Streitvermeidung und Streitbeilegung im Steuerrecht 9783504388515

Der Band enthält die Referate und Diskussionsbeiträge der 46. Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft

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Streitvermeidung und Streitbeilegung im Steuerrecht
 9783504388515

Table of contents :
Inhalt
Streitvermeidung und Streitbeilegung im Steuerrecht – Eröffnung der Jahrestagung
Streitfelder im Steuerrecht unter Einschluss grenzüberschreitender Streitigkeiten
Verfassungs- und europarechtlicher Rahmen der Streitvermeidung und Streitbeilegung im nationalen Steuerrecht
Internationale und europäische Entwicklungen bei der Streitvermeidung und Streitbeilegung
Tranzparenz und Publizität im Steuerstreit aus rechtsdogmatischer und rechtsvergleichender Perspektive
Digitalisierung zur Streitvermeidung und Streitbeilegung
Verständigungen und Vergleiche in Steuerverfahren aus der Perspektive der Finanzverwaltung
Verständigungen und Vergleiche in Steuerverfahren aus der Perspektive der Beraterschaft und Unternehmen
Verständigungen und Vergleiche in Steuerverfahren aus der Perspektive der Finanzgerichtsbarkeit
Verfahrensrahmen für die Streitvermeidung aus europäischer und internationaler Perspektive, insbesondere Joint Audit, ICAP
DBA-Verständigungsverfahren aus rechtsdogmatischer und rechtspraktischer Perspektive
Das Schiedsverfahren im internationalen Steuerrecht – unter Berücksichtigung der schweizerischen DBA-Praxis
Alternative Streitbeilegungsmechanismen (Mediation, Güterichter, EU-Streitbeilegungs-Richtlinie)
Nationale und europäische Ansätze zur Streitbeilegung bei der Umsatzsteuer
Erfahrungen mit bi- und multilateralen Verrechnungspreisverfahren
Ständiger Ausschuss für Streitbeilegung in der EU und internationale Perspektiven
Die Streitvermeidung geht der Streitbeilegung vor – über die Freiheit im Steuerrecht – Resümee und Ausblick
Laudatio – aus Anlass der Verleihung des Albert-Hensel-Preises 2022 an Dr. Jonathan Schindler
Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft e.V.
Vorstand und Wissenschaftlicher Beirat der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V.
Stichwortverzeichnis

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Gregor Kirchhof (Hrsg.) Streitvermeidung und Streitbeilegung im Steuerrecht

Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V. DStjG Band 45

Streitvermeidung und Streitbeilegung im Steuerrecht 46. Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V. Augsburg, 12. und 13. September 2022 Herausgegeben im Auftrag der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V. von

Prof. Dr. Gregor Kirchhof, LL.M. Universität Augsburg 2023

Zitierempfehlung Verf. in DStjG 45 (2023), S. ...

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-62047-9 ©2023 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Beltz, Bad Langensalza Printed in Germany

Inhalt Ausführliche Inhaltsübersichten jeweils zu Beginn der Beiträge. Seite

Prof. Dr. Klaus-Dieter Drüen, Vorsitzender der DStjG, München/Düsseldorf Streitvermeidung und Streitbeilegung im Steuerrecht – Eröffnung der Jahrestagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Der klassische „Steuerstreit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Streitbeilegung und -beendigung national . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

III. Internationale und europäische Instrumente und Impulse zur Streitbeilegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

IV. Präventive Streitvermeidung im Steuerrecht und bei seinem Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Weitere Tagungsthemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10

Prof. Dr. Roman Seer, Ruhr-Universität Bochum Streitfelder im Steuerrecht unter Einschluss grenzüberschreitender Streitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

I. Einführung und thematische Eingrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

II. Streitfelder im Umfeld der Steuerfestsetzung . . . . . . . . . . . . . . . .

14

III. Spezifika der Umsatz- und Lohnsteuerverfahren . . . . . . . . . . . . .

27

IV. Grenzüberschreitende Streitfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

V. Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

Prof. Dr. Matthias Valta, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Verfassungs- und europarechtlicher Rahmen der Streitvermeidung und Streitbeilegung im nationalen Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

II. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

III. Verfassungsrechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

V

Inhalt

IV. Unionsrechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

Prof. Dr. Roland Ismer, MSc Econ, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Internationale und europäische Entwicklungen bei der Streitvermeidung und Streitbeilegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

II. Internationale Steuerstreitigkeiten: eine Typologie . . . . . . . . . . .

92

III. Entwicklungen bei der Streitvermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

IV. Streitbeilegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 V. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 VI. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Privatdozentin Dr. Caroline Heber, MTax (Sydney), Max-PlanckInstitut für Steuerrecht und öffentliche Finanzen, München Tranzparenz und Publizität im Steuerstreit aus rechtsdogmatischer und rechtsvergleichender Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 I. Begriffsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 II. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 III. Das Steuergeheimnis als Wertentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 IV. Gerichtsöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Prof. Dr. Heribert M. Anzinger, Universität Ulm Digitalisierung zur Streitvermeidung und Streitbeilegung . . . . . . . . 143 I. Streitpotential, Streitvermeidungsvermögen und Streiterfordernisse der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 II. Digitale Tatbestandsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 III. Streitvermeidung durch digitale Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 IV. Streitvermeidung durch digitalen Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

VI

Inhalt

V. Digitaler Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 VI. Folgerungen für Ausbildung, Methodenentwicklung und Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Dr. Eva Oertel, Ministerialrätin, Bayerisches Staatsministerium der Finanzen und für Heimat, München Verständigungen und Vergleiche in Steuerverfahren aus der Perspektive der Finanzverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 I. Verständigungen als Einigung über strittige Fragen . . . . . . . . . . . 183 II. Mechanismen zur Einigung über offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . 184 III. Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 IV. Abschließende These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Dr. Stefanie Beinert, LL.M., Rechtsanwältin/Steuerberaterin, Frankfurt/M. Verständigungen und Vergleiche in Steuerverfahren aus der Perspektive der Beraterschaft und Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . 199 I. (Weiterer) Modernisierungsbedarf im nationalen Recht . . . . . . . 199 II. Verständigungen und Vergleiche im nationalen Recht . . . . . . . . 203 III. Einige ausgewählte Einzelthemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Prof. Dr. Thomas Stapperfend, Präsident des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg, Cottbus Verständigungen und Vergleiche in Steuerverfahren aus der Perspektive der Finanzgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 I. Die Aufgaben der Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 II. Auswirkung von Verständigungen und Vergleichen auf die Aufgaben der Finanzgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

VII

Inhalt

Dr. Isabella Zimmerl, Rechtsanwältin, München Verfahrensrahmen für die Streitvermeidung aus europäischer und internationaler Perspektive, insbesondere Joint Audit, ICAP . . . . . . 247 I. Kernthese und Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 II. Verfahrensrahmen für die Streitvermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 III. Künftige Entwicklungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Silke Bruns, Ministerialrätin, Bundesministerium der Finanzen, Berlin DBA-Verständigungsverfahren aus rechtsdogmatischer und rechtspraktischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 I. Einordnung des Betrachtungsgegenstands und der Betrachtungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 II. Positionierung des Betrachtungsgegenstands . . . . . . . . . . . . . . . . 278 III. Rechtspraktische und rechtsdogmatische Einordnung . . . . . . . . 282 IV. Conclusio – Annäherung an eine Bestimmung der angemessenen Rolle von DBA-Verständigungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . 291 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Prof. Dr. René Matteotti, Rechtsanwalt, Universität Zürich, LL.M., Dr. Büsra Beceren, Rechtsanwältin, Universität Zürich Das Schiedsverfahren im internationalen Steuerrecht – unter Berücksichtigung der schweizerischen DBA-Praxis . . . . . . . . . 303 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 II. Schiedsklauseln in der DBA-Politik der Schweiz . . . . . . . . . . . . . 305 III. Schiedsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 IV. Nationale Umsetzung der Verständigungsvereinbarung . . . . . . . 327 V. Gesamtwürdigung und Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

VIII

Inhalt

Prof. Dr. Barbara Gunacker-Slawitsch, Universität Graz Alternative Streitbeilegungsmechanismen (Mediation, Güterichter, EU-Streitbeilegungs-Richtlinie) . . . . . . . . . 333 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 II. Weshalb besteht ein Bedarf nach alternativen Mechanismen zur Beilegung von Steuerstreitigkeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 III. Bergen alternative Streitbeilegungsmechanismen die Gefahr eines Rechtsschutz- oder (sonstigen) Rechtsstaatsdefizits? . . . . 340 IV. Welche Vorteile können alternative Streitbeilegungsmechanismen bieten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 V. Ausgewählte Streitbeilegungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Dr. Ulrich Grünwald, Rechtsanwalt/Steuerberater, Berlin Nationale und europäische Ansätze zur Streitbeilegung bei der Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 I. Neutralität der Steuer – Korrespondenz der Steuerfestsetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 II. Reform des Umsatzsteuerverfahrensrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 III. Reformvorschläge für das nationale Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 IV. Reformvorschläge auf EU-Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Prof. Dr. Stephan Rasch, Rechtsanwalt, München, Honorarprofessor Universität Augsburg Erfahrungen mit bi- und multilateralen Verrechnungspreisverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 II. Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 III. Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 IV. Reformansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416

IX

Inhalt

Prof. DDr. Gunter Mayr, Bundesministerium für Finanzen, Wien/Universität Wien Ständiger Ausschuss für Streitbeilegung in der EU und internationale Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 I. Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 II. Schiedsverfahren und die EU-Streitbeilegungs-Richtlinie . . . . . 425 III. Rechtliche Begrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 IV. Lösungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 V. Ergebnisse und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Prof. Dr. Gregor Kirchhof, LL.M., Universität Augsburg Die Streitvermeidung geht der Streitbeilegung vor – über die Freiheit im Steuerrecht – Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . 453 I. Streitvermeidung – dreifacher Blick in die Zukunft . . . . . . . . . . . 453 II. Streitbeilegung – Rechtsstand, Erneuerungsauftrag und Visionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 III. Historische Wurzeln – die vernachlässigte zweite Seite der Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 IV. Die Streitvermeidung geht der Streitbeilegung vor – über einen notwendigen Systemwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 Prof. Dr. Tina Ehrke-Rabel, Universität Graz Laudatio – aus Anlass der Verleihung des Albert-Hensel-Preises 2022 an Dr. Jonathan Schindler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft e.V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Vorstand und Wissenschaftlicher Beirat der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471

X

Streitvermeidung und Streitbeilegung im Steuerrecht – Eröffnung der Jahrestagung Prof. Dr. Klaus-Dieter Drüen Vorsitzender der DStjG München/Düsseldorf

I. Der klassische „Steuerstreit“ II. Streitbeilegung und -beendigung national III. Internationale und europäische Instrumente und Impulse zur Streitbeilegung

IV. Präventive Streitvermeidung im Steuerrecht und bei seinem Vollzug V. Weitere Tagungsthemen

I. Der klassische „Steuerstreit“ In diesem Jahr widmen wir uns dem Thema „Streitvermeidung und Streitbeilegung im Steuerrecht“ und behandeln es dabei aus nationaler wie internationaler Perspektive und wollen materielle und prozedurale Fragen klären. Das vielschichtige Gesamtthema geht weit über den thematischen Rahmen des bereits in Dresden im Jahre 1994 beleuchteten „Rechtsschutz in Steuersachen“1 hinaus. Das Tagungsthema und die einzelnen Facetten erschließen sich am besten durch einen kurzen gedanklichen Abgleich mit dem regulären „Steuerstreit“2. Der Rechtsrahmen für den Steuerstreit mit seinen Stärken und Schwächen ist allgemein bekannt. Das „Regelstreitverfahren“ als Ausgangspunkt erhellt die praktische Suche nach Alternativen, wirft aber auch die Frage nach der Rechtfertigung von Regel und Ausnahmen auf. Immerhin hat der Bürger kraft Verfassungsrechts einen substantiellen Anspruch auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, der umfassend und möglichst lückenlos ist3. Eine Besonderheit des Rechtsschutzverfahrens im Steuerrecht bleibt das

1 Tagungsband hrsg. von Trzaskalik, DStJG 18 (1995). 2 Dazu aus praktischer Beratungssicht umfassend Streck/Kamps/Olgemöller, Der Steuerstreit, 4. Aufl. 2017. 3 Ruthig in Kopp/Schenke, 27. Aufl. 2021, § 1 VwGO Rz. 12.

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Drüen – Eröffnung der Jahrestagung

nur zweistufige Gerichtsverfahren, das zwar Art. 19 Abs. 4 GG genügt4, rechtspolitisch aber von Zeit zu Zeit wieder hinterfragt wird5. Rechtspolitisch wird zudem dafür plädiert, die Revisionszulassungsgründe als Zugangstor zum BFH zu erweitern6. Die Kosten des Steuerstreits sind ein besonders praxiswichtiges Thema: Jeder Streit – auch in Steuersachen – kostet Energie, Zeit, Geld und Nerven. Gegenüber unserer letzten Tagung in Dresden haben sich einzelne Stellschrauben für den finanzgerichtlichen Steuerstreit und die Prozessführung verändert. So wurde das Kostenrecht im Jahre 2004 modernisiert und die Möglichkeit einer kostenfreien Klagerücknahme abgeschafft. Dem zeitgerechten Rechtsschutz dient das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer aus dem Jahr 2012. Insgesamt haben sich im administrativen und finanzgerichtlichen Streitverfahren nach den Statistiken die Verfahrenslaufzeiten inzwischen erheblich verkürzt.

II. Streitbeilegung und -beendigung national Unser Blick wird zunächst auf die Rechtstatsachen und die Streitfelder gerichtet, die im besonderen Maße „streitaffin“ sind. Das unternimmt zum Auftakt der Tagung Prof. Dr. Roman Seer aus Bochum7. Er hat sich mit dem Thema der konsensualen Handlungsformen im Steuerverfahren seit seiner Kölner Habilitationsschrift8 beschäftigt9, ist aufgrund seines reichen Erfahrungsschatzes als Hochschullehrer, Kommentator und zugleich als Steuerberater versiert und prädestiniert, uns einen „Streitquellenbericht“ mit kundiger Analyse zu liefern. Das Thema und der Referent könnten zweifellos allein den Vormittag füllen. Der wissenschaftliche Beirat hat gleichwohl noch weitere Themen vor der Mittags4 Dazu Drüen, Richterseminar K: Effektiver Rechtsschutz für Steuerpflichtige – Garantie und Herausforderungen, IStR 2015, 609 (612) m.w.N. 5 Zu den wiederkehrenden Diskussionen über den Gerichtsaufbau Sunder-Plassmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 2 FGO Rz. 9 ff. (Juli 2017) m.w.N. 6 Glückselig/Rose, Notwendige Reformen des finanzgerichtlichen Revisionsrechts aus Sicht der Bundessteuerberaterkammer, DStR 2022, 811; dazu jüngst Thesling, Zum Rechtsschutz in Steuersachen – Aktuelle Chancen und Herausforderungen, DStR 2023, 857 (859 f.). 7 Seer, Streitfelder im Steuerrecht unter Einschluss grenzüberschreitender Streitigkeiten, in diesem Tagungsband. 8 Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 1996. 9 Zuletzt wieder Seer, Was kann das Allgemeine Verwaltungsrecht vom Steuerrecht lernen?, Die Verwaltung 55 (2022), 25 (46 ff.).

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Eröffnung der Jahrestagung – Drüen

pause angesetzt. Nach ihm wird Prof. Dr. Matthias Valta aus Düsseldorf den verfassungs- und europarechtlichen Rahmen der Streitvermeidung und Streitbeilegung im nationalen Steuerrecht abstecken10. Denn natürlich ist bei allen praktizierten und zu entwickelnden Instrumenten dieser Rahmen zu wahren. Darum gehört der Rahmen des höherrangigen Rechts zum Auftakt vor die Klammer gezogen. Bei der Streitbeilegung und -beendigung im nationalen Kontext lohnt ein Rechtsvergleich mit anderen Rechtsgebieten. Ein etabliertes und äußerst wirksames Streitbeilegungsinstrument im Steuerverfahren ist und bleibt das außergerichtliche Einspruchsverfahren. Es ist als ein verlängertes Verwaltungsverfahren in der AO als Verwaltungsverfahrensgesetz der Finanzbehörden geregelt und wird anders als das Widerspruchsverfahren der VwGO nicht primär aus der Perspektive eines Vorverfahrens des gerichtlichen Rechtsschutzes gesehen11. Aufgrund seiner strukturellen Korrektivfunktion zur ersten Veranlagung wurde es im Gegensatz zum sonstigen Verwaltungsrecht, in dem das obligatorische Widerspruchsverfahren abgeschafft und zum Teil fakultativ ausgestaltet12 wurde, niemals in Frage gestellt. Seine Abschaffung in Steuersachen stand und steht nicht an, weil es der vorgerichtlichen administrativen Selbstüberprüfung der Entscheidung durch die Finanzbehörden im Massenfallrecht dient und als effektiver Filter vor Einschaltung der Finanzgerichtsbarkeit wirkt13. Nur unter 2 % der eingelegten Einsprüche münden in Klageverfahren14. Im herkömmlichen „Steuerstreit“ mit dem Finanzamt und vor dem FG sind (tatsächliche) Verständigungen im Steuerverfahren ein Praxisphänomen, das bereits den Reichsfinanzhof beschäftigt hat. Sowohl auf der Ebene der Finanzverwaltung, typischerweise in Betriebsprüfungen, als auch im Rahmen von Gerichtsverfahren als Prozessvergleich kommt es zu tatsächlichen oder auch rechtlichen Verständigungen. Sie sind aus dem Verwaltungs- und Gerichtsalltag nicht mehr hinwegzudenken15. Wo genau 10 Valta, Verfassungs- und europarechtlicher Rahmen der Streitvermeidung und Streitbeilegung im nationalen Steuerrecht, in diesem Tagungsband. 11 Seer, Die Verwaltung 55 (2022), 25 (53). 12 So namentlich in Bayern durch § 15 Abs. 1 Nr. 1 AGVwGO, der auch in Realsteuersachen für Gewerbesteuer und Grundsteuer gilt. 13 Schmid in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, FGO Einführung Rz. 113 (Aug. 2019). 14 Dazu BMF, Statistik über die Einspruchsbearbeitung in den Finanzämtern im Jahr 2020 (www.bundesfinanzministerium.de). 15 Näher, auch zur Empirie Loschelder, Verständigungen im finanzgerichtlichen Verfahren, StuW 2018, 329.

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Drüen – Eröffnung der Jahrestagung

die Grenze ihrer Zulässigkeit liegt, ist bekanntlich streitig. Der BFH stützt die Bindungswirkung der richterrechtlich entwickelten tatsächlichen Verständigung16 bekanntlich und ungeachtet grundlegender Kritik17 auf die tatbestandslosen Grundsätze von Treu und Glauben18. Demgegenüber gewinnt die Anerkennung eines Verwaltungsvertrages in der Literatur an Zuspruch19. Auch im Steuerrecht gilt kein Handlungsformverbot, sondern nur das Gesetzmäßigkeitsgebot20, das weniger durch die Qualität der finanzbehördlichen Maßnahme als eher durch ihren Inhalt gefährdet wird. Die demgegenüber propagierte höchstrichterliche Beschränkung auf rein tatsächliche Verständigungen unter Ausschluss von Rechtsfragen führt zu nicht durchhaltbaren Abgrenzungsversuchen von Tatsachenwürdigung und Rechtsanwendung. Die Beschränkung dieses vertragsgleichen Instruments auf Tatsachen ist nur vordergründig und überzeugt nicht. Schlagend für den fließenden Übergang zur rechtlichen Beurteilung ist das Beispiel der Rechtsfrage der Annahme einer verdeckten Gewinnausschüttung21, für die auch der BFH anerkannt hat, dass die Angemessenheit der Höhe der Gesamtausstattung eines Gesellschafter-Geschäftsführers einer Kapitalgesellschaft einer tatsächlichen Verständigung zugänglich ist22. Das zeigt, dass Tatsachen und Rechtsfragen gleitend ineinander übergehen und der Begriff der tatsächlichen Verständigung nur einen Teilausschnitt des realen Verständigungsprogramms und damit der Streitbeilegung bietet. Wir werden Verständigungen und Vergleiche in Steuerverfahren mit Einzelreferaten aus der Perspektive der Finanzverwaltung (Dr. Eva Oertel, München), von Beraterschaft und Unternehmen (Dr. Stefanie Beinert, Frankfurt/M.) und der Finanzgerichtsbarkeit (Prof. Dr. Thomas Stapperfend, Cottbus/Berlin) behandeln und unter Leitung von Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff unter Einschluss der

16 Grundlegend BFH, Urt. v. 11.12.1984 – VIII R 131/76, BStBl. II 1985, 354 (357 f.). 17 Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 1996, S. 206 ff. 18 Zum Streit über die Rechtsgrundlage und Rechtswirkungen BFH, Urt. v. 27.6.2018 – X R 17/17, BFH/NV 2019, 97 (98) m.w.N. 19 Dafür Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 1996, S. 80 ff.; ebenso Leisner-Egensperger, Der Verwaltungsvertrag: Bestandsaufnahme und Reformbedarf, Die Verwaltung 51 (2018), 467 (475); Schuster, Rechtsinstitut der sog. tatsächlichen Verständigung im Steuerrecht, DStZ 2018, 720 (724) m.w.N. 20 Zum Verbot gesetzesabweichender Vergleiche über Steueransprüche Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 78 AO Rz. 22 (Febr. 2021) m.w.N. 21 Ebenso Seer, Die Verwaltung 55 (2022), 25 (51). 22 BFH, Urt. v. 13.8.1997 – I R 12/97, GmbHR 1998, 248 (249 f.).

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österreichischen Außensicht (Prof. Dr. Tina Ehrke-Rabel, Graz) auf dem Podium diskutieren. Wie facettenreich das Thema Streitbeilegung ist, illustriert die jüngste Streitlos-Stellung der Finanzverwaltung bei der Abgeltungssteuer, nachdem das FG Niedersachsen in einer Richtervorlage23 bereits das BVerfG zur Beurteilung ihrer Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG angerufen hat. Die Verwaltung geht dem schon anhängigen Verfassungsstreit aus dem Wege. Recht überraschend weicht sie in einem einzelnen Verfahren von der bisherigen Linie der Finanzverwaltung ab und beendet den gerichtlichen Streitfall. Das wirft einige Fragen auf, über die sich diskutieren lässt. Es bleibt abzuwarten, ob sich ein neuer Fall auftut und ein Gericht einen neuen Anlauf in der Sache unternehmen wird. Dann wäre die aktuelle Streitbeilegung nur ein Streitaufschub.

III. Internationale und europäische Instrumente und Impulse zur Streitbeilegung Besondere Aufmerksamkeit gilt bei der Streitbeilegung der transnationalen Sicht. Der Begriff der Streitbeilegung ist gerade im internationalen Steuerrecht fest etabliert. Klassische „Dispute Resolution“ durch Verständigungs- und Schiedsverfahren und auch „Alternative Dispute Resolution“ (z.B. UN-Modelle)24 sind nicht allein von theoretischem Interesse, sondern haben immense praktische Bedeutung. Eingangs wird Prof. Dr. Roland Ismer aus Erlangen-Nürnberg internationale und europäische Entwicklungen bei der Streitvermeidung und Streitbeilegung aufzeigen. Gerade internationale Streitbeilegung in Steuersachen wirft – das war bereits Gegenstand unserer Diskussion bei der Tagung in Linz25 – Fragen der Gewähr der nationalen Rechtsschutzgarantie auf 26. Natürlich geht es auch um das Verhältnis von nationalen, rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen und späteren Streitbeilegungsverfahren, was zumindest in Deutschland bislang nicht geklärt ist27. Art. 25 OECD-MA 23 FG Niedersachsen, Beschl. v. 18.3.2022 – 7 K 120/21, DStR 2022, 921. 24 Überblick bei Gröper, The Mutual Agreement Procedure in International Taxation – The Need for Procedural and Administrative Rules, 2020. 25 Mellinghoff in DStJG 36 (2013), S. 198 (200). 26 Dazu Ismer/Piotrowski, Internationale Streitbeilegung in Steuersachen und innerstaatliches Verfassungsrecht: Auf zu gerichtlichen Verfahren!, IStR 2019, 845. 27 Dziurdz´/Kubik/Marchgraber in Gosch/Kroppen/Grotherr/Kraft, DBA, Art. 25 OECD Rz. 140 (März 2021) m.w.N.

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sieht Verständigungsverfahren und sodann Schiedsverfahren vor. Wir werden uns beiden Verfahren mit ihren Stärken und Schwächen am zweiten Tag mit Referaten von Frau Silke Bruns aus dem Bundesfinanzministerium in Berlin28 und – speziell zur Schweizer Sicht – von Prof. Dr. René Matteotti von der Universität Zürich widmen29. Er wird uns angesichts der geringen Fallzahlen von Schiedsverfahren in der Schweiz auch das jüngst eingeführte Schweizer Verfahrensinstrument des Steuerabkommensdurchführungsgesetzes vorstellen, dass am 1.1.2022 in Kraft getreten ist und das Verständigungsverfahren allgemein gesetzlich ausformt. Das Phänomen einer Procedualisierung der Streitbeilegung betrifft mithin nicht nur die EU-Streitbeilegungsrichtlinie und ihre nationale Umsetzung30. Streitbeilegung außerhalb gerichtlicher Verfahren hat gerade im internationalen und europäischen Steuerrecht eine wachsende Bedeutung. Die Zahl der Verständigungs- und Schiedsverfahren steigt und wird angesichts jüngster Umwälzungen in der „Weltsteuerordnung“ weiter zunehmen31. Darum ist der Blick auch auf neue und alternative Formen der „Dispute Resolution“ zu richten, die uns Frau Prof. Dr. Barbara Gunacker-Slawitsch aus Graz unter Einbeziehung der EU-Streitbeilegungsrichtlinie, des Güterichters und von Mediation vorstellen wird32. Im internationalen Bereich steht der Verrechnungspreisstreit herkömmlich und zahlenmäßig an erster Stelle von Verständigungs- und Schiedsverfahren. Prof. Dr. Stephan Rasch, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht aus München sowie Honorarprofessor in Augsburg wird uns seine Erfahrungen mit bi- und multilateralen Verrechnungspreisverfahren schildern und Verbesserungspotentiale aus Sicht von Unternehmen

28 Bruns, DBA-Verständigungsverfahren aus rechtsdogmatischer und rechtspraktischer Perspektive, in diesem Tagungsband. 29 Matteotti, Das Schiedsverfahren im internationalen Steuerrecht – unter Berücksichtigung der schweizerischen DBA-Praxis, in diesem Tagungsband. 30 In Deutschland durch das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2017/ 1852 des Rates v. 10.10.2017 über Verfahren zur Beilegung von Besteuerungsstreitigkeiten in der Europäischen Union v. 10.12.2019, BStBl. l 2020, 3. 31 Zu neuen Konfliktpotentialen Mammen/Jansen/Rasche, Instrumente der Verständigung im internationalen Steuerrecht – Bestandsaufnahme, Anwendungsfragen, Konfliktpotentiale und Reformbedarf, IStR 2019, 372. 32 Gunacker-Slawitsch, Alternative Streitbeilegungsmechanismen (Mediation, Güterichter, EU- Streitbeilegungs-Richtlinie), in diesem Tagungsband.

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und ihren Beratern aufzeigen33. Verrechnungspreise genießen in der Betriebsprüfungspraxis zunehmende Aufmerksamkeit34, was zu vielfältigen Streitpunkten führt. Dabei sind Verrechnungspreisfragen trotz ihrer Technizität Rechtsfragen35. Der Verrechnungspreisstreit findet bislang häufig in Verständigungs- und Schiedsverfahren extra muros der FG statt. Verständigungsverfahren bewegen sich insoweit im justizfreien Raum36. Denn beim FG wird nur präventiv Klage erhoben, um das Verfahren nach nationalem Verfahrensrecht offen zu halten. Der Streitfall wird aber regelmäßig ruhend gestellt. Der nationale Gerichtsspruch ist funktional limitiert, weil ein nationales Gerichtsverfahren keine Gegenkorrektur entsprechend Art. 9 OECD-MA auf der anderen Seite im anderen Vertragsstaat bewirken kann. Gleichwohl gelangen in jüngerer Zeit immer mehr Verrechnungspreisstreite vor die FG. Die „junge Streitfreude“ hängt augenscheinlich mit der Höhe der streitigen Steuerforderungen zusammen, die in Prüfungen aufgerufen werden. Sie hängt zudem mit dem Dauercharakter wiederkehrender Streitfragen und ihrer Befriedung zusammen. Bei der Streitlösungskompetenz unterscheiden sich gerichtliche Verfahren grundlegend von Verständigungsverfahren. Eine Gerichtsentscheidung ist begründungsgetragen und es besteht eine gesetzliche Begründungspflicht sowie eine die präjudizielle Bindung an die ratio decidendi. Die Begründung wird zudem veröffentlicht. Der Normalfall einer gerichtlichen Streitentscheidung ist ihre anonymisierte Publikation. Bei Verständigungsverfahren wird nur das Ergebnis der zwischenstaatlichen Einigung den Verfahrensbeteiligten mitgeteilt und es fällt selbst der Finanzverwaltung und auch dem Steuerpflichtigen oftmals schwer, die Gründe der Entscheidung zu extrapolieren und auf den identischen Streitgegenstand in Folgejahren anzuwenden. Beim ergebnisgetragenen Ansatz zwischen den nationalen Finanzverwaltungen fehlt eine sachbezogene Begründung und darum scheidet jede Bindung an eine ratio decidendi aus. Die fehlende Transparenz von Verständigungsverfahren ist auch insoweit eine Herausforderung. Angehörige der Finanzverwaltung betonen immer wieder, dass Verständigungslösungen zwischen den Staaten nicht als Stapelverfahren mit Paket- oder Gesamtlösungen ausgehandelt werden. Das lässt sich von außen nicht beurtei33 Rasch, Erfahrungen mit bi- und multilateralen Verrechnungspreisverfahren, in diesem Tagungsband. 34 Dazu aus praktischer Sicht Neuling/Wilmanns/Busch/Scheibe, Verrechnungspreise in der Betriebsprüfung, 2020. 35 Zutreffend bereits Lehner in DStJG 36 (2013), S. 199. 36 Drüen, IStR 2015, 609 (616).

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len. Selbst wenn man unterstellt, dass jeder Streitfall im Verständigungsverfahren individuell ohne Rücksicht auf zeitgleich behandelte Fälle gelöst wird, fehlt die Begründungsbasis, um zu entscheiden, wie das Verständigungsergebnis rechtlich zu bewerten ist. Ohne inhaltliche Begründung bleiben die rechtlichen Maßstäbe der Verständigung im Dunkeln. Mangels tragender Gründe bietet ein Verständigungsverfahren häufig keinen Anhalt, welche Rechtsfolgen in qualitativer wie quantitativer Hinsicht aus ihm für nachfolgende Veranlagungszeiträume zu ziehen sind. Bei Verständigungsverfahren steht wegen ihrer bislang strukturellen Intransparenz der Vorwurf der „Geheimwissenschaft“ – wie auch in anderen Bereichen des Rechts (wie im Gesellschaftsrecht bei M&ATransaktionen)37 – im Raume, den es auszuräumen gilt. Dem grundlegenden Thema der Transparenz und der Publizität im Steuerstreit wird sich Frau Privatdozentin Dr. Caroline Heber aus München auch aus rechtvergleichender Perspektive zuwenden38. Ein Gerichtsverfahren zeichnet sich durch die Publizität aus, natürlich unter den Bedingungen des Steuergeheimnisses mit Anonymisierung des Streitergebnisses. Darum werden manche Steuerstreite aus Reputationsgründen oder wegen möglicher Folgeprozesse wegen Schadensersatzes (z.B. wegen Kartellverstößen) nicht ausgetragen, um sie nicht in die Öffentlichkeit zu tragen. Neben ihrer streitvermeidenden Wirkung mag Publizität, insbesondere eine allgemeine, die Sphäre der nationalen Finanzverwaltungen verlassende, öffentliche Publizität, durch nicht zugeschnittene und nicht ohne weiteres erklärliche Informationen auch erst Streitquellen schaffen39.

IV. Präventive Streitvermeidung im Steuerrecht und bei seinem Vollzug Unser Tagungsthema erschöpft sich nicht in der Streitbeilegung, sondern setzt vorgreifend an: Der erste Titelbegriff der Streitvermeidung ist 37 Zur Gefahr, dass das Gesellschaftsrecht zumindest in Teilen des Rechts des Unternehmenskaufs zunehmend zu einer „Geheimwissenschaft“ verkommt, vgl. Habersack/Wasserbäch, Organhandeln vor Schiedsgerichten, AG 2016, 2 (15) m.w.N. 38 Heber, Transparenz und Publizität im Steuerstreit aus rechtsdogmatischer und rechtsvergleichender Perspektive, in diesem Tagungsband. 39 Dazu am Beispiel länderbezogener Bericht multinationaler Unternehmensgruppen zuletzt Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 138a AO Rz. 1, 4, 29 f. (Mai 2023) m.w.N.

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weniger gesichert als die Streitbeilegung und deutungsoffen. Streitvermeidung hat zahlreiche Facetten. Der Begriff der Streitvermeidung eröffnet eine grundlegende Analyse der Streitfelder und -quellen im Steuerrecht. Umfasst Streitvermeidung alle präventiven Instrumente vor einer „Streitanhängigkeit“, die es gar nicht zum formellen Streit kommen lassen, so beginnt die Streitvermeidung bereits bei der Ausgestaltung des materiellen Steuerrechts und setzt sich bei Vollzugsleitlinien der Finanzverwaltung fort. Da der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Steuerrechts – die sich idealiter zur wohlgeordneten „Steuerrechtsordnung“40 zusammenfügt – über einen vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung betonten weiten Gestaltungsspielraum verfügt, ist Streitvermeidung bereits ein legitimes Regelungsanliegen der Steuergesetzgebung zur Schonung der staatlichen und privaten Ressourcen. Eine zentrale zukunftsgerichtete Frage ist die nach einer Streitvermeidung durch Digitalisierung von Steuerrecht und -vollzug (s. sub V.). Gesetzliche Pauschalierungen und Typisierungen bei materiellen Steuergesetzen dienen der Steuervereinfachung, können aber – auf Kosten der zutreffenden Steuerlast – auch einem Streit aus dem Weg gehen. Natürlich kann und wird auch das Verfahrensrecht zur Streitvermeidung eingesetzt. Administrative Nichtaufgriffsgrenzen sind ein Beispiel. Allerdings ist ein administratives Weggucken, das den gesetzlichen Tatbestand strukturell leerlaufen lässt, keine zulässige Form der Streitvermeidung mehr41. Musterverfahren und die Verfahrensruhe sind besondere verfahrensrechtliche Instrumente, damit es im Steuerrecht als Massenfallrecht nicht zu massenhaften Streitfällen kommt. Wir wollen die verfahrensrechtliche Seite exemplarisch und zugleich vertieft für grenzüberschreitende Steuerfälle beleuchten. Frau Rechtsanwältin Dr. Isabella Zimmerl aus München wird am zweiten Tag über den Verfahrensrahmen für die Streitvermeidung mit den transnationalen Projekten Joint Audits und ICAP referieren42.

40 In Tipke’schen Sinne seiner „Steuerrechtsordnung“ (Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I-III, 2. Aufl. 2000/2003/2012). 41 Anekdotisch Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I, Allgemeiner Teil, 1991, S. 321, wonach die Finanzbehörden (insbesondere) „Putzfrauen in privaten Haushalten … für Heinzelmännchen [halten]“. 42 Zimmerl, Verfahrensrahmen für die Streitvermeidung aus europäischer und internationaler Perspektive, insbesondere Joint Audit, ICAP, in diesem Tagungsband.

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V. Weitere Tagungsthemen Das Gesamtthema rechtfertigt sich aus sich selbst heraus. Das Programm hat der Wissenschaftliche Beirat der DStjG nach Vorbereitung durch eine Arbeitsgruppe beraten und beschlossen. Es ist weit gespannt und endet mit Entwicklungsperspektiven. Den Blick nach vorn auf Entwicklungsperspektiven, vor allem auf neue Wege der OECD und mittelwie langfristige Projekte richtet Prof. DDr. Gunter Mayr aus dem österreichischen Bundesministerium der Finanzen in Wien43. Vielleicht wird dabei auch der alte Traum von Klaus Vogel von einem Weltsteuergericht gestreift. Dafür wäre – ganz nahe von Augsburg – München der rechte Ort, aber aus Wiener Sicht gibt es sicherlich auch insoweit Alternativen. Von den DStjG-typischen Querschnitts- und Zukunftsthemen will ich zur Eröffnung das Thema der Digitalisierung hervorheben, das Herr Kollege Prof. Dr. Heribert Anzinger aus Ulm übernommen hat44. Digitalisierung ist das zentrale Programm der Finanzverwaltung. Wir haben uns bereits mehrfach damit beschäftigt. Finanzbehördliches Risikomanagement45 war Gegenstand der Veranstaltung in Stuttgart zum Steuervollzug46 sowie als Anwendungsfall der Digitalisierung auf der Jahrestagung in Köln47. Diese Praktiken der Finanzverwaltung haben natürlich Einfluss auf das Thema der Streitvermeidung. Risikomanagement kanalisiert die Streite, weil viele Sachen gar nicht mehr ausgegriffen und „ausgesteuert“ werden. Dadurch verändert sich auch das finanzgerichtliche Streitfeld. Insoweit fungiert Digitalisierung als Streitvermeider. Digitalisierung kann auch zum Teil als Streitlöser dienen. Ein Anschauungsbeispiel aus der Finanzgerichtspraxis sind gerichtseigene Prüfer. Roman Seer hat ihr Wirken in seiner mit dem Albert-Hensel-Preis prämierten Doktorarbeit näher untersucht48. Die gerichtseigenen Prüfer sind mitt43 Mayr, Ständiger Streitbeilegungsausschuss, neue Wege der OECD und Perspektive eines internationalen Steuergerichtshofs, in diesem Tagungsband. 44 Anzinger, Digitalisierung zur Streitvermeidung und Streitbeilegung, in diesem Tagungsband. 45 Dazu monographisch aus jüngerer Zeit Koch, Das Risikomanagementsystem der Finanzverwaltung, 2019; Heller, Risikomanagementsysteme im Steuerverfahrensrecht, 2022. 46 Tagungsband hrsg. von Widmann, DStJG 31 (2008). 47 Tagungsband hrsg. von Hey, DStJG 42 (2019). 48 Seer, Der Einsatz von Prüfungsbeamten durch das Finanzgericht – Zulässigkeit und Grenzen der Delegation richterlicher Sachaufklärung auf nichtrichterliche Personen, 1993.

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lerweile mit Laptops ausgestattet und stehen mit ihrem Sachverstand gerade in Schätzungsfällen digitalisiert gerüstet auch bei mündlichen Verhandlungen oder Erörterungsterminen zur Verfügung. Das dient auch der Vorbereitung von möglichen Verständigungen. Es geht darum durchzurechnen, was am Ende zahlenmäßig herauskommt. Das erhellt, dass sich in der Praxis nicht über den Sachverhalt, sondern über die Rechtsfolgen verständigt wird, die per Computer berechnet werden. Digitalisierung wird als Problemlöser genutzt, das Recht dabei aber in den Hintergrund gedrängt. Der Steuerpflichtige und sein Berater wollen wissen, was am Ende bei einer Streitbeilegung zu zahlen ist. Die Rechtsfrage steht dahinter und ist Anlass des Streits, aber die Streitlösung wird durch Digitalisierung in einer Summe ausgedrückt, auf die man sich einigt. Das ist natürlich nur die schnöde praktische Sicht, die als Hintergrund für Streitverfahren und ihre Belegung aber nicht zu unterschätzen ist. Die Theorie zur Digitalisierung sub specie der Streitvermeidung und Streitbeilegung wird Herr Anzinger entwickeln. Von den besonderen Themenfeldern greife ich eingangs die Umsatzsteuer als erprobtes und praxiswichtiges Referenzgebiet mit einer (Teil-)Harmonisierung des Rechts und einem unionsrechtlich überformten nationalen Vollzug heraus. Inwieweit es besondere Instrumente sowohl des materiellen Rechts als auch des Verfahrensrechts zur Streitvermeidung und -beilegung in diesem Rechtsgebiet bereits gibt oder diese sich unionsrechtlich abzeichnen, wird Dr. Ulrich Grünwald aus Berlin näher untersuchen49. Damit ist der thematische Bogen der Jahrestagung gespannt. Die Jahrestagung ist der Höhepunkt der jährlichen Aktivitäten der Deutschen steuerjuristischen Gesellschaft. Die 46. Jahrestagung ist hiermit – gottlob wieder in Präsenz – eröffnet. Ich wünsche uns anregende Referate und fruchtbare Diskussionen. Der Stab geht weiter an Herrn Prof. Dr. Gregor Kirchhof, den Augsburger Ordinarius für Steuerrecht und damit den „natürlichen“ Tagungsleiter am Auftakttag. Lieber Herr Kirchhof, wir danken Ihnen und Ihrem gesamten Team bereits an dieser Stelle für die Augsburger Gastfreundschaft, die wir pandemiebedingt erst dieses Jahr in Anspruch nehmen können.

49 Grünwald, Nationale und europäische Ansätze zur Streitbeilegung bei der Umsatzsteuer, in diesem Tagungsband.

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Streitfelder im Steuerrecht unter Einschluss grenzüberschreitender Streitigkeiten Prof. Dr. Roman Seer Ruhr-Universität Bochum

I. Einführung und thematische Eingrenzung II. Streitfelder im Umfeld der Steuerfestsetzung 1. Bewertung von Wirtschaftsgütern/-lasten, Nutzungen und Leistungen 2. Abgrenzung steuerrechtlich unterschiedlicher Sphären 3. Schätzung von Umsatz und Gewinn a) Schätzungsbefugnis („ob“) b) Schätzungshöhe („wie“) 4. Materiell-rechtliche Streitfragen 5. Verfahrensrechtliche Streitfragen 6. Erhöhung des Streitpotentials durch Nebenentscheidungen III. Spezifika der Umsatz- und Lohnsteuerverfahren

1. Steuereinsammlerfunktion des Unternehmers bei der Umsatzsteuer 2. Treuhandfunktion des Arbeitgebers bei der Lohnsteuer IV. Grenzüberschreitende Streitfelder 1. Bestimmung von Verrechnungspreisen 2. Erweiterte Mitwirkungs- und Dokumentationspflichten 3. Verlagerung betrieblicher Funktionen 4. Zuordnung von Gewinnen zu Betriebsstätten 5. Mitarbeiterentsendung/ Home Office im Ausland 6. Korrespondenzregeln 7. Grenzüberschreitendes Umsatzsteuerrecht V. Zusammenfassung der Ergebnisse

I. Einführung und thematische Eingrenzung Ich verstehe im Gesamtzusammenhang unserer Tagung die an mich gestellte Aufgabe so, das „Streitprogramm“, das in den nachfolgenden Referaten verfahrensrechtlich abgearbeitet werden soll, zunächst phänomenologisch aufzufächern. Deshalb werde ich mich nicht mit der sog. tatsächlichen Verständigung und der Rechtsform des öffentlichen Vertrages1 oder der

1 Dazu eingehend Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, Habil. 1996, 71 ff., 123 ff., 317 ff.; zuletzt Seer in Tipke/Kruse, Vor § 118 AO Rz. 10 ff. (August 2021).

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Streitfelder im Steuerrecht – Seer

Frage nach der Zulässigkeit eines Prozessvergleichs2 oder der rechtlichen Einordnung sog. Advance Pricing Agreements3 mit der Auslegung des jüngst in die Abgabenordnung eingefügten § 89a AO4 oder der Zulässigkeit einer sog. Gesamtbereinigung eines steuerstrafrechtlichen Falls5 beschäftigen. Vielmehr werde ich im Folgenden exemplarische Streitfelder benennen, die nach meiner Erfahrung und nunmehr gut 30-jähriger Beschäftigung mit den genannten Themenkomplexen relevant werden können. Die Untersuchung kann angesichts der vorgegebenen zeitlichen Beschränkung nicht abschließend sein. Bewusst unbehandelt geblieben sind Streitfelder des Erhebungs- und Vollstreckungsverfahrens, die sich auf die Durchsetzung bereits festgesetzter Steueransprüche des Staates beziehen.

II. Streitfelder im Umfeld der Steuerfestsetzung 1. Bewertung von Wirtschaftsgütern/-lasten, Nutzungen und Leistungen Ein dauerhaftes Streitfeld nicht nur in der Außenprüfung bietet die Bewertung von Wirtschaftsgütern ebenso wie die von Wirtschaftslasten (insb. von Rückstellungen)6. Anknüpfend an die Erkenntnisse seiner Habilitationsschrift7 hat Marcel Krumm auf der letztjährigen digitalen Tagung unserer Gesellschaft zur Bewertung von Immobilien klarsichtig herausgearbeitet, dass sich ein Verkehrswert immer nur in einer gewissen Bandbreite bestimmen lässt8. Wenn das Gesetz in § 9 Abs. 2 BewG ausführt, dass der gemeine Wert durch den Preis bestimmt wird, der im 2 Dazu Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 1996, Habil., 43 ff., 214 ff., 382 ff. 3 Dazu Seer, Verrechnungspreise, Einkünfteverlagerung – Gestaltung und Abwehr: Verfahrensrechtliche Instrumente (Dokumentationspflichten, APA) als Alternativen zur Bewältigung eines materiellen Rechtsproblems?, in DStJG 36 (2013), 337 (350 ff.). 4 Dazu Seer in Tipke/Kruse, § 89a AO Rz. 5, 37 ff. (November 2021). 5 Dazu Seer, Verständigungen in Steuer- und Steuerstrafverfahren, in DStJG 38 (2015), 313 (331 ff.). 6 Der Begriff der „Wirtschaftslast“ wird hier als Gegenbegriff zum „Wirtschaftsgut“ verwendet, s. J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Habil., 1981/88, 427 ff. 7 Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 321 ff.: „Bewertung als die Suche nach der idealen Wertbandbreite.“ 8 Krumm, Bewertung von Immobilien für die Besteuerung, in DStJG 44 (2022), 225 (228 f.).

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Streitfelder im Steuerrecht – Seer

gewöhnlichen Geschäftsverkehr nach der Beschaffenheit des Wirtschaftsguts bei einer Veräußerung zu erzielen wäre, muss nach einer hypothetischen Wertschätzung durch den Geschäftsverkehr gesucht werden. Das gilt in verkomplizierender (aufwendigerer) Weise, wenn das Gesetz als Verkehrswertmaßstab nicht auf den gedachten Einzelveräußerungspreis, sondern auf den Teilwert abstellt und damit nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG, § 10 Satz 2 BewG gleich mit drei Unbekannten arbeitet: –

der Fiktion eines Erwerbers eines ganzen Betriebs,



der Fiktion eines Gesamtkaufpreises, der unter dem Gesichtspunkt der Fortführung des Betriebes ermittelt wird, und



der Fiktion der Aufteilung des gedachten Gesamtkaufpreises auf die einzelnen Wirtschaftsgüter und Wirtschaftslasten.

Der mit Hilfe dieser hypothetischen Betrachtung jeweils ermittelte Wert lässt sich regelmäßig nur plausibilisieren, aber nicht eindeutig verifizieren, da es eine Bandbreite gleich plausibler Werte gibt. Dieser a priori bestehende, normspezifische Unsicherheitsfaktor erzeugt einerseits Streitpotential, birgt zugleich aber auch das Potential für gesetzeskonforme, streitvermeidende oder -schlichtende Verständigungen. Ein vergleichbares Streitpotential besitzt bei den Wirtschaftslasten der Bereich der Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten i.S.d. § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB. Da es sich um eine Prognoseentscheidung handelt, macht das Gesetz die Ungewissheit hier ausdrücklich zum Tatbestandsmerkmal. Prognoseunsicherheiten finden sich etwa auch bei der Bestimmung der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 2 EStG9. Auch wenn die Finanzverwaltung die AfA-Berechnung für einzelne Wirtschaftszweige durch Verwaltungsvorschriften vertypt hat (sog. AfA-Tabellen), bleiben nicht unerhebliche Schätzungsspielräume10. Der unsichere Bewertungsmaßstab des Teilwerts gilt gem. § 6 Abs. 1 Nr. 4, 5 EStG grundsätzlich auch für die Entnahme und Einlage von Wirtschaftsgütern. Zwar finden wir für die Entnahme von Nutzungen betrieblicher Kraftfahrzeuge Typisierungen, die an den inländischen Listenpreis des Fahrzeugs anknüpfen. Aber selbst in diesem vermeintlich eindeutig festgelegten Bereich sind eigene vorgelagerte Streitfelder aus9 Ausführlich zur Bestimmung der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer von Wirtschaftsgütern: Anzinger in Herrmann/Heuer/Raupach, § 7 EStG Anm. 179 ff. (Juni 2021). 10 Zur eingeschränkten Bindungswirkung von AfA-Tabellen s. Anzinger in Herrmann/Heuer/Raupach, § 7 EStG Anm. 187 ff. (Juni 2021).

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zumachen. So finden die Typisierungen nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG überhaupt nur auf solche Fahrzeuge Anwendung, die zu mehr als 50 % betrieblich genutzt werden. Damit bewegen wir uns auf dem im Folgenden unter 2. behandelten weiten Streitfeld der steuerlichen Sphärenabgrenzung. Selbst wenn aber die Überschreitung der 50 %-Grenze als sicher angenommen werden kann, bleibt dem Steuerpflichtigen nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 3 EStG die Möglichkeit, den für das Kfz entstandenen Aufwand nach den tatsächlich durchgeführten Fahrten abzugrenzen. Dazu muss er das Verhältnis zwischen den betrieblichen und privaten Fahrten durch ein ordnungsgemäßes Fahrtenbuch nachweisen. Dies führt uns dann auf das im Zusammenhang mit der Schätzung unter 3.a) noch näher zu beleuchtende Streitfeld der Ordnungsmäßigkeit von Dokumentationen und der daran gestellten Anforderungen11. Keine größeren Bewertungsunsicherheiten entstehen, wenn und soweit das Gesetz – wie etwa in § 6 Abs. 3, § 5 EStG, § 16 Abs. 3 Sätze 2–4 EStG oder im UmwStG geschehen – zur Verwirklichung des Kontinuitätsprinzips bei Vermögensübertragungen eine steuerneutrale Buchwertverknüpfung zulässt oder gar zwingend vorschreibt12. Streitanfällig ist hier nicht die Bestimmung der Buchwerte, sondern die Vorfrage, ob die Voraussetzungen für eine Buchwertverknüpfung vorliegen. Vor allem die Abgrenzung des Teilbetriebes als „ein mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestatteter organisatorisch geschlossener Teil des Gesamtbetriebes, der für sich allein lebensfähig ist“13, von der nicht begünstigten Übertragung von Einzel-Wirtschaftsgütern ist mit ganz erheblichen Ungewissheiten belastet14.

11 Zu den Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Fahrtenbuch s. BFH v. 16.3.2006 – VI R 87/04, BStBl. II 2006, 625; BFH v. 1.3.2012 – VI R 33/10, BStBl. II 2012, 505 Rz. 12; BFH v. 15.7.2020 – III R 62/19, BStBl. II 2022, 435 Rz. 12; BFH v. 16.3.2022 – VIII R 24/19, BStBl. II 2022, 450 Rz. 16 ff. 12 Dazu aus verfassungsrechtlicher Perspektive ausf. Desens, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen und ertragsteuerrechtliche Grundprinzipien von Umstrukturierungen, in DStJG 43 (2020), 73 ff. 13 So die Definition der st. Rspr. des BFH, s. BFH v. 18.10.1999 – GrS 2/98, BStBl. II 2000, 123 (zu § 16 EStG); BFH v. 29.11.2017 – I R 7/16, BStBl. II 2019, 738 Rz. 37; Seer in Kirchhof/Seer, 22. Aufl. 2023, § 16 EStG Rz. 43 m.w.N. 14 Zum Teilbetriebsbegriff und dessen Unsicherheiten zuletzt eingehend Rödel, Der Teilbetriebsbegriff in den Einbringungstatbeständen des UmwStG, Diss., 2016; Maetz, der Teilbetrieb des UmwStG im Spannungsfeld zwischen Realisations-, Subjektsteuer- und Kontinuitätsprinzip, Diss., 2017; Micker/

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2. Abgrenzung steuerrechtlich unterschiedlicher Sphären Immer dann, wenn das materielle Steuerrecht bestimmte Sphären voneinander trennt und unterschiedlich behandelt, ergibt sich ein potentiell streitbelastetes Abgrenzungs- und Aufteilungsproblem. Die einkommensteuerrechtlich tragende Unterscheidung zwischen Einkunftserzielung und Einkunftsverwendung15 erzeugt dauerhaft das Bedürfnis, zwischen Erwerbsbezügen/-aufwendungen einerseits und Privatbezügen/-aufwendungen andererseits abzugrenzen16. Ob und inwieweit Aufwendungen betrieblicher oder privater Natur sind, ist ein ewiges Streitproblem der Steuerfestsetzung und speziell der Außenprüfung. So weist etwa die Juris-Datenbank zur Anwendung des § 12 EStG von 1950 bis heute 1.920 Entscheidungen des BFH aus17. Insbesondere die im Wege einer Schätzung (§ 162 AO) durchzuführende Aufteilung sog. gemischter Aufwendungen birgt hinsichtlich des anzuwendenden Aufteilungsmaßstabs und der tatsächlichen Verhältnisse Streitpotential18. Zwar ist es richtig, dass die konsequente Folge des objektiven Nettoprinzips19 grundsätzlich ein Aufteilungsgebot ist20. Dieses steht aber unter dem Vor-

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Uphues, Die Auslegung des Teilbetriebsbegriffs im Steuerrecht, Ubg. 2021, 320. J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, 1981/88, Habil., 45 ff. Zur Bestimmung der Erwerbsbezüge und -aufwendungen durch das Veranlassungsprinzip s. Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Rz. 8.208 ff.; grundlegend Ruppe, Die Abgrenzung der Betriebsausgaben/Werbungskosten von den Privatausgaben, in DStJG 3 (1980), 103 ff. Zuletzt abgerufen am 4.6.2023. Eingehend zu dem Problemkreis mit umfassender Würdigung der Rechtsprechungsentwicklung Gärtner, Die Grundsätze der steuerlichen Behandlung gemischt veranlasster Aufwendungen im deutschen Einkommensteuerrecht, Diss., 2017 passim. Zur verfassungsrechtlichen Fundierung des objektiven Nettoprinzips s. M. Bowitz, Das objektive Nettoprinzip als Rechtfertigungsmaßstab im Einkommensteuerrecht, Diss., 2016, 115 ff. Grundlegend BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672 Rz. 133 f., unter Abkehr von der zu willkürlichen Ergebnissen führenden sog. Aufteilungsverbotsrechtsprechung des BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17 (21); BFH v. 28.11.1977 – GrS 2-3/77, BStBl. II 1978, 105 (109); BFH v. 27.11.1978 – GrS 8/77, BStBl. II 1979, 213 (216); ausführliche Würdigung durch Gärtner, Die Grundsätze der steuerlichen Behandlung gemischt veranlasster Aufwendungen im deutschen Einkommensteuerrecht, Diss., 2017, 336 ff.

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behalt, einen rational nachvollziehbaren Aufteilungsmaßstab zu finden und anwenden zu können21. Um in den steuerlichen Massenverfahren eine streitvermeidende oder wenigstens -reduzierende Rechtssicherheit zu erlangen, bedarf es gesetzlicher Typisierungen, die der Gesetzgeber durch einen Katalog nichtabzugsfähiger Betriebsausgaben in § 4 Abs. 5 EStG, auf den § 9 Abs. 5 EStG für die Werbungskosten verweist, auch vorgenommen hat. Allerdings besteht die Gefahr – wie ich es bereits für die typisierende Bewertung der Nutzungsentnahme bei betrieblichen Kfz (§ 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG) aufgezeigt habe – damit inzident neue Streitfelder zu kreieren. Ein Beispiel bildet die missglückte Regelung des § 4 Abs. 5 Nr. 6b EStG zur Begrenzung der Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer. Schon der Begriff des „häuslichen Arbeitszimmers“ birgt erhebliches Streitpotential22. Verbunden mit der Klärung, ob dieses denn auch „den Mittelpunkt der gesamten betrieblichen und beruflichen Betätigung bildet“, ist dauerhaft ein neues Streitfeld sowohl für rechtliche Auslegungsübungen als auch für tatsächliche Lebenssachverhaltsfeststellungen eröffnet23. Kasuistisch-streitanfällig ist in diesem Bereich außerdem die Generalklausel des § 4 Abs. 5 Nr. 7 EStG, wonach Aufwendungen, die die Lebensführung des Steuerpflichtigen und anderer Personen berühren, dem Abzugsverbot unterfallen, soweit sie nach allgemeiner Verkehrsanschauung als unangemessen anzusehen sind. Die allgemeine Verkehrsanschauung soll die Anschauung „breitester Bevölkerungskreise“ sein24. Der BFH meint aber, dass die Gerichte diese nicht besonders feststellen müssten,

21 Siehe etwa die Eingrenzung des Aufteilungsgebots bei beruflich genutzten „Arbeitsecken“ oder „Durchgangszimmern“: BFH v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BStBl. II 2016, 265 Rz. 71–73; dazu krit. Gärtner, Die Grundsätze der steuerlichen Behandlung gemischt veranlasster Aufwendungen im deutschen Einkommensteuerrecht, Diss., 2017, 574 ff.; zuletzt erneut zu Aufwendungen für bürgerliche Kleidung: BFH v. 16.3.2022 – VIII R 33/18, BStBl. II 2022, 614; zu den Anforderungen an die Trennbarkeit s. Gärtner, a.a.O., 446 ff. mit einer Diskussion möglicher Aufteilungsmaßstäbe. 22 Siehe nur den Streit um sog. Durchgangszimmer, Raumteiler oder Arbeitsecken, s. BFH v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BStBl. II 2016, 265 Rz. 66 ff.; BFH v. 22.3.2016 – VIII R 10/12, BStBl. II 2016, 881 Rz. 25 ff. 23 Dazu etwa Paul in Herrmann/Heuer/Raupach, § 4 EStG Anm. 1567 m.w.N. (Oktober 2022). 24 So die Reg.Begr. zum Entwurf des Steueränderungsgesetzes 1960, BTDrucks. III/1811, 8.

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sondern ihnen die Auffassung unvoreingenommener und urteilsfähiger Staatsbürger bekannt sei25. Letztlich ist damit ein typischerweise die Lebensführung des Steuerpflichtigen berührender Aufwand dann unangemessen, wenn die jeweiligen Richter davon überzeugt sind. Es handelt sich im Ergebnis um eine im Richterzimmer entwickelte, subjektive Wertungsentscheidung. Die umfangreiche Einzelfallkasuistik26 enthält eine Fülle beredter Beispiele für diesen Befund. Immerhin müssen die Rechtsanwender bei der jeweiligen Fallbeurteilung einen Fremdvergleich vornehmen, wonach die Aufwendungen dann unangemessen sind, wenn nach der Auffassung breitester Bevölkerungskreise davon ausgegangen werden muss, dass ein ordentlicher und gewissenhafter Unternehmer (s. § 43 Abs. 1 GmbHG, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG) diese Aufwendungen angesichts der erwarteten Vorteile und Kosten nicht auf sich genommen hätte27. Über die Frage, was nach diesem Maßstab noch angemessen ist und was nicht mehr, lässt sich trefflich streiten, aber im Rahmen eines Vertretbarkeitsspielraums auch verständigen. Damit betreten wir ein weiteres Streitfeld, das für die Abgrenzung zwischen Einkommenserzielung und Einkommensverwendung eröffnet ist, wenn der wirtschaftliche Interessengegensatz fehlt oder zumindest fehlen kann. So werden Vertragsbeziehungen zwischen nahen Angehörigen zur Prüfung ihrer steuerrechtlichen Relevanz einen durch das Richterrecht geformten Fremdvergleich unterzogen28. Ihn finden wir bei der verdeckten Gewinnausschüttung nach § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG (und umgekehrt bei der verdeckten Einlage nach § 8 Abs. 3 Satz 3 KStG29) zur Abgrenzung der betrieblichen von der durch das Gesellschaftsverhältnis begründeten Veranlassung wieder. Auch hier dient die „Sorgfalt des ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“ als Denkhilfe zur Ope25 BFH v. 19.6.1975 – VIII R 225/72, BStBl. II 1976, 97 (99). 26 Siehe etwa die Aufzählung bei Stapperfend in Herrmann/Heuer/Raupach, § 4 EStG Anm. 1660 (Oktober 2022). 27 Ständige Rspr.: s. BFH v. 8.10.1987 – IV R 5/85, BStBl. II 1987, 853 (854); BFH v. 29.4.2014 – VIII R 20/12, BStBl. II 2014, 679; BFH v. 19.1.2017 – VI R 37/15, BStBl. II 2017, 526 Rz. 21; s.a. Stapperfend in Herrmann/Heuer/Raupach, § 4 EStG Anm. 1631 m.w.N. (Oktober 2022). 28 Aus der umfangreichen Judikatur: BFH v. 17.2.1998 – IX R 30/96, BStBl. II 1998, 349; BFH v. 28.6.2002 – IX R 68/99, BStBl. II 2002, 699; BFH v. 17.7.2013 – X R 31/12, BStBl. II 2013, 1015; BFH v. 22.10.2013 – X R 26/11, BStBl. II 2014, 374. 29 Siehe nur Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Rz. 11.92 m.w.N.

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rationalisierung des Fremdvergleichs30. Dieser Maßstab führt schließlich – ebenso wie die unter 1. behandelten Wertbegriffe – zu einer Bandbreitenbetrachtung der Rechtsprechung im Bereich der verdeckten Gewinnausschüttung31. Der Fremdvergleich birgt aufgrund seiner Ungewissheit einerseits erhebliches Streitpotential, bietet aber andererseits aufgrund der mit ihm verbundenen Bandbreite gesetzlich vertretbarer Ansätze einen beachtlichen Raum für streitvermeidende oder -schlichtende Verständigungen. Darauf wird im Abschnitt zu den grenzüberschreitenden Sachverhalten noch zurückzukommen sein. Indem der Gesetzgeber nach wie vor an nur historisch erklärbaren Einkunftsarten mit jeweils unterschiedlichen Rechtsfolgen festhält32, provoziert er Abgrenzungsstreitfragen, die sich in beachtlichem Umfang vermeiden ließen. Dasselbe gilt für die Abgrenzung zur Sphäre steuerbefreiter und bestimmter gar nicht erst steuerbarer Einkünfte. Im Bereich des Gemeinnützigkeitsrechts existiert ebenfalls ein Abgrenzungsund Aufteilungsbedürfnis aufgrund der Unterscheidung zwischen der ideellen Sphäre, der Vermögensverwaltung, des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs (§ 64 AO) und des Zweckbetriebs (§ 65 AO)33. Für die Besteuerung von juristischen Personen des öffentlichen Rechts gilt Vergleichbares für die Unterscheidung zwischen Hoheitsbetrieb (§ 4 Abs. 5 KStG), Vermögensverwaltung und dem Betrieb gewerblicher Art, der auch ein Zweckbetrieb sein kann34.

30 Siehe Wassermeyer, GmbHR 1998, 157 (161); Oppenländer, Verdeckte Gewinnausschüttung, Diss., 2004, 143 ff.; Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Rz. 11.73. 31 BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171; BFH v. 27.2.2003 – I R 80/ 01, 81/01, BFH/NV 2003, 1346; BFH v. 27.2.2003 – I R 46/01, BStBl. II 2004, 132; BFH v. 4.6.2003 – I R 24/02, BStBl. II 2004, 136; BFH v. 4.6.2003 – I R 38/ 02, BStBl. II 2004, 139. 32 Bereits krit. zum „Einkünftehistorismus“ J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, Habil., 1981/88, 222 ff. 33 Zum sog. Vier-Sphären-Modell Unabhängige Sachverständigenkommission, Gutachten zur Prüfung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts, BMFSchriftenreihe Bd. 40, 1988, 30 ff.; Hüttemann, Gemeinnützigkeitsrecht und Spendenrecht, 5. Aufl. 2021, Rz. 6.1 ff. 34 Dazu Seer/Wolsztynski, Steuerrechtliche Gemeinnützigkeit der öffentlichen Hand, 2002, 175 ff.

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3. Schätzung von Umsatz und Gewinn a) Schätzungsbefugnis („ob“) Kleinere und mittlere Unternehmen unterliegen heute in der Betriebsprüfungspraxis einer summarischen Risikoprüfung (SRP) zur Verprobung des Buchführungsergebnisses35. Den Finanzbehörden geht es dabei darum, die einen Vertrauensvorschuss zugunsten des Steuerpflichtigen begründende Rechtsvermutung des § 158 AO, wonach eine formell ordnungsgemäß geführte Buchführung auch im Ergebnis materiell richtig ist, zu erschüttern. Dies geschieht vor allem durch Anwendung von Zeitreihenvergleichen sowie digitalen Ziffern- und Strukturanalysen. Zwar hat der BFH die Beweis- und Aussagekraft eines Zeitreihenvergleichs erheblich relativiert und bevorzugt nach einzelnen Warengruppen differenzierende interne Betriebsvergleiche und Vermögenszuwachs- bzw. Geldverkehrsrechnungen36. Treffen bei Durchführung eines Zeitreihenvergleichs die vom Prüfer unterstellten Annahmen (z.B. Bestehen einer homogene Warengruppe ohne größere Preisschwankungen, Wahl repräsentativer Vergleichszeiträume, Kongruenz von Wareneinsatz und Wareneinkauf) tatsächlich zu, werden dabei die betriebsindividuellen Besonderheiten berücksichtigt und sachgerechte Sicherheitsabschläge vorgenommen, sind durch die summarische Risikoprüfung sich ergebende Auffälligkeiten aber gleichwohl relevant. Es bedarf dann plausibler Erklärungen des mitwirkungspflichtigen Betroffenen zu den festgestellten Auffälligkeiten, um die Beweiskraft des Buchführungsergebnisses in vollem Umfang aufrechtzuerhalten37. Erst in dieser Zusammenschau lässt sich beurteilen, ob und in welchem Umfang das Buchführungswerk sachlich unrichtig und eine Hinzuschätzung zulässig ist. Dabei be35 Dazu Rau, Statistisch-mathematische Methoden der steuerlichen Betriebsprüfung und die Strukturanalyse als ergänzende Alternative, 2012, 17 ff.; Wähnert, Interaktive Außenprüfung – Möglichkeiten der gemeinsamen Sachverhaltsaufklärung im digitalen Zeitalter, Stbg 2014, 20; Wähnert, Stbg 2015, 511 (dagegen krit. Petersen, Stbg 2015, 506 und 511); Becker/Giezek/Webel/ Wähnert, Der Beanstandungsanlass nach § 158 AO, DStR 2016, 1878; Schütt, Mathematisch-statistische Methoden in der Außenprüfung, StBp 2018, 323. 36 BFH v. 25.3.2015 – X R 20/13, BStBl. II 2015, 743 Rz. 62 ff.; BFH v. 12.7.2017 – X B 16/17, BFHE 257, 323 Rz. 109: Drei-Stufen-Theorie (s. Seer in Tipke/Kruse, § 158 AO Rz. 21 [Juli 2022]); s.a. Bleschick, Der kalkulierte Bestandsanlass: Kein Nachweis von Mehrergebnissen durch die summarische Risikoprüfung (Teil II), DStR 2017, 426; Krumm, Rechtsfragen der digitalen Betriebsprüfung (Summarische Risikoprüfung) DB 2017, 1105 (1109 ff.). 37 Seer in Tipke/Kruse, § 158 AO Rz. 21a (Juli 2022).

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steht ein erhebliches Unsicherheits- und Streitpotential sowohl im Hinblick auf die Art und Anwendung der Verprobungsmethode als auch der daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen. Die Schätzungsbefugnis der Finanzbehörde hängt allgemein von der formellen Ordnungsmäßigkeit/-widrigkeit der Buchführung ab. Dabei kommt es auf das Gesamtbild aller Umstände im Einzelfall und das sachliche Gewicht der jeweiligen Mängel an38. Im Fokus der Praxis stehen vor allem Bargeschäfte und die diese dokumentierenden Kassenaufzeichnungen. Hier hat der Gesetzgeber zuletzt in Gestalt des § 146a AO39 und der sog. Kassensicherungsverordnung vom 26.9.201740 die Anforderungen an die Benutzer von Registrierkassen deutlich erhöht. Es geht bei einer ordnungsgemäßen Kassenführung um die Kontrollfähigkeit der Bargeschäfte. Die Kassenaufzeichnungen müssen zeitnah geführt werden und die „Kassensturzfähigkeit“, d.h. die jederzeitige Möglichkeit der Abstimmung von Ist- und Sollbestand, muss gewährleistet sein41. Zu den weiteren Voraussetzungen gehört mittlerweile die programmatische Sicherung der EDV-Buchführungssysteme vor nicht erkennbaren Manipulationen durch Überschreibungen oder Löschungen42. Nachträgliche Storno-Buchungen müssen als solche im System immer erkennbar sein. Um die manipulationssichere Journalfunktion verifizieren zu können, bedarf es grundsätzlich der digitalen Betriebsanleitung des Kassensystems ebenso wie Protokolle zwischenzeitlicher Programmänderungen. Ob dies auch für sog. proprietäre Kassensysteme gilt, bei denen nur der Hersteller in das Betriebssystem und die dahinterstehende Datenbank eingreifen kann, ist derzeit umstritten43. Insgesamt ist festzustellen, dass bereits die Frage, ob und inwieweit die Buchführung formell ord-

38 BFH v. 26.8.1975 – VIII R 109/70, BStBl. II 1976, 210 (212); BFH v. 17.11.1981 – VIII R 174/77, BStBl. II 1982, 430 (432); BFH v. 25.3.2015 – X R 20/13, BStBl. II 2015, 743 Rz. 34. 39 Eingeführt durch Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes v. 22.12.2016, BGBl. I 2016, 3152. 40 BGBl. I 2017, 3515; geändert durch Art. 2 des Gesetzes v. 30.7.2021, BGBl. I 2021, 3295. 41 Eingehend zu den Anforderungen Drüen in Tipke/Kruse, § 146 AO Rz. 27– 30a, m.w.N. (Aug. 2021). 42 Drüen in Tipke/Kruse, § 146 AO Rz. 59–61 (August 2021); Seer in Tipke/Kruse, § 158 AO Rz. 13 (Juli 2022). 43 So FG Köln v. 6.6.2018 – 15 V 754/18, Rz. 39; a.A. Seer in Tipke/Kruse, § 158 AO Rz. 13 (Juli 2022); zum Ganzen Burkhard, Verwerfung der Buchführung bei fehlenden Kassen-Programmierprotokollen, StBp 2018, 19 (21 ff.).

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nungsgemäß ist und welches sachliche Gewicht dem jeweiligen Mangel zukommt, höchst streitanfällig ist.

b) Schätzungshöhe („wie“) Die Unsicherheiten setzen sich fort, wenn die finanzbehördliche Schätzungsbefugnis nach § 162 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 158 AO eröffnet ist und es um die Höhe der Schätzung geht. Ziel der Schätzung nach § 162 Abs. 1 AO ist es, diejenigen Besteuerungsgrundlagen anzusetzen, die die größtmögliche Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich haben44. Dabei hat die Finanzbehörde zugunsten wie zuungunsten des Steuerpflichtigen alle relevanten Umstände zu berücksichtigen, die ihr bekannt sind oder im Rahmen verhältnismäßiger Sachaufklärung hätten bekannt sein müssen45. Daher dürfen die Betriebsprüfer die Bestandteile einer formell ordnungswidrigen Buchführung nicht einfach ignorieren, sondern haben sie bei der Durchführung der Schätzung mit zu berücksichtigen. Als Faustformel kann formuliert werden: Je weniger der Steuerpflichtige mitwirkt und aussagekräftige Unterlagen vorliegen, je gröber und unsicherer darf die Schätzung ausfallen46. Aus dieser Wechselbezüglichkeit von Ermittlungs- und Mitwirkungspflicht folgt ein Schätzungsrahmen vertretbarer Ansätze, über die in der Praxis – teils heftig – gestritten, über die sich aber nicht selten auch verständigt wird47.

4. Materiell-rechtliche Streitfragen Das unter 1. bis 3. abgesteckte Feld von streitbegründenden Fragestellungen betrifft regelmäßig eine Mixtur von Sachverhaltsfeststellungen und Rechtsanwendung. Als Akte der Rechtsanwendung sind die Definition und Auslegung des jeweiligen Wertmaßstabes, die Bestimmung voneinander abzugrenzender Sphären einschließlich tauglicher Aufteilungsmethoden sowie die Bestimmung der Anforderungen an die Ordnungsmäßigkeit einer Buchführung und der ggf. anwendbaren Kalkulationsund Schätzungsmethoden zu qualifizieren. Akte der Sachverhaltsermittlung sind demgegenüber die konkrete Feststellung von wertbeeinflussenden Faktoren, die konkrete Aufteilung der individuellen Bezüge und 44 Seer in Tipke/Kruse, § 162 AO Rz. 29 m.w.N. zur st. Rspr. des BFH (Mai 2022). 45 BFH v. 24.6.1997 – VIII R 9/96, BStBl. II 1998, 51 (52). 46 Seer in Tipke/Kruse, § 162 AO Rz. 32 (Mai 2022). 47 Dazu bereits Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, Habil., 1996, 191 ff., 202 ff.

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Aufwendungen anhand des abstrakten Maßstabs, die Ermittlung der Schätzungsgrundlagen und der konkreten betrieblichen Verhältnisse. Die theoretisch trennbaren Elemente hängen dabei so eng miteinander zusammen, dass streitschlichtende bzw. -vermeidende Verständigungen beide Elemente erfassen (sog. mixted questions of law and facts) und zu einer Gesamtbeurteilung gelangen48. Davon zu unterscheiden sind Streitigkeiten über reine Rechtsfragen, deren Beurteilung ungewiss ist. Bei diesem Streitfeld stehen sich die Positionen regelmäßig so gegenüber, dass es kein Verständigungspotential gibt: Entweder ist die Rechtsfrage im Sinne a) oder im Sinne b) zu entscheiden. Für solche Streitfragen macht es Sinn, sie möglichst umgehend von einer neutralen, unabhängigen Instanz (den FG) klären zu lassen. Vorstellbar ist es, einen punktuell wirkenden Vorab-Feststellungsbescheid mit der Möglichkeit einer Sprungklage (§ 45 FGO) einzuführen, um das Außenprüfungsverfahren von einer dort unlösbaren Streitfrage zu befreien (sog. konsentierter Streit)49. Dieser Vorschlag ist jüngst mit dem Gesetz vom 20.12.2022 in Gestalt eines sog. Teilabschlussbescheides aufgenommen worden50.

5. Verfahrensrechtliche Streitfragen Streitfelder können allgemein auch in Ermittlungsverfahren zur Steuerfestsetzung entstehen. Der Finanzbehörde stehen zum Zweck der Sachverhaltsermittlung unterschiedliche Maßnahmen zur Verfügung, die von Auskunfts-, Vorlageersuchen über die Einnahme des Augenscheins bis hin zur Einschaltung von Sachverständigen reichen (so der nicht abschließende Kanon der Beweismittel in § 92 AO). Die Entscheidungen liegen im pflichtgemäßen Behördenermessen (§ 5 AO) und haben die

48 Buciek, Bindende Erklärungen der Finanzverwaltung, DStZ 1999, 389 (396), Achatz, Verständigungen im Steuerrecht, in DStJG 27 (2004), 161 (171 ff.); Krüger, Die tatsächliche Verständigung als „Ding an sich“ oder „Unding in sich“? – Die Rechtsnatur der tatsächlichen Verständigung, DStZ 2015, 478 (480); Seer in Tipke/Kruse, Vor § 118 AO Rz. 11 (August 2021). 49 Siehe Wiss. Arbeitskreis Steuerrecht des DWS-Instituts, Reform der Außenprüfung aus der Perspektive des Mittelstandes, 2021, 15 f. 50 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2021/514 des Rates v. 22.3.2021 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU über die Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden und zur Modernisierung des Steuerverfahrensrechts v. 20.12.2022, BGBl. I 2022, 2730 (2747: § 180 Abs. 1a AO).

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Grenzen des Übermaßverbots zu achten51. Sowohl über die tatbestandlichen Voraussetzungen als auch über die Ausübung des Behördenermessens kann Streit mit dem Steuerpflichtigen entstehen. Dasselbe gilt für die Inanspruchnahme Dritter z.B. durch sog. Sammelauskunftsersuchen i.S.d. § 93 Abs. 1a AO52. Dieses Streitpotential setzt sich in der Außenprüfung fort. Dort hat der Steuerpflichtige nach § 200 Abs. 1 Satz 2 AO über die ihn treffenden allgemeinen Mitwirkungspflichten hinaus die Finanzbehörde bei der Ausübung ihrer digitalen Prüfungsbefugnisse i.S.d. § 147 Abs. 6 AO zu unterstützen. Dabei kann streitig werden, in welchem Umfang die Prüfer auf die Daten und das Datenverarbeitungssystem des jeweiligen Unternehmens zugreifen dürfen53. Es kann Streit über den Umfang der vorzulegenden Unterlagen und den Kreis der auskunftsverpflichteten Personen geben. Dieser Streit kann durch die Verhängung eines sog. Verzögerungsgeldes nach § 146 Abs. 2c AO nach pflichtgemäßem Ermessen in einem Rahmen von 2.500 t bis 250.000 t eskalieren. Das bereits angesprochene Gesetz vom 20.12.202254 hat das im Rahmen der Außenprüfung bestehende finanzbehördliche Eingriffsarsenal in § 200a Abs. 1 AO um ein sog. qualifiziertes Mitwirkungsverlangen mit Wirkung vom 1.1.2025 erweitert. Dieses wird nach § 200a Abs. 2 AO durch ein obligatorisches Mitwirkungsverzögerungsgeld von 75 t pro Tag (maximal für 150 Tage), das an die Stelle des Verzögerungsgeldes nach § 146 Abs. 2c AO tritt, sanktioniert. In Wiederholungsfällen oder bei Unternehmen, deren Umsatzerlöse 12 Millionen t (bei einem Konzern: konsolidierte 120 Millionen t) betragen, soll die Finanzbehörde gem. § 200a Abs. 3 AO noch einen Zuschlag zum Mitwirkungsverzögerungsgeld festsetzen dürfen, wenn zu befürchten ist, dass der Steuerpflichtige ohne einen Zuschlag dem qualifizierten Mitwirkungsverlangen nicht nachkommen wird. Der Zuschlag soll auf höchstens 10.000 t pro Tag begrenzt sein und ebenfalls nur maximal für 100 Tage festgesetzt werden dürfen. Es bedarf wenig Phantasie sich vorzustellen, dass dieser im Ermessen der Finanzbehörde liegende Zuschlag zu weiteren Konflikten zwischen Steuerpflichtigen und Finanzbehörden in der Außenprüfung führen wird.

51 Seer in Tipke/Kruse, § 92 AO Rz. 6 ff. (Aug. 2018), § 93 AO Rz. 14 ff. (Mai 2021), § 97 AO Rz. 9 ff. (Febr. 2019), § 99 AO Rz. 9 (Febr. 2019). 52 In Abgrenzung zu unzulässigen sog. fishing expeditions s. Seer in Tipke/Kruse, § 93 AO Rz. 34 ff. (Mai 2021) mit Beispielen aus der Rechtsprechung. 53 Dazu Drüen in Tipke/Kruse, § 147 AO Rz. 71 ff. (April 2018). 54 Gesetz v. 20.12.2022, BGBl. I 2022, 2730 (2748: § 200a AO).

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Das streitvermeidende Kontrastprogramm besteht in einer Verfahrensverständigung zwischen Finanzbehörden und Steuerpflichtigen. Sie kann eine Einigung über den Prüfungszeitplan, über die Prüfungsschwerpunkte, über den Umfang des Datenzugriffs oder über turnusmäßige Zwischenbesprechungen der im Laufe der Prüfung getroffenen Feststellungen enthalten55. Das damit verfolgte Ziel ist die Verwirklichung einer zeitnahen Außenprüfung i.S.d. § 4a BpO 200056. Ein weitergehender Schritt zur strukturellen Verwirklichung einer zeitnahen Außenprüfung im Sinne einer Cooperative Compliance57 stellt die in Österreich mit Wirkung vom 1.1.2019 in §§ 153a–153g öBAO eingeführte Möglichkeit einer sog. begleitenden Kontrolle dar58. Als Alternative zur traditionellen Außenprüfung sollen bei vertrauenswürdigen Unternehmen durch begleitende Kontrollen den Finanzbehörden der Einblick in betriebliche Vorgänge ermöglicht und mittels eines permanenten Austausches beiderseitig bestehende Informationsasymmetrien abgebaut werden59.

6. Erhöhung des Streitpotentials durch Nebenentscheidungen Die im Zusammenhang mit Steuerfestsetzungen stehenden Streitfelder können sich durch belastende Nebenfolgen erweitern. Im Zentrum der Auseinandersetzungen zwischen der Finanzverwaltung und Steuerpflichtigen stand zuletzt die kapitalmarktfremde Verzinsung von Steueransprüchen nach § 233a AO60. Nachdem der Gesetzgeber jüngst durch eine Absenkung des Zinssatzes von 0,5 % p.m. auf 0,15 % p.m. den For-

55 Siehe Seer, Zeitnahe Außenprüfung bei Groß- und Konzernbetrieben, Ubg 2009, 673; Risse, Zeitnahe Betriebsprüfung, FR 2011, 117; Dorenkamp, Zeitnahe Betriebsprüfung – Win-Win für Unternehmen und Finanzverwaltung, StbJb. 2015/16, 585. 56 Eingefügt durch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Änderung der BpO v. 20.7.2011, BStBl. I 2011, 710. 57 Seer, Cooperative Compliance Program – Reform der Außenprüfung, FS Kroppen, 2020, 81. 58 Dazu Brandl/Macho/Schrottmeyer/Vock, Begleitende Kontrolle – Alternative zur Betriebsprüfung, SWK-Spezial, Dez. 2018; Macho/Oertel, Tax Compliance Ansätze im Vergleich: Die österr. begleitende Kontrolle und der deutsche Status quo, ISR 2019, 232; Wiss. Arbeitskreis Steuerrecht des DWS-Instituts, Reform der Außenprüfung aus der Perspektive des Mittelstandes, 2021, 23 ff. 59 Zur Konzeption Gunacker-Slawitsch, Amtswegigkeit und Mitwirkung im Abgabenverfahren, Habil., 2020, 397-540. 60 Dazu BVerfG v. 8.7.2021 – 1 BvR 2237/14, 2422/17, BVerfGE 158, 282.

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derungen des BVerfG nachgekommen ist61, hat sich das Konfliktpotential zwar verringert, es bleibt aber bei den Verzinsungstatbeständen außerhalb der Vollverzinsung weiterhin bestehen62. Streitanfällig sind auch die Verwaltungssanktionen des Verspätungszuschlages nach § 152 AO und – wie bereits genannt – des Verzögerungsgeldes nach § 146 Abs. 2c AO. Indem der Gesetzgeber zuletzt die Abgabefristen für Steuererklärungen auf beachtliche Weise zumindest für ein Interim verlängert63 und in § 152 Abs. 2 AO für eine größere Anzahl von Fallgruppen die Ermessensspielräume beseitigt hat64, hat sich das Streitfeld im Bereich des Verspätungszuschlages deutlich verringert. Es wird sich derzeit vor allem auf die Vorabanforderung von Steuererklärungen nach § 149 Abs. 4 AO und die in § 152 Abs. 1 AO verbliebenen Ermessensentscheidungen (insbesondere bei nicht steuerlich beratenen Abgabenpflichtigen) beschränken.

III. Spezifika der Umsatz- und Lohnsteuerverfahren 1. Steuereinsammlerfunktion des Unternehmers bei der Umsatzsteuer Bei der Umsatzsteuer fungiert der leistende Unternehmer als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates und im Interesse der Staatskasse. Er schuldet die Mehrwertsteuer, obwohl diese Verbrauchsteuer letztlich vom Endverbraucher getragen werden soll65. Die Umsatzsteuerschuldnerschaft des Unternehmers besitzt damit einen überschießenden Inhalt. Es soll nicht die sich im Umsatz zeigende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Unternehmers, sondern die eines unbekannten Dritten abgeschöpft werden66. Damit wird der Unternehmer als Privatrechtssubjekt für den Staat in den Dienst genommen und erfüllt letztlich eine schlichte Inkassofunktion67. Ihm wird ohne finanzielle Kompensation (z.B. ei61 Siehe Gesetz zur Änderung der AO und des EGAO v. 12.7.2022, BGBl. I 2022, 1142. 62 Seer, DB 2022, 1795 (1800 ff.). 63 Siehe 4. Corona-Steuerhilfegesetz v. 19.6.2022, BGBl. I 2022, 911 (913). 64 Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens v. 18.7.2016, BGBl. I 2016, 1679 (1688 ff.). 65 EuGH v. 20.10.1993 – C-10/92, ECLI:EU:C:1993:846 – Balocchi, Slg. 1993, 5105 Rz. 25; EuGH v. 21.2.2008 – C-271/06, ECLI:EU:C:2008:105 – Netto Supermarkt, Slg. 2008 I-771 Rz. 21. 66 Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, Habil., 2008, 568 ff. 67 Wiss. Arbeitskreis Steuerrecht des DWS-Instituts, Recht auf Information und Auskunft im Besteuerungsverfahren, 2017, 28, mit dem Hinweis darauf,

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ner Inkassoprovision) zugemutet, die Steuer selbst zu berechnen, anzumelden und zu entrichten. Dabei treffen ihn umfangreiche Dokumentationspflichten mit einem beachtlichen Strafbarkeitsrisiko. Das legitime, vom Belastungsgrund der Umsatzsteuer gedeckte Interesse des Unternehmers ist daher darauf gerichtet, die Umsatzsteuer möglichst sicher auf den Endverbraucher überwälzen zu können. Im zwischenunternehmerischen Bereich muss gewährleistet sein, dass die Mehrwertsteuer durch den ungehinderten Vorsteuerabzugsmechanismus ein durchlaufender Posten bleibt. Hat der Unternehmer seine Leistung erbracht, wird es ihm nicht mehr möglich sein, etwa nach einer Umsatzsteuerprüfung nachgeforderte Steuerbeträge auf den Endverbraucher noch zu überwälzen. Im zwischenunternehmerischen B2B-Leistungsverkehr werden sich die Preis- und Abrechnungsmodalitäten regelmäßig ebenfalls nicht mehr anpassen lassen. In solchen Fällen mutiert die nachgeforderte Mehrwertsteuer dysfunktional zu einer direkten Unternehmensteuer, die aus dem Gewinn des Unternehmers zu zahlen ist. Vor diesem Hintergrund besitzt der Unternehmer ein sowohl unionsals auch verfassungsrechtlich schutzwürdiges Interesse an frühzeitiger, höchstmöglicher Rechtssicherheit über die umsatzsteuerrechtliche Behandlung seiner Leistungsbeziehungen68. Angesichts der (mittlerweile) erreichten Komplexität sowohl des Umsatzsteuerrechts als auch der wirtschaftlichen Lebenssachverhalte ist dies leider nicht (mehr) gewährleistet. Das Spektrum umsatzsteuerrechtlicher Streitfelder durchzieht das gesamte Umsatzsteuerrecht, angefangen bei der Frage der Steuerbarkeit mit einer häufig schwierigen Leistungsortbestimmung, mit Organschafts- und Leistungsaustauschproblemen, weitergehend bei den komplexen Regeln zur Steuerfreiheit mit oder ohne Vorsteuerabzug bzw. mit oder ohne Optionsmöglichkeit, der Bestimmung des Steuersatzes mit der Abgrenzung zum ermäßigten Steuersatz insbesondere bei sog. Leistungsbündeln, weitergehend mit dem Vorsteuerabzug, dessen Voraussetzungen im Einzelfall unsicher sein können, der umgekehrten Steuerschuldnerdass etwas anderes nur für die Besteuerung unentgeltlicher Wertabgaben i.S.d. § 3 Abs. 1b, 9a UStG gilt, weil der Unternehmer insoweit ausnahmsweise in der Rolle als Endverbraucher in Anspruch genommen wird. 68 Weber, Die Zusage im Umsatzsteuerrecht – Eine Untersuchung im steuerverfassungsrechtlichen Mehrebenensystem de lege lata und de lege ferenda, Diss., 2019, 108 ff.; Reiners, Verfassungsrechtliche Legislativpflichten im Umsatzsteuerrecht – zum Erfordernis eines umsatzsteuerspezifischen Auskunftstatbestandes, Diss., 2021, 159 ff.

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schaft und vieles anderes mehr. Im zwischenunternehmerischen Leistungsverkehr ist sich vor Augen zu halten, dass ein Vier-Parteien-Verhältnis besteht, nämlich die Beziehung von Leistenden und Leistungsempfänger sowie deren Beziehungen zu den jeweils für sie zuständigen (unterschiedlichen) Finanzämtern der Länder. Daraus folgt die Gefahr widersprüchlicher Behandlung der Umsätze in den von jeweils unterschiedlichen Beteiligten geführten umsatzsteuerlichen Verwaltungsrechtsverhältnissen69. Dadurch erhöht sich das mögliche Streitpotential vor allem im grenzüberschreitenden Kontext, worauf ich im Schlussteil meines Vortrages noch zurückkommen werde (s. IV.7.).

2. Treuhandfunktion des Arbeitgebers bei der Lohnsteuer Im Unterschied zur Umsatzsteuer ist der Unternehmer in der Rolle des Arbeitgebers bei der Lohnsteuer nicht Steuerschuldner, sondern nur Steuerentrichtungspflichtiger i.S.d. § 43 Satz 2 AO und potentieller Haftungsschuldner i.S.d. § 42d Abs. 1 EStG. Steuerschuldner ist gem. § 38 Abs. 2 EStG vielmehr der Arbeitnehmer. Allerdings ist es praktisch der Arbeitgeber, der die Arbeitnehmerbesteuerung im Wege des Lohnsteuereinbehalts durchführt70. Er ist die Zentralfigur des Steuerabzugsverfahrens71, den der Staat kompensationslos im fiskalischen Sicherungsinteresse in Anspruch nimmt72. Als Erstadressat ist er in der Situation eines Erstinterpreten und Erstanwenders des Lohnsteuerrechts73. André Meyer sprach auf der 41. Jahrestagung in Hannover vom „Dickicht des überbordenden Regelungswerks“, in dem sich der Arbeitgeber leicht „verheddern“ könne74. Klaus-Dieter Drüen zählte dazu einen ganzen Kanon von Fallgruppen auf, die von der Frage der „Aufmerksamkeiten“ bis zur „Vorsorgeuntersuchung“ reichte75. Dabei ist das mögliche Streitfeld 69 Pingel, Widersprüchliche Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im Umsatzsteuerrecht, Diss., 2021, 27 ff. 70 Zutreffender Befund von Drüen, Arbeitnehmerbesteuerung im System der Einkommensteuer, in DStJG 40 (2017), 11 (23). 71 G. Kirchhof, Die Erfüllungspflichten des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, Diss., 2005, 92; Meyer, Die Rolle des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, in DStJG 40 (2017), 177 (180). 72 Zur verfassungsrechtlichen Dimension s. Drüen, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, Habil., 2012, 368 ff. 73 Drüen, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, Habil., 2012, 338 f., 345 f.; Meyer in DStJG 40 (2017), 177 (178 f.). 74 Meyer in DStJG 40 (2017), 177 (178). 75 Drüen in DStJG 40 (2017), 11 (22).

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des Lohnsteuerrechts denkbar breit und detailverliebt. Dass § 42d Abs. 1 EStG offenbar von einer garantenähnlich verschuldensunabhängigen Haftung der Arbeitgeber ausgeht, erscheint angesichts der mangelnden finanziellen Kompensation des Haftungsrisikos unangemessen und wenigstens auf der Ebene der Ermessensausübung bei der gesamtschuldnerischen Inanspruchnahme von Steuer- und Haftungsschuldner nach § 42d Abs. 3 EStG begrenzbar zu sein76. Allerdings befindet sich der lohnsteuerentrichtungspflichtige Arbeitgeber im Vergleich zum umsatzsteuerpflichtigen Unternehmer in zweierlei Hinsicht in einer besseren Position: Wird er für einen zu niedrigen Steuereinbehalt in Anspruch genommen, bleibt ihm grundsätzlich die Möglichkeit, im Innen- und Dauerschuldverhältnis den Arbeitnehmer in Regress zu nehmen77. Dies kann auch durch eine (ggf. gestreckte) Aufrechnung gegen zukünftige Gehaltsforderungen geschehen. Des Weiteren steht dem Arbeitgeber nach § 42e EStG die kostenfreie Möglichkeit offen, bei dem Betriebsstätten-Finanzamt eine sog. Anrufungsauskunft zu beantragen, um Zweifel über die richtige Anwendung von Vorschriften des Lohnsteuerrechts zu beseitigen. Verhält sich der Arbeitgeber entsprechend der ihm erteilten Anrufungsauskunft, ist eine Haftung für eine weitergehende Lohnsteuer ausgeschlossen78. Der verfassungsrechtlich determinierte Überforderungsschutz wird allerdings dadurch nicht unerheblich geschmälert, dass § 42e EStG keine verbindliche Entscheidungsfrist enthält und der Regress im Einzelfall aufgrund Zeitablaufs an Tarifvertragsregelungen scheitern kann79. Abschließend sei bemerkt, dass die bereits angesprochenen Bewertungsunsicherheiten (s. oben unter II.1.) gerade bei den Sachbezügen i.S.d. § 8 Abs. 2 EStG ein ganz erhebliches Streitpotential besitzen. Ergeben sich für eine Vielzahl von Beschäftigten im Zuge einer Lohnsteueraußenprüfung Nachforderungen, kann der jeweilige Arbeitgeber nach § 40 Abs. 1 EStG ein Antrag auf Lohnsteuerpauschalierung stellen. Daraus ergeben sich Spielräume für eine streitvermeidende Verständigung über Werte und Pauschalsteuersätze. Da der Arbeitgeber nach § 40 Abs. 3 Satz 2 EStG

76 Gersch in Herrmann/Heuer/Raupach, § 42d EStG Anm. 23 (Nov. 2018); Hummel in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 42d EStG Rz. B 16 (6/2017). 77 Dazu eingehend Meyer in DStJG 40 (2017), 177 (208 ff.). 78 BFH v. 16.11.2005 – VI R 23/02, BStBl. II 2006, 210; BFH v. 30.4.2009 – VI R 54/07, BStBl. II 2010, 996; BFH v. 5.6.2014 – VI R 90/13, BStBl. II 2015, 48. 79 Dazu BAG v. 27.3.1958 – 2 AZR 221/56, BAGE 6, 52 (59); BAG v. 14.6.1974 – 3 AZR 456/73, BAGE 26, 187 (190 ff.); BAG v. 19.1.1979 – 3 AZR 330/77, BAGE 31, 236 (238 f.).

