese überraschen. Diese beiden Eigenschaften sind in der Liebe notwendig : Es darf nichts Erkünsteltes, aber auch kein Zögern geben. Die Gewohnheit besorgt das übrige. Achtung und Liebe müssen so gut aufeinander abgestimmt sein, daß sie sich gegenseitig stützen, wobei die Liebe nicht von der Achtung erstickt werden darf. Die großen Seelen sind nicht jene, die am häufigsten lieben ; ich spreche von einer ungestümen Liebe. Eine Flut der Leidenschaft ist nötig, um diese Seelen zu erschüttern und auszufüllen. Wenn sie aber zu lieben beginnen, lieben sie viel vollkommener. Man sagt, es gebe Völker, die mehr als andere lieben ; das ist nicht gut ausgedrückt, oder wenigstens ist das nicht in jeder Hinsicht wahr. Wenn die Liebe nur in einer gedanklichen Bindung besteht, ist es sicher, daß sie in der ganzen Welt ein und dieselbe sein muß. Wenn sie allerdings einen anderen Endpunkt als den Gedanken hat, kann das Klima etwas dazutun, doch das bezieht sich nur auf den Körper. Mit der Liebe ist es wie mit dem gesunden Menschenverstand. Da man glaubt, man habe ebensoviel Geist wie ein anderer, glaubt man auch, man liebe ebenso. Wenn man jedoch schärfere Augen hat, liebt man selbst die geringsten Dinge, wozu die anderen unfähig sind. (Man muß sehr feinsinnig sein, um diesen Unterschied wahrzunehmen.) Man kann sich beinahe nicht verliebt stellen, wenn man nicht ganz nahe daran ist, wirklich verliebt zu sein, oder doch wenigstens in irgendeiner Hinsicht liebt : Denn für diese Verstellung braucht man den Geist und das Denken der Liebe. Und wie soll man ohne diese Eigenschaften gut über die Liebe

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sprechen ? Die Wahrheit der Leidenschaften läßt sich nicht so leicht wie die ernsten Wahrheiten verheimlichen. Für die erstgenannte Wahrheit braucht man Feuer, Tatendurst und ein natürliches, schnelles Wirken des Geistes ; die anderen Wahrheiten lassen sich langsam und geschickt verbergen : Und das ist leichter zu erreichen. Wenn man fern von dem geliebten Wesen ist, faßt man den Entschluß, vieles zu tun und zu sagen ; wenn man ihm jedoch nahe ist, so ist man unschlüssig. Woher kommt das ? Der Grund ist : Wenn man fern ist, so wird die Vernunft nicht derart stark erschüttert, doch sie wird es über alle Maßen, wenn das geliebte Wesen anwesend ist. Nun braucht man aber Festigkeit, um einen Entschluß zu fassen, und diese Festigkeit wird durch die Erschütterung zerstört. Man wagt es in der Liebe nicht, alles aufs Spiel zu setzen, weil man befürchtet, alles zu verlieren : Dennoch muß man vorankommen ; aber wer kann sagen, wie weit ? Man ängstigt sich ständig, bis man diesen Punkt gefunden hat. Die Klugheit tut nichts, damit man sich dort halten kann, wenn man ihn gefunden hat. Nichts bringt so sehr in Verlegenheit, als wenn jemand liebt und etwas sieht, was zu seinen Gunsten spricht, ohne daß er daran zu glauben wagt. Man wird dann gleichermaßen von Hoffnung und Furcht bedrängt ; doch schließlich siegt diese über jene. Wenn man heftig liebt, so ist es immer etwas Neues, das geliebte Wesen zu sehen. Sobald es einen Augenblick abwesend ist, entdeckt man, daß es dem Herzen fehlt. Welche Freude, es wiederzufi nden ? Unverzüglich fühlt man, daß die Sorgen verschwinden. Allerdings muß diese Liebe schon weit fortgeschritten sein : Wenn sie nämlich erst im Entstehen ist und man noch nicht den geringsten Erfolg hatte, fühlt man wohl, daß die bisherigen Sorgen verschwinden, doch dafür treten neue auf. Obgleich die Qualen so aufeinanderfolgen, wünscht man doch weiter die Gegenwart seiner geliebten Dame, weil man

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hofft, dann weniger zu leiden. Wenn man sie aber sieht, glaubt man, mehr als früher zu leiden. Die vergangenen Qualen verletzen nicht mehr, die gegenwärtigen gehen zu Herzen, und man urteilt nach dem, was zu Herzen geht. Ist ein Liebender in diesem Zustand nicht des Mitgefühls würdig ?