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Steuerschuldner der Pauschalsteuer ist und der pauschal besteuerte Arbeitslohn nach § 40 Abs. 3 Satz 3 EStG beim Arbeitnehmer nicht erfasst wird, muss dieser keinen späteren Regress befürchten. Dadurch eignet sich die Lohnsteuerpauschalierung in besonderem Maße zu einer Befriedung des ggf. konfliktträchtigen Dreieckverhältnisses.

IV. Grenzüberschreitende Streitfelder 1. Bestimmung von Verrechnungspreisen Das zentrale Streitfeld des internationalen Steuerrechts liegt in der Bestimmung von Verrechnungspreisen bei Leistungsbeziehungen zwischen verbundenen Unternehmen. § 1 Abs. 1 Satz 1 AStG schreibt den Fremdvergleichsgrundsatz vor, wonach die Einkünfte so anzusetzen sind, wie unabhängige Dritte die Verrechnungspreise unter gleichen oder vergleichbaren Verhältnissen vereinbart hätten. Das Verrechnungspreisproblem betrifft damit sowohl das Streitfeld der Bewertung von Nutzungen und Leistungen (s. oben II.1.) als auch das Streitfeld der Abgrenzung und Aufteilung von Einkünften zwischen unterschiedlichen steuerrechtlichen Sphären (s. oben II.2.). § 1 Abs. 3 Satz 1 AStG schreibt für den Fremdvergleich nach wie vor eine auf den einzelnen Geschäftsvorfall bezogene Betrachtung vor. Durch eine Funktions- und Risikoanalyse soll nach § 1 Abs. 3 Satz 2 AStG für den jeweiligen grenzüberschreitenden Geschäftsvorfall zwischen den einander nahestehenden Personen zunächst geprüft werden, wer welche Funktionen ausgeübt, Risiken übernommen und hierfür welche Vermögenswerte eingesetzt hat. In einem zweiten Schritt soll dann nach § 1 Abs. 3 Satz 3 AStG das Ergebnis dieser Funktions- und Risikoanalyse in einer sog. Vergleichbarkeitsanalyse mit Verhältnissen bei vergleichbaren Geschäftsvorfällen, die voneinander unabhängige Dritte vereinbart hätten, verglichen werden. Sind vergleichbare Geschäftsvorfälle zwischen unabhängigen Dritten nicht feststellbar, soll nach § 1 Abs. 3 Satz 7 AStG ein hypothetischer Fremdvergleich vorzunehmen sein. Schon dieser Blick in das deutsche Außensteuergesetz lässt die Dimension der bei praktischer Anwendung dieser Regeln auftretenden Unsicherheiten und das Ausmaß des Streitfeldes erahnen. Vor zehn Jahren habe ich auf der 36. Jahrestagung unserer Gesellschaft in Linz (Generalthema: Internationales Steuerrecht) die Grenzen rationaler Wertfindung bei Anlegung des Fremdvergleichsmaßstabs als Bandbreitenplausibili-

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tät bezeichnet80. Zumindest die Bandbreiten-Doktrin ist heute wohl common sense. Jedenfalls ist sie in § 1 Abs. 3a Satz 1 AStG vom deutschen Gesetzgeber nun ausdrücklich zum Ausgangspunkt der Prüfung gemacht worden. Allerdings hängt die Bestimmung der Bandbreite von der im Einzelfall gewählten Verrechnungspreismethode und den ihr zugrunde liegenden jeweiligen Annahmen ab. Das Unsicherheits- und Komplexitätspotential multipliziert sich bei den mehrpoligen grenzüberschreitenden Steuerschuldverhältnissen81. Nur wenn sichergestellt ist, dass der ausländische Staat des dort ansässigen verbundenen Unternehmens spiegelbildlich denselben Verrechnungspreis der dortigen Besteuerung zugrunde legt, wird die Gefahr einer Doppelbesteuerung gebannt. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, wenn die OECD in Verrechnungspreisrichtlinien (sog. Guidelines) einen internationalen Standard für die Bestimmung und Prüfung von Verrechnungspreisen festlegt82. Darin findet sich mittlerweile in Gestaltung des sog. DEMPE83-Konzepts auch ein Maßstab für die schwierige Verrechnungspreisbestimmung bei immateriellen Wirtschaftsgütern, der mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 2022 in Gestalt von § 1 Abs. 3c AStG in das nationale Recht übernommen worden ist84. Folgen die Staaten diesen Guidelines in ihrer Verwaltungspraxis, ist zumindest gewährleistet, dass die Finanzverwaltungen einem vergleichbaren normativen Ausgangspunkt besitzen. Dies reicht allerdings nicht aus, um eine aufeinander abgestimmte Verrechnungspreisfestlegung zu garantieren85. Dafür bedarf es zusätzlicher verfahrensrechtlicher Sicherungen, über die wir 80 Seer in DStJG 37 (2013), 337 (342 ff.). 81 Seer in DStJG 37 (2013), 337 (345 ff.). 82 Zuletzt OECD, Transfer Pricing Guidelines for Multinational Enterprises and Tax Administrations, Januar 2022; die deutschsprachige Fassung der OECD-Verrechnungspreisrichtlinien auf dem Stand Juli 2017 ist in BStBl. I 2021, 1098 (1115 – Anlage 1) veröffentlicht. 83 Development, Enhancement, Maintenance, Protection and Exploitation. 84 Eingeführt durch Art. 5 Nr. 1 Buchst. b des Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetzes (AbzStEntModG) v. 2.6.2021, BGBl. I 2021, 1259 (1268 f.). 85 Siehe nur zuletzt die umfangreiche deutsche Diskussion über das Verständnis des DEMPE-Konzepts: Schuster/Steiner/Ullmann, Funktionale Zuordnung nach DEMPE: Diskussion einer Einordnung und DEMPE-Schwelle, DB 2022, 148; Becker/van der Ham, Neuregelung der Besteuerung immaterieller Werte im internationalen Kontext nach § 1 Abs. 3c AStG – Ist die Umsetzung des DEMPE-Konzepts gelungen?, IStR 2022, 217; Kußmaul/Pfirmann/Nikolaus, Die Behandlung von immateriellen Werten für Verrechnungspreiszwecke nach dem neu eingeführten § 1 Abs. 3c AStG, Ubg 2022, 429.

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in weiteren Referaten heute und morgen noch ausführlich sprechen wollen.

2. Erweiterte Mitwirkungs- und Dokumentationspflichten In meinem Linzer Referat hatte ich die besondere freiheitsrechtliche Schutzwürdigkeit des Steuerpflichtigen in seiner Rolle als Erstbewerter und -interpret zur Begrenzung seines Wertfindungsrisikos herausgestellt86. Um den Steuerpflichtigen eine freiheitsrechtlich fundierte Steuerplanungssicherheit zu gewährleisten, zugleich aber das legitime öffentliche Interesse an einer Verifikation der Verrechnungspreisansätze zu wahren, habe ich vorgeschlagen, den Steuerpflichtigen eine auf einer ordnungsgemäßen Verrechnungspreisdokumentation beruhende Bewertungsprärogative einzuräumen87. Die Verrechnungspreisdokumentation erhält so eine Funktion, die der formell ordnungsmäßigen Buchführung nach § 158 AO entspricht. OECD und G20 haben in dem BEPS-Aktionsprogramm 13 ihre Vorstellungen über eine ordnungsgemäße Verrechnungspreisdokumentation geschärft und einen dreistufigen Ansatz vorgeschlagen88, der mittlerweile zum internationalen Standard geworden ist: –

Die Dokumentation hat den Steuerverwaltungen übergeordnete Informationen über die weltweite Geschäftstätigkeit und Verrechnungspreispolitik des grenzüberschreitend tätigen Unternehmens zu liefern, die in einer Stammdokumentation (sog. Master File) zusammenzufassen sind. Die Master File ist allen Steuerverwaltungen zur Verfügung zu stellen.



Zusätzlich hat sie eine detaillierte, geschäftsvorfallbezogene Verrechnungspreisdokumentation als Einzeldokumentation für jeden Staat (sog. Local File) zu enthalten, die über alle wesentlichen Geschäftsvorfälle mit verbundenen Dritten und den damit zusammenhängenden Beiträgen nebst einer Analyse des Unternehmens in Bezug auf die für die Geschäftsvorfälle vorgenommenen Verrechnungspreisbestimmungen informiert.



Schließlich sollen größere multinationale Konzerne jährlich länderbezogene Berichte mit unternehmensbezogenen Daten (sog. Coun-

86 Zu den Konsequenzen der verfahrensrechtlichen Erstbewertungspflicht im Allgemeinen s. Krumm, Steuerliche Bewertung als Rechtsproblem, Habil., 2014, 492 ff. 87 Seer in DStJG 37 (2013), 337 (346 ff.). 88 OECD/G 20, BEPS-Aktionspunkt 13, Abschlussbericht 2015, 9, 17 ff.

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try-by-Country-Reporting) für alle Steuerhoheitsgebiete erstellen, in denen sie einer Geschäftstätigkeit nachgehen. Die Bundesrepublik Deutschland hat in § 90 Abs. 3, § 138a und § 162 Abs. 4 AO und der Gewinnabgrenzungsaufzeichnungs-Verordnung (GAufzV89) entsprechende Anpassungen vorgenommen. Eine auffällige Zurückhaltung pflegt die Finanzverwaltung aber nach wie vor im Hinblick auf die von mir geforderte Formulierung eines Vertrauensvorschusses zugunsten der Unternehmen, die eine ordnungsgemäße Dokumentation vorlegen. Vor diesem Hintergrund eröffnet sich das bereits eingangs unter II.5. angesprochene Streitfeld ungeklärter verfahrensrechtlicher Streitfragen zum Inhalt und zur rechtlichen Bedeutung von Verrechnungspreisdokumentationen. Dieses wird noch um die nicht leicht zu beantwortende Frage bereichert, wann und in welchem Umfang die vorgelegten Aufzeichnungen unverwertbar sind, so dass ein Zuschlag nach § 162 Abs. 4 AO festzusetzen ist90. Wie unter II.6. bereits dargelegt, erhöht sich damit das Streitpotential über die Verrechnungspreisdokumentation zusätzlich. Generell ist die Reichweite der erweiterten Mitwirkungspflichten i.S.d. § 90 Abs. 2 AO streitanfällig. § 90 Abs. 2 AO enthält nicht nur eine Beweismittelbeschaffungs-, sondern darüberhinausgehend eine Beweisvorsorgepflicht. Allerdings steht sie unter dem Vorbehalt tatsächlicher und rechtlicher Unmöglichkeit. Fraglich ist nach wie vor, ob es zu Lasten des Steuerpflichtigen geht, wenn der ausländische Vertragspartner die Kooperation verweigert und der Steuerpflichtige über keine Verhandlungsmacht verfügt, sich Beweismittel sichern zu lassen91. So ist auch die Frage der Zurechnung einer mangelnden Kooperation der ausländischen Muttergesellschaft zu Lasten der Tochtergesellschaft nach wie vor ungeklärt.

3. Verlagerung betrieblicher Funktionen Ein spezielles Verrechnungspreisproblem stellt die sog. Funktionsverlagerung i.S.d. § 1 Abs. 3b AStG dar. Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 Funktions89 In der Neufassung v. 12.7.2017, BGBl. I 2017, 2367. 90 Dazu näher Seer in Tipke/Kruse, § 162 AO Rz. 74 (Mai 2022). 91 Siehe nur die Kontroverse zwischen Krüger, Umfassende Vorlagepflicht bei Konzernunternehmen in der Außenprüfung bei Sachverhalten mit Auslandsbezug, IStR 2017, 352; und Lauten/Retzer, IStR 2017, 859 (Replik, Dupliken IStR 2017, 863 und 866); dazu Seer in Tipke/Kruse, § 90 AO Rz. 26, 34 m.w.N. (Mai 2022).

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verlagerungsverordnung (FVerlV)92 liegt sie vor, wenn ein Unternehmen einem anderen nahestehenden Unternehmen Wirtschaftsgüter oder sonstige Vorteile sowie die damit verbundenen Chancen und Risiken überträgt oder zur Nutzung überlässt, damit das übernehmende Unternehmen eine Funktion ausüben kann, die bisher von dem verlagernden Unternehmen ausgeübt worden ist, und dadurch die Ausübung der betreffenden Funktion durch das verlagernde Unternehmen eingeschränkt wird. Letztlich wird in grenzüberschreitenden Fällen – ohne dass ein Teilbetrieb übertragen würde – ein Mehrwert (Good Will) einer Funktionseinheit als eine Art von Entstrickungsbesteuerung im Inland erfasst.93 Über die mit der Vorschrift des § 1 Abs. 3b AStG verbundenen tatbestandlichen und bewertungsrechtlichen Unsicherheiten hinaus ist bei diesem speziellen Streitfeld eine internationale Doppelbesteuerung vorprogrammiert. Denn es ist kaum zu erwarten, dass der Empfängerstaat eine Gegenberichtigung vornimmt oder aufgrund der übergegangenen Funktion ein besonderes Abschreibungspotential gewinnmindernd berücksichtigt. Vielmehr wird der Empfängerstaat die von dem übernehmenden Unternehmen unter Nutzung der Funktion erwirtschafteten Gewinne in vollem Umfang besteuern wollen. Interessant wird es sein zu beobachten, wie sich der deutsche Gesetzgeber umgekehrt angesichts gestörter Lieferketten zunehmend vorgenommener Rückverlagerungen von Funktionen in das Inland verhält. Konsequenterweise müsste das deutsche Ertragsteuerrecht in diesen Fällen zusätzliche Abschreibungsvolumina wegen Insourcing akzeptieren94. Davon ist aber bisher – soweit ersichtlich – nirgends die Rede.

4. Zuordnung von Gewinnen zu Betriebsstätten Ein dauerhaftes Streitfeld des internationalen Steuerrechts ist das der Betriebsstätte (Art. 5 OECD-MA) und der mit ihr verbundenen grenzüberschreitenden Gewinnzuordnung. Die zunehmende Erosion des Betriebsstättenbegriffs hat Jens Schönfeld bereits auf der Linzer Jahresta-

92 Funktionsverlagerungsverordnung (FVerlV) v. 18.10.2022, BGBl. I 2022, 1803, die die FVerlV v. 12.8.2008, BGBl. I 2008, 1680, ersetzt hat; zur Neufassung der FVerlV s. Grotherr, IWB 2022, 625 ff., 672 ff. 93 Siehe Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 5. Aufl. 2022, Rz. 21.198. 94 So bereits die kritische Anmerkung von Haas, Verrechnungspreise in der betrieblichen Praxis – Erfahrungen eines Großunternehmens, in DStJG 36 (2013), 285 (293).

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gung aufgezeigt95. Vor allem durch die international vermehrte Akzeptanz von sog. Dienstleitungsbetriebsstätten sind die Substanzanforderungen an die Betriebsstätte mit der Folge einer Multiplikation von Betriebsstätten abgesenkt worden96. Zusätzlich führt die in Art. 5 Abs. 5 OECD-MA 2017 enthaltene Regelung zur Vertreterbetriebsstätte zur Ausweitung des Kreises von Betriebsstätten97. Hält der StammhausStaat – wie die Bundesrepublik Deutschland98 – an dem traditionellen, engeren Betriebsstättenbegriff fest, geht der Tätigkeitsstaat dagegen von einem weiteren Verständnis aus, sind Qualifikationskonflikte mit der Gefahr einer Doppelbesteuerung oder umgekehrt einer Nicht- bzw. Minderbesteuerung vorprogrammiert. Die OECD versteht die Betriebsstätte zudem mittlerweile als eigenständiges Gewinnzuordnungsobjekt ohne Rücksicht auf ihre rechtliche Unselbständigkeit (sog. Authorized OECD Approach – AOA)99. In einem sog. Functionally Separate Entity Approach wird die Betriebsstätte als selbständige Einheit fingiert, also wie eine Tochtergesellschaft behandelt, und intern werden quasi-schuldrechtliche Verträge zwischen Stammhaus und Betriebsstätte angenommen, so dass die Verrechnungspreisregeln entsprechend anwendbar sein sollen. Da der deutsche Gesetzgeber den AOA in § 1 Abs. 5 AStG übernommen hat, erweitert sich das Verrechnungspreisstreitfeld (s. oben 1.) auf die Gewinnzuordnung und -abgrenzung zwischen Stammhaus und Betriebsstätte100. Da der AOA auf wirk95 Schönfeld, Neue Entwicklungen zur Betriebsstätte im Internationalen Steuerrecht: Betriebsstättenbegriff, in DStJG 36 (2013), 233 (239 f.). 96 Zur sog. Dienstleistungsbetriebsstätte s. Gradl, Die Betriebsstätte in Doppelbesteuerungsabkommen, Diss., 2020, 157 ff. 97 Zur sog. Vertreterbetriebsstätte s. Gradl, Die Betriebsstätte in Doppelbesteuerungsabkommen, Diss., 2020, 166 ff. 98 Siehe Art. 5 der deutschen Verhandlungsgrundlage für DBA im Bereich der Steuern vom Einkommen und Vermögen (BMF-Schreiben v. 22.8.2013 – IV B 2 - S 1301/13/10009). 99 Dazu Berner, Betriebsstättenbesteuerung nach dem AOA: eine Untersuchung der Implementierung in § 1 Abs. 5 AStG, Diss., 2016, 38 ff.; Schaz, Die Selbständigkeitsfiktion der Betriebsstätte: Umsetzung des Authorised OECD Approach in § 1 AStG, Diss., 2018, 165 ff.; Dombrowski, Betriebsstättenbesteuerung vor und nach der Umsetzung des AOA: eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung von Vertreterbetriebsstätten, Diss., 2019, 58 ff., 87 ff., 224 ff. 100 Siehe Betriebsstättengewinnaufteilungsverordnung (BsGaV v. 13.10.2014, BGBl. I 2014, 1603, marginal geändert durch Art. 7 Abs. 21 des Gesetzes v. 12.5.2021, BGBl. I 2021, 990 (1059).

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lichkeitsfremden Fiktionen beruht, vergrößert sich das Streitpotential und die Gefahr unabgestimmter Wertungen im zwischenstaatlichen Bereich.

5. Mitarbeiterentsendung/Home Office im Ausland Auf der Hannoveraner Jahrestagung (2016) hatten Christian Dorenkamp und Thomas Eisgruber bereits das besondere Streitfeld der internationalen Arbeitnehmerbesteuerung aus den beiden unterschiedlichen Perspektiven der Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestellt101. Die mit der Entsendung von Mitarbeitern, der im Zuge der Corona-Pandemie auch im grenzüberschreitenden Kontext verstärkten Nutzung von Home-Office und der zunehmenden Beliebigkeit des Arbeitsorts stellt das Internationale Steuerrecht nicht nur im Hinblick auf die sog. Grenzgänger, sondern auch darüber hinaus vor größtenteils ungelöste Fragen102. Erhebliches Streitpotential birgt bereits die von den Vertragsstaaten auf unterschiedliche Weise interpretierte 183-Tage-Intensitätsgrenze des Art. 15 Abs. 2 Buchst. a OECD-MA103. In ein Minenfeld führt der Begriff des „wirtschaftlichen Arbeitgebers“ insbesondere bei dem Vorhandensein von Betriebsstätten im Tätigkeitsstaat (weitere Rückausnahmen des Art. 15 Abs. 2 Buchst. b und c OECD-MA)104. Arbeiten selbst Führungskräfte außerhalb des Stammhauses in einem anderen Staat im Home-Office, stellen sich weitere Betriebsstättenfragen. Christian Dorenkamp hat mit Recht auf die vollzugspraktischen Schwierigkeiten in dem Viereck zwischen Arbeitgeber-Arbeitnehmer und den in- und ausländischen Finanzbehörden hingewiesen, das auch zu einem „Vieleck“ werden kann105. Wie oben unter III.2. dargelegt, erfordert die lohnsteuerrechtliche 101 Dorenkamp, Internationale Arbeitnehmerbesteuerung – aus Arbeitgebersicht, in DStJG 40 (2017), 263; Eisgruber, Internationale Arbeitnehmerbesteuerung – aus Arbeitnehmersicht, in DStJG 40 (2017), 297. 102 Zum Ort der Arbeit s. etwa Reimer, Ort der Arbeit, FR 2021, 1005 (1008 ff.); Bruns, Der Ort der Arbeit – Internationale Aspekte, FR 2021, 1010 ff. 103 Instruktive Beispiele bei Eisgruber in DStJG 40 (2017), 297 (304 ff.); zu den Inkongruenzen bei grenzüberschreitenden Home-Office-Vereinbarungen im Verhältnis Deutschland-Österreich s. Steinhauser/Höppner, Einkommensteuerliche Inkongruenzen bei grenzüberschreitenden Home-Office-Vereinbarungen, FR 2020, 500. 104 Dorenkamp in DStJG 40 (2017), 263 (275 ff.); ausführlich zu den Problemen der internationalen Arbeitnehmerentsendung Willner, Arbeitnehmerentsendungen im internationalen Ertragsteuerrecht, Diss., 2020, 210 ff. 105 Dorenkamp in DStJG 40 (2017), 263 (267).

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Behandlung angesichts monatlicher Steueranmeldungen schneller Entscheidungen. Diese sind aber selbst durch eine Lohnsteueranrufungsauskunft i.S.d. § 42e EStG nicht zeitnah zu erlangen, weil es der Abstimmung mit den ausländischen Finanzbehörden bedarf. Die Lohnsteueranrufungsauskunft müsste daher um einen internationalen Abstimmungsmechanismus ergänzt werden. Ein solcher Schnellreaktionsmechanismus ist aber bisher weder in Art. 26 OECD-MA noch auf europäischer Ebene in der EU-Amtshilferichtlinie vorgesehen.

6. Korrespondenzregeln Das jüngste Streitfeld haben die OECD in dem Anti-BEPS-Projekt mit den Empfehlungen zum Aktionspunkt 2 „Neutralisierung hybrider Gestaltungen“106 und in dessen Zuge später die EU in Gestalt der sog. Anti-Tax-Avoidance-Directive (ATAD) II vom 29.5.2017107 eröffnet. Dabei geht es um die Bekämpfung „internationaler Steuerarbitrage“ durch Ausnutzung der Unterschiede in den nationalen Steuerrechtsordnungen mit der Wirkung, dass ein Sachverhalt in mehreren Staaten jeweils steuerlich günstig behandelt wird108. Diese Inkongruenz kann sich darin zeigen, dass einem Betriebsausgabenabzug in dem Leistungsempfängerstaat keine steuerpflichtige Einnahme gegenübersteht oder dass eine Betriebsausgabe doppelt erfasst wird („double dip“). Dies kann durch steuerlich hybrid behandelte Finanzinstrumente oder Gesellschaften eintreten. Um derartige Wirkungen zu verhindern, sehen OECD und EU eine korrespondierende Besteuerung vor. Der deutsche Gesetzgeber hat auf die Vorgaben der ATAD II vor allem mit der Einführung des § 4k EStG reagiert. Daneben finden sich Korrespondenznormen etwa in § 8b Abs. 1 Sätze 2, 3 KStG bzw. in § 3 Nr. 40 106 OECD, Neutralising the Effects of Hybrid Mismatch Arrangements, Action 2 – Final Report, 2015. 107 Richtlinie (EU) 2017/952 des Rates v. 29.5.2017 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2016/1164 bezüglich hybrider Gestaltungen mit Drittländern, ABl. EU 2017 Nr. L 144/1. 108 Dazu etwa Marquardsen, Hybride Gesellschaften im Internationalen Steuerrecht – Abkommensrechtliche Zurechnungs- und Qualifikationskonflikte, Diss., 2019, 209 ff.; Kaminskiy, Korrespondenzregelungen zur Neutralisierung von Besteuerungsinkongruenzen aufgrund hybrider Gestaltungen, Diss., 2020, 206 ff.; Rüsch, Die Verwirklichung einer korrespondierenden Besteuerung im deutschen Steuerrecht – systematische Betrachtung von Switch-Over-, Subject-to-tax- und Korrespondenzklauseln, Diss., 2021, 86 ff., 118 ff., 157 ff.

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Satz 1 Buchst. d Satz 3 EStG, § 49 Abs. 1 Nr. 11 EStG oder in § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 EStG. Die Korrespondenzregeln (sog. linking rules) zwingen den Rechtsanwender dazu, für die Anwendung des nationalen Rechts das ausländische Recht zu eruieren und anzuwenden. Die Frage, ob und in welchem Umfang im ausländischen Staat keine oder eine niedrigere Besteuerung als im Inland vorgenommen wird, ist höchst streitanfällig und aufklärungsintensiv109. Vor allem bedarf es hier ganz besonders der Einbeziehung der ausländischen Fisci, um Rechtssicherheit zu erlangen. Die konkrete Dimension dieses Streitfeldes wird sich aber erst in den kommenden Jahren zeigen.

7. Grenzüberschreitendes Umsatzsteuerrecht Zum Schluss möchte ich noch einmal auf das bereits oben unter III.1. angesprochene Streitfeld des Umsatzsteuerrechts zurückkommen. Die überbordende Komplexität der umsatzsteuerlichen Regeln zum grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsverkehr erweist sich zunehmend als ein ernstzunehmendes Zugangshindernis zum Europäischen Binnenmarkt. Die Überforderung der Unternehmen mit der Erfüllung ihrer umsatzsteuerlichen Pflichten ist greifbar. Die Gefahr einer Doppelbesteuerung droht bei der Umsatzsteuer ebenso wie die der doppelten Nichtbesteuerung. Besonders deutlich wird es bei der Bestimmung des jeweiligen Leistungsorts, von dem die Steuerbarkeit abhängt. Mehrwertsteuer-Doppelbesteuerungsabkommen existieren ebenso wenig wie ein Mehrwertsteuer-Verständigungs- oder -Schiedsverfahren. Eine spezielle, kostenfreie Umsatzsteuerauskunft sucht man ebenfalls vergebens. Für mich ist nach wie vor unverständlich, warum sich die Bundesrepublik Deutschland als größter EU-Exportstaat dem Modellversuch eines VAT Cross Border Rulings (CBR), an dem sich immerhin 18 EU-Mitgliedstaaten beteiligt haben110, verweigert. Der Modellversuch erlaubt Steuerpflichtigen, vorab eine amtliche Auskunft als Vorbescheid (CBR) über die mehrwertsteuerliche Behandlung von komplexen grenz109 Auch hier stellt sich die Frage nach Anwendbarkeit der erweiterten Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen, dazu mit Recht restriktiv Schnitger/ Haselmann, Die Anwendung des § 4k EStG und die erweiterten Mitwirkungspflichten, ISR 2022, 13 (15 ff.). 110 Dazu EU-Kommission, Informationsvermerk „Modellversuch zu Anträgen auf amtliche Vorab-Auskünfte (Vorbescheide) bei grenzüberschreitenden Sachverhalten“, abrufbar unter https://taxation-customs.ec.europa.eu/taxa tion-1/value-added-tax-vat/vat-cross-border-rulings-cbr_de (zuletzt abgerufen am 4.6.2023).

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überschreitenden Transaktionen zu erhalten. Dies sollte gerade auch in der Bundesrepublik Deutschland möglich sein.

V. Zusammenfassung der Ergebnisse Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich verallgemeinernd folgende Streitfelder im Steuerrecht festhalten: 1. bei der Bewertung von Wirtschaftsgütern/-lasten, Nutzungen und Leistungen in den unterschiedlichen Steuerarten, 2. bei Abgrenzungen und Aufteilungen in steuerrechtlich unterschiedlich behandelten Sphären, 3. bei den Dokumentationspflichten und der Beurteilung der Ordnungsmäßigkeit von Dokumentationen als Grundlage des Ansatzes von Faktoren der steuerlichen Bemessungsgrundlage, 4. bei der Schätzung von Umsatz und Gewinn, 5. bei der Bestimmung des Umfangs und des konkreten Inhalts von Mitwirkungspflichten und steuerlichen Nebenleistungen, 6. in materiell-rechtlichen Streitfragen einschließlich von Sachverhaltsunsicherheiten. Die vorgenannten Streitfelder finden sich sowohl im nationalen als auch im grenzüberschreitenden Kontext. Soweit in den jeweiligen Streitfeldern Bewertungs- und Schätzungsspielräume bestehen, eignen sie sich zu streitvermeidenden oder -schlichtenden Verständigungen. Im grenzüberschreitenden Kontext erhöht sich das Streitpotential aufgrund mehrpoliger Verhältnisse mit mindestens zwei Steuerverwaltungen, die unterschiedliche fiskalische Interessen verfolgen. Hier bedarf der Steuerpflichtige des besonderen Schutzes vor der Gefahr der Doppelbesteuerung. Dies gilt besonders auch in Streitfeldern (wie etwa bei der Umsatzoder Lohnsteuer), wo es nicht um die Abschöpfung seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit geht, sondern eine bloße Inkassofunktion als Steuereinsammler zugunsten des Staates erfüllt wird.

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Verfassungs- und europarechtlicher Rahmen der Streitvermeidung und Streitbeilegung im nationalen Steuerrecht Prof. Dr. Matthias Valta Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

I. Einführung 1. Abwesenheit Deutschlands beim ICAP-Piloten 2. Vergangenheitsbezogenes Steuerverfahrensrecht in Deutschland a) Allgemeines b) Ausnahme: Lohnsteueranrufungsauskunft c) Regelfall: verbindliche Auskunft und ihre Schwächen d) Eingeschränkte Kontrolle des Steuerbescheids e) Späte Außenprüfung und seltene verbindliche Zusage f) Rechtsvergleichender Blick 3. Abgekoppelte Finanzgerichtsbarkeit? II. Grundlagen 1. Normkonkretisierung im Dialog 2. Keine trennscharfe Unterscheidbarkeit von Tat- und Rechtsfragen III. Verfassungsrechtlicher Rahmen 1. Rechtliches Gehör 2. Freiheitsrechte a) Anspruch auf Streitvermeidung und -beilegung? aa) Verfahrensdimension der Grundrechte bb) Gestaltungswirkung des Steuereingriffs b) Schutz vor Zwangskooperation 3. Gesetzmäßigkeit a) Gleichheit durch Gesetzmäßigkeit

b) Diskussion über ein Vertragsformverbot 4. Gleichheitssatz 5. Garantie effektiven Rechtsschutzes a) Anspruch auf vorgerichtliche Streitvermeidung und -beilegung? b) Überlange Verfahrensdauer: verbindliche Auskünfte (k)ein Sprungbrett zur gerichtlichen Kontrolle? c) Aushöhlung richterlicher Kontrolle? aa) Antagonismus oder Komplementarität einvernehmlicher und gerichtlicher Streitbeilegung? bb) Besondere Anforderungen an öffentlich-rechtliche Verträge? IV. Unionsrechtlicher Rahmen 1. Primärrecht a) Effet utile b) Parallelen zum nationalen Verfassungsrecht c) Recht auf gute Verwaltung (Art. 41 GrCh) d) Grundfreiheiten e) Beihilferecht 2. Sekundärrecht a) Dienstleistungsrichtlinie (RL 2006/123/EG) b) Informationsaustausch c) Streitbeilegungsrichtlinie V. Fazit

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I. Einführung 1. Abwesenheit Deutschlands beim ICAP-Piloten Vor mittlerweile vier Jahren am 23.1.2018 hat die OECD den Start des Pilotprogramms „International Compliance Assurance Programme“ (ICAP) bekanntgegeben. Grob skizziert sollten gute beleumundete Steuerpflichtige, die zudem ein internes Compliance-Kontrollsystem implementiert haben, die Möglichkeit erhalten, zeitnah und regelmäßig mit der Finanzverwaltung über steuerliche Risiken sprechen zu können und von dieser frühzeitig Auskünfte und gewisse Rechtssicherheit zu erhalten. Augenfällig war die Abwesenheit Deutschlands in der ersten Pilotphase, für die unbestimmte verfassungsrechtliche Gründe kolportiert wurden.1 Dies sorgte für Rätselraten. Eine parlamentarische Anfrage führte zu einer Erklärung der Regierung.2 Angeführt wurde das Verifikationsprinzip, das für die Gleichheit im Belastungserfolg verfassungsrechtlich vorgeben sei. Verifizieren könne man nur den in einer Steuererklärung erklärten abgeschlossenen Sachverhalt, nicht aber noch nicht abgeschlossene Sachverhalte. Die Verifikation im Besteuerungsverfahren könne nach geltendem Recht nicht in einem konsensualen Verfahren zur Risikobewertung vorweggenommen werden. Eine gesonderte Rechtsgrundlage wird gefordert, welche die rechtliche und tatsächliche Belastungsgleichheit sicherstellen solle. Diese Erläuterung aufgrund einer parlamentarischen Anfrage sollte man nicht überbewerten, Deutschland nahm in der Folge auch an den weitere ICAP-Phasen teil, auch wenn Rechtsgrundlagen für eine „begleitende Kontrolle“ im Gegensatz zu Österreich bisher nicht geschaffen wurden. Die Erklärung wirft aber dennoch mehr Fragen auf als dass sie Antworten gibt. Das angeführte Verifikationsprinzip fordert, dass Erklärungen des Steuerpflichtigen zur Herstellung tatsächlicher Belastungsgleichheit einer hinreichenden Kontrollwahrscheinlichkeit unterworfen werden. Begleitende Kontrolle bedeutet aber nicht, dass Sachverhalte nicht geprüft werden, sondern im Gegenteil, dass sie proaktiv offengelegt und gemeinsam besprochen werden. Mehr Verifikation geht eigentlich nicht, nur dass sie vor allem vorab oder gleichzeitig erfolgt anstatt ausschließlich im Nachhinein. Da die Rechtsprechung zumindest einen der Sache nach öffentlich-rechtlichen Vertrag unter dem Titel „tatsächliche Ver1 Prinz/Ludwig, DB 2018, 477 f. 2 BT-Drucks. 19/3842, 2.

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ständigung“ anerkennt, war der Verweis auf fehlende Rechtsgrundlagen in der Pauschalität wenig überzeugend.

2. Vergangenheitsbezogenes Steuerverfahrensrecht in Deutschland a) Allgemeines Diese Vorbehalte verweisen auf den rechtspolitisch oftmals kritisierten Umstand, dass das Steuerverfahrensrecht in Deutschland eine weit vergangenheitsbezogene Kontrolle vorsieht. Dadurch bestehen wenige Gelegenheiten zur Streitvermeidung und nur sehr späte zur Streitbeilegung. Die Möglichkeiten verbindlicher zukunfts- oder gegenwartsbezogener Dialoge sind in jüngerer Zeit zwar gestiegen, aber immer noch stark beschränkt.

b) Ausnahme: Lohnsteueranrufungsauskunft Ein Recht auf verbindliche Auskünfte und Zusagen vorab besteht nur in Fällen, bei denen der Bürger fremde Steuerpflichten erfüllen muss: die gebührenfreie Lohnsteueranrufungsauskunft nach § 42e EStG. Die Indienstnahme des Privaten für den Steuervollzug bedingt nach Auffassung des BFH eine solche Auskunftsmöglichkeit, deren Ergebnis vom Gericht inhaltlich voll überprüft werden kann.3 Der BFH zieht die „Grundsätze eines fairen Verfahrens“ heran, wonach es dem Arbeitgeber nicht zugemutet werden könne, zuerst rechtswidrig Lohnsteuer einzubehalten und abzuführen, den einschlägigen Rechtsschutz jedoch erst später durch Anfechtung entsprechender Lohnsteuer- bzw. Haftungsbescheide zu suchen.4

c) Regelfall: verbindliche Auskunft und ihre Schwächen In allen anderen Fällen ist der Steuerpflichtige grundsätzlich auf den nachträglichen Rechtschutz gegen den Steuerbescheid verwiesen – und das auch in weiteren Fällen, in denen Private in die Steuererhebung gegen Dritte eingebunden sind, so bei Kapitalertragsteuern, Abzugsteuern bei beschränkter Steuerpflicht und wirtschaftlich gesehen auch der Umsatzsteuer. Zwar gibt es eine allgemeine „verbindliche Auskunft“ in § 89 Abs. 2 AO. Diese steht aber im Ermessen der Finanzverwaltung, bedarf 3 BFH v. 29.2.2012 – IX R 11/11, BStBl. II 2012, 651 Rz. 20. 4 BFH v. 29.2.2012 – IX R 11/11, BStBl. II 2012, 651 Rz. 20.

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eines besonderen Interesses und ist gebührenpflichtig. Die Kommentarliteratur sieht darin überzeugend eine Koppelungsvorschrift, so dass bei Vorliegen eines besonderen Interesses das Ermessen konsumiert wird und die Auskunft zu erteilen ist.5 Angesichts der Gebührenpflicht und der Einschränkung auf ein besonderes Interesse ist die praktische Wirksamkeit jedoch beschränkt. Der Anwendungserlass schließt verwirklichte Sachverhalte aus, über die erst nachgelagert im Veranlagungs- und Feststellungsverfahren entschieden wird.6 Möglich ist eine Auskunft zu einer ernsthaft geplanten Umgestaltung eines bereits vorliegenden Sachverhalts.7 Verbindliche Auskünfte sollen nicht erteilt werden in Angelegenheiten, bei denen die Erzielung eines Steuervorteils im Vordergrund steht – eine Blankettausnahme, die schwer zu handhaben ist.8 Schließlich wird die Möglichkeit erwähnt, Auskünfte abzulehnen, wenn zu einem Rechtsproblem eine gesetzliche Regelung, eine höchstrichterliche Entscheidung oder eine Verwaltungsanweisung in absehbarer Zeit zu erwarten ist.9 Die Gebührenpflicht wurde vom BFH damit gerechtfertigt, dass die Vorab-Auskunft einen Sondervorteil darstelle.10 Literaturstimmen, nach denen sich aus dem Rechtsstaatsprinzip eine Fürsorge- und Betreuungspflicht des Staates ergebe, nach der dieser verpflichtet sei, den Bürger im Bereich der Eingriffsverwaltung kostenfrei in Kenntnis seiner Rechte und Pflichten zu setzen,11 lehnte er ab. Diese berücksichtigten nicht hinreichend den Sondervorteil, den der Bürger durch die vorgelagerte Bindung in einem ansonsten nachgelagerten Verfahren habe, es wird Bezug zur Außenprüfung genommen.12 Zudem entstehe ein Mehraufwand, da die Einhaltung der Grenzen der Auskunft im Nachhinein nochmals überprüft werden müssen.13 Im Übrigen sei das Steuergesetz zwar kompliziert, das läge aber auch an den vielgestaltigen Lebenssachverhalten, so dass auch ein idealer Gesetzgeber nicht in der Lage sei, ein Steuergesetz 5 Seer in Tipke/Kruse, § 89 AO Rz. 40, Rätke in Klein, 16. Aufl. 2022, § 89 AO Rz. 35. 6 AEAO zu § 89 Nr. 3.52. 7 AEAO zu § 89 Nr. 3.53. 8 AEAO zu § 89 Nr. 3.54. 9 AEAO zu § 89 Nr. 3.54. 10 BFH v. 30.3.2011 – I R 61/10, BStBl. II 2011, 536. 11 Stark, DB 2007, 2333 (2337); Simon, DStR 2007, 557 (563); Hans, DStZ 2007, 421 (423). 12 BFH v. 30.3.2011 – I R 61/10, BFHE 232, 406 = BStBl. II 2011, 536. 13 Birk, NJW 2007, 1325 (1328).

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so zu formulieren, dass die Steuerschuld zweifelsfrei daraus abzulesen wäre. Dieser vom BFH hervorgehobene Sondervorteil wird aber durch eine weitere BFH-Rechtsprechung zur gerichtlichen Kontrolle erheblich entwertet. Das Gericht kontrolliert eine verbindliche Auskunft demnach nur danach, ob die Behörde den zur Prüfung gestellten Sachverhalt zutreffend erfasst hat, die rechtliche Einordnung des zu beurteilenden Sachverhalts in sich schlüssig sein muss und nicht evident rechtsfehlerhaft ist.14 Ausgangspunkt ist eine Abgrenzung der verbindlichen Auskunft von der Festsetzung im Steuerbescheid. Die Vorabentscheidung sei nur dazu da, um zu erkennen, ob später der Rechtsweg beschritten werden muss. Zitat: „Nicht aber soll das Institut der verbindlichen Auskunft einen Prozess im Besteuerungsverfahren vermeiden und insoweit den Steuerpflichtigen das Prozessrisiko abnehmen.“15 Argumentiert wird damit, dass die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG durch die Klagmöglichkeit gegen den späteren Steuerbescheid bereits erfüllt sei.16 Wie noch zu zeigen sein wird, ist die Effektivität dieses Rechtsschutzes angesichts der Außenprüfungspraxis häufig fraglich. Zudem sind der Gesetzgeber und die Rechtsprechung nicht daran gehindert, mehr als den notwendigen Mindeststandard vorzusehen. Ein weiteres Argument ist die weitgehende Aufhebbarkeit bei späterer Erkenntnis der Unrichtigkeit nach § 2 Abs. 4 StAuskV, die das Rechtsirrtumsrisiko der Finanzverwaltung auf den Steuerpflichtigen abwälzt.17 Der nur eingeschränkte Vertrauensschutz eines für den Steuerpflichtigen positiven Bescheids muss aber nicht zwingend bedeuten, dass im Falle eines negativen Bescheids nicht über eine gerichtliche Kontrolle Vertrauensschutz hergestellt werden kann.

d) Eingeschränkte Kontrolle des Steuerbescheids Im Feststellungs- und Veranlagungsverfahren ist die Kontrolle häufig ebenfalls beschränkt. Im Rahmen des Risikomanagements wird nur noch ein Teil der Steuererklärungen von einem Finanzbeamten geprüft und eine Prüfung ist häufig auf Teilaspekte beschränkt. Bei der Steuererklärung von Unternehmen ist die Kontrolle durch den Veranlagungsbeamten zudem in der Praxis häufig beschränkt: Die eingereichte Erklärung 14 15 16 17

BFH v. 29.2.2012 – IX R 11/11, BStBl. II 2012, 651 Rz. 15. BFH v. 29.2.2012 – IX R 11/11, BStBl. II 2012, 651 Rz. 18. BFH v. 29.2.2012 – IX R 11/11, BStBl. II 2012, 651 Rz. 18. BFH v. 29.2.2012 – IX R 11/11, BStBl. II 2012, 651 Rz. 19.

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wird auf Plausibilität geprüft und ergeht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung, da die eigentliche umfangreiche Kontrolle auf die Außenprüfung verschoben wird.

e) Späte Außenprüfung und seltene verbindliche Zusage Die Außenprüfung kann bis zum Eintritt der in Deutschland recht späten Festsetzungsverjährung auf sich warten lassen, was nach Praxisberichten je nach Größenklasse des Unternehmens durchaus sechs bis sieben Jahre nach Streitjahr sein kann. Große Unternehmen, die anschlussgeprüft werden, haben dahingehend nicht nur eine Last, sondern auch den Vorzug, Finanzbeamte ständig zur zeitnahen Besprechung im Haus zu haben. Hier soll nach Praxisberichten im Rahmen der zeitnahen Betriebsprüfung teils ein Verzug von nur einem Jahr erreicht worden sein. Im Rahmen der Außenprüfung sind zwischenzeitliche Mitteilungspflichten18 und schließlich eine Abschlussbesprechung vorgesehen, in der die offenen Tat- wie Rechtsfragen nach ausdrücklichem Gesetzeswortlaut des § 201 Abs. 1 Satz 2 AO „erörtert“ werden sollen – ein institutionalisierter Dialog, der hier auch Rechtsfragen erfasst. Der Prüfungsbericht soll dem Steuerpflichtigen auf Antrag zur Stellungnahme übersendet werden,19 eine weitere Möglichkeit den Dialog fortzusetzen. § 204 AO enthält schließlich eine Sollensvorschrift, nach der die Finanzbehörde auf Antrag des Steuerpflichtigen diesem verbindlich zusagen soll, wie ein geprüfter Sachverhalt bei unveränderter Sachlage in der Zukunft steuerrechtlich behandelt wird. Aus der Praxis wurde mir berichtet, dass die Finanzverwaltung sich auch in diesem Stadium ungern streitvermeidend binde und ein solches Begehren bisweilen zum Anlass für eine Ausweitung des Prüfungsgegenstandes und -zeitraums nehme. Was aus Sicht der Finanzverwaltung der Absicherung dienen mag, kann den Steuerpflichtigen von einem entsprechenden Antrag abschrecken. Im Ergebnis besteht ein Anspruch auf einen umfassenden Dialog und eine mögliche gebührenfreie Erstreckung des Ergebnisses in die Zukunft sicher erst im Rahmen einer Außenprüfung. Was verfahrensmäßig aus Sicht der Finanzverwaltung zweckmäßig sein mag, wird mit Blick auf die fehlende zeitnahe Rechtssicherheit für den Steuerpflichtigen kritisiert.

18 § 199 Abs. 2 AO. 19 § 202 Abs. 2 AO.

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Von der zeitnahen Betriebsprüfung nach § 4a BpO profitieren nach Praxisberichten bisher nur wenige Großunternehmen.

f) Rechtsvergleichender Blick Der rechtsvergleichende Blick ins Ausland legt nahe, dass es in anderen Steuerrechtsordnungen zeitnähere Möglichkeiten für die Streitvermeidung und Streitbeilegung gibt. Auf dem Weltkongress der IFA in Berlin fiel die Aussage, dass in Österreich bereits die Hälfte der Betriebsprüfungen in Echtzeit erfolgen würde, zudem gibt es die bereits erwähnte begleitende Kontrolle. Auch aus der Schweiz erreichten mich Berichte, dass dort großer Wert auf den Dialog und die schnelle Erreichung von Rechtssicherheit gelegt wird. Auf dem IFA-Kongress bewarb ein Vertreter der australischen Finanzverwaltung die Wichtigkeit der „staff experience“ und „client experience“ im Steuerverfahren und dass große Unternehmen in der Verwaltung einen „tax relationship manager“ als ständigen Ansprechpartner haben. Man muss den Steuerpflichtigen nicht als Kunden bezeichnen. Der Blick auf die Perspektive und die Verfahrenslasten des Steuerbürgers ist aber nicht nur ein Standortfaktor, sondern auch rechtsstaatliches Gebot. Und es kann auch für Finanzbeamte ein erhöhtes Maß an Sinn und Motivation stiften, mit Steuerpflichtigen zeitnahe Lösungen zu suchen, als nach Jahren Probleme zu verhandeln, die vermieden hätten werden können.

3. Abgekoppelte Finanzgerichtsbarkeit? Die starke zeitliche Nachlagerung einer echten Kontrolle und damit einer Möglichkeit, Streit beizulegen oder für die Zukunft zu vermeiden, hat auch Auswirkungen auf die Streitbeilegung durch die Finanzgerichtsbarkeit. Kann erst mit einem Verzug von bis zu sechs oder sieben Jahren der Dialog gesucht werden, verschieben sich auch die Rechtsschutzmöglichkeiten entsprechend. Auf die nach der Außenprüfung angepassten Bescheide folgt grundsätzlich erst ein Einspruchsverfahren, in dem sich wiederum andere Finanzbeamte aus der Rechtsbehelfsstelle mit der Angelegenheit befassen. Erst nachdem der Einspruch abschlägig beschieden ist, kann Klage vor dem FG erhoben werden, das sich dann mit acht bis neun Jahre alten Sachverhalten beschäftigen darf. Auch wenn die FG schnell entscheiden, kann vor dem BFH dann das zehnjährige Jubiläum zum Streitjahr gefeiert werden.

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Im Gespräch mit Finanzrichtern höre ich immer wieder die Bemerkung, dass die Finanzgerichtsbarkeit zu wenig Fälle bekommt und daher die richterliche Kontrolle eingeschränkt sei. Als Grund wird die Verständigungskultur in der Betriebsprüfung vermutet. Aus Sicht der Beratungsund Unternehmenspraxis hat der Gang zum FG wiederum den Nachteil, dass dadurch die Rechtssicherheit noch weiter herausgeschoben wird. Mit der späten Prüfung und dem späten Dialog erhöht die Finanzverwaltung somit auch Anreize für Verständigungen. Mit ihrem Beharren auf einer vollen gerichtlichen Kontrolle erst des endgültigen Steuerbescheids und nicht schon der verbindlichen Auskünfte scheint die Rechtsprechung an den geringen Fallzahlen aber auch nicht ganz unschuldig zu sein. Die späte und eingeschränkte Rolle der Rechtsprechung hat weitere negative Folgen: Wenn es wenig Fälle gibt, gibt es auch wenig Urteile, die für andere Fälle als Maßstab dienen können und dort helfen, Streit zu vermeiden und beizulegen. Die wichtige Rolle von Urteilen im Fachdiskurs wird beeinträchtigt. Und auch hier stellt sich die Frage, ob es nicht sinnstiftender für die Finanzrichter ist, zeitlich näher an den Entwicklungen Recht sprechen zu können. Die wissenschaftliche Publikationstätigkeit von Richtern und insbesondere Höchstrichtern mag hier etwas als Ventil und Ersatz dienen. Sie ersetzt jedoch keine Entscheidungspraxis.

II. Grundlagen 1. Normkonkretisierung im Dialog Die Frage, was ein Streit im Steuerverfahren ausmacht, stellt die Frage, was im Steuerverfahren eigentlich gemacht wird. Und die Antwort ist auf den ersten Blick banal: Die Behörde wendet das Steuerrecht auf einen Sachverhalt an unter Mitwirkung des Steuerpflichtigen, den Informations- und Kooperationspflichten treffen. Fragt man weiter, was Rechtsanwendung sei, wird es schon schwieriger: Das Vorliegen eines Tatbestands wird anhand von Tatbestandsmerkmalen und einem Sachverhalt geprüft. Diese Tatbestandsmerkmale sind unbestimmte Rechtsbegriffe, welche der Auslegung bedürfen. Diese nimmt ihren Ausgang im Wortlaut, beruht aber auch maßgeblich auf der Systematik und höherrangigen Vorgaben in Verfassung, Gesetz, Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift, die im Einzelakt konkretisiert werden müssen.

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Der Rechtsanwender ist somit zugleich Rechtssetzer mit einem gewissen Konkretisierungsspielraum. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass es sich bei der Steuerfestsetzung um gebundene Entscheidungen ohne Ermessen handelt.20 Allein die notwendige Konkretisierungsbedürftigkeit steuerlicher Tatbestandsmerkmale wie der Veranlassungszusammenhang oder der Wert eines Wirtschaftsgutes angesichts vielfältiger Lebenssachverhalte führt letztlich immer zu mehreren de lege artis vertretbaren Konkretisierungsmöglichkeiten. Der BFH hat mit seiner Aussage aus der Entscheidung zur Gebührenpflicht der verbindlichen Auskunft recht, dass es kein ideales Steuerrecht gibt, bei dem sich alle Antworten gleichsam aus dem Gesetz ergeben. Es gibt im Ausgangspunkt also keine „one right answer“, sondern mehrere vertretbare Konkretisierungen, so dass es am Ende einer Dezision bedarf.21 Zuerst des Finanzbeamten und schließlich des Finanzrichters, der informiert durch den im Verfahren aufbereiteten und verfeinerten Fachdiskurs die überzeugendste Konkretisierung vornimmt. Vor diesem Hintergrund ist ein Streit die Uneinigkeit über eine Normkonkretisierung in einem konkreten Sachverhalt. Methodisch besitzt eine Streitbeilegung durch Einvernehmen oder durch den Richter die gleiche Dignität, soweit sie sich im Rahmen des methodengerecht eröffneten Konkretisierungsspielraums befinden. Die Möglichkeit, den Richter als Dritten einzuschalten, hat als Verhandlungsalternative zudem auch dann Einfluss auf die Streitbeilegung, wenn sie nicht wahrgenommen wird.

2. Keine trennscharfe Unterscheidbarkeit von Tat- und Rechtsfragen In der Rechtsprechung wird zwischen der Verständigung in Rechtsfragen und in Tatfragen unterschieden. Dazu sei vorab aus methodischer Sicht 20 Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, 588. 21 Für das Steuerrecht: Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, 588; Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, 1996, 129, 167 ff., 212 f.; Vogel, StuW 1991, 254 (255: „…, wie regelmäßig, verschiedene Auslegungen eines Gesetzes nebeneinander vertretbar sind, …“); P. Kirchhof, NJW 1985, 2977 (2978: „Die Praxis der Steuerfestsetzung, insbesondere der Schlußbesprechung nach einer steuerlichen Außenprüfung bestätigt, daß der konkret geschuldete Steuerbetrag vielfach erst in einem vergleichsähnlichen Verständigungsverfahren über den Sachverhalt und über die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe gefunden wird“).

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gesagt, dass auch der Sachverhalt in die Normkonkretisierung einbezogen wird und Sachverhaltswürdigung und Normkonkretisierung nicht streng unterschieden werden können.22 Alle Juristinnen und Juristen kennen die berühmte Wendung von Engisch über das Hin- und Herwandern des Blickes.23 Nicht nur die Norm wird konkretisiert, sondern auch der Sachverhalt wird aus der Fülle der Lebenswirklichkeit herausgefiltert. Die Würdigung des Sachverhalts geschieht mit Blick auf die Tatbestandsmerkmale und die Tatbestandsmerkmale werden auf den Sachverhalt konkretisiert – ein hermeneutischer Prozess.24 Das wird im Steuerrecht eigentlich recht deutlich beim Ausfüllen der Einkommensteuererklärung. Die Finanzverwaltung verlangt dem Steuerpflichtigen im Rahmen seiner Kooperationspflichten ab, den steuerlich relevanten Sachverhalt selbst zu konstruieren. Dieser muss erklären, was steuerlich nach Auffassung der Finanzverwaltung relevant sein könnte. Dem Steuerpflichtigen ist es gar nicht möglich die Fülle der Lebenssachverhalte ungefiltert zu erklären. Hinzu kommt die Zumutung des Formulars, in dem bereits vom Steuerpflichtigen eine rechtliche Würdigung vorgenommen werden muss, um die Information richtig zu strukturieren. Typische Grenzfragen zwischen Tat- und Rechtsfragen sind das Veranlassungsprinzip und Bewertungsfragen, insbesondere auch was den Fremdvergleich angeht.

III. Verfassungsrechtlicher Rahmen 1. Rechtliches Gehör Art. 103 Abs. 1 GG sieht vor, dass jedermann vor Gericht Anspruch auf rechtliches Gehör hat. Das rechtliche Gehör hat zwei Komponenten: ein Äußerungsrecht des Bürgers zu Tat- wie Rechtsfragen sowie eine Informationspflicht des Gerichts über die zugrunde gelegten Tatsachen, die Ausgangspunkt für Äußerungen sein können. Nach allgemeiner Auffassung besteht aber auch im Verwaltungsverfahren ein Anspruch auf rechtliches Gehör. Es wird teils aus dem Rechtsstaatsprinzip,25 teils aus einem durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gewährleisteten Recht 22 Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 49; Osterloh-Konrad, Die Steuerumgehung, 2019, S. 35. 23 Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 1943, S. 15. 24 Schenke, Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 49 f. 25 Rüping in Bonner Kommentar, Art. 103 GG Abs. 1 Rz. 150.

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auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren,26 teils aus der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG,27 teils aus der verfahrensrechtlichen Dimension der Freiheitsgrundrechte abgeleitet.28 Insofern ist die Anhörung im Verfahren auch verfassungsrechtlich vorgegeben. Problematisch ist die Beschränkung des rechtlichen Gehörs auf eine Informationspflicht zu den zugrunde liegenden Tatsachen, zu denen sich der Bürger verhält. Eine solche Beschränkung ergibt sich nicht aus dem Wortlaut des Art. 103 Abs. 1 GG, wird aber dort regelmäßig hineingelesen. Während der Bürger ein Recht zur Äußerung über Tatsachen- wie Rechtsfragen hat, muss das Gericht nur über die zugrunde liegenden Tatsachen informieren. Die Rechtsprechung des BVerfG hat aber zu Recht erkannt, dass sich die Informationspflicht auch auf die wesentlichen Rechtsgrundlagen erstreckt, da nur dann der Bürger sicher entsprechende tatsächliche wie rechtliche Äußerungen vervollständigen kann29 – hier zeigt sich die oben bereits angemerkte fehlende Trennbarkeit von Tatsachen- und Rechtsfragen. Insoweit bietet Art. 103 Abs. 1 GG auch einen Schutz vor rechtlichen Überraschungsentscheidungen. In der Folge ist auch die verwaltungsrechtliche Anhörungspflicht in § 91 AO auf die wesentlichen Rechtsgrundlagen zu erweitern. Die Verwaltung muss also vor ihrer Entscheidung grundsätzlich über die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen informieren, soweit diese von der Erklärung des Steuerpflichtigen abweichen. Der Steuerpflichtige darf sich dazu äußern. Das kann ein Auftakt zu einem Dialog zur einvernehmlichen Normkonkretisierung sein. Doch ist die Finanzverwaltung zu einem Dialog im engeren Sinne, zu einem Rechtsgespräch verfassungsrechtlich verpflichtet? Das wird in Rechtsprechung und Literatur mehrheitlich abgelehnt. Das BVerfG hat entschieden, dass das Gericht von Verfassungs wegen nur die in Betracht kommenden 26 BVerfG v. 18.1.2000 – 1 BvR 321/96, BVerfGE 101, 397 (404); Nolte in von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 103 Abs. 1 GG Rz. 19; Höfling/Burkiczak in Friauf/Höfling, Art. 103 GG Rz. 34. 27 BVerfG v. 9.3.1983 – 2 BvR 315/83, BVerfGE 63, 332 (337); BVerfG v. 18.1.2000 – 1 BvR 321/96, BVerfGE 101, 397 (405) Rz. 20 „Objekt des Verfahrens“; Dürig in Maunz/Dürig, Erstkommentierung Art. 103 GG Rz. 92; sowie z.B. bei Kallerhoff in Stelkens/Bonk/Sachs, 8. Aufl. 2014, § 28 VwVfG Rz. 2. 28 Remmert in Dürig/Herzog/Scholz, Art. 103 Abs. 1 GG Rz. 20 f.; Kunig, Rechtsstaatsprinzip, 375 f.; Rossen-Stadtfeld in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band II, 2. Aufl. 2012, § 29 Rz. 22: „grundrechtsgestützt“. 29 Kopp, Verfassungsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht, 1971, 190.

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Rechtsgrundlagen nennen muss, grundsätzlich aber nicht seine Rechtsposition vor der Entscheidung offenlegen oder ein Rechtsgespräch führen muss.30 Ausnahmen bestehen bei Abweichungen von der eigenen Vorrechtsprechung. Dieses Argument wird auf die Verwaltung übertragen: Wenn der Richter nicht im Gespräch Stellung beziehen muss, dann müsse es die Verwaltung auch nicht.31 Die Rechtsprechung begründet ihre Ablehnung eines Rechts auf ein Rechtsgespräch nicht näher und es wird auch nicht auf die methodischen Grundlagen der Rechtskonkretisierung eingegangen. Auch fehlt eine Differenzierung zwischen der Dispositionsmaxime unterliegenden Verfahren, anhand derer die ersten Entscheidungen ergingen, und der Amtsermittlung unterliegenden Verfahren. Die Besorgnis, dass sich der Richter in einem Rechtsgespräch so exponiere, dass er sich dem Vorwurf der Befangenheit aussetze, wird auch nicht hinterfragt, obgleich vorläufige Einschätzungen der Sach- und Rechtslage durchaus üblich sind. Auch die schlichte Übertragung auf die Verwaltung befriedigt nicht: Kann man die Verwaltung einfach als „minus“ zur Rechtsprechung ansehen, ist sie nicht vielmehr ein „aliud“, weil es bei ihr auch bei gebundenen Entscheidungen nicht um Kontrolle, sondern um originäre Konkretisierung geht? Auch das Argument mit der Besorgnis der Befangenheit erscheint kaum auf die Finanzverwaltung übertragbar. Nimmt man die Konkretisierungsbedürftigkeit des Rechts und die sinnstiftende Wirkung des kunstgerechten Fachdiskurses ernst, setzt die Gewährung rechtlichen Gehörs ein Mindestmaß an Dialog voraus. Aus diesem methodischen Ausgangspunkt und mit Blick auf das Demokratieprinzip leitet Kopp in seiner Habilitationsschrift sogar eine Pflicht zu einem Rechtsgespräch ab.32 Ein Einigungszwang besteht nicht, die Behörde entscheidet aber allein aufgrund des Diskurses besser. Gerade im Bau- und Planungsrecht wird immer wieder die Bedeutung der Partizipation betont als Form direkter Demokratie im weiteren Sinne, die Legitimität und Akzeptanz, aber auch die sachliche Richtigkeit der Entscheidung fördere.33 Zwar gibt es im Steuerrecht keine entsprechenden völkerrechtlichen- und europarechtlichen Vorgaben (insbesondere Aar30 BVerfG v. 24.3.1976 – 2 BvR 804/75, BVerfGE 42, 64 (87); BVerfG v. 25.1.1984 – 1 BvR 272/81, BVerfGE 66, 116 (147); BVerfG v. 15.5.1984 – 1 BvR 967/83, BVerfGE 67, 90 (96); BVerfG v. 5.11.1986 – 1 BvR 706/85 BVerfGE 74, 1 (5). 31 Bader/Ronellenfitsch in BeckOK, § 28 VwVfG Rz. 16.1. 32 Kopp, Verfassungsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht, 1971, 191. 33 Peters, Legitimation durch Öffentlichkeitsbeteiligung?, 2020, S. 40 ff.

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hus-Konvention) und kein entsprechendes weites Planungsermessen, aber dennoch wie gezeigt Konkretisierungsspielräume. Selbst wenn man von einem Recht auf einen gewissen Mindestdiskurs mit der Behörde ausgeht, wird man aber qua Verfassung kein Gespräch bestimmter Länge oder bis zur Einigung fordern können. Es genügt gerade im Massenverfahren ein schriftliches Verfahren. Im Steuerverfahren ist ein rudimentärer Dialog aus Steuererklärung R Anhörung und Außenprüfungsbesprechung R Steuerbescheid R Einspruch R Einspruchsentscheidung gegeben. Durch die Praxis, erst nach später Außenprüfung einen endgültigen Bescheid zu erlassen, wird dieser Dialog freilich erst sehr spät geführt. De lege lata wirkt das Recht auf rechtliches Gehör allerdings in die Auslegung des § 91 AO ein. § 91 AO kombiniert ein „Sollen“ mit Ausnahmen, bei denen eine Anhörung entbehrlich ist. Diese Ausnahmen sollten verfassungskonform eng ausgelegt werden und das über das Sollen grundsätzlich bestehende Restermessen bei Nichtvorliegen der Ausnahmen konsumiert werden.

2. Freiheitsrechte a) Anspruch auf Streitvermeidung und -beilegung? aa) Verfahrensdimension der Grundrechte Neben die Belastung durch die eigentliche Steuerzahlung treten aber verfahrensrechtliche Lasten. Man muss die Steuer ja nicht nur zahlen, sondern muss eine Erklärung abgeben, Belege aufbewahren und bei der Sachverhaltsermittlung kooperieren, kurz der Compliance-Aufwand. Hinzu kommt die Unsicherheitslast: Kann der Steueranspruch nicht zeitnah geklärt werden, werden dem Steuerpflichtigen temporär Mittel gebunden. Sei es, dass er sie als Vorauszahlungen bereits entrichten musste, sei es auch nur, dass er die steuerlichen Risiken durch Rückstellungen abbilden muss. Damit ist die sog. Verfahrensdimension der Grundrechte angesprochen.34 In der Entscheidung „Schweigender Prüfling“ aus dem Jahr 197935 hat das BVerfG anerkannt, dass sich der Grundrechtsschutz nicht auf das Ver34 Stark, DB 2007, 2333 (2337). 35 BVerfG v. 13.11.1979 – 1 BvR 1022/78, BVerfGE 52, 380 (389); BVerfG v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83 BVerfGE 84, 34 (45); BVerfG v. 17.4.1991 – 1 BvR 1529/84, 1 BvR 138/87, BVerfGE 84, 59 (72).

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fahren der gerichtlichen Überprüfung beschränkt, sondern auch die Gestaltung des behördlichen Verfahrens berühre, soweit die behördliche Entscheidung ein Grundrecht betreffe.36 Im Mülheim-Kärlich-Beschluss wurde der Grundrechtsschutz durch Verfahren weiter ausgebaut: Bereits das Verwaltungsverfahren dient dem Schutz der Grundrechte. Das noch weitergehende und in der Folgezeit wirkmächtige Minderheitenvotum betonte die Bedeutung der Einbeziehung des Bürgers für die Gewinnung einer richtigen Entscheidung.37 Ein weiterer Schritt war die Entscheidung zur gerichtlichen Prüfungskontrolle, die einen Zusammenhang zwischen gebotener Grundrechtsschonung im Verfahren und der Effektivität nachträglicher gerichtlicher Kontrolle herstellte.38 Weil Prüfungsentscheidungen im Nachhinein vor Gericht nicht mehr vollständig nachvollzogen und kontrolliert werden können, gewinnt der Grundrechtsschutz im Verfahren besondere Bedeutung. Dieser Zusammenhang lässt sich mit Einschränkungen auch auf das Steuerrecht übertragen. Die abschließende für den Rechtsschutz maßgebliche Entscheidung erfolgt im Rahmen der langen Festsetzungsverjährung recht spät. Dadurch ist wie eingangs beschrieben die Effektivität des gerichtlichen Rechtschutzes in Frage gestellt. In der Konsequenz muss zum Ausgleich im Verwaltungsverfahren ein präventiver Schutz der Grundrechtspositionen möglich sein. Diese Präventionspflicht der Verwaltung spricht ebenfalls dafür, umfassend rechtliches Gehör zu gewähren und in für den Steuerpflichtigen wichtigen Punkten vorab Rechtssicherheit durch Vorabentscheidungen zu ermöglichen.

bb) Gestaltungswirkung des Steuereingriffs Ein weiterer grundrechtlicher Ansatz ist der Schutz vor den sog. Gestaltungswirkungen der Besteuerung. Art. 14 GG kommt nicht nur hinsichtlich der Belastung durch die Steuerzahlung in Betracht, sondern auch mit Blick auf die Verhaltenslenkung des Steuerpflichtigen. Der Steuerzahler treffe aufgrund steuerlicher Vorgaben Dispositionen hinsichtlich seiner Vermögensgegenstände, z.B. bei Finanzierungs- und Investitionsentscheidungen. Dies gelte nicht nur für Lenkungsnormen, sondern auch für Fiskalzwecknormen, da diese nicht allokationsneutral 36 BVerfG v. 13.11.1979 – 1 BvR 1022/78, BVerfGE 52, 380 (390). 37 BVerfG v. 20.12.1979 – 1 BvR 385/77, BVerfGE 53, 30 (79 f.). 38 BVerfG v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83, BVerfGE 84, 34 (46).

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seien.39 Diese Dispositionen seien auch von Art. 14 GG geschützt. Ändern sich die steuerlichen Rahmenbedingungen, könne zwar die gleiche Vorsteuer- aber nicht mehr die gleiche Nachsteuerrendite erzielt werden, die Marktfähigkeit von Wirtschaftsgütern ändere sich. Nun steuerlich schädliche Folgen bringende Wirtschaftsgüter müssen möglicherweise vorzeitig abgestoßen werden, was die Frage der Konfiskationsgrenze aktiviere.40 Eine erdrosselende, übermäßige Belastung könne sich auch dadurch ergeben, dass mangels Kenntnis die Überwälzung einer auf Überwälzung angelegten Steuer in der Vertragsgestaltung nicht möglich sei.41 Auch wenn Hey diese Maßstäbe zuerst an Änderungen des Steuergesetzes entwickelt, bezieht sie sich auch auf die Konkretisierungsbedürfigkeit des Gesetzes durch Verwaltungsvorschriften und Einzelakt.42 Konsequenterweise nimmt sie zumindest eine Nähe von Gesetzgebung wie auch Normkonkretisierung mit Blick auf den Dispositionsschutz an.43 In der Folge geht Hey von verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Zusagenerteilung aus. Weil das Recht mehrstufig konkretisiert wird und es auch zu der Funktion der Finanzverwaltung gehört, das Recht auf den Einzelfall zu konkretisieren und individualisieren, hat der Bürger grundsätzlich einen Anspruch auf Risikoreduktion durch Vorabzusagen, wenn er ein besonderes Zusageninteresse anhand getroffener oder zu treffender Dispositionen hat.44 Über die grundrechtlichen Herleitungsansätze eines so umfassenden Dispositionsschutzes lässt sich streiten. Naheliegend ist es, die Gestaltungswirkungen von Art. 14 GG als dogmatischen Kern zu betonen, der aber wiederum zur früheren Rechtsprechung führte, dass das Vermögen als solches grundsätzlich nicht geschützt ist, da abstrakte Vermögenseinbußen nicht zur Aufgabe konkreter Eigentumspositionen zwingen.45 In diesem Verständnis der Gestaltungswirkung musste die Begleichung der Steuerschuld eine konkreten Eigentumsposition gefährden oder ent39 40 41 42 43 44 45

Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, 147. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, 148. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, 148. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, 587. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, 588. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, 695 ff., 733 f. BVerfG v. 31.5.1988 – 1 BvL 22/85, BVerfGE 78, 232 (243); BVerfG v. 12.10.1994 – 1 BvL 19/90, BVerfGE 91, 207 (220); BVerfG v. 8.4.1997 – 1 BvR 48/94, BVerfGE 95, 267 (300); Rechtsprechungsänderung durch Anknüpfung an den Bestand des Hinzuerworbenen, BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (110 ff.), dazu auch Kempny, StuW 2014, 185 (194 f.).

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ziehen.46 In den Beispielen Heys ist jedoch nicht die Gestaltungswirkung der Rechtsfolge Steuerschuld das Problem, sondern die Gestaltungswirkung der tatbestandlichen Anknüpfung. Die Abgrenzung von besonders geschützten Dispositionen von den nach Rechtsprechung des BVerfG nicht erfassten bloßen Erwerbschancen fällt schwer. Wie Hey selbst abgrenzt, kann es keinen Schutz bestimmter Nettorenditen geben.47 Veränderliche Rahmenbedingungen faktischer, aber auch rechtlicher Art gehören zum Unternehmertum dazu. Was als Argument gegen eine zu starke Bindung des demokratisch direkt legitimierten Gesetzgebers spricht, relativiert sich bei der Normkonkretisierung im Einzelfall durch die Finanzverwaltung. Solange die Gesetzeslage gleichbleibt und es nur um die Normkonkretisierung im Rahmen dieses Gesetzes geht, ist die Annahme eines grundrechtlich fundierten Rechts auf Dispositionsschutz durch Vorabzusagen oder zeitnahe Prüfung überzeugend. Dieses findet freilich seine Grenze in der Kapazität der Verwaltung.

b) Schutz vor Zwangskooperation Die Verfahrensdimension enthält nicht nur einen Anspruch auf angemessen schnelle Rechtssicherheit, sondern schützt auch vor Zwangskooperation.48 Entsprechend gilt das aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht bekannte Koppelungsverbot:49 Keine Partei darf aus Gründen, die nicht im Gesetz vorgesehen sind, zum Vertragsschluss gedrängt werden: Der Steuerpflichtige darf insbesondere nicht mit der Drohung mit der Steuerfahndung zum Vergleich gezwungen werden.

3. Gesetzmäßigkeit Sprechen Freiheitsrechte und das Recht auf rechtliches Gehör für Möglichkeiten einvernehmlicher Streitvermeidung und Streitbeilegung, werden das Gesetzmäßigkeitsprinzip und die durch dieses als besonders garantiert angesehene Gleichheit häufig als Antagonisten angesehen.

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Kempny, StuW 2014, 185 (194 f.). Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, 150. Drüen, FR 2011, 101 (109). Vgl. § 56 Abs. 2 VwVfG, der auf § 36 Abs. 1 und Abs. 3 VwVfG verweist, welche in § 120 Abs. 1 und 3 AO eine Parallelvorschrift haben.

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a) Gleichheit durch Gesetzmäßigkeit Das BVerfG hat in seiner Entscheidung zur Kapitalertragsteuer die Bedeutung einer faktischen Vollzugsgleichheit betont. Nicht nur das Gesetz muss gleichheitsgerecht sein, sondern auch sein Vollzug. In der Entscheidung findet sich so auch der Satz, nach dem die Finanzverwaltung das Steuergesetz in „strikter Legalität“ umsetzen müsse.50 In Bezug genommen wurde die Entscheidung zu Ehegattenverhältnissen aus dem Jahre 1961, die wiederum unter teilweise wörtlichem Zitat aus dem Lehrbuch Bühler/Strickrodt postuliert, dass das Steuerrecht von der „primären Entscheidung des Gesetzgebers über die Steuerwürdigkeit bestimmter generell bezeichneter Sachverhalte“ getragen werde und dementsprechend „aus dem Diktum des Gesetzgebers“ lebe.51 Einfachgesetzliche Ausformung hat das gleichheitsbezogene Gesetzmäßigkeitsprinzip in § 85 AO gefunden: „Die Finanzbehörden haben die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben“. Im Ausgangspunkt ist der Bezug von Gesetzmäßigkeit und Gleichheit zutreffend. Das Gesetz ist in seiner Allgemeinheit grundsätzlich privilegierungsfeindlich in dem Sinne, dass es – sofern kein Einzelfallgesetz vorliegt – keine Ungleichbehandlung ad hominem enthält. Allein ergibt sich aus dem Gesetz noch keine konkrete Rechtsfolge für den Steuerpflichtigen, es bedarf wie bei den Grundlagen ausgeführt der Konkretisierung im Einzelakt und hier besteht regelmäßig ein Konkretisierungsspielraum. Die Vorstellung, dass das Steuerrecht eine Sonderstellung einnimmt, ein besonderes „ius strictum“ sei, bei dem sich doch alles im Detail klar aus dem Gesetz ergebe, ist unzutreffend.52 Wie bereits angeführt sind Fragen wie der Veranlassungszusammenhang, Bewertungsfragen oder der Fremdvergleich in hohem Maße von Wertungen im Einzelfall abhängig. Die Bezifferbarkeit der Rechtsfolge in einer konkreten Steuerschuld mag den Eindruck von Genauigkeit erwecken, mehr aber auch nicht.

50 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (271). 51 BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 232/60, BVerfGE, 13, 318 unter Verweis auf Bühler/Strickrodt, Steuerrecht, 3. Aufl. S. 658. 52 Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 1996, 169 ff.; Drüen, FR 2011, 101 (107).

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b) Diskussion über ein Vertragsformverbot Die betonte Gesetzmäßigkeit hat auch immer wieder zu Diskussionen geführt, ob das Steuerrecht ein Vertragsformverbot kenne, weil ein Vertrag gegen das Gesetzmäßigkeitsprinzip verstoße. Die Geschichte eines gewissen Misstrauens gegen die Handlungsform des Vertrages im öffentlichen Recht ist alt, man denke an das Otto Mayer zugeschriebene Diktum „Der Staat paktiert nicht“.53 Vertragliche Lösungen werden gerne als besonders gefahrgeneigt im Hinblick auf Kollusion und möglicherweise Korruption angesehen. Ein solches Vertragsformverbot kann jedoch nicht überzeugend begründet werden. Wenn es verschiedene Möglichkeiten der Rechtskonkretisierung gibt, kann darüber genau so gut durch Vertrag wie Verwaltungsakt entschieden werden. Ein Zwang zu einseitigen Handlungsformen lässt sich nicht ableiten, zumal ein Verwaltungsakt ja nicht aus dem luftleeren Raum kommt, sondern auf einer Interaktion mit dem Steuerpflichtigen und möglicherweise informellen Absprachen beruht. Eine einvernehmliche Streitvermeidung oder Beilegung können durch einen Vertrag wie durch einen Verwaltungsakt gefasst werden. Im Übrigen wäre es seltsam, wenn das Steuerrecht ein Vertragsformverbot kennen würde, im nach Art. 103 Abs. 2 GG noch stärker gesetzesgebundenem Strafrecht aber verfahrensrechtliche Absprachen möglich sein sollen (§ 257c StPO). Es bleibt die Frage, ob es eines ausdrücklichen Gesetzesvorbehalts auch für die Handlungsform bedarf. Verfassungsrechtlich gibt es keinen abschließenden Katalog staatlicher Handlungsformen und bedarf es grundsätzlich keiner besonderen Ermächtigung für eine bestimmte Handlungsform.54 Insofern ist der BFH-Rechtsprechung zuzustimmen, dass eine sog. tatsächliche Verständigung, letztlich ein Vergleichsvertrag über Tatsachen, auf dessen Grundlage dann Steuerbescheide erlassen werden, auch ohne besondere gesetzliche Grundlage ergehen kann.55 § 78 Nr. 3 AO zeigt die Offenheit der AO für öffentliche Verträge. Besondere Ver53 Tatsächlich: „Darum sind wahre Verträge des Staates auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes nicht denkbar.“, Meyer, AÖR 3 (1887), 3 (42). 54 Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 1996, S. 158 ff.; a.A. Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, 2004, S. 211 ff. 55 BFH v. 4.8.1961 – VI 269/60 S, BStBl. III 1961, 562, BFH v. 19.3.1981 – IV R 49/77, BStBl. II 1981, 538, BFH v. 16.3.1983 – IV R 36/79, BStBl. II 1983, 459; BFH v. 11.12.1984 – VIII R 131/76; BStBl. II. 1985, 354; BFH v. 5.10.1990 – III R 19/88, BStBl. II 1991, 45 (46).

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tragsformverbote bestehen freilich für die Steuerfestsetzung und das Feststellungsverfahren, die gesetzlich durch Verwaltungsakt ergehen müssen. Die Beschränkung auf Tatsachenfeststellungen lässt sich wie dargestellt allerdings nicht überzeugend begründen und wird in der Praxis auch seit langem nicht durchgehalten. Paul Kirchhof bezeichnete die Schlussbesprechung der Außenprüfung 1985 in der Praxis als „vergleichsähnliche[s] Verständigungsverfahren über den Sachverhalt und über die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe“.56 Fragen des Veranlassungszusammenhangs, der Bewertung, des Fremdvergleichs enthalten Sachverhaltswie Rechtswertungen.

4. Gleichheitssatz Auch wenn die einvernehmliche Streitvermeidung und Streitbeilegung unabhängig von der Handlungsform wie dargelegt kein Problem mit der Gesetzmäßigkeit darstellt und nicht per se gleichheitswidrig ist, bleiben konkrete Gleichheitsprobleme im Verfahren. Auch das Steuerverfahren an sich muss gleichheitsgerecht ausgestaltet sein: es darf keine Vorzugsbehandlung geben. Das gibt sich sowohl aus der allgemeinen Gleichheitsbindung auch in Verfahrensfragen als auch aus der dienenden Funktion des Verfahrens für ein richtiges Ergebnis.57 Differenzierungen durch unterschiedliche Verfahrensausgestaltungen sind dadurch jedoch nicht verboten, sondern rechtfertigungsbedürftig. Ein Rechtfertigungsgrund ist die begrenzte Ressource Verwaltung im Massenverfahren. Der Steuerpflichtige hat daher keinen originären Anspruch auf Streitvermeidung und -beilegung, sondern nur einen derivativen Teilhabeanspruch, der wiederum gleichheitsrechtlich ausgestaltet werden muss. Ein Rechtfertigungsgrund für einen bevorzugten Zugang zur Streitvermeidung und Streitbeilegung ist die Indienstnahme für die Steuererhebung bei Dritten. Die gesonderte Lohnsteueranrufungsauskunft in § 42e EStG mit ihrem Anspruch auf Auskunftserteilung und ihrer vollen gerichtlichen Kontrolle ist ein solcher Fall. Jedoch ist die Lage bei anderen Steuerabzugstatbeständen wie der Kapitalertragsteuer oder der Abzugssteuer nach § 50a EStG vergleichbar. Auch dies spricht für eine volle ge56 P. Kirchhof, NJW 1985, 2977 (2978). 57 Mit Betonung für das Steuerverfahren Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, 2004, S. 216.

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richtliche Kontrolle verbindlicher Auskünfte nach § 89 Abs. 2 AO: Als verfassungskonforme Auslegung würde dies den Gleichheitsverstoß vermeiden. Auch für die Umsatzsteuer ist das erwägenswert: Zwar ist der Unternehmer hier juristisch auch Steuerpflichtiger, wirtschaftlich jedoch nicht. Steuerträger soll der Verbraucher sein. Auch hier spricht der Gleichheitssatz für einen Anspruch auf Auskunftserteilung und volle gerichtliche Kontrolle wie bei der Lohnsteuer. Soweit die Ressourcen der Finanzverwaltung und der Gerichte dazu nicht genügen, müssen andere Differenzierungen gefunden werden. Ein weiterer Rechtfertigungsgrund sind grenzüberschreitende Bezüge. Sind mehrere Steuerrechtsordnungen beteiligt und damit mehrere Gerichtsbarkeiten, lassen sich Doppelbesteuerungen nicht sicher vermeiden, da es durchaus vorkommt, dass sich Höchstgerichte zweier Staaten bei der Auslegung der gleichen Abkommensnorm widersprechen. Hier bieten nur Verständigungs- und Schiedsverfahren Abhilfe, so dass grenzüberschreitende Fälle bevorzugten Zugang zu Streitbeilegungsressourcen erhalten können. Bei innerstaatlichen Fällen sei in Erinnerung gerufen, dass die Außenprüfung in der Praxis das Forum für (späte) Streitbeilegung ist. Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund die Einteilung in Größenklassen im Rahmen der Betriebsprüfungsordnung, die einerseits eine verfahrensmäßige Last verteilen, andererseits aber auch faktisch mitbestimmen, nach wie vielen Jahren der Steuerpflichtige in ernsthafte und endgültige Gespräche mit der Finanzverwaltung eintreten kann. Die Betriebsprüfung ist dahingehend ambivalent und hat auch Vorzüge. Unternehmen der größten Größenklasse, die regelmäßig auch anschlussgeprüft werden, können im Rahmen der zeitnahen Betriebsprüfung (§ 4a BPO) im Einzelfall sehr schnell nach Einreichung der Steuererklärung Sicherheit erhalten. Hier spielen auch Pilotprojekte im Rahmen der Digitalisierung eine Rolle, mit denen großen Unternehmen es der Finanzverwaltung erleichtern können, die Prüfung durchzuführen. Die Rechtfertigung dieser Größenklassen ist fraglich. Kann es um Aufkommensmaximierung und Prüfungseffizienz gehen, weil bei den großen Unternehmen mehr Aufkommen im Streit steht? Dies wird aus Aufkommenssicht zu Recht abgelehnt.58 Vorgebracht wird, dass größere Unternehmen durch ihre Komplexität fehleranfälliger seien und ein grö-

58 Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, 2004, S. 349.

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ßeres Risiko mit sich bringen.59 Diese Typisierung ist jedoch sehr holzschnittartig, Entspricht sie wirklich der Realität? Große Unternehmen können steuerlich recht einfache Geschäftsmodelle haben, kleine komplizierte. Die Steuerverwaltung kennt zudem feinsinnigere Formen des Risikomanagements, wie sie in § 88 Abs. 3 und 5 AO angedeutet sind, was den Bedarf nach so grober Typisierung unplausibel erscheinen lässt. Zudem dürften Steuerabteilung und Beratung typischerweise bei größeren Unternehmen leistungsfähiger sein. Aus der Lastperspektive ist der Aspekt der Verfahrensleistungsfähigkeit überzeugender: Größere Unternehmen können die Belastungen einer Prüfung oder gar Dauerprüfung einfacher schultern als kleine Unternehmen, deren Geschäftsführung zu stark absorbiert wäre.60 Denkt man aber wiederum von der Rechtssicherheitsperspektive her, ist mit einer zeitnäheren Außenprüfung ja auch ein Vorzug verbunden. Rechtfertigt die höhere Summe des Risikos eine bevorzugte Prüfung? Das gleiche Problem stellt sich bei der Vorabauskunft des § 98 Abs. 2 AO. Hier soll das „besondere Interesse“, welches in dieser Koppelungsvorschrift das Ermessen konsumiert, eine gewisse Filterfunktion einnehmen. Richtigerweise wird hier aber nicht allein auf die absoluten Risikosummen abgestellt, da dies zu einer Bevorzugung von Besserverdienenden und größeren Unternehmen führen würde. Das Risiko in dieser Perspektive aus Sicht des Steuerpflichtigen zu bemessen. Eine Risikosumme, die für ein großes Unternehmen „Peanuts“ ist, kann für einen Kleinunternehmer existenzbedrohend sein. Dies muss bei der Ermessensentscheidung über die Verteilung von Ressourcen zu zeitnahen Betriebsprüfungen berücksichtigt werden.

5. Garantie effektiven Rechtsschutzes a) Anspruch auf vorgerichtliche Streitvermeidung und -beilegung? Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG lautet „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“ Diese Rechtschutzgarantie kann auch aus den Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip, insbesondere dem allgemeinen Justizgewähranspruch, ab59 Müller-Franken, Maßvolles Verwalten, 2004, S. 350. 60 Drüen in Kube/Reimer, Größenneutralität im Recht der Unternehmensbesteuerung, IFSt Bd. 7, 2018, S. 123 (134 ff.); Ortwald, Steuererklärungspflicht und Verfahrensleistungsfähigkeit, 2021, S. 34, 213 ff.

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geleitet werden, ihre Bedeutung wird aber durch die ausdrückliche Regelung unterstrichen. Art. 19 Abs. 4 GG schützt nicht nur den Zugang zum Gericht, sondern zeitigt auch „Vorwirkungen“ auf das vorangehende behördliche Verwaltungsverfahren.61 Schmidt-Assmann spricht von einem institutionellen Rücksichtnahmegebot: Das Verwaltungsverfahren darf keine Barrieren errichten, die die spätere Zugänglichkeit des Rechtsweges unzumutbar erschweren.62 Zu den Verfahrensvorschriften, die den späteren Rechtsschutz effektivieren sollen, zählen die Aktenführung, Bekanntmachung sowie die Begründung durch die Behörde.63 Eine Pflicht zu Rechtsauskünften und Rechtsgesprächen lässt sich jedoch nicht aus Art. 19 Abs. 4 GG ableiten.64 Insofern kann auch im Steuerrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG kein Recht auf Streitvermeidung und Streitbeilegung gegenüber den Verwaltungsbehörden abgeleitet werden.

b) Überlange Verfahrensdauer: verbindliche Auskünfte (k)ein Sprungbrett zur gerichtlichen Kontrolle? Welche Folgerungen ergeben sich aus Art. 19 Abs. 4 GG, sofern eine verbindliche Auskunft im Sinne einer Negativauskunft erteilt wird und der Steuerpflichtige mit der Einschätzung der Finanzverwaltung nicht zufrieden ist? Wie oben erwähnt, hat er nach der Rechtsprechung des 9. Senats keinen Anspruch auf volle gerichtliche Inhaltskontrolle, sondern letztlich nur auf Plausibilität. Mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG verweist der BFH darauf, dass eine rechtswidrige verbindliche Auskunft nach § 2 SteuerauskunftsVO keine Bindungswirkung zu Lasten des Steuerpflichtigen habe und daher der Steuerpflichtige hinreichenden effektiven Rechtschutz durch die Anfechtung des Steuerbescheids habe, bei dem die Richtigkeit der Auskunft inzident mitgeprüft wird.65 Zwar ist es zutreffend, dass eine verbindliche Auskunft späteren Rechtschutz gegen den Steuerbescheid nicht ausschließt. Rechtschutz könnte dennoch bereits jetzt gewährt 61 Reimer in Kahl/Ludwigs, Handbuch des Verwaltungsrechts, Band 1, 2021, § 10 Rz. 53. 62 Schmidt-Aßmann in Dürig/Herzog/Scholz, Art. 19 Abs. 4 GG Rz. 26. 63 Reimer in Kahl/Ludwigs, Handbuch des Verwaltungsrechts, Band 1, 2021, § 10 Rz. 53; Schmidt-Aßmann in Dürig/Herzog/Scholz, Art. 19 Abs. 4 GG Rz. 249 ff. 64 Schmidt-Aßmann in Dürig/Herzog/Scholz, Art. 19 Abs. 4 GG Rz. 257. 65 BFH v. 29.2.2012 – IX R 11/11, BStBl. II 2012, 651 Rz. 17 f.

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werden, damit dem Steuerpflichtigen nicht nur das Prozessrisiko klar wird, sondern er das Prozessrisiko vorab minimieren kann. Hier nur pauschal auf den Rechtschutz gegen den Steuerbescheid zu verweisen, erscheint angesichts des eingangs geschilderten Problembefundes späterer Rechtssicherheit zweifelhaft. Zwar schützt Art. 19 Abs. 4 GG im Ausgangspunkt nur gegen überlange gerichtliche Verfahrensdauern.66 Das bereits erwähnte institutionelle Rücksichtnahmegebot spricht aber dafür, auch das vorgelagerte Verfahren zu betrachten, da es im Ergebnis keinen Unterschied macht, ob die Verzögerung bei der für den Zugang zum Gericht notwendigen Entscheidung entsteht, oder beim Gericht selbst. Auch eine völkerrechtskonforme Auslegung spricht für eine solche Gesamtbetrachtung, da auch der EGMR bei der Kontrolle der angemessenen Verfahrensdauer im Rahmen des Art. 6 EMRK zumindest teilweise Verwaltungsverfahren einbezieht67 – hier ist die Rechtsprechung jedoch uneinheitlich und insoweit uneindeutig. Was können wir darauf folgern? Solange kein zeitnaher effektiver Rechtsschutz durch Anfechtung eines endgültigen Steuerbescheids zu erreichen ist, spricht Art. 19 Abs. 4 GG dafür, den gerichtlichen Kontrollmaßstab bei Negativauskünften entgegen der Rechtsprechung des BFH auf eine volle Inhaltskontrolle zu erstrecken. Dies ermöglicht eine schnelle Klärung für den Steuerpflichtigen, aber auch eine kooperative Klärung, bei dem Steuerverwaltung und Steuerpflichtige im Zusammenwirken eine Angelegenheit schnell einer Klärung durch den unabhängigen Dritten, den Richter zuführen können.

c) Aushöhlung richterlicher Kontrolle? aa) Antagonismus oder Komplementarität einvernehmlicher und gerichtlicher Streitbeilegung? Art. 19 Abs. 4 GG gewährt ein Recht auf gerichtlichen Rechtschutz, ohne eine negative Aussage zur einvernehmlichen Streitvermeidung oder Streitbeilegung zu treffen. Wo kein Kläger, da kein Richter. Selbst im ge66 BVerfG v. 16.12.1980 – 2 BvR 419/80, BVerfGE 55, 349 (369); BVerfG v. 20.4.1982 – 2 BvL 26/81, BVerfGE 60, 253 (269), BVerfG v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91, BVerfGE 93, 1 (13). 67 EGMR v. 9.3.2004 – 63156/00, ECLI:CE:ECHR:2004:0309JUD006315600 Rz. 27; Überblick und weitere Nachweise bei Meyer-Ladewig/Harrendorf/König in Mayer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, 4. Aufl. 2017, Art. 6 EMRK Rz. 194.

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richtlichen Verfahren soll der Richter auf eine einvernehmliche Lösung im Rahmen des Ermittlungs- und Konkretisierungsspielraums, einen Vergleich, hinwirken.68 Bezeichnend ist, dass es in der FGO im Gegensatz zu VwGO und SGG keine ausdrückliche Vorschrift dazu gibt, was die Praxis aber nicht hindert, beispielsweise über übereinstimmende Erledigungserklärungen eine einvernehmliche Beendigung herbeizuführen. Wie oben gezeigt, haben im Rahmen des methodischen Spielraums einvernehmliche wie richterliche Lösungen die gleiche methodische Dignität. Problematisch wird es, wenn die Finanzbehörde den Steuerpflichtigen im Verwaltungsverfahren faktisch in eine einvernehmliche Streitbeilegung zwingt: Auch insoweit gilt der freiheitsrechtliche Schutz vor Zwangskooperation, der hier durch Art. 19 Abs. 4 GG verstärkt wird.

bb) Besondere Anforderungen an öffentlich-rechtliche Verträge? Die Rechtsprechung leitet aus dem Recht auf effektiven Rechtschutz verfahrensmäßige Anforderungen an tatsächliche Verständigungen ab, die in der Praxis als unpraktisch empfunden werden und die Kapazität der Finanzverwaltung reduzieren. Die Rede ist von der Rechtsprechung des BFH, dass eine tatsächliche Verständigung nur unter Anwesenheit eines zuständigen Beamten des Festsetzungsfinanzamts, regelmäßig des dort zuständigen Sachgebietsleiters, erfolgen muss. Dessen Anwesenheit ist wird vom BFH als unverzichtbar angesehen, Vertretung oder nachträgliche Genehmigung seien ausgeschlossen.69 Der höchstpersönlichen Anwesenheit des Sachgebietsleiters des Festsetzungsfinanzamts soll nach Auffassung des BFH eine Warnfunktion zukommen, weil gegen die Steuerbescheide, welche die tatsächliche Verständigung umsetzen, kein effektiver Rechtschutz mehr möglich sei. Der Abschluss einer tatsächlichen Verständigung würde das Recht auf effektiven Rechtschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG erheblich beschränken, so dass eine solche Sicherung von Verfassung wegen geboten sei.70 Das BMF antwortete darauf mit Schreiben vom 15.4.2019, nachdem bei ausnahmsweisem Fehlen des für die Entscheidung zuständigen Amtsträgers die tatsächliche Verständigung schwebend unwirksam sei bis zu dessen nachträglicher Zustimmung. In der Schwebezeit habe der Steuer-

68 § 106 VwGO, § 101 Abs. 1 SGG. 69 BFH v. 27.6.2018 – X R 17/17 Rz. 24. 70 BFH v. 27.6.2018 – X R 17/17 Rz. 24.

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pflichtige ein Widerrufsrecht.71 Ob dies der Rechtsprechung genügt, ist fraglich, sieht sie doch in der Anwesenheit eine Warnfunktion für den Steuerpflichtigen: Achtung, was jetzt besprochen wird, bindet in der Festsetzung! Das Bedürfnis nach einer solchen Warnfunktion ist jedoch zweifelhaft. Der Steuerpflichtige begibt sich mit Abschluss einer tatsächlichen Verständigung nicht jeder materiellen Kontrolle. Zwar bildet die tatsächliche Verständigung Grundlage des folgenden Steuerbescheids, sie unterliegt aber einer durchaus umfänglichen Inhaltskontrolle. Die Rechtskonkretisierung durch den öffentlich-rechtlichen Vertrag, welche die tatsächliche Verständigung darstellt, muss sich im Rahmen der übergeordneten Vorgaben von Verfassung und Gesetzen halten – entsprechend ist eine tatsächliche Verständigung unter der bei öffentlich-rechtlichen Verträgen üblichen analogen Anwendung des § 134 BGB nichtig, wenn sie gesetzes- oder verfassungswidrig ist. Warum dies bei der tatsächlichen Verständigung anders sein soll, ist unklar. Zudem findet insbesondere mit Blick auf die Sachverhaltswürdigung eine Evidenzkontrolle statt, ob die tatsächliche Verständigung zu einer offensichtlich unzutreffenden Besteuerung führt. Schließlich gilt das schon mehrfach erwähnte bekannte Koppelungsverbot als Schutz gegen sachfremde Handel oder Zwangskooperation. Ein mögliches „Rechtschutzdefizit“ lässt sich somit nur für rechtliche Konkretisierungspielräume sowie Sachverhaltswürdigungsspielräume unterhalb der Evidenzkontrolle, denen der Steuerpflichtige zuvor zugestimmt hat, konstatieren. Wie eingangs bei den theoretischen Grundlagen ausgeführt, hat eine einvernehmliche Konkretisierung im gesetzlichen Rahmen keine methodisch mindere Qualität als eine hoheitliche Entscheidung durch Behörde oder den Richter. Der Verlust an persönlicher „Detailkontrolle“ durch den Richter innerhalb der Konkretisierungsspielräume stellt überzeugenderweise kein Problem mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG dar. In der Sache ist zudem fraglich, wieso nur der höchstpersönlichen Anwesenheit des in der Regel nicht mit den Details befassten Festsetzungsbeamten eine Warnfunktion zukommen soll. Die Vorlage einer Vollmacht würde den Steuerpflichtigen in diesem Sinne ebenfalls warnen.

71 BMF v. 15.4.2019 – IV A 3 - S 0223/07/10002.

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IV. Unionsrechtlicher Rahmen 1. Primärrecht a) Effet utile Die unionsrechtlichen Gewährleistungen haben einen wachsenden Anwendungsbereich. Zu nennen sind insbesondere deutsche Gesetze, die unionsrechtliche Vorgaben umsetzen. Neben den indirekten Steuern ist dies zunehmend auch im Bereich der direkten Steuern der Fall, insbesondere wenn man die Auswirkungen der ATAD auf die Körperschaftsbesteuerung betrachtet. Auf unionsrechtlicher Ebene wird die Gesetzmäßigkeit durch das Effizienzprinzip, den „effet utile“ verstärkt. Unionsrecht wird regelmäßig indirekt durch die nationalen Behörden nach nationalem Verfahrensrecht vollzogen (Art. 291 Abs. 1 AEUV; sog. Verfahrensautonomie).72 Um dennoch die Einheitlichkeit des Unionsrechts sicherzustellen, hat der EuGH dem nationalen Verfahrensrecht vorgegeben, unional determinierte Fälle in einem zu nationalen Fällen äquivalenten und zudem effektiven Verfahren zu vollziehen.73 Für die einvernehmliche Streitvermeidung und Streitbeilegung erhöht dies die potentielle Kontrolldichte bei der Konformität mit den unionsrechtlichen Vorgaben. Neben den Gerichten kann auch die Kommission im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen einen Staat vorgehen, dessen Verwaltungsbehörden den unionsrechtlichen Konkretisierungsspielraum durch Streitvermeidung und Streitbeilegung überschreiten. Der Mitgliedstaat kann einen unionsrechtswidrigen Vollzug nicht damit rechtfertigen, dass er damit Streit vermeiden oder beilegen wollte. Auch wenn sich Kontrolldichte und Kontrolldruck damit erhöhen, besteht mit Blick auf die einvernehmliche Streitvermeidung und Streitbeilegung kein kategorialer Unterschied. Einvernehmliche Entscheidungen können genauso unionsrechtskonform oder -widrig sein wie einvernehmliche Entscheidungen. Die Gesetzmäßigkeit muss hier wie dort auch mit Blick auf die unionsrechtlichen Vorgaben bestimmt werden. Das Hinzukommen von Europäischer Kommission und EuGH als zusätzlichen Akteuren unterstreicht jedoch die obige Forderung, auch bei verbindli72 Kahl in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV Rz. 127. 73 Kahl in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 4 EUV Rz. 128; Obwexer in von der Groeben/Schwarze, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 4 Rz. 104 f.

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chen Auskünften eine volle gerichtliche Inhaltskontrolle zu gewähren. Auf diesem Wege können über eine Vorlage an den EuGH unionsrechtliche Problempunkte relativ zeitnah geregelt und damit das spätere Risiko eines Vertragsverletzungsverfahrens vermieden werden.

b) Parallelen zum nationalen Verfassungsrecht Das Unionsrecht hat im Rahmen der Grundrechtecharta parallele verfassungsrechtliche Garantien zu rechtlichem Gehör, Art. 41 Abs. 2 Buchst. a GrCh, schützt ebenfalls die Freiheitsrechte, so die Unternehmerfreiheit in Art. 16 GrCh, und enthält eine Garantie effektiven Rechtschutzes in Art. 47 GrCh. Hier ergibt sich ein besonderer unionsrechtlicher Akzent aus der EuGH-Entscheidung Achmea, mit der Schiedsverfahren auf Basis bilateraler Investitionsabkommen zwischen Mitgliedstaaten als mit dem Unionsrecht unvereinbar eingestuft wurden, da die Entscheidung keiner inhaltlichen Kontrolle durch ein Gericht der Union mehr unterlag, insbesondere keine nationalen Gerichte in diesem Wege mehr eine Vorabentscheidung einholen konnten.74 Der Gerichtshof betonte zudem, dass eine nur eingeschränkte Kontrolle wie bei zivilrechtlichen Schiedsverfahren im öffentlichen Recht nicht genüge75 und dass es für ein Verstoß genügt, wenn bei der Anwendung völkerrechtlicher oder nationaler Normen Unionsrecht tatbestandlich in Bezug genommen wird.76 Der EuGH verteidigt in der Rechtssache Achmea letztlich seine Alleinentscheidungskompetenz über das Unionsrecht, die auch nicht indirekt durch Schadenersatzpflichten auf Basis eines Investitionsschutzabkommens gefährdet werden soll. Entscheidend sind die fehlende Einholung einer Vorabentscheidung und die fehlende Bindung an diese. Auf die Streitvermeidung und Streitbeilegung in rein innerstaatlichen Fällen ist diese Argumentation von vornherein nicht anwendbar, da hier wie oben dargelegt immer eine hinreichende gerichtliche Restkontrolle verbleibt. Problematisch sind auf dem ersten Blick hingegen Verständigungs- wie Schiedsverfahren nach den Doppelbesteuerungsabkommen, da für die Umsetzung einer Verständigung ein Rechtsmittelverzicht des Bürgers notwendig ist. Jedoch hat der Steuerpflichtige ein Wahlrecht, ob er den Schiedsspruch akzeptiert und auf Rechtsmittel verzichtet oder den ggf. ruhend gestellten Rechtsweg weiterverfolgt. Zudem handelt es sich bei 74 EuGH v. 6.3.2018 – C-284/16, ECLI:EU:C:2018:158 Rz. 43 ff. 75 EuGH v. 6.3.2018 – C-284/16, ECLI:EU:C:2018:158 Rz. 54 f. 76 EuGH v. 6.3.2018 – C-284/16, ECLI:EU:C:2018:158 Rz. 40.

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den Doppelbesteuerungsabkommen nicht um ein konkurrierendes Parallelsystem zum Unionsrecht, sondern eine vom EuGH grundsätzlich akzeptierte Aufteilung der Besteuerungshoheiten, welche das Unionsrecht außerhalb entsprechend erlassener Richtlinien nicht leisten kann. Für das Verständnis ist zudem die in der Rechtssache Achmea zitierte Rechtssache Ascendi aufschlussreich.77 Dort ging es um ein Schiedsgericht nach portugiesischem Recht, das Tribunal Arbitral Tributário. Dieses beruhte auf gesetzlicher Grundlage, war in das Gerichtssystem eingebettet, konnte vom Steuerpflichtigen einseitig angerufen werden, entschied auf Grundlage des Rechts mit vollem Prüfungsumfang, legte dem EuGH vor und seine Entscheidungen waren verbindlich. Dies unterstreicht, dass der EuGH kein Problem mit Schiedsverfahren als solchen hat, sofern sie in das Gerichtssystem eingebunden sind, einer Kontrolle unterliegen und das Auslegungsmonopol des EuGHs durch eine eventuelle Vorlage achten.

c) Recht auf gute Verwaltung (Art. 41 GrCh) Bemerkenswert ist zudem das Recht auf gute Verwaltung, das in Art. 41 GrCh normiert ist. Es enthält zum einen in seinem Abs. 2 die auch grundgesetzlich geschützten Rechte auf Anhörung, Akteneinsicht und Begründung von Verwaltungsentscheidungen. Daneben tritt in in Abs. 1 das Recht, dass die Angelegenheiten des Bürgers „unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist“ behandelt werden. Verpflichtete sind nach Art. 41 GrCh allerdings in Abkehr von 51 GrCh nur Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union, womit eine Anwendung auf die nationalen Steuerverwaltungen grundsätzlich ausgeschlossen ist. Allerdings gibt es auch Ansätze des EuGH, dem Recht auf „gute Verwaltung“ den Status eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes zu geben und somit auch mitgliedstaatliche Verwaltungen dran zu messen.78 Das kann man einerseits als grundrechtsfreundlich ansehen, andererseits als kompetenziell übergriffig.79

77 EuGH v. 12.6.2014 – C-377/13, ECLI:EU:C:2014:1754 Rz. 22 ff. 78 Calliess/Ruffert, Art. 41 GrCh Rz. 9; EuGH v. 8.5.2014 – C-604/12, ECLI:EU: C:2014:302 Rz. 49 ff. (N.); Bogojevic/Groussot/Medzmariashvili, CMLRev. 52 (2015), 1635; EuGH v. 8.5.2019 – C-230/18, ECLI:EU:C:2019:383 Rz. 57. 79 Hofmann/Mihaescu, European Constitutional Law Review 9 (2013), 73 (96 ff.); kritisch Laubinger in FS Bull, 2011, S. 659 (660 f.).

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Ein Recht auf einvernehmliche Streitvermeidung und Streitbeilegung findet sich in der Rechtsprechung nicht. Allerdings könnte man mit Bezug auf die deutsche Praxis der stark nachgelagerten Kontrolle an der angemessenen Verfahrensdauer zweifeln. Hier stellt sich die Frage, wie „Entscheidung“ zu definieren ist: Genügen vorläufige Entscheidungen, die nur auf Plausibilität kontrolliert wurden, oder müssen es endgültige Entscheidungen sein? Wie viele Jahre sind noch angemessen? Kurz: hier ist vieles offen, wenn der EuGH möchte, könnte er im Bereich des harmonisierten Rechts oder der Betroffenheit von Grundrechten hier aktiv werden.

d) Grundfreiheiten Neben den Grundrechten schützen die Grundfreiheiten die grenzüberschreitende Tätigkeit gegen Diskriminierungen und Beschränkungen. Verfahrensrechtliche Benachteiligungen grenzüberschreitend tätig werdender Steuerpflichtiger sind entsprechend rechtfertigungsbedürftig. Entsprechend sind diesen gleichen Zugang zu Möglichkeiten außergerichtlicher Streitbeilegung zu gewähren.

e) Beihilferecht Einvernehmliche Streitvermeidung und Streitbeilegung steht schließlich auch in einem gewissen beihilferechtlichen Verdacht. Bei dem Beihilfeverbot des Art. 107 AEUV handelt es sich um eine Gleichheitskontrolle. Erhält der Steuerpflichtige einen Vorteil durch den Staat, so darf dieser nicht selektiv sein. Selektivität bedeutet, dass bestimmte Unternehmen oder Branchen in Abweichung von den allgemeinen Regeln bevorzugt werden. Vorteil und Selektivität fallen nach der Rechtsprechung zusammen, soweit bereits der Vorteil als Abweichung von der Normalbesteuerung definiert wird.80 In den Fokus geriet die Praxis einiger Staaten, mit Steuerpflichtigen für diese vorteilhafte Vorausverständigungen über Verrechnungspreise oder Zusagen über Steuergestaltungen zu treffen. Die Kommission vertrat die Auffassung, dass darin ein selektiver Vorteil liege. Herangezogen wurden Abweichungen vom nationalen Steuersystem oder auch Verrechnungspreisstandards. Ein Teilaspekt war auch, dass die Kommission die Auffassung vertrat, dass allein die Individualität der Maßnahme für die

80 EuG v. 15.7.2020 – T-778/16, T-892/16, ECLI:EU:T:2020:338 Rz. 144 ff.

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Selektivität des Vorteils spreche.81 Sind Vorabzusagen und Vorabverständigungen damit in einen beihilferechtlichen Generalverdacht gerückt und durch das Damoklesschwert unbedingter europarechtlicher Rücknahmeverpflichtungen der Staaten ohne Vertrauensschutzmöglichkeit entwertet? Die europäische Rechtsprechung ist diesen Weg erfreulicherweise nicht gegangen. Das Europäische Gericht hat die Beschlüsse für nichtig erklärt, weil die Kommission die Selektivität nicht hinreichend nachweisen konnte. In den Entscheidungen findet sich dabei der ausdrückliche Hinweis, dass zwar einerseits der der Verrechnungspreiskontrolle innewohnende Spielraum nicht dazu führen könne, dass sie der Beihilfenkontrolle entzogen sei. Andererseits wird zutreffend erkannt, dass es einen breiten Konkretisierungsspielraum gibt. So kann die Kommission nach Formulierung des Europäischen Gerichts nur prüfen, „ob ein von einem Mitgliedstaat gebilligter Verrechnungspreis einer verlässlichen Annäherung an ein marktbasiertes Ergebnis entspricht und ob die eventuell im Rahmen dieser Prüfung festgestellte Abweichung nicht über Ungenauigkeiten hinausgeht, die der für die Erlangung dieser Annäherung verwendeten Methode innewohnen.“82 Bemerkenswert ist die Formulierung „ein marktbasiertes Ergebnis“, die reflektiert, dass es den „einen“ Marktwert nicht gibt, und die Akzeptanz innewohnender Ungenauigkeiten.“ Diese Rechtsprechung findet eine angemessene Balance zwischen Beihilfekontrolle und Kompetenzwahrung wie Rechtssicherheit für den Bürger. Erfreulich ist das methodische Bewusstsein, dass gerade bei der Verrechnungspreiskontrolle ein Konkretisierungsspielraum besteht. Wenn die nationalen Behörden bei ihren Zusagen in diesem Spielraum bleiben und den Spielraum konsistent ausfüllen, liegt kein selektiver Vorteil vor. Eine generelle Verschärfung des Kontrollmaßstabs für einvernehmliche Streitvermeidung und -beilegung hat sich in der Rechtsprechung bisher nicht durchsetzen können und es ist zu hoffen, dass sich die Rechtsprechung dieses methodische Verständnis bewahrt.

81 EuG v. 16.9.2019 – T-760/15, T-636/16, ECLI:EU:T:2019:669 Rz. 24. 82 EuG v. 16.9.2019 – T-760/15, T-636/16, ECLI:EU:T:2019:669 Rz. 196, 199.

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2. Sekundärrecht a) Dienstleistungsrichtlinie (RL 2006/123/EG) Kurz sei ein Seitenblick auf die Dienstleistungsrichtlinie 2006/123/EG gestattet. Diese ist auf den Bereich der Steuern nicht anwendbar,83 mag aber als Inspiration dienen. Die Dienstleistungsrichtlinie soll die Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen erleichtern. Art. 7 Abs. 2 RL 2006/123/EG sieht eine Informationspflicht der Behörden vor, dass diese auf Anfrage Unterstützung, in Form von Informationen über die gewöhnliche Auslegung und Anwendung des maßgeblichen Regulierungsrechts erteilen müssen. Allerdings wird in Art. 7 Abs. 6 RL 2006/123/EG ergänzt, dass keine Rechtsberatung in Einzelfällen geleistet werden muss. Diese Regelung fand ihren Weg in eine spezielle Verfahrensnorm des § 71c VwVfG, wurde nun aber zwischenzeitlich auch überobligatorisch in das allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes aufgenommen. § 25 Abs. 2 VwVfG (dies stellt die Parallelnorm zu § 91 AO dar) regelt, dass die Behörde mit gegenwärtigen oder zukünftigen Antragstellern erörtert, welche Nachweise und Unterlagen von ihnen zu erbringen sind und in welcher Weise das Verfahren beschleunigt werden kann. Soweit es der Verfahrensbeschleunigung dient, soll die Behörde dem Antragsteller nach Eingang des Antrags unverzüglich Auskunft über die voraussichtliche Verfahrensdauer und die Vollständigkeit der Antragsunterlagen geben. Bemerkenswert ist, dass hier die Beschränkung auf allgemeine Auskünfte weggefallen ist und über das unionsrechtlich vorgeschriebene Maß hinaus letztendlich eine beschränkte Rechtsberatung im Einzelfall durch die Behörde vorgenommen wird. Die Verfahrensbeschleunigung soll durch Streitvermeidung erreicht werden.

b) Informationsaustausch Die Richtlinie über den grenzüberschreitenden Informationsaustausch sieht einen Austausch von Vorabverständigungen zwischen den Mitgliedstaaten vor. Dadurch sollen Informationsasymmetrien verhindert werden, die über abweichende Verrechnungspreiskontrollen oder Qualifikationskonflikten zu Nicht- oder Minderbesteuerungen führen. Auch hierin kann ein Instrument der Streitvermeidung gesehen werden. 83 RL 2006/123/EG, Vorbemerkung Rz. 29; dazu auch EuGH v. 27.4.2022 – C674/20, ECLI:EU:C:2022:303.

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c) Streitbeilegungsrichtlinie Weitere europarechtliche Ausformung wie Adelung hat die einvernehmliche Streitbeilegung durch die Streitbeilegungsrichtlinie gefunden, die hier aber nur kurz angesprochen werden soll und im Übrigen dem nachfolgenden Vortrag vorbehalten ist. Art. 3 der RL erlaubt es dem Steuerpflichtigen, bei der Behörde eine Beschwerde zu einer Streitfrage einzureichen und um Lösung zu ersuchen. In einem durch Fristen straff gehaltenen Verfahren muss die Behörde bei zulässigen Beschwerden entweder die Streitigkeit selbst lösen, dies durch Verständigung mit der ausländischen Behörde erreichen oder sich einem Schiedsverfahren unterwerfen, das gleichsam das fehlende internationale Steuergericht ersetzt. Differenzierte Konkurrenzregeln vermeiden Konflikte mit rechtskräftigen Gerichtsurteilen, sofern diese nach nationalem Recht nicht mehr korrigierbar sind.

V. Fazit Es gibt im Ausgangspunkt kein verfassungsrechtliches Recht auf besondere streitvermeidende und streitbeilegende Rechtsgespräche mit der Verwaltung mit Ausnahme der Fälle, bei denen der Bürger für den Staat in Dienst genommen wird, fremde Steuern einzubehalten. Der vor allem schriftliche Dialog aus Steuererklärung, Anhörung oder Außenprüfungsbesprechung, Steuerbescheid und Einspruch genügt den Minimalanforderungen. Nach hier vertretener Auffassung ergibt sich jedoch – ohne dass es hinreichende Vorrechtsprechung gibt – aus dem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG, der unionsrechtlichen Parallelnorm Art. 47 GrCh, dem Recht auf gute Verwaltung Art. 41 GrCh sowie der Verfahrensdimension der Grundrechte ein Anspruch auf einen zeitnahen rechtssicheren Bescheid als Grundlage für effektiven Rechtschutz. Entgegen der Rechtsprechung des BFH sollten für diesen Zweck verbindliche Auskünfte einer vollen gerichtlichen Inhaltskontrolle unterliegen. Streitvermeidung und Effektuierung gerichtlichen Rechtsschutzes gehen hier komplementär. Die rechtlich und von der Kapazität der Verwaltung bestehenden Möglichkeiten der Streitvermeidung und Streitbeilegung sind gleichheitsgerecht zu nutzen. Neben den Fällen der Indienstnahme für den Steuerabzug Dritter können auch grenzüberschreitende Sachverhalte bevorzugt werden, da der nationale gerichtliche Rechtschutz bei Doppelbesteue-

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rung an Funktionsgrenzen gerät. Die zeitnahe Außenprüfung als Forum für einvernehmliche Streitbeilegung muss allen Steuerpflichtigen gleichheitsgerecht zur Verfügung stehen. Die Einordnung nach Größenklassen nach § 4 BpO und ihre Auswirkungen auf die Möglichkeit einer zeitnahen Betriebsprüfung in der Praxis ist in dieser Hinsicht eine zu grobe Typisierung. Das Risiko darf dahingehend nicht nur aus Fiskusperspektive, sondern muss auch relativ aus Steuerpflichtigenperspektive bestimmt werden. Der Ambivalenz der zeitnahen Betriebsprüfung aus Zusatzbelastung und Rechtssicherheitsvorteil kann mit Antragsrechten begegnet werden. Einvernehmliche Streitvermeidung und Streitbeilegung begegnet auch keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken, sei es aus dem Gesetzmäßigkeitsprinzip oder dem Gleichheitssatz, soweit sie sich wie jeder Einzelakt im von den gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Rahmen gezogenen Konkretisierungsspielraum hält und bei vergleichbaren Fällen gleichheitsgerecht ausgeübt wird. Ein Vertragsformverbot lässt sich nicht begründen, bei der von der Rechtsprechung anerkannten „tatsächlichen Verständigung“ handelt es sich um einen öffentlichrechtlichen Vergleichsvertrag. Die Beschränkung auf Tatsachenfragen unter Ausschluss von Rechtsfragen hat sich in der Praxis wegen der häufig unmöglichen Trennbarkeit nicht durchhalten lassen und ist weder methodisch überzeugend noch verfassungsrechtlich vorgegeben. Die Vorgabe der Rechtsprechung, dass beim Abschluss des öffentlich-rechtlichen Vertrages die höchstpersönliche Anwesenheit bestimmter Festsetzungsbeamter notwendig ist, findet keine überzeugende verfassungsrechtliche Fundierung in Art. 19 Abs. 4 GG. Es bestehen auch bei öffentlich-rechtlichen Verträgen keine korrekturbedürftigen Rechtsschutzdefizite, insbesondere da die Legalitätsbindung über die analoge Anwendung des § 134 BGB sichergestellt ist. Zusammengefasst: Der verfassungsrechtliche und unionsrechtliche Rahmen für einvernehmliche Streitvermeidung und Streitbeilegung ist weit, vor dieser sollte keine falsche Scheu bestehen.

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Diskussion zu den Referaten von Prof. Dr. Roman Seer und Prof. Dr. Matthias Valta Prof. Dr. Gregor Kirchhof, LL.M., Augsburg Ganz herzlichen Dank für diese so anregenden wie genauen Analysen der Streitfelder im Steuerrecht und des rechtlichen Rahmens der Streitvermeidung und Streitbeilegung. Lieber Herr Seer, lieber Herr Valta, Sie haben die Themenfelder unserer beiden Tage und der nun folgenden Diskussion eindrucksvoll erschlossen und weitergeführt. Wir werden vielleicht gleich auch darüber sprechen, ob es eine Art Untermaß für den Dialog gibt, den die Finanzverwaltung den Steuerpflichtigen anbieten muss, und wann ein Unterlassen dieses Austausches das Maß des Grundgesetzes verlässt. Doch ist dies nur ein erster Gedanke für unsere Diskussion. Prof. Dr. Johanna Hey, Köln Mein ganz herzlicher Dank für zwei sehr inspirierende Auftaktvorträge, die den gesamten Rahmen bereits abgesteckt haben. Ich würde gerne, Roman, bei Deiner Verbindung zwischen materiellem Steuerrecht und Streitvermeidung beginnen. Du hast vollkommen Recht: Bewertungsfragen, wenn es keinen Marktpreis gibt, sind immer mit erheblicher Unsicherheit verbunden, zumal wenn es um Prognosen geht. Du hast das Thema Rückstellungen angesprochen. Das ist ein besonders gutes Beispiel für den Zusammenhang zwischen materiellem Recht und Streitvermeidung oder auch Streitverursachung. Angesichts eines nur eingeschränkten Verlustrücktrags wächst die Bedeutung der Rückstellung und damit der Streit um deren richtige Bewertung, Ähnlich gelagert sind Entstrickungstatbestände, von denen es immer mehr gibt. Wenn nicht mehr abgewartet wird, bis ein Realisationsvorgang stattgefunden hat, ist auch das streitprovozierend. Du hast aber auch gesagt: Es gibt Streitigkeiten, die lassen sich nicht vermeiden. Das betrifft vor allem kausalrechtliche Wertungen, z.B. Fragen der Veranlassung bei der Abgrenzung zwischen erwerbswirtschaftlichen und privaten Vorgängen. Der Gesetzgeber versucht trotzdem auch hier zu vereinfachen, und zwar durch Typisierungen, z.B. durch spezielle Antiumgehungsvorschriften zur Typisierung von Missbrauch. Und dann stellt sich die Frage, ob die Typisierungen widerlegbar sein sollen, vielleicht sogar sein müssen? Sobald die Typisierung widerlegbar ist, entsteht wieder neues Streitpotential, aber

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ich meine, dies sei doch in vielen Fällen notwendig. Je gröber typisiert wird, desto eher muss der Steuerpflichtige die Möglichkeit erhalten, die Vermutung zu widerlegen: Trotzdem wirkt auch die widerlegbare Typisierung vereinfachend und streitvermeidend. Denn der Steuerpflichtige kann das Ergebnis der Typisierung auch einfach hinnehmen, vielleicht, weil er Zeit und Kosten scheut. Ein zweiter Punkt, ganz kurz: Du hast gesagt, bei Rechtsfragen, da gibt es nur a) oder b). Und da bedarf es dann sozusagen des guten Rechtsstreits, der klärt, ob a) oder b) das richtige Auslegungsergebnis ist. Leider hat der Gesetzgeber aber häufig auch noch c) im Kopf, d.h. also, der BFH hat gesagt: Es ist entweder a) oder b). Der Gesetzgeber macht hinterher oft ein Anwendungsgesetz oder auch Nichtanwendungsgesetz, aber eben nicht exakt zugunsten von a) oder b), sondern irgendwo dazwischen. Dann gibt es wieder neuen Streit. Und in diesem Kontext stellt sich die Frage nach dem Letztentscheidungsrecht. Beansprucht dieses der Gesetzgeber und missachtet er dabei die vom BFH entwickelte Dogmatik, wird der Streit möglicherweise vor dem BVerfG fortgesetzt. Jedenfalls kommt er nicht zur Ruhe. Das ist ein Streitquell, den man als Gesetzgeber durchaus vermeiden könnte. Prof. Dr. Nikolaus Zorn, Wien Das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über die Beilegung von Besteuerungsstreitigkeiten und auch manche Doppelbesteuerungsabkommen sehen vor, dass nach der Entscheidung des FG und selbst nach der Entscheidung des BFH die Verwaltungsbehörden unter besonderen Umständen in derselben Sache eine gegenteilige Entscheidung herbeiführen können. Es stellt sich daher die Frage, ob solche Regelungen mit Art. 19 Abs. 4 GG, der gerichtlichen Rechtsschutz in allen Verwaltungsagenden garantiert, vereinbar sind. Art. 19 Abs. 4 GG normiert ja, dass die Exekutive durch die Gerichtsbarkeit kontrolliert wird, und zwar durch die Gerichte i.S.d. Art. 92 GG, insbesondere die Verwaltungsgerichte und das darüber liegende Höchstgericht. Nehmen wir an, in einem konkreten Fall gab es zunächst die Entscheidung des FG, die Sache wurde dann an den BFH herangetragen, der BFH hat in diesem konkreten Fall ein Urteil erlassen. Ist es dann tatsächlich verfassungsrechtlich zulässig, dass nachträglich die Verwaltungsbehörde in Zusammenwirken mit einer ausländischen Verwaltungsbehörde eine gegenteilige Entscheidung herbeiführt, mit der das Gerichtsurteil des BFH beseitigt wird? Im Ergebnis kommt dann der Exekutive eine Kontrolle der Gerichtsbarkeit zu. Eine solche Konstellation gibt es aber der-

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zeit aufgrund einiger Doppelbesteuerungsabkommen und ebenso aufgrund der deutschen Umsetzung der EU-Besteuerungsstreitbeilegungsrichtlinie: Die Verwaltungen kann – zumeist in Abstimmung mit der Steuerverwaltung eines anderen Landes – das Letzturteil des nach Art. 95 Abs. 1 GG zuständigen inländischen obersten Gerichts beseitigen. Prof. Dr. Heribert M. Anzinger, Ulm Beide Vorträge haben das Streitfeld der Streitvermeidung und der Streitbeilegung in hervorragender Weise abgesteckt. Und in beiden Vorträgen sind Rechtsunsicherheiten nicht nur in ihrer Bedeutung als Streitanlass, sondern auch als Vorhersehbarkeitsunsicherheit bezogen auf den Streitausgang herausgearbeitet worden. Nun zählen Streitunschärfen zum Wesen des Rechts und lassen sich nicht eliminieren, weil die Rechtswissenschaft in ihren Methoden eine Wertungswissenchaft bleibt. Sie führen aber zu meiner Frage, wie mit den für die Steuerpflichtigen und für die Rechtsschutzsuchenden unbeherrschbaren Streitrisiken umzugehen ist und in wessen Sphäre sie sich verwirklichen sollten. Wenn es zwei vertretbare Rechtsauffassungen gibt, a) und b), muss das Gericht am Ende doch entscheiden. Die Frage ist: Ist der Rechtsschutzsuchende dann dem Zufall auszuliefern, wenn beide Rechtsauffassungen im Zeitpunkt der erstmaligen Rechtsanwendung durch den Steuerpflichtigung auch nach methodengerechter und sorgfaltspflichtgemäßer Auseinandersetzung mit den gesetzlichen Grundlagen, der Verwaltungspraxis, der Rechtsprechung und dem Schrifttum vertretbar waren, oder ist dem Steuerpflichtigen und Rechtsschutzsuchenden doch in irgendeiner Weise Schutz gewähren? Im Steuerbilanzrecht, aber auch im Kapitalmarktbilanzrecht sind diese Fragen unter den Stichworten des subjektiven und des objektiven Fehlerbegriffs bereichsspezifisch diskutiert worden. Im Rahmen dieses Diskurses findet sich eine Differenzierung zwischen Rechtsfragen und Sachverhaltsfragen, für die die Feststellungsrisiken und damit die Streitrisiken unterschiedlich verteilt sein sollen. Besonders der Vortrag von Matthias Valta bietet Anknüpfungspunkte, um nach den verfassungsrechtlichen Maßstäben für die Verteilung dieses Feststellungs- und Streitrisiken zu fragen. Gebietet vielleicht das Verfassungsrecht, etwa im Rechtsstaatsprinzip, dass jemand, der seinen wirtschaftlichen Dispositionen und seiner Sachverhaltsfeststellug eine vertretbare Rechtsauffassung zugrunde gelegt hat und der Jahre später am Ende eines Rechtsstreits erfährt, dass die einzige richtige Rechtsauffassung eine andere war, nicht doch in irgendeiner Weise zu schützen ist?

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Prof. Dr. Marc Desens, Leipzig Auch von mir noch einmal vielen Dank für die beiden tollen Vorträge. Ich habe eine Frage zur Schnittstelle zwischen dem materiellen Recht und dem Verfahrensrecht, nämlich zum verfassungsrechtlichen Maßstab, den auch Frau Hey eben angesprochen hat: Einerseits können wir eine komplexe materielle Regelung schaffen, die das Ziel hat, im Höchstmaß der Einzelfallgerechtigkeit zu genügen. Andererseits können wir eine typisierende Regelung schaffen, die bewusst eine materielle Einzelfachgerechtigkeit vernachlässigt, dafür aber einfach ist und durch diese Einfachheit auch der Streitvermeidung dient. Für Letztere haben wir bekanntermaßen verfassungsrechtliche Maßstäbe, mit denen das BVerfG die Grenzen einer solchen Typisierung zu Lasten der Einzelfallgerechtigkeit aufgezeigt hat. Ich habe mich jetzt gefragt: Welche verfassungsrechtlichen Grenzen haben wird denn, wenn sich der Gesetzgeber für den ersten Weg entscheidet, also gerade nicht typisiert, um einer Einzelfallgerechtigkeit möglichst gerecht zu werden? Gesetzestechnisch umsetzbar wäre dieser Weg nur durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, die erst mit Blick auf den jeweiligen Einzelfall bestimmbar werden. Diese eröffnen nun – wir haben es gehört – Bandbreiten und damit auch viele mögliche Auslegungsergebnisse, die im jeweiligen Einzelfall nicht immer leicht vorhersehbar sind. Gibt es hier eine verfassungsrechtliche Grenze, die den Gesetzgeber sogar zu einer gröberen Typisierung zwingen kann? Mir fallen hier nur vage äußere Grenzen ein. Da wäre etwa das sog. strukturelle Vollzugsdefizit, wenn die Unbestimmtheit dazu führen würde, dass wir das Gesetz nicht mehr gleichheitsgerecht vollziehen können. Aber das wäre ein extremer Fall, bei der die Unbestimmbarkeit zur strukturellen Nichterhebung führen müsste. Praktisch relevanter erscheinen mir Situationen, in denen das bundeseinheitliche Steuergesetz in verschiedenen (aber vergleichbaren) Einzelfällen durch unterschiedliche Landesfinanzverwaltungen unterschiedlich konkretisiert wird. Es bleibt dann nur der Gang zum BFH, um eine einheitliche Auslegung sicherzustellen. Aber eine verfassungsrechtliche Grenze, die die damit verbundene temporäre Unsicherheit bei einem bestimmten Maß unterbindet, gibt es nicht, oder? Ich glaube, das war auch Deine Lösung eben, Matthias. Prof. Dr. Roman Seer, Bochum Johanna Hey: Materielles Recht, Streitvermeidung, Rückstellung, Entstrickungstatbestände. Ja, die Frage, wenn ich Dich richtig verstanden

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habe, ist: Ist es nicht so, dass der Gesetzgeber da, wo er an sich schon Spielräume gibt, die Spielräume nachher eher willkürlich wieder einschränkt? Ich glaube, das finden wir etwa im Bereich des AStG mit einer Mittelwert Typisierung, mit dem Versuch eines Medians oder Ähnliches dort etwas punktuell national zu fixieren, obwohl eine Gegenberichtigung damit nicht gesichert ist. Da haben wir ein Problem. Im Rückstellungsbereich muss man natürlich sagen: Das damalige Steuerentlastungsgesetz war ja ein Belastungsgesetz 1999/2000/2002. Die Älteren unter Ihnen werden sich vielleicht daran erinnern. Da ist an sich die Abkoppelung vom handelsbilanziellen Rückstellungsbegriff ja ziemlich stark fortgeschritten und man hat sich punktuell irgendwas rausgegriffen, ohne sichtbare Systematik. Und da bin ich natürlich bei Dir: Das sind schlechte Gesetze. Genauso wie ein Gesetz, was also jetzt – ich hatte das häusliche Arbeitszimmer genommen – was vereinfachen soll, was typisieren soll, seinerseits aber wieder so viel Streit produziert, dass die Typisierung von vornherein misslingt. Da sind die „Qualitäten“ unser Gesetzgebung eben – dann ist es sogar besser, wir bleiben, lieber Marc Desens, beim unbestimmten Rechtsbegriff und lassen es ausjudizieren. Bei der Frage, ob das dann Gleichheitsprobleme verursachen kann, weil der eine sich wehrt, der andere aber nicht: Das ist aber die Freiheit jedes Einzelnen. Ich wehre mich oder ich wehre mich nicht. Das heißt also, insoweit bin ich völlig bei Dir. Man müsste da im Grunde – es sind ja Anforderungen, ich würde sie gar nicht mehr so verfassungsrechtlich aufladen können an der Stelle. Es geht dann eher in die Richtung: Was ist gute Gesetzgebung? Also Gesetzgebungslehre. Und dass die also wieder stärker auch an den Universitäten gelehrt und bearbeitet werden muss, wir haben es ja leider Gottes völlig aus dem Programm verloren. Es gab früher auch mal Lehrstühle, Institute für Gesetzgebungslehre, die sich damit beschäftigt haben. Ich sehe die in unserem Umfeld gar nicht mehr. Die Frage von Herrn Zorn lasse ich Ihnen, lieber Herr Valta, weil sie ist, glaube ich, rein verfassungsrechtlich ausgerichtet. Natürlich habe ich dazu auch eine Meinung. Und dann noch einmal zu Dir, liebe Johanna: Rechtsfragen. a), b), klar. Und dann kommt der Gesetzgeber und macht auf einmal c). Der Gesetzgeber kann das. Also er hat dann eben die Letztentscheidungsbefugnis und da habe ich jetzt auch keine gute Antwort drauf. Wenn c) wieder ein schlechtes Gesetz ist in dem genannten Sinne, kommt wieder meine Kritik aus der Warte der Gesetzgebungslehre. Also da kann ich auch nicht viel mehr bieten. Leider nicht. Ja, Herr Anzinger: Bilanzsteuerrecht, Rechtsfragen. Natürlich, auch da kann ich sagen: Rechtsfrage a) vertretbar, Rechtsfra-

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ge b) vertretbar. Objektiver oder subjektiver Fehlerbegriff. Die große Diskussion, die der Große Senat des BFH ja entschieden hat. Aus meiner Sicht wird der Steuerpflichtige dann geschützt, wenn wir in der Tat eine Vorabverständigung auf einen richtigen Bilanzwert haben. Wenn es aber vorher nicht abgesichert worden ist, dann hat er halt keinen Vertrauensschutz an der Stelle. Die weitere Frage ist natürlich: Gibt die Finanzverwaltung an der Stelle eine verbindliche Auskunft ex ante, auf die man sich verlassen kann? Auch da kommen wir dann wieder zu dieser verfassungsrechtlichen Frage: Gibt es einen Anspruch auf verbindliche Auskunft oder bleibt letztlich doch ein starker Ermessensspielraum, wobei ich sehr zurückhaltend bin mit dem Argument der Kapazitätsgrenzen, da die verbindliche Auskunft gebührenpflichtig gemacht worden ist. Das ist geschehen seit 2006, so dass ich finde, dass die Finanzverwaltung sich nicht mehr auf Kapazitätsgrenzen berufen kann, wenn sie für diese angebliche Sonderleistung, die sie erbringt, ein Entgelt nimmt. Dann kann sie ja aus dem Entgelt sich entsprechend refinanzieren und das finde ich also als Argument nicht mehr tauglich. Und was ich eben auch nicht für zulässig halte, anders als der BFH, ist eine volle Gegenstandsgebühr bei sog. Negativauskünften, wo der Steuerpflichtige eben keine Planungssicherheit erhält, sondern nur eine Aussage dazu, dass vielleicht ein bestimmter Weg, den er vorgeschlagen hat, für seine zukünftige Gestaltung eben für nicht tragbar gehalten wird. Dann bekomme ich zwar auch eine gewisse Planungssicherheit. Dass dieser Weg, diese Brücke zusammenbricht; aber es wird mir nicht gesagt, welche Brücke meinen Weg trägt. Also insoweit halte ich diese Entscheidung für nicht richtig. Ich würde das maximal auf den Aufwand, also den Arbeitsaufwand der Finanzverwaltung, die sie mit diesem Fall nun gehabt hat, begrenzen. Anders sieht das wohl offenbar der BFH. Dann zu Marc Desens: Schnittstelle Materielles Recht – Verfahrensrecht, Grenze der Typisierung. Ja, sicher, wir haben Judikatur zu den Grenzen der Typisierung. Da sind wir uns ja sowieso schon einig. Und jetzt gingen Sie weiter zu der Frage: Was ist denn eigentlich, wenn ich diese Bandbreitenrichtigkeit in einem unbestimmten Rechtsbegriff habe, gibt es da jetzt verfassungsmäßige Grenzen? Das würde ich Ihnen auch überlassen, aber auch da muss man wieder sagen: Es liegt mir vor allem daran, zu sagen: Wo Streitvermeidung ex ante in dem jeweiligen Einzelfall getroffen werden können durch entsprechende verbindliche Verständigungen, da kann man natürlich die Gleichheitsfrage aufwerfen und kann sagen: Ja, wieso bekommt der dieses und ein anderer nicht? Das lässt die Frage auflaufen: Ja, gibt es vielleicht einen Anspruch auf zumindest eine Diskussion mit der Behörde?

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Ich werde wohl kaum einen Anspruch formulieren können auf ein konkretes Vertragsergebnis. Das werde ich wohl nicht. Aber zumindest der Bereitschaft, in einen Dialog zu treten und das hängt dann wiederum mit dem zusammen, was Sie mit dem rechtlichen Gehör formuliert haben, aus meiner Sicht, dass sich die Finanzverwaltung nicht einfach einer Diskussion verweigern kann. Aber einen richtigen Rechtsanspruch, dass ich jemanden an den Tisch zwingen und auf eine bestimmte Meinung hin festlegen kann: Nein, habe ich nicht. Und dann wäre meine Lösung eben, um die Verfahren wirklich zu beschleunigen, dass wenn das so ist, wir auch in den konsentierten Streit kommen und den Disput nicht mehr länger in Einspruchs-Rechtsbehelfsverfahren belassen kann, sondern dass sich dann auch – das hatten Sie glaube ich auch im Auge gehabt – keine Finanzgerichtsbarkeit mehr über mangelnde Beschäftigung zu beklagen braucht, weil es dann nämlich wieder attraktiv wird, als Streitschlichter die dritte Instanz, also das unabhängige Gericht zu suchen. Das Problem ist ja nicht, dass die Beteiligten kein Vertrauen in die Finanzgerichtsbarkeit hätten, sondern dass die Verfahren in der Summe nicht isoliert beim FG, das ist mittlerweile recht flott, wenn ich es richtig sehe, aber in der Summe, einschließlich des Einspruchsverfahrens, einschließlich des ganzen Procederes als unerträglich lang empfinde. Und deshalb brauche ich sehr früh glaube ich diesen konsentierten Streit vor dem FG, um möglichst früh eine Entscheidung zu erhalten. Prof. Dr. Matthias Valta, Düsseldorf Zur Frage von Frau Hey: Braucht man bei der Typisierung aus verfassungsrechtlicher Sicht eine Widerlegungsmöglichkeit? Wir müssen uns überlegen, was für ein verfassungsrechtlicher Maßstab dahintersteckt. Bei der Typisierung geht es um Gleichheitsfragen und den Gleichheitsmaßstab, den man hier anwendet. Wenn die Typisierung realitätsgerecht ist, kann man in ihr ein für den Massenvollzug sachlich einleuchtendes Differenzierungskriterium sehen. Eine Widerlegungsmöglichkeit im Einzelfall entschärft die Rechtfertigungsfrage und kann fragwürdige Typisierungen als Ventil retten. Braucht man sie immer? Der EuGH fordert diese Widerlegungsmöglichkeit im Einzelfall gleichsam proaktiv. Das deutsche Verfassungsrecht scheint mir nicht so weit zu gehen. Wenn die Typisierung realitätsgerecht ist, werden die sozusagen als Beifang miterfassten Fälle gerechtfertigt. Rechtspolitisch ist es natürlich erwägenswert, mehr Einzelfallwiderlegungsmöglichkeiten zu schaffen, was aber wiederum mehr Gelegenheiten zum Streit verursacht. Das ist die rechtspolitische Abwägung, die man treffen muss: rechtspolitisch mehr Prag-

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matismus oder mehr Einzelfallgerechtigkeit und dafür im Einzelfall Streit. Zu Herrn Zorn: Über die Frage der Doppelbesteuerungsabkommen werden wir sicherlich im Verlauf der Tagung noch dezidierter sprechen. Ich habe sie im Rahmen meines Vortrags nicht im Hauptfokus gehabt, weil das Thema anderen Vorträgen vorbehalten ist. Bei Art. 19 Abs. 4 GG habe ich dazu wenig gefunden. Ich denke, das ist eher in allgemeinen rechtsstaatlichen Gewaltenteilungsaspekten zu verorten. Die EU-Streitbeilegungsrichtlinie versucht einen Konflikt zu vermeiden, indem gerichtliche Verfahren ausgesetzt werden müssen und im Fall der Annahme der Streitbeilegung durch den Steuerpflichtigen das Verfahren beendet und auf Rechtsmittel verzichtet wird. Man kann mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG durchaus fragen, ob diese Alternativität Streitbeilegung oder Rechtschutz zulässig ist. Jedoch sollte man bedenken, dass die nationale Rechtsprechung und der durch diese gewährte effektive Rechtschutz an funktionale Grenzen stößt, weil es Fälle gegeben hat, dass zur selben Rechtsfrage das Höchstgericht des einen Landes „a)“ sagte und das Höchstgericht des anderen Landes „b)“, und beide davon überzeugt waren, dass eine Wortlautgrenze erreicht war. Für solche Fälle, die über die Funktionsgrenzen der nationalen Rechtsprechung hinausgehen, ist das Verständigungsverfahren wichtig und gut. Es geschieht ja auch nur auf Antrag des Steuerpflichtigen und er kann davon noch zurücktreten. Daher sehe ich hier grundsätzlich kein Problem. Zu Herrn Anzinger: Gibt es überhaupt sowas wie einen objektiven Wert einer Sache? Es spricht schon sehr viel für den subjektiven Wertbegriff, was in der rechtlichen Kontrolle berücksichtigt werden sollte. So sollte aus der Ex-ante-Perspektive bewertet werden, um Risiken richtig abzubilden. Aber hier sollten wir nochmals bilateral darüber sprechen, damit ich besser auf die Frage eingehen kann. Zu Herrn Desens: Ja, ich sehe das auch so. Es gibt bei der Streitvermeidung und Streitbeilegung gewisse Unterschiede zwischen verschiedenen Behörden und zwischen verschiedenen Verwaltungsträgern. Jedoch handelt es sich um Detailrechtssetzung. Das Gesetz ist einheitlich und untergesetzlich gibt es noch Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften. Die Verwaltungsvorschriften können sich je nach Land unterscheiden, die Unterschiede sind in Deutschland wegen einer Konsenskultur aber relativ eingeebnet. Wo es dann zwischen verschiedenen Verwaltungsträgern unterschiedliche Verwaltungspraxen im Detail gibt,

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ist dies der Preis des Föderalismus und eine Unschärfe, die bleibt. Danke. Prof. Dr. Tina Ehrke-Rabel, Graz Herr Valta, Sie haben mich verwirrt: Es bleibt doch dabei, dass die Finanzverwaltung oder das Steuerrecht Eingriffsrecht ist, dass das Legalitätsprinzip und der Gleichheitssatz gelten und der Rechtsschutz unter Umständen auch eine objektive und nicht nur eine subjektive Komponente hat, um rechtsstaatwahrend zu sein. Aus dem Grund denke ich, dass man bei einer verfassungsrechtlichen Bewertung zumindest aus einer österreichischen Perspektive zwischen Einigungen vor Sachverhaltsverwirklichung und Einigungen nach Sachverhaltsverwirklichung unterscheiden müsste. Vielleicht sehen Sie das auch so, aber ich hatte verstanden, dass Sie aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör einen mehr oder weniger Anspruch auf Einigung ableiten. Aus meiner Sicht wäre das eher ein Anspruch auf Kooperation. Die Frage ist: Was ist das Ergebnis dieser Kooperation? Zu dem Punkt, dass wir Sachverhalts- und Rechtsfrage nicht klar trennen können: Das stimmt in vielen Fällen. Dennoch glaube ich, dass es aus theoretischer Sicht notwendig ist zu trennen und dass wir uns auch ganz klar die Frage stellen müssen, wenn es um unterschiedliche Auffassungen zwischen Steuerpflichtigen und Finanzverwaltung geht: Worum geht es jetzt? Roman Seer hat es ja schon aufgezeigt: Bewertungsspielräume – der objektive Wert ist tatsächlich nahezu unmöglich feststellbar. Bei Bewertungsspielräumen habe ich Zugang. Da kann ich mich verständigen und es ist wahrscheinlich auch sinnvoll, sich zu verständigen. Aber es gibt Rechtsfragen, klare Rechtsfragen, und vor allem, wenn außer Streit steht, was der Sachverhalt ist, dann gibt es nur die Antwort a) oder b). Es gibt aber Zustände, bei denen die Finanzverwaltung oder das Höchstgericht noch nicht die letzte Entscheidung getroffen hat, ob Rechtsauffassung a) oder b) zutreffend ist. So lange gibt es vertretbare Rechtsauffassungen a) und b). In diesen Zuständen ist es aus meiner Sicht zulässig, dass die Finanzverwaltungen und der Steuerpflichtige miteinander diskutieren und sich dann auf eine Rechtswahlauffassung a) oder b) einigen. Selbst wenn dann später das Höchstgericht sagt, b) ist richtig, und sie hatten sich auf a) geeinigt, dann war das zu dem damaligen Zeitpunkt noch vertretbar und daher genießt der Steuerpflichtige Vertrauensschutz. Wenn aber die Finanzverwaltung im Rahmen einer Diskussion sich vom Steuerpflichtigen nicht überzeugen lässt und der Meinung ist, Rechtsauffassung b) sei zutreffend und Rechtsauffassung a) treffe nicht zu, dann ist sie aus meiner Sicht aufgrund des Le-

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galitätsprinzips und des Gleichheitssatzes verpflichtet, bei Rechtsauffassung b) zu bleiben. Dann ist es ein Zustand, wo wir in einen Streit gehen müssen. Ist das auch Ihre Sicht der Dinge? Prof. DDr. Gunter Mayr, Wien Herr Seer, Sie haben eine Fülle von Gedankenanstößen geliefert, vielen Dank dafür. Anknüpfend an Frau Hey und Herrn Desens möchte ich den Vorschlag der Typisierungen ansprechen. Sie haben als Beispiele das Arbeitszimmer oder die betrieblichen Einkunftsarten genannt und hinterfragt, ob man hier nicht typisieren könnte und ob Typisierungen vielleicht sogar das Wundermittel gegen Streitvermeidung wären. Ich höre das öfters, gerade Interessenvertretungen bringen die Typisierungen auch bei uns in Wien regelmäßig vor. Im Ergebnis mag es schon stimmen, beim Arbeitszimmer etwa, wenn man typisiert und alle steuerlich ein Arbeitszimmer bekommen, dann braucht man darüber auch nicht mehr zu streiten. Es stellt sich die Frage der Einzelfallgerechtigkeit, die Sie auch herauszuarbeiten. Ich bin zurückhaltend bei Typisierungen. Wenn man an den Werbungskostenpauschbetrag denkt, der in Österreich niedriger ist als in Deutschland. Für Arbeitnehmer, die tatsächlich Werbungskosten haben, zahlt sich eine Ausgabe steuerlich nicht mehr aus, wenn sie ohnehin den Pauschbetrag bekommen. Typisierungen sind eines der Mittel der Gesetzgebung, um Vereinfachungen zu erreichen. Ich glaube nur, es ist nicht das Mittel, an das man vorrangig denken sollte. Oftmals gibt es noch andere Vereinfachungspotentiale. So haben wir in Österreich im Rahmen der ökosozialen Steuerreform eine Sonderausgabe für thermische Sanierung eingefügt, die zunächst nach hohem Verwaltungsaufwand klingt. Dann hatten wir eine Idee und uns am Spendenabzug orientiert, weil für den Spendenabzug die Spendenorganisationen die individuellen Daten automatisch der Finanzverwaltung übermitteln müssen. Diese automatische Übermittlung war uns wichtig, damit die österreichische Finanzverwaltung nicht mit hohem administrativen Aufwand der Prüfung von Spendenbelegen belastet wird. Bei den Sonderausgaben für thermische Sanierung lässt sich das BMF die Daten ebenfalls automatisch von den Gebern direkter Förderungen liefern. Vereinfachung sind natürlich sehr wichtig, aber Typisierung nicht das Wundermittel dafür. Erst dann, wenn keine anderen Vereinfachungen auffindbar sind, sollte man natürlich auch über Typisierungen nachdenken.

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Prof. Dr. Gregor Kirchhof, LL.M., Augsburg Nach solchen und weiteren „Wundermitteln“ sucht die wichtige Streitvermeidung im Steuerrecht. Prof. Dr. Jochen Lüdicke, Düsseldorf Nein, nicht nach Wundermitteln. Frage an beide Referenten möglicherweise, wenn Sie dazu Stellung nehmen wollen: Sie haben beide ausgeführt, wie wichtig für die Konkretisierung die steuerliche Außenprüfung ist. Aber die steuerliche Außenprüfung in Deutschland hat ja einen wesentlichen Mangel, dass sie nämlich keine Zeitbegrenzung enthält. Wir haben Beginn, wir haben dann die Sechsmonatsunterbrechung. Danach kann sie unterbrochen werden, im Prinzip so lange sie will, bis sie irgendwann mal in eine Verwirkung eines Steueranspruchs hineingeraten kann. Aber dazwischen gibt es nichts. Und das bei dem eigentlich wichtigsten Mittel der Streitbeilegung. Müsste hier nicht de lege lata dringend etwas getan werden? Danke. Prof. Dres. h.c. Paul Kirchhof, Heidelberg Ein kurzes Wort zum Wundermittel: Herr Seer, Sie haben dargestellt, dass wir das Steuerrecht nicht in einseitiger Auslegung der Eingriffsgesetze mit juristischer Methode und Dogmatik vollziehen können, das Besteuerungsverfahren vielmehr ein gestuftes Verständigungsverfahren ist. Es beginnt mit dem Erstellen der Steuerbilanzen, setzt sich fort mit der Steuererklärung, führt oft zu einer Verständigung nach der Außenprüfung. So werden Wirklichkeitsfragen gelöst, Beurteilungsräume ausgefüllt, ein Bandbreitenproblem bewusst. Der Richter erlebt den Gerichtsprozess in der Gewähr des rechtlichen Gehörs, in Rede und Gegenrede anders. Der Kläger beantwortet die Rechtsfrage entschieden mit Ja, der Beklagte bei gleichem Sachverhalt und gleichem Rechtsmaßstab entschieden mit Nein. Dort geht es um subjektives Wollen und Erkennen. Das Steuerrecht hingegen kann sein Ziel, dem Staat Erträge zu verschaffen, in dem Verfahren bloßer hermeneutischer Interpretation nicht erreichen. Auf dieser Grundlage sagen Sie zu Recht, das Kernproblem liege in der Gesetzgebungslehre. Wir kommen mit Typisierungen nicht weiter, wenn wir diese als Ausnahme von gesetzlichen Regeln verstehen, nicht als Ausdruck des Verallgemeinerungsauftrags jedes Gesetzgebers. Wenn dieser aber das Steuerrecht in seinem Vereinfachungsbedarf und seiner Tauglichkeit für den Weltmarkt auf Soll-Erträge und auf Soll-Umsätze aus-

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richtet, wäre ein großer Fortschritt erreicht. Das Gesetz erwartet von einem Betrieb üblicherweise einen Gewinn von 100. Der eine Unternehmer erzielt 110, ist durchschnittlich gut, empfängt deshalb einen Steuervorteil. Der andere erzielt 90, erarbeitet unterdurchschnittlich schlecht, muss deshalb mehr bezahlen und besser werden. Der Abschluss eines Besteuerungsverfahrens sollte nicht allein in der Verständigung, ersatzweise in einem Gerichtsverfahren liegen. Vielmehr sollten die wichtigsten Dissensfälle systematisch und computergestützt an die Steuerabteilungen der Finanzministerien und die Organisationen der Steuerberater gespiegelt werden, um den Gesetzgeber zu einer Gesetzeskorrektur zu veranlassen. Herr Valta, an Sie die Frage, wie Sie einen effektiven Rechtsschutz bewahren können in den Fällen, in denen Finanzverwaltung und Steuerpflichtige sich im Rahmen eines Anreiz- und Ansiedlungswettbewerbs einig sind, unterhalb der gesetzlich gewollten Grenze zu besteuern. In diesen Fällen führt das Konsens- und Dissensverfahren nicht zu angemessenen Ergebnissen. Prof. Dr. Gregor Kirchhof, LL.M., Augsburg Ich lade Sie jetzt angesichts der Fülle der geäußerten Gedanken und der fortgeschrittenen Zeit ein, sich auf einen oder wenige Schlussgedanken zu konzentrieren. Prof. Dr. Matthias Valta, Düsseldorf Zu Frau Ehrke-Rabel: Ja, da haben Sie mich richtig verstanden, a) und b) sind im Rahmen des Vertretbaren gleichermaßen möglich. Es gibt keinen Anspruch auf Einigung im Vorhinein. Man kann sich überlegen: Gibt es einen Anspruch auf Gespräch? Wenn ja, dann genügt meines Erachtens der schriftliche Dialog. Aber man sollte die bestehenden Dialogformen, die wir im deutschen Recht haben und ähnlich auch in anderen Rechtsordnungen, verfassungskonform so auslegen, dass sie effektiv sind und dass man eine Vorabauskunft für effektiven Rechtsschutz nutzbar macht. Dann wird ein Streitbeilegungsmechanismus in Dienst genommen für effektiven Rechtsschutz. Wenn a) und b) gleichermaßen vertretbar ist, wie Sie sagten, kann man sich darauf einigen. Wenn b) für unvertretbar gehalten wird, muss sich die Finanzverwaltung nicht drauf festlegen lassen, sondern die Angelegenheit geht vor den Richter. Das bleibt immer als Möglichkeit offen. Welche Rolle spielt die Einzelfallgerechtigkeit? Damit ist wiederum die rechtspolitische Frage angespro-

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chen: Wie viel Einzelfallgerechtigkeit will man haben? Wie viel Streit will man dafür in Kauf nehmen? Herr Kirchhof, sie haben das Problem angesprochen, dass die Finanzverwaltung kollusiv Steuervorteile gewährt. In der Tat, das ist natürlich denkbar, aber liegt das ausschlaggebend an kooperativen Handlungsformen? Ist das Risiko allein dadurch wirklich nennenswert erhöht? Können sich Finanzbeamter und Steuerpflichtiger nicht auch informell absprechen und das Ergebnis in einem Bescheid umsetzen? Ich gebe zu, die Beihilfefälle zur Vorabentscheidungen in Luxemburg und Irland zeigen, dass kooperative Handlungsformen für ein Zusammenwirken genutzt werden. Aber für solche Privilegierungen hat man das Beihilferecht als materielle Kontrolle. Und das eigentliche Problem in diesen Fällen ist nach meinem Verständnis, dass die Verrechnungspreiskontrollmaßstäbe nicht harmonisiert und in diesen Ländern wenig ausgebildet waren. Die Gefahr geht meines Erachtens hier weniger von der Einvernehmlichkeit als von den materiellrechtlichen Vorgaben aus, die bei fehlender internationaler Harmonisierung und unzureichender gesetzgeberischer Konkretisierung zu viel Spielraum lassen. Wenn Finanzbeamter und Steuerpflichtiger kollusiv rechtswidrig handeln, ist das ein Problem, aber ich glaube, dass es sich durch das Verbot kooperativer Handlungsformen nicht lösen lässt. Staatsanwaltschaft und Rechnungshöfe sind hier gefragt. Prof. Dr. Roman Seer, Bochum Liebe Tina, ich lasse Deinen Beitrag jetzt raus – da ist drauf geantwortet worden – und gehe weiter: Typisierung, Einzelfallgerechtigkeit. Natürlich gibt es kein Zaubermittel. Wäre ja Unsinn. Wo soll es hier Zaubermittel geben? Typisierung ist eine Möglichkeit. Eine Möglichkeit, bestimmte Dinge außer Streit zu stellen, und da bin ich natürlich auch ein bisschen kritisch gegenüber dem Gegenbeweis. Das heißt also, wenn Typisierung, dann würde ich sogar eher sagen, unwiderleglich. Wenn es was bringen soll. Das schränkt allerdings die Möglichkeiten der Typisierung aus verfassungsrechtlichen Gründen auch erheblich ein. Und insoweit ist es kein Zaubermittel. Und das, was Sie angesprochen haben, lieber Herr Mayr, ist an sich das, was wir in Deutschland mit der sog. E-Daten-Vernetzung sehen. Da sind sicherlich die Möglichkeiten nicht vollkommen ausgereizt. Das ist eine Frage der technologischen – wir bekommen ja nachher Entwicklungen und das Digitalisierungsthema von Herrn Anzinger noch präsentiert. Also ich würde jetzt hier an der Stelle

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sagen: Das sollte ausgebaut werden, damit wir auch wirklich in die vorausgefüllte Steuererklärung tatsächlich hineinkommen, dass also der Aufwand minimiert wird und dann zentralisiert sich das im Sinne von Skaleneffekten auf die Überprüfung eben der Datenlieferanten. Das heißt, Sie werden auf der anderen Seite auch wieder die gemeinnützige Organisation Ihrerseits prüfen müssen, ob die richtige Bescheinigungen digital ausstellen. Also es ist ein zweiter Weg und das eine schließt das andere nicht aus. Lieber Herr Lüdicke: Hinsichtlich der Zeitbegrenzung bei der BP sind wir, glaube ich, völlig einer Meinung. Da muss was geschehen. Die Veränderung des § 171 Abs. 4 AO, die jetzt angedacht ist, geht in die richtige Richtung, aber sie ist recht mau. Aus meiner Sicht ist sie mau mit einem Fünfjahreszeitraum. Da müsste es auch – das haben wir auch in unserem Vorschlag des Wissenschaftlichen Arbeitskreis Steuerrecht des DWS-Instituts, den ich geleitet habe und auch noch leite, da haben wir also an der Stelle einen Vorschlag gemacht, dass die BP selbst begrenzt wird. Allerdings in den Fällen, wo dann international Auskunftsersuchen gestellt werden, wo also z.B. das Ganze in ein APA hinein geht oder Ähnliches, wir entsprechende Öffnungsklauseln brauchen, falls sich das länger hinzieht. Also so eine ganz feste Frist, die wie ein Fallbeil wirkt, wird auch nicht ganz möglich sein. Man wird einige Atemlöcher der Finanzverwaltung lassen müssen. Das dazu. Ja, lieber Paul Kirchhof, das war natürlich provokativ: Sollertrag, Sollumsätze: Ich halte davon nichts; das gebe ich ehrlich zu. Insoweit werden wir auch heute nicht zusammenkommen. Sonst kommen wir ja immer wunderbar zusammen, aber es gibt eben auch einen Dissens. Wo man überhaupt den Sollgedanken unterbringen kann, wird man wahrscheinlich eine sehr homogene Wirtschaft, einen sehr homogenen Wirtschaftskreis brauchen. Und das finden wir nur in wenigen Bereichen, so dass ich mir so eine Sollertragsbesteuerung auch nur in einem sehr schmalen Korridor theoretisch und praktisch vorstellen kann. Es kann jedenfalls doch nicht unser derzeitiges System ersetzen. Mit dem anderen Punkt 2.2, da komme ich viel besser klar. Mit dem Dissens und der Rückkopplung an die Finanzverwaltung. Da kommen wir ja gleichzeitig auch in diese Transparenzfrage. Also ich finde es schon vernünftig, z.B. die verbindlichen Auskünfte, die erteilt werden – und dann verringert sich auch das Beihilfenproblem; das könnte auch genauso für Verständigung gelten – zu verschriftlichen. Das ist ja auch sonst aus Rechtssicherheitsgründen kaum anders vorstellbar. Zudem habe ich auch ein besseres Kontrollsystem intern, um das Thema nochmal aufzusprechen. Außerdem sollte die verbindliche Auskunft – möglichst weitgehend abstrahiert, damit dem

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Steuergeheimnis und dem Datenschutz entsprochen wird – als Fall rückgekoppelt werden. Dann können daraus wiederum die Finanzverwaltung und der Gesetzgeber ihre Schlüsse ziehen.

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Internationale und europäische Entwicklungen bei der Streitvermeidung und Streitbeilegung Prof. Dr. Roland Ismer, MSc Econ Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

I. Einleitung II. Internationale Steuerstreitigkeiten: eine Typologie 1. Subjekt des Verfahrens: Steuerpflichtiger als Partei oder rein zwischenstaatliche Streitigkeiten 2. Gegenstand des Verfahrens: Streitigkeiten über Tatsachen oder Rechtsfragen 3. Ziel des Verfahrens: Lösung des Einzelfalls oder darüber hinausgehende Rechtskonkretisierung 4. Zwischenergebnis III. Entwicklungen bei der Streitvermeidung 1. Tax Certainty als auch empirischer Begriff 2. Streitvermeidungsinstrumente im Einzelnen a) Vorabverständigungsvereinbarungen (Advance Pricing Agreements) und Zusagen (Advance Tax Rulings)

b) OECD International Compliance Assurance Programme (ICAP) und verwandte Instrumente in der EU c) Joint Audits d) Neue Instrumente der Rechtssicherheit nach Pillar One 3. Gemeinsame Grundsatzfragen 4. Zwischenergebnis IV. Streitbeilegung 1. Forenproliferation 2. Grundsatzfragen 3. Sonderprobleme a) Treaty overrides und EUStreitbeilegungsrichtlinie b) Investor-Staat-Schiedsverfahren nach Investitionsschutzabkommen V. Zusammenfassung und Ausblick VI. Thesen

I. Einleitung Das zweite und dritte Jahrzehnt eines Jahrhunderts scheinen eine eigentümliche Dynamik in der Steuerpolitik heraufzubeschwören. Weg vom steuerpolitischen Fin-Du-Siècle-Pessimismus hin zur aktiven Schaffung gänzlich neuer steuerlicher Institutionen auf einer zuvor nicht für möglich gehaltenen neuen Ebene. In den ersten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts wurden die reichseinheitlichen Regeln für die

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Abgabenordnung1 und das materielle Steuerrecht2 geschaffen. Heute sehen wir mit globaler Tragweite Ansätze für die Neuvermessung des internationalen Steuerregimes.3 Zu nennen sind neben den Erträgen des BEPS-Prozesses4 insbesondere die Arbeiten der OECD und des Inclusive Frameworks an den zwei Säulen, also an Pillar One und Pillar Two. Pillar Two hat die Einführung einer Globalen Mindestbesteuerung zum Gegenstand.5 Pillar One, der uns im weiteren intensiv beschäftigen wird, ist demgegenüber auf eine Verlagerung der Besteuerungsrechte an Marktstaaten gerichtet.6 Anders als nach dem bisherigen internationalen Steuerrecht dürfen diese Staaten einen Teil des sog. Übergewinns auch dann besteuern, wenn keines der bisherigen Anknüpfungskriterien wie Vorliegen einer Betriebsstätte oder Ausübung der Tätigkeit im Inland usw. vorliegt. Die genaue Bestimmung dieses Übergewinns droht viel Streit hervorzurufen. Bei aller Schnelllebigkeit des Tagesgeschehens lohnt es sich allerdings auch, über die längerfristigen Perspektiven nachzudenken und aktuelle Entwicklungen in den weiteren Kontext einzuordnen. Im Kern lassen sich drei Entwicklungen ausmachen, die die Besteuerung grenzüberschreitender Sachverhalte in den letzten Jahrzehnten maßgeblich geprägt haben. Die erste Entwicklung besteht in der Komplexitätserhöhung des Steuerrechts, die sich aus dem Zusammenspiel von Globalisierung des Wirt-

1 Musil in HHSp., Einf. Rz. 3 ff.; Waldhoff, StuW 2020, 147. 2 Bach, StuW 2019, 105. 3 S. etwa Brauner, Brooklyn Journal of International Law 41 (2016), 973; Christians, Brigham Young University Law Review 1603 (2016); Mason, American Journal of International Law 114 (2020), 353; Oei, 47 Yale Journal of International Law 47 (2022), 199; Schön, World Tax Journal 2021, 357; Schön, IStR 2022, 181 sowie monographisch Devereux u.a., Taxing profit in a global economy, 2020. 4 Grundlegend zum BEPS-Projekt Lehner in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Grundlagen des Abkommensrechts Rz. 210 ff. 5 Aus der breiten Literatur etwa Englisch, Intertax 2022, 859; Schwarz, The OECD GloBE proposal – a decisive step towards uniform global minimum taxation?, 2022. Auf EU-Ebene ist zwischenzeitlich die Richtlinie (EU) 2022/2523 des Rates v. 14.12.2022 zur Gewährleistung einer globalen Mindestbesteuerung für multinationale Unternehmensgruppen und große inländische Gruppen in der Union, ABl. Nr. L 328 v. 22.12.2022, S. 1–58 beschlossen worden. 6 Bräutigam u.a., IStR 2020, 281; Chand u.a., World Tax Journal 12 (2020), 565.

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schaftens einerseits und der Fortführung weitgehend nationaler oder regional begrenzter supranationaler Steuersysteme ergab. Als zweite Entwicklung lässt sich die Ausnutzung von Gestaltungsmöglichkeiten zur Steuerplanung7 und als Reaktion darauf die Schaffung eines Problems durch Vielzahl zunächst (inhärent unbestimmter) unilateraler Abwehrinstrumente und später zunehmend koordinierter Instrumente benennen. Diese Entwicklung könnte in der Herausbildung eines teilweise harmonisierten materiellen Steuerrechts kulminieren.8 Die dritte Entwicklung schließlich liegt in den Versuchen zur Reduktion der aus den beiden erstgenannten Entwicklungen resultierenden Unsicherheit. Im Zuge dessen hat sich eine Vielzahl von Instrumenten herausgebildet. Schon ein Blick auf die weiteren Beiträge dieses Bandes verdeutlicht die große Zahl an Ansätzen, die derzeit intensiv diskutiert werden. Dafür wird zugleich eine Vielzahl von Foren geschaffen. Zudem wird die Streitvermeidung gestärkt. Anfänglich lag das Gewicht noch primär auf einer Verbesserung der Streitbeilegung. So nennt der BEPS Action Plan aus dem Jahre 2013 als konkrete Maßnahme die Verbesserung der Verständigungsverfahren,9 die dann den Gegenstand der BEPS Action 14 bildete. Inzwischen hat sich der Schwerpunkt der Arbeiten aber verlagert: In jüngerer Zeit vertritt die OECD die Auffassung, Vorbeugung sei besser als Heilung.10 Ihr Forum on Tax Administration hat daher umfangreiche Vorschläge zur Streitvermeidung vorgelegt. Dabei kommen zunehmend informelle und nicht bindende Instrumente zum Einsatz. Auffällig ist schließlich, dass die vorgeschlagenen Instrumente zur Streitvermeidung und Streitbeilegung zunehmend nicht mehr bilateral, sondern multilateral sind.11 7 Vgl. etwa zur Nutzung von Gestaltungen mit Intellectual Property Bilicka/ Devereux/Guceri, Tax Avoidance Networks and the Push for a ‚Historic‘ Global Tax Reform. No. c14730. National Bureau of Economic Research, 2022. 8 Petkova/Fehling, IStR 2022, 409, 414 erkennen eine zunehmende Vereinheitlichung materiellrechtlicher Steuervorschriften. 9 OECD BEPS Action Plan, S. 23: „The actions to counter BEPS must be complemented with actions that ensure certainty and predictability for business. Work to improve the effectiveness of the mutual agreement procedure (MAP) will be an important complement to the work on BEPS issues.“ 10 IMF/OECD, Tax Certainty – Report for the G20 Finance Ministers, 2017; IMF/OECD, Report for the G20 Finance Ministers, 2017; IMF/OECD, 2018 Progress Report on Tax Certainty; IMF/OECD, 2019 Progress Report on Tax Certainty, abrufbar unter www.oecd.org/tax/tax-policy. 11 S. dazu auch Coronado, ITR 2021; für Advance Pricing Agreements ebenso Markham, BIT 2020, 2, 11 f.

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Internationale und europäische Entwicklungen – Ismer

Vor diesem Hintergrund gibt der folgende Beitrag einen Überblick über die internationalen und europäischen Entwicklungen bei der Streitvermeidung und Streitbeilegung. Um das ohnehin umfangreiche Thema nicht überborden zu lassen, beschränkt er sich auf die Entwicklungen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten.12 Der Beitrag beginnt mit einer Typologie der internationalen Steuerstreitigkeiten (II.). Daran schließt sich eine Analyse der Entwicklungen bei der Streitvermeidung an (III.). Darauf folgen die Entwicklungen bei der Streitbeilegung (IV.). Eine kurze Zusammenfassung und ein Ausblick beschließen den Beitrag (V.).

II. Internationale Steuerstreitigkeiten: eine Typologie Bevor der Frage nach den Instrumenten der Streitvermeidung und Streitbelegung nachgegangen werden kann, gilt es sich vor Augen zu halten, von welchen internationalen Streitigkeiten hier überhaupt die Rede ist. Im Folgenden soll dazu eine Typologie der internationalen Steuerstreitigkeiten entfaltet werden entlang von drei Kriterien, nämlich nach dem Subjekt des Verfahrens, seinem Gegenstand und seinem Ziel.

1. Subjekt des Verfahrens: Steuerpflichtiger als Partei oder rein zwischenstaatliche Streitigkeiten Gerade im internationalen Steuerrecht ist zu unterscheiden, wer die Parteien der Streitigkeit sind: Internationale Steuerstreitigkeiten können das Verhältnis von Steuerpflichtigen und einen Staat betreffen, etwa wenn darüber gestritten wird, ob der Steuerpflichtige im Home Office während der Corona-Pandemie eine Betriebsstätte begründet hat. Soweit die Streitigkeiten vor nationalen Gerichten ausgetragen werden, besteht kein grundlegender Unterschied zu den Steuerstreitigkeiten im nationalen Kontext. Internationale Steuerstreitigkeiten können sich aber auch auf das Verhältnis zwischen Staaten beziehen. Darin liegt eine Besonderheit im Vergleich zu rein innerstaatlichen Sachverhalten. Dies gilt insbesondere im Bereich der Streitbeilegung. So sind die Steuerpflichtigen in der zwischenstaatlichen Phase der Verständigungsverfahren nicht Partei des Verfahrens – dies sind nur die Vertragsstaaten. Schließlich ist es möglich, dass Streitigkeiten auch im Verhältnis „Staat – Bürger“ vor internationalen Streitbeilegungsorganen ausgetragen werden, die gerade keine 12 Dadurch werden u.a. die spannenden Fragen der Begleitprüfung, wie sie in Österreich eingeführt wird, ausgeklammert, dazu etwa Seer, IWB 2021, 143, 152 ff.

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nationalen Gerichte sind. Für einen Ausschnitt aus regulären Gerichtsverfahren ist dies bei den Vorlageverfahren beim EuGH der Fall, wo ein Zwischenstreit vor dem EuGH als supranationalem Gericht ausgetragen wird. Noch weitergehend können internationale Steuerstreitigkeiten aber auch vor internationalen Schiedsgerichtsbarkeiten in der Form ausgetragen werden, dass dem Steuerpflichtigen eine Parteistellung zukommt. Typischerweise liegt dem die Verleihung auch materieller internationaler subjektiv-öffentlicher Rechte im völkerrechtlichen Instrument zugrunde. So verleihen etwa die Investitionsschutzabkommen ein Abwehrrecht gegen einen Verstoß gegen das Gebot von fair and equitable treatment. Die Steuerpflichtigen können diese Rechte bisweilen auch prozessual im Rahmen von Staaten-Investoren-Verfahren durchsetzen. Eine spannende, soweit ersichtlich, bisher nicht erörterte Frage stellt sich demgegenüber hinsichtlich der Doppelbesteuerungsabkommen: Sicherlich gewähren die ratifizierenden Gesetze mit dem Vollzugsbefehl subjektive öffentliche Rechte. Hingegen ist es bei den völkerrechtlichen Abkommen nicht gesichert der Fall.

2. Gegenstand des Verfahrens: Streitigkeiten über Tatsachen oder Rechtsfragen Streitigkeiten im Steuerrecht können sich auf der tatsächlichen Ebene, aber auch auf der Ebene der Rechtsfragen bewegen. Die Abgrenzung ist, wie uns das Revisionsrecht lehrt, im Einzelnen durchaus schwierig,13 sie ist aber konzeptionell hilfreich. Bei Streitigkeiten auf der tatsächlichen Ebene geht es um die Beantwortung der Frage „Was ist geschehen?“. Auch wenn sich die steuerrechtliche Ausbildung und der wissenschaftliche Diskurs mit dieser Frage oftmals nur am Rande beschäftigen, hat sie für die Lösung der praktischen Fälle zentrale Bedeutung. Im internationalen Kontext ergeben sich aus der beschränkten Reichweite Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsermittlung, die durch erhöhte Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen kompensiert werden. Zudem besteht gerade im internationalen Kontext die Gefahr, dass die Behörden und Gerichte der betroffenen Staaten von abweichenden Sachverhalten ausgehen, aus denen sich unterschiedliche steuerliche Folgen ergeben. Das kann dann zu ungewollten Doppelbesteuerungen oder zu doppelten Nichtbesteuerungen führen oder aber auch schlicht zu einer unzutreffenden Besteuerung. 13 Dazu etwa Völlmeke, DStR-Beih. 1997, 3.

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Bei den Rechtsfragen geht es hingegen darum, die richtige Auslegung für die streitentscheidenden Rechtsnormen zu finden und bei der Subsumtion des konkreten tatsächlichen Geschehens (Sachverhalts) unter den gesetzlichen Tatbestand zu einem richtigen Ergebnis zu gelangen. Im grenzüberschreitenden Kontext bestehen bei den Rechtsfragen drei besondere Schwierigkeiten: Sie ergeben sich erstens daraus, dass oftmals der Bereich des Massenfallrechts verlassen wird. Bei aller intellektueller Mühe um die Klärung der Rechtslage ist der Grad der Rechtskonkretisierung vergleichsweise gering. Dies liegt zum einen daran, dass eine Vielzahl von Normen besteht. Auch wenn sie sich wie bei den Doppelbesteuerungsabkommen an einem Musterabkommen oder einer Verhandlungsgrundlage orientieren, gibt es immer wieder Abweichungen und Besonderheiten des spezifischen Kontexts zu berücksichtigen. Zum anderen befindet sich das Rechtsgebiet des internationalen Steuerrechts in der bereits eingangs geschilderten dynamischen Entwicklung, gerade was die unilateralen oder koordinierternAbwehrinstrumente angeht. Zweitens entstehen Herausforderungen aus der Rechtsnatur der Doppelbesteuerungsabkommen als völkerrechtlichen Verträgen. Das maßgebliche Recht der DBA kann divergierend verstanden werden, ohne dass es zwingend ein maßgebliches Entscheidungsorgan gäbe, das eine verbindliche Auslegung vorgeben könnte. Darin liegt ein erheblicher Unterschied zur rein innerstaatlichen Situation, wo es ja innerstaatliche Höchstgerichte gibt. Zwar hat die Rechtsdogmatik Lösungsmöglichkeiten entwickelt, insbesondere den Grundsatz der Entscheidungsharmonie.14 Zudem gibt es insbesondere den New Approach im Rahmen des Art. 23 OECD-MA, wonach der Ansässigkeitsstaat den Verweis des Quellenstaates im Rahmen des Art. 3 Abs. 2 OECD-MA bei seiner Anwendung des Methodenartikels hinzunehmen hat.15 Dieser Ansatz ist aber nicht vollständig, da er bei Konflikten über Verteilungsnormen mit abschließender Rechtsfolge nicht eingreift. Zudem ist er von den Gerichten jedenfalls nicht universell anerkannt. Natürlich ist es umgekehrt möglich, dass sich jedes Höchstgericht auf die Position zurückzieht, die eigene Auslegung sei die one right an-

14 S. etwa Lehner in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Grundlagen des Abkommensrechts Rz. 114 ff. 15 Dazu Ismer in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Art. 23A/B Rz. 39a m.w.N.; Schönfeld/Häck in Schönfeld/Dietz (Hrsg.), DBA, 2. Aufl. 2019, Art. 23A/B Rz. 37 f.

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swer,16 also die einzig richtige Lösung. Das wäre freilich schon mit dem gerade in der deutschen Rechtsausbildung immer wieder angeführten Topos der Vertretbarkeit kaum vereinbar. Auch würde der Dialog der Gerichte dann zu einem belehrenden Monolog, der Grat zur Rechthaberei würde zumindest schmal. Alternativ könnte sich das innerstaatliche Höchstgericht auch auf eine segmentierte Richtigkeit einlassen. Ausgehend davon, dass der innerstaatliche Prozess nur das Handeln der Behörden des eigenen Staates kontrolliert, könnte das Gericht sich auf den Standpunkt stellen, dass für deutsche Finanzbehörden eine Auslegung dann eben die richtige ist, für die französischen hingegen eine andere. Eine solche akteursbezogene Segmentierung des Rechts erscheint allerdings unbefriedigend und mit der Koordinierungsfunktion gerade des DBA-Rechts unvereinbar. Drittens schließlich gilt es gerade bei den Rechtsfragen die Forenproliferation zu bedenken. Für die Entscheidung über Steuerstreitigkeiten sind, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, nicht mehr allein die innerstaatlichen Gerichte zuständig, sondern zusätzlich auch unterschiedliche Streitbeilegungsforen.17 Dies betrifft insbesondere spezifisch steuerliche Schiedsverfahren zwischen den Staaten nach den Doppelbesteuerungsabkommen, dem Europäischen Schiedsübereinkommen und der EUStreitbeilegungsrichtlinie. Daneben sind aber auch Schiedsverfahren zwischen Staaten und Investoren nach bilateralen Investitionsschutzübereinkommen und EU-Handelsabkommen denkbar. Auch eine Zuständigkeit des EuGH erscheint denkbar, insbesondere wenn die Kommission mit der Beihilfekontrolle der Doppelbesteuerungsabkommen beginnt. Diese Foren sind zu koordinieren, da alternativ eine Vervielfältigung der Verfahren, im schlimmsten Fall sogar widersprüchliche Ergebnisse mit nicht geklärten Hierarchien drohen.

3. Ziel des Verfahrens: Lösung des Einzelfalls oder darüber hinausgehende Rechtskonkretisierung Schließlich bietet es sich an, die Funktion von Steuerstreitigkeiten in den Blick zu nehmen. Sie dienen sicherlich dem Rechtsschutz und der Wahrung der Interessen der Steuerpflichtigen. Am Ende des Steuerstreits steht für die Steuerpflichtigen typischerweise ein Zugewinn an

16 Zur Diskussion s. etwa Herbst, JZ 2021, 891. 17 Vgl. den Überblick bei Ismer/Piotrowski in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Art. 25 Rz. 299 ff.

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Rechtssicherheit, der idealerweise auch für die Zukunft wirkt. Objektivrechtlich sollten sie auf die Erlangung zutreffender Ergebnisse für den steuerlichen Anlassfall gerichtet sein. Darüber hinaus können die Streitigkeiten aber auch der Konkretisierung des Rechts über den Einzelfall hinaus dienen oder sogar die Schaffung neuen Rechts anstoßen. Insoweit dienen die Streitigkeiten dann nicht mehr allein den beteiligten Steuerpflichtigen und Finanzbehörden, sondern allen Steuerpflichtigen. Die Funktion der Konkretisierung des Rechts können die Streitigkeiten allerdings nur dann erfüllen, wenn die Ergebnisse der Streitigkeit in einer geeigneten Form öffentlich zugänglich gemacht werden.

4. Zwischenergebnis Entsprechend dem Vorstehenden lassen sich internationale Steuerstreitigkeiten nach drei Kriterien einteilen. Erstens ist zu unterscheiden, wer Partei des Verfahrens ist, ob also der Steuerpflichtige Partei ist oder es sich um rein zwischenstaatliche Streitigkeiten handelt. Zweitens kann danach differenziert werden, ob es sich um Streitigkeiten über Tatsachen oder Rechtsfragen handelt, wobei bei den Rechtsfragen besondere Schwierigkeiten mit Blick darauf bestehen, dass häufig der Bereich des konkretisierten Massenfallrechts verlassen wird, dass die Doppelbesteuerungsabkommen von zwei Staaten angewendet werden, ohne dass es zwingend eine übergeordnete Instanz zur verbindlichen Auslegung gäbe, und dass eine Forenproliferation droht. Drittens schließlich kann unterschieden werden, zu wessen Gunsten die Verfahren geführt werden, ob sie also nur der Konkretisierung des Rechts im Einzelfall dienen oder darüber hinaus auf die Schaffung neuen Rechts gerichtet sind.

III. Entwicklungen bei der Streitvermeidung Auf Ebene der OECD, zwischenzeitlich aber auch in der Europäischen Union sind in den letzten Jahren zahlreiche Initiativen angestoßen worden, die durch kooperative Compliance internationale Steuerstreitigkeiten vermeiden und damit Tax Certainty steigern sollen.18 Es empfiehlt 18 S. insbesondere OECD, Forum on Tax Administration, Study into the Role of Tax Intermediaries, 2008; OECD, Co-operative Tax Compliance – Building Better Tax Control Frameworks, 2016; OECD (2021), International Compliance Assurance Programme – Handbook for tax administrations and MNE groups, OECD, Paris. www.oecd.org/tax/forum-on-tax-administration/publica tions-and-products/international-compliance-assuranceprogramme-hand

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es sich allerdings, das Ziel der Steigerung von Tax Certainty näher zu eruieren (1.), bevor wir uns den Streitvermeidungsinstrumenten im Einzelnen nähern (2.). Diese Instrumente werfen gemeinsame Grundsatzfragen auf insbesondere mit Blick auf die Freiwilligkeit, die exekutivische Prägung, die stärkere Anfälligkeit informeller Verfahren für Korruption, die nationale Verortung von Rechtsschutz, Probleme bei Zugang und Beendigung sowie auf die beschränkten Ressourcen der Finanzverwaltung (3.).

1. Tax Certainty als auch empirischer Begriff Die deutsche Übersetzung als Steuersicherheit oder Sicherheit in Steuerfragen legt eine konzeptionelle Verwandtschaft mit dem deutschen Verfassungsprinzip der Rechtssicherheit als Emanation des Rechtsstaatsprinzips nahe. Indessen greift eine solche Parallele zu kurz, da sie das von der OECD zugrunde gelegte Begriffsverständnis von Tax Certainty nicht vollumfänglich umfasst. Denn die Rechtssicherheit ist nach deutschem Verfassungsrecht primär ein zu optimierendes normatives Prinzip. Es verlangt im Kern Verständlichkeit, Bestimmtheit und Verlässlichkeit des Rechts.19 Diese Rechtsnatur zeigt etwa die Abwägung zwischen Rechtsrichtigkeit und Rechtssicherheit bei den Korrekturvorschriften der Abgabenordnung. Das Steuerverwaltungsrecht hat zahlreiche bindende Institute zur Erreichung von Rechtssicherheit geschaffen. Rechtssicherheit wird grundsätzlich durch Bindung der Behörde, und zum Teil auch durch Bindung der Steuerpflichtigen erreicht, etwa durch den Erlass von Verwaltungsakten und Eintritt der Bestandskraft, durch eine verbindliche Auskunft, die Zusage im Anschluss an eine Außenprüfung, tatsächliche Verständigungen, Bezugspunkt der Rechtssicherheit ist das Recht als normatives Konstrukt. Hingegen sind empirische Aussagen – nicht zuletzt wegen der Sein-Sollen-Dichotomie – keine übliche Verwendung; es wird also üblicherweise nicht gesagt, dass Rechtssicherheit gewahrt ist, wenn der Steuerpflichtige seiner Rechtsauffassung eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Umsetzung durch die Finanzbehörde beimessen kann. Anders liegt es hingegen offenkundig bei der Tax Certainty. Die OECD betont die Bedeutung von Steuersicherheit als Grundlage für die Investibook-for-tax-administrations-and-mne-groups.htm. Dazu Seer, IWB 4/2021, 143, 147 ff. 19 Grzeszick in Dürig/Herzog/Scholz, Art. 20 GG Rz. 50 (Stand Januar 2022).

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tionen und stellt damit einen Zusammenhang zur betriebswirtschaftlichen Investitionsrechnung her. Zudem betont sie, dass Tax Certainty auch durch einen frühzeitigen Austausch der Steuerbehörden und der Steuerpflichtigen gefördert werden kann, und zwar auch dann, wenn am Ende des Austauschs keine verbindliche Festlegung der Finanzbehörden steht. So stellt die Europäische Kommission in manchen Beihilfeverfahren comfort letter aus. Diese geben eine Einschätzung der Behörde wieder, sind aber gerade nicht verbindlich. In ähnlicher Weise sind solche Comfort letter oder Outcome letter auch im Besteuerungsverfahren denkbar. Die Bindungswirkung liegt dann unterhalb einer (verbindlichen) Zusage oder Verständigung.20 Es entsteht keine rechtliche Bindung der Behörde, es steigt gleichwohl die Wahrscheinlichkeit einer Besteuerung entlang dieser Linie. Damit beinhaltet die Tax Certainty jedenfalls auch ein empirisches Konzept in dem Sinne, dass eine Erhöhung von Wahrscheinlichkeiten für den Steuerpflichtigen ein Zugewinn an Tax Certainty bedeutet. Es lassen sich damit zugleich auch graduierte Aussagen über Wahrscheinlichkeiten treffen. Dabei kann als Denkkategorien in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) verwiesen werden: Danach lässt sich insbesondere differenzieren zwischen verschiedenen subjektiven Überzeugungsgraden, die bei unvollständigen Daten angewandt werden können, um subjektive Urteile zum Ausdruck zu bringen.21 Auch die OECD legt augenscheinlich eine solche Logik zugrunde, wenn sie darauf verweist, dass der Steuerpflichtige Assurance – also offenkundig einen höheren Gewissheitsgrad – bekommen kann in Situationen, in denen er keine Certainty hat.22 20 Seer, IWB 2021, 143, 149. 21 Vgl. etwa IPCC, Climate Change 2021 – The Physical Science Basis, Summary for Policy Makers, 2021, S. 4, Fn. 4: „Each finding is grounded in an evaluation of underlying evidence and agreement. A level of confidence is expressed using five qualifiers: very low, low, medium, high and very high, and typeset in italics, for example, medium confidence. The following terms have been used to indicate the assessed likelihood of an outcome or result: virtually certain 99–100% probability; very likely 90–100%; likely 66–100%; about as likely as not 33–66%; unlikely 0–33%; very unlikely 0–10%; and exceptionally unlikely 0–1%. Additional terms (extremely likely 95–100%; more likely than not .50–100%; and extremely unlikely 0–5%) are also used when appropriate.“ 22 S. etwa OECD Forum on Tax Administration, International Compliance Assurance Programme – Handbook for tax administrations and MNE groups, 2021, abrufbar unter www.oecd.org/tax/forum-on-tax-administration/publica

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Dementsprechend ist davon auszugehen, dass das Konzept von Tax Certainty anders als die Rechtssicherheit kein primär normatives, sondern zugleich auch ein empirisches ist. Derart verstanden, lässt sich vermehrte Tax Certainty daher auch durch nicht bindende Instrumente wie ICAP, ETACA, CBD und Joint Audits erreichen. Darin liegt aber, wie die Weiterverfolgung der APAs und die Vorschläge für neue Certainty Mechanisms nach Pillar One zeigen, kein vollständiger Abschied von rechtlich bindenden Instrumenten.

2. Streitvermeidungsinstrumente im Einzelnen Streitvermeidungsinstrumente kennzeichnen sich durch eine Loslösung vom tradierten Leitbild des Agierens der Finanzbehörden und anschließender antagonistischer Überprüfung durch Streitbeilegung. An dessen Stelle tritt eine Zusammenarbeit zwischen Steuerpflichtigen und Finanzbehörden, noch bevor sich die Finanzbehörden endgültig festgelegt haben. Diese Interaktion geht über eine bloße Anhörung und damit die Möglichkeit, der Behörde wichtige Gesichtspunkte darzulegen, hinaus. Vielmehr agieren Steuerpflichtige und Finanzbehörden auf Augenhöhe und partnerschaftlich. Die Kommunikation soll dadurch entscheidend verbessert werden. Man kann den gemeinsamen Nenner der Verfahren darin sehen, dass die Steuerpflichtigen einen Tausch eingehen, bei dem sie den Finanzbehörden erweiterte Transparenz und Offenlegung bieten und dafür frühere und größere Sicherheit in Steuersachen erhalten.23 Die Steuerpflichtigen können dadurch idealerweise Doppelbesteuerungsprobleme vermeiden und die Kosten für die Einhaltung der Steuervor-

tions-and-products/international-compliance-assurance-programme-hand book-for-tax-administrations-and-mne-groups, S. 7: „It is designed to be an efficient, effective and co-ordinated approach to provide multinational enterprise groups (MNE groups) willing to engage actively, openly and in a fully transparent manner with increased tax certainty with respect to certain of their activities and transactions. ICAP does not provide an MNE group with legal certainty as may be achieved, for example, through an advance pricing arrangement (APA). It does, however, give comfort and assurance where tax administrations participating in an MNE group’s risk assessment consider covered risks to be low risk. [Hervorhebungen nur hier]“ 23 So anschaulich Owens/Pemberton, Cooperative Compliance: A Multi-stakeholder and Sustainable Approach to Taxation, 2021, § 1.01. Ähnlich zuvor schon OECD, Co-operative Compliance: A Framework – from Enhanced Relationship to Co-operative Compliance, 2013, S. 29.