Personenregister

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PER SON EN R EGIST ER

Das Personenregister umfaßt die Namen der Einleitung, der Texte und der Beigaben. Biblische Personen sind dann erfaßt, wenn sie für eine theologische Thematik stehen (z. B. Adam) oder für ein literarisches Werk (Paulus, für Pascal auch Moses, Johannes usw.). Abraham 27, 166 Adam 149, 198– 201, 205 – 207, 210, 216 – 219, 223, 225, 257, 267, 270, 272– 273, 279, 281, 294, 301, 340 Aland, K. il Alberigo, G. 225 Alexander VII . xxx Ambrosius 178, 190, 193 Annat, F. xxix Archimedes 8 Aristoteles xlv, 66, 78, 114, 132, 134 Arnauld, Antoine xvii, xix, xxvi, xxviii, xlv, lxv, 100, 103, 112, 117, 209, 216, 357 Arnauld, Angélique xvi Arnauld d’Andilly, R. xx Auer, J. lxiv Augustinus, A. xvii, xix, xxiv, xxvi–xxviii, xxxv, xl, xliii, xlvii, l–liii, lv, lvi–lvii, 59, 65 – 66, 76, 83, 91, 93, 103– 104, 112, 115, 117– 118, 127– 128, 131 – 137, 142, 144, 175, 188– 189, 191, 198, 200, 203, 209 – 211, 215 – 216, 221, 223, 225, 228, 231 – 232, 234, 236 – 258,

260 – 264, 266 – 272, 275 – 277, 279 – 280, 282, 292, 294 – 299, 307– 308, 312– 315, 324 – 327, 333– 334, 340, 351 – 353, 356, 362 Augustus 151 Bacon, F. xliii–xliv, xlvi, 59, 61, 63, 66 Baius, M. xxvii Balthasar, H. U. v. xl, xlvii, lxiii–lxiv, 331 Barth, K. xliv Becker, H. 353 Bense, M. lxiv Bernhard von Chartres 64 Bérulle, P. de xv–xvi, xxvii Biemer, G. xxxv, lxvi Blanchet, L. xxxi, lxiv Blondel, M. xxxi, lxiv Blumenberg, H. 66 Bonner, G. 326 Bornhausen, K. lxii Bossut, Ch. xliii, xlvii, lii Bourzeis, de 255 Bossuet, J. B. x Bouchilloux, H. xl, lxiv Brémond, H. xv Brown, S. F. 215

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Personenregister

Brunet, G. lvi, lx, 367 Bruns, H. Th. 175 Brunschvicg, J. xliii, xlv, lix Caelestius 326 Calvet, J. 13 Calvin, J. l, 200, 205, 208, 223 Carcavy, P. de ix Casanova, G. xxi Champaigne, Ph. de lxvi, 118 Charron, P. xxi–xxii Chateaubriand, F. R. A. de x–xi Chevalier, J. l, lix Christine von Schweden xii– xiii Cicero 132, 136 Clair, A. lx Clercq, C. de 291 Clerselier, C. 113 Condorcet, A. N. de xxxvii, xlvii Conry, Fl. 209 Courcelle, P. lx, lxiv, 119, 144 Cousin, V. xxxvii, lv Cuntz, M. xlvi, il, lxiv Cyprian von Karthago 175 Cyrillus von Alexandrien 189 Dalibray, Ch. de → Vion Dalibray, Ch. de Darius 132 David 157, 173, 283 Delgado, M. xxiv, lxvi Descartes, R. xiii–xv, xlv– xlvi, 69, 103– 104, 112– 115, 128– 129, 131, 367– 368 Descotes, D. x, xxxii, lxv, lxviii Desmolets, N. xlv Desprez, G. 19

Domínguez, J. M. xiii Ducas, A. lx Dupuy, M. xv Duvergier de Hauranne, JeanAmbroise → Saint-Cyran Epiktet ix, xix, xxiv–xxv, xxxii, xlii, xlvii, lxi– lxiii, 111 – 147 Erynach, P. → Sinnich, J. Escoubleau, Ch.-P. d’ lvi, lx Estius, G. 300 – 301 Euklid xlv, 6, 8, 72, 87– 88, 94 Faguet, É. lx Faugère, P. xxxvii, xliii, xlviii, lxi Faustus (Manichäer) 134, 136 Feiner, M. xxvi Ferreyrolles, G. xli, liv, lix, lxv Filleau de la Chaise, J. xxxiii– xxxiv, xxxvii, xliii, 25 Fulgentius von Ruspe 239, 252, 258– 261, 263– 265, 325 Fischer, N. 76, 132, 334 Fitzgerald, A. 340 Fontaine, N. xlii, xlvii– xlviii, lxi, 116 – 117, 131 Forton, J. (Saint-Ange) xvii– xviii, lxv, 12, 62 Fransen, P. xxvi Franz von Sales xvi Fuchs, G. xxiv, lxvi Galilei, G. 66 Gassendi, P. xiii Gerhardt, C. I. xlvi Geulincx, A. xlvi Gielies, M. 213

Personenregister

Giesecke, H. lxiii Gilson, E. 113, 368 Goldmann, L. xxxviii– xxxix, lxv Golefer, de 61 Gouhier, H. xvii, xxii, xlviii, lix, lxv, 12, 103 Goulu → 119, 121 Gounelle, A. lx Goyet, Th. liv, lxv, lxviii Gregor der Große 191 Greshake, G. 221 Guardini, R. lxv Haman, M. 192 Hammond, N. lxv Hamon, J. 118 Harlay, F. de xviii, 13 Havet, E. lii–liii Heidegger, M. xx, xliv, 75 Heller, L. M. lxviii Herodes 151 – 153, 155, 160, 162– 163, 167, 180 Hessels van Est, W. → Estius, G. Hieronymus 192, 296 – 297, 299 Hilarius von Poitiers 189 Hoeren, J. xxxviii, lxvi Homer 136 Huarte, J. xliv Innozenz III . 185 Innozenz X . xxvi Innozenz XI . xxx Itard, J. xlvii, lxv Jakob (Erzvater) 27 Jakobus (Apostel) 156 – 157, 163, 177, 192

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Jansenius, C. xvi–xvii, xix–xx, xxvi–xxviii, xxx, xxxv, xliii–xliv, xlviii– li, lvii, 59, 93, 175, 178, 189 – 192, 209, 216 Jean de Saint-François → Goulu Jerphagnon, L. lv, lxv, 362 Jesus Christus xxiii–xxiv, xxxiv, xxxvii, xxxix, xlviii–il, 11 – 12, 15, 17, 22, 24, 27– 28, 33– 34, 36 – 37, 41, 47, 107, 116, 143, 146, 149 – 194, 196, 199, 201 – 202, 204, 205, 207– 208, 210 – 212, 214, 219, 222, 224, 229, 241, 250, 252, 282, 301, 322, 325 – 326, 334, 355, 358, 361 Johannes (Apostel/Evangelist) 156 – 157, 163– 164, 165, 175, 177– 178, 187, 191, 326, 327 Johannes der Täufer 151 – 160, 168, 172 Josephus, Flavius 152, 165 Jovinian 295 Judas Ischariot 170, 174 – 175, 177, 179 Julian von Eclanum 238, 293– 295, 298– 299, 308, 313, 315 Kaplan, F. xxxvii, lxvii Kepler, J. 67 Kessler, M. xxxviii, lxvi Kirsch, U. xxxiv, lxv Kunzmann, U. ix, xiii, xv, xxxv, xl–xli, lx, lxiii Lafuma, L. ix, xi, xxiii, xxxv–xxxvi, xl–xliii, l,