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schriften senken.24 Darin liegt häufig zugleich ein Übergang von einem stark rechtlich strukturierten Verfahren hin zu einem offeneren Prozess. Im Folgenden werden die einzelnen Instrumente vorgestellt, beginnend mit Advance Pricing Agreements und Advance Tax Rulings (a), gefolgt vom OECD International Compliance Assurance Programme (ICAP) und verwandten Instrumenten in der EU (b), Joint Audits (c) und neuen Instrumenten nach Pillar One (d).

a) Vorabverständigungsvereinbarungen (Advance Pricing Agreements) und Zusagen (Advance Tax Rulings) Gleichsam aus einer anderen Zeit stammen allerdings noch die Vorabverständigungsvereinbarungen oder Advance Pricing Agreements, bei denen aber neuerdings ein verstärktes Interesse beobachtet werden kann.25 Dieses ursprünglich in den USA entwickelte Instrument ist eine Vereinbarung, die im Vorfeld von kontrollierten Transaktionen bestimmte Kriterien (z.B. Methode, Vergleichsdaten und entsprechende Anpassungen, kritische Annahmen in Bezug auf zukünftige Ereignisse) für die Bestimmung der Verrechnungspreise für diese Transaktionen über einen festgelegten Zeitraum festlegt.26 Es schafft damit Rechtssicherheit im Bereich der Verrechnungspreise und Gewinnzuteilung. Allerdings gibt es nicht überall Advance Pricing Agreements. Der Widerstand gegen die Einführung einer APA-Regelung hängt oft mit fehlenden Ressourcen, insbesondere im Bereich der zuständigen Behörden, und mit mangelndem technischem Fachwissen zusammen.27 Anders als die APA sind auch als Advance Tax Rulings bezeichnete Zusagen der Finanzbehörden auf Antrag des Steuerpflichtigen in Bezug auf die steuerlichen Folgen einer oder einer Reihe von geplanten zukünftigen Maßnahmen. Für die Finanzbehörden sind die Stellungnahmen grundsätzlich bindend, für den Steuerpflichtigen hingegen im Unterschied zu den APA nicht.28 Gerade unilaterale Rulings bieten allerdings infolge

24 So ausdrücklich Europäische Kommission, Guidelines European Trust and Cooperation Approach (ETACA), 2021, S. 3. 25 Markham, BIT 2020, 2. 26 OECD, Transfer Pricing Guidelines for Multinational Enterprises and Tax Administrations, 2017, § 4.1.34. 27 So Markham, BIT 2020, 2, 5. 28 Romano, Advance Tax Rulings And Principles Of Law: Towards a European Advance Tax Rulings System, 2002, S. 471 f.

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der zahlreichen Beihilfeverfahren der Europäischen Kommission weniger Rechtssicherheit als früher.

b) OECD International Compliance Assurance Programme (ICAP) und verwandte Instrumente in der EU Von den rechtlich vollständig bindenden Advance Pricing Agreements und von den Tax Rulings ist das ICAP-Programm der OECD zu unterscheiden.29 Es hat die freiwillige Zusammenarbeit zwischen einer multinationalen Unternehmensgruppe und mehreren internationalen Steuerverwaltungen bei der Risikobewertung und -sicherung zum Gegenstand. Es bietet multinationalen Konzernen, die bereit sind, sich aktiv, offen und in voller Transparenz zu engagieren, mehr Steuersicherheit in Bezug auf bestimmte ihrer Aktivitäten und Transaktionen. Anders als die APAs gewährt das ICAP aber keine absolute Steuersicherheit, sondern lediglich ein gewisses Maß an Sicherheit – die OECD spricht hier von Assurance im Gegensatz zu Certainty –, und zwar insbesondere dann, wenn die beteiligten Steuerverwaltungen die abgedeckten Risiken als gering einschätzen. In rechtlicher Hinsicht stellen sich gewisse Herausforderungen – insbesondere ist der Kreis der berechtigten Unternehmen zu bestimmen Ein Zeichen der Schnelllebigkeit der Zeit ist es, dass dieses kaum vier Jahre altes Programm nicht nur schon auf die nächste Stufe gehoben wurde, sondern durch neue, international harmonisierte Instrumente ersetzt werden soll. Im Mai 2022 legte die OECD einen Bericht zur Steuerzusammenarbeit im 21. Jahrhundert mit dahingehenden Vorschlägen vor. Dabei geht es insbesondere darum, gemeinsame Risikoeinschätzungen zu gewinnen und koordinierte Handlungen vorzunehmen.30 Auch auf europäischer Ebene finden sich dahingehende Ansätze. Als Teil ihres Aktionsplans für faire und einfache Besteuerung zur Unterstützung der wirtschaftlichen Erholung vom Juli 2020 verpflichtete sich 29 Dazu OECD (2021), International Compliance Assurance Programme – Handbook for tax administrations and MNE groups, OECD, Paris. www.oecd.org/ tax/forum-on-tax-administration/publications-and-products/international-com pliance-assuranceprogramme-handbook-for-tax-administrations-and-mnegroups.htm. 30 OECD, Tax Co-operation for the 21st Century, May 2022, im Internet abrufbar unter: https://www.oecd.org/tax/tax-co-operation-for-the-21st-century-oecd-re port-g7-may-2022-germany.htm; dazu etwa Petkova/Fehling, IStR 2022, 409, 412.

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die Kommission, gemeinsam mit interessierten Mitgliedstaaten einen EU-Rahmen für die kooperative Einhaltung von Steuervorschriften zu entwickeln. Dieser wird üblicherweise als ETACA (European Trust and Cooperation Approach) bezeichnet.31 Hier geht es im Moment nicht um eine legislative Initiative. Vielmehr soll ein Pilot von freiwillig teilnehmenden Mitgliedstaaten – unter ihnen Deutschland – sowie freiwillig teilnehmenden Unternehmen entwickelt werden mit dem Ziel, die Einhaltung der Steuervorschriften durch die Steuerpflichtigen auf der Grundlage von mehr Zusammenarbeit, Vertrauen und Transparenz zwischen Steuerpflichtigen und Steuerverwaltungen sowie zwischen den Steuerverwaltungen zu erleichtern und zu fördern. Zugleich soll ein klarer, EU-weiter Rahmen für einen präventiven Dialog zwischen Steuerverwaltungen und Steuerpflichtigen geschaffen werden, um die Steuerverwaltungen die Lage zu versetzen, eine adäquate Risikobewertung der Verrechnungspreispolitik großer multinationaler Unternehmen durchführen. Daneben arbeitet die EU-Kommission offensichtlich auch noch an einem Ansatz speziell für KMU. Dieser sog. Cross-Border Dialogue (CBD) soll nach finnischem Vorbild Fragen der Gewinnzuordnung zu Betriebsstätten, Verrechnungspreissachverhalte oder grenzüberschreitende Verluste behandeln.32

c) Joint Audits Seit einiger Zeit gibt es auf der Ebene der OECD zudem Arbeiten zu Gemeinsamen Betriebsprüfungen, den sog. Joint Audits. Zuletzt wurde im Jahre 2019 ein umfassender Bericht vorgelegt.33 Joint Audits unterscheiden sich von den bloß gleichzeitigen Prüfungen nach § 12 EUAHiG, bei der die beteiligten Finanzbehörden im eigenen Hoheitsgebiet jeweils eigenständige Steuerprüfungen mit zeitnahem Informationsaustausch durchführen, dadurch dass bei den Joint Audits wirklich gemeinsame Prüfungen vorgenommen werden. Auf europäischer Ebene wurde für die gemeinsamen Betriebsprüfungen durch die sog. DAC-7-Richtlinie in

31 Europäische Kommission, Guidelines European Trust and Cooperation Approach (ETACA), 2021. Dazu etwa Russo u.a., BIT 2022, 85. 32 Dazu Greil, IStR 2022, 309. 33 OECD Forum on Tax Administration, Joint Audit 2019 – Enhancing Tax Cooperation and Improving Tax Certainty, 2019. Für einen Überblick über die umfassende Literatur s. etwa Criclivaia, World Tax Journal 2020, 663.

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Art. 12a der Amtshilferichtlinie auch für die direkten Steuern34 ein gemeinsamer rechtlicher Rahmen geschaffen.35 Die bis zum 1.1.2024 umzusetzende Richtlinie definiert den Ausdruck als behördliche Ermittlungen, die gemeinsam von den zuständigen Behörden von zwei oder mehr Mitgliedstaaten und in Bezug auf eine oder mehrere Personen von gemeinsamem oder ergänzendem Interesse für die zuständigen Behörden dieser Mitgliedstaaten durchgeführt werden.36 Die Behörden haben sich dabei im Sinne einer Verdopplung der Anforderungen sowohl an die Vorgaben des eigenen Rechts als auch die der Jurisdiktion, in der die Joint Audits stattfinden, zu halten. Einer Zustimmung des Steuerpflichtigen bedarf es hingegen nicht.37

d) Neue Instrumente der Rechtssicherheit nach Pillar One Im Bereich der Streitvermeidung sind schließlich die Tax-Certainty-Instrumente nach Pillar One zu nennen, die sich derzeit in der Entwicklungsphase befinden. Im Mai 2022 hat die OECD dazu eine öffentliche Konsultation gestartet. Im Einzelnen geht es um drei Maßnahmen, –

nämlich erstens ein Scope Certainty Review, um einer Out-of-ScopeGruppe die Gewissheit zu geben, dass sie für einen bestimmten Zeitraum nicht in den Geltungsbereich der Vorschriften für Betrag A fällt. Dadurch wird für sie das Risiko einseitiger Maßnahmen zur Einhaltung der Vorschriften beseitigt.



Zweitens ein Advance Certainty Review, um Gewissheit über die Methodik einer Gruppe für die Anwendung bestimmter Aspekte der neuen Regeln zu gewinnen, die für Betrag A spezifisch sind und für eine Reihe zukünftiger Zeiträume gelten werden.



Schließlich drittens eine umfassende Sicherheitsüberprüfung (Comprehensive Certainty Review), um einer in den Geltungsbereich fallenden Gruppe verbindliche multilaterale Gewissheit über die Anwendung aller Aspekte der neuen Regeln für einen bereits abgelaufe-

34 Für indirekte Steuern s. Art. 7 Abs. 4a und Art. 28 Abs. 2a Verordnung des Rates (EU) Nr. 904/2010 (eingefügt durch Art. 1 Nr. 1 lit. b, Nr. 8 lit. a Verordnung (EU) 2018/1541) und Art. 12 Verordnung (EU) Nr. 389/2012. 35 Richtlinie (EU) 2021/514 des Rates v. 22.3.2021 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung, ABl. Nr. L 104 v. 25.3.2021, S. 1–26. 36 S. den neu eingefügten Art. 3 Abs. 26 Richtlinie 2011/16/EU. 37 So zum neuen Recht Cicin-Sˇain/Englisch, Intertax 2022, 7, 13. Ebenso bereits zum alten Recht FG Köln v. 12.9.2018 – 2 K 814/18 Rz. 79.

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nen Zeitraum zu geben, aufbauend auf den Ergebnissen der für den Zeitraum geltenden Advance Certainty. Dieser vorgeschlagene Mechanismus stellt letztlich eine Kombination aus verbindlichen Auskünften und zeitnaher für die beteiligten Staaten verbindlicher Ex post-Würdigung dar und ist, wenn er denn so kommt, verbindlich. Er ist zu unterscheiden von Streitbeilegung nach Pillar One, die in einem gesonderten Konsultationsinstrument abgefragt wird.

3. Gemeinsame Grundsatzfragen Wenngleich es im Ausgangspunkt zu begrüßen ist, wenn die Befolgungskosten der Steuerpflichtigen und deren Interesse an zumindest statistischer Klarheit über ihre Besteuerung in den Blick genommen werden, bringt doch die Vielzahl von Regeln im grenzüberschreitenden Kontext erhebliche Unsicherheiten mit sich. Gerade bei den nichtbindenden Instrumenten stellen sich dabei zahlreiche gemeinsame Grundsatzfragen. Dies betrifft zunächst die Freiwilligkeit: Die Instrumente sind für die Steuerpflichtigen grundsätzlich freiwillig. Das macht sie auf den ersten Blick für die Steuerpflichtigen vorteilhaft – ein Angebot ist bekanntermaßen im Grundsatz lediglich rechtlich vorteilhaft. Sie erscheinen pragmatisch vernünftig, da sie es den Steuerpflichtigen ermöglichen, schnell ein höheres Maß an Tax Certainty zu erreichen. Dieses Maß bleibt zwar hinter einer gerichtlichen Klärung zurück, es wird dafür aber deutlich schneller erreicht. Im globalen Wettbewerb könnte sich eine Verweigerung, solche informellen Instrumente anzubieten, in einer schnelllebiger werdenden Wirtschaft negativ auf die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts auswirken. Allerdings stellt sich die Gefahr einer unfreiwilligen Freiwilligkeit – im Moment ist er Zugang zwar freiwillig, es erscheint aber nicht ausgeschlossen, dass ein Selbstselektionsmechanismus greift, dass viele rechtschaffende Steuerpflichtige Unternehmen sich an den Instrumenten beteiligen. Dann könnte über die Risikoalgorithmen direkter oder indirekter Druck entstehen, dass bei Nichtbeteiligung die Prüfungsintensität deutlich zunimmt. Weitere Bedenken entstehen daraus, dass die Verfahren – wie ja auch die OECD – exekutivisch geprägt sind: Hier gilt es die gerichtliche Kontrollintensität zu justieren. Was ist die Rechtsstellung des Steuerpflichtigen in den Verfahren? Der Steuerpflichtige ist nicht immer Partei des Verfahrens und die bisherige proaktive Stellung des Steuerpflichtigen aus den Joint Audits findet sich beispielsweise in Art. 12a Amtshilferichtlinie nicht mehr. Auch ist die Frage zu beantworten, welcher Rechts-

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schutz den Steuerpflichtigen offensteht, und zwar insbesondere mit Blick auf die Garantie auf effektiven Rechtsschutz gegen Exekutivakte und auf den Schutz gegen die Sammlung und Verwendung ihn betreffender Daten.38 Zwar ist der Rechtsschutz nicht an das Bestehen eines Verwaltungsaktes gebunden; das Vorliegen eines Verwaltungsaktes erleichtert diesen aber erheblich. Im Bereich der Joint Audits gibt es bereits ausführliche Überlegungen; es stellt sich insbesondere die Frage nach der Übertragbarkeit der Berlioz-Rechtsprechung des EuGH.39 Aus der exekutivischen Prägung von Streitvermeidungsverfahren ergibt sich zugleich eine gewisse Konkurrenz zur gerichtlichen Streitbeilegung, und damit eine Konkurrenz zwischen den Gewalten, die zu sinkenden Fallzahlen vor Gericht führt. Zudem unterbleibt die Produktion eines öffentlichen Gutes – die Rechtskonkretisierung über den entschiedenen Fall hinaus, wenn die Entscheidungen nicht veröffentlicht werden. Eine solche Veröffentlichung würde aber eine zumeist nicht bestehende Rechtsgrundlage erfordern.40 Ferner ist gerade aus Sicht von Entwicklungsländern zu bedenken, dass informelle Verfahren stärker anfällig für Korruption oder weitergehend für die den Steuerpflichtigen günstige Berücksichtigung sachwidriger Erwägungen erscheinen, die über Konkurrentenklagen nur eingeschränkt vor Gericht gebracht werden können. Die starke Stellung der Exekutive, gerade bei eingeschränkter Transparenz, ist daher nur in Staaten mit stabiler Finanzverwaltung erträglich. Als Kollateralschaden könnte sich paradoxerweise eine restriktivere Haltung für den informellen Austausch zwischen Steuerpflichtigen und Finanzverwaltung durchsetzen, was dann den Informiertheitsgrad der Finanzverwaltung über die Unternehmenspraxis und ihre Probleme reduzieren könnte. Im Zusammenhang mit dem Rechtsschutz sind gerade bei bilateralen und multilateralen Verfahren die zumeist nationalen Rechtsschutzmög38 Dazu im Kontext der Joint Audits Cicin-Sˇain/Englisch, Intertax 2022, 7, 19 ff. 39 Zutreffend für ein Abwehrrecht aus Art. 17 der Amtshilferichtlinie CicinSˇain/Englisch, Intertax 2022, 7, 16 f. 40 Das Erfordernis einer solchen Rechtsgrundlage befürwortet Europäische Kommission, Commission Staff Working Document on the application of Council Directive (EU) no 2011/16/EU on administrative cooperation in the field of direct taxation Accompanying the document Report from the Commission to the European Parliament and the Council on the application of Council Directive (EU) no 2011/16/EU on administrative cooperation in the field of direct taxation, SWD/2017/0462 final (18 Dec. 2017), at 11.

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lichkeiten zu bedenken: Wenn zwischenstaatliche Einigungen erreicht werden, aber Inhalte für eine Behörde abgeändert werden können, begründet dies Gefahren für den Bestand der Einigung als ganzer. Besser wäre daher eine international einheitliche Überprüfung. Jenseits dessen sind Zugang und Beendigung zu berücksichtigen. Die Instrumente sind grundsätzlich auf größere Unternehmen zugeschnitten. Solche Programme de facto aber nicht nur für große Steuerpflichtige anzubieten, ist eine Gerechtigkeitsfrage. So schlagen denn die Verrechnungspreisrichtlinien der OECD in Ziff. 4.174 einen komprimierten Prozess für kleinere Steuerpflichtige vor. Zudem stehen Zugang und Beendigung im Ermessen der Finanzbehörden, und dieses Ermessen ist weit. Das Ermessen ist selbstverständlich pflichtgemäß auszuüben. Dem entspricht es, wenn die OECD für das ICAP die Installierung eines unternehmensinternen sog. Tax Control Framework fordert. Ganz allgemein stellen sich hier aber Fragen von Begründungsanforderungen und von gerichtlicher Überprüfung. So hat der Steuerpflichtige nach der derzeitigen Fassung der Amtshilferichtlinie kein unionsrechtliches Recht darauf, dass ein Ersuchen an den anderen Staat auf Durchführung eines Joint Audits gerichtet wird.41 In Betracht kommt hier allenfalls ein innerstaatliches subjektives Recht auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens. Zudem verfügen Finanzbehörden über beschränkte Ressourcen. Deren Einsatz muss sachgerecht sein, und zwar insbesondere dort, wo es um besonders komplexe Materien geht. Es ist eine systematische Evaluation von Programmen zu fordern.42 Zudem sind Digitalisierungsvorteile zu nutzen. Hilfreich wären hier eine weitgehende Digitalisierung der Prozesse und insbesondere gemeinsame internationale Datenformate, die nicht nur den Aufwand für die Steuerpflichtigen verringern, sondern auch den Austausch der Finanzverwaltungen verbessern würden. Zugleich ist hier aber auf einen Schutz unternehmensbezogener und personenbezogener Daten des Steuerpflichtigen zu achten.

4. Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis lässt sich daher festhalten: Im Bereich der internationalen Streitbewältigung ist eine Verschiebung zwischen Steuer41 Zutreffend Cicin-Sˇain/Englisch, Intertax 2022, 7, 14. 42 Eine gewisse Skepsis gegenüber der Evaluation findet sich aber bei Cannas/ Wauters, European Taxation 2019, 561.

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recht einerseits und Verwaltungswissenschaften sowie Betriebswirtschaftslehre andererseits zu sehen. Auch wenn der Prozess auf deutscher Seite noch vielfach von Juristen getragen wird, verlässt er doch die steuerjuristische Komfortzone. Es ist eine Abkehr zu beobachten von rechtlicher Bindung hin zu einer Erhöhung graduell verstandener Tax Certainty durch informelle Instrumente wie comfort letters und durch eine starke Prozessorientierung. Gerade die deutsche Dogmatik tut sich damit nicht immer leicht, weil sie auf hohes Maß an (formeller) Rechtssicherheit ausgerichtet ist.

IV. Streitbeilegung Im Rahmen der internationalen Streitbeilegung koexistieren – neben weiteren Vorschlägen, etwa die Schaffung eines Ombudsmans43 oder die Einführung von Mediation44 – heute im Wesentlichen zwei verschiedene Modelle, nämlich zunächst die hergebrachte Situation, dass die Streitbeilegung im Rahmen eines Verständigungsverfahrens versucht wird. Diese Verständigungsverfahren stehen neben den innerstaatlichen Rechtsbehelfen. Sie haben ihre Wurzeln im Recht auf konsularischen Schutz. So wie im 19. Jahrhundert zum Schutz der eigenen Staatsbürger Kanonenboote geschickt wurden, wurde im Steuerbereich seit dem OECD-Musterabkommen 1963 eine Lösung über zwischenstaatliche Verhandlungen gesucht. Diese Verständigungsverfahren haben aber strukturelle Schwächen, und so wurde durch das Update 2007 als Ergänzung der Verständigungsverfahren eine Schiedsklausel in das Musterabkommen aufgenommen. Die Schiedsverfahren sind Teil des Verständigungsverfahrens, so dass der Steuerpflichtige nicht Partei des Verfahrens ist. Sie sichern aber immerhin, dass eine Lösung gefunden wird, die die Staaten dann völkerrechtlich umzusetzen verpflichtet sind. Diese Verfahren beschränken sich grundsätzlich auf Abkommensstreitigkeiten, so dass etwa Streitigkeiten über die Auslegung von für international korrespondierende Besteuerung heranzuziehenden innerstaatlichen Normen nicht erfasst werden. 43 Perrou, World Tax Journal 2018, 103. 44 Dazu Gröper, Can Mediation Improve (the Efficiency of) the MAP?, in Pistone/de Goede (Hrsg.), Flexible multi-tier dispute resolution in international tax disputes, 2021, S. 169 ff.; Nias, Alternative dispute resolution through mediation, in Haslehner u.a. (Hrsg.), Alternative Dispute Resolution and Tax Disputes, 2023, S.; 187 ff.; Perrou, Using Mediation for the Resolution of Cross-Border Tax Disputes, a.a.O., S. 197 ff.

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Mit der Einführung von Schiedsverfahren sind aber noch nicht alle Probleme gelöst. Vielmehr ist das Nebeneinander von verschiedenen Streitbeilegungsverfahren, also die Forenproliferation, zu bewältigen, was durch Dogmatik möglich erscheint (1.). Weitergehend stellen sich ganz grundsätzliche Fragen wegen der Achmea-Rechtsprechungslinie des EuGH, der durch die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung begründeten Bindung an innerstaatliche höchstrichterliche Rechtsprechung und schließlich der Herausforderungen durch die Abbildung multilateraler Konstellationen. Als Antwort erscheint eine stärkere Gerichtsförmigkeit der Schiedsverfahren geboten (2.). Schließlich bestehen Sonderprobleme mit Blick auf die Behandlung von treaty overrides nach der Streitbeilegungsrichtlinie sowie auf die Schiedsverfahren nach den Investitionsschutzabkommen (3.).

1. Forenproliferation Die Dominanz zweier Modelle bedeutet allerdings nicht, dass es auch nur zwei Foren gäbe: Vielmehr war das vergangene Jahrzehnt gekennzeichnet durch eine erhebliche Ausweitung der Rechtsgrundlagen für Schiedsverfahren. Neben die fortbestehende völkerrechtliche Schiedskonvention traten DBA-Schiedsklauseln und vor allem dann die nationalen Umsetzungen der EU-Streitbeilegungsrichtlinie. Ein weiteres Streitbeilegungsverfahren hat die OECD jüngst zur Diskussion gestellt im Rahmen des Amount A von Pillar One.45 Hier bestehen, nicht zuletzt, da ganz neue Konzepte entwickelt werden, erhebliche Unsicherheiten. Zur Beseitigung der Unsicherheiten schlägt die OECD ein Streitbeilegungsverfahren vor, das wiederum aus einer Kombination aus Verständigungsverfahren und Schiedsverfahren besteht. Das Streitbeilegungsverfahren ist inhaltlich eng begrenzt auf die Bestimmung des Amount A. Interessanterweise sieht der Diskussionsentwurf auch noch eine Subsidiarität vor. All diesen Verfahren ist gemeinsam, dass ein zweistufiger Ansatz zugrunde gelegt wird, die Schiedsverfahren aber als Ergänzung der Verständigungsverfahren gedacht werden. Aus dem Nebeneinander der Foren droht eine Vervielfältigung der Verfahren, was angesichts der Verfahrenskosten und der knappen einschlägigen Ressourcen der Finanzverwaltung nicht unbedenklich wäre. Im 45 OECD, Pillar One – Tax Certainty for Issues related to Amount A, Public consultation 27 May – 10 June 2022, 2022; s. nunmehr auch OECD, Progress Report on the Administration and Tax Certainty Aspects of Pillar One, Public consultation 6 October – 11 November 2022, 2022, S. 154 ff.

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schlimmsten Fall kann es sogar zu widersprüchlichen Ergebnissen kommen. Der Steuerpflichtige könnte etwa seine Zustimmung zur Umsetzung der Verständigungsvereinbarung oder des Schiedsspruchs verweigern. Geht man davon aus, dass dann die Verständigungsvereinbarung hinfällig ist, könnte er ein neues Verfahren in Gang setzen. Dem lässt sich aber in gewissem Maße entgegentreten, wenn man nicht die Verständigungsvereinbarung (und damit gegebenenfalls auch den Schiedsspruch) auflösend bedingt konstruiert, so dass sie bei fehlender Zustimmung des Steuerpflichtigen entfällt, sondern nur die Verpflichtung zur Umsetzung der Verständigungsvereinbarung unter den Vorbehalt der Zustimmung stellt. Der Steuerpflichtige hätte dann die Wahl zwischen den verschiedenen Foren; hat er sie aber einmal getroffen und führt das Verfahren zu einer bindenden Entscheidung, wären die anderen Foren wegen der bestehenden zwischenstaatlichen Einigung versperrt.46

2. Grundsatzfragen Jenseits dessen bestehen drei wesentliche Probleme, nämlich erstens Unsicherheiten mit Blick auf die Achmea-Rechtsprechungslinie des EuGH, zweitens die durch die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung begründete Bindung an innerstaatliche höchstrichterliche Rechtsprechung und drittens die Abbildung multilateraler Konstellationen.47 Zunächst gibt es gewisse Zweifel an der Unionsrechtskonformität von Schiedsklauseln in DBA. Hintergrund ist die Entscheidung der Großen Kammer des EuGH in der Rechtssache Achmea.48 Der EuGH sah in der Schiedsklausel des Bilateralen Investitionsschutzabkommens zwischen den Niederlanden und der Slowakischen Republik einen Verstoß gegen Art. 344, 267 AEUV. Da ein Schiedsgericht nach den Abkommen nicht als Gericht der Mitgliedstaaten angesehen werden könne, sei es nicht nach Art. 267 AEUV vorlageberechtigt. Da im Rahmen von Investitionsschutzabkommen das Unionsrecht ausgelegt werden könnte, drohe, dass ohne Vorlage an den EuGH endgültig über Unionsrecht entschieden werde. Soweit die Schiedsgerichte nach DBA durch Vertreter der Mit-

46 Ebenso Ismer/Piotrowski in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Art. 25 Rz. 123 und 338 f. 47 Vgl. dazu auch Ismer/Piotrowski, IStR 2019, 845. 48 EuGH v. 6.3.2018 – C-284/16, ECLI:EU:C:2018:158 – Achmea.

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gliedstaaten dominiert sind, dürften sich ähnliche Fragen auch für solche Schiedsgerichte stellen.49 Eine zweite gravierende Herausforderung ergibt sich aus der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.50 Die Verständigungsverfahren – und damit auch die Schiedsverfahren, die Teil des Verständigungsverfahrens sind – werden von der Exekutive geführt. Die Exekutive ist aber als Ausprägung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung an die Entscheidung von (innerstaatlichen) Gerichten gebunden. Dementsprechend dürften an sich die Behördenvertreter im Verständigungsverfahren gar nicht von der innerstaatlichen Rechtsprechung abweichen mit der Konsequenz, dass die Fälle kollidierender Gerichtsentscheidungen in den Vertragsstaaten nicht aufgelöst werden könnten. Eine Abweichung wäre aber unbedenklich, wenn das Schiedsgericht selbst einen Gerichtsstatus bekäme. Ein drittes Problem schließlich besteht mit Blick auf die Abbildung multilateraler Konstellationen. Zwar sind multilaterale Verständigungsverfahren denkbar und auch in der Praxis, etwa bei den multilateralen APA, umgesetzt. Da solche Verfahren die Einigung aller beteiligten Staaten erfordern, ergeben sich daraus keine übermäßigen Einschränkungen der Souveränität der Staaten. Anders sieht dies aber aus, wenn eine verbindliche Streitentscheidung durch Dritte in Form eines Schiedsgerichts vorgesehen wird. Hier können sich, gerade wenn das Verfahren durch Parteiautonomie geprägt wird, Koalitionen einer Mehrheit von Staaten bilden, die zu Lasten einer Minderheit agiert. Während im Zweiparteienschiedsverfahren zumeist die Stimmen der neutralen Schiedsrichter entscheiden, wenn sich die Staaten nicht einig sind, ist dies daher bei Mehrparteienschiedsverfahren nicht mehr zwingend der Fall. Die Mehrheitsentscheidungen können sich vielmehr aus der Mehrheit der Staatenvertreter ergeben.

49 Dazu vgl. Groen, Sovereignty and tax treaty dispute settlement: The types of tax treaty disputes and the desirable level of judicialization of the settlement procedure from a sovereignty perspective, 2022, abrufbar unter https://pure. uva.nl/ws/files/99593260/Thesis.pdf, S. 52 ff.; Monsenego, Intertax 2019, 765; Perrou, Intertax 2019, 715, 720 ff.; Piotrowski/Ismer u.a., Intertax 2019, 678, 684. Für eine Unbedenklichkeit zumindest der EU-Streitbeilegungsrichtlinie aber Voje, Intertax 2020, 157, 166. 50 Dazu Ismer/Piotrowski, IStR 2019, 845 ff.; Ismer/Piotrowski in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Art. 25 Rz. 89 ff.

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Vor diesem Hintergrund ist eine stärkere Gerichtsförmigkeit der Schiedsverfahren geboten.51 Damit werden Fälle von abkommenswidriger Besteuerung und insbesondere Doppelbesteuerungen vermieden. Zugleich werden die Probleme mit Blick auf die Achmea-Rechtsprechung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und die Abbildung multilateraler Streitigkeiten vermieden. Die Arbeiten der Europäischen Kommission an einem Ständigen Ausschuss nach der Streitbeilegungsrichtlinie sind daher nachdrücklich zu begrüßen.

3. Sonderprobleme Schließlich bestehen bestimmte Sonderprobleme. Dies gilt zum einen mit Blick auf Treaty overrides und die EU-Streitbeilegungsrichtlinie und zum anderen mit Blick auf Investor-Staat-Schiedsgerichtsverfahren nach Investitionsschutzabkommen.

a) Treaty overrides und EU-Streitbeilegungsrichtlinie Ein innerstaatliches Gesetz kann anordnen, dass die in einem innerstaatlichen Gesetz angeordneten Steueransprüche nicht durch DBA beschränkt werden sollen. Eine solche Beschränkung des Anwendungsbefehls ist in Deutschland grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig.52 Allerdings bleibt der Verstoß gegen das Abkommensrecht. Für die Entscheidung im Rahmen der Streitbeilegungsrichtlinie ist grundsätzlich nur das jeweilige Doppelbesteuerungsabkommen zu beachten. Zwar sieht Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie auch das jeweils anwendbare nationale Recht als Entscheidungsmaßstab vor, es ist aber nicht davon auszugehen, dass damit auch treaty overrides anerkannt werden sollen. Damit kommt es im Anwendungsbereich der Richtlinie zu einem unionsrechtlichen Anwendungsvorrang der DBA, jedenfalls sobald eine entsprechende Entscheidung des Beratenden Ausschusses verbindlich geworden ist. Ob darüber hinaus durch den effet utile des Unionsrechts eine Erstreckung der Ergebnisse auf weitere Fälle möglich ist, erscheint derzeit noch nicht hinreichend geklärt. All dies bedeutet, dass durch die EU-

51 Dafür auch Ismer/Piotrowski, IStR 2019, 845 ff.; Perrou, Intertax 2019, 715, 720. 52 BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, IStR 2016, 191; dazu etwa Funke, DÖV 2016, 833; Hummel, IStR 2016, 335; Lehner, IStR 2016, 217. Zur vorangegangenen Diskussion s. etwa Vogel, JZ 1997, 161; Lehner, IStR 2012, 389; Rust/ Reimer, IStR 2005, 843; Ismer/Baur, IStR 2014, 421.

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Streitbeilegungsrichtlinie erhebliche Unsicherheiten mit Blick auf die Möglichkeit von treaty overrides entstehen.

b) Investor-Staat-Schiedsverfahren nach Investitionsschutzabkommen Neben den spezifisch steuerlichen Schiedsverfahren aufgrund von DBA, der Schiedskonvention und der Streitbeilegungsrichtlinie sowie den Verfahren nach Pillar One sind Schiedsverfahren zudem auch in Investitionsschutzabkommen vorgesehen. In der wissenschaftlichen Literatur werden die Implikationen dieser Abkommen unterschiedlich bewertet, je nach Gewichtung der Interessen der Steuerzahler bzw. des sorgfältig austarierten Systems der Doppelbesteuerungsabkommen.53 Aus Sicht des Steuerzahlers hat die Investitionsschiedsgerichtsbarkeit in der Tat mehrere Vorteile gegenüber der Streitbeilegung in Steuerabkommen:54 Der Steuerzahler hat insgesamt eine bessere Stellung. Insbesondere kann er selbst ein Verfahren im Rahmen der Streitbeilegungsmechanismen internationaler Investitionsabkommen einleiten. Zudem ist er Verfahrenspartei. Die Schiedsgerichtsbarkeit im Rahmen internationaler Investitionsabkommen kann zudem wie die Schiedsgerichtsbarkeit in Handelssachen die inländischen Gerichte vollständig ersetzen. Dies stellt in Ländern, in denen die Unabhängigkeit der Steuerbehörden und der Justiz in Frage steht, einen erheblichen Vorteil dar. Schiedssprüche aus solchen Schiedsverfahren können zudem problemlos nach dem New Yorker Übereinkommen vollstreckt werden. Schiedssprüche aus Steuerabkommen erfordern hingegen zumindest in dualistischen Systemen eine Art Umsetzung in die innerstaatlichen Steuerrechtsverhältnisse durch die Steuerbehörden. Dem stehen aber erheblichen Nachteile gegenüber:55 Bedenken ergeben sich zunächst aus den finanziellen Interessen, die bei den Investor-StaatSchiedsverfahren mit der Entscheidungsfindung verbunden sind. Zudem sind Schiedsrichter nicht unbedingt Fachleute für Steuerrecht. Sie brauchen sich ihren Entscheidungen nicht einmal auf die nationale Rechtsprechung oder die Ergebnisse von Verständigungsverfahren zu beziehen. Die Schiedssprüche könnten daher völlig losgelöst von der nationalen 53 Vgl. dazu und zum Folgenden Ismer/Piotrowski, Intertax 2016, 348, 357 m.w.N. 54 Dazu Ismer/Piotrowski, Intertax 2016, 348, 357 m.w.N. 55 Ismer/Piotrowski, Intertax 2016, 348, 358 m.w.N.

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Rechtsprechung und Praxis oder dem Ergebnis von Verständigungsverfahren sein. Dies kann sich negativ auf die Steuergerechtigkeit des jeweiligen nationalen Steuersystems auswirken. Zudem bestehen gravierende Einwände, die sich aus der Struktur von Streitigkeiten im Zusammenhang mit Steuerabkommen ergeben: Anders als Verständigungsverfahren, die die steuerrechtlichen Beziehungen zwischen dem Steuerpflichtigen und den Vertragsstaaten umfassend koordinieren können, wirken sich Klagen im Rahmen der Investor-Staat-Schiedsgerichtsbarkeit nach internationalen Investitionsabkommen nur punktuell auf das Steuerrechtsverhältnis zwischen dem Investor und dem jeweiligen Vertragsstaat aus. Der Schiedsspruch kann damit zu einer doppelten Nichtbesteuerung führen. Mit anderen Worten: Die starke Position des Steuerpflichtigen kann zu Lasten der ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsrechte in den Steuerabkommen gehen.56 Als Zwischenergebnis lässt sich daher festhalten, dass Schiedsverfahren zwischen Investoren und Staaten auf Grundlage von Investitionsschutzabkommen die Gefahr von Forenproliferation verdeutlichen. Soweit die Abkommen nicht ohnehin beendet worden oder wegen der AchmeaRechtsprechung des EuGH unanwendbar sind, sollten jedenfalls Klarstellungen aufgenommen werden, dass diese Schiedsverfahren nicht auf DBA-Streitigkeiten Anwendung finden.

V. Zusammenfassung und Ausblick Im Bereich der internationalen Streitbewältigung sehen wir eine Verschiebung zwischen Steuerrecht einerseits und Verwaltungswissenschaften sowie Betriebswirtschaftslehre andererseits. Auch wenn der Prozess auf deutscher Seite noch vielfach von Juristen getragen wird, verlassen wir doch die steuerjuristische Komfortzone. Wir sehen eine Proliferation der Dokumente sowie eine starke Prozessorientierung. Die eingangs angesprochene Schaffung einer Vielzahl neuer materieller Besteuerungsregeln beschwört die Gefahr exzessiver Komplexität hinauf. Trotz des wertvollen Beitrags von Streitvermeidung und Streitbeilegung ist der Glaube fehlgeleitet, die Probleme ließen sich allein durch Verbesserungen in diesem Bereich lösen. Vielmehr bedarf es weitestmöglicher Komplexitätsreduktion bei der Schaffung neuer Normen und Mechanismen zur – idealerweise: verbindlichen – Rechtskonkretisierung. Wir sollten

56 Dazu und zum Vorstehenden Ismer/Piotrowski, Intertax 2016, 348.

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die hergebrachte Anforderung der Rechtssicherheit nicht leichtfertig für das Versprechen von Tax Certainty hingeben.

VI. Thesen These 1: Das internationale Steuerrecht kennzeichnet sich in den letzten Jahren durch drei maßgebliche Entwicklungen: 1. Die erste Entwicklung besteht in der Komplexitätserhöhung des Steuerrechts, die sich aus dem Zusammenspiel von Globalisierung des Wirtschaftens einerseits und der Fortführung weitgehend nationaler oder regional begrenzter supranationaler Steuersysteme ergab. 2. Als zweite Entwicklung lässt sich dann die Ausnutzung von Gestaltungsmöglichkeiten zur Steuerplanung und als Reaktion darauf die Schaffung eines Problems durch Vielzahl zunächst unbestimmter unilateraler Abwehrinstrumente und später zunehmend koordinierter Instrumente benennen. 3. Als Reaktion wurde drittens eine Vielzahl von unilateralen, bilateralen und multilateralen Instrumenten und Foren zur Streitvermeidung und Streitvermeidung geschaffen. Der Akzent verschiebt sich dabei in der letzten Zeit auf die Streitvermeidung. These 2: Internationale Steuerstreitigkeiten lassen sich danach einteilen, –

wer Partei des Verfahrens ist (Ist der Steuerpflichtige Partei oder handelt es sich um rein zwischenstaatliche Streitigkeiten?),



ob es sich um Streitigkeiten über Tatsachen oder Rechtsfragen handelt,



zu wessen Gunsten die Verfahren geführt werden.

These 3: Bei Streitigkeiten über Rechtsfragen bestehen gerade im Bereich der Doppelbesteuerungsabkommen Besonderheiten, denen bei der Gestaltung von Streitbewältigungsinstrumenten Rechnung zu tragen ist. These 4: Das Konzept von Tax Certainty ist anders als die Rechtssicherheit kein primär normatives, sondern zugleich auch ein empirisches. Derart verstanden, lässt sich vermehrte Tax Certainty daher auch durch nicht bindende Instrumente wie ICAP, ETACA, CBD und Joint Audits erreichen. Darin liegt aber, wie die Weiterverfolgung der APAs und die

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Vorschläge für neue Certainty Mechanisms nach Pillar One zeigen, kein vollständiger Abschied von rechtlich bindenden Instrumenten. These 5: Im Ausgangspunkt ist es zu begrüßen, wenn die Befolgungskosten der Steuerpflichtigen in den Blick genommen werden. Gerade im grenzüberschreitenden Kontext ist aber eine Vielzahl von Regeln geschaffen worden, die eine erhebliche Unsicherheit mit sich bringen. Gerade bei den nichtbindenden Instrumenten stellen sich zahlreiche gemeinsame Grundsatzfragen, insbesondere mit Blick auf die Freiwilligkeit. These 6: Im Bereich der internationalen Streitbewältigung ist eine Verschiebung zwischen Steuerrecht einerseits und Verwaltungswissenschaften sowie Betriebswirtschaftslehre andererseits zu beobachten. Wir sehen eine Abkehr von rechtlicher Bindung hin zu einer Erhöhung graduell verstandener Tax Certainty und eine starke Prozessorientierung. These 7: Bei den Schiedsverfahren als Ergänzung der Verständigungsverfahren bestehen – neben der durch Dogmatik lösbaren Forenproliferation – drei wesentliche Probleme: Unsicherheiten mit Blick auf die Achmea-Rechtsprechungslinie des EuGH, die durch die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung begründete Bindung an innerstaatliche höchstrichterliche Rechtsprechung und die Abbildung multilateraler Konstellationen. Mit Blick auf die Aufgabe, Fälle von abkommenswidriger Besteuerung und insbesondere Doppelbesteuerungen zu vermeiden, erscheint eine stärkere Gerichtsförmigkeit der Schiedsverfahren geboten. Die Arbeiten der Europäischen Kommission an einem Ständigen Ausschuss nach der Streitbeilegungsrichtlinie sind daher nachdrücklich zu begrüßen. These 8: Durch die EU-Streitbeilegungsrichtlinie entstehen erhebliche Unsicherheiten mit Blick auf die Möglichkeit von treaty overrides. These 9: Schiedsverfahren zwischen Investoren und Staaten auf Grundlage von Investitionsschutzabkommen verdeutlichen die Gefahr von Forenproliferation. Soweit die Abkommen nicht ohnehin beendet sind, sollten Klarstellungen vereinbart werden, dass sie nicht auf DBA-Streitigkeiten Anwendung finden. These 10: Die Schaffung einer Vielzahl neuer materieller Besteuerungsregeln beschwört die Gefahr exzessiver Komplexität hinauf. Trotz des wertvollen Beitrags von Streitvermeidung und Streitbeilegung ist der Glaube fehlgeleitet, die Probleme ließen sich allein durch Verbesserungen in diesem Bereich lösen. Vielmehr bedarf es weitestmöglicher Komplexitätsreduktion bei der Schaffung neuer Normen und Mechanismen zur – idealerweise: verbindlichen – Rechtskonkretisierung.

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Diskussion zu dem Referat von Prof. Dr. Roland Ismer Prof. Dr. Gregor Kirchhof, LL.M., Augsburg Lieber Roland, wir bedanken uns sehr herzlich für diese tiefgreifende Analyse der übernationalen Entwicklungen im Rahmen der Streitvermeidung und Streitbeilegung. Wir haben über die Vielfalt der Mechanismen, aber auch die Vielfalt der Methoden gehört. Weitere mögliche Stichworte für unsere Diskussion sind der Losentscheid und die Rolle des EuGH, der das letzte Wort beansprucht. Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff, München Erstmal vielen Dank für den wirklich sehr inspirierenden Vortrag. Ein Problem bewegt mich seit der Linzer Tagung, und zwar das Verhältnis zwischen Individuum auf der einen Seite, sprich Steuerpflichtigen, und Staaten auf der anderen Seite, weil gerade im grenzüberschreitenden Verkehr, auch bei den Verständigungsvereinbarungen, auch bei APA und Ähnlichem, die Staaten miteinander über die Köpfe des Steuerpflichtigen hinweg reden. Und da würde mich dogmatisch mal interessieren: Wie können wir dieses Problem bewältigen und in den Griff bekommen? Bei der Entwicklung der Pläne der OECD, wie Pillar I und II oder bei den Richtlinien der Europäischen Kommission besteht eine große Dominanz der Finanzverwaltung. Die Steuerpflichtigen werden gelegentlich gehört, ich würde nicht sagen wirklich beteiligt. Es handelt sich doch im Wesentlichen um Vereinbarungen der Finanzverwaltungen. Wäre da nicht einiges zu tun? Dr. Martin Vock, Wien Ich habe eine Frage zur These 4 von Prof. Ismer, die mich sehr beeindruckt hat. Prof. Ismer hat das Tax Certainty Concept quasi als Fremdkörper in unserem europäischen Rechtskreis dargestellt. So ist es mir vorgekommen. Deshalb wollte ich fragen, ob nicht dieses Problem, dieses Fremdkörperhafte, das wir hier besprochen haben, mit allen verfassungsrechtlichen Problemen, die daraus resultieren, eben daraus entsteht, dass das Konzept, die Idee eigentlich aus dem „Common Law“Gedankenbereich kommt und dass wir aber in Kontinentaleuropa diese Begleitumstände und das Rechtsverständnis und das Drumherum, das

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in dem anglo-amerikanischen Rechtsbereich besteht, hier nicht haben. Deswegen würde ich mal sagen, dass wir uns mit diesem Gesamtkonzept des Soft Law und der Tax Certainty derzeit noch ein bisschen schwer tun. Dr. Eva Oertel, München Ich darf mich ganz herzlich für die tollen Vorträge des heutigen Vormittags bedanken und freue mich persönlich ganz besonders, dass schon zweimal das ICAP-Verfahren angesprochen wurde. Es ist sicherlich eine Herausforderung – auch für die Steuerrechtswissenschaft –, dieses Verfahren in der nächsten Zeit rechtsdogmatisch einzuordnen. Ich will aber vielleicht einerseits versuchen, eine kleine Hilfestellung zu geben, und dann gerne eine Frage anschließen. Zum einen hatte ich so das Gefühl, dass sich noch nicht jeder mit dem Begriff der „Assurance“, der im ICAPProjekt zentral angelegt ist, so ganz wohlfühlt. Der „Assurance-Gedanke“ beschreibt eine Zusicherung, die noch keine endgültige, definitive Entscheidung ist der Finanzverwaltung ist. Der Sachverhalt wird aber von der Verwaltung voraussichtlich so, wie er vorläufig geprüft wurde, akzeptiert werden. Die Verwaltung wird ihn voraussichtlich nicht weiter aufbohren und auch Rechtsfragen nicht weiter kritisch hinterfragen. Ich möchte dazu in Erinnerung rufen, dass wir diesen Gedanken im geltenden Recht eigentlich schon kennen, und zwar im § 173 Abs. 2 AO, d.h. in dem Institut der erhöhten Bestandskraft. Dort finden wir die Regelung, dass im Anschluss an eine Betriebsprüfung der Steuerfall dem Grunde nach nicht mehr geprüft werden soll. Dieser Grundsatz kann lediglich dann durchbrochen werden, wenn ein einziges Momentum hinzutritt, nämlich der Verdacht auf Steuerhinterziehung. Wenn Erkenntnisse, die den Verdacht auf Steuerhinterziehung nahelegen, auftreten, dann kann eben auch trotz dieser bereits erfolgten – ich nenne es jetzt untechnisch „Vorprüfung“ durch die Betriebsprüfung – im Nachhinein der Steuerfall erneut aufgerissen werden. Nur dann erlaubt § 173 Abs. 2 AO, Steuerfestsetzungen erneut zu korrigieren. Und genau diese gleiche Idee ist dem Grunde nach dem Assurance-Projekt der OECD immanent, nur eben in einem wesentlich früheren Stadium. Die Verwaltung prüft im Rahmen des ICAP weniger intensiv als im Rahmen der Betriebsprüfung, dafür jedoch in einem wesentlich kooperativen Zusammenwirken mit dem Steuerpflichtigen. Ich glaube, wir könnten dieses Vorgehen mit geltenden Rechtsinstituten schon ganz gut einordnen. Zudem bekommen wir das Feedback aus der Wirtschaft, dass ICAP ein für Steuerpflichtige durchaus wertvolles Instrument ist. Der Steuerpflichtige kann

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einen gewissen Nutzen daraus ziehen, wenn ihm seitens der Finanzverwaltung „Assurance“ versichert wird. Deswegen ist meine Frage an das Panel oder an die Vortragenden des heutigen Tages, ob nicht aus dem Rechtsstaatsprinzip der Auftrag folgt, ein derartiges Rechtsinstitut zu entwickeln. Sollten wir nicht alle mit vereinten Kräften an diesen „Tax Certainty light“-Projekten, die nicht volle Rechtssicherheit, aber immerhin Assurance „bieten“, arbeiten? Wäre es in einem modernen Rechtsstaat nicht vielleicht geboten, solche Institute einzuführen und zu verbessern, so dass sie gerichtsfest kodifiziert sind, eventuell von Gerichten überprüfbar sind? Muss ein verlässlicher Rechtsstaat nicht alle möglichen Absicherungen – auch zugunsten des Steuerpflichtigen – anbieten und könnte er seinen Steuerpflichtigen damit eventuell stark entgegenkommen? Das wäre meine Frage. Vielen Dank. Prof. DDr. Gunter Mayr, Wien Da Frau Oertel jetzt ICAP direkt angesprochen hat, wir haben ja morgen ICAP am Programm. Ich finde das sehr spannend: In Österreich haben wir soeben ICAP in der Bundesabgabenordnung ausdrücklich verankert, also eine nationale Gesetzgebung für ICAP umgesetzt. Davor stellte sich die Frage nach der innerstaatlichen Rechtsgrundlage für ICAP. Auch wenn ICAP als internationales Pilotverfahren begann, sollten diese Piloten auch innerstaatlich landen. Die innerstaatliche rechtliche Einordnung von ICAP ist durchaus wichtig. Denn nach dem ICAP-Handbook soll eine Risikoeinstufung als gering mit der Zusage verbunden sein, dass die Finanzverwaltung diese Risken letztlich nicht mehr prüft. Dies hätte dann unmittelbare Auswirkung auf das nachgelagerte Verfahren und verlangt meines Erachtens einen klaren innerstaatlichen rechtlichen Rahmen. Prof. Dr. Roland Ismer, Erlangen-Nürnberg Vielen Dank für die tollen Fragen. Vielen Dank auch für deren Kürze, die es mir erlaubt, in unserem Zeitrahmen von 15 Minuten noch zu antworten. Zur Frage von Herrn Mellinghoff: In der Tat ist die Rechtsposition des Steuerpflichtigen die Achillesferse. Ursprünglich war das Verständigungsverfahren als rein zusätzliches Verfahren gedacht. Als Emanation des konsularischen Schutzes gab es neben der Anrufung der innerstaatlichen Gerichte die Möglichkeit, den Staat zu bitten, sich für seine Steuerpflichtigen auf internationaler Ebene einzusetzen. In den letzten Jahrzehnten und insbesondere in den letzten Jahren haben wir einen

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Bedeutungswandel dieser internationalen Verfahren gesehen. Wir sind in eine Position gekommen, dass die Diskrepanzen der Verständnisse der beiden Staaten zunehmend für international Steuerpflichtige zum Problem geworden sind, zumal auch mehr Steuerpflichtige international tätig geworden sind. Das historisch entwickelte Bild muss daher idealerweise geändert werden, und zwar unter Einbeziehung des Steuerpflichtigen. Eine erste Antwort habe ich in meinem Vortrag heute zu geben versucht: Ich denke, dass eine gerichtsförmige Ausgestaltung des Schiedsverfahrens zumindest eine Option gibt, bei der der Steuerpflichtige eben nicht strukturell benachteiligt ist gegenüber den Finanzverwaltungen. In der jetzigen Logik ist das Schiedsverfahren immer noch ein Schritt hin zu einer Verständigungsvereinbarung. Die Antwort auf die Frage, ob man irgendwann direkt zu einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit kommt, hängt vom Zeithorizont und dem Grad an Optimismus ab. Mein persönlicher Optimismus ist sehr groß, dass wir jedenfalls mit dem ständigen Ausschuss vorankommen – dessen Verfahren wird dann hoffentlich weniger durch Parteiautonomie geprägt und stärker verrechtlicht. Zur Frage von Herrn Vock nach kulturellen Unterschieden. Im jetzigen Stadium kann ich nur sagen: Ich weiß es nicht. Ich bin aber fest entschlossen, mehr zu wissen, und hoffe, dass ich international Kollegen begeistern kann, über diese Frage nachzudenken. Gemeinsam mit Ekkehart Reimer haben wir ein Seminarformat gehabt, wo wir internationale Kollegen eingeladen haben und dann ein Wochenende zusammengesperrt haben, bis wir Lösungen hatten von der FAO und Heidelberg-Universität und internationalen Kollegen. Mir schwebt vor, dass ich genau dieses Konzept mal in die Runde werfe, ob wir darüber nachdenken wollen. Dann hoffe ich, dass ich, wenn ich Sie das nächste Mal sehe, antworten kann. Zu Frau Oertel: Vielen Dank. Ich habe Zweifel an der Analogie zu § 173 Abs. 2 AO, denn das ist ja eine Norm, die eine Abwägungsentscheidung wiedergibt. Die Korrekturvorschriften sind gesetzgeberisch normiert als analogiefeindliche Abwägung zwischen Rechtsrichtigkeit und Rechtssicherheit. Der Gesetzgeber hat hier gesagt: Im Anschluss an die Außenprüfung haben wir eine erhöhte Bestandskraft. Damit knüpfen wir an einen extrem formalen Akt an. Da der Assurance gerade nicht notwendig ein vergleichbar formaler Akt zugrunde liegt, habe ich gewisse Zweifel, was die Tragfähigkeit der Analogie angeht. Allerdings sind wir, glaube ich, letztlich gar nicht so weit auseinander, was das Entweder-oder an-

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geht. Ob das Rechtsstaatsprinzip die Verfolgung genau von Assurance gebietet, weiß ich nicht genau. Dass das Rechtsstaatsprinzip aber jedenfalls den Schutz vor Überraschungen zumindest nahelegt, das glaube ich schon. Zudem sind wir ebenfalls beieinander, dass wir vor einer Frage stehen, wie wir das nationale Recht materielle Recht ausgestalten, damit es schon als Ausgangspunkt hinreichend Rechtssicherheit gewährleistet. Assurance ist gut und für die Steuerpflichtigen extrem willkommen. Es ist nicht ganz risikofrei, Rechtssicherheit aufzugeben und dafür Tax Certainty zu bekommen. Die Unternehmenspraxis und das freiwillige Mitmachen der Unternehmen zeigen aber, dass die Unternehmen sich davon Vorteile versprechen. Zur Frage von Gunter Mayr: Ich stimme Dir zu. Es bleibt trotzdem Assurance, da der Steuerpflichtige in Aussicht gestellt bekommt, dass er wahrscheinlich nicht geprüft wird. Die Frage ist dann, wie diese Aussicht rechtsförmig ausgestaltet, also in tradierte verwaltungsrechtliche Kategorien übersetzt werden kann. Vielleicht lässt sich eine Sollvorschrift annehmen oder ein erhöhter Begründungsaufwand der Behörde konstruieren? Ob das schon reicht? Denken wir nochmal drüber nach! Prof. Dr. Klaus-Dieter Drüen, München Eine Bemerkung zu Herrn Mayr und Frau Oertel: Ich denke, wir müssen etwas offener für den Entwicklungsprozess sein. Herr Mayr, Sie haben von Piloten gesprochen und wenn es um ihre verfahrensmäßige Implementierung geht, müssen wir m.E. toleranter sein und einen imperfekten Zwischenzustand hinnehmen, um die Fortschritte sodann mit unserem herkömmlichen Verständnis international anschlussfähig umsetzen zu können. Die Überlegung von Frau Oertel sehe ich – anders als Roland Ismer – nicht als analogiefeindlich an, sondern als Grundentscheidung im deutschen Verfahrensrecht. Wenn wir bei § 164 AO mit einer Steuerfestung unter dem Vorbehalt anfangen, ist aus traditioneller Sicht des BFH wegen der fehlenden abschließenden Prüfung des Steuerfalls überhaupt nichts vertrauensbildend. Am Ende der Verifikationstiefe steht der genannte § 173 Abs. 2 AO, wonach der Steuerpflichtige nach einer Intensivprüfung grundsätzlich darauf vertrauen darf, dass nichts mehr kommt. Nicht als Analogie, da stimme ich zu, aber dahinter steht der Grundgedanke für die Abwägung, ob der Steuerpflichtige erwarten musste, ob und wie tief die Finanzverwaltung in den Steuerfall noch einsteigen wird. Das verbinde ich mit dem heutigen Morgen, wo insbesondere bei Herrn Valta, aber noch pointierter bei Roman Seer die

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Steuervollzugslasten Dritter bei der Lohnsteuer und bei der Umsatzsteuer angesprochen worden sind. Sicherlich lässt sich darüber streiten, ob nicht verfassungsrechtlich vertrauensbildende und -schützende Instrumente, wie eine unentgeltliche Vorabauskunft, vorgegeben sind. Dafür hat sich Roman Seer eingesetzt. Soweit sie fehlen, ist dies, ich meine, beim Vertrauensschutz zu berücksichtigen. Denn wenn der Staat den Steuervollzug selbst durchführen würde, würde er sich auch daran halten, wie er die Rechtslage in dem Zeitpunkt seiner Handlung gesehen hat. Die seinerzeitigen Verwaltungsanweisungen wären der Maßstab für die Handlungsrichtigkeit und die Möglichkeit einer späteren rückwirkenden Änderung von Verwaltungsvorschriften wäre ausgeschlossen. Gegenüber dem Steuerpflichtigen wird aber zugelassen, dass Verwaltungsvorschriften geändert werden, und wenn der Fall unter § 164 AO steht, kann alles rückwirkend im Sinne der neuen Verwaltungsvorschriften angepasst werden. Mein Petitum ist darum, ein lernendes Recht anzuerkennen und eine Lernkurve hinzunehmen. Entscheidend ist es, auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem der Steuerpflichtige agiert. Nicht alle Verfahren, die „offen“ sind, dürfen nach der späteren, besseren Erkenntnis wieder erneut aufgerollt werden. Gerade die Umsatzsteuer und die Lohnsteuer zeigen, wenn der Staat den Steuervollzug nicht delegiert hätte und ihn selber ausführen würde, würde er sich an die Maßstäbe im Handlungszeitpunkt halten und nicht aus dem viele Jahre später liegenden Kontrollzeitpunkt. Wir haben über die Festsetzungsverjährung bei der Außenprüfung schon gesprochen, da können Jahrzehnte zwischen liegen. In der Vorlesung nenne ich als Beispiel gerne den Fall einer BFHEntscheidung aus dem Jahre 2009. Es ging um die Umsatzsteuer des Jahres 1984, also um die Beurteilung 25 Jahre später. Streitig war die Hemmung der Verjährung im Rahmen der Außenprüfung nach § 171 Abs. 4 Satz 3 AO und die Sache wurde vom BFH an das FG Köln zurückverwiesen, um aufzuklären, wann letzte Ermittlungshandlungen stattgefunden haben.1 Danach bestimmt sich der Hemmungszeitraum und die weitere Anwendbarkeit von § 164 AO. Alles wäre offen und änderbar, obwohl sich das Umsatzsteuerrecht in 25 Jahren durch Rechtsprechung und Verwaltungsanweisungen grundlegend fortentwickelt hat. Ich meine, wir müssen den Gedanken des lernenden Rechts in die gebotene Vertrauensschutzüberlegung mit einbeziehen. Dass man hinterher alles anders sehen kann, darf m.E. nicht dazu führen, dass alles rückwirkend „auf-

1 BFH v. 8.7.2009 – XI R 64/07, BStBl. II 2010, 4.

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Diskussion – zu Ismer

gebohrt“ werden kann. Insoweit muss es Grenzen und Vertrauensschutz geben. Prof. Dr. Roland Ismer, Erlangen-Nürnberg Ich bin sehr weitgehend einverstanden. Ich würde trotzdem noch einmal betonen wollen, dass § 173 Abs. 2 AO eine spezifische Stellung im Gesetz hat. Die Vorschrift kombiniert gleich zwei formale Akte, nämlich die Außenprüfung und den bereits ergangenen Steuerbescheid. Diese Formenstrenge verbietet natürlich nicht, über Alternativen nachzudenken. Wir sollten aber nicht leichtfertig den Nutzen der Formenstrenge hingeben, ohne eine adäquate Kompensation zu erhalten.

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Tranzparenz und Publizität im Steuerstreit aus rechtsdogmatischer und rechtsvergleichender Perspektive Privatdozentin Dr. Caroline Heber, MTax (Sydney) Max-Planck-Institut für Steuerrecht und öffentliche Finanzen, München

I. Begriffsfindung II. Problemaufriss 1. Recht auf Akteneinsicht 2. Auskunftsanspruch eines Konkurrenten zur Vorbereitung einer Konkurrentenklage 3. Öffentliches Country by Country Reporting III. Das Steuergeheimnis als Wertentscheidung

1. Saalöffentlichkeit 2. Öffentlichkeit im Steuerstreit 3. Pflicht zur Veröffentlichung von Urteilen 4. Funktionen der Öffentlichkeit a) Vertrauensbildung und Vertrauenswahrung b) Streitvermeidung 5. Gefahren einer weiten Öffentlichkeit V. Fazit

IV. Gerichtsöffentlichkeit

I. Begriffsfindung Die Diskussion über mehr Transparenz im Steuerrecht bestimmt die internationale Diskussion seit geraumer Zeit und hat in diesem Zusammenhang stets das Ziel, Steuerumgehungspraktiken den Kampf anzusagen. Die Transparenz im Steuerrecht ist aber mehr als ein Mittel, um Disparitäten zwischen den verschiedenen Steuerjurisdiktionen aufzudecken. So dient die älteste Forderung nach Transparenz, namentlich jene gegenüber dem Steuerpflichtigen,1 der Sachverhaltsermittlung im reinen Inlandssachverhalt. Die primäre Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung mag zwar den Finanzbehörden obliegen,2 doch anerkennt der Gesetzgeber, dass diese an Grenzen stoßen und auf die Mitwirkung der Beteiligten angewiesen sind.3 In jüngerer Zeit tritt zu der Offenheitsverpflich1 Hey, General Report – The Notion and Concept of Tax Transparency, in Bas¸aran Yavas¸lar/Hey, Tax Transparency, 2019, 3, 6. 2 Amtsermittlungsgrundsatz § 88 Abs. 1 Satz 1 AO. 3 Hahlweg in Koenig, 4. Aufl. 2021, § 90 AO Rz. 1.

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Transparenz und Publizität im Steuerstreit – Heber

tung gegenüber den Finanzbehörden gerade gegenüber international tätigen Unternehmen die Forderung hinzu, auch gegenüber der Allgemeinheit transparent zu sein. Denn nur unter der Voraussetzung dieser Transparenz sei ein öffentlicher Diskurs über eine faire Besteuerung möglich.4 Diese an die Besteuerung angelehnten Gerechtigkeitsansprüche sind auch die Wurzel für die Forderung nach einer gegenüber der Öffentlichkeit geöffneten Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Verfahren sollen nicht hinter verschlossenen Türen geführt und Entscheidungen – so die Befürchtung – nicht abhängig von der Wirtschaftsstärke des Steuerpflichtigen oder anderen der Rechtsanwendung fremden Erwägungen getroffenen werden.5 Der Druck auf die Finanzverwaltungen, von allen Steuerpflichtigen Steuern entsprechend ihrer tatsächlichen Leistungskraft einzuheben, war noch nie so hoch wie in den letzten Jahren. Gleichzeitig fordern auch neue Modelle der Zusammenarbeit, dass die Finanzbehörden transparent gegenüber dem Steuerpflichtigen sind.6 Steuerpflichtige sollen in den Entscheidungsprozess eingebunden und nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden. In diesem Beitrag soll der Begriff der Transparenz trotz seiner vielseitigen Verwendung auf das Verhältnis zwischen Steuerpflichtigen und Steuerverwaltung begrenzt werden. Somit soll im Folgenden die Transparenz nur die Offenheit des Steuerpflichtigen gegenüber der Steuerverwaltung und umgekehrt die Offenheit der Steuerverwaltung gegenüber dem Steuerpflichtigen umfassen. Die weiteren Dimensionen der Transparenz, also die Öffnung gegenüber der Allgemeinheit, möchte ich dagegen unter dem Schlagwort der Publizität fassen.

II. Problemaufriss Beide Richtungen der Offenheit – also sowohl die Transparenz als auch die Publizität – bewegen sich im Spannungsfeld von gegenläufigen Inte4 Siehe beispielsweise: Meinzer/Trautvetter, Accounting (f)or Tax: The Global Battle for Corporate Transparency, Tax Justice Network, 2018. 5 Hey in Bas¸aran Yavas¸lar/Hey, Tax Transparency, 6 ff. 6 Seit 2008 weist die OECD darauf hin, von dem traditionellen Steuerverwaltungssystem, das vordergründig durch staatliche Kontrolle und Maßnahmen staatlicher Befehlsgewalt bestimmt ist, abzukehren und vielmehr auf kooperative Systeme zu setzen, die auf eine Beziehung zwischen dem Steuerpflichtigen und der Steuerverwaltung setzten, welches von gegenseitigem Vertrauen geprägt ist, s. erstmals hierzu OECD, Study into the Role of Tax Intermediaries, 2008 (abrufbar unter http://www.oecd.org/tax/administration/39882938.pdf).

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Transparenz und Publizität im Steuerstreit – Heber

ressen und verfassungstragenden Prinzipien. So verlangt das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit den Verwaltungsbehörden Publizität ab, um ihre Entscheidungen durch die Allgemeinheit kontrollierbar und für die Allgemeinheit vorhersehbar zu machen.7 Die Offenheit ist in diesem Sinne ein Instrument, um die rechtliche Bindung der staatlichen Gewalt zu akzentuieren.8 Gleichzeitig sind Transparenz und Publizität aber auch ein demokratisches Grundanliegen,9 denn sie sind Voraussetzung für die Willensbildung und dienen der Kontrolle der Entscheidungsträger.10 Sie sind in diesem Zusammenhang die Grundlage für einen Diskurs über das geltende Recht und die Rechtsanwendung durch die Exekutive und Judikative, die Anstoß für parlamentarische Veränderungen des Rechts bilden können.11 Diesem Anliegen für eine weitgehende Offenheit staatlichen Handelns steht der Schutz von Persönlichkeitsrechten insbesondere in Form des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung12 entgegen.13 Aber auch staatliche Geheimhaltungsinteressen zum Schutz einer gleichmäßigen Festsetzung und Erhebung der Steuern sollen die Offenheit begrenzen (s. sogleich zum Recht auf Akteneinsicht II.1.). Dass in Transparenz- und Publizitätsfragen unterschiedliche Interessen und Verfassungsprinzipien aufeinandertreffen, zeigt sich in der Praxis an einer Vielzahl von Beispielen, von denen drei an dieser Stelle herausgegriffen werden sollen:

7 Ingold, Verfahrensgrundsätze, in FS Battis, Allgemeines Verwaltungsrecht: Institute, Kontexte, System, 2014, 389, 394 ff.; Staringer, Akte X – die geheimen Fälle des Bundesfinanzgerichts, AVR 2021, 12, 14; für die Gerichtsbarkeit: Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, 265; Heidelberg, Justizreportage: Journalistische Ziele und juristische Schranken, 1932, 93. 8 Voßkuhle, Rechtsstaat und Demokratie, NJW 2018, 3154. 9 Heidelberg, Justizreportage: Journalistische Ziele und juristische Schranken, 1932, 93. 10 Ibid; Feik, Öffentliche Verwaltungskommunikation, 2007, 91. Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, 39 ff. 11 Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, 265 f. 12 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist eine Ausprägung des Selbstdarstellungsschutzes, vgl. hierzu: Di Fabio in Dürig/Herzog/Scholz, Art. 2 GG Rz. 173 (Werkstand: 99. EL September 2022). 13 Masing, Transparente Verwaltung: Konturen eines Informationsverwaltungsrechts, VVDStRL 63 (2004), 377, 399 ff.; Ludyga, Die Veröffentlichung und Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen, ZUM 2021, 887.

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1. Recht auf Akteneinsicht Hier geht es um die Transparenz in Form der Offenheit der Steuerverwaltung gegenüber dem Steuerpflichtigen. Einander gegenüber stehen sich das Geheimhaltungsbedürfnis im staatlichen Interesse und das Informationsinteresse des Steuerpflichtigen, der Akteneinsicht begehrt. Die Steuerverwaltung will gespeicherte steuerrelevante Daten zum Schutz einer gleichmäßigen Festsetzung und Erhebung der Steuern nicht preisgeben. Steuerpflichtige sollen sich im Angesicht begrenzter staatlicher Ressourcen nicht auf ein bestimmtes Verwaltungshandeln einstellen und auf diese Weise das Anliegen einer gleichmäßigen Besteuerung unterminieren können.14 Andererseits stellt die Speicherung und Verarbeitung sensibler steuerrelevanter Daten einen Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Steuerpflichtigen dar. Dieses Spannungsverhältnis hat das BVerfG 2008 zugunsten des Geheimhaltungsinteresses der Verwaltung aufgelöst.15 Daran sollen nach Auffassung des BFH auch die europäischen Vorgaben zum Datenschutz nichts ändern.16

14 Mit Blick auf das Ermittlungsinteresse der Finanzbehörden hat der Gesetzgeber von der Etablierung eines allgemeinen Akteneinsichtsrechts, wie etwa in § 29 VwVfG normiert, abgesehen, BT-Drucks. 7/4292, 25; s. hierzu auch: Poschenrieder, Ein Recht auf Auskunft begründet kein Recht auf Akteneinsicht – Grenzen von Art. 15 DSGVO im Besteuerungsverfahren, DStR 2020, 21, 22 f. 15 BVerfG v. 10.3.2008 – 1 BvR 2388/03, BVerfGE 120, 351. 16 BFH v. 17.11.2021 – II R 43/19, BStBl. II 2022, 427; so auch von Armansberg, Datenschutz im Steuerverfahren nach der DSGVO – Anwendungsbereich und Betroffenenrechte, DStR 2021, 453; Schober, Keine Akteneinsicht in Akten der Finanzbehörden nach Art. 15 DSGVO, FR 2020, 558; Poschenrieder, Ein Recht auf Auskunft begründet kein Recht auf Akteneinsicht – Grenzen von Art. 15 DSGVO im Besteuerungsverfahre, DStR 2020, 21; mit Einschränkungen auch Myßen/Kraus, Der Datenschutz in der Finanzverwaltung, FR 2019, 58; demgegenüber einen Anspruch befürwortend: Haverkamp/Meinert, Aktuelle Rechtsprechung zum Auskunfts- und Akteneinsichtsrecht nach Art. 15 Abs. 1 DSGVO – Ein Potpourri an Ablehnungsgründen, FR 2022, 821, 830; Hildebrand/Leyva, Praxisforum Steuerrechtsschutz: Das Recht auf Akteneinsicht im Verfahren vor der Finanzbehörde – die DSGVO als neues Allheilmittel?, Ubg 2020, 109; Bareither/Großmann/Uterhark, Akteneinsicht in Besteuerungs- und Klageverfahren – Rechtslage nach der Datenschutz-Grundverordnung, BB 2019, 1111; Wulf/Bertrand, DSGVO sei Dank? – Geänderte Rahmenbedingungen für die Akteneinsicht im Besteuerungs- und Finanzgerichtsverfahren, Stbg 2019, 400; Krumm, Grundfragen des steuerlichen Datenverarbeitungsrechts, DB 2017, 2182.

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2. Auskunftsanspruch eines Konkurrenten zur Vorbereitung einer Konkurrentenklage Hier geht es um die Öffnung der Steuerverwaltung gegenüber einem bestimmten Personenkreis.17 Die Finanzverwaltung ist trotz der auf Länder- und Bundesebene verankerten Informationsfreiheitsgesetze in Steuerfragen grundsätzlich nicht zur Öffnung gegenüber der Allgemeinheit verpflichtet. All diese, die Transparenz anmahnenden Gesetze räumen den Geheimhaltungsinteressen des Steuerpflichtigen im Wege unterschiedlicher Mechanismen den Vorrang ein. So reicht der Schutz der Geheimhaltungsinteressen von Bereichsausnahmen für die Finanzbehörden bis hin zu absoluten Ausnahmetatbeständen.18 Hiervon abgesehen steht einem Steuerpflichtigen aber nach der Rechtsprechung des BFH19 in Anlehnung an das BVerwG20 ein verfassungsunmittelbarer Auskunftsanspruch zu, um sich basierend auf dieser Information gegen eine den Wettbewerb verzerrende Besteuerung eines Konkurrenten zur Wehr setzen zu können. Bis dato wurde ein Auskunftsanspruch vordergründig dort zugebilligt, wo die Wettbewerbssituation zwischen den Beteiligten offensichtlich war, wie beispielsweise im Umsatzsteuerrecht bei der Frage, ob die Behandlung einer Körperschaft des öffentlichen Rechts als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führt.21 Wettbewerbsverzerrende Unterschiede in der Besteuerung lassen sich aber auch im direkten Steuerrecht leicht finden,22 und so wird auch hier (zumindest über den Umweg des Unionsrechts)23 ein Auskunftsanspruch zu gewähren sein.24

17 Stickler, Informationsfreiheit im Hinblick auf die Finanzverwaltung, 2017, 28 f., 59 ff. 18 Schomerus, Steuergeheimnis und Informationsfreiheitsrecht, in von Rönn/ Schultz-Aßberg, Internationales Steuer- und Gesellschaftsrecht aktuell, 2010, 239, 243 ff. 19 BFH v. 5.10.2006 – VII R 24/03, BStBl. II 2007, 243. 20 BVerwG v. 2.7.2003 – 3 C 46.02, BVerwGE 118, 270. 21 Dazu Kohlhepp, Konkurrentenklagen im Umsatzsteuerrecht: Hoheitlicher Bereich von Körperschaften des öffentlichen Rechts und Relevanz von Wettbewerbsbeziehungen, DStR 2011, 145. 22 Knobbe-Keuk, Die Konkurrentenklage und Steuerrecht, BB 1982, 385, 387. 23 Englisch, Die negative Konkurrentenklage im Unternehmenssteuerrecht, StuW 2008, 43, 55 ff. 24 Grimm, Die negative Konkurrentenklage im Steuerrecht, 2011, 27 ff.

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3. Öffentliches Country by Country Reporting Eine länderbezogene Berichtspflicht gegenüber der Finanzverwaltung trifft Unternehmen innerhalb der EU schon länger.25 Diese Transparenzpflicht wird aber bald zur Publizitätspflicht, denn durch die jüngste Änderung der Bilanzrichtlinie26 ist der Steuerpflichtige nun auch zur Öffnung gegenüber der Allgemeinheit verpflichtet. Diese Pflicht mag den Steuerpflichtigen zwar aufgrund bilanzrechtlicher Verpflichtungen treffen, dennoch hat die Publizitätsoffensive auch Auswirkungen auf seine steuerlichen Belange.27 Wodurch auch hier Persönlichkeitsrechte mit dem Informationsinteresse der Allgemeinheit, das gerade hier auf eine faire Besteuerung abzielt, kollidieren.

III. Das Steuergeheimnis als Wertentscheidung In dem grundlegenden Spannungsfeld von Geheimhaltungs- und Informationsinteressen hat der deutsche Gesetzgeber eine grundlegende Wertentscheidung getroffen. Durch das einfachgesetzlich verankerte Steuergeheimnis sind bestimmte Sachverhalte besonders schützenswert und so ist es den Behörden verwehrt, Informationen an die Allgemeinheit weiterzugeben, die sie im Rahmen des Steuerverfahrens erhalten haben. Durch das Steuergeheimnis konkretisiert der Gesetzgeber die Schutzgarantie des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung für den Bereich des Steuerrechts, ohne dass das Steuergeheimnis selbst in den Verfassungsrang gehoben wird.28 Ob § 30 AO tatsächlich eine Konkretisierung oder doch eine Erweiterung des Schutzbereichs ist, der sich rein aus dem Persönlichkeitsrecht ergeben würde, hat das BVerfG offengelas25 Richtlinie 2016/881/EU v. 25.5.2016, zur Änderung der Richtlinie 2011/16/ EU bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung, ABl. Nr. L 146/8 v. 3.6.2016. 26 Richtlinie 2021/2101/EU v. 24.11.2021, zur Änderung der Richtlinie 2013/ 34/EU im Hinblick auf die Offenlegung von Ertragsteuerinformationen durch bestimmte Unternehmen und Zweigniederlassungen, ABl. Nr. L 429/1 v. 1.12.2021. 27 Die Frage nach der richtigen Kompetenzgrundlage wurde innerhalb der Europäischen Institutionen nicht einheitlich geklärt, so war etwa der juristische Dienst des Rates der Meinung, Art. 115 AEUV sei heranzuziehen, um ein öffentliches Country-by-Country Reporting einzuführen. Denn der Hauptgrund einer solchen Verpflichtung liege im Versuch, Steuervermeidung und Steuerhinterziehung einzudämmen: Legal Service Opinion v. 11.11.2016, Council document 14384/16. 28 BVerfG v. 17.7.1984 – 2 BvE 11/83, 2 BvE 15/83.

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sen.29 Konkret stellt sich diese Frage bei Informationen, die marktbekannt sind.30 Neben dem Schutz der Persönlichkeitsrechte soll das Steuergeheimnis aber auch ein Gegengewicht zu den umfassenden Offenlegungs- und Mitwirkungspflichten bilden, denen der Steuerpflichtige im Steuerverfahren ausgesetzt ist.31 In der Vergangenheit kam dieser Kopplung außerhalb Deutschlands besondere Bedeutung zu, so dass bei einer Einschränkung der Offenbarungspflicht in der Regel mit einer Lockerung der Schweigepflicht zu rechnen war.32 Vielfach werden bei dem Zusammenspiel von Mitwirkung auf der einen und Geheimhaltungsverpflichtungen auf der anderen Seite Verhältnismäßigkeitserwägungen angestellt.33 So sei der Grundrechtseingriff und die Mitwirkung als solche angemessen, da die preisgegebenen Informationen geschützt sind. Bringt man Mitwirkung und Geheimhaltung zusammen, so ist eine allgemeine Veröffentlichung von preisgegebenen steuerrelevanten Daten auszuschließen. In diesem Sinn hat beispielsweise der französische Conseil d’État die Veröffentlichung von personenbezogenen Daten im Rahmen eines öffentlichen Trust-Registers zum Zwecke der Vermeidung von Steuerflucht als nicht mit den Grundrechten vereinbar erklärt.34 Dass man das Zusammenspiel von Grundrechten und Geheimhaltung bzw. Transparenz und Publizität auch anders bewerten kann, zeigt sich in den skandinavischen Staaten, und hier allen voran in Schweden. Hier wird der freie Zugang zu sämtlichen Steuerdaten gerade mit Blick auf die Grundrechte gewährt. Das Recht zur Meinungsfreiheit verlange ei29 BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239. 30 Verneinend: P. Kirchhof, Steueranspruch und Informationseingriff, in FS Tipke, 1995, 27, 33 ff.; bejahend: Drüen, Verfassungsfragen der digitalen Außenprüfung, StuW 2003, 205 (211); Seer, Datenschutz und Datenaustausch, in DStJG 42 (2019), 247 (248). 31 Drüen in Tipke/Kruse, § 30 AO Rz. 8 (158. Lfg. 2019). 32 Meise, Steuerpublizität bei natürlichen Personen, 2019, 38, mit weiteren Nachweisen. 33 BVerfG v. 17.7.1984 – 2 BvE 11/83, 2 BvE 15/83; BVerfG v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89. 34 Conseil d’État v. 22.7.2016 – ECLI:FR:CEORD:2016:400913.20160722; vgl. hierzu auch: Lüdicke/Salewski, Entwurf einer EU-Richtlinie zur Veröffentlichung von Steuerdaten, Besonderheiten bei Personengesellschaften und Grundrechte, ISR 1999, 100 ff.; in diesem Sinne auch: Conseil Constitutionnel v. 8.12.2016 – 2016-741 DC.

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nen uneingeschränkten und ungehinderten Zugang zu sämtlichen amtlichen Dokumenten, denn nur so sei eine freie Meinungsbildung und ein freier Meinungsaustausch möglich.35 Hier tritt auch die demokratische Dimension der Transparenz im Sinne der Publizität des Verwaltungshandelns in besonderer Deutlichkeit zutage.36

IV. Gerichtsöffentlichkeit 1. Saalöffentlichkeit Nach § 169 GVG sind Verhandlungen sowie die Verkündung von Urteilen und Beschlüssen öffentlich. Diese Saalöffentlichkeit ist eine außerhalb des Steuerrechts historisch errungene Verfahrensgarantie zum Schutz der Verfahrensbeteiligten. So soll einerseits der Angeklagte vor willkürlichen Geheimprozessen, aber auch der Richter vor geheimen Eingriffen der Staatsgewalt geschützt werden.37 Darüber hinaus wurde dem Recht des Volks entsprochen, über die Geschehnisse im Verlauf einer Gerichtsverhandlung Kenntnis zu erlangen. Heute ist die Gerichtsöffentlichkeit durch den Gesetzgeber näher ausgestaltet und soll – mit den Worten des BVerfG – dazu dienen, die Einhaltung des formellen und materiellen Rechts sicherzustellen und folglich die Verfahrensgerechtigkeit zu gewährleisten.38 Dieser Verfahrensgrundsatz ist durch eine Reihe von Prinzipien des modernen Verfassungsstaats abgesichert. So ist der Grundsatz der Öffentlichkeit klarer Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips.39 Darüber hinaus hat das BVerfG einen allgemeinen Öffentlichkeitsgrundsatz aus dem Demokratieprinzip abgeleitet.40 Am augenscheinlichsten ist die Verfahrensgarantie der Öffentlichkeit aber in Art. 6 EMRK verankert, wonach jeder ein Recht auf ein faires Verfahren hat, das öffentlich geführt wird. Zwar mag Art. 6 EMRK für

35 Kristoffersson/Persson/Nergelius/Valguarnera/Hambre/Larss, Sweden, in Kristoffersson/Lang/Schuch/Pistone/Staringer/Storck (Hrsg.), Tax secrecy and tax transparency, Part II, 2013, 1079 ff. 36 Höglund, Schweden, in Yavas¸lar/Hey (Hrsg.) Tax Transparency, 2019, 955 ff. 37 Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, 265; Mayer in Kissel/ Mayer, 10. Aufl. 2021, § 169 GVG Rz. 1. 38 BVerfG v. 3.6.2022 – 1 BvR 2103/16, NVwZ 2022, 1785. 39 BVerfG v. 24.1.2001 – 1 BvR 2623/95, NVwz 2001, 790. 40 BVerfG v. 14.1.1986 – 2 BvE 14/83, 2 BvE 4/84, BVerfGE 70, 324.

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das Steuerrecht nicht unmittelbar einschlägig sein,41 doch findet sich in Art. 47 der Europäischen Grundrechtecharta eine gleichlautende Formulierung und so sind die Mitgliedstaaten zumindest bei der Durchführung von Unionsrecht auch im Steuerrecht zur Öffentlichkeit verpflichtet.42

2. Öffentlichkeit im Steuerstreit Vor diesem Hintergrund wird man meinen, dass das Steuerverfahren oder zumindest der Steuerstreit öffentlich ist. Diese Erwartungshaltung mag in einigen Ländern bestätigt werden, nicht aber in Deutschland. In Deutschland wird dem grundlegenden Prinzip der Öffentlichkeit das Steuergeheimnis, also ein Geheimhaltungsinteresse zugunsten des Steuerpflichtigen, entgegengehalten. Blicken wir nun auf die erste Stufe des Steuerstreits: das Einspruchsverfahren.43 Dieses ist in keinem Fall öffentlich. Zwar wird dem Einspruchsverfahren eine Rechtsschutzfunktion zugewiesen,44 so dass die Annahme einer Öffentlichkeit zur Akzentuierung dieser Funktion nicht fernliegt. Doch gilt hier der Grundsatz der Öffentlichkeit nicht. Weiterhin kann hinter verschlossenen Türen gerichtet werden. Zu verstehen ist das nochmalige nichtöffentliche Entscheiden nur mit Blick auf die Historie der Rechtschutzgewährung im Bereich der Exekutive. In Anlehnung an das französische Verständnis von Gewaltenteilung unterlag die Verwaltung einer Selbstkontrolle,45 nicht aber einer unabhängigen Kontrolle durch Gerichte.46 Auch die FG waren lange Zeit 41 BFH v. 1.3.2016 – I B 32/15, BFH/NV 2016, 1141; dazu monographisch: Böcker, Die Bedeutung der Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK für den Finanzgerichtsprozess und für die Verhängung von Steuerzuschlägen, 2021; Neuendorf, Bedeutung und Rezeption des Art. 6 Abs. 1 EMRK im deutschen und englischen Steuerrecht, 2013. 42 Vgl. Kokott/Pistone/Miller, Völkerrecht und Steuerrecht – Die Rechte der Steuerpflichtigen, StuW 2020, 200, 208; Kofler, Europäischer Grundrechtsschutz im Steuerrecht, in DStJG 41 (2018), 125, 141 ff. 43 §§ 347 ff. AO. 44 Seer in Tipke/Kruse, Vorbemerkungen zu §§ 347–367 AO Rz. 10 (164. EGL); Bartone in Gosch, § 347 AO Rz. 13 (147. EGL); Seer in Tipke/Lang, 24. Aufl. 2021, Rz. 22.9; Tappe in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vorbemerkungen zu §§ 347–368 AO Rz. 11 (230. EGL). 45 Pahlow, Justiz und Verwaltung – Zur Theorie der Gewaltenteilung im 18. und 19. Jahrhundert, 2000, insbesondere 101 ff. 46 Waldhoff, Entwicklung des Steuerrechtsschutzes in Deutschland, in Drüen/ Hey/Mellinghoff (Hrsg.), 100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland

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keine mit voller richterlicher Unabhängigkeit ausgestatteten Gerichte, sondern vielmehr bei den Landesfinanzämtern eingerichtete Spruchkörper der Verwaltung.47 So ist das Einspruchsverfahren als Relikt der lange vorherrschenden Administrativjustiz zu sehen,48 dem ohne Zweifel eine Filter- und Kontrollfunktion zukommt49. Eine vollständige Rechtsschutzfunktion ist ihm aber zu versagen. Denn effektiver Rechtsschutz kann nur durch unabhängige Instanzen gewährt werden.50 Gewährt das Einspruchsverfahren also keinen uneingeschränkten Rechtsschutz, braucht es auch keine Öffentlichkeit als Verfahrensgarantie der Beteiligten. Überwindet man die Hürde der Administrativjustiz und findet sich vor unabhängigen Gerichten, so ist die Öffentlichkeit plötzlich gewährt. Im Finanzgerichtsverfahren gilt, wie in jedem ordentlichen Gerichtsverfahren, der Grundsatz der Gerichtsöffentlichkeit. Stehen die Parteien sich also vor Gericht gegenüber, ist es jedem Dritten unbenommen, an der Verhandlung teilzunehmen. Hierdurch wird die Allgemeinheit nicht nur über die Klärung der Rechtsfrage unterrichtet, sondern ihr werden auch personenbezogene Daten des Steuerpflichtigen sowie sämtliche für die Steuererhebung relevanten Sachverhaltselemente bekannt. Ganz anders als im anglosächsischen Raum, wo der Grundsatz von open justice nahezu unumgänglich ist,51 kann die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren in Deutschland aber vielfach ausgeschlossen werden. Diese Möglichkeit wird man gerade in Verfahren verstehen, bei welchen die Geheimhaltungsinteressen klar überwiegen, wie etwa im Jugendstrafrecht oder bei Scheidungen. Doch erlaubt die Finanzgerichtsordnung einen Ausschluss der Öffentlichkeit im Steuerverfahren immer schon

47 48

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1918-2018, 2018, 3 (8); Henne, Verwaltungsrechtsschutz im Justizstaat, 1995, 39 ff. Stolterfoht, Die Verwirklichung des Rechtschutzes im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren, in DStjG 18 (1998), 77, (88). Rüssel, Zukunft des Widerspruchsverfahrens, NVwZ 2006, 523, 524; Poschenrieder, Außergerichtliche Vorverfahren im Verwaltungsrecht, 2019, 31 f., 266. Seer in Tipke/Kruse, Vorbemerkungen zu §§ 347–367 AO, 164. EGL, Rz. 11 f.; Bartone in Gosch, § 347, 147. EGL, Rz. 14 f.; Tappe in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vorbemerkungen zu §§ 347–368 AO, 230. EGL, Rz. 11. Vgl. Poschenrieder, Außergerichtliche Vorverfahren im Verwaltungsrecht, 2019, 54 ff. Nettheim, The Principle of Open Justice, University of Tasmania Law Review, 8 (1984), 25.

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dann, wenn dies ein Beteiligter, der nicht Finanzbehörde ist, beantragt.52 Es ist also nicht so, dass das heutige Steuerverfahren grundsätzlich geheim ist, doch erlaubt man dem Steuerpflichtigen, das Verfahren hinter geschlossenen Türen zu führen, um seine Interessen zu schützen. Die im finanzgerichtlichen Verfahren offensichtlich zugunsten des Geheimhaltungsinteresses ausfallende Abwägung muss aber spätestens dann hinterfragt werden, wenn derselbe Sachverhalt auch vor den Strafgerichten verhandelt wird. Die StPO lässt einen Ausschluss der Öffentlichkeit nicht so einfach zu und so kann die steuerrechtliche Fragestellung zwar hinter verschlossenen Türen geklärt werden, doch sind die strafrechtlichen Konsequenzen unter Bekanntwerden sämtlicher Sachverhaltselemente vor dem Volk zu richten. Diese Diskrepanz ist natürlich im Lichte des historischen Motives der Öffentlichkeit, den Bürger vor der Staatlichkeit zu schützen, leicht verständlich. Und gerade vor dem Hintergrund der Schutzintention der Öffentlichkeit wird ihr Ausschluss auf Antrag des Steuerpflichtigen kein Störgefühl aufkommen lassen. Liegt es nämlich in seiner Hand, die Öffentlichkeit auszuschließen, wird er ihre schützende Kontrolle nicht suchen. Im modernen gewaltengeteilten Rechtsstaat wird der Steuerpflichtige getrost von der Öffentlichkeitskontrolle absehen können, da eine Vielzahl rechtlicher Maßnahmen nicht nur die Unabhängigkeit der Richter sicherstellt, sondern auch ihre Kontrolle gewährleistet. Die modernen Kontroll- und Sicherungsfunktionen lassen die Öffentlichkeit im Gerichtsverfahren aber nicht bedeutungslos werden. Vielmehr verlagert sich ihre heutige Bedeutung auf andere Aspekte, auf die es noch einzugehen gilt (vgl. unter Punkt IV.4), wodurch der pauschale Öffentlichkeitsausschluss auf Antrag eines Verfahrensbeteiligten durchaus kritisch zu sehen ist.

3. Pflicht zur Veröffentlichung von Urteilen Eng mit dem Grundsatz der Gerichtsöffentlichkeit ist auch die richterliche Pflicht verbunden, verfahrensabschließende Entscheidungen zu veröffentlichen. Die Veröffentlichungspflicht hat einerseits eine rechtsstaatsbezogene Dimension, denn gerichtliche Entscheidungen konkretisieren Rechtsnormen und bilden teils sogar das Recht fort. Ohne die Veröffentlichung von Entscheidungen kann sich der Bürger nicht hinreichend über seine ihm zukommenden Rechte und die ihm obliegenden 52 § 52 Abs. 2 FGO.

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Pflichten informieren. Andererseits kommt der Veröffentlichungspflicht eine im Demokratieprinzip und Prinzip der Gewaltenteilung angelegte Dimension zu. Die öffentliche Meinungsbildung muss Anstoß zu einer parlamentarischen Kontrolle der rechtsfortbildenden Rechtsprechung sein.53 Der Veröffentlichungspflicht entspricht es auch, dass in den einschlägigen Datenbanken wie beck-online und juris eine Vielzahl an Gerichtsurteilen veröffentlicht sind. Dennoch handelt es sich hier um keine vollständige Zahl, ganz im Gegenteil, die Zahl an unveröffentlichten Urteilen hat eine größere Dimension als die meisten Juristen vermuten dürften.54 Hierfür sind zwei wesentliche Gründe auszumachen: Erstens werden Gerichtsurteile immer nur anonymisiert publiziert. Diese umfangreiche Pflicht ist auf das Volkszählungsurteil des BVerfG zurückzuführen und soll die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten wahren.55 Auch der Europäische Gerichtshof hat neuerdings diesen Weg eingeschlagen und will aus Datenschutzgründen seine Urteile nur noch anonymisiert veröffentlichen.56 Dass der Datenschutz eine pauschale Pflicht zur Anonymisierung verlangt, ist nicht unumstritten und wird gerade mit Blick auf die Praxis der überwiegenden Zahl der Staaten in Frage gestellt, die ganz unbekümmert von einer Anonymisierung von Urteilen absehen.57 Oft ist der Steuerpflichtige aber auch nach Anonymisierung des Urteils erkennbar. Dies haben die Verfahrensbeteiligten eigentlich auch mit Blick auf das Steuergeheimnis schlicht hinzunehmen, denn dem Datenund Persönlichkeitsrechtsschutz ist nach herrschender Auffassung durch Schwärzung personenbezogener Daten und Umstände Genüge getan. Und so begnügt sich selbst das BVerfG mit einer oberflächlichen Anony-

53 BVerwG v. 26.2.1997 – 6 C 3.96; BVerfG v. 14.9.2015 – 1 BvR 857/15; s. allgemein: Hirte, Der Zugang zu Rechtsquellen und Rechtsliteratur, 1991, 51 f.; Putzke/Zenthöfer, Der Anspruch auf Übermittlung von Abschriften strafgerichtlicher Entscheidungen, NJW 2015, 1777. 54 Coupette/Fleckner, Quantitative Rechtswissenschaft – Sammlung, Analyse und Kommunikation juristischer Daten, JZ 2018, 379 (381). 55 BVerfG v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83, BVerfGE 65, 1–71. 56 Pressemitteilung EuGH 19/20 v. 2.3.2020. 57 Hamann, Der blinde Fleck der deutschen Rechtswissenschaft – Zur digitalen Verfügbarkeit instanzgerichtlicher Rechtsprechung, JZ 2021, 656, 664; Hesse, Die praktisch uneingeschränkte Pflicht des Staates zur Veröffentlichung der Entscheidungen seiner (obersten) Gerichte, JZ 2021, 665, 666.