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Personenregister

lii, liv, lvi, lix–lx, lxv, 8– 10, 19, 152, 175, 204 Lazzeri, Ch. liv, lxv Le Camus, J.-P. xviii Le Guern, M. x, xvii, xxii, xxxii–xxxiii, xxxvi, xli, xliv, xlviii–l, liii, lvi–lvii, lix, lxv, 35, 150, 175, 204, 216, 293, 295 Le Maistre de Sacy, I. xix, xxiv–xxv, xxxii, xxxiv, xxxvii, xl, xlii, xlvii– xlviii, l, liii, lix–lxiii, 111 – 147 Le Pailleur, J. 7 Lesaulnier, J. lxv Lhermet, J. il, lxvi Leibniz, G. W. xi, xlv Leo der Große 189 Lessius, L. 213 Löhrer, M. xxvi Löwith, K. xxxviii, lxvi Lomnénie de Brienne, H.-L. de lvi Lubac, H. de xxvi, li, lxvi Lucan 138 Lützeler, H. lxiv Lukas (Evangelist) 151 Luther, M. 126, 227, 288– 289, 308, 311, 318, 320 – 321 Luynes, L. Ch. d’A. de liv, 113, 147 Madec, G. 334 Maeda, Y. 127 Maire, A. lxviii Malebranche, N. lv, 367 Mani 295, 298– 299 Mansi, J. D. 175 Marin, L. xlvi, lxvi

Matthäus (Apostel/Evangelist) 151, 157, 163 Mayer, C. lvii, 132, 362 Mazauric, S. xiii, lxvi Mengotti-Thouvenin, P. → Thouvenin, P. Merschmann, F. lxi, lxiii Mersenne, M. xi, 7 Merton, R. K. 64 Mesnard, J. ix, xii–xiv, xvii, xix–xxi, xxiii, xxviii, xxxii, xxxvi, xxxviii–xxxix, xli–xliii, xlv–l, lii–lvii, lix–lxi, lxvi–lxviii, 7, 14, 31, 35, 61, 69, 116 – 117, 119, 152, 175, 178, 204, 209, 238– 239, 249, 255, 291, 306, 342, 352, 354 – 359, 362– 364, 367 Meyer, H. xxii, lxvi Miel, J. lii, lxvi Molina, L. de xxvii, l, 208 Montaigne, M. de ix, xix, xxi–xxii, xxiv–xxv, xxxii, xlii, xlvi–xlvii, lxi–lxiii, 74, 102, 104, 107, 111 – 147 Moses 25, 94, 161, 173, 191 – 192, 326 – 327 Müller, G. L. 213, 227 Nestorius 292 Nickel, R. 119 Noël, E. xiii, lxii, 8 Nicole, P. xlv, liii–liv, 100 Noyé, I. 13 O’Neill, Ch. E. xiii Ott, K. A. xxxii, xli, 272 Ott, L. 200

Personenregister

Pascal, Antoinette, geb. Begon [Mutter B. Pascals] xi, 3 Pascal, Étienne [Vater B. Pascals] xi– xii, xiv, xx, xliii–xliv, 3– 9, 11 – 12, 14, 33, 41 Pascal, Jacqueline [Schwester B. Pascals] xi–xii, xiv–xv, xix–xx, xxii–xxiii, lii, 14 – 17, 40, 43, 117 Pasqua, H. lii, lxvi Paul V. xxvii Paulus (Apostel) xxxv, xlviii, lv, 111, 136, 188, 196 – 197, 241, 271, 279, 327 Pelagius 221, 242, 294 – 295, 298– 299, 308 Perl, C. J. 66, 128 Périer, Florin [Schwager B. Pascals] xxxvi, 51 Périer, Gilberte, geb. Pascal [Schwester B. Pascals] xi, xiv–xv, xviii–xx, xxxvi, xliii–xliv, lxii–lxiii, 3, 19, 37, 43, 116 Périer, Marguerite [Nichte B. Pascals] xxviii, xxxi, 24 Petrus (Simon; Apostel) 154, 156 – 157, 161 – 164, 174, 176 – 178, 186 – 188, 191, 282 Petrus Lombardus 213– 216 Pilatus, Pontius 153, 167, 179 – 182, 185 – 186 Plato 74 Prosper von Aquitanien 238– 239, 245, 247– 248, 256, 295 – 296, 325 Racine, J. x, xxxix Rädle, F. 353

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Raffelt, A. xxiv, xxxv, xxxvii, xxxviii, xl–xli, lxvi–lxvii, 132 Rahner, K. xliv Raimundus Sabundus 126 – 127, 138– 139, 145 Rebours, A. de xviii– xix, xxiv, li Richelieu, A. J. xxvii Richer, N. 147 Roannez, A. G. de xx– xxi, xxiv, lxvi, 31 Roberval, G. P. de xiv–xv, xlvi Rombach, H. xxxiv, lxvii Rothschuh, K. E. 113 Rüttenauer, W. xiii, xli, lxii, lxiv Ruster, Th. xl, lxvii Sabundus → Raimundus Sabundus Sacy, I. L. de → Le Maistre de Sacy, I. Saint-Cyran xv–xvi, xix, xxi–xxii, xxvi–xxvii Saint-François, Jean de → Goulu Salomo x, 151, 168 Scheffczyk, L. li, 200 Schickard, W. xii Schlingensiepen, H. lxiv Schmidt-Biggemann, W. lxvii Schneider, R. lxiii Schobinger, J.-P. xlv–xlvi, lxiv, lxvi–lxvii, 69, 74, 76, 83, 92– 93, 103, 107 Scholar, R. xlviii, lxi Schott, A. 353

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Personenregister

Schröder, W. 124 Schwartz, C. F. lxi Sebond, Raymond → Raimundus Sabundus Seck, W. xii Seguier, P. xii, xxxvi Sellier, Ph. xxiv, xxxvi, xli, li–liii, lix, 117, 355 Sibiuda, Ramon → Raimundus Sabundus Simon, R. il Singlin, A. 117 Sinnich, J. li, lvii, 238, 260, 263, 276 – 277, 293, 298 Spinoza, B. de xlvi Stegmüller, F. li, 200 Steinmann, J. xii, xxxii, lxvii Steinmann, K. 119 Stilett, H. xlvi, 74, 102, 104, 122– 123 Strowski, F. lix, 119 Struve, W. lxiv Tans, J. A. G. 117 Tertullian 144, 185 Thimme, W. 132, 334

Thomas von Aquin li, 214 – 215, 236, 249, 306, 315 Thouvenin, P. xxxvii, xlii, xlviii, lxi, 119, 127 Tietz, H. D. xlvi Torricelli, E. xiii, 10 Valéry, P. xxxviii Van Helden, A. 66 Villey, P. xlvi, 74, 102, 104, 107, 122– 123 Vion Dalibray, Ch. de xliv Voltaire xxxviii Volusian 115 Walter, P. 301 Wasmuth, E. lxii–lxiii, lxvii Weber-Silvain, L. lxviii Wermlinger, O. 221 Wetstein, H. 25 Wohlmuth, J. 225 Wolff, P. lxiv Wolfgang, A. 19 Zwierlein, E. lvi, lxiii, lxvii

Sachregister

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SACH R EGIST ER

Das Sachregister umfaßt die Texte von Gilberte Périer und Blaise Pascal, jedoch nicht die Einleitung und den Anhang. Die Lebensbeschreibung Gilbertes wurde relativ engmaschig verzeichnet, da sie eine zeitgenössische Interpretation darstellt, die bereits vielfach aus Kenntnis des Nachlasses geschrieben ist. Für einige der das ganze Textcorpus durchziehenden Begriffe (Gott …) konnten nur Kernstellen angeführt werden, die durch spezifischere Fragestellungen zu ergänzen sind und ggf. durch Verweisungen kenntlich gemacht sind. Bei spezifischeren Begrifflichkeiten konnte das Wortfeld weiter abgedeckt werden, womit u.a. auch die Verwendung mancher Terminologien in verschiedenen Sachbereichen deutlich wird. absoluter Wille Gottes 206 –207, 209, 217, 223 Akademiker 133, 135 Alte Kirche 337– 342 Altertum 59, 61 – 68, 118 → Alte Kirche Anthropologie 119 – 147 Apologie des Christentums 20, 29 – 30 Arausicanum → Orange (Konzil) Architektur 61 Arithmetik 61, 79, 87 Arme, Armut 34 – 38, 47, 51, 53– 54, 158, 168– 169 Askese 17– 19, 21, 32 Atheismus 25, 28, 30, 126, 146 Autorität 59 – 62, 127, 192, 204 Axiom 6 – 7, 77, 94, 98– 100, 128– 130 bedingter Wille Gottes 199, 201, 205 – 206, 217, 221 – 223