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misierung seiner Urteile und akzeptiert, dass alle Welt weiß, dass es jüngst zugunsten einer bekannten Eisschnellläuferin entschieden hat.58 Anders sieht in diesem Zusammenhang die Rechtslage in Österreich aus. Hier darf das Bundesfinanzgericht, das österreichische Äquivalent zum deutschen FG, die Veröffentlichung einer Entscheidung auf gesetzlicher Grundlage versagen, wenn „im Einzelfall wesentliche Interessen der Parteien“59 entgegenstehen. Hiervon wird immer dann ausgegangen, wenn das Publikum die Entscheidung trotz Anonymisierung einem bestimmten Steuerpflichtigen persönlich zuordnen kann.60 Folglich werden gerade Entscheidungen, die Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens involvieren, der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht.61 Mit der Pflicht zur Anonymisierung ist ein enormer Arbeitsaufwand verbunden, der die deutsche Gerichtspraxis hat kreativ werden lassen, und so kommen wir zum zweiten Grund, warum nur ein Bruchteil der deutschen Urteile öffentlich zugänglich ist. Zu publizieren sind nur Urteile, die veröffentlichungswürdig sind, also Urteile, an denen die Öffentlichkeit ein Interesse hat. Die Beurteilung dieser Frage wird durch die Gerichte unterschiedlich gehandhabt, doch ist die Hürde der Veröffentlichungswürdigkeit für sich genommen schon abzulehnen. Denn jeder Rechtsstreit wird im Namen des Volkes entschieden, und so ist es nicht angebracht, Urteile der Öffentlichkeit desselben Volkes als nicht würdig zu qualifizieren.62 Auch in Österreich kann von der Veröffentlichung von Entscheidungen des Bundesfinanzgerichts abgesehen werden, wenn es sich um Erkenntnisse ohne besondere rechtliche Bedeutung handelt.63 Die Möglichkeit zum Veröffentlichungsausschluss wurde geschaffen, als die Entscheidungskompetenz für Verwaltungsübertretungen nach dem Wiener Parkometergesetz auf das Bundesfinanzgericht übertragen wurde.64 Rechts58 BVerfG v. 3.6.2022 – 1 BvR 2103/16, NVwZ 2022, 1785–1788; s. hierzu auch: Braegelmann, Ein Gesetz für mehr Transparenz, 16.8.2022, https://www. libra-rechtsbriefing.de/L/gerichtsoeffentlichkeit/. 59 § 23 Abs. 3 BFGG. 60 Ritz/Koran, Finanzverwaltungsgerichtsbarkeit neu in Österreich, 2013, 80; Wanke/Unger, § 23 BFGG Rz. 27. 61 Staringer, Akte X – die geheimen Fälle des Bundesfinanzgerichts, AVR 2021, 12, 16. 62 Hamann, Der blinde Fleck der deutschen Rechtswissenschaft – Zur digitalen Verfügbarkeit instanzgerichtlicher Rechtsprechung, JZ 2021, 656 (659). 63 § 23 Abs. 3 Satz 2 BFGG. 64 ErlRV 24 BlgNR 25.GP, 25.

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politisch ist dies sicherlich nachvollziehbar, denn kaum jemand wird Interesse an wenig spannenden Kleinbetrags-Entscheidungen haben.65 Doch hat der Gesetzgeber die Möglichkeit, Entscheidungen unveröffentlicht zu lassen, gerade nicht auf den Bereich der Parkgebühren-Entscheidungen beschränkt. Es obliegt also letztlich dem Bundesfinanzgericht selbst zu entscheiden, welches Erkenntnis es als hinreichend bedeutsam erachtet. Dass hierdurch eine Vielzahl von Urteilen unveröffentlicht bleibt und dies erhebliche Risiken für den Rechtsstaat bildet, wird gerade im Lichte der Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs im Grasser-Fall klar. Der VfGH hat eine mündlich verkündete Entscheidung des Bundesfinanzgerichts aufgehoben, da die Entscheidung nicht mit dem verfassungsrechtlich verankerten Willkürverbot in Einklang stand.66 Die Niederschrift zum mündlich verkündeten Erkenntnis erschöpfte sich „in der Auflistung einiger Rechtsfragen, ohne sich mit diesen aber auch nur ansatzweise auseinanderzusetzen“. Die mündlich verkündete Entscheidung war daher inhaltlich „weder für den Adressaten der Entscheidung noch für den Verfassungsgerichtshof nachvollziehbar“.67 Zu einem solchen willkürlichen Akt konnte es natürlich nur deshalb kommen, weil die schriftliche Ausfertigung der Entscheidung des Bundesfinanzgerichts nicht veröffentlicht worden war. Ansonsten hätte das Gericht mit Sicherheit mehr Sorgfalt walten lassen, gerade bei einem Verfahren, das im so starken Interesse der Öffentlichkeit liegt.68

4. Funktionen der Öffentlichkeit a) Vertrauensbildung und Vertrauenswahrung Der Öffentlichkeit kommt heute mehr denn je eine vertrauensbildende Funktion zu. Der Zugang zu Gerichtsverfahren erlaubt es jedem Bürger, sich sein eigenes Bild von der rechtsprechenden Gewalt des Staates zu machen.69 Vor diesem Hintergrund wäre es auch wichtig, Verfahren so zu führen, dass sie für den Bürger eingängig sind. Diese Forderung hat der ehemalige Präsident des BVerfG, Andreas Voßkuhle, bereits mit Blick auf Gerichtsentscheidungen formuliert. So müssen nach seiner Auffassung Gerichte zwar „in erster Linie argumentativ überzeugende Entscheidungen treffen“, doch müssen Gerichte „auch erklären, was sie tun, und für 65 66 67 68 69

Staringer, AVR 2021, 18. VfGH v. 17.6.2021, Slg. 20382. Ibid. Staringer, AVR 2021, 12. Voßkuhle, Rechtsstaat und Demokratie, NJW 2018, 3154, 3158 f.

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Akzeptanz werben.“70 Denn nur so könne das Vertrauen in staatlichen Institutionen wachsen. Dies gilt es in Zeiten eines Vertrauensverlustes in staatliche Institutionen mehr denn je in den Blick zu nehmen. Selbst wenn sich Gerichte besonders bürgernah zeigen, ist es doch so, dass Informationen über Geschehnisse in Staat und Gesellschaft in stetig zunehmendem Maße weniger Produkt des eigenen Erlebens sind, sondern vielmehr durch Massenmedien vermittelt werden.71 So zeigt sich auch der Wandel der Zeit im Gerichtssaal selbst. Denn hier ist es heute vielfach nicht mehr der einzelne Bürger, der im Gerichtssaal die abstrakte Öffentlichkeit repräsentiert. Vielmehr nehmen Journalisten die Funktion von Berichterstattern ein,72 die via Massenmedien die Allgemeinheit informieren. Trotz dieses Wandels darf die Saalöffentlichkeit keinesfalls als funktionslos und damit obsolet qualifiziert werden. Sie gibt weiterhin jedermann die Möglichkeit, persönlich an einem Verfahren teilzunehmen, was gerade für die Ausräumung von Misstrauen gegenüber der Justiz, aber auch gegenüber den Medien essentiell ist.73 Die Allgemeinheit könnte aber noch viel unmittelbarer an Gerichtsverfahren teilhaben, würde man die moderne Technik als Chance sehen, Verhandlungen in die Wohnzimmer von jedermann via Live-Stream zu übertragen. In England wurde Ende Juli 2022 erstmals die Urteilsverkündung an einem englischen Strafgericht im Fernsehen übertragen. Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte von Angeklagten und Jury wurde hier nur die Richterin gefilmt. Hierdurch soll – so der Justizminister Dominic Raab – die Transparenz erhöht und das Vertrauen in das Justizsystem untermauert werden. Dass der Gerichtssaal aber auch noch weiter geöffnet werden kann, zeigt der Prozess von Johnny Depp gegen Amber Heard. Hier wurde der Gerichtssaal während des gesamten Verfahrens live im Internet übertragen. Zwar wurde das strikte Verbot von Ton- und Filmaufnahmen im Gerichtssaal in Deutschland moderat gelockert, und so können auch hierzulande Entscheidungen von den obersten Bundesgerichten übertragen

70 Welt am Sonntag v. 10.6.2018, Nr. 23, S. 4. 71 von Coelln in Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 17a BVerfGG Rz. 4. 72 So wurde die Presse schon sehr früh als „der Exponent der Öffentlichkeit“ gesehen: Heidelberg, Justizreportage: Journalistische Ziele und juristische Schranken, 1932, 94. 73 von Coelln in Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 17a BVerfGG Rz. 4.

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werden. Dennoch sind wir in Deutschland von einer echten allgemeinen Medienöffentlichkeit in Gerichtssälen noch weit entfernt.74

b) Streitvermeidung Dem Öffentlichkeitsgrundsatz kommt eine weitere über die Vertrauensbildung hinausgehende Funktion zu. Öffentlich zugängliche Gerichtsurteile haben eine gewisse streitvermeidende Eigenschaft. Dieser Befund ergibt sich einerseits aufgrund der rechtserzeugenden Wirkung von Urteilen, sie zeigen dem Rechtsanwender, wie das Recht zu verstehen und anzuwenden ist.75 Andererseits sind Gerichte um Kontinuität bemüht. Die Pflicht zur Kontinuität lässt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Gebot der Rechtssicherheit ableiten. In diesem Zusammenhang übernehmen gerade die obersten Bundesgerichte eine besondere Rolle. Ihnen obliegt es, Wertungswidersprüche innerhalb der Gerichtsbarkeit zu minimieren.76 Ein und dieselbe Rechtsfrage sollte stets von den Gerichten einheitlich geklärt werden,77 wodurch gerade der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine besondere Leitfunktion zukommt.78 Auch das Verfahrensrecht zeigt, dass Präjudizien gebildet und an ihnen festgehalten werden soll.79 So ist eine Revision an den BFH nur zulässig, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, die Rechtsfortbildung oder die die Einheitlichkeit der Rechtsprechung ein höchstrichterliches Urteil verlangt80

74 Dass es aber auch in Deutschland zur Ausweitung der digitalen Möglichkeiten kommen soll, zeigt der Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz über ein mögliches Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten. Dieser Entwurf geht weiterhin von der Öffentlichkeit im klassischen Sinn aus, also der Saalöffentlichkeit. Sollte sich das Gericht aber selbst nicht im Sitzungssaal aufhalten, sondern im virtuellen Raum, dann muss die Videoverhandlung zudem in einen öffentlich zugänglichen Raum im Gericht in Bild und Ton übertragen werden („Raumöffentlichkeit“). 75 Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 2017, 34. 76 Leisner-Egensperger, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 620 f. 77 Siehe hierzu Art. 95 Abs. 3 GG. 78 Kruse, Kontinuität und Fortschritt der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in FS 75 Jahre Reichsfinanzhof – BFH, 1993, 239 (239). 79 Vgl. hierzu Levedag, Rechtsprechungskontinuität und Rechtsprechungsänderungen – nationale Sicht, in Drüen/Hey/Hellinghoff (Hrsg.), 100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland, Band I, 2018, 181 (184). 80 § 115 Abs. 2 FGO.

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Eine umfassende streitvermeidende Wirkung würde Urteilen freilich nur dann zukommen, wenn die Rechtsprechung in keinem Fall geändert werden könnte, so sich nicht die Rechtslage als solche ändert. Eine solche Versteinerung oder Erstarrung des Rechtszustands wird aber mit gutem Grund abgelehnt. Die Rechtsprechung muss in der Lage sein, trotz des grundsätzlichen Kontinuitätsgebots, das Recht entsprechend im Lichte der politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten fortzuentwickeln. Das Spannungsverhältnis zwischen einer notwendigen gerichtlichen Rechtsfortbildung auf der einen und Kontinuität auf der anderen Seite wird durch den BFH so aufgelöst, dass eine Änderung der Rechtsprechung nur in begründeten Fällen erfolgen soll.81 Aber selbst wenn man die Gerichte dazu verpflichtet, mit Rechtsprechungsänderungen schonend umzugehen und diese entsprechend gut begründet sein müssen, ändert dies nichts an der Tatsache, dass eine Abkehr vom Bestehenden immer möglich (und notwendig) ist. Vor diesem Hintergrund wird man so ehrlich sein müssen und die streitvermeidende Wirkung von veröffentlichten Urteilen dahin gehend umdeuten, dass sie dem Rechtsanwender eine Einschätzung über sein Prozessrisiko erlauben. In Fällen, in denen eine höchstrichterliche Rechtsprechungslinie vorliegt und sich keine Änderungen auf rechtlicher oder tatsächlicher Ebene abzeichnen lassen, wird ein streitiges Verfahren vielfach unterbleiben, denn die Wahrscheinlichkeit, Erfolg zu haben, ist verschwindend. Geben aber beispielsweise neue Entscheidungen des EuGH Aufschluss über die Auslegung einschlägiger unionsrechtlicher Normen, mag dies Anlass für eine Rechtsprechungsänderung sein, und der Steuerpflichtige wird den Gang vor Gericht wagen.

5. Gefahren einer weiten Öffentlichkeit Neben den positiven Aspekten birgt die Ausweitung der Öffentlichkeit aber auch Gefahren, die sich heute schon erkennen lassen. Durch umfangreiche und teils gar emotionale Berichterstattung über brisante 81 BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04 BStBl. II 2008, 608; hinreichend schwerwiegende Gründe, die eine Änderung der Rechtsprechung zulassen, sind etwa eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse, die Grundlage für die Rechtsprechung sind und eine Gesetzesänderung im Regelungsumfeld, s. hierzu Levedag, Rechtsprechungskontinuität und Rechtsprechungsänderungen – nationale Sicht, in Drüen/Hey/Hellinghoff (Hrsg.), 100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland, Band I, 2018, 181, 188.

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Steuerverfahren in Massenmedien müssen nicht nur Verfahrensbeteiligte eine mögliche Bloßstellung fürchten,82 auch die Richterschaft ist vielfach einem gewissen Druck ausgesetzt. Gerade Letzteres kann eindrucksvoll durch die öffentlichkeitswirksame Diskussion um Steuervermeidungspraktiken von international tätigen Unternehmen in der Rechtsprechungslinie des Europäischen Gerichtshofs nachgezeichnet werden. So war der EuGH anfangs darum bemüht, ausschließlich den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital sicherzustellen. Ob die Verwirklichung des Binnenmarkts bestimmte Steuervermeidungstaktiken begünstigt, hat der Gerichtshof ursprünglich getrost ignoriert. Nur ein sehr eng gesponnenes Konzept der Vermeidung von Steuerhinterziehung erlaubte es den Mitgliedstaaten, im Einzelfall beschränkend einzugreifen.83 Im Laufe der Zeit und vor dem Hintergrund der anhaltenden internationalen Diskussion, wie Steuervermeidungspraktiken der Kampf angesagt werden kann, sieht man einen Wandel in der EuGH-Rechtsprechung.84 Nunmehr steht es den Mitgliedstaaten nicht mehr nur frei, gegen Steuerumgehungspraktiken vorzugehen, sie sind vielmehr dazu verpflichtet. Und der einstig eng formulierte Rechtfertigungsgrund der Missbrauchsvermeidung wird nunmehr zu einem allgemeinen Rechtsgrundsatz im Rang des Primärrechts emporgehoben.85 Ob es diese nicht ganz unkritisch zu sehende Trendwende auch ohne die starke mediale Forderung, Großunternehmen „fair“ zu besteuern, gegebenen hätte, darf bezweifelt werden.

V. Fazit Transparenz und Publizität haben viele Dimensionen. Im Steuerstreit wird die Öffnung gegenüber der Allgemeinheit insbesondere durch die Veröffentlichungspflicht von gerichtlichen Entscheidungen und der Gerichtsöffentlichkeit verwirklicht. Gerade das Verständnis über Letztere unterliegt einem stetigen Wandel. So wurde anfänglich beispielsweise 82 Kissel/Mayer, 10. Aufl. 2021, § 169 GVG Rz. 14. 83 EuGH v. 12.9.2006 – C-196/04 – Cadbury Schweppes, Rz. 51; rein künstliche Gestaltungen durften anders behandelt werden. 84 Siehe hierzu: Schön, The Concept of Abuse of Law in European Taxation: A Methodological and Constitutional Perspective, in Loutzenhiser/de la Feria (Hrsg.), The Dynamics of Taxation, Essays in Honour of Judith Freedman, Hart Publishing, 2020, 185 ff. 85 EuGH v. 26.2.2019 – C-116/16, C-117/16 – T Danmark, Rz. 75; EuGH v. 26.2.2019 – C-115/16, C-118/16, C-119/16, C-299/16 – N Luxembourg 1, Rz. 101.

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hitzig darüber diskutiert, ob Frauen der Zutritt zu Gerichtsverhandlungen überhaupt zu gewähren ist. Heute ist die Gleichstellungsfrage geklärt und wir denken darüber nach, wie Massenmedien genutzt werden können, um das gerichtliche Geschehen dem Volk zugänglich zu machen, ohne das Volk unlauter zu beeinflussen. Morgen werden wir vielleicht einen Schritt weitergehen und uns fragen, ob Gerichtsverfahren nicht vollends transparent sein sollen, so dass sie via Live-Stream im Internet von jedermann mitverfolgt werden können. Diese Diskussion gilt für sämtliche gerichtliche Verfahren gleichermaßen, doch tritt im Steuerrecht noch eine besondere Komponente hinzu: das Steuergeheimnis. Bis dato wird es stets hochgehalten, um Schritte in Richtung einer Öffnung zugunsten der Allgemeinheit scheitern zu lassen. Wir sollten uns aber doch ernsthaft fragen, ob wir im Interesse der Vertrauensbildung und -wahrung nicht doch bereit sein sollen, zumindest den Steuerstreit für die Allgemeinheit zugänglicher zu machen. Gleichermaßen muss die Bereitschaft wachsen, Urteile zu veröffentlichen. Denn nur so kann ein schlechter rechtsstaatlicher Eindruck in der Öffentlichkeit verhindert werden. Die Anonymisierungspflicht bürdet der Justiz ohne Frage hohe Lasten auf, doch ist dies das Ergebnis einer Abwägung von Öffentlichkeitsinteressen und Geheimhaltungsinteressen. Verwehrt man der Öffentlichkeit aufgrund der Arbeitslast den Zugang zu gerichtlichen Entscheidungen, so läuft man Gefahr, das Vertrauen in den Rechtsstaat zu schmälern.

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Digitalisierung zur Streitvermeidung und Streitbeilegung Prof. Dr. Heribert M. Anzinger Universität Ulm

I. Streitpotential, Streitvermeidungsvermögen und Streiterfordernisse der Digitalisierung II. Digitale Tatbestandsmerkmale 1. Typisierung durch Digitalisierung zur Streitvermeidung a) Materiell b) Prozedural 2. Beweisregeln und Streitdelegation auf Private 3. Schranken III. Streitvermeidung durch digitale Gesetze 1. Code as Law 2. Zwischenstufen 3. Grenzen der Streitvermeidung durch digitale Gesetze

IV. Streitvermeidung durch digitalen Vollzug 1. Assistierte Deklaration 2. Verifikation einschließlich Horizontal Monitoring und Tax CMS 3. Automatisierter Vollzug in zentralen und dezentralen Systemen V. Digitaler Rechtsschutz 1. Digitalisierung der Verfahren und der Verfahrenshandlungen 2. Online-Mediation und OnlineSchiedsverfahren im nationalen und internationalen Steuerrecht 3. Kognitive Assistenzsysteme in der Rechtsprechung VI. Folgerungen für Ausbildung, Methodenentwicklung und Gesetzgebung

I. Streitpotential, Streitvermeidungsvermögen und Streiterfordernisse der Digitalisierung Digitalisierung lässt sich im Steuerrecht aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Beide waren bereits Gegenstand einer in Band 42 dieser Reihe dokumentierten Jahrestagung zur Digitalisierung im Steuerrecht1. Die eine Perspektive handelt von neuen Phänomenen der Lebenswirklichkeit, neuen Geschäftsmodellen und veränderten sozialen Strukturen, die andere von Veränderungen des Rechts, seines Vollzugs 1 Hey (Hrsg.), Digitalisierung im Steuerrecht, 43. Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V. Köln, 17. und 18.9.2018, DStJG 42 (2019) mit Beiträgen von Drüen, Anzinger, Waldhoff, Reimer, Bizer, Kaeser, Schwab, Heinemann, Seer, Mellinghoff, Pinkernell und Ehrke-Rabel.

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und seiner Durchsetzung und auch der Veränderung seiner Methoden durch Digitalisierung. In beiden Dimensionen begründet die Digitalisierung als gesamtgesellschaftlicher, weltumspannender und gravierender Veränderungsprozess Streitpotential – so auch im Steuerrecht. Es liegt im Wesen pluraler Rechtsordnungen und entspricht den werturteilsoffenen Methoden der Rechtsfindung, dass neue Phänomene der Lebenswirklichkeit mit der Herausforderung ihrer rechtlichen Einordnung zunächst Rechtsunsicherheiten erzeugen und mit gegensätzlichen Auffassungen über ihre Auflösung verbunden werden können. In der digitalen Welt, in der nichts Greifbares im Mittelpunkt steht, wird dies besonders deutlich. Seit jeher als unsicher geltende immaterielle Werte2 und als „Metaverse“ bezeichnete virtuelle Welten („Subwelten mit eigenen Regeln“)3, deren Existenz erst durch technische Hilfsmittel erfahrbar wird4, lassen Bandbreiten der rechtlichen Einordnung zu5. Verbunden mit privatautonomen Möglichkeiten zur Gestaltung einer virtuellen Vermögensordnung in transnationalen Räumen durch Blockchain- und anderer Distributed Ledger-Technologien (DLT) wächst mit der Digitalisierung das Spannungsverhältnis zu bestehenden, mehrheitlich noch auf körperliche Gegenstände zugeschnittenen6, Rechtsregeln7. Digitalisierung deckt Widersprüche im System des Rechts auf. In Regelungssystemen erkannte Widersprüche begründen die Chance zur Systemneubildung, verleiten aber häufig Normgeber zur Komplexitätssteigerung mit den unterschiedlichen Zielen der Bekämpfung von Gestaltungsmissbrauch8 und der Wirtschaftsförderung9. Digitalisierung schafft damit neue Konfliktherde. 2 Hennrichs in Tipke/Lang, 24. Aufl. 2021, Rz. 9.128, exemplarisch für selbst geschaffene immaterielle Werte im Bilanzsteuerrecht. 3 BFH v. 18.11.2021 – V R 38/19, BFHE 274, 355 Rz. 30. 4 Instruktiv Kaulartz/Schmid/Müller-Eising, RDi 2022, 521. 5 Zu den steuerrechtlichen Fragestellungen des Metaverse: Arendt, NWB 2022, 3622; Kirch/Stumm, UVR 2022, 244; Müller, UR 2022, 281. 6 Zum Problem der Eigentumszuordnung von Kryptowerten: Arndt, Bitcoin-Eigentum, 2021, S. 5 ff. 7 Exemplarisch: von Westphalen, ZIP 2020, 737 „Disruptive Technology Creates Disrupted Law“. 8 S. dazu Hüttemann (Hrsg.), Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsmissbrauch im Steuerrecht, 34. Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V. Nürnberg, 14. und 15.9.2009, DStJG 33 (2011) mit Beiträgen von Seer, Kirchhof, Schön, Neumann, Rödder, Wendt, Hey, Tanzer, Kofler, Klein, Schwenke, Corenkamp, Möhlenbrock, Hüttemann. 9 S. dazu Sieker (Hrsg.), Wirtschaftspolitik und Steuerrecht, Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V. am 14./15.9.2015 in Halle,

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Hinzu tritt bei manchen Rechtsanwendern die, ursprünglich in gesellschaftspolitischen Reformideen der Nachhaltigkeitsbewegung begründete, Vorstellung eines Digitalen Reset im Sinne einer breiten Neuverhandlung gesicherter Rechtserkenntnis im Zuge der Digitalisierung10. Exemplarisch ist das Beispiel der steuerrechtlichen Qualifikation von Bitcoin zu nennen. An der Einordnung börsengehandelter und auf privat organisierten Märkten jederzeit gegen eine staatliche Währung eintauschbarer Werte11 als Wirtschaftsgut schien nach den in ständiger Rechtsprechung entwickelten und in Verwaltungspraxis und Schrifttum im Kern unangefochtenen Kriterien12 gar kein Zweifel möglich. Und doch wurde die Frage nach der Wirtschaftsgutseigenschaft von Bitcoin bis zur Entscheidung durch den BFH13 nachdrücklich diskutiert und dies zum Anlass genommen, die Merkmale des Wirtschaftsgutsbegriffs in Frage zu stellen14. Deshalb musste die steuerrechtliche Einordnung von verbreiteten Kryptowerten die FG ebenso intensiv beschäftigen wie das Schrifttum sich im Zuge des technischen Fortschritts erneut der wirtschaftlichen Zuordnung von Software in Cloud-Umgebungen15 oder der Nutzungsdauer von Computerhardware zu widmen hat16. Digitalisierung gibt Anlass, Bestehendes in Frage zu stellen. Sie ist auch aus diesem Grund streitträchtig – nicht nur im Steuerrecht. Dass die Digitalisierung zu Rechtsstreitigkeiten führt – dies als letzte Vorbemerkung – ist freilich sogar ausgesprochen notwendig. Rechtsfortbildung, ja jeder Erkenntnisgewinn über das Recht, setzt Streit voraus.

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DStJG 39 (2016) mit Beiträgen von Mellinghoff, Hey, Schnitzer, Eichberger, Rust, Dobratz, Sutter, Breinersdorfer, Nussbaum, Rödder, Röder, Pinkernell, Sieker. Zum Ursprung des Begriffs: Digitalization for Sustainability (D4S), Digital Reset: Redirecting Technologies for the Deep Sustainability Transformation, 2023. Zur Klassifizierung von Kryptowerten instruktiv BMF v. 10.5.2022, Einzelfragen zur ertragsteuerrechtlichen Behandlung von virtuellen Währungen und von sonstigen Token, BStBl. I 2022, 668 Tz. 1, 3. Tiedchen in Hermann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 5 EStG Rz. 560 ff. (Stand 12/2021). BFH v. 14.2.2023 – IX R 3/22, FR 2023, 323. Andres, DStR 2021, 1630; Schroen, BB 2021, 2263. Marx in Prinz/Kanzler, Handbuch Bilanzsteuerrecht, 4. Aufl. 2021, S. 339 ff.; Oser/Gerlach, StuB 2020, 263; Roos, StuB 2020, 266; Wulf, DStZ 2022, 13. Zur Auseinandersetzung mit der in BMF v. 22.2.2022, BStBl. I 2022, 187 dokumentierten Verwaltungspraxis: Grotherr, Ubg 2022, 177; Schlegel, StBp 2023, 89.

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Die Rechtswissenschaft ist eine Diskurswissenschaft. Ihre Erkenntnisse entstehen im Wettstreit der Argumente. Die Rechtsprechung kann ihre rechtsfortbildende Kraft nur dort entfalten, wo gestritten wird, wo Kläger und Beklagter gegensätzliche Auffassungen vertreten. Die Fortentwicklung des Rechts setzt Streit voraus. Die Kehrseite der Medaille sind die Kosten des Rechtsstreits. Rechtsunsicherheiten und Rechtsstreitigkeiten führen zu Transaktionskosten, die es dort zu minimieren gilt, wo sie sich nicht durch Wohlfahrtsgewinne rechtfertigen lassen. Das Thema dieser Untersuchung ist damit einer Optimierungsaufgabe gewidmet. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden der Frage nach dem Beitrag, den Digitalisierung zur Streitvermeidung und zur Streitbeilegung leisten kann, in vier Abteilungen nachgegangen werden. Zuerst ist das Streitfeld der Sachverhaltsfeststellung und seiner digitalen Verknüpfung mit den gesetzlichen Tatbestandsmerkmalen zu adressieren (II.). Hier ist die These aufzugreifen, dass die Digitalisierung die Vereinfachung des Steuerrechts nochmals dringender erfordert. Es sind aber auch die Schranken der streitvermeidenden Typisierung durch Digitalisierung darzustellen. In der zweiten Abteilung ist dem Versprechen der Streitvermeidung durch digitale Gesetze nachzugehen (III.). Wo eine gerichtliche Entscheidung vorhersehbar deckungsgleich zur Verwaltungsentscheidung durch digitale Gesetze determiniert würde, wäre der Anreiz, sich zu streiten gering. Offensichtlich ist die nur theoretische Bedeutung dieser Fallgruppe. Bedeutsam sind aber die Zwischenstufen und die Grenzen. Größere praktische Bedeutung haben Methoden der Streitvermeidung bereits heute in dem, in der dritten Abteilung darzustellenden, digitalen Vollzug (IV.). Sie beginnen mit computerassistierter Deklaration und vorausgefüllter Steuererklärung, verbinden sich aber auch mit vielversprechenden Entwicklungen digitaler Methoden des kooperativen Steuervollzugs und erlauben die Perspektive auf digitale Verfahren der automatisierten Steuerfestsetzung und auf vieldiskutierte Anwendungen der Blockchain-Technologie. In der vierten Abteilung sind digitale Methoden der Streitvermeidung und der Streitbeilegung vorzustellen (V.). Dabei verspricht ein rechtsvergleichender Blick in das Ausland Erkenntnisgewinne. Er soll exemplarisch auf computergestützte Streitbeilegungsmechanismen für grundsteuerrechtliche Streitigkeiten in den USA gerichtet werden. Und hier wird auch die auf der Kölner Tagung bereits aufgezeigte Asymmetrie zwischen einer Automation des Finanzverwaltungsverfahrens und einer fehlenden Automation des Finanzgerichtsverfahrens

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zu beleuchten sein. Den Abschluss werden Folgerungen für Ausbildung, Methodenentwicklung und Gesetzgebung bilden (VI.).

II. Digitale Tatbestandsmerkmale 1. Typisierung durch Digitalisierung zur Streitvermeidung Bereits nach dem technischen Ursprung des Begriffs in der Elektrotechnik ist Digitalisierung eine Form der Typisierung. Verbunden mit binärer Kodierung handelt sie von der Einordnung differenzierter analoger Signale in die einfachen Kategorien von Null und Eins durch Bildung von Intervallen17. Erst diese typisierende Abbildung der Lebenswirklichkeit eröffnet den Weg in die Technologien, Geschäftsmodelle und Kommunikationsformen der Digitalisierung. Übertragen auf das Steuerrecht bildet die Zuordnung nuancenreicher Lebenssachverhalte in binäre Kategorien ein Hauptstreitfeld der Steuerfestsetzung. Die Abgrenzung unternehmerischen Einsatzes und privater Vermögensverwaltung, freiberuflicher und gewerblicher Betätigung, privater und beruflicher Veranlassung ist auf der Tatbestandsseite feingliedrig, führt aber auf der Rechtsfolgenseite zu groben Rechtsfolgenunterschieden. Die Einordnung in die eine oder die andere Kategorie kann von geringfügigen Faktoren, in der Sprache der Elektrotechnik, kaum wahrnehmbaren Signalen, abhängen, die über erhebliche Steuerbelastungsunterschiede entscheiden18. Die Streitanfälligkeit der mit solchen Unterscheidungen verbundenen Normen ist offensichtlich19. Sie würde nicht geringer, würde man die Zuordnung durch automatisierten Vollzug zusätzlich intransparent und schwer intersubjektiv nachvollziehbar ausgestalten. Diese Erkenntnis führt zu der von Johanna Hey auf der Tagung 2019 aufgeworfenen Frage, ob die Digitalisierung die Vereinfachung des Steuerrechts erfordert oder sogar größere Komplexität erlaubt20. Gregor Kirchhof hatte bereits zwei Jahre zuvor auf der Tagung zur Arbeitneh17 Zu den technischen Grundlagen von Analog/Digital-Umsetzern: Tietze/ Schenk/Gamm, Halbleiter-Schaltungstechnik, 16. Aufl. 2019, S. 1007 ff. 18 Plastisch Hey in Tipke/Lang, 24. Aufl. 2021, Rz. 8.402. 19 Exemplarisch aus der (hierzu bemerkenswert raren) empirischen Forschung: Manhertz, Die Konflikthaltigkeit ertragsteuerlicher Rechtsnormen – eine empirische Analyse der Finanzrechtsprechung, 2007, n.v., zitiert nach Wagner, StuW 2008, 97, 108 f. 20 Hey in DStJG 42 (2019), 132.

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merbesteuerung in Hannover die dieser Frage innewohnende Problemstellung aufgezeigt und die Grenze der Automatisierung des Besteuerungsverfahren dort gesehen, wo die automatisierte Anwendung der Gesetze durch Menschen noch nachvollzogen werden könne21. Durch Computer dürften Verwaltung und Rechtsprechung in einer faktisch nicht nachprüfbaren Entscheidung nicht entmachtet werden. Daraus leitete er in der jüngsten Festschrift für den BFH die Folgerung ab, dass das Einkommensteuergesetz, insbesondere um gleichheitsgerecht digital vollzogen werden zu können, Typisierungen nutzen müsse22. Rudolf Mellinghoff folgte auf der Kölner Tagung mit dem Hinweis auf die 1973 in der Bundesregierung beschlossenen „Grundsätze für die Gestaltung automationsgeeigneter Rechts- und Verwaltungsvorschriften“23. Vor dem Hintergrund der damaligen technischen Möglichkeiten sei man von der Notwendigkeit der verstärkten Systematisierung, Typisierung und Pauschalierung ausgegangen sowie dem Erfordernis der Reduzierung von Differenzierungen, des Verzichts auf Ermessenstatbestände und der Vermeidung unbestimmter Rechtsbegriffe24. Ekkehart Reimer relativierte indessen in der direkten Antwort auf Johanna Hey den Gegensatz von Komplexitätsbewältigung und Vereinfachung. Digitalisierung könne beides leisten, wenn die Algorithmen nachvollzogen und kontrolliert werden könnten25. Mit dieser Überlegung wäre das Steuerrecht offen selbst für granulare Normen, deren digitale Vollziehbarkeit einer Typisierung sogar entgegenstehen könnten26. Wichtig ist aber die aufmerksame Wahrnehmung der Einschränkung: Die Algorithmen müssen nachvollzogen und kontrolliert werden können. Solange das nicht gesichert ist, gilt die von Paul Kirchhof treffend formulierte Feststellung, dass auch in einer digitalen Welt das Steuerrecht unter Gesetzesvorbehalt, nicht unter Computervorbehalt steht27.

21 G. Kirchhof in DStJG 40 (2017), 47 (64 f.). 22 G. Kirchhof in Drüen/Hey/Mellinghoff (Hrsg.), 100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland, FS für den BFH, 2018, S. 361, 364 f. 23 Beschluss der BReg. v. 22.11.1973, GMBl. 1973, S. 555. 24 Mellinghoff in DStJG 42 (2019), 287 (305). 25 Reimer in DStJG 42 (2019), 132 f. 26 Casey/Niblett, Self-Driving Laws, University of Toronto Law Journal (UTLJ) 66 (2016), 429 ff.; mit Kritik hieran Auer, Granular Norms and the Concept of Law: A Critique, in Busch/De Franceschi, Algorithmic Regulation and Personalized Law, 2021, S. 137 ff. 27 P. Kirchhof, DStR 2021, 2761 (2764).

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Daraus ist keine Ablehnung der Digitalisierung, sondern eine Zuwendung zu der durch sie angestoßenen Vereinfachung abzuleiten, die allerdings im materiellen Recht zu unterfüttern ist. Anlegen lässt sich eine reflexhaft damit verbundenen Streitvermeidung einerseits durch materielle und andererseits durch prozedurale Typisierung.

a) Materiell Eine erste Ausrichtung des materiellen Rechts auf die Anforderungen automationsgerechter Gesetzgebung bildete bereits 1958 die Anpassung des Werbungskostenpauschbetrags der Höhe nach an eine durch 12 teilbare Zahl28. Eine besonders automationsgerechte und streitvermeidende Typisierung bildet auch die 1-%-Regelung in § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG zur typisierenden Abbildung des privaten Nutzungsanteils eines überwiegend beruflich genutzten Kraftfahrzeugs. Das gilt ebenso für die damit verknüpften und pauschalierten Betriebsausgaben- und Werbungskostenabzugsbeschränkungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeits- bzw. Betriebsstätte sowie Familienheimfahrten gem. § 4 Abs. 5 Nr. 6 Satz 3 EStG in Höhe des positiven Unterschiedsbetrags zwischen 0,03 % bzw. 0,002 % des Listenpreises und der Entfernungspauschale nach § 9 Abs. 1 Nr. 4, § 4 Abs. 5 Nr. 6 Satz 2 EStG. Die Angemessenheit dieser Pauschalierungen, ihre „Orientierung am Durchschnittsfall“29, der Höhe nach, mögliche Subventionswirkungen und deren Rechtfertigung sind an anderer Stelle zu diskutieren30. In ihrem Vereinfachungszweck zeigen die Regeln aber, wie eine Typisierung ausgestaltet sein kann, die die gebotene leichte Überprüfbarkeit des automatisierten Vollzugs ermöglicht. Als besonders automationsgeeignet erscheint auch das Modell der Abgeltungsteuer, also eines abgeltenden Kapitalertragsteuerabzugs mit proportionalem Tarif, dessen Achillesferse aber nicht nur die Rechtfertigung einer Differenzierung in der Tarifbelastung gegenüber anderen Einkünften

28 Gesetz zur Änderung steuerlicher Vorschriften auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und Ertrag und des Verfahrensrechts v. 18.7.1958, BGBl. I 1958, 473; dazu Anzinger in DStJG 42 (2019), 15 (21). 29 Zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Vereinfachungszwecknormen P. Kirchhof in VVDStRL 39 (1981), 213 (264); Hey in Tipke/Lang, 24. Aufl. 2021, Rz. 3.147 f. 30 Dazu Werndl in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 6 EStG Rz. E 81 (Stand 4/ 2018); zur tages-rechtspolitischen Diskussion über die Angemessenheit der Typisierung: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 28.8.2022, S. 25; Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 15.1.2023, S. 18.

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ist31, sondern bei der sich insbesondere in der Komplexität des automatisierten Vollzugs dessen Fallstricke besonders gezeigt haben32. Gleichwohl kann die Abgeltungsteuer als Beispiel für automationsgerechte, streitvermeidende Gesetzgebung gelten.

b) Prozedural In der Praxis bedeutsamer für die Digitalisierung des Besteuerungsverfahrens und eng mit der materiellen Typisierung verbunden sind die Vorschriften über die Standardisierung und Strukturierung der Sachverhaltsdarstellung. Ihren Ausgangspunkt bildet die Pflicht zur elektronischen Abgabe von Steuererklärungen und zur elektronischen Übermittlung von Bilanzen nach amtlich vorgeschriebenen Datensätzen gem. § 5b und § 25 Abs. 4 EStG33, ergänzt durch die Verordnungsermächtigung in § 150 Abs. 6 AO zur Anordnung der elektronischen Übermittlung von Steuererklärungen und für das Besteuerungsverfahren erforderlicher Daten34. Erweitert wird diese standardisierte Sachverhaltsdarstellung durch die mit dem Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens35 mit der Vorschrift des § 93c AO eingefügte Regelung für eine allgemein ausgestaltete Datenübermittlung durch Dritte36. Beispielhaft zu nennen sind die nach § 10 Abs. 2b EStG zu übermittelnden Daten der Kranken- und Pflegeversicherungsträger, die nach § 22a EStG zu übermittelnden Rentenbezugsmitteilungen, die, standardisiert, „unter Beachtung der im Bundessteuerblatt veröffentlichten Auslegungsvorschriften der Finanzverwaltung zu übermitteln“ sind, sowie die nach § 32b Abs. 3 Satz 1 EStG 31 Englisch, Die Abgeltungsteuer für private Kapitalerträge – ein verfassungswidriger Sondertarif, 2016; Anzinger, GmbHR 2018, 445. 32 Instruktiv zu den Defiziten auf der technischen Detailebene des automatisierten Kapitalertragsteuerabzugs und der verschiedenen Freistellungs- und Entlastungsverfahren BFH v. 2.2.2022 – I R 22/20, BFHE 276, 20 Rz. 13 f.; zur Neukonzeption durch das Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetz v. 2.6.2021 – BGBl. I 2021, 1259: Schurowski, FR 2021, 204. 33 Dazu Kulosa in FS BFH, 2018, 1831 (1841 f.); Mellinghoff in DStJG 42 (2019), 287 (293). 34 Grundlegend über die Perspektiven elektronischer Besteuerungsverfahren und die Strukturierung der Sachverhaltsdarstellung in der E-Bilanz: Brandis, StuW 2003, 349; Deckers/Vieten, FR 2015, 913; Kußmaul/Ollinger/Weiler, StuW 2012, 131; Ortwald, StuW 2021, 351; Seer, FR 2012, 1000 (1003). 35 Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens v. 18.7.2016, BGBl. I 2016, 1679. 36 Dazu Mellinghoff in DStJG 42 (2019), 287 (296); Seer, StuW 2015, 315 (326); Seer in DStJG 42 (2019), 247 (270).

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für die Anwendung des Progressionsvorbehalts zu übermittelnden Daten über die im Kalenderjahr gewährten Leistungen der Sozialleistungsträger.

2. Beweisregeln und Streitdelegation auf Private Bezogen auf diese durch Dritte übermittelten Daten gilt der Grundsatz, Gesetzesvorbehalt nicht Computervorbehalt, auch für die Sachverhaltsfeststellung. Das lässt sich mit Art. 20 Abs. 3 GG begründen, folgt im Steuerrecht aber auch aus dem einfachen Recht und hat für die von Dritten übermittelten Daten in § 93c Abs. 4 Satz 2 AO und § 175b AO zusätzlich Ausdruck gefunden. Es bleibt aber die Gefahr, dass die Datenübermittlung durch Dritte faktisch für den Steuerpflichtigen zu einer Umkehr der Beweisführungslast führt, weil die Finanzbehörde sich auf den Erfahrungsgrundsatz stützen kann, dass die übermittelten Daten zutreffend sind. In der Praxis dürfte der Hinweis von Silvia Schuster zutreffen, wonach von Dritten übermittelten Daten regelmäßig eine höhere Bedeutung haben werden als die Erklärung des Steuerpflichtigen37. Dann kann der Steuerpflichtige zwar einen Gegenbeweis führen. Faktisch verlagert sich aber der Streit auf das Verhältnis zwischen dem Steuerpflichtigen und der übermittelnden Stelle, weil er zur Gegenbeweisführung regelmäßig auf deren Mitwirkung angewiesen sein wird. Für die Bildung der Lohnsteuerabzugsmerkmale sollen hingegen gem. § 39 Abs. 1 Satz 3 EStG die von den Meldebehörden übermittelten Daten bindend sein38. Und bindend sind sie dann auch für den Arbeitgeber, der den Lohnsteuerabzug durchzuführen hat. Der Arbeitnehmer, kann also einen zutreffenden Lohnsteuerabzug nur erreichen, indem er eine geänderte Datenübermittlung durch die Meldebehörde erreicht.

3. Schranken Der Gesetzgeber darf zur Vereinfachung, zur Digitalisierung und zur Streitvermeidung den Einzelfall vernachlässigen und sowohl typisieren als auch pauschalieren, um eine Durchschnittsnormalität zugrunde zu legen39. Wegen der damit für den einzelnen möglichen Grundrechts-

37 Schuster in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 93c AO Rz. 38 (Stand 9/2017). 38 Fissenewert in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 39 EStG Rz. 11 (Stand 12/2022). 39 Hey in Tipke/Lang, 24. Aufl. 2021, Rz. 3.147 f.

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beeinträchtigungen muss dafür aber ein Bedürfnis bestehen. Die Vorteile der Typisierung müssen zudem in einem angemessenen Verhältnis zu der mit ihr notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen40. Mit der technischen Entwicklung und neuen Möglichkeiten granularer Normsetzung und selbststeuernder Gesetze41 könnte sich der Referenzrahmen des „perfekten“ Gesetzes in der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verschieben, an dem zu messen ist, ob durch die Typisierung eintretende Härten und Ungerechtigkeiten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären. Das wirft die Frage auf, ob im Zuge der technischen Entwicklung das Typisierungsbedürfnis entfallen kann, wenn Typisierungen zur Entlastung der Steuerverwaltung und auch zur Digitalisierung nicht mehr notwendig sind, weil granulare Normen und neue technische Möglichkeiten die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit in vollautomatisierten Verwaltungsumgebungen ohne besondere Berücksichtigung von Automationserfordernissen im materiellen Recht mühelos ermöglichen könnten. Doch selbst dann bleibt zumindest ein rechtfertigender Vereinfachungszweck erhalten, der in der konfliktvermeidenden Funktion von Typisierungen und Pauschalierungen besteht. Das gilt jedenfalls solange, als am Erfordernis einer menschlichen Überprüfung und an der Letztentscheidungskompetenz einer von der Verwaltung unabhängigen Rechtsprechung festgehalten wird. Mit dem Ziel der Streitvermeidung darf der Gesetzgeber daher auch dann noch typisieren und pauschalieren, wenn die technischen Möglichkeiten bestehen würden, jeden Einzelfall für sich ohne größeren Verwaltungsaufwand zu würdigen. Jenseits dieser Fortschreibung der Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers für noch theoretische Zukunftsszenarien sind mit den derzeit erreichbaren technischen Möglichkeiten die Grenzen einer Typisierung durch Digitalisierung dort erreicht, wo der Gesetzgeber sich von der realen Welt auch für den Durchschnittsfall löst und der Einzelfall deshalb im Durchschnittsmaßstab keine Berücksichtigung mehr findet. Das gilt gleichermaßen für Typisierungen in der Ausgestaltung der materiellen Maßstäbe wie in der Sachverhaltsfeststellung. Knüpft der Gesetzgeber an die Datenübermittlung durch Dritte an, kann er deshalb jedenfalls nur dann die Berücksichtigung des tatsächlichen Sachverhalts ausschließen, wenn die durch Dritte übermittelte Daten in der Durchschnittsnormali40 BVerfG v. 7.12.2022 – 2 BvR 988/16, WM 2023, 516 Rz. 137; BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 Rz. 58. 41 Reimer in DStJG 42 (2019), 97 (125); Anzinger in DStJG 42 (2019), 15 (33 f.).

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tät zutreffend sind. Die Wirkungen sind weitreichend. Ordnet das Gesetz typisierend die Bindung an die durch einen Dritten übermittelten Daten an, könnte selbst die Rechtsprechung in der Tatsacheninstanz dann im Einzelfall keine andere Sachverhaltsfeststellung vornehmen. Das wäre streitvermeidend und digitalisierungsfreundlich, aber auch rechtsschutzbeschneidend. Diese Form der Sachverhaltstypisierung muss sich daher nicht nur als verhältnismäßiger Eingriff in den Gleichheitssatz rechtfertigen lassen, sondern wäre zusätzlich am Maßstab der Rechtsschutzgarantie zu messen. Einfacher lässt sich feststellen, dass die Verwaltung ohne gesetzliche Grundlage keine solche Typisierung vornehmen könnte. Sie darf – ohne gesetzliche Grundlage – die digitalisierte Lebenswirklichkeit auch dann nicht an die Stelle der realen treten lassen, wenn ihr die Daten verlässlich von Dritten geliefert werden und muss ein offenes Ohr für die direkten Einwendungen des Steuerpflichtigen behalten. Die Vorschrift des § 93c Abs. 4 Satz 2 AO ist im Lichte dieses Erfordernisses auszulegen und in der Verwaltungspraxis in dieser Auslegung ernst zu nehmen.

III. Streitvermeidung durch digitale Gesetze Wo vollautomatisch vollziehbare Gesetze keinen Interpretationsspielraum erlauben und typisierend an digitale Lebenssachverhalte anknüpfen könnten, würden sie jeden Streit ausschließen, solange nicht ihre Geltung selbst angefochten würde. Wenngleich dieses Szenario als ferne Utopie erscheint und das Gebot der Publizität des Steuergesetzes eine natürlich-sprachliche Fassung als einzig verbindliche erscheinen lässt42, lassen sich mit digitalen Gesetzen auch andere Vorstellungen verbinden und diese in vier Kategorien einteilen. In der Ersten ist der bloße Medienwandel zu beschreiben. Wenn Gesetze nicht mehr gedruckt, sondern, wie nunmehr in § 2 VkBkmG43 vorgesehen, elektronisch veröffentlicht werden44, ändert dies selbst dann nichts an ihrer Geltung, Auslegung und Anwendung, wenn sie in leichter maschinenlesbaren Formaten vorlie42 Mellinghoff in DStJG 42 (2019), 287 (304); Waldhoff in DStJG 42 (2019), 59 (70). 43 Gesetz über die Verkündung von Gesetzen und Rechtsverordnungen und über Bekanntmachungen i.d.F. Gesetz zur Modernisierung des Verkündungsund Bekanntmachungswesens v. 20.12.2022, BGBl. I 2022, 2752. 44 Zur elektronischen Verkündung von Gesetzen: Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Verkündungs- und Bekanntmachungswesens v. 10.8.2022, BT-Drucks. 20/3068; Strohmeier/Gamisch, DÖV 2019, 478.

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gen. Die Sprache, in der sie verfasst sind, bleibt an Menschen adressiert und für Computer schwer verständlich. Für den automatisierten Gesetzesvollzug helfen indessen bereits annotierte digitale Gesetze, also solche, die in natürlicher Sprache verabschiedet und veröffentlicht, aber mit maschinenlesbaren Metainformationen angereichert sind, die es Computern erleichtern, der natürlichen Sprache Regelinformationen zu entnehmen45. Eine dritte Kategorie bilden nachfolgende Übersetzungen der in natürlicher Sprache veröffentlichten Gesetze in Programmablaufpläne. Sie erleichtern es, Computerprogramme zu konstruieren, die den automatisierten Vollzug des Gesetzes nachvollziehen sollen, ändern aber nichts an der Maßgeblichkeit des Gesetzes und binden weder die Bürger noch die Rechtsprechung46, auch wenn aufgrund ihrer faktischen Wirkung über eine Erstreckung des Gesetzesvorbehalts auf die Umsetzung von Gesetzen in einen Programmcode nachgedacht werden muss47. Ein wirklicher Qualitätssprung tritt erst ein, wenn Gesetze tatsächlich verbindlich einheitlich in einer menschenverständlichen Computersprache oder zweisprachig – mit dem Problem der semantischen Konkordanz48 oder der Grenzverletzung49 – veröffentlicht werden oder noch weitergehend die Funktionalität eines personalisierten (granularen) Gesetzes erhalten. Für diesen Fall stellt sich die Frage ihrer streitunterbindenden Wirkung und auch die nach deren Schranken.

1. Code as Law Wie ausgeführt, erscheinen bislang nur in theoretischen Gedankenmodellen Gesetze vorstellbar, die in einer Programmiersprache verfasst dem Rechtsanwender jeden Interpretationsspielraum nehmen sollen und die Verwaltung und die Rechtsprechung deckungsgleich binden. Für Streit bliebe dann nur Raum im Rahmen der Sachverhaltsfeststellung oder im Hinblick auf ihre Geltung. Um wenigstens diese Bindung eines „Code as Law“ zu erreichen, müsste der Gesetzgeber aber nicht nur das Gesetz in einer Programmiersprache veröffentlichen, sondern auch die Methoden seiner Interpretation beschränken und den Gerichten die Auslegungsregeln der Computerinterpreten und Compiler vorschreiben. Im 45 Reimer in DStJG 42 (2019), 97 (113 f.); Anzinger in DStJG 42 (2019), 15 (30 f.). 46 Dazu Reimer in DStJG 42 (2019), 97 (107). 47 P. Kirchhof, DStR 2018, 497 (501). 48 Reimer in DStJG 42 (2019), 97 (117). 49 Gegen die Maßgeblichkeit nicht in natürlicher Sprache verfasster Gesetze: Waldhoff in DStJG 42 (2019), 59 (70).

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geltenden Verfassungsrecht würde ein solches Vorgehen nicht nur mit dem Erfordernis der allgemeinen Verständlichkeit des Gesetzes konfligieren, diese Hürde ließe sich durch menschenverständliche Programmiersprachen und Techniken der Visualisierung nehmen, es widerspräche vielmehr auch der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht und dem Grundsatz der freien richterlichen Überzeugungsbildung. Eine vollständige Entmachtung der Rechtsprechung durch starre Bindung an maschinenkongruente Rechtsanwendungsregeln ist im geltenden Unions- und Verfassungsrecht ausgeschlossen50.

2. Zwischenstufen Bedeutsamer für die Streitvermeidung durch Gesetze sind daher die Zwischenstufen. Diese sind im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien in der 20. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags mit der Zielsetzung adressiert, Steuernormen sollten digitalisierbar und automationsfreundlich ausgestaltet und im Vorfeld von Gesetzgebungsvorhaben einem Digitalcheck unterzogen werden51. Das eröffnet Perspektiven sowohl zur begleitenden Veröffentlichung von Programmablaufplänen als auch zur Entwicklung eines steuerlichen Kernalgorithmus. Bindung erlangen könnte beides nur im Rahmen einer Selbstbindung der Verwaltung, nicht aber für die Rechtsprechung.

3. Grenzen der Streitvermeidung durch digitale Gesetze Die Grundsätze der Gewaltenteilung und der freien richterlichen Überzeugungsbildung schließen eine vollständige Algorithmisierung des Rechts aus. Der Gesetzgeber kann aber die Grenzen für menschliche Wertungsentscheidungen definieren und, wie von Ekkehart Reimer auf der Kölner Tagung beschrieben, eine Arbeitsteilung für Mensch und Ma50 Zutreffend Mellinghoff in DStJG 42 (2019), 287 (306); im Ergebnis ebenso Arbeitsgruppe „Einsatz von KI und algorithmischen Systemen in der Justiz“, Grundlagenpapier zur 74. Jahrestagung der Präsidentinnen und Präsidenten der OLG, des KG, des BayObLG und des BGH vom 23. bis 25.5.2022 in Rostock, S. 23, veröffentlicht unter https://oberlandesgericht-celle.niedersachsen. de/download/187961/Grundlagenpapier_der_Arbeitsgruppe_zum_Einsatz_ von_KI_und_algorithmischen_Systemen_in_der_Justiz_nicht_barrierefrei_.pdf (zuletzt abgerufen am 1.6.2023). 51 Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP, 2021, S. 8; dazu Endres/Mellinghoff, beck.digitax 2022, 366; dazu Kaeser/Wünnemann, DStR 2022, 1 (5).

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schine vorzeichnen, die auch Raum für richterliche Rechtsfortbildung lässt52. Ein vollständiger Algorithmus, darauf hat wiederum Rainer Hüttemann zutreffend hingewiesen, würde mit der Streitvermeidung auch Rechtsfortbildung unterbinden53. Die Anforderung einer Digitalisierbarkeit darf daher weder unbestimmte Rechtsbegriffe noch prinzipienorientierte Regelsetzung ausschließen und das Ziel der Streitvermeidung nicht uneingeschränkt verfolgen, sondern muss vielmehr Streiträume auch zu Lasten der Automationsgeeignetheit von Rechtsnormen belassen, um Spielräume für die Rechtsfortentwicklung zu ermöglichen.

IV. Streitvermeidung durch digitalen Vollzug Steuerstreitigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung, bei der Gesetzesauslegung oder bei der Subsumtion entstehen im Vollzug und lassen sich am besten bereits dort vermeiden. Deshalb ist besonders darüber nachzudenken, wie sich Techniken des digitalen Vollzugs dazu nutzbar machen lassen, um ein streitvermeidendes Kooperationsverhältnis zwischen Finanzbehörden und Steuerpflichtigen auszugestalten.

1. Assistierte Deklaration Die streitvorbeugende Anleitung des Steuerpflichtigen bei der Erklärung der von ihm verwirklichten steuerlich relevanten Lebenssachverhalte ist nicht erst eine Entwicklung der Digitalisierung, sondern war bereits in papiergebundenen Formularen, analogen Ausfüllhilfen und – fortbestehend – in Verwaltungsrichtlinien und -erlassen angelegt. Eine besondere Rolle spielten schon in der papiergebundenen Welt die Anleitungen zu den Steuererklärungen, die zutreffend als Beratung i.S.d. § 89 AO qualifiziert werden können54. Die durch die Finanzbehörden zur Verfügung gestellten elektronischen Formulare und Ausfüllhilfen sowie die durch private Drittanbieter entwickelte Erklärungssoftware überführt nur die früher formulargeleitete Selbstveranlagung in eine rechnergeleitete. Die Bedeutung dieser automatisierten Anleitung und die gestiegene Bedeutung von privater Drittanbietersoftware würdigt der Gesetzgeber in der ebenfalls durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfah-

52 Reimer in DStJG 42 (2019), 97 (110). 53 Hüttemann in DStJG 42 (2019), 130. 54 Schmidt, DB 2022, 2566 (2568); Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 150 AO Rz. 8.

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rens eingefügten Vorschrift des § 87c AO55. Sie regelt die Anforderungen an nicht amtliche Datenverarbeitungsprogramme für das Besteuerungsverfahren und Sorgfaltspflichten der Anbieter in Verbindung mit der Haftungsnorm des § 72a AO ebenso wie ein Prüfungsrecht der Finanzbehörden in § 87c Abs. 4 Satz 1 AO. Mit wachsender „Beratungskompetenz“ privater Drittanbietersoftware wächst das Spannungsfeld zur pluralen Steuerberatung und es kann die Gefahr von Konzentrationsprozessen entstehen, die nicht allein wettbewerbsrechtlich, sondern auch mit Blick auf die durch sie bewirkte Verengung von Diskursräumen und einer Verringerung der Vielfalt an Interpretationsangeboten zu bewerten sein werden. Und auch hierauf bezogen gilt es Streiträume zu erhalten, um Möglichkeiten zur Fortentwicklung des Rechts zu bewahren. Diese rechtspolitische These leitet über von der rechnergeleiteten zur vorausgefüllten Steuererklärung. Mit der Fortentwicklung der vorausgefüllten Steuererklärung56 schaffen Gesetzgeber und Verwaltung zusätzliche Anreize zur Befolgung der Verwaltungsinterpretation. Die vorausgefüllten Daten sind zwar vom Steuerpflichtigen zu prüfen57. Das Konzept der vorausgefüllten Steuererklärung verbindet die Sachverhaltsfeststellung aus von Dritten übermittelten Daten aber durch die Feldzuordnung bereits mit einem Subsumtionsvorschlag, dem der Steuerpflichtige aktiv durch die Erläuterungen im Freitextfeld widersprechen muss58. Andernfalls macht er sich diesen automatisierten Subsumtionsvorschlag nach der gesetzlichen Fiktion des § 150 Abs. 7 Satz 2 AO zu eigen und willigt uninformiert in eine vollständig automationsgestützte Festsetzung ein59. Die Bequemlichkeit dieser „Easy Tax“ ist ein Nudge zur Streitvermeidung, der nicht nur mit seinen Haftungsrisiken60, sondern auch mit seiner negativen Konsequenz vermiedener Diskursräume in Einspruchs- und Finanzgerichtsverfahren sowie unterdrückter Rechtsfortbildung zu reflektieren ist.

55 56 57 58 59 60

Dazu Reimer in DStJG 42 (2019), 97 (100). Möhlenbrock/Hoeck, StuW 2020, 180 (181 f.). Eichhorn, DStR 2013, 2722 (2723); G. Kirchhof in DStJG 40 (2017), 47 (68). Spilker, FR 2022, 211 (212). Seer in Tipke/Kruse, § 150 AO Rz. 50 (Stand 9/2022). Spatschek/Spilker, DStR 2021, 2161.

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2. Verifikation einschließlich Horizontal Monitoring und Tax CMS Neue Techniken der Digitalisierung erlauben schließlich auch die Modernisierung und Digitalisierung der Betriebsprüfung61. Dabei ist nicht nur an die zuletzt durch das Gesetz zur Modernisierung des Steuerverfahrensrechts62 ausgebauten digitale Datenzugriffsmöglichkeiten63 und die automationsgestützten Systeme zu denken, die die Finanzbehörden zur Beurteilung der Notwendigkeit weiterer Ermittlungen und Prüfungen für eine gleichmäßige und gesetzmäßige Festsetzung von Steuern und Steuervergütungen einsetzen können64. Streitvermeidend wirkt bereits der Einsatz von automatisierten innerbetrieblichen Kontrollsystemen (Steuer-IKS oder Tax Compliance Management Systemen)65, deren zugrunde liegende Regelwerke mit der Verwaltungsauffassung korrelieren und zur Eröffnung von Streiträumen auch davon abweichen können. Noch weitergehend zur positiven Streitvermeidung tragen Plattformen und Systeme bei, durch die Finanzbehörde und Steuerpflichtige zeitnah zur Deklaration und Veranlagung kooperieren können66. Digitale Plattformen können den Einstieg in eine veranlagungszeitraumnahe Betriebsprüfung mit dem perspektivischen Ziel einer begleitenden Kontrolle, bekannter unter dem englischen Begriff des Horizontal Monitoring67,

61 Dazu bereits Heinemann in DStJG 42 (2019), 223; Kulosa in FS BFH, 2018, S. 1831 (1844 ff.); Mellinghoff in DStJG 42 (2019), 287 (297 ff.). 62 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2021/514 des Rates vom 22.3.2021 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Modernisierung des Steuerverfahrensrechts v. 20.12.2022, BGBl. I 2022, 2730. 63 Kaeser in DStJG 42 (2019), 145 (146); Fischer, StuB 2023, 129 (133). 64 Überblick zum Einsatz von Risikomanagementsystemen in der Betriebsprüfung: Seer in Tipke/Lang, 24. Aufl. 2021, Rz. 21.234; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 193 AO Rz. 44 (Stand 5/2022). 65 Zu Anforderungen, Ausgestaltungsformen und Einsatz in der Praxis: Alt/ Bachmann/Seifert, DB 2022, 2308; Blaufus/Trenn, StuW 2018, 42; Fischer/ Schwab, DStR 2018, 2040; Niemann/Dodos, DStR 2021, 392; Pull, DStR 2022, 2132. 66 Zur Ausgestaltung und Konfliktreduktion durch zeitnahe Betriebsprüfungen bereits Drüen, Modelle und Rechtsfragen zeitnaher Betriebsprüfung, ifstSchrift 469, 2011; Risse, DB 2011, 667 (669 ff.); mit einer Analyse des Gesetzes zur Modernisierung des Steuerverfahrensrechts, Wagner, FR 2023, 213. 67 Ehrke-Rabel, StuW 2015, 101 (111 ff.).

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erleichtern und auch die dafür notwendige Transparenz herstellen68. Darin einbetten lassen sich Tax Compliance Management Systeme, die aber auch im Rahmen der durch das Gesetz zur Modernisierung des Steuerverfahrensrechts69 eingefügten Experimentierklausel des § 38 EGAO nicht streiterstickend, sondern streitoffen auszugestalten sind. Ein Steuerkontrollsystem ist i.S.d. § 38 Abs. 1 Satz 1 EGAO daher auch dann als wirksam anzusehen, wenn es streitprovozierende Abweichungen von der Verwaltungsauffassung erlaubt, solange gewährleistet ist, dass diese Streitanlässe für die Finanzbehörde in Veranlagung und Außenprüfung leicht erkennbar offengelegt sind. In diesem konstruktiven Sinne einer positiven Streitkultur wirken schließlich auch Transparenz und regelmäßiger Austausch durch digitale Plattformen streitvermeidend oder tragen zur Streiteffizienz bei und lassen sich bei multinationalen Unternehmen für die Zusammenarbeit mehrerer Finanzbehörden unterschiedlicher Staaten70 auch im Rahmen der experimentell erprobten International Compliance Assurance Programme (ICAP)71 nutzen.

3. Automatisierter Vollzug in zentralen und dezentralen Systemen Ein automatisierter Vollzug, wie ihn § 155 Abs. 4 AO ausdrücklich erlaubt, führt im Besteuerungsverfahren – jedenfalls aus der Ergebnisperspektive – zu keinem entscheidenden Paradigmenwechsel72. Anders als im Zivilrecht, ist zur Rechtsdurchsetzung mit und ohne Automatisierung weder die Durchführung eines gerichtlichen Erkenntnisverfahrens noch die Erwirkung eines Vollstreckungstitels erforderlich und die menschliche Komponente ist auf Seiten der Finanzbehörde im Massenfestsetzungsverfahren, das faktisch einem Selbstveranlagungsverfahren 68 Die Bedeutung von Transparenz in „co-operative compliance“-Programmen zutreffend betonend: Ehrke-Rabel, StuW 2015, 101 (108 ff.). 69 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2021/514 des Rates vom 22.3.2021 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Modernisierung des Steuerverfahrensrechts v. 20.12.2022, BGBl. I 2022, 2730. 70 Mit einem internationalen Vergleich bestehender Kooperative Tax Compliance-Programm Birkemeyer/Blaufus/Keck/Reineke/Trenn, DStR 2019, 121, 178. 71 Dazu Kowallik, DB 2020, 412. 72 So wohl auch Seer in FS BFH, 2018, S. 1717, 1727; kritisch hingegen Braun Binder, DStZ 2016, 526 (534 f.); zu den Risiken Englisch/Schuh, Verw 2022, 155 (165 ff.).

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nahekommt73, bei realistischer Betrachtung selbst in seiner analogen Variante vernachlässigbar. Und auch die Bedenken im Hinblick auf ein strukturelles Vollzugsdefizit74 betreffen nur die Ausgestaltung, nicht die Konzeption dem Grunde nach75. Die materiellen Ermittlungs- und Kontrollpflichten der Finanzbehörde bleiben unverändert durch den Untersuchungsgrundsatz geprägt und unbeeinflusst von den Algorithmen, derer sie sich dazu bedient, aber für deren Qualität und deren Einsatzgrenzen sie die Verantwortung trägt76. Entscheidend ist die Gewährung rechtlichen Gehörs. Es ist durch die automatisierte Aussteuerung bei Einträgen im Freitextfeld nach § 155 Abs. 4 Satz 3 AO gewährleistet77. Nüchtern hat Klaus-Dieter Drüen auf der Kölner Tagung die Möglichkeiten der Ermessensvorstrukturierung und die Grenzen automatisierter Ermessensausübung im automatisierten Vollzug beschreiben können78. Die aufgezeigten Maßstäbe haben sich seither weder durch technische noch durch rechtliche Entwicklungen verschoben. Die dort aufgezeigte Problematik, dass in Vollzugsalgorithmen von den gesetzlichen Vorgaben, etwa durch ein „computergestütztes Vereinfachungsmanagement“ abgewichen werden könnte, findet ihre Wurzel indessen nicht in der Digitalisierung als solche. Wertmäßige Aufgriffsgrenzen können auch im analogen Verwaltungsverfahren durch dokumentierte Verwaltungsanweisungen wirken. Sie sind hier wie dort nur im Rahmen der gesetzlichen Maßgaben zulässig79. Eine neue Kategorie des automatisierten Vollzugs eröffnen perspektivisch die immer intensiver diskutierten Möglichkeiten der BlockchainTechnologie, etwa um einen automatisierten Kapitalertragsteuerabzug oder eine automatisierte Umsatzsteuerzahlung zu realisieren80. Diese 73 Zu den Unterschieden der Festsetzungsfiktion im Steueranmeldeverfahren und der automatisierten Festsetzung Seer, Verw 2022, 25 (38 f.). 74 Meyer, JZ 2017, 614 ff. 75 Zutreffend Mellinghoff in FS BFH, 2018, S. 421 (428). 76 Im Ergebnis ebenso Drüen in DStJG 42 (2019), 193 (216). 77 Mit Kritik an der fehlenden Transparenz dieser Bedeutung des Freitextfeldes Braun Binder, DStZ 2016, 526 (534 f.). 78 Drüen in DStJG 42 (2019), 193 (202). 79 Drüen in DStJG 42 (2019), 193 (209); Mellinghoff in FS BFH, 2018, 421 (435). 80 Endres, beck.digitax 2022, 142; Müller, Bekämpfung der Mehrwertsteuerhinterziehung bei grenzüberschreitend erbrachten digitalen Dienstleistungen an Verbraucher mit Hilfe der Blockchain-Technologie, 2022; Müller, UR 2022, 81; Guggenberger/Ismer/Jackl/Maier/Völter, DStR 2022, 1939; mit Überlegungen zum Kapitalertragsteuerabzug Smilek, Rethinking Tax 2022, 19.

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Form des automatisierten Vollzugs wirkt nicht nur streitvermeidend. Sie lässt sich auch mit automatisierten Formen der Streitbeilegung verbinden. Und dies leitet über zur vierten Abteilung des digitalen Rechtsschutzes.

V. Digitaler Rechtsschutz 1. Digitalisierung der Verfahren und der Verfahrenshandlungen Bezogen auf den Rechtsschutz im Besteuerungsverfahren sind Finanzbehörden und FG unter den verschiedenen Gerichtsbarkeiten in Deutschland und im internationalen Vergleich nicht unter den Pionieren der Digitalisierung. Die Verfahren des außergerichtlichen und gerichtlichen Rechtsschutzes fanden ungeachtet der gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten elektronischer Kommunikation der in § 91a FGO vorgesehenen mündlichen Verhandlung unter Einbeziehung einer Videokonferenz noch bis vor kurzer Zeit ganz überwiegend analog, auf Papier statt, Verhandlungen – nach wie vor – im Grundsatz in Präsenz, in einem Gerichtssaal, am Sitz des zuständigen Gerichts81. Erst seit Anfang des Jahres 2022 sind Rechtsanwälte, Behörden und Personen, für die ein sicherer Übermittlungsweg nach § 52a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FGO zur Verfügung steht, verpflichtet, Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen als elektronisches Dokument zu übermitteln82. Trotz Konkretisierung durch eine Rechtsverordnung83 waren die Rechtsunsicherheiten über die Einzelheiten zulässiger Formate und die einzuhaltenden Standards der Datensicherheit lange ebenso groß wie technische Anfangsschwierigkeiten84. Für den vom § 52d Abs. 1 FGO nicht erfassten Personenkreis bleibt es bei den Möglichkeiten des konventionellen Zugangs zu den 81 Anzinger, ZKM 2021, 53. 82 Im Einzelnen Hendricks/Höpfner, Ubg 2018, 184 (186); Mellinghoff in FS BFH, 2018, S. 421 (439 ff.); zur Diskussion Endres, beck.digitax 2022, 142 (150). 83 Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr- Verordnung – ERVV) v. 24.11.2017, BGBl. I 2017, 3803, zuletzt geändert durch Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer Vorschriften v. 5.10.2021, BGBl. I 2021, 4607. 84 Hendricks/Höpfner, Ubg 2018, 184, 185; Mellinghoff in FS BFH, 2018, S. 421 (441).

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Gerichten. Das „besondere elektronische Bürger- und Organisationenpostfach (eBO)“ bildet bislang nur eine Perspektive, die sich als Standard vor einer verpflichtenden Einführung noch bewähren muss85. Im Einspruchsverfahren bleibt es weiter bei der bloßen Möglichkeit der elektronischen Kommunikation86. Der Einspruch kann elektronisch auch mittels einfacher E-Mail87 oder über das ELSTER-Portal88 eingelegt werden. Zulässig sind aber nach wie vor gleichwertig das Telefax wie die Postkarte89. Ebenso wenig verpflichtend ist, selbst nach der Neufassung90 des § 174 ZPO durch das Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten91, auf den § 53 Abs. 2 FGO für die Zustellung verweist, die elektronische Kommunikation durch das Gericht auf der Postausgangsseite92. Sie ist nun aber wenigstens erlaubt, wenn der Adressat einen entsprechenden Zugang eröffnet hat, durch einen „sicheren Übermittlungsweg“ gewährleistet ist, dass das Steuergeheimnis gewahrt bleibt, und bei nichtprofessionellen Verfahrensbeteiligten die elektronische Kommunikation durch diese eröffnet wurde oder diese auf andere Weise in eine elektronische Zustellung eingewilligt haben93. Erst ab 2026 dürfen gem. § 52b Abs. 1a Satz 1 FGO bei den Gerichten neu angelegte Akten nur noch elektronisch geführt werden94. Die Fülle damit verbundener technischer Einzelfragen ist an anderer Stelle bereits beschrieben95. Im internationalen Vergleich hinkt damit sowohl das Einspruchsals auch das Finanzgerichtsverfahren schon beim bloßen Medienwandel hinterher96. Wenngleich hier die jüngsten Entwicklungen Hoffnung ma85 Ähnlich Brandis in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 52a AO Rz. 5 (Stand 2/2022). 86 Zu den Perspektiven Endres, beck.digitax 2022, 142 (150 f.); Mellinghoff, Rethinking Tax 2022, 42 (46). 87 Bartone in Gosch, AO/FGO, § 357 AO Rz. 23 (Stand 7/2022); Seer in Tipke/ Kruse, AO/FGO, § 357 AO Rz. 8 (Stand 2/2021). 88 Zu den Schwächen dieses Wegs Schwab in DStJG 42 (2019), 157 (160 f.). 89 Bartone in Gosch, AO/FGO, § 357 AO Rz. 21 (Stand 7/2022). 90 Zur früheren Rechtslage Brandis in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 53 AO Rz. 14b (Stand 2/2022). 91 Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer Vorschriften v. 5.10.2021, BGBl. I 2021, 4607. 92 Brandis in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 52a AO Rz. 5 (Stand 2/2022). 93 Brandis in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 53 AO Rz. 14c (Stand 2/2022). 94 Brandis in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 52b AO Rz. 2 (Stand 2/2022). 95 Mellinghoff in FS BFH, 2018, S. 421 (444 f.). 96 Für den Bereich der Finanzverwaltung bietet mittlerweile ein Online-Verzeichnis der OECD (https://www.oecd.org/tax/forum-on-tax-administration/ tax-technology-tools-and-digital-solutions/) einen internationalen Überblick über den Stand der Entwicklung in den einzelnen Steuerverwaltungen; dazu

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chen, dass bald Anschluss gefunden wird, liegen über den Medienwandel hinausreichende Innovationen noch nicht einmal im Vorrat der für nächste rechtspolitische Schritte erwogenen Ideen. Aufholbedarf besteht für das Finanzgerichtsverfahren nicht nur im internationalen Vergleich, sondern auch im Verhältnis zu anderen Gerichtsbarkeiten. Die Überlegungen zur Modernisierung des Zivilprozesses97 erscheinen denen zur Modernisierung des Finanzgerichtsprozesses immer einen Schritt voraus. Für die weiterführende Digitalisierung im Zivilprozess sind nicht nur Ideen entwickelt, sondern schon erste Pilotprojekte begonnen worden98. Zu berücksichtigen ist freilich, dass die im Zivilprozess oft herausfordernde Identifikation des Streitgegenstandes, die Strukturierung des Streitstoffes, die Trennung von Streitigem und Unstreitigem, im finanzgerichtlichen Verfahren durch die formularmäßig standardisierten Sachverhaltserklärungen vorbereitet und Streitiges von Unstreitigem bereits im vorgeschalteten Einspruchsverfahren getrennt wird99. Im Einspruchs- und Finanzgerichtsverfahren sind daher andere prioritäre Zielsetzungen mit den Möglichkeiten der Digitalisierung zu verbinden als in zivilprozessualen Verfahren. An erster Stelle muss die Vermeidung von Medienbrüchen und die durchgängige Abstimmung des Verfahrensund Prozessrechts auf einheitliche digitale Formate stehen. Dieser Ab-

Gmoser, beck.digitax 2022, 256; mit einem Vergleich zu Österreich Schmidt, BB 2021, 1047. 97 Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“, Diskussionspapier, 2021, abrufbar unter https://oberlandesgericht-celle.niedersachsen.de/startsei te/aktuelles/modernisierung_des_zivilprozesses_diskussionspapier/modernisie rung-des-zivilprozesses-diskussionspapier-216520.html (zuletzt abgerufen am 1.6.2023); dazu Heil, ZIP 2021, 502; Stürner, ZZP 2022, 369. 98 Zum Pilotprojekt mit dem Legal-Tech-Assistenzsystem Codefy am LG Ingolstadt Kahle, LTZ 2022, 170; zum Reallabor für einen strukturierten Parteivortrag an Testgerichten Bert, AnwBl. 2023, 94; zum Pilot-Projekt mit dem KISystem „Frauke“ am AG Frankfurt/M.: Hessenschau v. 9.5.2022, abrufbar unter https://www.hessenschau.de/panorama/amtsgericht-frankfurt-kuenstli che-intelligenz-hilft-bei-massen-urteilen-v1,amtsgericht-roboter-100.html (zuletzt abgrufen am 1.6.2023). 99 Diese dem Einspruchsverfahren über die Rechtsschutz-, Selbstkontroll- und Entlastungs-Filterfunktion innewohnende vierte Funktion der Streitstrukturierung ist bislang noch wenig untersucht; nur zu den ersten drei Funktionen Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, Vor §§ 347–368 AO Rz. 12; Tappe in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Vor §§ 347–368 AO Rz. 11 (Stand 11/2014).

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stimmungsprozess beginnt mit dem digitalen Steuerbescheid100, der zunächst – mit Rücksicht auf die unterschiedlichen digitalen Zugangsmöglichkeiten unter den Steuerpflichtigen – in den Grenzen des § 122a Abs. 1 AO fortzuentwickeln ist, und muss sich in einem digitalen Einspruchsverfahren fortsetzen. Folgerichtig muss im finanzgerichtlichen Verfahren dann weiter der Zugriff auf die digitalen Akten der Finanzbehörden ermöglicht werden. Auf diese Notwendigkeit hatte Rudolf Mellinghoff ebenfalls bereits auf der Kölner Tagung hingewiesen101. Widersprüchlich wäre es, im Finanzgerichtsprozess hinter aktuelle digitale Standards zurückzufallen. Aus eingescannten Papierakten erstellte PDF sind zwar digital, aber nicht mehr zeitgemäß und durch moderne strukturierte Dateiformate (Beispiel XML) abzulösen102. Um effektiv Rechtsschutz gewähren zu können, müssen die FG technisch auf Augenhöhe mit den Finanzbehörden stehen. Gleichzeitig darf der Zugang zum Rechtsschutz nicht durch digitale Hürden erschwert werden und es ist die Herausforderung eines Digital Divide103 zu adressieren. Das erfordert aber weder die verfassungsrechtliche Konstruktion eines Bürgerrechts auf IT-Abwehr noch gebietet es eine dauerhafte Parallelität von analogen und digitalen Rechtsschutzmöglichkeiten104. Steuerpflichtige, die Schwierigkeiten im Umgang mit den technischen Verfahren haben, sind durch die Finanzbehörden und die Geschäftsstellen der Gerichte zu unterstützen. Wo die Parteien nicht ohnehin professionell vertreten sein müssen, sind personell ausreichend besetzte Stellen einzurichten, die den Zugang zum Recht auch Personen ohne digitale Fähigkeiten ermöglichen. Ungeachtet dieser digital-analogen Brücken bildet die Einrichtung von digitalen Rechtmittelportalen für das Einspruchs- und das Finanzgerichtsverfahren eine folgerichtige und notwendige Fortentwicklung des Gebots der digitalen Deklaration im Besteuerungsverfahren. Hierzu könnten Parallelprojekte zur Modernisierung des Zivilprozesses und auch Vorbilder im Ausland aufgegriffen werden. Dass sich solche Portale insbesondere in den USA besonders für grundsteuerrechtliche Strei100 Zur Entwicklung und Ausgestaltung auch Seer in FS BFH, 2018, S. 1717 (1729 f.). 101 Mellinghoff in DStJG 42 (2019), 287 (312). 102 Zu den früheren Überlegungen eines XML-Standards für Gerichtsentscheidungen: Gantner/Ebenhoch, JurPC Wb-Dok. 116/2001. 103 Zu dieser Diskussion Kraner, Bridging the Digital Divide in E-Government, 2004, S. 59 ff. 104 Mit dieser Überlegung noch Heckmann in Heckmann/Paschke, jurisPK/Internetrecht, 7. Aufl., Kap. 5 Rz. 203 (Stand: 9.9.2022).

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tigkeiten entwickelt haben, lässt den Blick dorthin als lohnend erscheinen. Das gilt besonders deshalb, weil für das reformierte deutsche Grundsteuerrecht eine gegenwärtige Erklärungs- und Feststellungslawine bereits in eine erste Rechtsmittellawine übergegangen ist und selbst nach deren erstem abebben in allen Ausgestaltungsvarianten mit weiteren Wellen zu rechnen sein wird105. Dann werden digitale Methoden zur Streitvermeidung und Streitbeilegung im Grundsteuerrecht besonders dringend gebraucht werden. Es könnte sich anbieten, temporär besondere Grundsteuersenate einzurichten und für diese das geltende Prozessrecht um Experimentierklauseln zu erweitern und den Einsatz neuer Technologien, wie bereits in der ordentlichen Gerichtsbarkeit für den strukturierten Parteivortrag begonnen106, in Reallaboren („Testräumen für Innovation und Entwicklung“107) zu erproben. Was sich bewährt, ließe sich dann verallgemeinern und fortentwickeln.

2. Online-Mediation und Online-Schiedsverfahren im nationalen und internationalen Steuerrecht Ein Beispiel für die Digitalisierung staatlicher Streitbeilegung und Streitvermeidung in verschiedenen Geschwindigkeiten findet sich in dem weltweit als Vorbild für ein „Online-Gericht“ (Virtual Court) oft referenzierten Civil Resolution Tribunal (CRT) in der kanadischen Provinz British Columbia108. Es ist ganz gezielt als eigenständiger Spruchkörper für Streitigkeiten mit kleinen Streitwerten und Streitigkeiten im Zusammenhang mit Wohnungseigentum eingerichtet worden, um neue digitale Verfahrenstechniken zu erproben109. Taucht man tiefer in die Struktur dieses kanadischen Vorbilds und anderer digitaler Jusitzportale in den USA, in Großbritannien, in Australien und in den Niederlanden ein, stellen sie sich weitverbreitet als Methoden zur gerichtsverbundenen außergerichtlichen Online-Streitbeilegung 105 Instruktiv, mit einer Momentaufnahme zur tagesaktuellen Entwicklung F.A.Z. v. 23.2.2023, S. 16: „Millionenfache Einsprüche“. 106 Heil, ZIP 2021, 502 (506). 107 BMWi, Freiräume für Innovation. Handbuch für Reallabore, 2019, S. 7. 108 Anzinger, ZKM 2021, 84 (86); Biallaß in Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 1, 2. Aufl., Kapitel 8 Rz. 307 (Stand: 23.11.2022); Salter, Windsor Yearbook of Access to Justice 34 (2017), 112; Susskind, Online Courts and the Future of Justice, 2019, Kindle-Edition, Ch. 16; Voß, RabelsZ 84 (2020), 63 (72); Zwickel, ZKM 2022, 44 (45). 109 Salter, Windsor Yearbook of Access to Justice 34 (2017), 112 (117 ff.); Voß, RabelsZ 84 (2020), 63 (75).

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heraus110. Am CRT gliedert sie sich in fünf Stufen111. Die erste – nicht obligatorische – Vorstufe bildet ein sog. „Solution Explorer“. Das ist ein internetgestütztes Expertensystem, mit dem Rechtsschutzsuchende eine Hilfestellung erhalten sollen, um ihre Rechtsposition zu bestimmen und möglichst noch vor Verfahrenseinleitung eine Konfliktvermeidung oder -lösung zu erreichen112. Entschließt sich ein Rechtsschutzsuchender danach zur Verfahrenseröffnung, wird durch ein automatisiertes Abfragesystem der Konflikt in seiner tatsächlichen und rechtlichen Dimension strukturiert erfasst. Im dritten Schritt werden die Konfliktparteien in eine Online-Plattform eingeladen, auf der sie die Möglichkeit erhalten, ihren Konflikt durch technologie-unterstütze Verhandlungen bilateral zu lösen. Dabei steht die Streitbeilegung, nicht die Rechtsfindung im Vordergrund. Gelingt auf diesem Weg keine Streitbeilegung, wird im vierten Schritt über die Plattform automatisiert ein Mediator einbezogen. Das ist ein Mensch, der mit den konventionellen Methoden der Mediation, durch E-Mails, durch Chats, durch Video- oder Telefonkonferenzen mit den Parteien nach einem Weg zur Streitbeilegung sucht. Gelingt keine Einigung, wechselt die Rolle des Mediators und er unterstützt die Parteien darin, ihre Argumente für ein anschließendes konventionelles Gerichtsverfahren strukturiert vorzutragen. Zur Einordnung dieser Online-Dispute-Resolution-Plattform ist zu bemerken, dass sie von dem Softwareunternehmen Salesforce bereitgestellt wird, einem Anbieter von Kundenmanagementsystemen113. Auf den ersten Blick scheint die am Beispiel des CRT beschriebene Form einer Online-Streitbeilegung ganz auf privatrechtliche Streitigkeiten im Gleichordnungsverhältnis zugeschnitten zu sein. In den USA findet sie jedoch ebenso Anwendung in Grundsteuerstreitigkeiten und ist für diesen Bereich an den FG früh eingeführt worden114. Anschaulich dargestellt wird das Verfahren auf der öffentlich zugänglichen Plattform des Ohio Board of Tax Appeals115. Es folgt drei Schritten: der Information mit Konflikterfassung und Analyse, der technologie-unterstützten 110 Für einen Überblick s. Voß, RabelsZ 84 (2020), 63 (72 ff.); Anzinger, ZKM 2021, 84 (85 ff.). 111 Salter, Windsor Yearbook of Access to Justice 34 (2017), 112 (120); Voß, RabelsZ 84 (2020), 63 (72 ff.). 112 Zwickel, ZKM 2022, 44 (45). 113 Salter, Windsor Yearbook of Access to Justice 34 (2017), 112 (128); Thompson, Blogbeitrag v. 22.11.2016, https://ottosc.hm/CG3ji. 114 Tan, Deakin Law Review 24 (2019), 101 (120). 115 Siehe https://ottosc.hm/x6ZZC.

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Verhandlung mit Online-Mediation und der Ergebnissicherung. Auf die die im US-amerikanischen Schrifttum hervorgehobenen Vorzüge dieses Online-Streitbeilegungsmechanismus kann hier nur berichtend verwiesen werden116, solange nicht die Rechtsschutzrisiken gründlicher untersucht sind. Das Einsatzszenario verdient mit Blick auf die hier verfochtene Idee der experimentellen Erprobung in Justizreallaboren gleichwohl eine nähere Betrachtung. In jedem US-Bundesstaat werden Grundsteuern erhoben, die in der überwiegenden Zahl an eine marktwertorientierte Bewertung anknüpfen117. Die Bewertung wird turnusmäßig oder anlassbezogen softwaregestützt und entweder durch Gemeindebedienstete oder durch beliehene Sachverständige vorgenommen118. Die Grundsteuer gilt in den USA als streitanfällig und Bewertungsänderungen, die sich automatisiert und oftmals schwer nachvollziehbar aus Veränderungen der von der eingesetzten Software ausgewerteten Datenbasis ergeben, führen häufig zu Rechtsmitteln. Die Dauer der Rechtsmittelverfahren lag bei papiergebundener Ausgestaltung nach einer Darstellung aus 2015 durchschnittlich bei 18 Monaten119. Für den Einsatz einer Online-Streitbeilegungsplattform sind im US-amerikanischen Schrifttum verschiedene Effekte beschrieben worden. Deren Validität bedürfte zwar einer rechtsvergleichend-empirischen Untersuchung, doch einzelne Elemente lassen sich mit Blick auf Überlegungen einer Implementierbarkeit im Inland zumindest als Idee darstellen. Der erste Schritt, die Konflikterfassung, erfolgt über ein schrittweise aufgebautes Formular, durch das strukturiert die relevanten Informationen für einen Einspruch erhoben werden. Dieser Prozess der strukturierten Informationserhebung kann dazu genutzt werden, dem Steuerpflichti116 Himonas, Dickinson Law Review 122 (2018), 875; Prescott, Online Case Resolution Systems: Enhancing Access, Fairness, Accuracy, And Efficiency, Michigan Journal of Race & Law 21 (2016), 205. 117 Hellerstein/Stark/Swain/Youngman, State and Local Taxation, Cases and Materials, 11. Aufl. 2020, S. 7. 118 Rule/Wilson, Online Resolution and Citizen Empowerment: Property Tax Appeals in North America, in Edwards III/Santos, Revolutionizing the Interaction between State and Citizens through Digital Communications, 2015, S. 200 (209 f.). 119 Rule/Wilson, Online Resolution and Citizen Empowerment: Property Tax Appeals in North America, in Edwards III/Santos, Revolutionizing the Interaction between State and Citizens through Digital Communications, 2015, S. 200 (211).

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gen zu erläutern, wie sein Grundstück bewertet und wie der Steuerbetrag berechnet wurde. Beschrieben wird das Beispiel, dass das System automatisch die jüngsten Verkaufspreise für vergleichbare Immobilien in der Nähe des Hauses des Steuerzahlers anzeigt120. Allein diese Aufklärung kann streitbeilegend wirken und zum Erlöschen des Rechtsschutzbegehrens führen, was Zeit und Ressourcen auf Seiten des Steuerpflichtigen und der Finanzbehörden spart. Kommt es dazu nicht, können in der zweiten Stufe sodann im Dialog zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Gutachter die Argumente über die Bewertung ausgetauscht und damit nicht nur fortgesetzt Transparenz hergestellt, sondern auch die Qualität der Bewertung verbessert werden. Erst danach, wenn es auf dieser zweiten Stufe weder zu einer Abhilfe noch zu einem Erlöschen des Rechtsschutzinteresses des Steuerpflichtigen kommt, geht das Verfahren in ein streitiges Gerichtsverfahren über121. Im Vergleich mit dem geltenden deutschen Rechtsschutzsystem erscheinen die Unterschiede gar nicht so groß. Auch das Einspruchsverfahren sollte Dialog, Erläuterungen, Transparenz und den Austausch von Argumenten ermöglichen und die Entscheidungsqualität verbessern. Und auch im Finanzgerichtsverfahren kann sich das Gericht auf diese Vorbereitung stützen. Aber es ist ebenso plausibel, dass in streitanfälligen standardisierten Massenverfahren ein internetgestütztes Expertensystem und eine standardisierte elektronische Plattform diese Ziele noch besser erreichen kann. Mit den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte mit der Umsetzung größerer EDV-Projekte122 verdient allerdings die Frage der zeitnahen Umsetzbarkeit einer solchen Konfliktmanagementplattform besonders Raum und sie gebietet die Berücksichtigung von zwei Beobachtungen zu den Rahmenbedingungen in den USA. Dort konkurrieren mehrere Anbieter für Softwarelösungen zum Konfliktmanagement in der öffentlichen Verwal-

120 Rule/Wilson, Online Resolution and Citizen Empowerment: Property Tax Appeals in North America, in Edwards III/Santos, Revolutionizing the Interaction between State and Citizens through Digital Communications, 2015, S. 200 (215). 121 Rule/Wilson, Online Resolution and Citizen Empowerment: Property Tax Appeals in North America, in Edwards III/Santos, Revolutionizing the Interaction between State and Citizens through Digital Communications, 2015, S. 200 (214). 122 Zum Stand der Digitalisierung der deutschen Steuerverwaltung: Kowallik, DB 2022, 691; Kowallik, DB 2022, 975.

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tung123. Sie treffen auf Gebietskörperschaften, die sich für unterschiedliche Lösungen entscheiden und damit auch den Wettbewerb der Innovationen befeuern. Daraus lässt sich die Vermutung ableiten, dass sowohl privater wie föderaler Wettbewerb grundsätzlich innovationsbeschleunigend wirken können. Größere Fortschritte in anderen Staaten sind möglicherweise darauf zurückzuführen, dass dort Standardsoftware, CustomerRelationship-Management (CRM)-Systeme, als Plattformgrundlage zur Implementierung staatlicher Online-Streitbeilegung verwendet wurden. Ein Weg, der aus deutscher Sicht zumindest ungewöhnlich erscheint, sich aber auf den zweiten Blick, bei näherer Betrachtung, vielleicht doch in das bestehende Rechtsschutzsystem einfügen könnte. Feststellen ließe sich dies ebenfalls im Wege der experimentellen Erprobung in einem Justizreallabor. Jenseits des hier exemplarisch fokussierten Grundsteuerbeispiels sind vergleichbare Streitvermeidungs- und Streitbeilegungsmodelle nicht nur für die fortgeschrittene Entwicklung digitalisierter Einspruchs- und Finanzgerichtsverfahren denkbar, sondern auch für die heute bereits diskutierten internationalen Verständigungs- und Schiedsverfahren. In deren Zusammenhang könnten automatisierte Verhandlungsunterstützungssysteme, etwa des „Blind Bidding“ oder der „Baseball Arbitration“ zum Einsatz kommen124. Und gerade im grenzüberschreitenden Kontext kann eine Plattform, die Raum- und Sprachbarrieren senkt, nützlich und verfahrensbeschleunigend sein.

123 Einerseits zu Matterhorn s. Prescott, Improving Access to Justice in State Courts with Platform Technology, Vanderbilt Law Review 70 (2017), 1993 (2026 ff.); andererseits zu Modria, s. Rule/Wilson, Online Resolution and Citizen Empowerment: Property Tax Appeals in North America, in Edwards III/ Santos, Revolutionizing the Interaction between State and Citizens through Digital Communications, 2015, S. 200 ff., weiterer Überblick bei Anzinger, ZKM 2021, 53. 124 Zur Idee: Anzinger, Rethinking Tax 2019, 24; mit Überlegungen zur Mediation in grenzüberschreitenden Streitbeilegungsverfahren Hietanen-Kunwald/Scherleitner, Mediating Power in Cross-Border Tax Dispute Resolution, Liikejuridiikka 2023, Heft 1, online abrufbar unter https://ssrn.com/ abstract=4336171.