Begierde 27, 48, 132, 216, 218– 221, 226, 270 – 275, 299, 340, 348– 349 Beharren 159, 176, 201 – 202, 217, 220 – 221, 226, 228, 232– 235, 244, 246, 254 – 258, 260 – 261, 266 – 270, 276 – 281, 291, 307, 309, 313, 316, 328– 329 Bekehrung 146 – 147, 169, 183, 185, 210, 212, 282, 312, 326, 331 – 336, 338, 353, 354, 362 Beredsamkeit 22– 23, 29, 134, 136 Bewegung 74 – 82, 90, 92, 128, 130 Beweis 6 – 7, 10, 31, 67– 108, 129 Beweis (Religion) 24, 29 – 30, 60 → Gottesbeweis Braga (Synode) 175

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Sachregister

Buße 15, 34, 116, 153, 156, 167, 342, 357 Bürgerkrieg 45 Calvinisten 198– 199, 203– 205, 207, 215, 223– 225 Cartesianer 103, 112– 115 Christentum 15, 17, 29, 40, 112, 146, 175, 360 → Religion christliche Moral 12, 22, 44, 57 Defi nition 67, 71 – 80, 82, 87– 88, 98– 101, 109 – 110 Deismus 28 Demut 27, 49, 52, 55, 116, 121, 131, 133, 147, 153, 168, 173, 196, 275, 278, 280, 283, 333, 335, 356, 362 doppelte Prädestination 198– 199, 205, 223 Eigenliebe 19 – 20, 27, 29, 46, 362, 372 Eins, Einer 87– 89 Elend 27– 29, 46, 48, 141, 283, 335, 357 Erbsünde 201, 205 – 206, 214 – 215, 217– 219, 221, 223, 294 Erfahrung 61, 65 – 66,71 Erziehung 3– 4, 65 Ethik 123– 124, 130, 137, 142 Eucharistie 51 – 55, 146, 174, 188, 208 Experiment 5, 10, 62– 63, 67– 68 Fähigkeit → Vermögen Fläche 109

Fortschritt 59, 63– 65 freier Wille 88, 195, 198– 199, 201, 205, 216 – 223, 240, 245 – 246, 248, 251, 255 – 257, 259, 261, 267– 270, 273– 275, 279, 289, 293– 299, 329 Frühkirche → Alte Kirche Fürstenspiegel 343– 350 Gebet 21 – 22, 32, 49, 159, 162– 163, 171, 176 – 177, 183, 193, 214 – 215, 232– 235, 244, 247, 254 – 255, 257, 260, 262– 267, 270, 277– 279, 281 – 282, 325, 328– 329, 335 – 336, 351 – 364 Gebote 210, 217– 218, 222– 223, 225 – 329 Gedächtnis 46, 59, 65, 102– 103 Gefallen 92, 95 – 97 Geist 60 – 61, 72– 73, 93– 94, 96, 122, 128 Geometrie 5 – 8, 61, 79, 109 → Mathematik Geschichtswissenschaft 60 Gespräch 102– 103 Gesundheit 16, 52 → Krankheit Glaube 29, 92– 94, 124 – 125, 134 Glück 29 – 30, 44, 46, 52, 95, 122, 140 – 141, 218– 220, 283, 332– 333, 336. 354 – 356, 358 Gnade 29, 143, 195 – 329 Gott 27– 29, 113– 115, 119, 121 – 122, 127, 129, 132, 140, 149 – 150 → absoluter Wille Gottes → Atheismus → bedingter

Sachregister

Wille Gottes → Gottesbeweis → Inkarnation → Wille Gottes Gottesbeweis 24 – 26, 29 Gottmensch → Inkarnation Grammatik 4, 285, 319 Griechisch 5, 9 Größe (Gesellschaft) 46, 48, 346 – 348 Größe (Mathematik) 88, 109 Größe des Menschen 141 – 143 Häretiker → Häresie Häresie 12– 13, 189, 208, 215, 227, 242, 287– 297, 299 – 300, 312, 320 Heiliger Geist 149, 150 – 151, 153– 154, 159, 176, 189, 193– 194, 220, 286, 311, 325, 327, 364 Heilige Schrift 21 – 22, 26, 60, 62, 114, 126, 144, 197, 203, 208, 210, 229, 232, 238– 241, 249 – 251, 294, 325, 354 Herz 14, 17, 22– 23, 26 – 27, 29, 36, 40 – 42, 44, 93– 96, 135 – 136, 242, 252, 307, 332, 334, 340, 351 – 352, 354 – 356, 364 hinreichende Gnade 200 – 201, 205, 209 – 212, 215, 217, 221 – 222, 233, 257, 259, 262– 263, 265 – 268, 270 – 271, 293, 329 Hochmut 27– 28, 93, 123, 133, 137, 141 – 142, 145 – 146, 258, 325, 333 Hoffnung 184, 278, 282, 331 – 332, 354 – 355 Inkarnation 143, 206, 241 Instinkt 64 – 65, 138

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Irrtum 99 – 100, 123, 141 – 142, 145, 203, 205 – 206, 298 Jesuiten 210 – 212 Katechumenat 337– 339, 341 – 342 Kegelschnitte 8– 9 Kirche 12, 30, 162, 190 – 194, 203, 208, 290, 311, 337– 342, 361 – 362 Kirchenväter 62, 115, 117, 144, 203, 207– 208, 210, 247, 251, 263, 267, 284 – 285, 287– 290, 292– 293, 297– 301, 307– 308, 312, 314, 317– 319, 321, 324, 327 Komet 67 Krankheit 10, 15, 19 – 20, 30 – 33, 49 – 55, 128, 158, 316, 351 – 364 Kreis 6, 109 – 110 Latein 4 – 5, 8– 9 Lebensbeschreibung 3– 57 leerer Raum → Vakuum Lettres Provinciales → Provinciales Liebe 20 – 22, 27, 32, 34, 37, 40, 42, 44, 46, 50, 52, 93, 111 – 112, 159, 191, 199, 202, 218, 226 – 229, 231 – 232, 234, 242, 252– 254, 260, 264, 290 – 291, 311 – 312, 314 – 315, 321 – 322, 324, 326 – 327, 333, 337, 349 – 352, 355, 359 Linie 6, 109 – 110 Literalsinn 285 – 287 Liturgie 355

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Sachregister

Logik(er) 9, 71, 100 – 102, 105, 130 Lüge 47, 83 Lust 40, 42, 96, 135, 145, 258, 271 – 272, 274 – 275, 278 Lutheraner 226 – 227, 291, 297, 299 – 301, 307, 310, 317, 321 – 322, 329 Manichäer 132– 135, 289, 293– 294, 298– 301 massa damnata 201, 219, 221 – 222, 340 Mathematik 5 – 10, 61, 69 – 108, 130 memoria → Gedächtnis Mitte 74, 90, 200, 205, 295 Mittler 27– 29, 150 Möglichkeit 78, 225, 229 – 230, 265, 270, 284, 300 – 307, 312, 327 Molinismus 198– 200, 203– 212, 215 Moral → christliche Moral → Ethik Nichts 81 – 82, 85 – 86, 88, 90 – 92, 332, 335 Null 81 – 82, 89 – 90 Offenbarung 124, 126, 130, 162 Opfer 15, 33– 34, 134, 136, 142, 165, 170 – 171, 174, 183, 354, 361 Orange (Konzilien) 83, 291 Ordnung 70, 73– 74, 79, 94 Ostern 155, 162, 170, 174 Passion Jesu Christi 15, 149, 163, 180 – 185, 206, 359 – 363

Pelagianismus 221, 226 – 227, 230, 242– 243, 252– 254, 286, 289, 291, 293– 296, 301, 312, 325, 327, 329 Pensées 20, 25 Pfl icht 119, 121 – 122, 142 Philosophie 9, 12, 59, 65 – 66, 103, 112– 115, 118– 147 Philosophische Anthropologie → Anthropologie Physik 61 – 63, 78, 104 politische Ordnung 44 – 45, 343– 350 Prädestination 50, 195 – 200, 202, 207, 209, 214 – 216, 236, 249, 277, 282, 291 Port-Royal 14, 24, 83, 111, 113, 116 – 118, 146, 355 Prinzip 73, 77, 82, 84, 94 – 99, 102– 104, 109 – 110, 128, 127– 129, 131, 133, 138– 139, 145 – 146, 204, 234, 242, 244, 247, 249, 259, 262, 267, 327 Provinciales 23 Punkt 85, 109 – 110 Raum 74, 78– 86, 88– 91, 109, 128 Rechenmaschine 9 – 10, 116 Religion 11 – 14, 20, 25 – 30 Rhetorik → Beredsamkeit Rollkurve → Zykoide Ruhe 21, 27, 32, 137, 139, 145 – 146, 167, 326, 331, 334 Schluß → Syllogismus Schöpfung 141, 199, 205 – 207, 217, 221 – 224