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3. Kognitive Assistenzsysteme in der Rechtsprechung Der Einsatz von Online-Streitbeilegungsplattformen kann schließlich den Weg zu kognitiven Assistenzsystemen125 in der Rechtsprechung eröffnen, bedeutet damit aber auch eine besondere Herausforderung für die Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit und der Gewährleistung rechtsstaatlicher Prinzipien126. Zum einen lassen sich Assistenzsysteme, die das Gericht bei der Entscheidungsfindung unterstützen sollen, erleichtert dort einsetzen, wo der Sachverhalt und die Rechtsauffassungen der Parteien bereits vorstrukturiert sind. Im Massenverfahren lassen sich dann Textbausteine für Schriftsätze und auch für die Entscheidungsbegründung regel- oder – nicht nur im Kontext von Sprachmodellen, wie etwa beim Einsatz von ChatGPT – wahrscheinlichkeitsorientiert vorschlagen. Zum anderen lassen sich aus dem Einsatz von digitalen Konfliktmanagementplattformen Daten gewinnen, die die Entwicklung solcher Assistenzsysteme bis hin zu Entscheidungsvorschlagsystemen befördern. Spätestens dann genügt es nicht mehr, nur eine allgemeine Letztentscheidungsbefugnis vorzusehen, sondern es sind Methoden zur Entscheidungsbegleitung zu entwickeln. Umgekehrt, darauf hat Ekkehart Reimer auf der Kölner Tagung bereits hingewiesen, gebietet der Grundsatz der „Waffengleichheit“, Entwicklungen des automatisierten Vollzugs und der Technik seiner Kontrolle durch die Gerichte nicht unbeantwortet zu lassen und den Gerichten den geeigneten Einsatz von Entscheidungsassistenzsystemen zu ermöglichen127.

VI. Folgerungen für Ausbildung, Methodenentwicklung und Gesetzgebung Das führt zu den abschließenden Folgerungen für die Ausbildung, die Methodenentwicklung und die Gesetzgebung. Dazu kann zunächst wie125 Zu Anwendungsbeispielen und möglichen Einsatzgebieten Arbeitsgruppe „Einsatz von KI und algorithmischen Systemen in der Justiz“, Grundlagenpapier zur 74. Jahrestagung der Präsidentinnen und Präsidenten der OLG, des KG, des BayObLG und des BGH vom 23. bis 25.5.2022 in Rostock, S. 5, 24 ff., veröffentlicht unter https://oberlandesgericht-celle.niedersachsen.de/ download/187961/Grundlagenpapier_der_Arbeitsgruppe_zum_Einsatz_von_ KI_und_algorithmischen_Systemen_in_der_Justiz_nicht_barrierefrei_.pdf (zuletzt abgerufen am 1.6.2023). 126 Arbeitsgruppe „Einsatz von KI und algorithmischen Systemen in der Justiz“, Grundlagenpapier, S. 6 ff. 127 Dazu Reimer in DStJG 42 (2019), 97 (101).

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der auf die Kölner Tagung128 und weiterführende Überlegungen an anderer Stelle verwiesen werden129. Kern der steuerrechtlichen Ausbildung müssen die Methoden der Rechtsfindung und die rhetorischen Fähigkeiten bleiben, um sich am juristischen Diskurs beteiligen und Werturteile intersubjektiv überzeugend begründen zu können. Der Umgang mit moderner Kommunikationstechnik braucht kein Curriculum, er ist studienbegleitend zu erschließen. In den Grundlagenfächern sollten aber auch die Chancen und Risiken moderner Methoden der Streitbeilegung diskutiert werden. Zu den von der Wissenschaft zu leistenden Aufgaben der Fortentwicklung der Methoden gehört die Suche nach der Balance zwischen Streitvermeidung und Streitbereitschaft und nach Wegen zur Fortbildung des Rechts auf den Feldern, in denen die Streitvermeidung überwiegt und die Rechtsprechung ihre Aufgabe nicht ausreichend erfüllen kann. Dann mag man auch darüber nachdenken, ob dem BFH wieder, wie vor 1964, die streitunabhängige Gutachtenerstellung gestattet werden muss130. Die Gesetzgebung sollte zu Experimenten ermutigt werden. Das Beispiel des Streitfelds der Grundsteuer ist schon genannt. Ein digitales „Grundsteuergericht“ mit temporär eigener Prozessordnung wäre vielleicht ein geeignetes Reallabor für ein solches Experiment.

128 Anzinger in DStJG 42 (2019), 15 (55 f.); Mellinghoff in DStJG 42 (2019), 287 (312). 129 Anzinger, Legal Tech in der Juristischen Ausbildung, in Bergmans (Hrsg.), Jahrbuch der Rechtsdidaktik 2020/21, Berlin 2022, S. 95 ff.; Anzinger, AL 2021, 202. 130 Mit dieser Forderung Beisse in Kirchhof/Jakob/Beermann, Steuerrechtsprechung-Steuergesetz-Steuerreform, FS für Klaus Offerhaus, 1999, S. 191 ff.; historisch zur Erstattung von Gutachten durch den BFH: Wacke, AöR 83 (1958), 309 ff.

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Diskussion zu den Referaten von PD Dr. Caroline Heber, MTax (Sydney) und Prof. Dr. Heribert M. Anzinger Prof. Dr. Gregor Kirchhof, LL.M., Augsburg Ganz herzlichen Dank, liebe Frau Heber und lieber Heribert, für diese inspirierenden und klaren Referate, die bestehende Phänomene und das geltende Recht vermessen haben, um auf dieser trittsicheren Grundlage umsichtig mögliche Neuerungen zu zeichnen. Lieber Heribert, mich würde interessieren, ob Du – auch in dem angedeuteten Mut zum Experiment – eine rein digitale rechtsprechende Gewalt und weitere ausschließlich technische Streitbeilegungsmethoden begrüßt. Aber das sind nur die ersten Ansätze für unsere Diskussion. Prof. Dr. Ekkehart Reimer, Heidelberg Es ist wenigen Referenten bei Jahrestagungen gelungen, nach dieser schwierigen Mittagspause alle so zu fesseln, wie Frau Heber und Herr Anzinger es vermocht haben. Vielen Dank! Ich habe zwei Fragen an Sie, Frau Heber. Ich möchte dabei den Bogen zurückschlagen zu Fragen, die wir am Vormittag erörtert haben, und zwar mit Blick auf grenzüberschreitende Probleme. Diese Probleme haben Sie ja in Ihrem Vortrag bewusst ausgeklammert, aber ich möchte um eine Ergänzung bitten, speziell mit Blick auf österreichische Erfahrungen: Man könnte sich diesen schonenden Ausgleich zwischen auf der einen Seite Transparenz und Publizität von Entscheidungen, sei es behördliche, sei es gerichtliche, und auf der anderen Seite dem Schutz von Persönlichkeitsrechten und Betriebsgeheimnissen der Steuerpflichtigen ja auch so vorstellen: Es genügt nicht eine Art anfanghafte Anonymisierung des Sachverhalts, sondern die Schnittkante verläuft zwischen Sachverhaltsdaten und dem, was Herr Anzinger „Rechtsfortbildung“ genannt hat. Veröffentlicht werden also nur, aber immerhin die Konkretisierungen von normativen Obersätzen auf den konkreten Fall hin, aber ohne Informationen zum Sachverhalt selbst. Es gibt ja in Österreich speziell für außensteuerrechtliche Fragen und DBA-Fragen den Express-Antwort-Service „EAS“ des BMF, der mich sehr beeindruckt. Er entspricht dem, was in der gerichtlichen Praxis in Deutschland in Form sog. „Leitsätze“ existiert. Diese Leitsätze sind noch

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sehr weit weg von einem konkreten Sachverhalt, aber doch viel konkreter als das Gesetz. Sollte man sie nicht zum Vorbild nehmen, wären sie nicht eigentlich die optimale Möglichkeit, gerade auch im behördlichen Bereich Rechtssicherheit zu schaffen? Sie zielt weniger auf eine Vollkontrolle nach Rückwärts von Entscheidungen in einem konkreten Fall in der Vergangenheit, sondern vielmehr auf Rechtssicherheit erga omnes in der Zukunft. Auch für schwierige Verständigungsverfahren wäre es weise, die Behörden dazu zu verpflichten, die Verständigungsvereinbarung insoweit zu publizieren, als es um die rechtlichen Obersätze geht. Damit wäre erga omnes nachvollziehbar, worauf sich die Verwaltungen geeinigt haben. Prof. Dr. Thomas Stapperfend, Berlin Zum Vortrag von Frau Heber kann aus richterlicher Sicht viel sagen. Ich möchte allerdings nur ein mögliches Missverständnis ausräumen: Es gibt die Regelung zum Ausschluss der Öffentlichkeit im gerichtlichen Verfahren, aber sie spielt in der Praxis überhaupt keine Rolle. Es ist also nicht so, dass die Gerichte hinter verschlossenen Türen entscheiden. Ich habe es in 28 Jahren finanzrichterlicher Tätigkeit erst einmal erlebt, dass ein Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit gestellt wurde. Das wollte ich nur klarstellen, damit da kein falscher Eindruck entsteht. Die Öffentlichkeit ist gewahrt. Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff, München Bei manchen Verfahren wie Cum-Ex wird natürlich der Antrag gestellt, die Öffentlichkeit auszuschließen. Das passiert dann relativ schnell. Frau Heber, auch von mir ganz herzlichen Dank für Ihren weiten Überblick, der ja auch – wie am Beispiel Schwedens – gezeigt hat, dass es in Europa ganz unterschiedliche Datenschutzstandards gibt. Wenn man die Rechtsprechung des BVerfG und des Gerichtshofs der Europäischen Union sieht, dann stellt man fest, dass der Datenschutz in vielen Bereichen sehr hochgehalten wird. Im Steuerrecht werden beide Gerichte extrem schmallippig und der Gerichtshof der Europäischen Union unterscheidet ja auch im Datenschutz sehr deutlich zwischen Individualpersonen und Unternehmen. Wenn man die Standards in Schweden, Finnland und anderen einbezieht, stellt sich die Frage, ob der Gerichtshof der Europäischen Union einen europäischen Standard für das Steuerrecht definieren wird, der sehr viel großzügiger ist und zu weiteren Pu-

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blizitätspflichten führt. Dann bliebe die Entscheidung des Conseil Constitutionel zum Country by Country vielleicht eher isoliert. Eine andere Frage ist, ob sich beim Akteneinsichtsrecht durch den Anspruch auf digitale Einsichtnahme nicht auch etwas ändern wird. Sie, lieber Herr Anzinger haben einen phantastischen Blick in die Zukunft geworfen. Die Realität – das wissen wir beide – sieht zurzeit deutlich anders aus. Zwei Fragen an Sie: Die eine: Wäre es nicht vordringlich, eine einheitliche Schnittstelle zwischen Finanzverwaltung und Steuerpflichtigen, Beraterschaft und anderen Beteiligten zu schaffen, damit man wirklich von Digitalisierung in diesen Bereichen reden kann? Und meine zweite Frage: Ich erlebe in allen Bereichen, wo die deutsche Finanzverwaltung momentan in der Digitalisierung tätig ist, einen großen Nebel, einen großen Schleier, eine große Verdunklung. Die deutsche Finanzverwaltung öffnet sich in diesem Bereich zu ihren Methoden, zu ihren Überlegungen und zu Ähnlichem überhaupt gar nicht. Selbst bei der Frage der Digitaltauglichkeit der Gesetze oder anderen Fragen, werden Ergebnisse verkündet, aber die gesamten Verfahren werden nicht öffentlich diskutiert. Müsste man nicht aus rechtsstaatlicher Perspektive gerade in diesem Bereich fordern, dass all diese Entwicklungen sehr viel transparenter und öffentlicher diskutiert werden? Prof. Dr. Tina Ehrke-Rabel, Graz Eine Frage an Sie, Frau Heber, und eine an Sie, Herr Anzinger. Ist nicht die verstärkte Diskussion um Transparenz und damit Teilhabe der Öffentlichkeit an bestimmten wirtschaftlichen Verhältnissen oder Prozessen letztendlich eine Diskussion um Instrumente der direkten Demokratie? Sie haben sehr oft auf das Vertrauen Bezug genommen, das die Menschen durch Öffentlichkeit gewinnen. Gleichzeitig geht es darum, dass die Öffentlichkeit durch diese Transparenz die Rolle eines Watchdogs und damit auch eines zumindest indirekten Kontrollors einnimt. In diesem Zusammanhang würde ich gerne den Blick von den Gerichtsverfahren weg auf das das Country-by-Country-Reporting und das Transparenzregister (Wirtschaftliche-Eigentümer-Register) richten. Ich stelle mir die Frage, ob die Watchdog-Funktion der Öffentlichkeit gerade in komplexen Fällen wie dem Steuerrecht erfüllt wird und vertrauenserzeugend sein kann, wenn die Gefahr besteht, dass in der Öffentlichkeit Missverständnisse entstehen, weil aus den veröffentlichten Daten ohne entsprechendes (Hintergrund-)Wissen die falschen Schlüsse gezogen werden können. Und so würde es mich interessieren, wie Sie zu Ihrer Vision – so zumindest habe ich Sie verstanden – stehen, dass wir on-

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line an Gerichtsverhandlungen teilnehmen könnten oder dass Gerichtsverhandlungen vielleicht sogar aufgezeichnet und nachträglich abgespielt werden. Ich fürchte, dass ein Verlust der Unmittelbarkeit ähnliche Gefahren mit sich bringt wie die von mir geschilderten öffentlichen Register. An Heribert Anzinger: Ich habe den Eindruck, dass Sie mit Ihrer Aussage, Rechtswissenschaften sind diskursive Wissenschaften, durchaus den gleichen Standpunkt vertreten wie ich. Streit ist also auch notwendig, um das Recht fortzuentwickeln. Dann haben Sie auch gemeint: Eine vollständige Algorithmisierung wäre nicht zulässig. Jetzt meine Frage: Was ist eine vollständige Algorithmisierung? Nach den Visionen der OECD sollte Steuerzahlen nahezu unsichtbar für den Steuerpflichtigen werden. Für die kleinen Steuerpflichtigen könnte das gesamte Steuerrecht ohne die aktive Mitwirkung der Steuerpflichtigen, nur durch die Duldung der „digitalen Begleitung“ durch digitale Finanzamtsinstrumente, besser Überwachungsinstrumente vollzogen werden. Bei den großen Steuerpflichtigen ginge dies ob der Vielfalt ihrer Sachverhaltskonstellationen und vielfach der Komplexität ihrer Geschäftsorganisation nicht, so dass sie zur „überwachten“ Selbstkontrolle animiert werden sollen. Die Modelle der überwachten Selbstkontrolle wie auch die Vision des digital begleiteten und automatisch veranlagten Steuerpflichtigen würden einen Rechtsstreit gar nicht erst aufkommen lassen. In der überwachten Selbstkontrolle würde im Regelfall vorab ein Kompromiss angestrebt, in der digitalen Begleitung und automatisch veranlagten Steuerpflichtigen könnte ein Rechtsstreit im Regelfall erst gar nicht entstehen. Ich halte das für rechtsstaatlich und demokratiepolitisch gefährlich. Wo sind also die Grenzen für die Digitalisierung des Steuervollzugs auf der einen und den überwacht sich selbst kontrollierenden Steuerpflichtigen auf der anderen Seite? Sollten wir nicht auch danach trachten, den Streit wieder hochzuhalten? Prof. Dres. h.c. Paul Kirchhof, Heidelberg Ich habe eine Bemerkung zu Frau Heber und eine Frage an Herrn Anzinger. In der Praxis der Gerichtsveröffentlichung werden beim BVerfG Grundsatzentscheidungen im Senat getroffen und dann veröffentlicht, Einzelfälle in der Kammer entschieden und oft nicht publiziert. Mir scheint es gute Rechtsprechungskultur, wenn die Richter bestimmen, ob die Entscheidung des Einzelfalls genügt oder eine Grundsatzfrage in der Verantwortlichkeit des Senats beantwortet werden muss. Auch die

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Verantwortlichkeit für die Veröffentlichung einer Entscheidung liegt beim Richter. Herr Anzinger, meine Frage bezieht sich auf Ihre Darstellung zur Digitalisierung als Technik der Streitvermeidung. Das Steuerrecht kennt eine Fülle von Normen zur Bewertung, zur Zurechnung, zur Abgrenzung von Betriebs- und Privatsphäre, zu den Verrechnungspreisen, die wohl nicht ausreichen würden, um zu einer Verordnung zu ermächtigen und deren Inhalt Zweck und Ausmaß gesetzlich vorzuschreiben. Nun entscheidet über die Handhabung des Gesetzes nicht mehr der Verordnungsgeber, der noch relativ demokratienah gebunden ist, auch nicht die Verwaltung durch eine Verwaltungsvorschrift, sondern der Digitaltechniker, der seine Programme nach seinen Vorstellungen und Algorithmen und seinen Beratern entwickelt. Hier entsteht ein fundamentales Legitimationsproblem für die Entscheidung über das Technikprogramm. In dieser Frage leben wir noch in einer Phase des werdenden, lernenden, unvollständigen Rechts. Das Technikprogramm zielt auf die Normalität, den Typus. Wer sich programmgemäß verhält, wird nach seiner Steuererklärung unbeanstandet besteuert. Wer hingegen einen atypischen Fall vorzutragen hat, weil er origineller ist als andere, ein neues Patent entwickelt, einen neuen Markt erschlossen hat, gerät in ein technisches Krisenmanagementsystem, das dem Steuerpflichtigen nicht mehr als ehrbarem Kaufmann, als anständigem Bürger vertraut, ihm allein wegen seiner Besonderheit argwöhnisch begegnet. Der atypisch erfolgreiche Unternehmer wird verdächtig. Doch Besonderheit und Individualität ist nicht verwerflich. Deswegen müssen wir über die gesetzliche, die parlamentarisch verantwortete Ermächtigung zu Programm und Programmierer nachdenken. Prof. Dr. Barbara Gunacker-Slawitsch, Graz Vielen Dank auch von mir für die beiden sehr interessanten Vorträge. Ich habe eine Frage an Frau Heber: Du hast sehr anschaulich dafür plädiert, mit der Nichtveröffentlichung gerichtlicher Entscheidungen sehr zurückhaltend umzugehen. Ich teile Deine Einschätzung, dass die österreichische gesetzliche Bestimmung, wonach eine Veröffentlichung finanzgerichtlicher Entscheidungen zu unterbleiben hat, wenn wesentliche öffentliche Interessen entgegenstehen, sehr restriktiv anzuwenden ist. Meine Frage dazu: Sprechen nicht auch die Garantien eines fairen Verfahrens dafür, mit der Nichtveröffentlichung gerade deshalb besonders umsichtig und restriktiv umzugehen, da in finanzgerichtlichen Ver-

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fahren die Öffentlichkeit auf Antrag zumindest theoretisch ganz leicht ausgeschlossen werden kann? Prof. Dr. Johanna Hey, Köln Ich versuche, es ganz kurz zu machen. Frau Heber, Sie haben unterschieden zwischen Transparenz und Publizität, und Sie haben, das hat auch Ekkehart Reimer herausgestellt, sehr deutlich dafür plädiert, dass Gerichtsentscheidungen publiziert werden müssen. Und wir haben heute Morgen schon darüber gesprochen – das gilt übrigens auch für Verwaltungsvorschriften –, dass die Publizität eine stabilisierende, eine vertrauensbildende Wirkung hat. Es ist der Rechtswissenschaft aber bisher nicht gelungen, ein dogmatisch überzeugendes Angebot an die Rechtsprechung zu machen, das auch umzusetzen. Denn wir wissen ganz genau, dass, auch wenn es eine Kette ständiger Rechtsprechung gibt, der BFH keine Mühe hat zu sagen, ich habe die Rechtsprechung geändert, und zwar eben auch mit Wirkung für die Vergangenheit. Es gibt keinen verlässlichen Vertrauensschutz in eine ständige Rechtsprechung. Das gilt für Verwaltungsvorschriften genauso. Wir haben heute Morgen über Vertrauensschutz als Möglichkeit der Streitvermeidung gesprochen, aber mir scheint, dass es der Rechtswissenschaft nicht gelungen ist, dafür ein Angebot zu machen. Meine Frage wäre: Welche Rolle spielt da Publizität? PD Dr. Caroline Heber, München Das war eine Fülle an Fragen. Ich versuche, so viel wie möglich in der gegebenen Zeit zu beantworten. Zu der ersten Frage von Ekkehart Reimer, also der Frage in Bezug auf den BMF-Express-Antwort-Service: Dass diese Dokumente publiziert werden, ist natürlich vertrauensbildend und ist natürlich wichtig. Es ist aber für mich trotzdem eine ganz andere Frage, ob Urteile veröffentlicht werden. Das hat eine ganz andere Gewichtung. Zur Frage, inwieweit man abstrahieren kann und mehr oder weniger einen „quasi“ Sachverhalt veröffentlichen kann, um aus er Anonymisierungsproblematik herauszukommen: Ja, das ist grundsätzlich möglich, aber ich glaube auch, dass es Sachverhalte gibt, die man gar nicht anonymisieren kann, wo man aus der Rechtsfrage heraus schon weiß, um wen es geht. So gibt es einige Verfahren, vor allem alte Verfahren vor dem BFH, die nicht publiziert wurden – zumindest wurde mir das so gesagt. Was macht man dann mit diesen Angelegenheiten, wo die Rechtsfrage schon so eindeutig ist? Mit Blick auf den EuGH, ja,

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er wird wahrscheinlich einiges ändern oder uns neue Wege zeigen, Herr Mellinghoff, und man sieht aber auch hier, direkt bei Verfahren vor dem EuGH, Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten. Die Unterschiede zeigen sich in der Gestalt, wie die Mitgliedstaaten vorlegen, so legen beispielsweise Staaten, wo das Steuergeheimnis ein hohes Gut ist, die Namen der Parteien gar nicht vor und so liest man irgendwelche Abkürzungen und andere Staaten haben mit der Namensnennung noch nie Probleme gehabt und legen folglich noch immer so vor. Das heißt, es wird auch hier zu einer Vereinheitlichung kommen, aber erst jetzt hat das der EuGH gesehen, dass die fehlende Anonymisierung auch ein Problem sein könnte und dass eine solche aufgrund des Datenschutzes vielleicht notwendig ist. Also wir werden hier sicherlich noch eine größere Debatte sehen in der Zukunft. Tina Ehrke-Rabel, ob es immer so sinnvoll ist, dass die Öffentlichkeit ein „Watchdog“ ist, nein. Dies ist sicherlich auch problematisch. Also wir haben das gesehen, bei Tax Justice Network und wie sie alle heißen. Einrichtungen, die wirklich wahnsinnig emotional vorgehen und sagen: Das ist alles ganz schlimm. Der einzelne Bürger wird hoch besteuert, die großen Unternehmen zahlen nichts. Hier ist es vor allem auch die Art und Weise, die problematisch ist, ja, und es wird oft übersehen, dass es rechtlich zulässig ist, was von den Unternehmen getan wird. Andererseits hat die öffentliche Diskussion sicherlich dazu beigetragen, dass man etwas genauer hinsieht und dass die Verwaltungen bzw. auch die Staaten untereinander etwas mehr miteinander kommunizieren und sich Gedanken machen, wie man das aggressive Gestalten vielleicht auch verhindern könnte. Wenn es dieses genaue Hinschauen nicht gäbe, wären wir, so glaube ich, noch nicht da, wo wir sind, aber ich stimme hier zu, dass die Emotionalisierung der Materie nicht immer ganz hilfreich ist und oft über das Ziel hinausgeschossen wird, was so nicht sein sollte. Dann die Frage von Frau Gunacker-Slawitsch, ob man vor allem dann die Urteile veröffentlichen sollte, wenn schon die Öffentlichkeit im Gerichtssaal nicht gewährt war: Ja, sicherlich ist das ein natürliches Gegengewicht. Ganz oft wird die Öffentlichkeit und die Veröffentlichung aber natürlich miteinander verknüpft sein, gerade in Österreich, und man wird sagen: Naja, wenn schon die Öffentlichkeit nicht erlaubt war, dann sind die Interessen der Parteien berührt und deswegen wird auch das Urteil nicht veröffentlicht. Aber es könnte ein natürliches Gegengewicht zum Öffentlichkeitsausschluss sein. Mit der Folge, dass zumindest das Urteil in anonymisierter Variante der Öffentlichkeit zugänglich wird. Dann gebe ich

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zurück und würde sonst später noch einmal das Wort ergreifen, wenn ich darf. Prof. Dr. Heribert M. Anzinger, Ulm Gerne greife ich mit Dank für alle Fragen und Anmerkungen zuerst die letzte Bemerkung von Paul Kirchhof und die berechtigte Frage auf, ob der Gesetzesvorbehalt vorsichtig auf die programmtechnische Umsetzung der Gesetze ausgedehnt werden müsste. Ja, in der Tat, das wäre zu erwägen. Die Bedeutung von Programm und Programmierer und des durch sie implementierten Algorithmus für den Vollzug ist schon heute sichtbar und sie wird zunehmen. Zu denken ist dabei nicht nur an die typisierende Auswahl zu verifizierender Erklärungen, sondern auch an die mit statistischen Methoden und optimierenden Algorithmen mögliche Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe, die Gesetzesauslegung und die Sachverhaltsfeststellung. Alles zusammen muss nicht im automatisierten Vollzug enden, sondern kann möglicherweise bis in die Rechtsprechung hineinwirken. Und die Wirkung kann bereits vor dem Verwaltungshandeln einsetzen, und zwar bei der rechnergeleiteten Deklaration. Es liegt nahe, dass die Programme zur Erklärungsunterstützung auf denselben Algorithmen beruhen, wie sie auch den Programmen der Verwaltung zugrunde liegen. Durch die Programmierung und die Veröffentlichung von Programmcodes kann die Verwaltungspraxis eine noch stärkere Wirkmacht als bislang entfalten und sich häufiger durchsetzen und dann über das bisherige Maß hinaus faktisch wirken, weil es eben stets mühsamer ist, gegen Verwaltungspraxis und automatisierte Entscheidungen zu argumentieren. Die Frage ist schließlich noch weiter zu fassen. Wenn sich die Wirkung des Rechts durch die Digitalisierung verändert, muss dann nicht zum einen die Kompetenzordnung und zum anderen auch das materielle Recht selbst nachjustiert werden? Im Zivilrecht wird aktuell die Frage des Over-Enforcement diskutiert. Was ist, wenn Vorschriften plötzlich ganz anders wirken als in einer analogen Welt? Hier glaube ich, was der Gesetzgeber dann tun muss, das ist in einem ersten Schritt die Wirkung des Rechts im Wandel zur Digitalisierung aktiv zu beobachten und dann in einem zweiten Schritt auch vorsichtig nachsteuernd gestaltend einzugreifen. Und es drängt sich die weitere Frage auf, ob die Digitalisierung des Verfahrens auch bei der Auslegung unverändert fortgeltenden Rechts zu berücksichtigen ist. Dann ist es die Aufgabe der Rechtsprechung, die Veränderungen in der Wirkung des Rechts im Wandel zur Digitalisierung zu bewerten und im Komptenzraum der Judikative gestaltend nachzujus-

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tieren. Vielleicht war die Rechtsprechung hier bislang zu zurückhaltend und hat sich zu schnell der Zielsetzung untergeordnet, einer Automatisierung im Massenfallrecht der Besteuerung nicht im Weg zu stehen. Und vielleicht konnte so mitunter der falsche Eindruck entstehen, an den Gerichten würden automatisiert festgestellte oder übermittelte Sachverhaltsinformationen unreflektiert zugrunde gelegt. Wenn die Rechtsprechung im Zuge der Digitalisierung nicht an Bedeutung verlieren soll, muss sie selbstbewusster agieren. Dies führt auch gleich zu der Anmerkung von Tina Ehrke-Rabel zur Streitkultur. Wenn man in die USA blickt, dann muss man zunächst nochmals festhalten, mit welchen Zielen dort Online-Streitbeilegung verbunden wird: Streitbeilegung ist dort nicht notwendig mit Rechtsfindung verbunden. Im Kern ist sie nur auf das Ziel gerichtet, einen Konflikt zu lösen und Rechtsfrieden im Einzelfall herzustellen. Theoretisch kann dieses Ziel vollständig ohne Auseinandersetzung mit Gesetz und Recht erreicht werden, auch wenn der Richter an Gesetz und Recht gebunden ist. Deshalb ist die Sorge berechtigt, dass eine Automatisierung der Streitbeilegung die Rechtskultur verändern kann. Freilich geht diese Gefahr nicht nur von den Möglichkeiten der Digitalisierung und ihrer Umsetzung aus. Sie hat sich bereits teilweise realisiert und wird in anderem Kontext bereits diskutiert, und zwar im Zusammenhang mit dem Befund rückläufiger Fallzahlen an den Gerichten. Als eine Ursache dafür wird vermutet, dass viele Streitigkeiten schon vor der Veranlagung oder in der Betriebsprüfung im Verhandlungswege gelöst werden und dabei ebenfalls nicht nur Rechtsfragen im Vordergrund stehen, sondern ein Interessenausgleich. Ganz praktisch kann es dabei darum gehen, dass eine Seite eine Rechtsposition aufgibt, um eine andere zu erhalten. Es wird verhandelt, obwohl gerade im Steuerrecht der Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes solchen Verhandlungslösungen entgegenstehen sollten. Wird der Inhalt des Steuerschuldverhältnisses dennoch im Verhandlunsweg bestimmt, leidet die Rechtskultur und die Rechtsprechung steht dann im Wettbewerb zu solchen Streitbeilegungsverfahren. Auch hierauf bezogen ist zu überlegen, ob das Recht gegensteuernd fortzuentwickeln ist. Vielleicht ist das Grundsteuerrecht ein geeigneter Ort, um mit digitalisierten Streitbeilegungsinstrumenten zu experimentieren und dort dann auch zu analysieren, wo das materielle Recht und das Verfahrensrecht gegensteuern müssen. Hier ist in besonderem Maße die Wissenschaft herausgefordert. Sie wird auch neue Wege finden müssen, um die Rechtsfortbildung zu begleiten, wenn die Rechtsprechung durch al-

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ternative, digitale Streitbeilegungsangebote verdrängt würde oder an Kraft verlieren sollte, was ich mir gar nicht wünsche. Die Frage von Rudolf Mellinghoff knüpft unmittelbar hier an. Es muss ein Diskurs über die Methoden stattfinden, die im Vollzug zugrunde gelegt werden und die auch dann die Rechtsprechung zugrunde legen wird. Dieser Diskurs muss in der Rechtsprechung seinen Ausgangspunkt finden. Er muss auch in der Wissenschaft stattfinden können. Dazu muss Publizität eingefordert werden und dazu ist der Gesetzgeber gefordert, dann ggf. eben nachzusteuern. Damit bleibt noch eine letzte Frage: Sind Online-Gerichte und konkrete, automatisierte Streitbeilegungsinstrumente wünschenswert? Tatsächlich glaube ich, wir werden zwingend einen Fortschritt brauchen im Bereich der Rechtsprechung und wenn dieser Fortschritt nicht durch den Gesetzgeber aktiv gestaltet wird, wird er sich in alternativen Streitbeilegungsplattformen autonom verwirklichen. Die Technik der Online-Streitbeilegungsplattformen steht zur Verfügung und wird sich dann durchsetzen, wenn die herkömmliche Rechtsprechung ihre Funktion nicht mehr ausreichend erfüllen kann oder der Wert dieser Funktion von den Steuerpflichtigen und Rechtsschutzsuchenden nicht mehr erkannt wird. Deshalb darf sich die Rechtsprechung einem Medienwandel nicht verschließen. Nicht nur, wenn von den Beteiligten verlangt wird, dass sie sich am Ort des Gerichts physisch einfinden, auch in der größten Pandemie, werden andere Wege der Streitbeilegung in den Blick geraten. Der Gesetzgeber sollte – hier wiederhole ich mein Plädoyer für ein Experiment – den Rahmen dafür schaffen, dass eben auch auf den anderen Wegen rechtsstaatliche Prinzipien erhalten bleiben. Eine von der Bindung an Gesetz und Recht gelöste reine Streitbeilegung würde Errungenschaften des Rechtsstaats gefährden. Um nachhaltig Rechtsfrieden zu erzeugen und auch Rechtsfindung weiter zu fördern, ist Transparenz ein ganz wesentliches Element, das es weiterzuentwickeln gilt.

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Verständigungen und Vergleiche in Steuerverfahren aus der Perspektive der Finanzverwaltung Dr. Eva Oertel Ministerialrätin, Bayerisches Staatsministerium der Finanzen und für Heimat, München

I. Verständigungen als Einigung über strittige Fragen II. Mechanismen zur Einigung über offene Fragen 1. Formlose Einigung im Ermittlungsverfahren a) Allgemeines Vorgehen im Veranlagungsverfahren b) Risikomanagement mit Blick auf Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit 2. Tatsächliche Verständigung 3. Verbindliche Zusage (§ 204 AO) 4. Verbindliche Auskunft (§ 89 AO)/ Lohnsteueranrufungsauskunft (§ 42e EStG) 5. Internationales (Vorab-)Verständigungsverfahren (§ 89a AO) und DBA 6. Vergleiche

III. Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit 1. Gleichmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit des Steuervollzugs 2. Konkretisierungsspielraum innerhalb eines Rechtsraums 3. Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Vertrauensschutz 4. Internationale Aspekte a) Rechts- und Anwendungssicherheit im Steuerrecht bzw. Tax Certainty b) Zugang zu internationalen Streitbeilegungsverfahren und nationale Möglichkeiten zur abschließenden Einigung über offene Fragen. IV. Abschließende These

I. Verständigungen als Einigung über strittige Fragen „Sich verständigen heißt, über strittige Fragen Einigung zu erzielen“1 – so lautete bereits die Befundaufnahme von Prof. Achatz anlässlich der Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft in Graz 2003. Dieser These ist damals wie heute zuzustimmen. Die Praxisrelevanz, bzw. die Notwendigkeit für Einigungen zwischen Steuerpflichtigen und der Finanzverwaltung dürfte sogar zugenommen haben. Denn 1 Achatz in DStjG 27 (2004), 161 (162) mit Hinweis auf eine entsprechende Erläuterung im Duden.

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die Komplexität2 des Rechts und der (internationalen) Wirtschaftssachverhalte haben seither nochmals zugenommen und liefern zusammen Potential für mehr Steuerstreitigkeiten.3 In verfahrensrechtlicher Sicht hat sich der nationale Rechtsrahmen für Verständigungen – also Einigungsmöglichkeiten zwischen Steuerpflichtigen und der deutschen Finanzverwaltung – seit 2003 nur geringfügig weiterentwickelt. In praktischer Sicht kommt dem Themenbereich „kooperative Konfliktlösung“ in den letzten Jahren jedoch eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Denn wenn es nicht gelingt, über strittige Fragen eine Einigung zu erzielen, dann drohen nationale Streit- und internationale Verständigungsverfahren. Beide sind mehrheitlich mit hohen Kosten für die Steuerpflichtigen versehen, die Verfahrensdauern sind nicht selten erheblich und der Ressourcenaufwand beachtlich. Es verwundert ein wenig, dass das Verfahrensrecht in diesem Bereich (noch) nicht stärker weiterentwickelt wurde. Denn auf internationaler Ebene stehen die Themenbereiche „Tax Certainty“4 (Rechts- und Anwendungssicherheit) und „Cooperative Compliance“5 (Konfliktvermeidung) hoch im Kurs. Daher lohnt ein kurzer Überblick über die verfahrensrechtlichen Einigungsmöglichkeiten de lege lata. Zudem ist ein Seitenblick auf die internationalen Entwicklungen dringend geboten. Denn der deutsche Gesetzgeber wird auf die jüngeren internationalen Entwicklungen früher oder später reagieren müssen.

II. Mechanismen zur Einigung über offene Fragen 1. Formlose Einigung im Ermittlungsverfahren a) Allgemeines Vorgehen im Veranlagungsverfahren Das steuerliche Ermittlungsverfahren ist regelmäßig davon geprägt, dass der Steuerbürger mit seiner Steuererklärung einen „Vorschlag“ für die Steuerfestsetzung an das Finanzamt übermittelt. Das Finanzamt kann 2 Eine wissenschaftliche Analyse zur Bemessung des Komplexitätsgrades des Steuerrechts liefert der sog. „Tax Complexity Index“. Instruktiv hierzu: Hoppe/Schanz/Sturm/Sureth-Sloane, The Tax Complexity Index – A Survey-Based Country Measure of Tax Code and Framework Complexity“, European Accounting Review, 2021. 3 Bornemann/Schipp/Sureth-Sloane, DStR 2021, 182 ff. 4 Fehling, IStR 2017, 339 (342). 5 OECD (Hrsg.), „Co-operative Tax Compliance“, OECD-Publishing, Paris, 2016.

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diesen Vorschlag ohne Beanstandung in die Steuerfestsetzung übernehmen oder Nachfragen und Ermittlungen einleiten. Nachfragen oder Ermittlungen sind insbesondere geboten, wenn das Finanzamt dem Steuerbürger nicht vollständig folgen kann oder eine andere Rechtsaufassung zu vertreten beabsichtigt. Im letzten Fall droht ein Steuerstreit. Dieser kann formlos abgewendet werden, wenn es dem Steuerbürger gelingt, das Finanzamt von seiner Rechtsauffassung zu überzeugen oder umgekehrt. Eine formlose Einigung kann also bereits im Veranlagungsverfahren entstehen und durch schriftliche Korrespondenz oder auch Gespräche zwischen dem Sachbearbeiter und der Steuerbürger herbeigeführt werden. Zu beachten ist, dass Zweifelsfragen nicht zwingend vollständig vom Steuerbürger aufgeklärt werden müssen. Es genügt, wenn Fakten im Ermittlungsverfahren ausreichend glaubhaft gemacht sind. Denn das Finanzamt muss Steuererklärungen nicht mit Misstrauen begegnen; es kann regelmäßig von deren Richtigkeit und Vollständigkeit ausgehen.6 Dieser Grundsatz ist mehrfach höchstrichterlich bestätigt. Nur wenn sich Unklarheiten oder Zweifelsfragen aufdrängen, ist das Finanzamt zu weiteren Ermittlungen verpflichtet. In jenem Bereich, der zwischen dem vollständigen Nachweis von Fakten und dem „aufdrängen von Zweifelsfragen“ liegt, finden im Rahmen der Veranlagungstätigkeit fortlaufend formlose Einigungen zwischen den Finanzbehörden und den Steuerpflichtigen statt. Dies ist im Sinne der Verwaltungsökonomie und der Bürgerfreundlichkeit auch absolut geboten und dürfte keinen rechtsstaatlichen Bedenken begegnen. Denn die ermessensgeleitete Einordnung des Kontrollbedürfnisses der öffentlichen Hand ist „der richtige Maßstab für die Verteilung der limitierten Verifikationsressourcen der Finanzbehörden“.7

b) Risikomanagement mit Blick auf Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit Einen Sonderaspekt stellt im Rahmen der Veranlagung der potentielle „Steuerstreit über geringfügige Beträge“ dar. Bei der Bearbeitung von Einkommensteuererklärungen können Differenzpunkte zu Tage treten, die keine signifikante Auswirkung auf das Steueraufkommen haben. 6 BFH v. 5.12.2002 – IV R 58/01, BFH/NV 2003, 588 Rz. 44 m.w.N.; BFH v. 12.7.2001 – VII R 68/00, BStBl. II 2002, 44; BFH v. 25.3.2021 – VIII R 47/18, BStBl. II 2021, 696 Rz. 37. 7 Drüen in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 88 AO Rz. 132 mit weiteren Hinweisen.

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Nach § 88 Abs. 3 AO kann den Finanzämtern hierzu durch allgemeine Weisung vorgegeben werden, in welchen Bereichen eine intensivere Prüfung erfolgen soll und welche risikoarmen Bereiche von der Einzelfallprüfung ausgenommen werden können. § 88 Abs. 5 AO konkretisiert diesen Gedanken noch weiter, indem er den automationsgestützten Einsatz von Risikomanagementsystemen normiert. Untechnisch gesprochen handelt es sich in diesem Bereich um eine „Pflicht-Verständigung“ bzw. eine „automationsbasierte Einigung“ über potentiell strittige Fragen. In der Gesetzesbegründung wurde bei Einführung des § 88 Abs. 5 AO das „Vertrauensvorschussprinzip“ hervorgehoben und darauf hingewiesen, dass die Verwaltungsbehörden den Angaben der Steuerpflichtigen grundsätzlich auch im Falle der Verwaltungsunterstützung durch Risikomanagementsysteme vertrauen dürfen und müssen.8 In der Literatur finden sich jedoch auch starke Bedenken gegen diesen generalistischen Ansatz. Drüen bringt es etwa damit auf den Punkt: „Risiko im Kontext des gesetzmäßigen Steuervollzuges bedeutet demnach die Verfehlung der gesetzlichen Steuer nach unten oder nach oben“.9

2. Tatsächliche Verständigung Im Fokus der nationalen Diskussion über steuerliche Verständigungen und Vergleiche steht die sog. tatsächliche Verständigung. Sie ist gesetzlich nicht kodifiziert. Das Rechtsinstitut ist von Richterrecht10 und einer – mittlerweile ergänzten – Verwaltungsanweisung11 geprägt. Voraussetzung für eine tatsächliche Verständigung ist das Vorliegen eines Sachverhalts, der nur unter erschwerten Umständen bzw. gar nicht mehr ermittelt werden kann.12 Allein die Komplexität eines Sachverhalts begründet für sich noch nicht die Annahme einer erschwerten Sachverhaltsermittlung.13 Aus Sicht der Verwaltung kommt es darauf an, dass ein Schätzungs-, Bewertungs-, Beurteilungs- oder Beweiswürdigungsspielraum besteht14. Bei der Interpretation kann auf § 88 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 AO zurückgegriffen werden, der einen Ermittlungsspielraum 8 BT-Drucks. 18/8434, 99. 9 Drüen in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 88 AO Rz. 407. 10 BFH v. 11.12.1984 – VIII R 131/76, BStBl. II 1985, 254; BFH v. 20.2.2014 – XI B 85/13, BFH/NV 2014, 828; BFH v. 6.2.2015 – IX B 97/14, BFH/NV 2015, 821. 11 BMF v. 30.7.2008, BStBl. I 2008, 831; ergänzt durch BMF v. 15.4.2019, BStBl. I 2019, 447. 12 BFH v. 31.7.1996 – XI R 78/95, BStBl. II 1996, 625. 13 BMF v. 30.7.2008, BStBl. I 2008, 831 Rz. 3. 14 BMF v. 30.7.2008, BStBl. I 2008, 831 Rz. 4.1.

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für die Finanzbehörden eröffnet, indem er einen Ermessensspielraum vorsieht15. Dieser skizziert die mögliche Bandbreite von Verständigungen über den Sachverhalt: Je niedriger das Beweismaß, umso größer werden die tolerierten Sachverhaltsunsicherheit und damit gleichzeitig die Konkretisierungsspielräume, innerhalb derer sich die Finanzbehörde mit dem Steuerpflichtigen ohne Verstoß gegen das Gesetz über den Sachverhalt einigen kann16. Während der BFH in seiner Judikatur – insbesondere I R 12/9717 – andeutet, dass eine Verständigung über Rechtsfragen unter Umständen möglich ist – nämlich dann, wenn diese in so engem Zusammenhang mit Tatsachen stehen, dass sie nicht auseinandergerissen werden können und letztlich eine Verständigung über ein Geflecht von Tatsachen und Rechtsfragen erfolgt – lehnt die Verwaltung eine Verständigung über Rechtsfragen strikt ab18. Das BMF-Schreiben zählt explizit auf, dass keine Vereinbarungen (1) zur Klärung zweifelhafter Rechtsfragen, (2) über den Eintritt bestimmter Rechtsfolgen und (3) über die Anwendung bestimmter Rechtsvorschriften zulässig sind. Die Auffassung des BFH dürfte dennoch aus Praxissicht die Realität besser abbilden. Jede Diskussion über einen Sachverhalt verläuft unter (stiller) Berücksichtigung der Rechtsfolgen. In jeder Verhandlung bzw. Vereinbarung über einen Sachverhalt schwebt immer auch die gleichzeitige Berücksichtigung der Rechtsfolgen mit. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung und unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des BFH vom 1.2.2001 – IV R 3/0019 – lässt das BMF lediglich zu, dass im Rahmen einer rechtlichen Beurteilung über eine Vorfrage zum Sachverhalt zu entscheiden ist. Aus Praxissicht lässt sich dafür etwa folgendes Beispiel benennen: Die Frage, ob Einzelheiten eines Sachverhalts für die Besteuerung relevant sind, kann davon abhängen, ob dem Grunde nach überhaupt eine steuerrechtliche Relevanz gesehen wird. Wenn etwa bezüglich eines Auslandssachverhalts keine steuerrechtliche Relevanz im Inland denkbar ist, entfallen auch Darlegungs- und Ermittlungspflichten und damit auch der Raum für tatsächliche Verständigungen. Die Vorfrage, ob einem Sach-

15 16 17 18 19

Seer in Tipke/Kruse, Vor § 118 AO Rz. 21. Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, 1996, 182 ff. BFH v. 13.8.1997 – I R 12/97, BFH/NV 1998, 498 Rz. 12. BMF v. 30.7.2008, BStBl. I 2008, 831 Rz. 2.2. BFH v. 1.2.2001 – IV R 3/00 BStBl. II 2001, 520.

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verhalt überhaupt Bedeutung für die inländische Besteuerung zukommen kann, ist somit von entscheidender Bedeutung. Insoweit interagieren hier die Prüfung der Tatsachen und der Rechtsfragen miteinander. Für die Wirksamkeit des Abschlusses einer tatsächlichen Verständigung kommt es darauf an, dass ein auf Seiten des Beteiligten auftretender Bevollmächtigter über eine Vollmacht zur tatsächlichen Verständigung verfügt. Auf Seiten der Verwaltung muss im Hinblick auf die Zeichnungsrechtsregelung ein für die Steuerfestsetzung zuständiger Amtsträger beteiligt sein. Das sind der Vorsteher, der Veranlagungssachgebietsleiter, im Rechtsbehelfsverfahren der Leiter der Rechtsbehelfsstelle – dem Grunde nach aber nicht der Betriebsprüfer oder sein Sachgebietsleiter. War an dem Abschluss einer tatsächlichen Verständigung ein für die Entscheidung über die Steuerfestsetzung zuständiger Amtsträger nicht beteiligt, ist in der tatsächlichen Verständigung ein Hinweis aufzunehmen, dass die tatsächliche Verständigung bis zur nachträglichen Zustimmung durch den für die Steuerfestsetzung zuständigen Amtsträger schwebend unwirksam ist. Darüber hinaus muss bis zum Zeitpunkt der nachträglichen Zustimmung auch dem Steuerpflichtigen ein Widerrufsrecht eingeräumt werden20. Dies wurde vom BMF in einem ergänzenden Schreiben 2019 nochmals ausdrücklich klargestellt. Insgesamt handelt es sich jedoch eher um eine Formalität. Im Rahmen der nachfolgenden Diskussion sollten vorrangig die spezifischen Möglichkeiten einer Einigung zwischen Verwaltung und Steuerbürger in den Blick genommen werden.

3. Verbindliche Zusage (§ 204 AO) Die verbindliche Zusage stellt eine einseitige Selbstverpflichtung der Verwaltung dar. Sie ist dem Grunde nach keine Einigung bzw. Verständigung, denn sie ist nicht zweiseitig ausgerichtet. Daher ist die verbindliche Zusage ein Verwaltungsakt, während die tatsächliche Verständigung von der h.M. überwiegend als öffentlich-rechtlicher Vertrag charakterisiert wird. Die verbindliche Zusage nach § 204 AO erstreckt sich auf für die Vergangenheit geprüfte (verwirklichte) Sachverhalte mit Wirkung in die Zukunft. Im Anschluss an eine Außenprüfung soll die Finanzbehörde dem Steuerpflichtigen auf Antrag verbindlich zusagen, wie ein für die Vergangenheit geprüfter und im Prüfungsbericht dargestellter Sachverhalt in Zukunft steuerrechtlich behandelt wird, wenn die Kenntnis der künftigen 20 BMF v. 15.4.2019, BStBl. I 2019, 447 Rz. 5.5.

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steuerrechtlichen Behandlung für die geschäftlichen Maßnahmen des Steuerpflichtigen von Bedeutung ist. § 204 AO gibt daher eine „Kontinuitätsgarantie“21. Über den Antrag auf Erteilung einer verbindlichen Zusage entscheidet die für die Auswertung der Prüfungsfeststellungen zuständige Finanzbehörde. Der Antrag kann ausnahmsweise abgelehnt werden, insbesondere, wenn sich der Sachverhalt nicht für eine verbindliche Zusage eignet. Von § 204 AO erfasst werden für die Vergangenheit geprüfte (verwirklichte) Sachverhalte mit Wirkung in die Zukunft, z.B. Gesellschaftsverträge, Erwerb von Grundstücken. Es kann sich um Sachverhalte mit Dauerwirkung (z.B. Leasingverhältnisse) oder Dauerwiederkehr (z.B. Steuerfreiheit oder Steuerpflicht bestimmter Geschäfte) handeln. Auch hierdurch unterscheidet sich die verbindliche Zusage von der tatsächlichen Verständigung: Sie ist nur im Anschluss an eine Außenprüfung zulässig, während die tatsächliche Verständigung in jedem Verfahrensabschnitt – sogar im Rechtsbehelfsverfahren – denkbar ist. § 204 AO hat 202222 eine Ergänzung um einen Abs. 2 erfahren: Danach kann die Finanzverwaltung dem Steuerpflichtigen bereits nach Erlass eines Teilabschlussbescheids eine verbindliche Zusage über die künftige Behandlung eines Sachverhalts machen. Die praktische Bedeutung des § 204 AO dürfte damit durch das Gesetz zur Umsetzung von DAC 7 und zur Modernisierung des Steuerverfahrensrechts aufgewertet werden. Diese Entwicklung ist zu begrüßen, muss jedoch konsequent an anderen Stellen fortgeführt werden.

4. Verbindliche Auskunft (§ 89 AO)/Lohnsteueranrufungsauskunft (§ 42e EStG) Die verbindliche Auskunft nach § 89 AO stellt schließlich eine einseitige Bindung der Finanzverwaltung ohne echte Dispositionsbefugnis dar. Eine verbindliche Auskunft charakterisiert sich dadurch, dass die Verwaltung bezüglich eines geplanten Sachverhalts eine geltende Rechtsauffassung verbindlich bestätigt. Im Zeitpunkt der Zusage wird der Sachver-

21 Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor § 204 AO Rz. 32. 22 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2021/514 des Rates vom 22.3.2021 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Modernisierung des Steuerverfahrensrechts, BGBl. I 2022, 2730.

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halt von der Verwaltung nicht verifiziert – er ist ja auch noch nicht verwirklicht. Hier besteht weder bezüglich des Sachverhalts noch bezüglich Rechtsanwendung und Rechtsfolge eine Dispositionsbefugnis. Im Unterschied zur sog. tatsächlichen Verständigung geht es nicht um die Klärung eines ungewissen Sachverhalts, sondern einer – aus Sicht des Steuerpflichtigen zweifelhaften – zweifelhaften Rechtsfrage, die für ihn von besonderer Relevanz ist. Ähnliches gilt für die Lohnsteueranrufungsauskunft, die von allen potentiell betroffenen Personen, also Arbeitgeber, Arbeitnehmern und eventuell auch Dritten beantragt werden kann. Sie ist weniger formalisiert als die verbindliche Auskunft, aber im Ergebnis ebenso auf die verbindliche Beurteilung einer Rechtsfrage durch das Betriebsstättenfinanzamt gerichtet. Ihrer Rechtsnatur nach lässt sich die Lohnsteueranrufungsauskunft nicht trennscharf einordnen. Sie ist weder eine echte Auskunft noch eine verbindliche Zusage. Sie wird daher nicht als Wissenserklärung, sondern als feststellender Verwaltungsakt eingeordnet.23

5. Internationales (Vorab-)Verständigungsverfahren (§ 89a AO) und DBA Verständigungen sind im nationalen Kontext ein wichtiges Instrument der sog. „Cooperative Compliance“ Initiative, die sowohl von vielen Staaten auf nationaler Ebene als auch von der OECD und der Europäischen Kommission im zwischenstaatlichen Bereich stark vorangetrieben wird. Klassisch zu nennen sind hier zunächst die mittlerweile gut etablierten internationalen Verständigungs- und Schiedsverfahren24. Sie sind in der deutschen Abgabenordnung gesetzlich nicht kodifiziert, aber Bestandteil des deutschen DBA-Netzes und dort in den Artikeln, die Art. 25 OECDMK entsprechen, zu finden. § 89a AO durchbricht dies erstmals und enthält eine Kodifizierung des internationalen Vorabverständigungsverfahren – auch Advanced Pricing Agreement (APA) genannt. Vorab-/Verständigungsverfahren nehmen eine Sonderstellung ein und sollen für diese Diskussion zunächst nicht im Mittelpunkt stehen. Sie sind völkerrechtliche Verträge, welche vorrangig die an den Verhandlun23 BFH v. 30.4.2009 – VI R 54/07, BStBl. II 2010, 996. 24 Siehe dazu auch Bruns, in diesem Tagungsband.

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gen beteiligten Staaten bzw. deren Verwaltungen binden. Der Steuerpflichtige muss der Verhandlungslösung zwar zustimmen, hat jedoch keine aktive Rolle im Vorabverständigungsverfahren und ist lediglich im weiteren Sinne von der völkervertraglichen Bindungswirkung umfasst. Im engen Sinne kommt es daher nicht zu einer Verständigung zwischen dem Steuerbürger und den Finanzbehörden. In der Literatur wird regelmäßig von einem öffentlich-rechtlichen Vertragsverhältnis ausgegangen, dass sich auf alle Parteien erstreckt.

6. Vergleiche § 779 Abs. 1 BGB definiert den Vergleich als Vertrag, durch welchen der Streit oder Ungewissheiten im Wege gegenseitigen Nachgebens beseitig werden können. Die Möglichkeit zum Abschluss eines Vergleichs ist in verschiedenen Prozessordnungen bzw. in Verwaltungsverfahren vorgesehen.25 Vergleiche über Steueransprüche sind nach ständiger Rechtsprechung im Hinblick auf Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung aber unzulässig.26 Die in zivilrechtlichen Verfahren sowohl außergerichtlich als auch gerichtlich häufig anzutreffende Praxis, Meinungsverschiedenheiten durch einen Vergleich (§ 779 BGB) einvernehmlich im allseitigen Interesse der Parteien beizulegen, ist im Steuerrecht bzw. bei Meinungsverschiedenheiten mit dem Finanzamt damit nicht möglich. Dennoch gibt es in der Literatur gewichtige Stimmen, die sich dafür stark machen, diese Maxime zu überwinden. Übereinstimmend stellen alle Autoren dabei immer klar, dass insgesamt alle erkennbar oder gar offensichtlich gesetzesabweichenden Steuervergleiche unzulässig und nichtig sind. Allerdings weisen sie sodann darauf hin, dass in der Praxis oftmals fraglich und strittig ist, ob und in welchem Umfang ein Steueranspruch entstanden ist. Hervorzuheben ist, dass nicht nur die Tatbestandsverwirklichung, sondern auch die zutreffende steuerrechtliche Würdigung umstritten sein kann. Drüen27 betont etwa, dass dem Ideal der einzig richtigen Entscheidung in der Realität konkurrierende Rechtsmeinungen gegenüber stehen. Darum verlange das Gebot der Tatbe25 Vgl. hierzu etwa § 55 VwVfG, § 106 VwGO, § 54 SGB X. 26 Vgl. RFH, 14.10.1936 – VI A 723/36, RStBl. 36, 1077; BFH v. 27.1.1955 – IV 281/54, BStBl. III 1955, 92; BFH v. 26.5.1961 – III 326/58, BStBl. III 1961, 380. 27 Drüen in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 88 AO Rz. 276.

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standsmäßigkeit der Besteuerung den „in vertretbarer Auslegung des Einzelsteuergesetzes entstandenen Anspruch“ durchzusetzen. Der Maßstab des BVerfG für vertretbare Gesetzesauslegung der zuständigen Gerichte kann ein Spektrum vom Ideal der einzig richtigen Entscheidung zu einem Feld methodisch vertretbarer Lösungen eröffnen. Auch Seer plädiert fortwährend dafür, dass die Rechtsinstitute zur verbindlichen zweiseitigkonsensualen Klärung von Ungewissheiten über Sachverhaltsfragen oder die Rechtslage fortentwickelt werden müssen28. Entsprechende Forderungen und Überlegungen sind nicht allein auf jüngere Entwicklungen zurückzuführen – etwa die bereits erwähnte globale Verbreitung von „Cooperative Compliance“ Maßnahmen –, sondern finden sich auch schon in älteren Werken. So hat sich beispielsweise Vogel bereits 1988 dahingehend positioniert, dass ein Vergleich über Rechtsfragen im Steuerrecht verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen ist29. Auch Kruse hat sich 2000 für die Möglichkeit prozessvermeidender Verständigungen stark gemacht30. Ob und wann sich die deutsche Steuerpolitik dieser Forderungen annimmt und einen entsprechenden Rechtsrahmen erschließt, ist dennoch derzeit ungewiss.

III. Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit Ausgehend von der These, dass Verständigungen und Vergleiche in der Praxis dem Grunde nach als erstrebenswert und hilfreich erachtet werden, stellt sich die Frage, weshalb der Rechtsrahmen Einigungen zwischen Steuerpflichtigem und Finanzbehörden nur sehr eingeschränkt zulässt. Die Antwort liegt im Spannungsfeld zwischen Gesetzmäßigkeit des Steuervollzugs – dem eben erwähnten Verbot der Einigung über die Höhe des Steueranspruchs – und dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit31, wo dieser Anspruch nicht exakt bezifferbar ist.

1. Gleichmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit des Steuervollzugs Konsequenterweise wird im BMF-Schreiben zur tatsächlichen Verständigung aus dem Jahr 2008 ausgeführt:

28 29 30 31

Seer in Tipke/Kruse, Vor § 118 AO Rz. 9. Vogel in FS Döllerer, 1988, 677 (691). Kruse in FS Vogel, 2000, 517 (523 ff.). Blaufus/Kess, StuW 2022, 241 ff.

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Perspektive der Finanzverwaltung – Oertel „Der Untersuchungsgrundsatz in § 88 Abs. 1 Satz 1 AO bestimmt, dass die Finanzbehörde den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln hat. Nach § 88 Abs. 1 Satz 2 AO bestimmt sie Art und Umfang der Ermittlungen. Die Finanzbehörde ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Der Umfang dieser Pflichten richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Unter Zugrundelegung des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung sind Vergleiche über Steueransprüche nicht möglich. Jedoch ist in Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung unter bestimmten Voraussetzungen zur Förderung der Effektivität der Besteuerung als auch zur Sicherung des Rechtsfriedens eine die Beteiligten bindende Einigung über die Annahme eines bestimmten Sachverhalts und über eine bestimmte Sachbehandlung (AEAO, Nr. 1 zu § 88 AO) möglich. Derartige Vereinbarungen zwischen dem Steuerpflichtigen und der Finanzbehörde werden als ‚tatsächliche Verständigung‘ bezeichnet.“

Eine Verständigung über Rechtsfragen und damit auch über den Steueranspruch wird übereinstimmend von Rechtsprechung, Verwaltung und Teilen der Wissenschaft für nicht zulässig erachtet.32 Allerdings hat die Rechtsprechung auch bereits Ausnahmen zugelassen und eine Verständigung über Rechtsfragen akzeptiert, wenn diese in so engem Zusammenhang mit Tatsachen stehen, dass sie nicht auseinandergerissen werden können, und letztlich eine Verständigung über ein Geflecht von Tatsachen und Rechtsfragen erfolgt.33 Hier wäre somit Raum für eine Erweiterung der bestehenden Rechtsinstitute bzw. die Schaffung eines neuen Rechtsinstituts, welches der Praxis erheblich weiterhelfen könnte.

2. Konkretisierungsspielraum innerhalb eines Rechtsraums In der Theorie geht man davon aus, dass ein Steueranspruch mit Tatbestandsverwirklichung (§ 38 AO) dem Grunde und der Höhe nach entstanden ist. Ausschlaggebend dafür sind die verwirklichten Sachverhalte und das materielle Recht. Problematisch ist jedoch, dass die Berechnung eines Steueranspruchs im Klausurfall, dem ein allwissender Erzähler immanent ist, treffsicher gelingen mag, in der Praxis aber Schwierigkeiten unterliegt. Der Steueranspruch muss in der Realität konkretisiert werden. Ruppe hat es einmal mit dem Hinweis auf den Punkt gebracht, dass die Richtigkeit im Sinne einer punktgenauen Ex-ante-Rechtsfolgenbestim-

32 BFH v. 11.12.1984 – VIII R 131/76, BStBl. II 1985, 254. 33 BFH v. 13.8.1997 – I R 12/97, BFH/NV 1998, 498.

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mung im Steuerrecht Idealbild, aber nicht Wirklichkeit ist34. Seer35 hat in seiner Habilitationsschrift darauf aufgesetzt und völlig zutreffend einen sog. Konkretisierungsspielraum erschlossen. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass innerhalb zulässiger Annahmen ungewiss bleibt, welches Ergebnis das exakt richtige ist: Dogmatisch lässt sich dies vor allem damit begründen, dass die Sachverhaltsermittlung in die gemeinsame Verantwortung von Finanzbehörde und Steuerpflichtigem fällt. Der Untersuchungsgrundsatz wird durch die Mitwirkung des Steuerpflichtigen effektuiert. Ohne Mitwirkung wäre keine Sachverhaltsaufklärung denkbar. Verständigungen im Tatsachenbereich sind danach Ausfluss der Kooperationsmaxime. Innerhalb der zulässigen Konkretisierungsspielräume muss folglich eine Einigung mit den Finanzbehörden möglich sein.

3. Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Vertrauensschutz Ein Rechtsstaat ist schließlich auch dazu verpflichtet, den Bürgern einen sicheren Rechtsrahmen und eine effiziente Verwaltung zur Verfügung zu stellen. Lassen sich Unklarheiten nicht beseitigten, so müssen dennoch Entscheidungen getroffen werden. Jede Entscheidung zieht sodann Konsequenzen nach sich: Entweder wird der Versuch unternommen, eine einvernehmliche Lösung anzustreben – also Kooperation –, oder es ergeht eine einseitige ablehnende Entscheidung der Verwaltung, gegen die der Bürger sodann gerichtlich vorgehen muss. Man könnte von Konfrontation sprechen. Aus Sicht der Steuerverwaltung ist es dabei nicht erstrebenswert, jede Unklarheit unmittelbar den Gerichten zuzuführen. Denn Steuerrecht ist Massenverfahren und die Anzahl der nicht eindeutig zu beurteilenden Fragen ist im Arbeitsalltag schier unermesslich. Umgekehrt kann auch nicht jedem Steuerbürger ein Gerichtsverfahren zugemutet werden. Schließlich wäre auch den Gerichten nicht gedient, wenn die Verwaltung nur noch die absolut eindeutigen Fälle unstreitig und alle anderen Zweifelsfälle unmittelbar der Klärung durch die Justiz überlassen würde. Ein Ansatz, der dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Vertrauensschutz Rechnung trägt, liegt daher im allseitigen Interesse.

34 Ruppe in Leitner, Finanzstrafrecht, 2002, 21 ff. 35 Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 1996, 182 ff.

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4. Internationale Aspekte a) Rechts- und Anwendungssicherheit im Steuerrecht bzw. Tax Certainty Die internationalen Gremien beflügeln – spätestens seit 2017 – die Diskussion um bessere und kooperative Abstimmungen zwischen Steuerpflichtigen und Verwaltung. Deutschland36 hat während seiner G20-Präsidentschaft das Thema „Tax Certainty“ auf die Agenda gehoben – seither wurden zahlreiche Programme, Projekte und Arbeiten an dem Themenkreis „Rechts- und Planungssicherheit“ ins Leben gerufen. Denn „Rechtssicherheit“ oder „Legal Certainty“ beschreibt nur eine Facette des Themas. Das Ziel nach Rechtssicherheit meint gemeinhin „leicht zu verstehende und einfach anzuwendende steuerliche Vorschriften“. Es handelt sich zuvorderst um eine legislative Aufgabe. Aus ökonomischer Sicht kommt aber dem Aspekt der Planungssicherheit entscheidende Bedeutung zu, denn sie beeinflusst Investitionsentscheidungen und kreiert insgesamt mikro- und makroökonomische Effekte37. Planungs(un-)sicherheit kann die Attraktivität eines Wirtschaftsstandorts entscheidend beeinflussen. Das Thema gewinnt im Zusammenhang mit der fortschreitenden Globalisierung ständig an Bedeutung. Tax Certainty ist aber in diesem Zusammenhang nicht nur ein legislativer Leitgedanke, sondern für die Exekutive ein echter Arbeitsauftrag: Dort umschreibt sie die Aufgabe, Sicherheit bei der Anwendung des Steuerrechts zu gewährleisten. In diesem Sinne sollten verfahrensrechtliche Instrumente von der Legislative geschaffen und verbessert und von der Exekutive konsequenter genutzt werden. Die Zielvorstellung ist dabei darauf gerichtet, über die Höhe der vom Steuerbürger bzw. den Unternehmen zu entrichtenden Steuer möglichst rasch – am besten im Vorhinein – von möglichst vielen beteiligten Staaten Klarheit und Verbindlichkeit der Entscheidungen zu gewährleisten. Dabei helfen sollen Verfahren wie etwa das „International Compliance Assurance Programme (ICAP)“38. Der Begriff „Assurance“ ist dem deutschen Recht allerdings derzeit noch fremd und sollte nunmehr unbedingt zeitnah erschlossen und kodifiziert werden. Im Zusammenhang mit dem sog. OECD-Zwei-Säulen-Projekt wird zudem an gänzlich neuen Mechanis36 Kreienbaum, IStR 2017, 337 (338). 37 Burger/Kälberer, IStR 2020, 411 ff. 38 Oertel, IWB 2019, 976 ff.; Strohm, ISR 2019 ff., 217; Kowallik, DB 2020, 412 ff.

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men gearbeitet, die jeweils unterschiedliche Wirkungen erzielen, aber insgesamt alle eine Beschleunigung bei der Herbeiführung verbindlicher Einigungen und Herstellung von Sicherheit für alle Parteien zum Gegenstand haben.

b) Zugang zu internationalen Streitbeilegungsverfahren und nationale Möglichkeiten zur abschließenden Einigung über offene Fragen. Internationale Entwicklungen können die Mechanismen zur einvernehmlichen Einigung zwischen Steuerpflichtigem und Verwaltung befördern und wichtige Impulse zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Steuerverwaltungen setzen. Abgestimmte internationale Standards können in einzelnen Fällen aber für bewährte nationale Rechtsinstitute auch Rückschritte bedeuten. Die deutsche Steuerverwaltung schließt – aufgrund des beschriebenen Spannungsfeldes zwischen Legalitätsprinzip und Anwendungssicherheit – bindende tatsächliche Verständigungen nicht leichtfertig ab. Aus Sicht der Verwaltung ist die Bindungswirkung und letztlich der Rechtsfrieden das entscheidende Motivationskriterium. Aufgrund internationaler Vorgaben reicht die Rechtssicherheit einer nationalen Vereinbarung jedoch nicht so weit, dass dem Steuerpflichtigen die Einleitung eines internationalen Verständigungs- oder Schiedsverfahrens verwehrt werden kann. Die OECD hat in BEPS-Aktionspunkt 14 Staaten dazu verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass sog. „audit settlements“ zwischen Steuerbehörden und Steuerpflichtigen die Durchführung eines Verständigungsverfahrens nicht ausschließen dürfen39. Was genau als „audit settlement“ zu verstehen ist, muss im jeweiligen nationalen Recht definiert werden. Die deutsche Verwaltung hat den Gedanken dahingehend aufgegriffen, unter anderem die tatsächliche Verständigung als „settlement“ zu qualifizieren und infolgedessen Rz. 33 des „Merkblatts zu internationalen Verständigungs- und Schiedsverfahren“ angepasst. Darin findet sich nunmehr die Aussage, dass die deutsche Finanzverwaltung im Verständigungsverfahren zwar regelmäßig keine Abweichungen von der tatsächlichen Verständigung akzeptieren wird, jedoch eben auch in Fällen, in denen eine tatsächliche Verständigung abgeschlossen wurde, der Weg 39 OECD (Hrsg.) Verbesserung der Effizienz von Streitbeilegungsmechanismen – Aktionspunkt 15 Abschlussbericht 2015, OECD Publishing Paris 2015, S. 20.

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zum internationalen Verständigungsverfahren offensteht. Für die Praxis bedeutet diese Passage ein erhebliches Risiko und zugleich auch eine Abkehr vom bisherigen Grundsatz, dass eine tatsächliche Verständigung dauerhaft nationalen und internationalen Rechtsfrieden bewirken kann. Zum einen gibt es eben keinen Rechtsfrieden, wenn auch nach Abschluss einer tatsächlichen Verständigung – eventuell Jahre später – ein internationales Verständigungsverfahren beantragt werden kann und dieses dazu führt, dass der Fall erneut aufgerollt werden muss. Zum anderen gilt die Aussage in dem BMF-Schreiben nur insoweit, als die auf dem Rechtgrundsatz von Treu und Glauben beruhende Bindungswirkung reicht. Entfällt aufgrund der Erkenntnisse oder der vorgelegten Unterlagen im Verständigungsverfahren auch die Bindungswirkung, so ist es um den Rechtsfrieden geschehen. Die Diskussionen über den Umgang mit dieser Textziffer dauern gerade noch an – sie könnten im Ergebnis dazu führen, dass die Bereitschaft der Finanzverwaltung zum Abschluss von Verständigungsverfahren über Sachverhalte mit Auslandsbezug – also solche, in denen eine Verständigungsverfahren möglich ist – sinkt.

IV. Abschließende These Zusammengefasst ist festzuhalten, dass Einigungen aus Sicht der Verwaltung derzeit nur in engen Grenzen möglich sind. Der Status Quo ist jedoch insgesamt noch nicht ausreichend, um den Bedürfnissen eines modernen Steuerstaats ausreichend Rechnung zu tragen. Eine Weiterentwicklung bestehender Rechtsinstitute – etwa der tatsächlichen Verständigung – und anderer Möglichkeiten zur kooperativen Streitlösung ist im Interesses der Steuerpflichtigen und auch der Verwaltung dringend geboten. Denn eine moderne Steuerverwaltung benötigt einen verlässlichen Rechtsrahmen und ausreichend Raum zum Abschluss von „Verständigungen und Vergleichen“!

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Verständigungen und Vergleiche in Steuerverfahren aus der Perspektive der Beraterschaft und Unternehmen Dr. Stefanie Beinert, LL.M. Rechtsanwältin/Steuerberaterin, Frankfurt/M.

I. (Weiterer) Modernisierungsbedarf im nationalen Recht II. Verständigungen und Vergleiche im nationalen Recht 1. Informelle Absprachen nicht ausreichend belastbar 2. Sachverhaltsverwirklichung als Zäsur für (frühzeitige) Rechtssicherheit? a) Dispositionsschutz des Steuerpflichtigen: Verbindliche Auskunft b) Perpetuierung: Verbindliche Zusage c) Unklarer Sachverhalt: Tatsächliche Verständigung d) Offene Rechtsfrage: Sinnhaftigkeit eines Vergleichsvertragsrechts aa) Für die Zulässigkeit eines Steuervergleichs bb) Einwirken internationaler Verständigungen? e) Unzureichende Vorabklärungsmöglichkeiten nach Sachverhaltsverwirklichung

III. Einige ausgewählte Einzelthemen 1. Bedeutung der Protokolle 2. Aussetzungszinsen und Zeitpunkt einer Erledigungserklärung im Prozess (Prozessvergleich) 3. Nationale und internationale Verständigungen a) Ineffizienzen internationaler Verständigungen b) Bedürfnis nach nationalen Rechtsbehelfsverfahren c) Wesentliche Konfliktsituation aa) Scheitern einer nationalen Verständigung und Ergehen eines rechtskräftigen Urteils bb) Möglichkeit des „Überschreibens“ tatsächlicher Verständigungen? cc) Nationale Ergänzung einer internationalen Verständigung IV. Fazit

I. (Weiterer) Modernisierungsbedarf im nationalen Recht Das Diskussions- und Streitpotential mit Finanzbehörden wächst. Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen von einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber dem Steuerpflichtigen bis zur zunehmenden An-

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zahl komplizierter und „aufeinander gestapelter“1 Regelwerke zur Eindämmung internationaler Steuervermeidung. Gleichzeitig wächst die Erkenntnis, dass Planungssicherheit, aber auch frühzeitige Rechtssicherheit zunehmend wichtige Standortfaktoren sind und ohne Kooperation zwischen den Finanzbehörden und dem Steuerpflichtigen nicht erreicht werden können. Die OECD hat 2002 das Forum on Tax Administration gegründet, das bereits 2008 eine „enhanced relationship“ zwischen Steuerbehörden und Unternehmen empfahl mit dem Ziel, gegenseitiges Vertrauen zu bilden und früh Steuerrechtssicherheit („early tax certainty“) eintreten zu lassen.2 Daraus entwickelte sich die Cooperative Compliance („transparency in exchange for certainty“),3 ein von immer mehr Staaten verfolgtes Konzept. Seit dem Jahr 2016 arbeitet die OECD an einer Tax Certainty Agenda zur Verbesserung der Streitvermeidungs- und Streitbeilegungsmechanismen.4 Das 2018 von der OECD ins Leben gerufene International Compliance Assurance Programme (ICAP)5 soll auf freiwilliger Basis frühzeitig eine international koordinierte Risikobewertung grenzüberschreitender Geschäftsbeziehungen großer Unternehmen durch die beteiligten Finanzverwaltungen erreichen. Die Risikoanalyse wird in einem „Outcome Letter“ festgehalten, die „Assurance“ u.a. bezüglich zukünftiger Prüfungsfelder bzw. mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht prüfungsrelevanter Aspekte schafft. Im Rahmen der EU wurde im Oktober 2021 ein vergleichbares Verfahren für multinationale Unternehmen (European Trust and Cooperation Approach, ETACA) lanciert, das ein (rasches) highlevel risk assessment der Verrechnungspreispolitik von großen Unternehmen anvisiert.6 Auch bei Pillar One soll frühzeitige Steuersicherheit erlangt werden können.7 1 Schön, IStR 2022, 18. 2 Forum on Tax Administration, Study into the Role of Tax Intermediaries, 2008, 40 ff. 3 OECD, Co-operative Compliance. A Framework – from Enhanced Relationship to Co-operative Compliance, 2013, 29. 4 Zur Tax Certainty Agenda u.a. Melkonyan/von der Hellen, IWB 2020, 194. 5 https://www.oecd.org/tax/forum-on-tax-administration/international-compli ance-assurance-programme.htm. 6 EU-Kommission, Guidelines European Trust and Cooperation Approach (ETACA); dazu u.a. Gmoser, IWB 2022, 143; Oertel, IWB 2020, 930. 7 Statement on a Two-Pillar Solution to Address the Tax Challenges Arising From the Digitalisation of the Economy – 1 July 2021 (sog. Blueprint); dazu

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Der Modernisierungsbedarf im nationalen Recht wird – bedingt auch durch diese internationalen Entwicklungen – immer deutlicher, der Druck auch aus dem Ausland wächst. Die Bundesregierung hat es sich ausweislich des Koalitionsvertrags vom 24.11.2021 zur Aufgabe gemacht, die Betriebsprüfung zu modernisieren und zu beschleunigen. Die Verbände haben dazu detaillierte Vorschläge unterbreitet.8 Im Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2021/514 des Rates vom 22.3.2021 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Modernisierung des Steuerverfahrensrechts vom 20.12.2022 findet sich eine punktuelle Modernisierung der Betriebsprüfung.9 Das Gesetz kann hier nicht in Details erläutert werden, folgende wenige Punkte seien aber erwähnt: Es wird für Besteuerungszeiträume, für die nach dem 31.12.2024 mit einer Betriebsprüfung begonnen wird (§ 37 Abs. 3 EGAO), die Möglichkeit zum Erlass von Teilabschlussbescheiden eröffnet (§ 180 Abs. 1a AO), mittels derer frühzeitige Rechtssicherheit für abgrenzbare Sachverhalte mit besonderer Relevanz erreicht werden kann. Der Teilabschlussbescheid kann durch eine verbindliche Zusage flankiert werden (§ 204 Abs. 2 AO). Teilabschlussbescheid und verbindliche Zusage sollen allerdings an die Glaubhaftmachung eines „besonderen Interesses“ des Steuerpflichtigen gebunden werden, womit die Voraussetzungen zu hoch angesetzt werden. Darin liegt die Erkenntnis, dass es hilft, wenn Streitfragen möglichst frühzeitig „in den Streit“ oder „aus den Streit“ gestellt werden, also eine Fokussierung eintritt. Diese Abstimmung sollte allerdings unabhängig von der Betriebsprüfung sein und näher an den Sachverhalt rücken. Es fehlt der große Wurf in Form einer Anerkennung der Dispositionsbefugnisse der Finanzbehörden für Zwecke konsensualer, frühzeitiger Klärungen von Streitfragen. u.a. Englisch/van Lishaut, FR 2022, 425; Greil, IStR 2022, 373 (380 ff.); Oertel, IWB 2019, 976. 8 Vgl. u.a. das Positionspapier des BDI v. 27.9.2019 (https://bdi.eu/publikation/ news/steuerliche-betriebspruefungen/), das IDW-Positionspapier v. 29.11.2021 (https://www.idw.de/blob/133712/9fa06c722fe625c8c34e0fb9f1fa283d/downpositionspapier-veranlagungsnahe-betriebspruefung-data.pdf) sowie DWS-Schriftenreihe Nr. 47 (Reform der Außenprüfung aus der Perspektive des Mittelstands), 2021. 9 BGBl. I 2022, 2730 (Nr. 56).

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Zu begrüßen ist, dass im Gesetzgebungsverfahren § 38 EGAO ergänzt wurde, als erster Schritt hin zu einer Systemprüfung mit daraus folgenden Prüfungserleichterungen. § 38 Abs. 1 EGAO sieht vor, dass das Finanzamt (im Benehmen mit dem BZSt) dem Steuerpflichtigen auf Antrag für eine folgende Betriebsprüfung Prüfungserleichterungen verbindlich zusagen kann, soweit in der letzten Betriebsprüfung die Wirksamkeit eines eingesetzten Steuerkontrollsystems (auch Tax Compliance System oder Tax CMS genannt) überprüft wurde und für die erfassten Steuern kein oder nur ein unbeachtliches steuerliches Risiko besteht. Die Zusage steht unter dem Vorbehalt des Widerrufs (§ 38 Abs. 1 EGAO). § 38 Abs. 2 EGAO definiert das Steuerkontrollsystem als innerbetriebliche Maßnahmen, die eine zutreffende Aufzeichnung und Berücksichtigung der Besteuerungsgrundlagen sowie eine fristgerechte und vollständige Steuerzahlung gewährleisten; das Steuerkontrollsystem muss die steuerlichen Risiken laufend abbilden. Diese offene Formulierung ohne Verweis auf einen Prüfungsstandard (z.B. IDW Praxishinweis 1/2016) und ohne die Notwendigkeit einer (externen) Prüfung oder Zertifizierung des Steuerkontrollsystems sollte es ermöglichen, auf den Steuerpflichtigen und die Unternehmensgröße zugeschnittene Kontrollsysteme „passgenau“ zu berücksichtigen und auch bereits bestehende Systeme in die Systemprüfung zu integrieren.10 Voraussetzung dafür ist, dass seitens des Finanzamts keine externe Prüfung des Steuerkontrollsystems als Nachweis von dessen Wirksamkeit verlangt wird, was unverhältnismäßig wäre, und sich die Anforderungen an die IT-Unterlegungen zu Dokumentationszwecken in Grenzen halten. Es bleibt abzuwarten, welche Praxis sich hier entwickeln wird, über die die Finanzverwaltung zeitnah unterrichten sollte. Die Systemprüfungen und zugesagten Erleichterungen sollen nach § 38 Abs. 3 EGAO von den Landesfinanzbehörden bis zum 30.4.2029 evaluiert werden. Zum 1.1.2030 tritt die Neuregelung wieder außer Kraft. Bis dahin muss der Gesetzgeber entscheiden, ob er eine entsprechende Dauerregelung schaffen will. Das Gesetz sieht den Steuerpflichtigen in einer Bringschuld, was die Einführung des sog. „qualifizierten Mitwirkungsverlangens“ (§ 200a AO) zeigt, das grundsätzlich innerhalb einer – deutlich zu streng geratenen – Frist von einem Monat zu erfüllen ist und bei Fristenüberschreitung zur Festsetzung von „Mitwirkungsverzögerungsgeldern“ (ggf. zzgl. Zuschlägen) führt. Aus § 200a Abs. 1 Satz 2 EGAO dürfte zu entnehmen sein, dass ein qualifiziertes Mitwirkungsverlangen erst ergehen darf, wenn 10 Vgl. Peters, AO-StB 2022, 353 (363).

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ein normales Mitwirkungsverlangen und eine daran anschließende Androhung eines qualifizierten Mitwirkungsverlangens erfolglos blieben.11 Es ist zu erwarten, dass die Finanzverwaltung zügig kommunizieren wird, welche Punkte Gegenstand einer Mitwirkungsvereinbarung (§ 199 Abs. 2 Satz 3 AO) sein können bzw. sollten. Was fehlt, ist ein Zugzwang für die Finanzverwaltung. Eine zügige und hinreichend detaillierte Begründung von Positionen der Finanzverwaltung im tatsächlichen wie rechtlichen Bereich könnte mehr für die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung tun als das Verbot von Steuervergleichen.

II. Verständigungen und Vergleiche im nationalen Recht 1. Informelle Absprachen nicht ausreichend belastbar Informelle Absprachen gibt es viele. Dazu zählen die Erörterung von Rechtsfragen, Abstimmungen zum Verfahren oder die Feststellung des Sachverhalts (dokumentiert z.B. im Betriebsprüfungsbericht). Solche Absprachen sind komplex, z.B. wenn mehrere Finanzbehörden zu involvieren sind, nicht immer ausreichend belastbar und bergen das Risiko in sich, dass sie einseitig „aufgekündigt“ werden, im Extremfall in Form von Ermittlungsmaßnahmen trotz eines informellen Stillhalteabkommens zur Ermöglichung einer gesellschaftsinternen Aufarbeitung des Sachverhalts. Informelle Absprachen können Instrumente mit bindendem Charakter daher nicht ersetzen.

2. Sachverhaltsverwirklichung als Zäsur für (frühzeitige) Rechtssicherheit? a) Dispositionsschutz des Steuerpflichtigen: Verbindliche Auskunft Die Möglichkeit von Verständigungen mit Finanzbehörden leidet unter der Annahme, dass eine frühzeitige Klärung von Rechtsfragen nur bei noch nicht verwirklichtem Sachverhalt möglich ist. Mit der Verwirklichung des Sachverhalts kommt es zu einer Zäsur und Differenzen im Sachverhalt oder im rechtlichen Bereich klären sich erst in der Betriebsprüfung oder vor Gericht. Das führt zu einer langen Phase der Rechtsunsicherheit, die wiederum zu einem berechtigten Interesse des Steuerpflichtigen an einer früheren Klärung führt. Diese sollte seitens der 11 Peters, AO-StB 2022, 353 (359).

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Finanzverwaltung grundsätzlich zulässig sein (s. unten), findet in der Praxis aber regelmäßig nicht statt. Dabei würde ein frühzeitiges „außer Streit stellen“ von Themen helfen, die streitig bleibenden (möglichst wenigen) Themen effizienter anzugehen. Umso wichtiger ist es, die derzeit zur Verfügung stehenden Instrumente der Verständigung maximal zu nutzen. Das ist nicht immer der Fall: Die verbindliche Auskunft (§ 89 Abs. 2 AO) zielt auf die rechtliche Behandlung eines erst zukünftig zu verwirklichenden Sachverhalts und schützt das Dispositionsinteresse des Steuerpflichtigen.12 Idealerweise steht sie am Ende eines (informellen) Abstimmungsprozesses mit dem Finanzamt, ggf. unter Einschaltung übergeordneter Behörden. Im Regelfall entspricht dieses Idealbild aber nicht der Realität und z.B. bei M&ATransaktionen reicht die zur Verfügung stehende Zeit nicht für ein Auskunftsverfahren. Die Klärung der sich stellenden Sach- oder Rechtsfragen wird dann auf die Betriebsprüfung oder das Einspruchs- oder Klageverfahren verschoben. Auch der auf bloße Vertretbarkeit beschränkte Rechtsschutz bei negativen Auskünften hat diesen Effekt.13 Die Herangehensweise der Finanzbehörden ist teilweise zu zögerlich. Die verbindliche Auskunft wird als „Selbstbindung“ der Finanzverwaltung wahrgenommen und nicht als (beidseitig vorteilhaftes) Streitvermeidungsinstrument. Trotz des „kann“ in § 89 Abs. 2 AO besteht bei entsprechender steuerrechtlicher Auswirkung zwar regelmäßig ein Anspruch auf Erteilung der verbindlichen Auskunft.14 Verbindliche Auskünfte sollen aber z.B. nicht erteilt werden, wenn die Erzielung eines Steuervorteils im Vordergrund steht (AEAO zu § 89 Tz. 3.5.4 Satz 1). Gerade in solchen Fällen wäre eine frühzeitige Kooperation aber sinnvoll. Auch bei grenzüberschreitenden Sachverhalten ist eine Zurückhaltung bemerkbar. So soll offenbar Flexibilität für spätere Diskussionen mit ausländischen Finanzverwaltungen erhalten und jeder Verdacht einer unzulässigen Beihilfe (Art. 107 AEUV)15 bereits im Ansatz vermieden 12 Auf die Lohnsteuerauskunft sowie die Zoll- und Tarifauskunft wird nicht weiter eingegangen. 13 U.a. auch Rätke in Klein, 16. Aufl. 2022, § 89 AO Rz. 38. 14 Herrschende Ansicht, u.a. Seer in Tipke/Kruse, § 89 AO Rz. 40 (Februar 2018); Volquardsen in Schwarz/Pahlke, § 89 AO Rz. 54 (Juli 2017); Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 89 AO Rz. 237a (April 2023); Seer in StbJb. 2012/2013, 557 (567). 15 Grundsätzlich sollten verbindliche Auskünfte allerdings unproblematisch sein, Schnitger, IStR 2017, 421 (423), und werden – soweit ersichtlich – nicht als potentielle Beihilfen aufgegriffen.

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werden.16 Für diese und vergleichbare Einengungen der verbindlichen Auskunft bedürfte es angesichts des (legitimen) Bedürfnisses nach Planungssicherheit einer gesetzlichen Grundlage, die fehlt.17 Vorabverständigungsverfahren (APA) machen verbindliche Auskünfte nicht entbehrlich, weshalb Verweise von Finanzämtern auf dieses Verfahren kritisch zu sehen sind. Mit dem durch das AbzStEntModG zum 6.9.2021 eingeführten § 89a AO wurde eine eigenständige nationale Rechtsgrundlage für Vorabverständigungsverfahren geschaffen. Sie soll den Willen Deutschlands verdeutlichen, durch die Einleitung von Vorabverständigungsverfahren im Interesse der Unternehmen frühzeitig Rechtssicherheit zu erreichen. Es ist aber unklar, ob andere Staaten die in der Vorschrift liegende Weitung der Vorabverständigungsverfahren auf sämtliche grenzüberschreitende Sachverhalte – sofern zwischen den Staaten ein DBA abgeschlossen wurde, das eine entsprechende Verständigungsklausel (Art. 25 OECD-MA) enthält – akzeptieren werden. Generell ist zudem festzustellen, dass die Verfahren derzeit (zu) lange dauern und nur für komplexere Geschäftsmodelle geeignet sind. Das zeigt sich letztlich auch daran, dass die OECD und ihr Forum on Tax Administration (FTA) an einer Verbesserung arbeiten; insbesondere wird die Verwendung standardisierter Transfer Pricing-Benchmarks diskutiert.18

b) Perpetuierung: Verbindliche Zusage Die verbindliche Zusage i.S.v. § 204 AO betrifft einen bereits geprüften Sachverhalt, der in die Zukunft fortwirkt (Sachverhalte mit Dauerwirkung) oder sich regelmäßig wiederholt (Sachverhalte mit Dauerwiederkehr).19 Sie hilft, Streitigkeiten periodenübergreifend zu befrieden, und ist daher aus der Praxis nicht wegzudenken. Bei zutreffender Betrach16 Scheibe/Weyer in Neuling/Wilmanns/Busch/Scheibe, Verrechnungspreise in der Betriebsprüfung, 2020, C Teil 1 Rz. 103. Nach BMF v. 5.10.2006, BStBl. I 2006, 594 (Merkblatt APA) Tz. 1.2 soll eine Verrechnungspreiszusage nur erteilt werden, wenn zuvor eine Verständigung mit dem anderen Staat erreicht wurde. Unklar ist, ob das auch noch nach Einführung des § 89a AO so gesehen wird. 17 Kritisch u.a. auch Dannecker in DStjG 43 (2020), 535 (541); Seer in Tipke/Kruse, § 89 AO Rz. 42 ff. (Februar 2018); Osterloh-Konrad/Heber/Beuchert, Anzeigepflichten für Steuergestaltungen in Deutschland, 2017, 154; Seer in StbJb. 2013/2014, 557 (567). 18 Flüchter im Tagungsbericht zur Webcast-Reihe des BZSt von Asseburg-Wietfeldt, IWB 2021, 697 (700). 19 Seer in Tipke/Kruse, § 204 AO Rz. 1 (Februar 2018).

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tung kann die verbindliche Zusage für Zeiträume ab dem Ende des Prüfungszeitraums, in dem der Dauersachverhalt von der Finanzbehörde geprüft wurde, erteilt werden und nicht erst ab dem Zeitpunkt der Erteilung der Zusage (oder des Antrags auf diese).20 Leider hat dieses Instrument „Schwächen“. Durch den Zusammenhang mit der Betriebsprüfung kommt es erst sehr spät zu einer Einigung. Gelegentlich ist zudem eine gewisse Zurückhaltung von Finanzbehörden zu beobachten. AEAO zu § 204 Tz. 5 stellt es in das Ermessen der Finanzverwaltung, Anträge zur zukünftigen Angemessenheit von Verrechnungspreisen bei unübersichtlichen Marktverhältnissen abzulehnen.21 Die Voraussetzungen der verbindlichen Zusage sind nicht abschließend geklärt. Neben dem Thema des Zusageinteresses betrifft dies insbesondere auch die Zeitschiene. Zwischen der Betriebsprüfung und der Erteilung der verbindlichen Zusage muss ein zeitlicher Zusammenhang gewahrt bleiben. Ein kurz nach Erhalt des Prüfungsberichts gestellter Antrag ist jedenfalls noch rechtzeitig gestellt.22 Da die Rechtsauffassung der auswertenden Behörde erst mit Erlass der die Prüfungsfeststellungen umsetzenden Steuerbescheide rechtlich verbindlich wird, sprechen gute Gründe dafür, Anträge auch noch bis zu diesem Zeitpunkt als rechtzeitig anzusehen.23 Das FG Baden-Württemberg geht zu Recht davon aus, dass eine verbindliche Zusage auch dann möglich ist, wenn der geprüfte Sachverhalt nicht schon im Prüfungsbericht, sondern erst im Wortlaut des Zusageschrei-

20 DWS-Schriftenreihe Nr. 47 (Reform der Außenprüfung aus der Perspektive des Mittelstands), 2021, 13; zum Zusageinteresse u.a. Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 204 AO Rz. 12 ff. (Februar 2018). 21 John/Scheibe in Neuling/Wilmanns/Busch/Scheibe, Verrechnungspreise in der Betriebsprüfung, 2020, E Teil 3 Rz. 619 ff. 22 FG Baden-Württemberg v. 20.7.2000 – 3 K 67/95, EFG 2000, 1161. Bruschke, AO-StB 2021, 96 (97) meint zu eng, dass (nur) „unter besonderen Umständen“ ein erst nach Zusendung des Prüfungsberichts gestellter Antrag erfolgreich sei. 23 Seer in Tipke/Kruse, § 204 AO Rz. 9 (Februar 2018); Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 204 AO Rz. 19 (Februar 2011). Eine Zusage sollte nicht mehr in Betracht kommen, wenn sich der Änderungsbescheid bereits im Einspruchsverfahren befindet (FG Nürnberg v. 23.5.2019 – 4 K 862/17, EFG 2020, 895) oder der Sachverhalt in der finanzgerichtlichen Prüfung (BFH v. 13.7.2009 – IX B 22/09, BFH/NV 2010, 3).

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bens selbst dargestellt ist.24 Der BFH führt im Rahmen einer Verpflichtungsklage auf Änderung des Betriebsprüfungsberichts aus, dass Voraussetzung des Antrags auf verbindliche Zusage (nur) sei, dass der streitige Sachverhalt Gegenstand der Prüfung war und dies im Prüfungsbericht dargestellt sei. Der Steuerpflichtige „könne“ in diesem Falle in seinem Antrag auf den im Prüfungsbericht dargestellten Sachverhalt Bezug nehmen (§ 205 Abs. 2 Nr. 1 AO). Der Bericht müsse aber weder vollständig noch richtig sein.25 Es ist allerdings festzustellen, dass im Schrifttum teilweise unter Hinweis auf den Wortlaut von § 204 AO eine detaillierte Aufnahme des auskunftsrelevanten Sachverhalts in den Prüfungsbericht gefordert wird.26 Das ist abzulehnen, da in der Praxis oft nicht zu erfüllen und – basierend auf der Rechtsprechung des BFH – regelmäßig mangels Rechtsschutzinteresses auch nicht gerichtlich durchfechtbar.27

c) Unklarer Sachverhalt: Tatsächliche Verständigung Geprägt wird die Praxis durch tatsächliche Verständigungen. Seit der Grundsatzentscheidung des BFH vom 11.12.1984 sind tatsächliche Verständigungen im Steuerrecht grundsätzlich zulässig.28 Die Rechtsnatur und Rechtsgrundlage sind zwar umstritten. Überwiegend wird die Bindung vom BFH mit dem Grundsatz von Treu und Glauben begründet.29 Das Schrifttum qualifiziert die tatsächliche Verständigung dagegen zunehmend als öffentlich-rechtlichen Vertrag.30 In beiden Fällen erstreckt

24 FG Baden-Württemberg v. 20.7.2000 – 3 K 67/95, EFG 2000, 1161 vgl. auch Sächsisches FG v. 27.12.2011 – 3 V 1830/11, juris. 25 BFH v. 6.8.2014 – V B 116/13, BFH/NV 2014, 1722; dazu Nöcker, AO-StB 2014, 295 (296). 26 Intemann in Koenig, 4. Aufl. 2021, § 204 AO Rz. 20 f.; Maetz in Klein, 16. Aufl. 2022, § 204 AO Rz. 20; Frotscher in Schwarz/Pahlke, § 204 AO Rz. 31 (März 2017). Nach § 12 Abs. 1 BpO ist ein Sachverhalt, bei dem mit einem Antrag auf verbindliche Zusage zu rechnen ist, umfassend im Prüfungsbericht darzustellen. 27 Seer in Tipke/Kruse, § 204 AO Rz. 20 (Februar 2018). 28 BFH v. 11.12.1984 – VIII R 131/76, BStBl. II 1985, 354. 29 BFH v. 6.2.1991 – I R 13/86, BStBl. II 1991, 673; BFH v. 31.7.1996 – XI R 78/ 95, BStBl. II 1996, 625; anders dagegen BFH v. 5.10.1990 – III R 19/88, BStBl. II 1991, 5. 30 U.a. Seer in Tipke/Kruse, Vor §§ 118–129 AO Rz. 15 (August 2021); Rätke in Klein, 16. Aufl. 2022, § 78 AO Rz. 5; Rüsken in Klein, 16. Aufl. 2022, § 162 AO Rz. 46.

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sich die Bindungswirkung auch auf die Gerichte,31 weshalb der Streit in der Praxis keine große Rolle spielt. Die tatsächliche Verständigung kann auch Zukunftswirkung haben, wenn es um Dauersachverhalte mit gleich bleibenden Umständen geht; abschließend geklärt ist dies aber nicht.32 Angesichts der Unsicherheiten wird in der Praxis oftmals eine verbindliche Zusage i.S.v. § 204 AO erteilt, die auf dem Sachverhalt einer zuvor abgeschlossenen tatsächlichen Verständigung aufbaut. Die tatsächliche Verständigung bleibt allerdings hinter einem Steuervergleich zurück: Zu nennen ist bereits der zeitliche Versatz. Es ist zu beobachten, dass Finanzbehörden tendenziell erst spät, z.B. im Zusammenhang mit der Schlussbesprechung einer Betriebsprüfung (§ 201 AO), zu tatsächlichen Verständigungen bereit sind oder solche initiieren, ggf. als „Paketlösung“ mehrerer Streitfragen. Der Zeitablauf führt aber ggf. dazu, dass kein eindeutiger und subsumtionsfähiger Sachverhalt mehr ermittelt werden kann, der klare Rechtsfolgen hat. Dennoch kann der Steuerpflichtige erwarten, dass die Finanzbehörde in Vorbereitung einer tatsächlichen Verständigung den von ihr ermittelten Sachverhalt skizziert und rechtlich detailliert subsumiert. Die Einhaltung der Grundsätze der Gleichmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung wird weniger durch eine Einräumung von Dispositionsbefugnissen für die Finanzverwaltung gefährdet als durch eine (zu) knapp geratene und dem Steuerpflichtigen nicht ausreichend kommunizierte Entscheidungsfindung. Es bestehen rechtsstaatliche Bedenken, wenn mit einer schmalen Begründung schlicht ein Mehrergebnis verlangt wird, um den Steuerpflichtigen so zu einer (ungünstigen) tatsächlichen Verständigung zu bewegen. Das rechtliche Kernproblem der tatsächlichen Verständigung ist, dass nach ständiger Rechtsprechung der Sachverhalt nur schwer ermittelbar sein darf. Unschärfen bei der Sachverhaltsaufklärung sowie von der Vorschrift genutzte „deutungsoffene“ Rechts- und Wertbegriffe eröffnen (Konkretisierungs-)Spielräume, innerhalb derer die Finanzverwaltung agieren und sich auch mit dem Steuerpflichtigen verständigen kann.33 31 Dies in Frage stellend Loschelder, StuW 2018, 329. 32 BMF v. 13.2.2008, BStBl. I 2008, 831 Rz. 4.2; zur Rechtsprechung Seer in Tipke/Kruse, Vor §§ 118–129 AO Rz. 12 (August 2021). 33 U.a. Drüen in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 88 AO Rz. 268 (Juni 2021); Seer in Tipke/Kruse, Vor §§ 118–129 AO Rz. 21 (August 2021); Seer in DStjG 38

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Das BMF spricht vom Erfordernis eines Schätzungs-, Bewertungs-, Beurteilungs- oder Beweiswürdigungsspielraums.34 Der BFH lässt eine Verständigung über Rechtsfragen (nur) zu, wenn diese in einem so engen Zusammenhang mit Tatsachen stehen, dass sie sachgerechterweise nicht auseinandergerissen werden können.35 Das öffnet die Tür für tatsächliche Verständigungen, die der Theorie nach Sachverhaltseinigungen sind, aber rechtlichen Kompromisscharakter haben. Denn jede Verständigung über Sachverhalt und Besteuerungsgrundlagen löst ganz bestimmte (auch gewollte) steuerrechtliche Folgerungen aus. Es verbleiben aber Rechtsunsicherheiten, wenn es im konkreten Fall nicht ausschließlich um Sachverhaltsfragen geht. Die Praxis behilft sich mit einer möglichst umgehenden Umsetzung der Einigung in Bescheidform mit unmittelbar anschließendem Rechtsmittelverzicht.36 Es ist am Ende unbefriedigend, wenn im Rahmen einer Besprechung mit den Finanzbehörden erst einmal diskutiert werden muss, ob und ggf. mit welchem „Formulierungsgeschick“ eine tatsächliche Verständigung möglich ist und ob es (rechtliche) Aspekte des Sachverhalts gibt, die nicht angesprochen werden können. Der Rechtssicherheit ist mit einer lückenhaften Beleuchtung eines Sachverhalts nicht ausreichend gedient.

d) Offene Rechtsfrage: Sinnhaftigkeit eines Vergleichsvertragsrechts aa) Für die Zulässigkeit eines Steuervergleichs Der große Vorteil eines Steuervergleichs wäre sein breiter(er) Anwendungsbereich. Er wäre nicht nur zulässig, wenn die (materiell-rechtliche) Vorschrift Konkretisierungsspielräume eröffnet, sondern es würde reichen, wenn die Anwendbarkeit und/oder Auslegung der Vorschrift rechtlich zweifelhaft ist und eine eindeutige höchstrichterliche Rechtsprechung fehlt.37 Gerade bei komplexen Sachverhalten gibt es eine Vielzahl von (miteinander verknüpften) Rechts- und Sachverhaltsfragen. Die Grenzen einer tatsächlichen Verständigung zum Vergleich drohen in solchen Situationen zu verschwimmen. Gelöst werden könnte dies

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(2015), 313 (314 f.); vgl. auch Englisch, IFSt-Schrift Nr. 417, 2004, 26 ff.; Achatz in DStjG 27 (2004), 161. BMF v. 30.7.2008, BStBl. I 2008, 831 Tz. 4.1. DWS-Schriftenreihe Nr. 47, 10 f.; zur Rechtsprechung Seer in Tipke/Kruse, Vor §§ 118–129 AO Rz. 11 (August 2021). Beinert in FS 100 Jahre BFH, 2018, 1781 (1792). Drüen in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 88 AO Rz. 280 f. (Juni 2021).

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durch eine weit zu ziehende Möglichkeit, tatsächliche Verständigungen abzuschließen,38 oder durch die Anerkennung des Steuervergleichs. Ein kraft Gesetz oder Rechtsprechung geschaffenes „Vergleichsvertragsrecht“ würde die Voraussetzungen und Rechtsfolgen eines Steuervergleichs klar definieren und wäre daher zweckdienlich. Der Steuervergleich ist weder in der AO noch in der FGO geregelt. Er wird also weder erwähnt noch verboten. § 155 AO schließt die Festsetzung von Steuern durch Vertrag aus, nicht aber einen Vertrag, der durch Steuerbescheid umzusetzen ist. In Form der Erörterungstermine (§§ 201, 364a AO) wird erkennbar, dass der Gesetzgeber auch Einigungen vor Augen hat und Gelegenheit dafür geben will. Die Positionen zur Zulässigkeit eines Steuervergleichs sind bekannt. Steuervergleichen wird zum Teil (weiterhin) kategorisch das Gebot der Gleichmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung entgegengehalten. Es handele sich um eine grundsätzlich unzulässige Vereinbarung über die nicht disponible Höhe des Steueranspruchs.39 Demgegenüber wird zu Recht darauf hingewiesen, dass es beim Steuervergleich um die vorgelagerte Frage geht, ob und in welchem Umfang ein Steueranspruch überhaupt entstanden ist. Nur sehr selten gibt es ein einziges, objektiv „richtiges“ Ergebnis; meistens gibt es eine Bandbreite vertretbarer Entscheidungen. Die Finanzverwaltung muss sich in dieser Bandbreite bewegen, darf dies nach zutreffender Auffassung aber auch im Interesse des Rechtsfriedens und der Verwaltungsökonomie.40 Die Wahl eines Vergleichs (statt der einseitigen Veranlagung) liegt dabei im Rahmen des Verfahrensermessens der Verwaltung.41 Das ergibt sich ins-

38 Beinert in FS 100 Jahre BFH, 2018, 1781 (1796). 39 Grundlegend RFH v. 20.10.1925 – II A 453/25, RFHE 18, 92; aus dem Schrifttum u.a. Ratschow in Klein, 16. Aufl. 2022, § 38 AO Rz. 24; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 78 AO Rz. 158 ff., 162 ff. (November 2017); Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 85 AO Rz. 39 (September 2022); vgl. auch Schlücke in Gosch, § 38 AO Rz. 41 (August 2020). 40 U.a. Seer in Tipke/Kruse, Vor §§ 118–129 AO Rz. 13, 20 f. (August 2021); Drüen in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 88 AO Rz. 275 ff. (Juni 2021); Ismer/ Piotrowski in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Art. 25 OECD-MA Rz. 200; Achatz in DStjG 27 (2004), 161 (171 ff.); Englisch, IFSt-Schrift Nr. 417, 2004, 26 ff.; Vogel in FS Döllerer, 1988, 677 (688 f.); vgl. auch Rüsken in Klein, 16. Aufl. 2022, § 162 AO Rz. 47. 41 Vgl. u.a. Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Steuersystem und Steuerverfassungsrecht Rz. 3.241; Seer in Tipke/Kruse, Vor §§ 118–129 AO

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besondere auch aus den prozessualen Vergleichsmöglichkeiten.42 Die FGO kennt keinen Prozessvergleich. Durch eine tatsächliche Verständigung und übereinstimmende Erledigungserklärungen wird die Wirkung eines Prozessvergleichs aber (nahezu) herbeigeführt.43 Die Finanzbehörde, die dem Steuerpflichtigen die Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Steuerbescheids zusagt, bindet sich nach Treu und Glauben. Schließt sich daraufhin der Steuerpflichtige der Erledigungserklärung an, beenden die übereinstimmenden Erledigungserklärungen den Prozess mit Ex-nunc-Wirkung (Dispositionsmaxime). Ob tatsächlich ein erledigendes Ereignis eingetreten ist, ist dabei irrelevant.44 Viele FG wirken z.B. in Erörterungsterminen auf solche Prozessvergleiche hin. Sie sind ein unverzichtbares Instrument zur Streitbeilegung.45 Die in § 88 AO verankerte Amtsermittlung zwingt die Finanzverwaltung nicht dazu, jeden Fall erst einmal so zu veranlagen, dass die im Raum stehende (tatsächliche und/oder rechtliche) Frage – ggf. bis zur Erzielung eines Prozessvergleichs – ausjudiziert werden kann; dies würde gegen den ebenfalls zu beachtenden Grundsatz der Verfahrensökonomie (§ 88 Abs. 2 Satz 1 AO) verstoßen.46 Auch wenn die zweite Auffassung überzeugt, zeigt die knappe und klare Ablehnung von „Vergleichen über Steueransprüche“ in jüngeren Urteilen,47 dass es zur Nutzung des Instruments außerhalb eines Finanzgerichtsprozesses vermutlich eines gesetzgeberischen Aktes bedarf.

bb) Einwirken internationaler Verständigungen? Internationale Verständigungen bedeuten, dass die Finanzverwaltung ggf. von ihrer Rechtsauffassung abrücken muss. Ich meine, dass Art. 25

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Rz. 18 (August 2021); Raupach in DStjG 21 (1998), 175 (193); Englisch, IFStSchrift Nr. 417, 2004, 35. Drüen in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 88 AO Rz. 276 f. (Juni 2021); Kruse in FS Vogel, 2000, 517 (523 ff.). U.a. BFH v. 23.7.2020 – V R 37/18, BStBl. II 2021, 50. U.a. BFH v. 29.10.1987 – X R 1/80, BStBl. II 1988, 121; BFH v. 6.7.2016 – X R 57/13, BStBl. II 2017, 334. Loschelder, StuW 2018, 329. U.a. Drüen in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 88 AO Rz. 277 (Juni 2021); Drüen in DStjG 42 (2019), 193 (199 ff.); Vogel in FS Döllerer, 1988, 677 (681 f.). U.a. BFH v. 3.12.2015 – IV R 43/13, BFH/NV 2016, 742; BFH v. 13.11.2019 – VIII S 37/18, BFH/NV 2020, 196; Nds. FG. v. 6.10.2021 – 9 K 188/18, EFG 2022, 633.

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OECD-MA der Finanzverwaltung eine weitreichende Dispositionsbefugnis auch in Bezug auf das nationale Recht gibt.48 Das bestätigt § 175a AO,49 der als rein verfahrensrechtliche Vorschrift die Dispositionsbefugnis der Finanzverwaltung allerdings weder begründet noch diese zu beschränken vermag.50 Im Schrifttum wird aber auch vertreten, dass das nationale Recht begrenzend wirkt, d.h. nur nach Maßgabe des nationalen Rechts von diesem abgewichen werden kann.51 Zu denken ist hier an eine Heranziehung der Billigkeitsregelungen (§§ 163, 227 AO). Diesbezüglich wird die Frage aufgeworfen, ob es dafür im Lichte der Rechtsprechung des BFH zum Sanierungserlass einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage bedarf. Nach dieser Rechtsprechung ist die Finanzverwaltung nicht dazu berufen, generell Unzulänglichkeiten des Gesetzes auszugleichen.52 Ich meine, dass §§ 163, 227 AO es der Finanzverwaltung ermöglichen, von ihrer Rechtsauffassung abzuweichen. Das schließt die Möglichkeit ein, eine Verständigungslösung zu flankieren, wenn dort Themen (z.B. Zinsen) nicht geregelt sind. Der BFH spricht in einer allerdings älteren Entscheidung von einer „neuen Behandlung der Steuern im Billigkeitswege bei übereinstimmender Auffassung beider Staaten im Verständigungsver-

48 U.a. Flüchter in Schönfeld/Ditz, 2. Aufl. 2019, Art. 25 DBA Rz. 155; Pohl in Mössner, Steuerrecht international tätiger Unternehmen, 5. Aufl. 2018, 6. Teil Rz. 13.43; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 175a AO Rz. 77 (September 2014); Schmitz in Strunk/Kaminski/Köhler, AStG/DBA, Art. 25 OECD-MA Rz. 44 (Oktober 2009); vgl. auch Schaumburg/Häck in Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 5. Aufl. 2023, Rz. 19.91 (in Rz. 19.103 allerdings darauf verweisend, dass „stets auch“ als Billigkeitsmaßnahme geboten). 49 Unmittelbar auf § 175a AO abstellend u.a. Loose in Tipke/Kruse, § 175a AO Rz. 2 (November 2021); von Wedelstädt in Gosch, § 175a AO Rz. 10 (November 2021); Süß/Seibel in Lippross/Seibel, Basiskommentar Steuerrecht, § 175a AO Rz. 2 (April 2021); Hardt in Wassermeyer, DBA, Art. 26 Schweiz Rz. 138 (März 2018). 50 A.A. von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 175a AO Rz. 79 (September 2014), wonach eine Verständigungsvereinbarung zwar das materielle deutsche Steuerrecht abändern kann, aber nicht die der Rechtssicherheit dienenden Rechtskraftregelungen. 51 Ismer/Piotrowski in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Art. 25 OECD-MA Rz. 99; Dziurdz´/Kubik/Marchgraber in Becker/Höppner/Grotherr/Kroppen, DBA, Art. 25 OECD-MA Rz. 78 (März 2021). 52 Ismer/Piotrowski in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Art. 25 OECD-MA Rz. 99 (unter Verweis auf BFH v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393).

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fahren zur Milderung einer doppelten steuerlichen Belastung“.53 Wollte man das anders sehen, wäre auf die Dispositionsbefugnis der Finanzverwaltung im Rahmen des rechtlich Vertretbaren zurückzugreifen.54 Diese würde dadurch eine Anerkennung erfahren. Die Diskussion um die Umsetzung von Verständigungslösungen hat daher das Potential, auf das nationale Recht einzuwirken.

e) Unzureichende Vorabklärungsmöglichkeiten nach Sachverhaltsverwirklichung Die Sachverhaltsverwirklichung wirkt derzeit wie eine Zäsur. Auch wenn der Steuerpflichtige nach Umsetzung des Sachverhalts in Bezug auf diesen keine Planungssicherheit mehr benötigt, so endet damit nicht das Bedürfnis nach (frühzeitiger) Steuersicherheit. Es erscheint nicht sinnvoll, mit der Klärung tatsächlicher oder rechtlicher Zweifel über entstandene Steueransprüche bis zum Abschluss der Betriebsprüfung zu warten. Die früher vertretene Ansicht, dass Rechtssicherheit im Nachhinein für den Steuerpflichtigen „wertlos“ sei,55 ist jedenfalls heute nicht mehr richtig. Die Vorabklärung könnte einseitig erfolgen. Schon länger wird z.B. vorgeschlagen, die Anzeigepflichten für grenzüberschreitende Steuergestaltungen mit einer Verpflichtung der Finanzverwaltung zu verknüpfen, sich zu deren steuerrechtlicher Einordnung zu äußern.56 Die Vorabklärung könnte aber auch – als antizipierte Streitschlichtung in einem finanzgerichtlichen Prozess – beidseitig bindend ausgestaltet werden.57 Der neue Teilabhilfebescheid weist in diese Richtung, bleibt aber leider in die Betriebsprüfung eingebettet. Notwendig ist dies nicht, wenn die Vorabklärung auf einem skizzierten Sachverhalt aufsetzen würde, der später in der Betriebsprüfung verifiziert werden könnte.

53 BFH v. 1.2.1967 – I 220/64, BStBl. III 1967, 495 (zum DBA Schweiz 1931/1959, in dessen Verständigungsklausel Art. 13 Abs. 1 von Verständigung, „um in billiger Weise eine Doppelbesteuerung zu vermeiden“, die Rede war). Ähnlich, aber weniger deutlich bereits BFH v. 9.2.1962 – VI 121/61, HFR 1962, 228. 54 Ismer/Piotrowski in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Art. 25 OECD-MA Rz. 99. 55 So Birk in FS Pöllath, 2008, 161 (164). 56 Osterloh-Konrad/Heber/Beuchert, Anzeigepflichten für Steuergestaltungen in Deutschland, 2017, 153. 57 DWS-Schriftenreihe Nr. 47 (Reform der Außenprüfung aus der Perspektive des Mittelstands), 2021, 15 f.

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III. Einige ausgewählte Einzelthemen 1. Bedeutung der Protokolle Auch der Steuerpflichtige wird durch Verständigungen/Vergleiche gebunden, was erklären mag, weshalb die Finanzverwaltung dem Instrument der tatsächlichen Verständigung aufgeschlossener gegenübersteht als reinen „Selbstbindungen“. Dass eine Bindung für den Steuerpflichtigen nicht immer vorteilhaft ist, zeigen finanzgerichtliche Streitigkeiten über den Inhalt der tatsächlichen Verständigung, der nach allgemeinen Auslegungsregeln zu bestimmen ist,58 oder über Möglichkeiten, sich von der Verständigung wieder zu lösen oder diese jedenfalls zu begrenzen.59 Das Verständigungsprotokoll (oder bei einem finanzgerichtlichen Prozessvergleich das Sitzungsprotokoll) könnte für solch nachfolgende Streitigkeiten relevant werden, weshalb besonderes Augenmerk auf die Formulierung zu legen ist.

2. Aussetzungszinsen und Zeitpunkt einer Erledigungserklärung im Prozess (Prozessvergleich) In einem Finanzgerichtsprozess ist auf den richtigen Zeitpunkt der Erledigungserklärung zu achten. Wird mit der Abgabe übereinstimmender Erledigungserklärungen bis nach Erlass des Abhilfebescheids gewartet, entfallen (teilweise) die Aussetzungszinsen. Bei umgekehrter Reihenfolge (Erlass des Abhilfebescheids nach Beendigung des Verfahrens) sind die Zinsen dagegen auf der Grundlage des alten, angefochtenen Bescheids zu zahlen. Der BFH meint in einem Urteil aus dem Jahr 2017, dass eine nachfolgende Änderung des angefochtenen Bescheids – sei sie auch im Rahmen einer tatsächlichen Verständigung vereinbart – unbeachtlich sei.60 Das führt gleichzeitig zum Rechtschutzinteresse (§ 40 Abs. 2 FGO), das Verfahren nach der Zusage eines Abhilfebescheids bis zu dessen Erlass weiterzuführen. Der BFH meinte zwar in einem Beschluss aus dem Jahr 2010, dass mit der Zusage das Rechtsschutzinteresse entfalle.61 Das dürfte aber mittlerweile mit Blick auf das Urteil des BFH aus 2017 jedenfalls bei angeordneter Aussetzung der Vollziehung nicht mehr gelten. Eine 58 FG Münster v. 25.2.2020 – 5 K 795/17 U, BB 2020, 1183. 59 Z.B BFH v. 8.10.2008 – I R 63/07, BStBl. II 2009, 21; FG Münster v. 16.5.2019 – 5 K 1303/18 U, EFG 2019, 1341; Nds. FG v. 6.10.2021 – 9 K 188/18, EFG 2022, 633. 60 BFH v. 14.6.2017 – I R 38/15, BStBl. II 2018, 2. 61 BFH v. 31.8.2010 – III B 95/09, BFH/NV 2010, 2294.

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dem Klagebegehren entsprechende Abhilfezusage ist eben nicht mit dem noch zu erlassenden Abhilfebescheid gleichzusetzen.62

3. Nationale und internationale Verständigungen a) Ineffizienzen internationaler Verständigungen Da es für den Steuerpflichtigen nicht immer möglich sein wird, durch „Parallelverhandlungen“ mit den Finanzverwaltungen Steuerkonflikte zu entschärfen, bedarf es der Verständigung zwischen den Steuerverwaltungen. Allerdings sind die internationalen Streitbeilegungsverfahren (noch) nicht hinreichend effizient63 und werden dies vermutlich in absehbarer Zeit auch nicht werden. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Wegen der vorangegangenen Würdigung des Sachverhalts durch die Finanzverwaltungen kommt ggf. nur mühsam eine Einigung zustande oder scheitert (z.B. weil in DBA-Fällen ohne Schiedsklausel kein Einigungszwang besteht). Das mag die derzeit unbefriedigende Länge der Verfahren64 erklären. Wurde ein Ergebnis erreicht, ist nicht gesichert, dass die nationalen Verfahrensordnungen eine Korrektur der Steuerfestsetzung überhaupt noch zulassen.65

b) Bedürfnis nach nationalen Rechtsbehelfsverfahren Nationale Rechtsbehelfsverfahren werden daher insbesondere geführt, wenn der Steuerpflichtige auf eine zu seinen Gunsten wirkende höchstrichterliche Rechtsprechung zurückgreifen kann.66 Dahinter kann die Erwartung stehen, eine nationale Einigung zu erzielen, die nach entsprechender Abwägung das aufwendige Streitbeilegungsverfahren „verzichtbar“ macht. Dahinter kann aber auch ein Zwang stehen, nämlich wenn das betroffene DBA keinen Einigungszwang (Schiedsklausel) für die beteiligten Behörden im Rahmen eines Verständigungsverfahrens vorsieht und Verfahren nach der EU-Schiedskonvention oder der Streitbeilegungsrichtlinie nicht beschritten werden können/sollen. Denn dann be62 Jesse, BB 2020, 151, 152; ebenso Wulf, Stbg 2018, 408; vgl. auch Brandis in Tipke/Kruse, § 138 FGO Rz. 27 (August 2019) („könnte zu relativieren sein“). 63 Zu den Bemühungen um Stärkung der Wirksamkeit und Effizienz u.a. Strotkemper, ISR 2022, 179. 64 Tagungsbericht zur Webcast-Reihe des BZSt von Asseburg/Witfledt, IWB 2021, 697 (702 f.). 65 Seer, IWB 2012, 143 (145 f.). 66 Flüchter/Hendricks in StbJb. 2019/2020, 705 (748).

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steht für den Steuerpflichtigen keine Gewähr für eine tatsächliche Beseitigung der Doppelbesteuerung. Für nationale Rechtsbehelfsverfahren streiten auch verfahrensrechtliche Überlegungen. Neben den im Schrifttum oft genannten Aspekten wie der (nur im nationalen Verfahren gegebenen) Möglichkeit eines Antrags auf Aussetzung der Vollziehung, den Mitwirkungsrechten und Kostenerstattungsansprüchen kann es im Einzelfall auch darum gehen, die Festsetzungsverjährung zu hemmen, um die (strittige) Frage zu umgehen, ob bei Einleitung eines Verständigungsverfahrens erst nach Ablauf der Festsetzungsverjährung – ungeachtet § 175a AO – eine Änderung des Steuerbescheids in Umsetzung des Verständigungsergebnisses noch zulässig ist.67

c) Wesentliche Konfliktsituation aa) Scheitern einer nationalen Verständigung und Ergehen eines rechtskräftigen Urteils Erfüllt sich die mit einem nationalen Rechtsbehelfsverfahren auch immer verbundene Erwartung eines (zufriedenstellenden) Prozessvergleichs nicht, stellt sich die Frage nach dem Ruhen des Verfahrens.68 Sollten ausnahmsweise die Fronten dafür zu verhärtet sein, stellt sich die Frage, ob das Klageverfahren vom FG nach § 74 FGO ausgesetzt werden kann. Dies ist wegen der (möglichen) Auswirkungen eines rechtskräftigen Urteils auf die Möglichkeiten der Umsetzung einer Verständigungslösung (dazu sogleich) zu bejahen; angesichts älterer Rechtsprechung aber nicht gesichert.69 67 Dagegen u.a.: Loose in Tipke/Kruse, § 175a AO Rz. 9 (November 2021); Koenig in Koenig, 4. Aufl. 2021, § 175a AO Rz. 10; von Groll in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 175a AO Rz. 102 (September 2014); a.A. (und meines Erachtens zutreffend) u.a.: von Wedelstädt in Gosch, § 175a AO Rz. 17 (November 2021); Rüsken in Klein, 16. Aufl. 2022, § 175a AO Rz. 3; differenzierend Frotscher in Schwarz/Pahlke, § 175a AO Rz. 13 ff. (November 2010). 68 Im Einspruchsverfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO, im Klageverfahren nach § 155 FGO i.V.m. § 251 ZPO. 69 Ein älteres Urteil des BFH verneinte die Vorgreiflichkeit des Ergebnisses des eingeleiteten (allerdings ruhenden) Verständigungsverfahrens, BFH v. 1.2.1967 – I 220/64, BStBl. III 1967, 495; vgl. auch BFH v. 16.12.2002 – VIII B 163/01, BFH/NV 2003, 497; FG Münster v. 14.2.2014 – 4 K 1053/11 E, EFG 2014, 921; Herbert in Gräber, 9. Aufl. 2019, § 74 FGO Rz. 47 f.; für eine Anwendbarkeit von § 74 AO auch: Andresen/Holtrichter, IStR 2020, 59; Hummel in Wassermeyer, DBA, Art. 40 Schweden Rz. 12 (Juni 2015).

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Kommt es nicht zur Aussetzung des Verfahrens und ergeht ein rechtskräftiges Urteil, kann nach wohl herrschender Ansicht wegen § 110 Abs. 1 FGO keine dem Urteilsspruch widersprechende Maßnahme mehr getroffen werden, auch nicht in Umsetzung einer Verständigungsvereinbarung. Die Korrekturvorschrift des § 175a AO (neulich erweitert auf die Umsetzung von Vorabverständigungsverfahren nach § 89a AO) könne zwar die Bestandskraft eines Steuerbescheids durchbrechen, nicht aber die Rechtskraft eines entgegenstehenden Gerichtsurteils.70 Das Urteil markiert so das Ende der Verständigungsmöglichkeiten. Dies wird zwar gestützt auf § 110 Abs. 2 FGO zu Recht auch anders gesehen, da eine Verständigungsvereinbarung oder ein Schiedsspruch durchaus mit einem rückwirkenden Ereignis i.S.v. § 175 Abs. 1 Satz 1 AO vergleichbar sei.71 Zudem bleibt die Möglichkeit von Billigkeitsentscheidungen ungeachtet der Rechtskraft eines nationalen Urteils bestehen.72 Rechtssicherheit besteht diesbezüglich aber nicht.

bb) Möglichkeit des „Überschreibens“ tatsächlicher Verständigungen? Wenn sich die Möglichkeit einer tatsächlichen Verständigung/Prozessvergleich bietet, stellt sich die Frage des Umgangs mit späteren tatsächlichen oder rechtlichen Abweichungen einer Verständigungslösung. Eine Änderung des Steuerbescheids gem. § 175a AO wäre rechtswidrig, wenn die hiermit einhergehende Steuerfestsetzung von einer verbindlichen Auskunft, einem APA oder einer tatsächlichen Verständigung zum 70 U.a. Brandt in Gosch, § 110 FGO Rz. 174 (Februar 2022); Ratschow in Gräber, 9. Aufl. 2019, § 110 FGO Rz. 20; von Wedelstädt in Gosch, § 175a AO Rz. 16 (November 2021); Schaumburg/Häck in Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 5. Aufl. 2023, Rz. 19.103; Hummel in Wassermeyer, DBA, Art. 40 Schweden Rz. 12 (Juni 2015); von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 175a AO Rz. 79 (September 2014). 71 U.a. Krumm in Tipke/Kruse, § 110 FGO Rz. 46 (September 2022); Ismer/Piotrowksi in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Art. 25 OECD-MA Rz. 121; Pohl in Mössner, Steuerrecht international tätiger Unternehmen, 5. Aufl. 2018, Rz. 13.47; Becker in DStjG 36 (2013), 167 (175 f.); Krabbe, IStR 2002, 548 (550). 72 FG Hamburg v. 27.11.2007 – 3 K 75/07, EFG 2008, 962 (die Rechtsgrundlage des Kompromisses allerdings offenlassend); vgl. auch Haselmann/Bösken, Ubg 2021, 633 (635); Lauten in Vögele/Borstell/Bernhardt, Verrechnungspreise. 5. Aufl. 2020, Kap. E Rz. 600; Schaumburg/Häck in Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 5. Aufl. 2023, Rz. 19.103.

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Nachteil des Steuerpflichtigen abweicht. Alle drei Rechtsinstitute entfalten zugunsten des Steuerpflichtigen eine Bindungswirkung für nachfolgende Steuerbescheide, ohne dass es auf Dispositionen des Steuerpflichtigen ankommt.73 Auf §§ 88, 85 AO gestützte Abweichungen zugunsten des Steuerpflichtigen sollten allerdings möglich sein. Die Finanzverwaltung sucht eine Divergenz dennoch augenscheinlich zu vermeiden. Bei tatsächlichen Verständigungen war zu beobachten, dass seitens der Finanzverwaltung der Verzicht auf Verständigungsverfahren in die Einigung aufgenommen wurde. Die Frage nach der Zulässigkeit eines solchen Vorgehens ist innerhalb der OECD umstritten.74 Im aktuellen Merkblatt äußert sich die Finanzverwaltung nicht mehr ausdrücklich zum – meines Erachtens grundsätzlich möglichen75 – Verständigungsverzicht und verweist nur auf die Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung.76 Offen ist, ob die Finanzverwaltung damit jetzt auf die Widerstände des/der anderen Staaten setzt, in solchen Fällen überhaupt Streitbeilegungsverfahren zu führen. Verursacht wird dadurch eine Zurückhaltung von Steuerpflichtigen, solche tatsächlichen Verständigungen abzuschließen, mit denen die Doppelbesteuerung nicht umfassend beseitigt wird. Das trägt nicht zur (frühzeitigen) Steuersicherheit und zum effektiven Ressourceneinsatz bei.

cc) Nationale Ergänzung einer internationalen Verständigung Sollten nach der Umsetzung einer Verständigungslösung in Deutschland Steuern nachzuzahlen sein, kommt es nach § 233a AO zur Zinslast. Die Zinslast ist insbesondere dann ein Thema, wenn im Ausland keine (korrespondierenden) Erstattungszinsen gewährt werden oder Zinshöhe/ Zinsläufe voneinander abweichen. Die von Deutschland abgeschlossenen DBA sehen einen Gleichlauf der Verzinsung im Regelfall nicht explizit vor,77 so dass keine Rechtsgrundlage besteht, Zinsen in die Verständi-

73 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 89 AO Rz. 50 (Februar 2018). 74 U.a. Flüchter in Schönfeld/Ditz, 2. Aufl. 2019, Art. 25 DBA Rz. 111 ff.; Drüen in Festgabe Wassermeyer, 2015, 505 (510). 75 Liebchen/Strotkemper, IStR 2022, 93, 97; Flüchter in Schönfeld/Ditz, 2. Aufl. 2019, Art. 25 DBA Rz. 114. 76 BMF, Merkblatt v. 27.8.2021, BStBl. I 2021, 1495 Tz. 33. 77 Siehe aber DBA-Niederlande, Prot Nr. XVII: „Die zuständigen Behörden der Staaten können bei einer Verständigungsregelung aufgrund eines Verständigungsverfahrens im Sinne von Artikel 25 vereinbaren, dass der Staat, in dem aufgrund der vorgenannten Regelung eine zusätzliche Steuerbelastung ent-

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gung einzubeziehen.78 Es bleibt erneut nur die Korrektur der Doppelbelastung durch eine Billigkeitsmaßnahme nach §§ 163, 227 AO, diesmal in Ergänzung der Verständigungsvereinbarung. Diese sollte entsprechend der oben genannten Grundsätze möglich sein, gesichert ist dies aber nicht.

IV. Fazit Die zunehmende Komplexität des Steuerrechts führt dazu, dass die klassische Sichtweise einer Veranlagung mit nachfolgender Betriebsprüfung nicht mehr zu befriedigenden Lösungen führt, sondern die Dispositionsbefugnisse der Finanzverwaltung gestärkt werden müssen, vom Steuerpflichtigen aber auch „abgerufen“ werden können müssen.

steht, keine Erhöhungen, Aufschläge, Zinsen oder Gebühren für diese zusätzliche Steuerbelastung erhebt.“ 78 Lauten in Vögele/Borstell/Bernhardt, Verrechnungspreise, 5. Aufl. 2020, Kap. E Rz. 618; zum Thema auch Flüchter in Schönfeld/Ditz, 2. Aufl. 2019, Art. 25 DBA Rz. 195 ff.

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Verständigungen und Vergleiche in Steuerverfahren aus der Perspektive der Finanzgerichtsbarkeit Prof. Dr. Thomas Stapperfend, Präsident des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg, Cottbus

I. Die Aufgaben der Gerichte 1. Erste Aufgabe: An Gesetz und Recht gebundene Rechtsprechung 2. Zweite Aufgabe: Streitschlichtung 3. Dritte Aufgabe: Rechtsfortbildung II. Auswirkung von Verständigungen und Vergleichen auf die Aufgaben der Finanzgerichte 1. Streitschlichtung 2. An Gesetz und Recht gebundene Rechtsprechung a) Grundsätzliches Verbot des Abschlusses von Vergleichen und

Vereinbarungen über Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis b) Ausnahme bei mangelnder Aufklärbarkeit des Sachverhalts c) Bindung des Steuerpflichtigen und der Finanzverwaltung an die tatsächliche Verständigung d) Bindung der Finanzgerichte an die tatsächliche Verständigung 3. Rechtsfortbildung III. Fazit

I. Die Aufgaben der Gerichte 1. Erste Aufgabe: An Gesetz und Recht gebundene Rechtsprechung Betrachtet man Verständigungen und Vergleiche in Steuerverfahren aus der Perspektive der Finanzgerichtsbarkeit, so ist zunächst danach zu fragen, welche Aufgaben den Gerichten im Allgemeinen und den FG im Speziellen zukommen. Aus der Verfassung lässt sich dazu auf den ersten Blick nicht viel entnehmen. Das Grundgesetz behandelt die Rechtsprechung im IX. Abschnitt in den Art. 92–104 GG. Nach Art. 92 GG ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut und wird durch das BVerfG, die Bundesgerichte und die Gerichte der Länder ausgeübt. Damit enthält Art. 92 GG eine verfassungsrechtliche Kompetenzzuweisung dergestalt, dass er die Ausübung der rechtsprechenden Gewalt einerseits den Richtern überträgt

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und sie andererseits organisatorisch den Gerichten zuordnet1. Auf der Grundlage des Grundsatzes der Gewaltenteilung normiert Art. 92 GG damit im Rahmen des Gebots einer organisatorischen Trennung der Ausübung der Staatsfunktionen einen Rechtsprechungsvorbehalt zugunsten der Richter2. Welchen Inhalt die den Richtern zustehende rechtsprechende Gewalt haben soll, d.h. welche Aufgabe den Richtern konkret obliegt, regelt das Grundgesetz nicht3. In seiner Entscheidung vom 30.11.1955 hat das BVerfG4 die Aufgabe der Gerichte, Recht zu sprechen, dahin gehend definiert, dass sie im Einzelnen Rechtssachen mit verbindlicher Wirkung zu entscheiden haben, und zwar in Verfahren, in denen durch Gesetz die erforderlichen prozessualen Sicherungen gewährleistet sind und der verfassungsrechtlich geschützte Anspruch auf rechtliches Gehör besteht. Diese formale, weil vorrangig auf die gesetzliche Zuweisung der Streitigkeiten zu den Gerichten abstellende Betrachtung5 hat das BVerfG in der Folgezeit konkretisiert und betont, dass Art. 92 GG trotz der wenig aussagekräftigen Entstehungsgeschichte im Lichte der vielfältigen grundgesetzlichen Aufgabenzuweisungen an die Judikative ein materieller Begriff der rechtsprechenden Gewalt zugrunde liege6, so dass der Norm für 1 Payandeh in Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92 GG Rz. 105 (12/2021). 2 BVerfG v. 22.3.2018 – 2 BvR 780/16, BVerfGE 148, 69 Rz. 50 ff.; BVerfG v. 8.3.2006 – 2 BvR 486/05, juris Rz. 73 f.; Hillgruber in Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 92 Rz. 13 (7/2021); Wolff in Hömig/Wolff, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 2022, Art. 92 GG Rz. 1; Payandeh in Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92 GG Rz. 105 (12/2021), Detterbeck in Sachs, Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 92 GG Rz. 1; Schmidt-Aßmann in Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 26 Rz. 54 und Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 65 ff. 3 Hillgruber in Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 92 GG Rz. 1 und Rz. 18 (7/2021); Payandeh in Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92 GG Rz. 168 (12/2021); Detterbeck in Sachs, Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 92 GG Rz. 2, spricht in Bezug auf Art. 92 GG von einer ausfüllungsbedürftigen Blankettformel. 4 BVerfG v. 30.11.1955 – 1 BvO 2/52, BVerfGE 4, 358 (363), zur Zuständigkeit der Gerichte für die Erstellung von Rechtsgutachten. 5 Mit dieser Interpretation auch Hillgruber in Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 92 GG Rz. 32 (7/2021). 6 Ausdrücklich BVerfG v. 6.6.1967 – 2 BvR 375/60, BVerfGE 22, 49 (73 ff.); BVerfG v. 16.7.1969 – 2 BvL 2/69, BVerfGE 27, 18 (28); BVerfG v. 8.2.2001 – 2 BvF 1/00, BVerfGE 103, 111 (137); die Frage, ob es eindeutige materielle Krite-

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traditionelle, gegenstandsbezogen definierte Kernbereiche eine verfassungsrechtliche Garantie bestimmter Zuständigkeiten der Rechtsprechung zu entnehmen sei und diese damit nicht unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt stehe7. Weiter ergänzt hat das BVerfG den Begriff der rechtsprechenden Gewalt in seiner späteren Rechtsprechung durch den funktionellen Rechtsprechungsbegriff, wonach es sich auch dann um Rechtsprechung handelt, wenn der Gesetzgeber ein gerichtsförmiges Verfahren hoheitlicher Streitbeilegung vorsieht und den dort zu treffenden Entscheidungen eine Rechtswirkung verleiht, die nur unabhängige Gerichte herbeiführen können, indem sie feststellen, was in dem konkreten Fall Rechtens ist8. Wenngleich der auf formelle, materielle und funktionelle Aspekte zurückgreifende Rechtsprechungsbegriff des BVerfG im Hinblick auf terminologische Unklarheiten und konzeptionelle Unschärfen in der Literatur immer wieder kritisiert worden ist9 und dem BVerfG insbesondere vorgeworfen wird, keine allgemeine und umfassende Definition entwickelt, sondern lediglich sukzessive und kasuistisch einzelne Fragen im

rien für den Begriff der Rechtsprechung i.S.v. Art. 92 GG gibt, noch offenlassend: BVerfG v. 14.10.1958 – 1 BvR 510/52, BVerfGE 8, 197 (207); BVerfG v. 8.6.1960 – 1 BvR 580/53, BVerfGE 11, 192 (199); BVerfG v. 15.3.1961 – 2 BvL 8/ 60, BVerfGE 12, 264 (274); BVerfG v. 8.2.1967 – 2 BvR 235/64, BVerfGE 21, 139 (144); s. insgesamt auch Schulze-Fielitz in Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band III, 3. Aufl. 2018, Art. 92 GG Rz. 26 und Rz. 33 ff.; Hillgruber in Dürig/ Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 92 GG Rz. 35 ff. (7/2021) und Detterbeck in Sachs, Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 92 GG Rz. 9. 7 BVerfG v. 6.6.1967 – 2 BvR 375/60, BVerfGE 22, 49 (75 ff.) Rz. 97; Payandeh in Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92 GG Rz. 126 (12/2021); s. dazu auch Burghart in Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 92 GG Rz. 26 ff. (10/2019). 8 BVerfG v. 28.11.1957 – 2 BvL 11/56, BVerfGE 7, 183 (188 f.); BVerfG v. 27.4.1971 – 2 BvL 31/71, BVerfGE 31, 43 (46); BVerfG v. 20.4.1982 – 2 BvL 26/ 81, BVerfGE 60, 253 (269 f.); BVerfG v. 2.12.2014 – 1 BvR 3106/09, BVerfGE 138, 33 Rz. 18; Schulze-Fielitz in Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band III, 3. Aufl. 2018, Art. 92 GG Rz. 29; Hillgruber in Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 92 GG Rz. 37 (7/2021); Payandeh in Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92 GG Rz. 129 ff. (12/2021); Burghart in Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 92 GG Rz. 67 (10/2019); Detterbeck in Sachs, Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 92 GG Rz. 21a. 9 Ausführlich dazu Hillgruber in Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 92 GG Rz. 39 ff. (7/2021).

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Rahmen von Art. 92 GG entschieden zu haben10, so lässt sich für das finanzgerichtliche Verfahren aus der Rechtsprechung des BVerfG gleichwohl unmissverständlich ableiten, dass die Kernaufgabe der FG darin besteht, die ihnen in formeller wie materieller Hinsicht zugewiesenen Verfahren mit verbindlicher Wirkung für die Verfahrensbeteiligten zu entscheiden. Inhaltlich sind die Richterinnen und Richter dabei nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden. Dies beinhaltet nicht nur ein Abweichungsverbot, sondern auch ein Anwendungsgebot11. Ebenso wie die Finanzbehörden nach Art. 20 Abs. 3 GG verpflichtet sind, die Steuern nach Maßgabe der Gesetze festzusetzen, zu erheben und sicherzustellen, dass keine Steuern verkürzt werden12, sind auch die Richterinnen und Richter im Rahmen der Grenzen, die im finanzgerichtlichen Verfahren durch die Dispositionsmaxime des Klägers13 und das Verbot der reformatio in peius14 gesetzt werden, verpflichtet, die Steuergesetze anzuwenden und eine Nichtbesteuerung trotz gesetzlicher Anordnung zu verhindern.

2. Zweite Aufgabe: Streitschlichtung Gerichtliche Entscheidungen ergehen nicht aus Gründen des Selbstzwecks, sondern haben nach der dargestellten Rechtsprechung des BVerfG die Aufgabe, Rechtssachen mit verbindlicher Wirkung zu entscheiden15. Das bedeutet, dass das Gericht für den zur Entscheidung ge-

10 So Payandeh in Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92 GG Rz. 137 ff. (12/2021). 11 Sachs in Sachs, Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 92 GG Rz. 110; Ossenbühl in Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 101 Rz. 4 f.; s. auch BVerfG v. 12.11.1997 – 1 BvR 479/92, 307/94, BVerfGE 96, 375 (394); BVerfG v. 10.2.2004 – 2 BvR 834/02, 2 BvR 1588/02, BVerfGE 109, 190 (252) und BVerfG v. 26.9.2011 – 2 BvR 2216/06, juris Rz. 44, jeweils zur Rolle der Gerichte als Rechtsanwender; Burghart in Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 20 GG Rz. 607 (10/2021); speziell zum Steuerrecht: Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Rz. 3.238. 12 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Rz. 3.238; Birk, StuW 1989, 212 (213); Hahn, Die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung in rechtsvergleichender Sicht, Diss., 1984, S. 69 ff., zur historischen Entwicklung. 13 Dazu Herbert in Gräber, 9. Aufl. 2019, § 75 FGO Rz. 3. 14 Dazu BFH v. 26.11.1997 – X R 146/94, BFH/NV 1998, 961; Ratschow in Gräber, 9. Aufl. 2019, § 96 FGO Rz. 51. 15 BVerfG v. 30.11.1955 – 1 BvO 2/52, BVerfGE 4, 358 (363).

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stellten Sachverhalt festlegt, was Rechtens ist16. In rechtlicher Hinsicht wirkt die Entscheidung nur für den entschiedenen Einzelfall und damit nur für die ausgeurteilten Streitjahre17. In faktischer Hinsicht kommt der Entscheidung indes dann eine weitergehende Wirkung zu, wenn sie einen Dauersachverhalt betrifft, der sich in identischer oder zumindest ganz ähnlicher Form in jedem Veranlagungszeitraum wiederholt. In diesen Fällen wirkt sich die gerichtliche Entscheidung in aller Regel auch auf die Folgejahre aus, weil das Gericht in Bezug auf diese Fallkonstellation bereits entschieden hat, was Rechtens ist. Da gerade finanzgerichtliche Verfahren oftmals derartige Dauersachverhalte betreffen, kommt den finanzgerichtlichen Urteilen neben der Entscheidung des konkreten Einzelfalls somit oftmals zugleich die Aufgabe zu, künftige Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden und somit die Streitigkeiten zwischen den Verfahrensbeteiligten nach Möglichkeit ein für alle Mal zu schlichten. Für die Verfahrensbeteiligten ist diese Schlichtung vielfach wichtiger als die eigentliche Entscheidung des Rechtsstreits, zumal sie sich im Besteuerungsverfahren – anders als etwa im Zivilrecht – ihr Gegenüber nicht aussuchen können und somit gezwungen sind, auch zukünftig miteinander auszukommen.

3. Dritte Aufgabe: Rechtsfortbildung Neben der Entscheidung des Rechtsstreits und der Streitschlichtung kommt den Gerichten noch eine weitere wesentliche Aufgabe zu, nämlich die der richterlichen Rechtsfortbildung. Wenngleich die Gesetzgebung nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung ausschließlich der Legislative und damit nicht der Judikative zusteht, so ist es gleichwohl nahezu unbestritten, dass die schöpferische Rechtsfindung zu den Aufgaben und Befugnissen der Gerichte gehört18. Dies hat auch der BFH im 16 BVerfG v. 28.11.1957 – 2 BvL 11/56, BVerfGE 7, 183 (188 f.); BVerfG v. 27.4.1971 – 2 BvL 31/71, BVerfGE 31, 43 (46); BVerfG v. 20.4.1982 – 2 BvL 26/ 81, BVerfGE 60, 253 (269 f.); BVerfG v. 2.12.2014 – 1 BvR 3106/09, BVerfGE 138, 33 Rz. 18; so im Ergebnis auch Schulze-Fielitz in Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band III, 3. Aufl. 2018, Art. 92 GG Rz. 26. 17 Ratschow in Gräber, 9. Aufl. 2019, § 110 FGO Rz. 25 ff. 18 Grundlegend BVerfG v. 14.2.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (286 ff.); s. auch BVerfG v. 18.12.1953 – 1 BvL 106/53, BVerfGE 3, 225 (242 ff.); BVerfG v. 10.10.1961 – 2 BvL 1/59, BVerfGE 13, 153 (164); BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 232/60, BVerfGE 13, 318 (328); BVerfG v. 29.1.1969 – 1 BvR 26/66, BVerfGE 25, 167 (183 f.); BVerfG v. 19.10.1983 – 2 BvR 485/80, 2 BvR 486/80, BVerfGE 65, 182 (190); BVerfG v. 12.3.1985 – 1 BvR 571/81, 1 BvR 494/82, 1 BvR 47/

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Beschluss vom 7.12.201019 bestätigt, in dem er ausführt, dass die Rechtsordnung den obersten Bundesgerichten die Leitfunktion zuschreibt, das Recht fortzubilden und Wertungswidersprüche im geltenden Recht zu minimieren. Damit hat die Rechtsfortbildung eine wesentliche Bedeutung im Gefüge der von den Gerichten zu erfüllenden Aufgaben.

II. Auswirkung von Verständigungen und Vergleichen auf die Aufgaben der Finanzgerichte Führt man sich die oben geschilderten gerichtlichen Aufgaben vor Augen, so stellt sich die Frage, wie sich Vergleiche und Vereinbarungen im Steuerverfahren auf die Erfüllung dieser Aufgaben auswirken.

1. Streitschlichtung Die positivsten Auswirkungen ergeben sich hinsichtlich der dem Gericht obliegenden Streitschlichtung. Einigen sich Steuerpflichtiger und Finanzverwaltung in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht über die Behandlung eines streitigen Sachverhalts, so legen sie ihre unterschiedlichen Auffassungen eigenständig bei, ohne dass es noch einer gerichtlichen Entscheidung bedarf. Die den Gerichten obliegende Aufgabe der Streitschlichtung wird somit in vollem Umfang erfüllt.

83, BVerfGE 69, 188 (203); BVerfG v. 3.4.1990 – 1 BvR 1186/89, BVerfGE 82, 6 (12); BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (305); BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193 (210 f.); BVerfG v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07, BVerfGE 132, 99 Rz. 75; Schulze-Fielitz in Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band III, 3. Aufl. 2018, Art. 92 GG Rz. 40 f.; Payandeh in Kahl/ Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92 GG Rz. 256 (12/2021); Sachs in Sachs, Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 92 GG Rz. 120; Wilke in Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 112 Rz. 32; Ossenbühl, DÖV 1980, 545 (551); Bruns, JZ 2014, 162 (163); kritisch allerdings Hillgruber in Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 92 GG Rz. 62 (7/2021); Picker, JZ 1988, 1 und 62; Hillgruber, JZ 1996, 118; Hillgruber, JZ 2008, 745. 19 BFH v. 7.12.2010 – IX R 70/07, BStBl. II 2011, 346 Rz. 48.

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2. An Gesetz und Recht gebundene Rechtsprechung a) Grundsätzliches Verbot des Abschlusses von Vergleichen und Vereinbarungen über Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis Problematischer sind allerdings die Auswirkungen der Vergleiche und Vereinbarungen auf die den Gerichten zugewiesene Aufgabe der an Gesetz und Recht gebundenen Rechtsprechung. Nach Art. 20 Abs. 3 GG sind die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Daraus folgt nach h.M. sowohl für die Finanzverwaltung als auch für die FG das grundsätzliche Verbot des Abschlusses von Vergleichen und Vereinbarungen über Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis20. Johanna Hey21 ist in diesem Zusammenhang allerdings beizupflichten, dass Art. 20 Abs. 3 GG keine Beschränkung hinsichtlich bestimmter Handlungsformen vorsieht, sondern lediglich hinsichtlich des Inhalts des hoheitlichen Handelns. Das bedeutet, dass für die Finanzverwaltung eine Verständigung über Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis immer dann ausscheidet, wenn die Entstehung des Steueranspruchs feststeht. Auf die Festsetzung und Erhebung der Steuer kann in diesem Fall wegen der von Art. 20 Abs. 3 GG normierten Bindung an Gesetz und Recht nicht verzichtet werden22.

b) Ausnahme bei mangelnder Aufklärbarkeit des Sachverhalts Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn der der Besteuerung zugrunde liegende Tatbestand trotz des Amtsermittlungsgrundsatzes nach § 85 AO und trotz der Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen nach §§ 90 ff. AO nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand aufgeklärt werden kann23. Dies hat nach § 38 AO nämlich zur Folge, dass gerade nicht feststeht, ob – oder zumindest in welchem Umfang – Ansprüche 20 RFH v. 5.1.1938 – VI 683/37, RStBl. 1938, 74; BFH v. 27.1.1955 – IV 281/54 U, BStBl. III 1955, 92; BFH v. 13.7.1955 – II 38/55 S, BStBl. III 1955, 251; BFH v. 17.12.1963 – VII 182/60 U, BStBl. III 1964, 88; Martens, StuW 1986, 97 (102 f.); Schuster in HHSp, § 38 AO Rz. 66 ff. (6/2005); Söhn in HHSp, § 78 AO Rz. 158 (11/2017). 21 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Rz. 3.241; ebenso Seer in Tipke/Kruse, Vorbemerkungen zu §§ 118–129 AO Rz. 22 (8/2021); Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 1996, S. 128 ff.; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, 2. Aufl. 2000, S. 135 f.; Drüen, FR 2011, 101 (106 ff.). 22 So auch Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Rz. 21.146. 23 Söhn in HHSp, § 78 AO Rz. 129 (11/2017).

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aus dem Steuerschuldverhältnis entstanden sind, so dass insoweit auch keine Bindung an Recht und Gesetz i.S.v. Art. 20 Abs. 3 GG eintreten kann. Dies eröffnet einen Spielraum für tatsächliche Verständigungen24 über den verwirklichten Sachverhalt zwischen dem Steuerpflichtigen und der Finanzverwaltung – gegebenenfalls auch im gerichtlichen Verfahren25. Als besondere Anwendungsfälle für tatsächliche Verständigungen nennt die Rechtsprechung insbesondere Schätzungen, Wertermittlungen und zukunftsorientierten Prognosen26. Die Finanzverwaltung erachtet tatsächliche Verständigungen dann als zulässig, wenn Schätzungs-, Bewertungs-, Beurteilungs- oder Beweiswürdigungsspielräume bestehen und sich einzelne Sachverhalte nur mit einem – auch im Hinblick auf das zu erwartende steuerliche Ergebnis und die Belastung durch ein eventuelles finanzgerichtliches Verfahren – nicht mehr vertretbaren Arbeits- oder Zeitaufwand ermitteln lassen27. Tatsächliche Verständigungen über reine Rechtsfragen lassen Rechtsprechung und Finanzverwaltung nicht zu28, tolerieren sie aber, wenn die Rechtsfragen nahezu untrennbar mit den zugrunde liegenden Tatsachen verknüpft sind29. 24 Zur Kritik an der „schiefen Terminologie“ s. Seer in Tipke/Kruse, Vorbemerkungen zu §§ 118–129 AO Rz. 10 (8/2021) und Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Rz. 21.146, Fn. 276, die darauf hinweisen, dass nicht die Tatsache einer Verständigung gemeint ist, sondern die Verständigung über Tatsächliches. 25 S. dazu BFH v. 11.12.1984 – VIII R 131/76, BStBl. II 1985, 354; BFH v. 5.10.1990 – III R 19/88, BStBl. II 1991, 45; BFH v. 6.2.1991 – I R 13/86, BStBl. II 1991, 673; BFH v. 8.9.1994 – V R 70/91, BStBl. II 1995, 32; BFH v. 31.7.1996 – XI R 78/95, BStBl. II 1996, 625; BFH v. 24.1.2002 – III R 49/00, BStBl. II 2002, 408 (410); BFH v. 7.7.2004 – X R 24/03, BStBl. II 2004, 975 (977); BFH v. 22.9.2004 – III R 9/03, BStBl. II 2005, 160 (163 f.); BFH v. 3.4.2008 – IV R 54/ 04, BStBl. II 2008, 742 (746); BFH v. 8.10.2008 – I R 63/07, BStBl. II 2009, 121 (122 f.); BFH v. 11.4.2017 – IX R 24/15, BStBl. II 2017, 1155 Rz. 15; BFH v. 12.6.2017 – III B 144/16, BStBl. II 2017, 1165 Rz. 18. 26 BFH v. 20.9.2007 – IV R 20/05, BFH/NV 2008, 532 (534), zur Einkünfteerzielungsabsicht. 27 BMF v. 30.7.2008 – IV A 3-S 0223/07/10002, BStBl. I 2008, 831 Rz. 3 und Rz. 4.1. 28 BFH v. 31.7.1996 – XI R 78/95, BStBl. II 1996, 625; BFH v. 1.2.2001 – IV R 3/ 00, BStBl. II 2001, 520 (524); BFH v. 31.3.2004 – I R 71/03, BStBl. II 2004, 742 (745); BFH v. 3.4.2008 – IV R 54/04, BStBl. II 2008, 742 (747); BFH v. 8.10.2008 – I R 63/07, BStBl. II 2009, 121 (122 f.); BFH v. 16.9.2014 – VIII R 1/12, juris Rz. 38; BFH v 13.11.2019 – VIII S 37/18, BFH/NV 2020, 196 Rz. 58; BMF v. 30.7.2008 – IV A 3-S 0223/07/10002, BStBl. I 2008, 831 Rz. 2.2. 29 Zur Verständigung über die Angemessenheit einer Geschäftsführervergütung: BFH v. 13.8.1997 – I R 12/97, BFH/NV 1998, 498 (499); BFH v. 1.2.2001 – IV R

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c) Bindung des Steuerpflichtigen und der Finanzverwaltung an die tatsächliche Verständigung Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so sind der Steuerpflichtige und die Finanzverwaltung nach der Auffassung der Rechtsprechung an die abgeschlossene tatsächliche Verständigung gebunden. Dies leitet der BFH aus dem Grundsatz von Treu und Glauben ab, wonach im Steuerrechtsverhältnis jeder auf die berechtigten Belange des anderen Teils angemessen Rücksicht nehmen muss und sich zu seinem eigenen früheren Verhalten nicht in Widerspruch setzen darf, auf das der andere Teil vertraut und im Hinblick darauf bestimmte Dispositionen getroffen hat30. Die Gegenauffassung geht demgegenüber vom Abschluss eines die Beteiligten bindenden öffentlich-rechtlichen Vertrages aus31, wobei der Streit im Hinblick auf die Auswirkung von Verständigungen und Vergleichen auf die Aufgaben der Gerichte unentschieden bleiben kann. Die Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung soll nur dann nicht eintreten, wenn die Verständigung ohne Beteiligung eines in Bezug auf die Steuerfestsetzung entscheidungsbefugten Amtsträgers zustande gekommen ist32 oder zu einem offensichtlich unzutreffenden Er3/00, BStBl. II 2001, 520 (524); BFH v. 3.4.2008 – IV R 54/04, BStBl. II 2008, 742 (747); BFH v. 8.10.2008 – I R 63/07, BStBl. II 2009, 121 (123); BFH v. 31.8.2009 – I B 21/09, BFH/NV 2010, 163 (164); BFH v. 11.8.2010 – VIII B 68/ 10, BFH/NV 2010, 2009 Rz. 7; zur Verständigung über die Aufteilung von Umsätzen: BFH v. 20.2.2014 – XI B 85/13, BFH/NV 2014, 828 Rz. 17 ff.; s. dazu auch Söhn in HHSp, § 78 AO Rz. 126 (11/2017); Seer in Tipke/Kruse, Vorbemerkungen zu §§ 118–129 AO Rz. 11 (8/2021); Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 1996, S. 209; Achatz in DStJG 27 (2004), 161 (171 ff.); Buciek, DStZ 1999, 389 (396); Krüger, DStZ 2015, 478 (480); Offerhaus, DStR 2001, 2093 (2094); Raupach in DStJG 21 (1998), 175 (193); Seer, BB 1999, 78 (79 f.). 30 Grundsatz des venire contra factum proprium: BFH v. 11.12.1984 – VIII R 131/76, BStBl. II 1985, 354 (358); BFH v. 6.2.1991 – I R 13/86, BStBl. II 1991, 673 (675); BFH v. 31.7.1996 – XI R 78/95, BStBl. II 1996, 625 (626); BFH v. 12.8.1999 – XI R 27/98, BFH/NV 2000, 537 (538); BFH v. 7.7.2004 – X R 24/ 03, BStBl. II 2004, 975 (979); BFH v. 12.6.2017 – III B 144/16, BStBl. II 2017, 1165 Rz. 18. 31 Rätke in Klein, 15. Aufl. 2020, § 78 AO Rz. 5; Seer in Tipke/Kruse, Vorbemerkungen zu §§ 118–129 AO Rz. 15 (8/2021); Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Rz. 21.146 f.; Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 1996, S. 80 ff. und 98 ff.; Seer, BB 2015, 214 (215 f.); Krüger, DStZ 2015, 478 (482 ff.); Schuster, DStZ 2018, 720 (724). 32 BFH v. 5.10.1990 – III R 19/88, BStBl. II 1991, 45 (46); BFH v. 31.7.1996 – XI R 78/95, BStBl. II 1996, 625 (626); BFH v. 31.3.2004 – I R 71/03, BStBl. II 2004,

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gebnis führt33, was u.a. dann angenommen wird, wenn die Verständigung gegen die Regeln der Logik oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt34 oder wenn der Steuerpflichtige aus seiner Sphäre stammende, entscheidungserhebliche Tatsachen zurückhält und es bei Kenntnis des Finanzamts von diesen Tatsachen unter objektivierter Betrachtung nicht zum Abschluss der tatsächlichen Verständigung gekommen wäre35

d) Bindung der Finanzgerichte an die tatsächliche Verständigung Nach h.M. sollen auch die FG an eine zwischen dem Steuerpflichtigen und der Finanzverwaltung abgeschlossenen tatsächlichen Verständigung gebunden sein, so dass sie diese bei ihren Entscheidungen zugrunde legen müssen36. Damit wird der gerichtliche Prüfauftrag beim Vorliegen einer tatsächlichen Verständigung auf diese beiden Punkte beschränkt,

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742 (746); BFH v. 22.9.2004 – III R 9/03, BStBl. II 2005, 160 (163 f.); BFH v. 8.10.2008 – I R 63/07, BStBl. II 2009, 121 (123); BFH v. 16.12.2009 – I R 97/08, BStBl. II 2010, 808 Rz. 28; s. zur Forderung der persönlichen Anwesenheit des zeichnungsbefugten Amtsträgers BFH v. 28.7.1993 – XI R 68/92, BFH/NV 1994, 290 unter II.1. und BFH v. 27.6.2018 – X R 17/17, BFH/NV 2019, 97 Rz. 24 f. sowie dies ablehnend Seer in Tipke/Kruse, Vorbemerkungen zu §§ 118–129 AO Rz. 24 (8/2021) und Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Rz. 21.146, Fn. 279; insgesamt kritisch: Söhn in HHSp, § 78 AO Rz. 136 (11/2017); zur nachträglichen Genehmigung der tatsächlichen Verständigung s. BFH v. 7.7.2004 – X R 24/03, BStBl. II 2004, 975 (977) sowie BMF v. 30.8.2008 – IV A 3-S 0223/07/10002, BStBl. I 2008, 831, 5.3 und BMF v. 15.4.2019 – IV A 3-S 0223/07/10002, BStBl. I 2019, 447; s. insgesamt zur Vertretungsmacht auch Seer in Tipke/Kruse, Vorbemerkungen zu §§ 118–129 AO Rz. 24 f. (8/2021). BFH v. 26.10.2005 – X B 41/05, BFH/NV 2006, 243 (244); BFH v. 20.9.2007 – IV R 20/05, BFH/NV 2008, 532 (535); BFH v. 8.10.2008 – I R 63/07, BStBl. II 2009, 121 (122 f.); BFH v. 1.9.2009 – VIII R 78/06, BFH/NV 2010, 593 Rz. 17; BFH v. 25.11.2009 – V B 31/09, BFH/NV 2010, 959 Rz. 9; BFH v. 11.7.2012 – X B 136/11, BFH/NV 2012, 1815 Rz. 4; BFH v. 21.9.2015 – X B 58/15, BFH/ NV 2016, 48 Rz. 14; BFH v. 28.4.2016 – I R 33/14, BStBl. II 2016, 913 Rz. 24. So BMF v. 30.7.2008 – IV A 3-S 0223/07/10002, BStBl. I 2008, 831 Rz. 8.1. FG Münster v. 20.4.2012 – 14 K 4222/11 AO, EFG 2012, 1516 (1518); FG Berlin-Bdb. v. 16.7.2015 – 13 K 13063/13, EFG 2015, 1762 (1763 f.); Seer in Tipke/Kruse, Vorbemerkungen zu §§ 118–129 AO Rz. 30 (8/2021): Nichtigkeit; Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 389; Krüger, DStZ 2015, 478 (481); BMF v. 30.7.2008 – IV A 3-S 0223/07/10002, BStBl. I 2008, 831 Rz. 8.2. BFH v. 12.8.1999 – XI R 27/98, BFH/NV 2000, 537 (538); BFH v. 22.2.2005 – X B 177/03, BFH/NV 2005, 909; BFH v. 1.9.2009 – VIII R 78/06, BFH/NV 2010, 593 Rz. 15; BFH v. 11.7.2012 – X B 136/11, BFH/NV 2012, 1815 Rz. 3; BFH v. 20.2.2014 – XI B 85/13, BFH/NV 2014, 828 Rz. 14; Krumm in Tipke/

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so dass der in § 76 FGO normierte Amtsermittlungsgrundsatz nicht in vollem Umfang zum Tragen kommt. De facto bedeutet dies, dass das Gericht eine tatsächliche Verständigung, die von einem vertretungsbefugten Amtsträger abgeschlossen wurde und im Ergebnis nicht zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führt, auch dann seiner Entscheidung zugrunde legen muss, wenn nach seiner Ansicht der der Besteuerung zugrunde liegende Sachverhalt durchaus mit vertretbarem Aufwand hätte aufgeklärt werden können oder wenn sie in unzulässiger Weise die Behandlung von Rechtsfragen betrifft. Dies erscheint im Hinblick auf die den Gerichten zugewiesene Aufgabe, Recht zu sprechen, insofern als problematisch, weil die Bindung an eine rechtsfehlerhafte tatsächliche Verständigung mit einer an Gesetz und Recht gebundenen Entscheidung i.S.v. Art. 20 Abs. 3 GG nichts mehr zu tun hat. Daher ist die Bindung der FG an tatsächliche Verständigungen in der Literatur immer wieder kritisiert worden. Offerhaus37 leitet dies aus dem gerichtlichen Amtsermittlungsgrundsatz des § 76 Abs. 1 FGO ab. Loschelder38 verneint eine Bindungswirkung für die FG, weil diese an der tatsächlichen Verständigung nicht beteiligt seien und somit durch diese auch nicht gebunden werden könnten. Dagegen wendet Seer39 ein, dass dies deshalb nicht den Punkt treffe, weil das Gericht dann, wenn sich der Steuerpflichtige gegen einen Steuerverwaltungsakt wende, dem eine tatsächliche Verständigung zugrunde liege, inzident zu prüfen habe, ob und inwieweit die Finanzbehörde bei Erlass des Verwaltungsaktes durch die tatsächliche Verständigung nach Treu und Glauben – so die Rechtsprechung – oder durch einen öffentlich-rechtlichen Vertrag – so die Gegenauffassung – gegenüber dem Steuerpflichtigen gebunden sei. Auch dies trifft m.E. nicht die Kernfrage, die nämlich in der Bindung an Gesetz und Recht zu sehen ist und sowohl der Finanzverwaltung als auch dem FG allenfalls dann einen Spielraum lässt, der über Treu und Glauben oder einen öffentlich-rechtlichen Vertrag ausgefüllt werden kann, wenn die Tatsachen nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand aufgeklärt werden können. Dies spricht m.E. dafür, dass die Gerichte stets überprüfen dürfen und müssen, ob diese Voraussetzung für den Kruse, § 76 FGO Rz. 45 (2/2022); Seer in Tipke/Kruse, Vorbemerkungen zu §§ 118–129 AO Rz. 28 (8/2021); Achatz in DStJG 27 (2004), 161 (179). 37 Offerhaus, DStR 2001, 2093 (2097). 38 Loschelder, StuW 2018, 329 (333 f.). 39 Seer in Tipke/Kruse, Vorbemerkungen zu §§ 118–129 AO Rz. 28 (8/2021).

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Abschluss einer tatsächlichen Verständigung tatsächlich vorgelegen hat. Ist dies nicht der Fall, so entfaltet die tatsächliche Verständigung keine Bindungswirkung für das Gericht, weil es ansonsten zu einer gegen Gesetz und Recht i.S.v. Art. 20 Abs. 3 GG verstoßenden Steuerfestsetzung kommen würde, die auch der Finanzverwaltung wegen ihrer Bindung an Gesetz und Recht versagt ist40. Zusammenfassend bedeutet dies, dass die bisher von der h.M. vertretene Rechtsauffassung zur Bindung der FG an die abgeschlossene tatsächliche Verständigung die den Gerichten zugewiesene Aufgabe einer an Gesetz und Recht gebundenen Rechtsprechung beeinträchtigt.

3. Rechtsfortbildung In besonderem Maße beeinträchtigen tatsächliche Verständigungen die Rechtsfortbildung durch die Gerichte. Indem die Verfahrensbeteiligten Streitigkeiten über Sach- und Rechtsfragen durch eine tatsächliche Verständigung einer gerichtlichen Kontrolle entziehen können, gelangen für die Rechtsfortbildung wesentliche Rechtsfragen nicht mehr zur Entscheidung. Sofern dies umfassend geschieht – etwa durch eine Weisung der Bundes- oder Landesfinanzbehörde –, kann die Finanzverwaltung die rechtliche Behandlung von gesamten Rechtskomplexen in ihrem Sinne beeinflussen, so z.B. dann, wenn sie in streitigen Fällen mit dem Steuerpflichtigen eine tatsächliche Verständigung abschließt oder dem Klagebegehren sogar abhilft, nur um eine gerichtliche Klärung zugunsten des Klägers und anderer Steuerpflichtiger zu verhindern. Damit kann das Gericht seiner Aufgabe der Rechtsfortbildung in diesen Fällen nicht mehr nachkommen.

III. Fazit Zusammenfassend ist festzustellen, dass die tatsächliche Verständigung in der steuerrechtlichen Praxis oftmals unverzichtbares Mittel ist, um 40 Seer in Tipke/Kruse, Vorbemerkungen zu §§ 118–129 AO Rz. 29 (8/2021), folgert daraus, dass eine gleichwohl von der Finanzverwaltung abgeschlossene tatsächliche Verständigung gegen ein gesetzliches Verbot i.S.v. § 134 BGB verstößt und damit nichtig ist, so dass sie ohnehin keine Bindungswirkung entfalten kann, und zwar weder für die an der Verständigung Beteiligten noch für das Gericht; s. auch Söhn in HHSp, § 78 AO Rz. 145 (11/2017), der eine Bindungswirkung nur bei einer zulässigen und wirksamen tatsächlichen Verständigung annimmt.

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der Besteuerung Fortgang zu geben, wenn der Sachverhalt nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand aufklärbar ist. Da dadurch die den Gerichten zugewiesenen Aufgaben der an Gesetz und Recht gebundenen Rechtsprechung und der Rechtsfortbildung aber beeinträchtigt, wenn nicht gar ausgehöhlt werden, muss die Zulässigkeit einer tatsächlichen Verständigung auf diesen speziellen Einzelfall beschränkt sein. Die genannte Voraussetzung muss durch die FG in vollem Umfang überprüft werden können.

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Diskussion zu den Referaten von Dr. Eva Oertel, Dr. Stefanie Beinert, LL.M. und Prof. Dr. Thomas Stapperfend Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff, München Ich darf jetzt Ihnen, Frau Ehrke-Rabel, das Wort geben, dass Sie uns mal die Sicht aus Österreich schildern. Prof. Dr. Tina Ehrke-Rabel, Graz Vielen Dank für die inspirierenden Vorträge. Ich habe vor 20 Jahren, also nach Roman Seer, meine Dissertation zu Konsenstechniken im Abgabenrecht verfasst. Damals dachte ich, das sei alles nicht von großer Bedeutung. Inzwischen bin ich eines Besseren belehrt worden. Seit der Verfassung meiner Dissertation hat sich jedoch im rechtspositiven Rahmen nicht viel verändert. Es scheint bloß selbstverständlicher geworden zu sein, öffentlich über Verständigungen und andere Konsensmechanismen zu sprechen. Während ich die Vorträge heute gehört habe, habe ich mich gefragt, wo denn überhaupt das Problem liegt. Es bleibt dabei: Steuerrecht ist Eingriffsrecht. Steuerrecht oder jede abgabenrechtliche Beurteilung im Einzelfall hat Auswirkungen auf die Allgemeinheit und daher bedarf es und daran, denke ich, sollten wir alle festhalten – und da bin ich ganz mit Herrn Stapperfend – einer strikten Bindung an das Legalitätsprinzip durch die Verwaltung. Die Verwaltung hat die Gesetze zu vollziehen und muss sich an die Gesetze halten, um den Steueranspruch durchzusetzen, der nicht nur den einzelnen Steuerpflichtigen betrifft, sondern eben Auswirkungen auf die Allgemeinheit hat. Aber eines ist zu bedenken: Das Recht selbst ist komplex, die Sachverhalte sind komplex und daher funktionieren die Sachverhaltsermittlung und dessen rechtliche Beurteilung – und das unterscheidet das Abgabenrecht von anderen Bereichen der Eingriffsverwaltung – nicht ohne die umfassende Mitwirkung des Steuerpflichtigen. Der Amtsermittlungsgrundsatz als solcher relativiert sich im Bereich des Steuerrechts also zu einem gewissen Ausmaß, weil der Steuerpflichtige umfassend mitwirken muss. Und da haben wir vielleicht das Problem in unseren Verfahren: Der Steuerpflichtige verwirklicht den Sachverhalt. Damit entsteht der Abgabenanspruch, aber die Sachverhaltsverwirklichung ist, wie wir wissen, disponibel, weil das Steuerrecht eben nicht entscheidungsneutral ist. Das heißt, jede wirtschaftliche Disposition eines Steuerpflichtigen hat be-

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Diskussion – zu Oertel, Beinert und Stapperfend

stimmte steuerrechtliche Konsequenzen, die der Steuerpflichtige im Vorfeld mitdenkt. Der Steuerpflichtige ist nach dem traditionellen Abgabenverfahren sowohl bei der Sachverhaltsverwirklichung (und das ist aus freiheitsrechtlicher Sicht grundsätzlich gut so) und auch mit seiner Vorabbeurteilung aus steuerrechtlicher Sicht zunächst auf sich gestellt. Erst im Nachgang wird die Finanzverwaltung eingebunden. Einen Fortschritt sehe ich darin, dass es inzwischen in ganz Europa verbindliche Auskünfte gibt, die dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit geben, bereits vor Verwirklichung des Sachverhalts eine verbindliche Zusage von der Finanzverwaltung darüber zu erhalten, wie ein geplanter Sachverhalt im Fall seiner Verwirklichung beurteilt wird. Zu diskutieren ist meines Erachtens allerdings, wie die Kostenpflicht der Auskünfte ausgestaltet sein soll oder darf, und ob erteilte Auskünfte nicht zumindest anonymisiert veröffentlicht werden sollten. Ich habe auf beide Fragen keine eindeutige Antwort. Es erscheint mir eigenartig, die Kosten von der Größe des Unternehmens und nicht von der Komplexität der Rechtsfrage und dem damit für die Abgabenbehörde verbundenen Bearbeitungsaufwand zu beurteilen. Eine Veröffentlichung könnte einen gewissen Ausgleich gegenüber der Allgemeinheit dafür schaffen, dass der Steuerpflichtige vor Verwirklichung seines Sachverhaltes eine verbindliche Ausunft über dessen rechtliche Beurteilung erhalten hat und daher eine abweichende Beurteilung im Rahmen einer Betriebsprüfung nicht zu befürchten hat. Außerdem könnte die Veröffentlichung eine rechtsstaatsfördernde Funktion erfüllen, weil davon auszugehen ist, dass eine Veröffentlichungspflicht das Risiko von nicht durch das Gesetz gedeckten Absprachen über künftige zu verwirklichende Sachverhalte verringern würde. Mir ist schon klar, dass man der Veröffentlichung – abgesehen vom Steuergeheimnis – auch die Kostenpflicht entgegenhalten kann. Was aus meiner Sicht jedenfalls einer weiteren Diskussion bedarf, ist die Frage, ob das derzeitige Steuerverfahren in den Fällen, in denen keine verbindlichen Auskünfte erwirkt werden können, in denen die rechtliche Beurteilung aber nicht immer eindeutig möglich ist – ich denke da z.B. an Fälle, die als Missbrauch oder eben auch nicht als Missbrauch qualifiziert werden könnten –, noch zeitgemäß ist. Das gewöhnliche Veranlagungsverfahren bedeutet, dass ein Steuerpflichtiger seine Steuererklärung einreicht, eine – inzwischen in vielen Fällen ausschließlich automatisierte – Risikoprüfung beurteilt die Plausibilität der Erklärung und es kommt in vielen Fällen zunächst zur Erlassung eines erklärungskonformen Bescheides. Die tatsächliche Auseinanderset-

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zung der Finanzverwaltung mit dem, was der Mitwirkung unterliegt, was im Rahmen der Mitwirkungspflichten vorgebracht worden ist, erfolgt dann erst während der Betriebsprüfung. Zwischen der Einreichung der Steuererklärung und der Betriebsprüfung ist oft eine lange Zeit vergangen, in der die Rechtsunsicherheit bestanden hat. Hinzu kommt, dass der Sachverhalt im Nachhinein oft viel schwieriger feststellbar ist als wäre die Überprüfung zeitnah erfolgt. Die Rechtsfolgen, die ja mit dem Sachverhalt verknüpft sind, können nach Ablauf einer längeren Zeitspanne für den betroffenen Steuerpflichtigen schließlich viel schwerer wiegen. All das erzeugt beim Steuerpflichtigen in der Regel das Bedürfnis nach einer Einigung mit der Finanzverwaltung, um die Rechtsunsicherheit möglichst rasch zu beseitigen. Und jetzt frage ich mich: Wenn wir an der Bindung der Verwaltung an das Gesetz festhalten – was aus meiner Sicht außer Streit steht –, wir also weiterhin nach einer gleichmäßigen Besteuerung aller Steuerpflichtigen trachten und ein marktmäßiges Aushandeln der Steuerschuld ablehnen, dann muss das Verfahren so verändert werden, dass Rechtsunsicherheiten, die sich aus der mehr oder weniger autonomen Vorabbeurteilung durch den Steuerpflichtigen und der daran anschließenden risikobasiert erklärungskonformen Veranlagung ergeben, früher als derzeit beseitigt werden. Vielleicht hat Österreich mit der Einführung der Begleitenden Kontrolle – international besser bekannt als „Horizontal Monitoring“ – einen guten Schritt gesetzt. Diese begleitende Kontrolle hat ihr Vorbild in seinem niederländischen Pendant, sie wurde aber legistisch auf eine Art und Weise umgesetzt, die im Verhältnis zu dem niederländischen Modell weniger Verhandlungsmöglichkeiten zwischen der Finanzverwaltung und dem Steuerpflichtigen in sich trägt. Was ist in Österreich passiert? Wenn wir über tatsächliche Verständigungen sprechen, geht es vor allem um große Steuerpflichtige. In Österreich können sich Steuerpflichtige freiwillig einer sachten Überwachung unterziehen. Anstelle einer Ex-post-Kontrolle in Form einer klassischen Betriebsprüfung können für österreichische Verhältnisse große Unternehmen, das sind solche mit Jahresumsätzen von mehr als 40 Mio. t, sich bereit erklären, ein zertifiziertes Steuerkontrollsystem einzuführen und sich gegenüber Finanzverwaltung vorab zu verpflichten, auf diejenigen Punkte ihrer Steuererklärung hinzuweisen, die Anlass zu Unstimmigkeiten zwischen den Parteien erzeugen könnten. Über geplante Änderungen, die Anlass für Unstimmigkeiten geben könnten, informiert der begleitend Kontrollierte im Übrigen auch vorzeitig. Damit dürften sich viele der Probleme, die im Rahmen dieser Diskussion aufgezeigt worden sind, relativieren.

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Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff, München Vielen Dank Frau Ehrke-Rabel. Ich habe jetzt wirklich die spannende Aufgabe, in 20 Minuten eine Podiumsdiskussion unter Beteiligung des Auditoriums durchzuführen. Sie sehen, das ist eine Herausforderung, der ich mich stelle. 10 Minuten auf dem Podium, 10 Minuten für Sie im Auditorium. Und ich will einfach mit der Bitte um vielleicht recht knappe Antworten ein paar Punkte ansprechen, die sich entlang hangeln an den wesentlichen Fragen: Einmal Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit. Zweitens Rechtssicherheit und Vertrauensschutz. Dann Aufgabe der Gerichtsbarkeit und schließlich noch ein paar Einzelfragen. Zunächst zur Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit. Frau Beinert, Sie haben gesagt – und ich hoffe, Sie nicht missverstanden zu haben –: „Naja, dann lassen Sie uns doch einfach über die Auslegungen des Rechts vergleichen und lassen Sie uns doch einfach eine Systemprüfung machen.“ Welche Rolle spielt bei Ihnen dann noch die Gesetzmäßigkeit der Besteuerung? Dr. Stefanie Beinert, Frankfurt/M. Mir geht es primär um die Konzentration. Man kann nicht jedes Thema bis zum Ende ausdiskutieren oder gar ausprozessieren, sondern man muss versuchen, sich auf einige Themen zu konzentrieren. Und ich meine, eine Systemprüfung ermöglicht dies. Natürlich besteht immer das Risiko, dass man dann einen Sonderfall nicht erfasst, aber man kann Themen, die von den Prozessen erfasst werden, grundsätzlich aus dem Streit stellen. Und ich meine, dass ein Vergleich kein Deal im luftleeren Raum ist, sondern vorbereitet wird. Man muss gegenseitig Argumente austauschen, so dass sich schon die Frage stellt, warum ein Vergleich nicht möglich sein sollte, wenn der Rahmen des Vertretbaren nicht verlassen wird. Im Finanzgerichtsverfahren wird dies durch die Erledigungserklärungen ermöglicht, die das Verfahren beenden. Warum sollte man diese Dispositionsmöglichkeiten – auch aus Sicht der Finanzverwaltung – nicht auch außerhalb eines Prozesses haben und nutzen können? Die wirklich streitigen Fragen, die gehen vor Gericht. Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff, München Vielen Dank Frau Beinert. Frau Oertel: Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit und gleichzeitig hören wir, dass die Finanzverwaltung Angst hat, sich zu binden. Die Finanzverwaltung erklärt sich nicht, bindet sich nicht und wir haben zwar die Zusagen und Auskünfte, verbindlichen

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Diskussion – zu Oertel, Beinert und Stapperfend

Auskünfte, aber statistisch betrachtet, in sehr geringem Umfang. Kann es sein, dass wir dieses Problem im luftleeren Raum diskutieren? Aber muss man nicht von der Finanzverwaltung auch erwarten, dass sie als Erstinterpret des Gesetzes auch gegenüber den Steuerpflichtigen sich eindeutig für eine Sichtweise entscheidet? Und zwar rasch und zügig, damit dann solche Fragen möglicherweise auch rasch bis zu den Gerichten geführt werden. Dr. Eva Oertel, München Ja, vielen Dank für die Frage. Zwei Aspekte: Ich glaube, die Finanzverwaltung hat nicht unbedingt Angst, sich zu binden, sie hat nur an vielen Stellen einfach die Möglichkeiten gar nicht. Das habe ich ja auch versucht aufzuzeigen. Wenn ich nur in ganz engem Raster eine tatsächliche Verständigung abschließen kann, dann fehlt mir ja die Möglichkeit mich außerhalb dieses Korsetts zusätzlich zu binden bzw. darüber hinaus zu gehen. An etlichen Stellen hat der Gesetzgeber einfach das Recht noch nicht geschaffen. Aber das „Sich-Binden“ ist – glaube ich – kein Problem und Entscheiden ist – glaube ich – auch nicht das Problem für die Finanzverwaltung. Also ich persönlich bin nie einem Steuerstreit aus dem Weg gegangen. Also wenn das Auditorium bzw. wenn die Steuerpflichtigen Lust haben, einen Steuerstreit zu führen, scheitert das sicher nicht an der Finanzverwaltung. Die Frage ist, ob aufgrund der ganzen Komplexität und der Befundaufnahme, dass alles immer komplexer wird – ich glaube, das ist unstreitig auch hier im Raum –, ob es nicht einen erhöhten „Servicebedarf“ gibt. Ich meine, diesem muss auch die Finanzverwaltung gerecht werden bzw. Service zur Verfügung stellen. Sie muss sich in irgendeiner Form einigen, verständigen, dem Steuerpflichtigen Assurance in Aussicht stellen können etc. Fraglich ist, ob das nicht eigentlich ein neuer Auftrag an die Finanzverwaltung ist, und das möchte ich auch gerne hier in diesem Raum zur Diskussion stellen. Ich glaube, dass hierüber noch viel diskutiert werden muss und vieles sich in der nächsten Zeit weiterentwickeln muss. Wenn ich einen Blick in die Glaskugel werfe, wie in 10, 20 Jahren das Steuerrecht aussehen sollte, dann glaube ich, dass der Finanzverwaltung mehr Mechanismen zur Verfügung stehen. Diese müssten und sollten den Steuerstreit vermeiden, und zwar gar nicht im Interesse der Finanzverwaltung, sondern im Interesse der Steuerpflichtigen.