Sachregister

Scholastik 12, 216 Seele 17, 27, 33, 46, 84, 92– 96, 123, 127– 128, 130, 133, 146, 149, 177, 271, 307, 315, 325 – 326, 331 – 334, 345 – 346, 352, 355, 357, 359 – 364 Sein 75, 129 – 130 Semipelagianismus 227, 237, 239, 244, 250 Skepsis 124 – 131, 133, 135, 137 Sprachen 4 – 5, 60 Stellung (gesellschaftliche) 343– 350 Stil → Beredsamkeit Stoiker 123, 137, 139 Stolz → Hochmut Sünde 28– 29, 93, 128, 143, 154, 166, 183, 199 – 200, 206 – 207, 214 – 215 – 218, 220, 223– 224, 233– 234, 271, 281, 293– 295, 297– 301, 315, 328– 329, 341 – 342, 356 Sündenfall 206, 210, 216, 218, 221, 223, 294 – 295, 359 Syllogismus 71, 101, 106 – 107 Taufe 36, 153– 155, 190, 201, 212, 280, 338– 342, 355, 361 Theologie 12, 59 – 60, 62 Tier 64 – 65, 74, 113– 115, 128, 131, 139, 241, 252 Tod 33– 34, 40 – 41, 43– 44, 49 – 52, 55, 120, 131, 143, 149, 352– 353, 362 Tradition 203, 207– 209 Traum 131, 136

393

Trient (Konzil) 225 – 234, 284, 287, 289, 291, 300 – 301, 307– 311, 316 – 324, 327– 329 Tugend 14 – 15, 29, 34, 36 – 38, 43, 48, 123, 139 – 141, 146, 235, 293– 294, 347 Übernatürliches 61, 94 Überzeugen 92– 108 Unendlichkeit 65, 67, 80 – 86, 90 – 93, 109 – 110, 127, 143, 335 unmittelbares Vermögen 225 – 228, 232– 234, 243, 255, 257– 260, 262– 271, 275 – 281, 283, 319, 324, 328– 329 → Vermögen Urstand 205 – 206, 216 – 218, 221, 281 Vakuum 10, 59, 67– 68 Valence (Konzil) 291 – 292 Valentinum → Valence (Konzil) Vaumurier 113, 147 Verdammung 37, 155, 195, 198– 201, 203, 205 – 207, 217, 219 – 224, 258, 280, 339 – 340 Verlassenheit 225, 245 – 249, 251, 255 – 257, 261 – 262, 280 Vermögen (Fähigkeit) 224, 302– 305, 312– 313 → unmittelbares Vermögen Vernunft 11 – 12, 26, 40 – 42, 46, 59 – 64, 66, 70, 78, 82, 93– 94, 96, 105 – 107, 123– 124, 126 – 128, 131, 137, 140, 145, 204, 334, 338, 341, 347, 358

394

Sachregister

Wahrheit 60, 68– 69, 83, 93, 116, 128– 129, 131, 135, 141 – 143, 156, 192, 204 – 205, 208, 344 Welt(lichkeit) 14, 16 – 17, 29, 112, 331, 333– 334, 337– 338, 340 – 342, 351 – 353 Wille 88, 92– 96, 122– 123, 191, 195 – 203, 205 – 207, 214, 216 – 330 → freier Wille Wille Gottes 121, 149, 159, 195 – 203, 205 – 207, 210, 214 – 215, 220 – 223, 236, 240 – 241 → absoluter Wille Gottes → bedingter Wille Gottes

wirksame Gnade 200 – 202, 211, 223, 244, 262– 264, 266 – 267, 279 Wunder 24 – 25, 154 – 157, 159, 161 – 162, 166, 168– 169, 184 – 185, 190 – 191, 194, 205, 354 Zahl 71 – 72, 79 – 82, 86 – 89, 91 Zeit 74, 76 – 78, 80, 85, 90, 92, 128, 130 Zerstreuung 16, 334 Zuneigung 38, 40 – 44, 135, 203, 331, 353, 355 Zweifel 124, 126, 133, 135, 142 → Skepsis Zykloide 10, 31, 116