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Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff, München Frau Ehrke-Rabel, Sie haben uns vom horizontal monitoring berichtet. Frau Beinert fand eine Systemprüfung hervorragend. Besteht nicht das Problem, dass wir nachher Systeme prüfen, nicht mehr die Rechtsauslegung, und dass sich die ganze Architektur des Verfahrens dahin verschiebt, dass im Grunde genommen die Verfahren sehr früh mit einer einvernehmlichen Vereinbarung beendet werden, so dass bestimmte Rechtsfragen nicht mehr zu den Gerichten kommen? Und welche Rolle spielt die personelle Ausstattung der Finanzverwaltung? Prof. Dr. Tina Ehrke-Rabel, Graz Bei all den unterschiedlichen Streitvermeidungsmechanismen stellt sich mir die Frage, ob so nicht Rechtsstreitigkeiten insgesamt so vermieden werden, dass bestimmte Fragen gar nicht mehr vor Gerichte kommen. Gerade im Hinblick auf die begleitende Kontrolle kommt es meines Erachtens ganz maßgeblich darauf an, wie man das Verfahren innerhalb der Finanzverwaltung und die begleitende Kontrolle tatsächlich ausgestaltet. Im Unterschied zur klassischen Betriebsprüfung besteht die begleitende Kontrolle nicht in der Überprüfung der Belege mit dem Ziel den verwirklichten Sachverhalt zu rekonstruieren, sondern in der Überprüfung der Prozesse, die dem vom Unternehmen etablierten internen Kontrollsystem, d.h. seinem Risikomanagementsystem, zugrunde liegen. Es geht darum, die Abläufe im Unternehmen zu erfassen, um zu plausibilieren, dass steuerehrlich gehandelt worden ist. Aber am Ende des Tages wird eine Steuererklärung eingereicht und am Ende des Tages muss der Steuerpflichtige, also der begleitend Kontrollierte die Finanzverwaltung auch darauf aufmerksam machen, welche Sachverhalte ein gewisses Beurteilungsrisiko in sich tragen, so dass die Finanzverwaltung nicht daran gehindert ist, weiterhin die Prüfung vorzunehmen nach dem klassischen System, wie sie es vor der begleitenden Kontrolle getan hat. Wenn die Finanzverwaltung die begleitende Kontrolle so nutzt, wie sie vom Gesetzgeber aufgesetzt wurde, besteht die Gefahr aus meiner Sicht nicht, dass es gar nicht mehr zu Steuerstreitigkeiten vor den Gerichten kommt. Allerdings bedarf es dafür entsprechender personeller Ressourcen. Die begleitende Kontrolle halte ich jedenfalls nicht für ressourceneinsparend, sondern vielleicht sogar ressourcenerweiternd. Besonders wichtig ist außerdem, eine geeignete Kontrolle auf Ebene der Finanzverwaltung vorzusehen, unter Umständen rotierende Beamte oder eine andere Form von Watchdog. Dann bleibt der Raum für Streitigkei-

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ten über uneindeutige Rechtsfragen, die letztendlich vom Gericht zu entscheiden sind. Zumindest in Österreich habe ich den Eindruck, dass in Betriebsprüfungen bei Schlussbesprechungen tatsächliche Verständigungen getroffen werden. Auch wenn über den Sachverhalt diskutiert wird, wird die Rechtsfolge immer mitgedacht und letztendlich ist ein gewisses steuerliches Ergebnis, also ein in Zahlen gegossenes Ergebnis dann auch das Ergebnis der Schlussbesprechung. Wenn dabei eine Einigung erzielt wurde, dann kommt es auch nicht mehr zu Rechtstreitigkeiten. So denke ich, dass eine begleitende Kontrolle kein größeres Gefahrenpotential in sich birgt als eine Betriebsprüfung, die mit einer tatsächlichen Verständigung endet. Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff, München Herr Stapperfend, wir haben gerade von Frau Ehrke-Rabel gehört, dass die Fälle nicht mehr zu den FG kommen. Wir wissen beide, dass viele Fragen nicht mehr zu den Gerichten kommen. Muss man dann nicht darüber nachdenken, wie die Gesetzmäßigkeit des Steuervollzugs gewährleistet werden kann? Muss nicht der konkrete Vollzug der Steuergesetze allein in der Finanzverwaltung, sei es durch die Gerichte oder durch andere Institutionen, wie die Rechnungshöfe, überwacht werden, damit die Gesetzmäßigkeit des Vollzugs des Steuerrechts sichergestellt wird? Wir haben ja erschreckende Berichte der Rechnungshöfe der Länder und des Bundes, die immer wieder feststellen, dass das geltende Recht nicht umgesetzt wird. Könnten Sie sich vorstellen, dass da vielleicht eine Veränderung denkbar ist? Prof. Dr. Thomas Stapperfend, Berlin Ich hoffe nicht, dass wir über andere Kontrollsysteme nachdenken müssen, weil ich die Kontrolle durch die Gerichte gar nicht schlecht finde. Aber Sie haben natürlich völlig recht, Herr Mellinghoff. Wenn die Kontrolle durch die Gerichte nicht mehr funktioniert, werden wir über Innenrevisionen oder über Rechnungshöfe andere Mechanismen einführen müssen, die die Kontrollaufgaben wahrnehmen. Ich denke in diesem Zusammenhang an einen Fall, der bei meinem Senat zur Entscheidung anstand. Es ging es um die umsatzsteuerrechtliche Frage, ob die Angaben in den zum Vorsteuerabzug genutzten Rechnungen stimmten. Der Betriebsprüfer hatte während der Prüfung vorgeschlagen, die Rechnungen nicht im Einzelnen zu prüfen, sondern sich im Rahmen einer tatsächlichen Verständigung direkt auf eine 10%ige Kürzung des Vorsteuerabzugs zu

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einigen. Wenn sich der Steuerpflichtige auf so etwas einlässt und diese Fälle nicht mehr zu den Gerichten kommen, dann haben wir ein Problem, so dass im Ergebnis in der Tat nur ein anderer Kontrollmechanismus verbleibt, wie Sie ihn gerade angesprochen haben. Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff, München So, wir haben 10 Minuten fürs Publikum. Prof. DDr. Gunter Mayr, Wien Vielen Dank für die spannende Diskussion. Herr Stapperfend, ich bin da ganz bei Ihnen: So schlecht ist das System der Gerichtsbarkeit wahrlich nicht, so soll es im Rechtsstaat ja auch sein! Die Wünsche der Praxis nach möglichst schnellen Informationen sind nachvollziehbar, aber sie bedürfen eines rechtlichen Rahmens. Aus diesem Blickwinkel haben verbindliche Rechtsauskünfte viel für sich. Die verbindlichen Rechtauskünfte haben wir in Österreich, genannt Auskunftsbescheid, zuletzt ausgebaut und auch für Missbrauch, internationales Steuerrecht oder Umwandlungen geöffnet. Die Qualitätssicherung obliegt sodann dem BMF, zu verhandeln gibt es aber bei Missbrauch oder Umwandlungen nichts mehr. Das ist ein Entweder-oder, ein bisschen Missbrauch gibt es nicht. Geht die Finanzverwaltung von Missbrauch aus, dann greift der rechtsstaatliche Mechanismus und der konkrete Auskunftsbescheid ist bekämpfbar. Vereinzelt wird der Finanzverwaltung vorgeworfen, die Auskunftsbescheide dauern zu lange. Subjektiv empfunden wird das schon stimmen, es kommt halt immer auf den konkreten Einzelfall an. Letzte Woche haben wir einen Auskunftsbescheid erlassen, dem ein hochkomplexer Sachverhalt zugrunde lag, der auf über 40 Seiten dargestellt wurde. Aber die österreichische Finanzverwaltung ist bemüht, auch solche Fälle möglichst innerhalb von zwei Monaten abzuarbeiten, was aber nicht immer gelingt. Da solche Einzelfälle sehr sachverhaltslastig sind, halte ich eine Veröffentlichung für schwer machbar. Dr. Dr. h.c. Thomas Weckerle, Herdecke Zum Vortrag von Frau Oertel: Sie haben die nahe Verbindung von verbindlicher Zusage und verbindlicher Auskunft angesprochen. Bei der verbindlichen Zusage geht es um einen schon bestehenden Dauersachverhalt und dessen Behandlung in der Zukunft. Demgegenüber setzt das Gesetz bei der verbindlichen Auskunft voraus, dass der Sachverhalt noch nicht verwirklicht ist. Der Steuerpflichtige hat aber genauso ein Aus-

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kunftsinteresse, auch wenn schon mit der Sachverhaltsverwirklichung begonnen wurde, damit er ggf. den Sachverhalt für die Zukunft noch anpassen kann (z.B. Festlegung eines angemessenen Geschäftsführergehalts). Deshalb sollte insoweit de lege ferenda eine Anpassung der verbindlichen Auskunft an die verbindliche Zusage erfolgen. Dr. Ulrich Pflaum, Nürnberg Ich möchte anknüpfen an das, was Herr Stapperfend zum Schluss gesagt hat. Insbesondere Frau Oertel und Frau Beinert scheinen davon auszugehen, dass Verständigungen Rechtssicherheit nur zugunsten des Steuerpflichtigen bringen können. Gerade, wenn man die Entwicklung der Verständigung im Strafverfahren betrachtet, sieht man allerdings, dass Verständigungen Rechtssicherheit auch zu Lasten des Betroffenen bringen können. Im Strafverfahren haben zuerst Verteidiger für Verständigungen geschwärmt. 20 Jahre später haben dann teilweise die gleichen Verteidiger von „aufgezwungenen Vergleichen“ gesprochen, von „Koopression“ und von einer „Übermacht der justiziellen Gegner“. Ich denke, dass sollte man auch verstärkt in den Blick nehmen. Prof. Dr. Roland Ismer, Erlangen-Nürnberg Ich würde gern nochmal eine Differenzierung in die Runde werfen, die wir bereits heute Vormittag intensiv diskutiert haben, nämlich die Unterscheidung zwischen Rechtsfragen und Tatsachenfragen. Bei den Tatsachenfragen ist es in erster Linie wichtig, dass diese im konkreten Fall schnell und richtig geklärt werden. Anders hingegen bei den Rechtsfragen: Gerichtsentscheidungen, gerade veröffentlichte, führen zu einer Konkretisierung des Rechts. Damit produzieren sie ein öffentliches Gut. Diese Produktion gilt es irgendwie am Laufen zu halten. Das begründet denn auch das Unbehagen, was wir alle verspüren ob sinkender Zahlen bei den FG. Vielen Dank. Prof. Dr. Roman Seer, Bochum Herr Stapperfend, ich muss doch etwas zu Ihrem Verständnis der Finanzgerichtsbarkeit sagen. Die drei Säulen, wo wir ja im Moment nach Ihrem Bild vor der Gefahr stehen, dass alles zusammenbricht, sehe ich etwas anders. Ich sehe also erstmal die FG als Gerichtsbarkeit in einer Funktion als eine Rechtsschutzfunktion. Im Sinne des Individualrechtsschutzes und nicht im Sinne eines verlängerten Verwaltungsverfahrens. Letzteres haben wir nämlich früher mal gehabt. Davon hat man sich be-

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wusst gelöst. Es geht um Art. 19 Abs. 4 GG. Es geht nicht nur um Art. 20 Abs. 3 GG. Deshalb haben wir eben auch einen Dispositionsgrundsatz, deshalb kann der Kläger den Streitgegenstand mit seinem Antrag und Klagerücknahme auch selbst bestimmen hier an der Stelle. Dann zur Frage der Überprüfbarkeit von Verständigungen. Da bin ich bei Ihnen, dass die Voraussetzungen, unter denen wir, wenn wir so wollen, die Rechtsfortbildung einer – ich mag ja den Begriff der tatsächlichen Verständigung nicht; aber ich will es trotzdem sagen – einer sog. tatsächlichen Verständigung so vorzunehmen, dass sie das überprüfen können und müssen. Das heißt, die Klärung der Frage, ob wir ein Ungewissheitspotential vorfinden, was man überbrücken muss, ist die Aufgabe auch des Gerichts. Das heißt, an der Stelle zu sagen: Hier haben wir eine eindeutige Rechtsfrage, die kann nur eineindeutig geklärt werden, wir Herr Ismer eben gesagt hat, über die kann ich mich meines Erachtens nicht einfach so verständigen, wenn da gar keine Ungewissheit vorhanden ist. Und auch jetzt bei den Fragen der Bewertung, dass Sie den äußeren Rahmen der Plausibilität – das ist ja dann dieses Merkmal „offensichtlich unzutreffende Besteuerung“ –, das ist ja letztlich die Frage der Bestimmung des äußeren Rahmens, den Sie nachprüfen müssen. Insoweit bin ich völlig bei Ihnen. Aber Sie gehen nicht nochmals in den vollen Überprüfungsprozess im Sinne eines vollumfänglichen Untersuchungsgrundsatzes, weil Sie an die Treu-und-Glauben-Bindung der Beteiligten nach Art. 20 Abs. 3 GG selbst gebunden sind als Gericht. Deswegen ist der Ansatz von Loschelder falsch. Ich habe mir den Beitrag ziemlich genau durchgelesen und auch kommentiert im Tipke/Kruse. Und zur Schätzung ist zu sagen: Ich kann nicht über jede Schätzung einfach irgendeine tatsächliche Verständigung abschließen, sondern ich habe da – und ich glaube auch, einige Richter haben das übernommen –, ich habe auch ein Verbot der Prämierung der Mitwirkungsverletzung formuliert; dies als Ausprägung des Gesetzmäßigkeitsprinzips. Es soll nicht noch jemand einen entsprechenden, ich sage mal Bonus kriegen, weil er sich der Mitwirkung verweigert und dadurch noch eine zu niedrige Schätzung erhält. Auch das muss dann überlegt werden, ob ich Beweislastgrundsätze durch eine tatsächliche Verständigung letztlich überhole, weil jemand noch eine „Prämie“ dadurch kriegt, weil er sich verweigert hat. Also das sind alles entsprechende Kautelen, die, glaube ich, mittlerweile auch von der Judikatur so angedacht und mitgetragen werden, die die Grenzen einer zulässigen Verständigung, finde ich, ziemlich genau skizzieren. Und da sind Sie noch lange genug in einem Prüfungsprozess. Allerdings, wenn die Dispositionsmaxime gelten soll,

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Diskussion – zu Oertel, Beinert und Stapperfend

dann haben Sie natürlich das Problem: Wenn Ihnen der Streitgegenstand entzogen wird, ist er halt weg. Und das ist aus dem Finanzgerichtsprozess so auch nicht wegzudenken. Sonst müssen Sie Ihren ganzen Finanzgerichtsprozess prozessual ganz anders aufziehen. Und ein Allerletztes: Ob die Rechtsfortbildung in dem Bereich, wo die Beurteilungsspielräume, z.B. bei Wertfeststellungen, vorhanden sind, ob die Gerichte da viel rechtsfortbildend beitragen könnten, hier an der Stelle, da habe ich genauso wie Herr Ismer bei der Sachverhaltsfeststellung erhebliche Zweifel. Dr. Jürgen Pelka, Köln Ich kann mich kurzfassen, weil ich Herrn Prof. Seer zustimme. Das FG ist zur Kontrolle über angefochtene Maßnahmen der Finanzbehörden eingesetzt, hat somit zu prüfen, ob der angefochtene Steuerbescheid rechtmäßig ist. Haben die Parteien zulässigerweise eine tatsächliche Verständigung erreicht, sind sie daran gebunden. Das stellt wohl auch niemand in Frage. Der aufgrund dieser Verständigung erlassene Steuerbescheid ist dann rechtmäßig, wenn nicht ausnahmsweise die Grenzen verletzt sind, innerhalb derer eine solche tatsächliche Verständigung zulässig ist. Wenn der Steuerbescheid danach aber rechtmäßig ist, kann auch das FG den Bescheid nicht korrigieren. Das FG ist dann meiner Meinung nach – wie das Finanzamt – an diese tatsächliche Verständigung gebunden. Das FG ist zur Kontrolle des Finanzamts eingesetzt. Wenn das Finanzamt und der Steuerpflichtige gebunden sind, ergibt sich aus der Kontrollfunktion des FG auch eine Bindung des FG an die tatsächliche Verständigung. Das FG kann dann den Sachverhalt nicht überprüfen und eine andere Entscheidung treffen. Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff, München Jetzt zu den Schlussworten: Dr. Stefanie Beinert, Frankfurt/M. Ich möchte wiederholen, dass der Schlüssel die Dispositionsfähigkeit der Finanzverwaltung ist. Man darf nicht vermuten, dass irgendwelche „schrägen“ Einigungen erzielt werden. Es geht vielmehr um die Konzentration auf relevante Rechtsfragen und der Gesetzgeber ist gefordert, dies zu ermöglichen, auch um Deutschland wettbewerbsfähig zu halten.

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Diskussion – zu Oertel, Beinert und Stapperfend

Dr. Eva Oertel, München Ich versuche es auch mit zwei Sätzen. Ich glaube, niemand in der Finanzverwaltung ist leichtfertig bereit zu Steuerdeals, die von gesetzlichen Vorgaben abweichen. In der Praxis geht es tatsächlich darum, dort zu konkretisieren, wo sowohl auf Sachverhaltsebene als auch auf Rechtsebene Unsicherheiten bestehen. Die Verwaltung könnte hier dem Steuerpflichtigen letzten Endes auch ein bisschen „helfen“, um es zu formulieren, durch diese Unsicherheiten durchzukommen. Ansonsten glaube ich wird die Judikative absolut ihren Stellenwert beibehalten. Vielen Dank. Prof. Dr. Thomas Stapperfend, Berlin Um auf Herrn Seer und Herrn Pelka einzugehen: Herr Seer, wir sind gar nicht so weit auseinander, zumal ich zur Verdeutlichung des Problems auch ein wenig überzeichnet habe. Aber: Wenn die Praxis so aussähe, dass die tatsächlichen Verständigungen wirklich „tatsächliche“ Verständigungen sind, dann wären wir völlig überein. Die Praxis sieht aber oftmals anders aus. Praktischer Fall zum Umsatzsteuerrecht: Der Steuerpflichtige und das Finanzamt einigen sich während der Betriebsprüfung im Rahmen einer tatsächlichen Verständigung darauf, dass die von dem Steuerpflichtigen ausgeübte Tätigkeit zum Teil eine künstlerische ist. Im finanzgerichtlichen Verfahren muss das FG dies nach der Rechtsprechung zugrunde legen und hat gegebenenfalls nur noch darüber zu befinden, welchen Anteil die künstlerische Tätigkeit an den Gesamtumsätzen hat. Es kann aber aus den von mir dargelegten Gründen nicht sein, dass die Gerichte dies ohne Überprüfungsmöglichkeit zugrunde legen müssen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Einordnung der Tätigkeit als künstlerisch falsch ist, weil sie die gesetzlichen, also rechtlichen Vorgaben nicht beachtet. Dass sich Finanzverwaltung und Steuerpflichtige über reine Tatsachen verständigen können und müssen und dass das im finanzgerichtlichen Verfahren zu beachten ist, ist völlig unstreitig. Darin stimmen wir völlig überein.

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Verfahrensrahmen für die Streitvermeidung aus europäischer und internationaler Perspektive, insbesondere Joint Audit, ICAP Dr. Isabella Zimmerl Rechtsanwältin, München

I. Kernthese und Einleitung II. Verfahrensrahmen für die Streitvermeidung 1. Streitvermeidungsverfahren als Instrument für grenzüberschreitende Rechtssicherheit im Steuerrecht 2. Streitvermeidung im europäischen und internationalen Steuerrecht 3. Verfahrensrahmen der Streitvermeidung a) Rechtssicherheit durch APAs aa) Status quo bb) Mögliche Zukunft

b) Faktische Rechtssicherheit durch Joint Audits, grenzüberschreitende Rechtssicherheit bei Effektuierungen von Joint Audits aa) Status quo bb) Mögliche Zukunft (1) Verschränkung von Joint Audit und bilateralem APA (2) Internationaler Verwaltungsvertrag c) Assurance durch ICAP und ETACA d) ICAP e) ETACA III. Künftige Entwicklungsmöglichkeiten

I. Kernthese und Einleitung „Es gibt zu wenige effiziente Instrumente für eine rechtssichere Streitvermeidung im internationalen Steuerrecht“ – das möchte ich als These meinem Vortrag voranstellen. Das allseits sichtbare Phänomen ist die doppelte oder sogar mehrfache Besteuerung von Einkünften grenzüberschreitend tätiger Unternehmen. Zwar bietet das europäische und internationale Steuerrecht verschiedene Instrumente zur Beilegung oder Vermeidung von Streitigkeiten über eine solche Doppelbesteuerung an. Uns allen ist aber auch bekannt, dass diese Verfahren in den meisten Fällen sehr lange dauern oder – schlimmstenfalls – gar nicht in der Lage sind, eine rechtssichere Lösung zu bieten. Sollen Steuerstreitigkeiten effizient vermieden werden, brauchen wir also andere oder zumindest veränderte

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Verfahrensrahmen aus europäischer und internationaler Perspektive – Zimmerl

Instrumente. In meinem Vortrag soll es daher neben den bestehenden auch um neue Wege und mögliche Entwicklungen im europäischen und internationalen Steuerrecht gehen – mit dem Ziel, Steuerstreitigkeiten künftig effizient und rechtssicher zu vermeiden. Zunächst möchte ich generell auf Streitvermeidungsverfahren als Instrument für grenzüberschreitende Rechtssicherheit im Steuerrecht blicken, sowie auf den „Werkzeugkasten“ der Streitvermeidung im europäischen und internationalen Steuerrecht. Schwerpunkt meines Vortrags ist der Verfahrensrahmen bei APAs, Joint Audits, ICAP und ETACA, wobei ich jeweils auch mögliche künftige Entwicklungen anspreche, auf die ich abschließend zurückkommen werde.

II. Verfahrensrahmen für die Streitvermeidung 1. Streitvermeidungsverfahren als Instrument für grenzüberschreitende Rechtssicherheit im Steuerrecht Blickt man aus einer verfahrensrechtlichen Perspektive auf das Phänomen internationaler Doppelbesteuerung, wird deutlich, dass sich Verständigungsverfahren nach Art. 25 OECD-Musterabkommen (MAPs) als zeitraubendes, oft ineffizientes Verfahren zur Beseitigung von Doppelbesteuerung erwiesen haben.1 Wird eine Verständigungsvereinbarung getroffen, bietet sie jedoch eine rechtlich bindende und insoweit überzeugende Lösung. Unter bestimmten Voraussetzungen sind MAPs in der Lage, Doppelbesteuerung auch für die Zukunft zu vermeiden – rein faktisch und nur zwischen den Beteiligten. Einzelheiten zu MAPs, auch

1 Durchschnittliche Dauer von 35 Monaten im Fall von MAPs zu Verrechnungspreisen und von 18 Monaten in anderen Fällen (Zahlen für 2020), s. OECD Statistiken unter https://www.oecd.org/ctp/dispute/mutual-agreement-procedurestatistics.htm; Becker/Kimpel/Oestreicher/Reimer, Verfahrensrecht der Verrechnungspreise, 2017, S. 316–322 und S. 338–351; Eilers/Drüen in Wassermeyer, Art. 25 OECD-MA Rz. 14 (149. EL März 2020). Ineffizient in dem Sinn, dass das Phänomen – Doppelbesteuerung – zwar beseitigt wird, aber nur für die Jahre, welche vom MAP abgedeckt werden, nach einer unverhältnismäßig langen Verhandlungsdauer, und schließlich ohne sich mit der Ursache von Doppelbesteuerung auseinanderzusetzen, d.h. den Diskrepanzen zwischen Steuersystemen und innerhalb von Doppelbesteuerungsabkommen; hierzu s. Drüen in FS Wassermeyer, 2015, § 68 Rz. 20.

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welche Chancen diese bieten können, ist Gegenstand des nachfolgenden Beitrags von Frau Bruns.2 Ähnliche Schlussfolgerungen wie für MAPs lassen sich für bilaterale Vorabverständigungsverfahren – sog. Advance Pricing Agreements oder APAs – ziehen, die sich traditionell auch auf Art. 25 OECD-Musterabkommen stützen:3 Sie bieten eine rechtlich bindende Lösung4 für Verrechnungspreisfragen und für Doppelbesteuerung, aber das Verfahren ist langwierig und ressourcenintensiv.5 Die praktische Erfahrung zeigt, dass bilaterale APAs kaum in advance, also „vorab“ gelten. Vielmehr decken sie oft weit zurückliegende Jahre ab, indem die Beteiligten das bilaterale APA durch ein sog. roll back auf Zeiträume vor ihrem Abschluss anwenden.6 Die mit bilateralen APAs erreichbare, grenzüberschreitende Rechtssicherheit tritt also viel zu spät ein. Das Ziel einer grenzüberschreitenden Rechtssicherheit, das alle international tätigen Unternehmen teilen, ist der Grund dafür, dass MAPs und APAs trotz ihrer Ineffizienz noch immer die beliebtesten Instrumente für diese Unternehmen sind. Selbst während der Covid-19-Pandemie haben Anträge für (bilaterale) APAs zuletzt zugenommen.7 Aus meiner Sicht 2 Siehe Bruns, DBA-Verständigungsverfahren aus rechtsdogmatischer und rechtspraktischer Perspektive, in diesem Band. 3 Vgl. Ismer/Piotrowski in Vogel/Lehner, 7. Aufl. 2021, Art. 25 OECD-MA Rz. 370 f. zu verschiedenen Ansichten. Dies gilt m.E. auch nach Einführung des § 89a AO (dazu s. unten). Wilmanns/Lappe/Heidecke/Nolden/John, Kommentierung des BMF-Referentenentwurfs des ATAD-Umsetzungsgesetzes – Fokus Verrechnungspreise, IStR 2020, 162 (170) weisen daher m.E. zutreffend darauf hin, dass unter § 89a AO Voraussetzung für APAs bleibt, dass zwischen den beteiligten Staaten ein DBA in Kraft ist, welches eine Art. 25 OECD-MA entsprechende Klausel enthält. 4 Vgl. Seer in DStjG 36 (2013), 337 (351 f.) m.w.N.; Drüen in Tipke/Kruse, § 178a AO Rz. 3 (Aug. 2018). 5 Becker/Kimpel/Oestreicher/Reimer, Verfahrensrecht der Verrechnungspreise, 2017, S. 322; Drüen in Tipke/Kruse, § 178a AO Rz. 13 f. (Aug. 2018); Bier/Voß, IStR 2017, 393 (399); Puscher in FS Wassermeyer, 2015, § 70 Rz. 22. 6 Puscher in FS Wassermeyer, 2015, § 70 Rz. 22. 7 Für APAs zwischen EU-Staaten: Zunahme in 2020 (1.023 Anträge) im Vergleich zu 2019 (927 Anträge), s. EU-Kommission, Directorate-General Taxation and Customs Union, https://taxation-customs.ec.europa.eu/system/files/2021-04/ apas_2019.docx.pdf; https://taxation-customs.ec.europa.eu/system/files/202202/APAs_2020_FINAL.pdf (jeweils abgerufen am 28.11.2022); Statistiken für 2021 zum Stand 28.11.2022 noch nicht verfügbar. Interessant auch der Vergleich mit den USA: Zunahme in 2021 im Vergleich zu den Vorjahren, aber insgesamt in 2021 nur 124 Anträge, s. Martin/Bettge, US: 2021 statistics show an uptick

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sollten diese Instrumente daher – endlich – effizienter werden. Laufende Diskussionen zeigen, dass es zahlreiche Vorteile hat, internationale Doppelbesteuerung noch vor ihrem Entstehen zu vermeiden, statt sie nachträglich zu beseitigen.8 Im Tax Certainty Report für 2019 sprechen OECD und Internationaler Währungsfonds sogar davon, dass sich im internationalen Steuerrecht ein Wandel von der dispute resolution hin zur dispute prevention beobachten lasse.9 Die Bundessteuerberaterkammer hat jüngst unterstrichen, wie wichtig bindende Streitbeilegung und Rechtssicherheit für internationale Steuerfragen ist.10 Der Weg in die Zukunft ist aus meiner Sicht daher die Stärkung und Weiterentwicklung von Streitvermeidungsverfahren zur Steigerung der Effizienz. Da die Hürden für Änderungen am System hoch sind (etwa das Einstimmigkeitsprinzip in der EU), erscheint es nicht zielführend, ganz neue Instrumente einzuführen. Vielmehr ist es aus meiner Sicht lohnenswert, die bestehenden Instrumente zu effektuieren. Sehen wir uns also einige der Verfahren zur dispute prevention und mögliche Effizienzsteigerungen näher an.

2. Streitvermeidung im europäischen und internationalen Steuerrecht Um welche Verfahren geht es? Zuerst sind natürlich APAs zu nennen, die ich bereits erwähnte. Ein weiteres internationales Instrument der Streitvermeidung ist der assurance letter, welcher Verfahren im Rahmen des International Compliance Assurance Program (ICAP) abschließt. Seit Oktober 2021 gibt es zusätzlich ETACA, den European Trust and Cooperation Approach, als europäisches Pendant zu ICAP.11 Ein de facto

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in demand for APAs, International Tax Review (23.5.2022), abrufbar unter https://www.internationaltaxreview.com/article/b1y53g4fzp9stq/us-2021-sta tistics-show-an-uptick-in-demand-for-apas (abgerufen am 28.11.2022). Die Antragszahlen beinhalten jeweils uni-, bi- und multilaterale APAs, da die meisten Staaten keine separaten Statistiken führen. Vgl. u.a. Valente, Advance Pricing Arrangements: Optimal Tool – Optimal Framework?, intertax 2020, 67 (72). IMF/OECD, Tax Certainty Report, 2019, S. 6. BStBK, Vorschläge der Bundessteuerberaterkammer zu den internationalen Aspekten der Modernisierung der Betriebsprüfung vom 14.1.2022 (abrufbar unter https://www.bstbk.de/downloads/bstbk/presse-und-kommunikation/stel lungnahmen/BStBK_2022-002_2022-01-14_Eingabe_Int_Aspekte_BP.pdf (abgerufen am 28.11.2022), nachfolgend auch: „Vorschläge zur Modernisierung der Betriebsprüfung“), S. 3. Näher dazu EU-Kommission, Directorate-General Taxation and Customs Union, https://taxation-customs.ec.europa.eu/eu-cooperative-compliance-pro

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streitvermeidend wirkendes Instrument sind Joint Audits oder auch: koordinierte bzw. grenzüberschreitende Betriebsprüfungen. Diese können sich in der EU auf Art. 11 Abs. 1, 2 bzw. künftig Art. 12a EU-Amtshilferichtlinie12 stützen13 und haben, vor allem in den letzten Jahren und mit Beteiligung der deutschen Finanzverwaltung, große Aufmerksamkeit erfahren. Bei einem Vergleich dieser Instrumente anhand der Kriterien der Verfahrensdauer und der im jeweiligen Verfahren erreichbaren (ggf. grenzüberschreitenden) Rechtssicherheit ergibt sich folgendes Bild:

(MAPs) APAs (TP)

Über 2 Jahre ICAP ETACA

APAs

1 bis 2 Jahre Joint Audits Unter 1 Jahr Keine grenzüberschreitende Rechtssicherheit

„Assurance“

Faktische grenzüberschreitende Rechtssicherheit

Grenzüberschreitende Rechtssicherheit

gramme/european-trust-and-cooperation-approach-etaca-pilot-project-mnes_ en (abgerufen am 28.11.2022); Gmoser, Der European Trust and Cooperation Approach (ETACA). Das Cooperative Compliance-Programm der EU für multinationale Unternehmen, IWB 2022, 143. 12 Richtlinie 2011/16/EU (nachfolgend auch: EU-Amtshilferichtlinie), zuletzt geändert durch Richtlinie 2021/514/EU v. 23.3.2021, ABl. 2021 L 104, S. 1 (insoweit „DAC 7“). 13 Diese Vorschrift reicht allerdings als Rechtsgrundlage nicht aus, sondern darüber hinaus ist eine völkerrechtliche Rechtsgrundlage erforderlich, s. Zimmerl, Joint Tax Audits als Ausgangspunkt zur Effektuierung des Verständigungsverfahrens. Eine Analyse möglicher dogmatischer Entwicklungen unter besonderer Berücksichtigung der deutsch-italienischen Verwaltungszusammenarbeit, 2022, S. 14 ff. zu Art. 11 Abs. 1, 2 EU-Amtshilferichtlinie. Art. 11 Abs. 1, 2 der aktuellen und Art. 12a der neuen Fassung der EU-Amtshilferichtlinie unterscheiden sich in diesem Punkt nicht wesentlich (s. noch unten).

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Dies zeigt, dass MAPs und APAs umfassende grenzüberschreitende Rechtssicherheit bieten, aber in der Regel zwei oder mehr Jahre dauern (im Fall von APAs insbesondere dann, wenn sie Verrechnungspreisfragen betreffen; in der Grafik abgekürzt mit „TP“ für transfer pricing). Deutlich wird auch, dass Joint Audits zwar schnell sind, aber nur eine faktische grenzüberschreitende Rechtssicherheit bieten können (dazu noch 3.b)aa)). Vor allem aber ist zu sehen, dass der ideale Platz rechts unten – ein hohes Maß an grenzüberschreitender Rechtssicherheit in relativ kurzer Zeit – nicht besetzt ist.

3. Verfahrensrahmen der Streitvermeidung Vor der Überlegung, wie dieser Platz vielleicht besetzt werden könnte, sehen wir uns die drei Verfahren – APA, ICAP und Joint Audit – einmal näher an und blicken auch darauf, wie sich diese künftig weiterentwickeln könnten.

a) Rechtssicherheit durch APAs Unter diesen drei Instrumenten gibt es APAs14 bereits am längsten: Soweit ersichtlich, war eine Vereinbarung zu Verrechnungspreismethoden und Gewinnmargen zwischen den irischen Finanzbehörden und Apple aus dem Jahr 1991 das „erste“ APA in der EU.15 Zugleich auch ein viel diskutiertes APA, war es doch viele Jahre später Gegenstand des großen, medienwirksamen Beihilfeverfahrens der EU-Kommission gegen Irland.16 In diesem Fall handelte es sich um ein unilaterales APA, das die Steuerlast von Apple erheblich reduzierte.17

14 Grundlegend zu APAs Seer in Tipke/Kruse, § 89a AO Rz. 1 ff. (Nov. 2022). 15 Valente berichtet über frühere APAs des Internal Revenue Service der USA, beginnend in den 1980er Jahren, s. Valente, intertax 2020, 67 (67 f.). 16 Announcement by the European Commission of October 17, 2014 re. State Aid – Ireland, Document 2014/C 369/04, ABl. EU 2014, C 369/22, CELEX: 52014XC1017(08), Rz. 30 ff. 17 Vielleicht deshalb (vielleicht aber auch aus Versehen) nennt die EU-Kommission das APA in ihrer Stellungnahme ein „advance pricing arrangement“, s. Announcement by the European Commission of October 17, 2014 re. State Aid – Ireland, Document 2014/C 369/04, ABl. EU 2014, C 369/22, CELEX: 52014XC1017(08), Rz. 6.

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aa) Status quo Insbesondere bilaterale APAs sind aber nicht verwerflich,18 sondern ein hilfreiches Instrument, indem sie – theoretisch – Steuerstreitigkeiten vermeiden. Denn nach ihrem Konzept sollen sie Verrechnungspreisfragen insbesondere für Zeiträume klären, welche in der Zukunft liegen,19 und kosten- sowie zeitintensive Betriebsprüfungen bzw. Gerichtsverfahren vermeiden.20 Die praktische Erfahrung zeigt jedoch, wie bereits erwähnt, dass APAs nur in den seltensten Fällen advance agreements sind. Hauptursache dafür ist die lange Verfahrensdauer, die ihrerseits durch die schwierige Ermittlung grenzüberschreitender Sachverhalte und eine zu knappe Personalausstattung bei den beteiligten Finanzverwaltungen zu erklären ist.21 In Deutschland wird das Verfahren zudem erschwert, weil eine Abstimmung zwischen Finanzbehörden auf verschiedenen föderalen Ebenen nötig ist.22 So kann es etwa erforderlich sein, dass das zuständige, lokale Festsetzungsfinanzamt den Sachverhalt aufwändig aufbereitet, bevor der Antrag auf Erteilung eines bilateralen APA vom Bundeszentralamt für Steuern überhaupt bearbeitet wird.23 Neuere Entwicklungen zeigen erfreulicherweise, dass die deutsche Finanzverwaltung bestrebt ist, APAs zu stärken. Mit Einführung des § 89a AO im Juni 2021 besteht nun eine gesetzliche Rechtsgrundlage für die 18 Zur Differenzierung zwischen politisch und rechtlich grds. problematischen, unilateralen APAs und vorteilhaften bilateralen APAs s. Valente, intertax 2020, 67 (70). Die OECD wies bereits in den 1990er Jahren darauf hin, dass bi- und multilaterale APAs vorzugswürdig sind, s. OECD Verrechnungspreisrichtlinien 1995 Rz. 4.163, zitiert nach Sassmann/Lauten in Vögele/Borstell/ Bernhardt, Verrechnungspreise, 5. Aufl. 2020, Rz. 714. Die OECD bekräftigt dies in ihren Verrechnungspreisrichtlinien 2017, Kapitel IV Abschnitt F.5.3 Rz. 4.173. 19 Ismer/Piotrowski in Vogel/Lehner, 7. Aufl. 2021, Art. 25 OECD-MA Rz. 383 m.w.N. Für Deutschland früher BMF v. 5.10.2006, BStBl. I 2006, 594, Tz. 3.8 (zur Zukunftswirkung), Tz. 7.3 (zum roll back) (nachfolgend auch: Merkblatt APA); ausdrücklich nun in § 89a Abs. 6 Sätze 1 und 2 AO n.F. m.W.v. 9.6.2021 (Satz 1 zur Zukunftswirkung, Satz 2 zum roll back). 20 OECD Verrechnungspreisrichtlinien 2017, Kapitel IV Abschnitt F.3 Rz. 4.155. 21 Vgl. Becker/Kimpel/Oestreicher/Reimer, Verfahrensrecht der Verrechnungspreise, 2017, S. 322; Drüen in Tipke/Kruse, § 178a AO Rz. 13 f. (Aug. 2018); Bier/Voß, Transparenz nur gegen Rechtsschutz, IStR 2017, 393 (399); Puscher in FS Wassermeyer, 2015, § 70 Rz. 22. 22 Ausführlich Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 127 ff. 23 Eisgruber, Praxiserfahrungen zu Joint Audits, DStR-Beih. 2013, 89 (89).

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Erteilung von APAs, wobei die neue Vorschrift sowohl unilaterale als auch bilaterale APAs erfasst. Meines Erachtens ist eine nationale, wenn auch gesetzliche, Regelung keine hinreichende Rechtsgrundlage für die Erteilung eines bilateralen APA. Rechtsgrundlage eines APA, welches Bindungswirkung in mehr als einem Staat entfalten soll, bleibt die Art. 25 OECD-MA entsprechende Regelung des jeweils einschlägigen DBA. Dies ist jedenfalls dann so, wenn man der (m.E. zutreffenden) Ansicht folgt, dass ein bilaterales APA im Verhältnis der beteiligten Staaten als völkerrechtlicher Vertrag in Form des Verwaltungsabkommens, und im Verhältnis zum Steuerpflichtigen als öffentlich-rechtlicher Vertrag zwischen dem jeweiligen Festsetzungsfinanzamt und dem Steuerpflichtigen anzusehen ist.24 Es wird allgemein erwartet, dass das BMF sein Merkblatt zu APAs an die neue Rechtslage anpassen wird;25 dies ist bisher noch nicht geschehen.26 Zwar wurden bilaterale APAs bereits zuvor in der deutschen Literatur und Rechtsprechung als zulässig erachtet.27 Im deutschen Verfahrensrecht fand sich mit § 178a AO a.F. jedoch nur eine Gebührennorm.28 Mit Aufnahme des § 89a AO möchte das Bundesfinanzministerium nun seinen Willen zum Abschluss von mehr bilateralen APAs und zu mehr

24 S. näher Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 114 ff. m.w.N. 25 Sassmann/Lauten in Vögele/Borstell/Bernhardt, Verrechnungspreise, 5. Aufl. 2020 (Aktualisierung 6.11.2021), Rz. 764a; Flüchter, Der neue § 89a AO zu Vorabverständigungsverfahren, ISR 2021, 338 (344). 26 Stand 28.11.2022, s. dazu etwa Seer in Tipke/Kruse, § 89a AO Rz. 3 m.w.N. (Nov. 2022). 27 Gestützt auf die Art. 25 Abs. 1, 2 OECD-MA entsprechenden Artikel des betroffenen DBA. Nach den Leitlinien der Europäischen Kommission für Verrechnungspreiszusagen soll dagegen (nur) eine Art. 25 Abs. 3 OECD-MA entsprechende Klausel die Grundlage für APAs in der EU sein, s. EU-Kommission, KOM (2007) 71 final, Anhang „Leitlinien für Verrechnungspreiszusagen (APA) in der Europäischen Union“, Ziff. 1.1 (online unter https://taxation-cus toms.ec.europa.eu/document/download/4426b2cf-0a5a-4c32-ac2f-2734b6 db3f65_de?filename=com%282007 %2971_de.pdf, abgerufen am 28.11.2022). Flüchter interpretiert die Neuregelung in § 89a AO so, dass auch die Bundesregierung nur Art. 25 Abs. 3 OECD-MA als Rechtsgrundlage ansieht, s. Flüchter, ISR 2021, 338 (341). Die herrschende Literatur geht allerdings m.E. zutreffend davon aus, dass eine Art. 25 Abs. 1, 2 OECD-MA entsprechende Klausel als Rechtsgrundlage heranzuziehen ist. Nach dieser vorzugswürdigen Ansicht hat der Steuerpflichtige bei Vorliegen der Voraussetzungen einen Anspruch auf Durchführung eines Vorabverständigungsverfahrens. 28 Erläuterungen bei Drüen in Tipke/Kruse, § 178a AO Rz. 1 ff. (Aug. 2018).

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Rechtssicherheit unterstreichen.29 Zudem entspricht § 89a AO der Forderung einiger Autoren, nicht nur neue internationale Normen zu schaffen, sondern (auch) nationale Vorschriften anzupassen, um das Steuerverfahrensrecht eines Staates mit anderen Rechtsordnungen kompatibler zu gestalten.30 Angesichts möglicher Weiterentwicklungen von APAs möchte ich auf einzelne Aspekte des § 89a AO n.F. näher eingehen:31 Begrüßenswert sind zunächst begriffliche Klärungen und die Ausweitung des Anwendungsbereichs auf alle Fälle drohender Doppelbesteuerung in Abs. 1, Klarstellungen zu Antrag und Verfahren in Abs. 2 ff. sowie die ausdrückliche Nennung des roll back in Abs. 6 Satz 2. Der größere Anwendungsbereich ist eine sehr sinnvolle Regelung. Bisher konnte es der Erteilung eines bilateralen APA entgegenstehen, wenn etwa der andere beteiligte Staat im APA auch über Verrechnungspreise hinausgehende Fragen regeln wollte, da Deutschland insoweit die Rechtsgrundlage fehlte.32 Somit wird § 89a AO die Zahl der für bilaterale APAs passenden und sinnvollen Fälle signifikant erhöhen. Die neue Norm fügt sich damit gut in die Schnittmenge der europäischen Regelungen zu bilateralen APAs ein.33 Hervorzuheben ist aber vor allem § 89a Abs. 7 Satz 7 AO, der auf eine „koordinierte bilaterale oder multilaterale steuerliche Außenprüfung“, d.h. auf ein Joint Audit Bezug nimmt. Zum einen bedeutet dies die ausdrückliche gesetzliche Anerkennung einer zeitlich abgestimmten Durchführung von Joint Audit und APA,34 wenn sie auch (noch) keine Verfahrensverschränkung vorsieht (zu einer solchen, effizienteren Verschränkung s. unten 2.b)aa)). Dies ist wegen des großen praktischen Interesses an einer Zusammenführung gerade dieser beiden Verfahren eine 29 Vgl. Begründung lt. Regierungsentwurf, BT-Drucks. 19/27632, 79. 30 Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 281. 31 Näher zu § 89a AO: Flüchter, ISR 2021, 338; Rasch, Der Zugang zu Vorabverständigungsverfahren, IWB 2020, 514; Wilmanns/Lappe/Heidecke/Nolden/ John, IStR 2020, 162; Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 281 f. 32 Vgl. Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 118 f. 33 Zu dieser Schnittmenge (wenn auch nicht unter diesem Oberbegriff) s. Valente, intertax 2020, 67 (72): „primarily transfer pricing questions as well as questions on PE [permanent establishment] qualification and profit allocation that can arise in cross-border situations.“ 34 Dazu Flüchter, ISR 2021, 338 (344): „Einladung zu Joint Audits“ und Wilmanns/Lappe/Heidecke/Nolden/John, IStR 2020, 162 (170): Forderung nach einer stärkeren Verbindung der Verfahren.

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hervorragende Entwicklung. Zum anderen setzt die Norm mit der Gebührenreduktion einen Reformvorschlag um, der für diese Verfahrenskombination besonders sinnvoll ist.35

bb) Mögliche Zukunft Wegen des großen Bedürfnisses nach grenzüberschreitender Rechtssicherheit wird es bilaterale APAs weiterhin geben – selbst wenn sie so ineffizient bleiben, wie sie derzeit sind. Die Hoffnung der Praxis ist, dass das gesetzgeberische Ziel bei § 89a AO durch mehr Personal und die Bereitschaft zu raschen Verhandlungen und/oder längeren Geltungszeiträumen unterstützt wird, damit APAs wirklich „vorab“ Rechtssicherheit bieten. Tatsächlich ist dies jedoch nur das Minimalziel – würde eine solche Entwicklung doch nur den Zustand herstellen, den APAs schon immer im Namen tragen. Interessant ist, wie sich APAs künftig weiterentwickeln könnten. Vorrangig ist hier die Verschränkung von bilateralen APAs mit Joint Audits zu nennen, dazu sogleich. Daneben wird die Veröffentlichung von (biund multilateralen) APAs diskutiert. Einige fordern, dass es hierzu einen europäischen Konsens geben sollte.36 Zwar kennt das Unionsrecht bereits jetzt einen Informationsaustausch über jegliche Art von ruling.37 Dieser erfolgt allerdings über eine Plattform, zu der nur Finanzverwaltungen Zugang erhalten. Eine Veröffentlichung von APAs könnte demgegenüber einen streitvermeidenden Effekt auch für die Steuerpflichtigen haben, die nicht am konkreten APA beteiligt sind. Ferner könnte so – indirekt und langfristig – eine einheitlichere Praxis der in der EU erteilten APAs erreicht werden. Über die konkrete Gestaltung der Veröffentlichung lässt sich trefflich streiten. Genannt werden verschiedene Wege, von einer Volltextveröffentlichung über eine Zusammenfassung bis hin zu einer standardisierten Liste von inhaltlichen Punkten für jedes erfasste APA. Relevant ist aber vor allem die Frage, ob APAs anonymisiert veröffentlicht werden 35 Vgl. Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 199 f. m.w.N. und s. unten. 36 Vgl. zu § 178a AO a.F. Drüen in Tipke/Kruse, § 178a AO Rz. 3 (Aug. 2018); jetzt Seer in Tipke/Kruse, § 89a AO Rz. 6 (Nov. 2021): „Zu erstreben ist […] ein allg. Teil international konsensfähiger Verständigungspraxis als systematische Grundlage für einzelne APA.“ 37 Art. 8a EU-Amtshilferichtlinie, eingefügt mit Richtlinie 2015/2376/EU, ABl. 2015 L 332, S. 1 (sog. DAC 3), s. dazu Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 128 f.

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können. Für die Anonymisierung lässt sich u.a. anführen, dass so die Steuer-, Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse38 der Betroffenen geschützt werden. Die Niederlande und Belgien haben eine anonymisierte Veröffentlichung bereits getestet und werten sie positiv.39 So könnten Unternehmen, für die ein bilaterales APA zu teuer ist, die aber vor denselben Fragen stehen wie die Steuerpflichtigen, welche ein bilaterales APA erhalten haben, von „fremden“ APAs profitieren.40 Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Inhalt des APA sich verallgemeinern lässt – etwa, weil eine branchentypische Verrechnungspreisfrage oder ein für das Verhältnis von zwei bestimmten Staaten typischer Qualifikationskonflikt geklärt wird. International tätige Unternehmen würden eine anonymisierte, abstrakte Veröffentlichung von APAs wohl begrüßen.41 Um Ungleichheiten zu vermeiden, wäre es sinnvoll, europäische Regelungen zu APAs sowie zu ihrer Veröffentlichung zu entwickeln. So wäre sichergestellt, dass die Voraussetzungen und Standards für APAs in den Mitgliedstaaten angeglichen werden. Denkbar ist zudem, veröffentlichte APAs z.B. nach Branchen und Betriebsgrößen zu systematisieren, um sie als Grundlage für künftige APAs heranzuziehen;42 dies könnte es auch für Finanzverwaltungen erleichtern, konsistente Entscheidungen über neue APA-Anträge zu treffen. Eine weitere Möglichkeit wäre ein sog. „APA Report“ der EU, der in regelmäßigen Abständen über die APA-Praxis der Mitgliedstaaten informiert.43 38 In Deutschland geschützt über Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 GG, einfachgesetzlich im Fall der internationalen Amtshilfe auch in § 117 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AO. Zum Problem sowie zu möglichen Lösungen bei Joint Audits sowie im Fall von Joint Audits, die mit bilateralen APAs verschränkt werden, s. Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 175, 201 m.w.N. 39 Valente, intertax 2020, 67 (72 f.); Bolink, An In-Depth Analysis of Published Anonymized APA and APA Request Summaries Under the Revised Dutch Tax Ruling Practice, intertax 2021, 278 (279, 282). 40 S. auch Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 175 f. und S. 201 m.w.N. 41 Becker/Kimpel/Oestreicher/Reimer, Verfahrensrecht der Verrechnungspreise, 2017, S. 127. In Deutschland hat sich z.B. die Bundessteuerberaterkammer klar für eine anonymisierte Veröffentlichung von APAs (wie auch der Ergebnisse von Joint Audits und MAPs) ausgesprochen, s. BStBK, Vorschläge zur Modernisierung der Betriebsprüfung, 2022, S. 9. 42 Valta, Internationales Steuerrecht, 2014, S. 450 f.; Drüen in Tipke/Kruse, § 178a AO Rz. 3 (Aug. 2018); s. auch Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 118 m.w.N. 43 In Anlehnung an den amerikanischen „IRS-Report“, s. Greil, Seminar D: Advanced Pricing Agreements and International Tax Impacts, IStR 2017, 677 (680); so auch Seer in Tipke/Kruse, § 89a AO Rz. 6 (Nov. 2021). Beschreibung

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b) Faktische Rechtssicherheit durch Joint Audits, grenzüberschreitende Rechtssicherheit bei Effektuierungen von Joint Audits Schon vor über zehn Jahren haben einige vorgeschlagen, dass Joint Audits ein innovativer, effizienter Weg sein könnten, internationale Doppelbesteuerung zu beseitigen.44 Nach ihrem ursprünglichen Konzept dienen sie „nur“ der Sachverhaltsaufklärung und können eine in der Vergangenheit eingetretene Doppelbesteuerung beseitigen. Faktisch scheinen sie aber in der Lage, auch eine künftige internationale Doppelbesteuerung zu vermeiden (prospektive Wirkung, s. unten b)).

aa) Status quo Werfen wir zunächst ein Blick darauf, was Joint Audits ausmacht und welche Entwicklungen es hier in der jüngeren Zeit gegeben hat: Joint Audits sind Außenprüfungen, welche Finanzbeamte zweier Staaten an verschiedenen Standorten des/der Steuerpflichtigen durchführen und in welche der/die Steuerpflichtige/n eng eingebunden ist/sind. Bei einem Joint Audit wird entweder (i) ein Unternehmen mit Hauptsitz im einen und Betriebstätte (z.B. Niederlassung, ständiger Vertreter) im anderen Staat geprüft; hier fände das Joint Audit bei einem Steuerpflichtigen statt und beträfe die „klassische“ internationale juristische Doppelbesteuerung, oder (ii) eine Gesellschaft im einen sowie deren Tochtergesellschaft(en) im anderen Staat geprüft; in dieser Konstellation sog. „verbundener Unternehmen“ (s. § 15 AktG) wären mehrere Steuerpflichtige involviert und die (grenzüberschreitende) wirtschaftliche Doppelbesteuerung betroffen. Deutschland führt seit einigen Jahren Joint Audits auf Basis von §§ 10, 11 EU-Amtshilfegesetz (die nationale Umsetzung von Art. 11 ff. EUAmtshilferichtlinie45) durch. Dabei hat sich eine regionale Aufteilung und Erläuterung der ersten APA-Reports des amerikanischen IRS bei van Herksen, United States. 2003 IRS Report on APAs: A Case for Increased Arbitration Procedures, ITPJ 2003, 173 (174 f.). Weitergehende Reformideen bei Romano, Advance Tax Rulings and Principles of Law, 2002, S. 417 ff.; s. auch Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 118 m.w.N. 44 So bereits Drüen, Rechtsrahmen und Rechtsfragen der multilateralen Betriebsprüfung, DStR-Beih. 2013, 82 (85): Joint Audits als „antizipiertes Verständigungsverfahren“; s. auch Runge, wiedergegeben bei Schaumburg/Piltz, Betriebsprüfung internationaler Sachverhalte, 1998, S. 85. 45 Dazu, sowie zur neuen Fassung der EU-Amtshilferichtlinie (Einfügung von Art. 12a) s. oben.

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ergeben, wonach Finanzämter eines Bundeslandes typischerweise mit den Finanzbehörden des jeweils benachbarten EU-Mitgliedstaates zusammenarbeiten. Insbesondere finden Joint Audits von Nordrhein-Westfalen mit den Niederlanden sowie von Bayern mit Italien und Österreich seit einigen Jahren erfolgreich statt.46 In einem vereinfachten Fall könnte dies wie folgt aussehen: Eine deutsche Gesellschaft, ScarpAlpi AG, stellt Trekkingschuhe her und hat ihren satzungsmäßigen Sitz und Ort der Geschäftsleitung in München. Die ScarpAlpi AG hält 100 % der Anteile ihrer italienischen Tochtergesellschaft Scarpetta s.r.l., einer società a responsabilità limitata (italienische Entsprechung zur GmbH) mit Sitz und Ort der Geschäftsleitung in Verona. Scarpetta s.r.l. ist auf Sportmarketing spezialisiert und wurde vor einigen Jahren von der ScarpAlpi AG gekauft. Beide Unternehmen stehen in ständigem Austausch von Dienstleistungen, Waren und Zahlungen. Scarpetta s.r.l. erbringt Marketing- und Vertriebsdienstleistungen für die ScarpAlpi AG, und ScarpAlpi AG stellt der Scarpetta s.r.l. Lizenzgebühren in Rechnung, z.B. für die Verwendung des Namens und des Emblems „ScarpAlpi“, welches auf allen Schuhen und Werbeartikeln aufgedruckt ist.

Schon bei einem derart simplen Fall stellen sich einige Fragen des internationalen Steuerrechts: Aus Sicht des Unternehmens ist die steuerliche Verrechnung von Gewinnen und Verlusten über die Grenze erschwert, es gibt keine europäische Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage, häufig entsteht internationale Doppelbesteuerung. Aus Sicht der Finanzverwaltungen sind Außenprüfungen grundsätzlich nur auf dem jeweils eigenen Staatsgebiet möglich (sog. Grundsatz formeller Territorialität), so dass die Prüfer immer nur einen Ausschnitt des Sachverhalts sehen werden. Das Welteinkommensprinzip (§ 1 EStG, §§ 1 und 8 KStG) und der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 88 AO) halten sie aber dazu an, den ganzen Sachverhalt zu ermitteln und zu berücksichtigen. Hier bieten Joint Audits eine Lösung: In unserem Beispiel könnte ein solches „bayerisch-italienisches Joint Audit“ etwa wie folgt aussehen: Die deutsche und italienische Finanzverwaltung würden zunächst eine zwischenstaatliche Vereinbarung (aus deutscher Sicht: ein Verwaltungsabkommen i.S.d. Art. 59 Abs. 2 GG) schließen, wie es Art. 11 Abs. 1, 2

46 Für die Kooperation mit Italien und den Niederlanden s. Draft-Report des Joint Transfer Pricing Forum v. 26.6.2018, s. JTPF/008/2018/EN, S. 6 f.; bzgl. Österreich s. Spensberger/Steiner in Schmidt/Oertel, ITAF Munich 2014, S. 128 f.; Spensberger/Steiner, Grenzüberschreitende Betriebsprüfungen – Praktische Erfahrungen mit Österreich, ISR 2015, 156 (159).

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bzw. künftig Art. 12a Abs. 2 EU-Amtshilferichtlinie und die jeweiligen nationalen Umsetzungsgesetze vorsehen.47 In der Folge würden das Finanzamt München und die Agenzia delle Entrate di Verona ein Team aus Steuerbeamten beider Staaten zusammenstellen, um die verbundenen Unternehmen im Wege eines Joint Audit zu prüfen. Natürlich müssten noch die weiteren Anforderungen des europäischen Rechts und der beiden Jurisdiktionen erfüllt sein. Dies setzt u.a. voraus, dass die Durchführung einer gemeinsamen Prüfung notwendig ist, dass eine Prüfung des jeweiligen Falles noch möglich ist – z.B. dass die geprüften Jahre noch nicht verjährt sind – und dass die ScarpAlpi AG vor der ersten Prüfungshandlung angehört wurde.48 Wenn und soweit diese Voraussetzungen erfüllt sind, könnte das gemischte Team von Steuerbeamten in München und Verona Prüfungshandlungen vornehmen, Unterlagen einsehen und sich untereinander sowie mit Mitarbeitern der ScarpAlpi AG und Scarpetta s.r.l. austauschen. In der Regel würde es zu mehreren Ortsterminen an den beiden Unternehmensstandorten und direkten Besprechungen zwischen den deutschen und italienischen Prüfern kommen, jeweils mit einer engen Einbeziehung des/der Steuerpflichtigen.49 Am Ende der Prüfung würden die Finanzbehörden einen gemeinsamen Bericht verfassen, der den Sachverhalt und dessen rechtliche Beurteilung aus deutscher und italienischer Sicht (i.d.R. auf Englisch) zusammenfasst, sog. Joint Audit Bericht oder Report.50 Soweit die Behörden nicht zu einer übereinstimmenden Auffassung gelangen, würde der Joint Audit Report angeben, welche Punkte nicht geklärt werden konnten oder in Bezug auf welche Punkte die Staaten unterschiedlicher Rechts-

47 Art. 12a Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 EU-Amtshilferichtlinie lautet: „Gemeinsame Prüfungen werden von den zuständigen Behörden der ersuchenden und der ersuchten Mitgliedstaaten in zuvor vereinbarter und koordinierter Weise […] durchgeführt.“ und ist bis zum 31.12.2023 von den EU-Mitgliedstaaten umzusetzen. Die bis zur Umsetzung des Art. 12a als Rechtsgrundlage für Joint Audits genutzten Art. 11 Abs. 1, 2 EU-Amtshilferichtlinie a.F. enthalten ebenfalls die Formulierung „können vereinbaren“ bzw. „kann die in Absatz 1 genannte Vereinbarung vorsehen […]“ (Hervorhebungen von der Verfasserin). 48 Zu diesen Voraussetzungen s. Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 53 ff. m.w.N. Im deutschen Recht folgt das Anhörungserfordernis aus § 117 Abs. 4 Satz 3 i.V.m. § 91 AO. 49 Dies sind zugleich Anzeichen dafür, dass es sich bei Joint Audits nicht um einen reinen Informationsaustausch, sondern um ein eigenständiges Instrument handelt, s. dazu Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 7 ff. m.w.N. 50 Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 67 m.w.N.

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auffassungen sind. Idealerweise kommt es in diesem Zusammenhang zu einer Einigung der Behörden. Dafür gibt es keine Garantie. Bisher konnte jedoch in der weit überwiegenden Zahl der Joint Audits eine Einigung über die Aufteilung der Steueransprüche erreicht werden, d.h. eine zuvor vorliegende Doppelbesteuerung wurde beseitigt. Während einige Staaten weitreichende Erfahrungen mit Joint Audits gemacht haben51 und das Verfahren im März 2021 durch die DAC 7 einen echten „booster“ erhalten hat, bleiben Joint Audits ein neuer Ansatz zur grenzüberschreitenden Sachverhaltsermittlung und verbleiben Unsicherheiten bzgl. ihrer Rechtsgrundlage und Verfahrensregeln. Joint Audits können internationale Doppelbesteuerung beseitigen. Faktisch und basierend auf Vertrauen, ist der Joint Audit Report zudem in der Lage, Steuerstreitigkeiten für die Zukunft zu vermeiden.52 Denn haben sich die beiden beteiligten Finanzverwaltungen auf eine bestimmte rechtliche Behandlung des gemeinsam ermittelten Sachverhalts geeinigt, ist es unwahrscheinlich, dass sie diesen Sachverhalt künftig anders bewerten (das Fehlen größerer Änderungen einmal vorausgesetzt). Jedoch entfaltet der Joint Audit Report nach derzeit geltendem Recht keine rechtliche Bindungswirkung53 und kann daher keine volle Rechtssicherheit gewähren. Grenzüberschreitende Rechtssicherheit wäre mit Joint Audits erst erreichbar, wenn man den Joint Audit Report in ein rechtlich bindendes Dokument verwandeln könnte. Dafür bieten sich zwei „Modelle“ an:

51 Fallzahlen, insbesondere zu Joint Audits in der EU, s. Schreiber/Schäffkes/ Fechner, Neue Urteile zur koordinierten Betriebsprüfung mit dem Ausland, DB 2018, 1624 (1630); Becker/Zimmerl, Joint Audits in-between the German and Italian legal systems, Rivista di Diritto Finanziario e Scienza delle Finanze 2/2018, 223 (231); Criclivaia, Joint Audits: Ein Überblick über die Literatur, HFSt (15) 2021, 165 (170); Braun/Eisgruber/Greil/Schmitz, Joint audits: The German experience, International Tax Review (3.9.2020), abrufbar unter https://www.internationaltaxreview.com/article/2a6a4ynkdzu2frgofzqio/ joint-audits-the-german-experience (abgerufen am 28.11.2022). 52 Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 76 ff. m.w.N.; ebenso z.B. Gmoser, IWB 2022, 143 (144) und BStBK, Vorschläge zur Modernisierung der Betriebsprüfung, 2022. 53 Zur Rechtsnatur Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 67 f. m.w.N.; für eine rein faktische Wirkung s. etwa Eisgruber/Oertel, Joint Audit: Zum „Merkblatt über koordinierte steuerliche Außenprüfungen mit Steuerverwaltungen anderer Staaten und Gebiete“ vom 6.1.2017, ISR 2017, 270 (276).

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bb) Mögliche Zukunft (1) Verschränkung von Joint Audit und bilateralem APA Zum einen könnte man ein Joint Audit und ein bilaterales APA miteinander verschränken. In der Literatur wird seit einiger Zeit betont, dass eine Verbindung oder Koordination der beiden Verfahren vorteilhaft sein könnte.54 Auch die OECD hat darauf bereits hingewiesen.55 Ich möchte dafür plädieren, nicht beide Verfahren in vollem Umfang durchzuführen, sondern sie miteinander zu verschränken. Dafür könnten die Außenprüfungen, die üblicherweise nach Erteilung eines bilateralen APA nötig sind, „als“ Joint Audit durchgeführt werden, oder – die deutlich effizientere Variante – die im Rahmen eines Joint Audits ermittelten Tatsachen könnten als Sachverhaltsbeschreibung in das bilaterale APA übernommen werden. In der zweiten Variante ließe sich die Geltungsdauer des APA durch ein roll back auf den Prüfungszeitraum des Joint Audit erstrecken. Bei entsprechender Formulierung der critical assumptions und rascher Verhandlung ist eine echte Zukunftswirkung möglich. Im Beispielsfall von oben könnten ScarpAlpi AG und Scarpetta s.r.l. zu Beginn des Joint Audits Anträge auf Erteilung eines bilateralen APA in beiden Staaten stellen und die Behörden um eine zeitliche und inhaltliche Abstimmung der beiden Verfahren bitten.56 Bei einer solchen Verfahrensverschränkung lassen sich grenzüberschreitende Sachverhalte leichter und schneller ermitteln. Zudem kann – im Fall einer Einigung der beteiligten Staaten – eine Doppelbesteuerung für die Zukunft rechtlich bindend vermieden werden. Dies verwandelt das Joint Audit in ein Instrument der dispute prevention und bietet grenzüberschreitende Rechtssicherheit. 54 Siehe etwa Criclivaia in HFSt (15) 2021, 165 (177); Wilmanns/Lappe/Heidecke/Nolden/John, IStR 2020, 162 (170); Strohm, Tagungsbericht International Tax Audit Forum Munich 2018, ISR 2019, 197 (205). Früher bereits Peters/ Kircher/Moll, Grenzüberschreitende gemeinsame Betriebsprüfung, IStR 2016, 2 (9); Bödefeld wiedergegeben bei Jehlin/Löcherbach, Tagungsbericht zum 18. Münchner Unternehmenssteuerforum, DStR-Beih. 2016, 1 (7). Ähnlich Schwab, Die begleitende Kontrolle (Horizontal Monitoring), ein Statement, FR 2020, 946 (947): Vorschlag, APA-Verfahren zu verkürzen oder zu vereinfachen, wenn das APA nach Abschluss eines Joint Audit erteilt werden soll. 55 Erteilung eines bilateralen APA als ein möglicher Schritt nach Abschluss eines Joint Audit, s. OECD, Implementation Package, 2019, S. 17, 35. 56 Nach derzeit geltendem Recht können Steuerpflichtige ein Joint Audit nicht beantragen (dazu sogleich); dies gilt erst recht für eine Verschränkung der Verfahren.

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Außerdem können Nachteile, die bei isolierter Durchführung der beiden Verfahren entstehen, verringert oder ganz ausgeschlossen werden: (i) Die lange Dauer des APA-Verfahrens wird erheblich reduziert, indem die Beteiligten auf den Joint Audit Report zurückgreifen;57 (ii) die Preisgabe sensibler Daten und ggf. Geschäftsgeheimnisse während des Joint Audits wird durch die erreichte Rechtssicherheit kompensiert;58 (iii) de facto wird es eher zu einer Einigung der beteiligten Finanzverwaltungen und einer engen Kooperation mit dem/den Steuerpflichtigen kommen,59 weil auch die Finanzverwaltungen ein Interesse an langfristigen Lösungen haben. Ferner reduziert sich nach § 89a Abs. 7 Satz 7 AO in Deutschland die Gebühr für das bilaterale APA um 75 % (s. oben a)aa)). Die OECD hatte im Joint Audit Report 2019 noch ausgeführt, dass die nach einem Joint Audit nur mit einem bilateralen APA erreichbare rechtliche Bindung an das erzielte Ergebnis als zu teuer wahrgenommen wird.60 Positiv ist schließlich, dass Joint Audit und bilaterales APA schon nach geltendem Recht miteinander verschränkt werden können, was auch bereits einige EU-Mitgliedstaaten erprobt haben. Ein Defizit bleibt, dass Steuerpflichtige ein Joint Audit nicht beantragen, sondern nur anregen können; auch dies könnte durch § 89a Abs. 7 Satz 7 AO aber ggf. künftig einfacher werden.61

(2) Internationaler Verwaltungsvertrag Zum anderen ist denkbar, ein neues Rechtsinstitut einzuführen, um den bisher unverbindlichen Joint Audit Bericht in ein bindendes Dokument zu verwandeln. Dafür könnte ein Vertrag zwischen Finanzverwaltungen und dem/den Steuerpflichtigen abgeschlossen werden, der auf 57 Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 193; Greil, APA – Instrument für Rechtssicherheit?, 2016, S. 86. 58 Siehe etwa Valente, intertax 2020, 67 m.w.N. sowie Naumann/Varley, Joint audits, ICAP, and the role of risk assessment, International Tax Review (14.2.2019), abrufbar unter https://www.internationaltaxreview.com/article/ 2a68tki8emqv7fjkjppfk/joint-audits-icap-and-the-role-of-risk-assessment (abgerufen am 28.11.2022). 59 Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 193; Peters/Kircher/Moll, IStR 2016, 2 (6). 60 OECD, Joint Audit Report, 2019, S. 27. 61 Vereinzelt wird sogar vorgeschlagen, in Anlehnung an § 89a AO ein Antragsrecht für Joint Audits zu kodifizieren, s. etwa den Formulierungsvorschlag der BStBK, Vorschläge zur Modernisierung der Betriebsprüfung, 2022, S. 6.

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dem Joint Audit Bericht basiert. Mein Vorschlag ist, dafür einen neuen Vertragstyp einzuführen, der aus Elementen öffentlich-rechtlicher Verträge besteht, so etwa im deutschen und italienischen Recht konkret die tatsächliche Verständigung und der accordo preventivo, sowie Elemente von völkerrechtlichen Verträgen enthält. Dieser neue Vertragstyp könnte als „internationaler Verwaltungsvertrag“ bezeichnet werden. Neben der so möglichen Bindung von Finanzbehörde und Steuerpflichtigen kann ein solcher „internationaler Verwaltungsvertrag“ auch grenzüberschreitende Rechtssicherheit bieten: Alle Sachverhalte, die im Joint Audit geprüft wurden, sowie ihre rechtliche Würdigung aus der Perspektive der beteiligten Staaten – z.B. des deutschen und des italienischen Rechts – könnten in ein einziges Vertragsdokument zusammengeführt werden. Zugegebenermaßen kann ein solcher Vertrag nach geltendem Recht nicht abgeschlossen werden. Dafür müsste man zunächst die Rechtsfigur der beschränkten Völkerrechtsfähigkeit, vor allem vertreten von Böckstiegel62, für grenzüberschreitend tätige Unternehmen anerkennen und es wäre nötig, eine Rechtsgrundlage in den beiden beteiligten Jurisdiktionen einzuführen.63 Auf dieser Basis kann eine maßgeschneiderte Bindungswirkung, wie sie im Fall des „internationalen Verwaltungsvertrags“ eintritt, dogmatisch auf Basis existierender Instrumente entworfen und umgesetzt werden, ohne deutsches, italienisches, europäisches oder internationales Recht zu verletzen. Statt die klassischen Regeln der Rechtsvergleichung anzuwenden, d.h. Vorschriften von zwei oder mehr Rechtsordnungen zu beschreiben und miteinander zu vergleichen, habe ich versucht, Überschneidungen, Schnittmengen – aber auch gemeinsame Grenzen oder Anforderungen zu finden, die das italienische und deutsche System teilen. So lässt sich ein Instrument entwerfen, das im Einklang mit beiden Rechtsordnungen sowie mit dem europäischen und internationalen Recht umsetzbar ist: Mit tatsächlicher Verständigung und accordo preventivo kennen beide Systeme Rechtsinstitute für eine Bindung von Finanzbehörden und Steu62 Böckstiegel, Der Staat als Vertragspartner ausländischer Privatunternehmen, 1971, S. 310 ff.; s. auch Mosler, Die Erweiterung des Kreises der Völkerrechtssubjekte, ZaöRV 1962, 1 (1 ff.). 63 Ausführlich zu den Argumenten, weshalb eine beschränkte Völkerrechtsfähigkeit von international tätigen Unternehmen anzuerkennen ist, Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 228 ff. m.w.N.

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erpflichtigen.64 Sie sind m.E. als öffentlich-rechtliche Verträge auf dem Gebiet des Steuerrechts anzusehen.65 In Italien ist dies unbestritten, in Deutschland spricht dafür aus meiner Sicht die Bindung beider Seiten. Dies erkennt letztlich auch die Rechtsprechung an, die dies lediglich als „Treu und Glauben“ bzw. „Bindung aus sich selbst heraus“ bezeichnet.66 Dies ist nichts anderes als die Umschreibung einer synallagmatischen Bindung. Für die Zulässigkeit von Verträgen zwischen Finanzverwaltung und Steuerpflichtigen lässt sich im internationalen Kontext anführen, dass bei komplexen grenzüberschreitenden Sachverhalten, vor allem für Verrechnungspreise, nicht „das eine richtige steuerliche Ergebnis“ existiert, sondern stets ein Spektrum von jeweils richtigen Lösungen. In diesem Spektrum kooperativ zu handeln und zu vereinbaren, welches dieser Ergebnisse gelten soll, ist ein effizienter Weg, den Unsicherheiten im internationalen Steuerrecht zu begegnen.67 Außerdem erkennen beide Rechtsordnungen mit dem bilateralen APA auf Basis von Art. 25 Abs. 1, 2 OECD-MA die Wirksamkeit eines völkerrechtlichen Vertrags auf dem Gebiet des Steuerrechts an. Wir sehen also – wie in einer Art Baukasten – sowohl nationale wie internationale Rechtsinstitute, die anerkannt sind. Diese werden im Fall des „internationalen Verwaltungsvertrags“ lediglich neu miteinander kombiniert. Den „internationalen Verwaltungsvertrag“ als Instrument einzuführen und einen solchen Vertrag am Ende eines Joint Audits abzuschließen, hätte viele Vorteile. Die Bindungswirkung eines solchen Vertrags würde alle Beteiligten des Joint Audit erfassen und die Bindung würde zeitlich, inhaltlich und territorial sehr weit reichen: Neben dem Sachverhalt und 64 Hierzu sowie im Folgenden s. Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 203 ff. m.w.N. 65 Ebenso die herrschende Literatur, s. Schick, Vergleiche und sonstige Vereinbarungen zwischen Staat und Bürger im Steuerrecht, 1967, S. 27 ff.; Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, 1996, S. 80 ff.; Eich, Die tatsächliche Verständigung im Steuerverfahren und Steuerstrafverfahren. Zulässigkeit, Rechtsnatur, Auswirkungen, Strategien, 1992, S. 19 ff.; Englisch, Bindende „tatsächliche“ und „rechtliche“ Verständigungen zwischen Finanzamt und Steuerpflichtigen, 2004, S. 31 ff.; im Übrigen statt vieler Seer in Tipke/Kruse, Vor § 118 AO Rz. 15 m.w.N. (Aug. 2021). 66 Unter anderem BFH v. 11.12.1984 – VIII R 131/76, BStBl. II 1985, 354 (358). 67 Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, 1996, S. 168 ff.; Seer in Tipke/ Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Rz. 21.146; für den „internationalen Verwaltungsvertrag“ s. Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 215 ff.

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dessen rechtlicher Würdigung aus Sicht beider Staaten könnten zudem critical assumptions – wie bei einem bilateralen APA – aufgenommen werden, um die Regelungen des Vertrags auch in künftigen Jahren anzuwenden.68 Manche weisen darauf hin, dass das Ergebnis eines Joint Audit nicht bindend sein könne (oder dürfe), weil sonst ein Konflikt mit den nationalen Steuerbescheiden entstünde. Dem möchte ich entgegenhalten, dass der Joint Audit Bericht und der „internationale Verwaltungsvertrag“ jeweils nur verwaltungsaktvorbereitend wirken – wie auch der Prüfbericht i.S.d. § 202 AO bei einer rein nationalen Außenprüfung. Ein verwaltungsaktvorbereitender Vertrag ist im Übrigen eine der traditionellen Formen des öffentlich-rechtlichen Vertrags. Ein weiterer Vorteil des „internationalen Verwaltungsvertrags“ wäre es, dass den Beteiligten im Anschluss weitreichende Rechtschutzmöglichkeiten zur Verfügung stehen würden.69 Wie bereits erwähnt, müsste eine Rechtsgrundlage für den „internationalen Verwaltungsvertrag“ geschaffen werden. Die Formulierung selbst ist nicht schwierig70 und könnte z.B. in einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen Deutschland und dem jeweiligen anderen Staat aufgenommen werden.71 Möglich wäre auch, Art. 12a EU-Amtshilferichtlinie zu erweitern; sie erwähnt derzeit den Joint Audit Bericht,72 trifft aber keine Regelung zu seiner Rechtsnatur. Beides – eine Klarstellung zur Rechtsnatur, sowie die Möglichkeit, auf Basis des Joint Audit Berichts einen „internationalen Verwaltungsvertrag“ abzuschließen – könnte gemeinsam in die Richtlinie aufgenommen werden. Die Zukunft wird zeigen, ob einzelne Staaten so weit gehen möchten oder ob sich sogar alle EU-Mitgliedstaaten auf solche Regelungen einigen können. Das Ergebnis meiner Analyse ist, dass grenzüberschreitende Rechtssicherheit durch Verträge im

68 Denkbar wäre, in die Rechtsgrundlage für Einführung eines „internationalen Verwaltungsvertrags“ auch eine clausula rebus sic stantibus mit Anpassungsrecht aufzunehmen, wie wir sie für deutsche öffentlich-rechtliche Verträge in § 60 Abs. 1 Satz 1 VwVfG kennen. 69 Dazu näher Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 224 ff. m.w.N. Allerdings würde sich hier auswirken, dass es keinen „Internationalen Steuergerichtshof“ gibt. 70 Für einen Vorschlag s. Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 236 f. 71 Dies wäre m.E. als völkerrechtlicher Vertrag in Form eines Verwaltungsabkommens möglich, s. Zimmerl, Joint Tax Audits, 2022, S. 238 f. m.w.N. 72 Vgl. Art. 12a Abs. 4 Sätze 2 und 3, und Art. 12a Abs. 5 EU-Amtshilferichtlinie.

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Einklang mit nationalem, europäischem und internationalem Recht möglich und im Interesse effizienter Verfahren auch erstrebenswert ist.

c) Assurance durch ICAP und ETACA Zuletzt möchte ich auf zwei weitere Verfahren eingehen, die von internationalen Organisationen vorangetrieben werden und das Potential haben, das internationale Steuerrecht der Zukunft zu beeinflussen.

d) ICAP Ein solches Potential hat zunächst das International Compliance Assurance Program (ICAP) der OECD. ICAP bietet Lösungen für grenzüberschreitend tätige Unternehmen: Sie können in einem einzigen Verfahren sog. assurance letter von einer großen Zahl an Finanzbehörden erhalten. Nach mehreren Pilotphasen73 nehmen aktuell 22 Jurisdiktionen in- und außerhalb der EU an ICAP teil, z.B. Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande, USA, Japan und Großbritannien.74 Das Verfahren steht vor allem großen, international tätigen Unternehmen offen, welche zur Abgabe länderbezogener Berichte verpflichtet sind (sog. Country-by-Country Reporting, § 138a AO).75 Mittelfristig soll es jährlich zwei Stichtage für Unternehmen geben, sich für eine Teilnahme an ICAP zu bewerben (31. März und 30. September).76 ICAP bietet pragmatische Lösungen vor allem für solche Unternehmen, die (auch) außerhalb der EU tätig sind. Denn ICAP kann viele Steuerbehörden an einen Tisch bringen – auch solche, die grundsätzlich weni73 OECD, International Compliance Assurance Programme Pilot Handbook, 2018, www.oecd.org/tax/forum-on-tax-administration/publications-andproducts/international-compliance-assurance-programme-pilot-handbook.pdf und www.oecd.org/tax/forum-on-tax-administration/international-compli ance-assurance-programme.htm (jeweils abgerufen am 28.11.2022). 74 Aktuelle Liste der Teilnehmerstaaten auf der Website der OECD, s. https:// www.oecd.org/tax/forum-on-tax-administration/international-complianceassurance-programme.htm (abgerufen am 28.11.2022). 75 OECD, International Compliance Assurance Programme. Handbook for tax administrations and MNE groups, 2021 (nachfolgend auch: ICAP Handbuch), S. 11. Dazu Greil, Status quo und Zukunft der internationalen Verwaltungszusammenarbeit im Bereich der Unternehmensbesteuerung, IStR 2022, 373 (375). 76 Weitere Informationen unter https://www.oecd.org/tax/forum-on-tax-admin istration/international-compliance-assurance-programme.htm (abgerufen am 28.11.2022).

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ger kooperativ sind als die europäischen Steuerbehörden – und ist damit tatsächlich multilateral.77 Die Steuerbehörden prüfen sodann, ob das Unternehmen im Hinblick auf steuerliche compliance ein niedriges Risikoprofil aufweist oder nicht. Der assurance letter als abschließendes Dokument enthält diese Aussage zum Risikoprofil. In der Praxis wird ein assurance letter mit einem niedrigen Risikoprofil zwar in der Regel ausschließen, dass eine Betriebsprüfung bei diesen/m Steuerpflichtigen stattfindet – zumindest für eine gewisse Zeit. Die Bindungswirkung des assurance letter ist allerdings schwach, vor allem deutlich geringer als die eines APA.78 Zudem enthält das ICAP Handbuch der OECD aus 2021 keine Ausführungen zur Rechtsnatur, dogmatischen Konstruktion oder gar zur Bindungswirkung eines assurance letter.79 Vielmehr führt die OECD selbst aus, dass Unternehmen, welche Rechtssicherheit anstreben, erwägen sollten, andere Instrumente (z.B. APAs) zu wählen.80 Vor allem aber soll das Unternehmen bei ICAP nicht ein konsolidiertes Dokument erhalten (wie im Fall eines Joint Audit den gemeinsamen Joint Audit Report), sondern jeweils einen assurance letter von jeder beteiligten Jurisdiktion.81 Die bisher im Rahmen von ICAP gesammelten Erfahrungen unterstreichen die Vorteile einer Kooperation, aber auch den Wunsch nach rechtssicheren Lösungen. Mit Blick auf den assurance letter bei ICAP möchte ich betonen, dass künftig Verfahren geschaffen oder so angepasst werden sollten, dass sie mit einem (grenzüberschreitend) rechtlich bindenden Dokument abschließen.82

77 Als weiterer Vorteil wird genannt, dass ICAP einen „globalen Vorprüfungsstandard für Ertragsteuern“ etablieren und damit die Intensität von Außenprüfungen reduzieren könnte, s. BStBK, Vorschläge zur Modernisierung der Betriebsprüfung, 2022, S. 15. 78 Prinz/Ludwig, ICAP-Pilotprojekt der OECD – Ein neuer internationaler Betriebsprüfungsansatz, DB 2018, 477 (477 f.). 79 OECD, ICAP Handbuch, S. 28 ff. 80 OECD, ICAP Handbuch, S. 30. 81 OECD, ICAP Handbuch, S. 28. 82 Dazu insgesamt Zimmerl, EC Tax Review 2022/6, 300 (310 f.); für Regelungen über die Rechtsnatur des assurance letter bei ICAP auch Greil, IStR 2022, 373 (376).

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e) ETACA Als europäisches Pendant zu ICAP wurde im Juli 2020 der sog. European Trust and Cooperation Approach vorgestellt.83 Mit ETACA soll – nach Aussage der EU-Kommission – die Einhaltung von Steuervorschriften auf der Grundlage von mehr Zusammenarbeit, Vertrauen und Transparenz zwischen Steuerpflichtigen und Finanzverwaltungen sowie den Finanzverwaltungen untereinander, erleichtert und gefördert werden.84 ETACA ist, wie auch ICAP, ein Risikobewertungsprogramm, welches assurance, d.h. eine Vorstufe von bzw. bestenfalls faktische Rechtssicherheit bieten soll.85 Voraussetzungen und Folgen einer Teilnahme an ETACA hat die EUKommission in den unverbindlichen ETACA Guidelines zusammengefasst; das Programm ist daher dem soft law zuzuordnen.86 Erste Fälle sollten im März 2022 starten, deren Abschlussphase nach den Zeitplänen der EU Ende September bzw. Anfang Oktober 2022 begonnen haben könnte.87 Das Programm steht – wie ICAP – grds. nur größeren Unternehmen offen, die zum Country-by-Country Reporting verpflichtet sind88 und deren Obergesellschaft (ultimate parent entity) ihren Sitz in der EU hat.89 Derzeit bereitet die EU-Kommission ein ähnliches Programm für kleine und mittlere Unternehmen90 vor, das an den cross-border dialogue der finnischen Finanzverwaltung (dazu noch unten 4) angelehnt sein soll.91 Wie auch ICAP ist ETACA ein Verfahren zur Risikobewertung, fokussiert auf Verrechnungspreisthemen.92 Am Ende des Verfahrens erhält das steuerpflichtige Unternehmen von jeder beteiligten Jurisdiktion einen outcome letter mit einer Aussage dazu, ob die erfasste/n Transakti-

83 Vgl. Website der EU-Kommission, https://taxation-customs.ec.europa.eu/eu-co operative-compliance-programme/european-trust-and-cooperation-approachetaca-pilot-project-mnes_en (abgerufen am 28.11.2022). 84 EU-Kommission, Guidelines European Trust and Cooperation Approach (ETACA) (nachfolgend auch: ETACA Guidelines), S. 2. 85 Dazu Greil, IStR 2022, 373 (376); Gmoser, IWB 2022, 143 (143, 146). 86 Gmoser, IWB 2022, 143 (146). 87 Gmoser, IWB 2022, 143 (143, 150). 88 In der Terminologie der EU: MNE, multinational enterprises. 89 Einzelheiten bei EU-Kommission, ETACA Guidelines, S. 4 f. 90 In der Terminologie der EU: SME, small and medium-sized enterprises. 91 Greil, IStR 2022, 373 (375); Gmoser, IWB 2022, 143 (147). 92 Gmoser, IWB 2022, 143 (146).

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on/en risikoarm ist/sind oder nicht.93 Als Folge der Einstufung als risikoarm soll es laut EU-Kommission „unwahrscheinlich“ sein, dass die Finanzverwaltungen diese Transaktion einer (Außen-)Prüfung unterwerfen.94 Die von der EU-Kommission angestrebte Verfahrensdauer von sieben bis acht Monaten95 ist ambitioniert. Ein Blick auf weitere Charakteristika von ETACA offenbart m.E. Raum für künftige Erweiterungen und Verbesserungen: Die EU-Kommission schränkt den materiellen Anwendungsbereich des Programms auf konzerninterne Routinetransaktionen ein, die sie als in der Regel weniger komplex und risikoreich einstuft; beispielhaft nennt sie risikoarme Vertriebstätigkeiten, Auftragsfertigungstätigkeiten und konzerninterne Dienstleistungen mit geringer Wertschöpfung.96 Dies lässt vermuten, dass damit von vornherein nur solche Transaktionen in das ETACA Programm aufgenommen werden, die als „low risk“ einzuordnen sind. Der durch das Verfahren erreichbare outcome letter mit einer Einstufung als „low risk“ könnte damit zur self fulfilling prophecy werden. Zumindest scheint fraglich, ob ein grenzüberschreitend tätiges Unternehmen, wenn es eine solche für ETACA taugliche, risikoarme Transaktion identifiziert hat, überhaupt noch einen outcome letter dieses Inhalts benötigt. Denn eine Teilnahme am Verfahren ist mit Zeitund Personalaufwand verbunden – welcher sich ggf. nicht lohnt, wenn der outcome letter nur ein schon vorher bekanntes Ergebnis enthält. Für nicht-risikoarme Transaktionen soll ETACA nur „im Einzelfall“ möglich sein.97 Denkbar ist, dass diese Vorgaben nur so lange gelten, wie sich ETACA in der „Testphase“ befindet, und dass später auch andere Transaktionen erfasst werden könnten – dies wäre zumindest wünschenswert.

93 EU-Kommission, ETACA Guidelines, S. 14 f.; Gmoser, IWB 2022, 143 (146). Die ETACA Guidelines enthalten in Annex 6 ein Muster für einen solchen outcome letter. 94 EU-Kommission, ETACA Guidelines, S. 4: „Rather, the Programme is intended to give assurance such that when the available information and the risk assessment lead to the conclusion that the covered transactions can be considered to be low-risk, it is unlikely that plans and resources will be dedicated to high intensity local tax audits of such transaction.“ 95 Gmoser, IWB 2022, 143 (146). 96 EU-Kommission, ETACA Guidelines, S. 5; dazu Gmoser, IWB 2022, 143 (148). 97 EU-Kommission, ETACA Guidelines, S. 5; dazu Gmoser, IWB 2022, 143 (149).

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Zu beachten ist, dass der o.g. Vorteil von ICAP, auch Jurisdiktionen außerhalb der EU einzubeziehen, bei ETACA gerade fehlt. Andererseits nehmen wiederum nicht alle EU-Staaten an ETACA teil,98 so dass mit dem Verfahren auch keine Risikobewertung erreicht werden kann, welche für die ganze EU Wirkung entfaltet. Fraglich ist damit, inwieweit dieses Verfahren – neben ICAP – für Unternehmen sinnvoll ist. Schließlich kann die Einstufung einer Transaktion als „low risk“ nachfolgende Betriebsprüfungen nicht ausschließen99 und somit keine umfassende Rechtssicherheit bieten. Die EU-Kommission ist sich allerdings der fehlenden Rechtssicherheit bewusst,100 was die Hoffnung zulässt, dass (u.a.) dieser Punkt ggf. zukünftig angepasst wird.

III. Künftige Entwicklungsmöglichkeiten Nicht nur bei ETACA besteht eine solche Hoffnung für künftige Anpassungen und/oder Ergänzungen. Die bisher dargestellten Verfahren könnten in verschiedener Weise weiterentwickelt und effizienter gestaltet werden: Bei bilateralen APAs könnte über eine anonymisierte Veröffentlichung oder einen regelmäßigen APA Report nachgedacht werden. Dies würde die Vorteile von bilateralen APAs für mehr Steuerpflichtige als bisher zugänglich machen und zu einer einheitlicheren APA-Praxis beitragen. Vielversprechend wäre auch eine Verschränkung von Joint Audit und bilateralem APA, die bereits erprobt ist. Die in Deutschland neu eingeführte Regelung in § 89a Abs. 7 Satz 7 AO (Gebührenreduktion bei Kombination eines APA mit einer bi- oder multilateralen Prüfung) macht Hoffnung, dass ein solches Vorgehen künftig verstärkt vorkommen könnte. Für die Einführung eines „internationalen Verwaltungsvertrags“ gibt es zwar keine konkreten Anzeichen, allerdings gute Gründe: Die damit erreichbare, maßgeschneiderte Bindungswirkung könnte ge-

98 Nach den Angaben auf der Website der EU-Kommission (https://taxationcustoms.ec.europa.eu/eu-cooperative-compliance-programme/europeantrust-and-cooperation-approach-etaca-pilot-project-mnes_en, abgerufen am 28.11.2022), s. dazu auch Gmoser, IWB 2022, 143 (150), nehmen zum Stand 28.11.2022 die folgenden Staaten an ETACA teil: Belgien, Deutschland, Finnland, Italien, Österreich, Portugal, Slowakei, Dänemark, Ungarn, Irland, Luxemburg, Polen, Spanien, Niederlande. 99 Ausdrücklich Gmoser, IWB 2022, 143 (149). 100 EU-Kommission, ETACA Guidelines, S. 16.

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rade die grenzüberschreitende und vorbeugende Rechtssicherheit bieten, die seit langem gefordert wird. Über diese Punkte hinaus gibt es noch andere, etwas exotischere Wege der Streitvermeidung. Hier sind etwa der cross-border dialogue der finnischen Finanzbehörden101 zu nennen sowie neue Möglichkeiten der Streitvermeidung unter „Pillar 1 and Pillar 2“ aus den Blueprint Reports der OECD.102 Im Fall des cross-border dialogue kommt es, gestützt auf die Art. 26 OECD-Musterabkommen entsprechenden Vorschriften eines anwendbaren DBA, zu einer Abstimmung zwischen der finnischen und einer ausländischen Finanzbehörde.103 Für den cross-border dialogue geeignet sind z.B. Fragen zu Betriebsstätten, grenzüberschreitenden Verlusten, Quellensteuer und Verrechnungspreisen.104 Die finnischen Finanzbehörden führen aus, dass APAs noch immer das bevorzugte Instrument für Verrechnungspreise sind – der cross-border dialogue soll demgegenüber für die Beteiligten leichter und proaktiver sein.105 Die Verfahrensdauer liegt bei drei bis sechs Monaten und bedeutet eine erhebliche Beschleunigung der in Finnland üblichen 10 bis 15 Jahre Dauer für die Beilegung eines Streites durch ein MAP oder ein finanzgerichtliches Verfahren.106 Ergebnis des neuen, beschleunigten Verfahrens ist, dass die Finanzverwaltungen dem/den Steuerpflichtigen jeweils eine guidance in Bezug auf den Fall nach ihrem nationalen Recht erteilen. Der Steuerpflichtige erhält also zwei Dokumente von den beteiligten Finanzbehörden, deren Bin-

101 Nähere Informationen auf der Website der finnischen Finanzbehörden (abgekürzt: VERO), vgl. https://www.vero.fi/yritykset-ja-yhteisot/yhteistyo-ja-pal velut/ennakollinen-keskustelu/pre-emptive-discussion-and-cross-border-dia logue/ (abgerufen am 28.11.2022). 102 Einsehbar auf der Website der OECD unter https://www.oecd.org/tax/beps/ oecd-g20-inclusive-framework-on-beps-invites-public-input-on-the-reportson-pillar-one-and-pillar-two-blueprints.htm (abgerufen am 28.11.2022). 103 Siehe https://www.vero.fi/yritykset-ja-yhteisot/yhteistyo-ja-palvelut/ennakol linen-keskustelu/pre-emptive-discussion-and-cross-border-dialogue/ (abgerufen am 28.11.2022); Waal/Lindgren, Finland’s Cross-Border Dialogue Initiative: A Practical Step towards International Tax Certainty, Bulletin for International Taxation 2019, 482 (484). 104 Waal/Lindgren, Bulletin for International Taxation 2019, 482 (484). 105 https://www.vero.fi/yritykset-ja-yhteisot/yhteistyo-ja-palvelut/ennakollinenkeskustelu/pre-emptive-discussion-and-cross-border-dialogue/ (abgerufen am 28.11.2022). 106 Waal/Lindgren, Bulletin for International Taxation 2019, 482 (485 ff.).

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dungswirkung vom jeweiligen nationalen Recht abhängt.107 Der bisher sehr große Erfolg des cross-border dialogue mag auch daran liegen, dass die finnischen Behörden hier rechtlich bindende rulings erteilen.108 Zu den Plänen der OECD im Bereich der Streitvermeidung unter Pillar 1 und Pillar 2 ist noch wenig bekannt. Der Blueprint Report zu Pillar 1 nennt jedoch ein sog. „panel review“ als Instrument zur Vermeidung bzw. Beilegung von Streitigkeiten über Amount A, d.h. zu dem einer Jurisdiktion nach den Regeln über Pillar 1 zugerechneten Teil steuerbaren Einkommens von grenzüberschreitend tätigen Unternehmen.109 Dabei könnte/n der/die Steuerpflichtige/n einen Antrag auf Durchführung eines panel review stellen.110 Die betroffenen Jurisdiktionen würden sodann das panel besetzen und in der Art eines multilateralen Verständigungsverfahrens versuchen, das Besteuerungssubstrat einvernehmlich aufzuteilen.111 Welche Rechtsnatur die Entscheidung des panels hätte und welche Bindungswirkung sie entfalten würde, ist noch unklar. Abschließend möchte ich auf die Grafik von vorhin zurückkommen. Hierzu hatte ich festgehalten, dass die meisten der derzeit genutzten Instrumente nicht hinreichend effizient sind bzw. noch keine ausreichende grenzüberschreitende Rechtssicherheit bieten. Ergänzt man diese Grafik mit den möglichen Entwicklungen und neuen Instrumenten, ergibt sich Folgendes:

107 Waal/Lindgren, Bulletin for International Taxation 2019, 482 (484). 108 Waal/Lindgren, Bulletin for International Taxation 2019, 482 (484). 109 Ausführungen bei Malamis/Cai, International Tax Dispute Resolution in Light of Pillar One, Bulletin for International Taxation 2021, 94 (96 f.); Greil, IStR 2022, 373 (380) m.w.N. 110 Dazu Lobb/Osawa, How will the G20/OECD’s pillar one and pillar two project affect disputes?, International Tax Review (20.7.2021), abrufbar unter https://www.internationaltaxreview.com/article/b1srp7qzw9dhrd/how-willthe-g20oecds-pillar-one-and-pillar-two-project-affect-disputes (abgerufen am 28.11.2022). 111 Vgl. Malamis/Cai, Bulletin for International Taxation 2021, 94 (97).

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Verfahrensrahmen aus europäischer und internationaler Perspektive – Zimmerl

(MAPs) APAs (TP) Joint Audit + MAP

Über 2 Jahre ICAP ETACA „Panel Review“? (Pillar One)

1 bis 2 Jahre

Unter 1 Jahr

APAs

Joint Audit + Nationale Zusagen

Keine grenzüberschreitende Rechtssicherheit

Joint Audits

„Internationaler Verwaltungsvertrag“

Faktische grenzüberschreitende Rechtssicherheit

Grenzüberschreitende Rechtssicherheit

Cross-Border Dialogue (FIN)

„Assurance“

Verschränkung Joint Audit + APA

Links unten und rechts oben sind Verfahren zu sehen, die kaum empfehlenswert sind, weil sie entweder keine grenzüberschreitende Rechtssicherheit verschaffen können (die Kombination aus einem Joint Audit und nationalen Zusagen, z.B. nach § 204 AO) oder weil sie besonders viel Zeit in Anspruch nehmen (die Kombination aus einem Joint Audit und MAP). Die gestrichelten Pfeile zeigen, dass zu den Verfahren aus den Blueprint Reports der OECD noch zu wenige Details bekannt sind, welche eine Einschätzung der mit ihnen erreichbaren Rechtssicherheit erlauben würden. Ebenso ist erkennbar, dass sich der finnische cross-border dialogue durch eine besonders kurze Verfahrensdauer auszeichnet, aber – abhängig von den jeweils betroffenen nationalen Vorschriften des anderen Staates – mehr oder weniger Rechtssicherheit bieten kann. Zu sehen ist aber auch, dass der ideale Platz rechts unten nun besetzt ist: Sowohl die Verschränkung von bilateralem APA und Joint Audit als auch der „internationale Verwaltungsvertrag“ sind in der Lage, in (relativ) kurzer Zeit ein hohes Maß an grenzüberschreitender Rechtssicherheit zu bieten. Vielversprechend erscheint vor allem die Verschränkung von Joint Audit und bilateralem APA, da diese nach geltendem Recht umsetzbar ist. Auf Basis der bisherigen Erfahrungen zu MAPs, Joint Audits, bilateralen APAs und ICAP, einer Analyse verschiedener Modelle der Weiterentwicklung dieser Verfahren sowie nicht zuletzt im Lichte der jüngsten Änderungen, denke ich, dass eine realistische Chance für die aus vielen

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Gründen wünschenswerte grenzüberschreitende Rechtssicherheit im internationalen Steuerrecht vor allem bei einer bereits derzeit zulässigen Kombination von Joint Audit und bilateralem APA besteht. Wenn eine echte grenzüberschreitende Rechtssicherheit auf andere Weise erreicht werden soll, wird es insbesondere darauf ankommen, Regelungen zu schaffen, wonach das jeweilige Verfahren des internationalen Steuerrechts mit einem rechtlich bindenden Dokument abgeschlossen wird – oder den Beteiligten zumindest das Recht zusteht, das abschließende Dokument in ein rechtlich bindendes zu verwandeln.

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DBA-Verständigungsverfahren aus rechtsdogmatischer und rechtspraktischer Perspektive Silke Bruns1 Ministerialrätin, Bundesministerium der Finanzen, Berlin

I. Einordnung des Betrachtungsgegenstands und der Betrachtungsperspektiven II. Positionierung des Betrachtungsgegenstands III. Rechtspraktische und rechtsdogmatische Einordnung 1. Rechtliche Grundlagen eines DBA-Verständigungsverfahrens

2. Ursachen und Ziele von DBAVerständigungsverfahren 3. Rechtlicher Rahmen für die Entscheidungsfindung in DBA-Verständigungsverfahren IV. Conclusio – Annäherung an eine Bestimmung der angemessenen Rolle von DBA-Verständigungsverfahren

I. Einordnung des Betrachtungsgegenstands und der Betrachtungsperspektiven Der Betrachtungsgegenstand meines Vortrags schließt sich nahtlos an den meines Vorredners an. Ein Streit über die Auslegung und Anwendung eines Doppelbesteuerungsabkommens (DBA) konnte in einem konkreten Einzelfall nicht von vornherein vermieden werden und nun richtet sich die Hoffnung aller Beteiligter auf ein Streitbeilegungsverfahren und zunächst auf ein Verständigungsverfahren. Das heißt auf ein Verwaltungsverfahren auf Basis einer DBA-Norm, die dem Art. 24 Abs. 2 der deutschen Verhandlungsgrundlage beziehungsweise Art. 25 Abs. 2 OECDMusterabkommen entspricht, und die sog. Einigungsphase eines DBAStreitbeilegungsverfahrens umfasst. Die sich gegebenenfalls anschließenden Schiedsphase wird Herr Professor Matteotti am späteren Vormittag beleuchten. 1 Ministerialrätin Silke Bruns ist Referatsleiterin im Bundesministerium der Finanzen und u.a. zuständig für die Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) mit den Staaten der EU und Grundsatzfragen der DBA-Streitbeilegungsverfahren. Der Beitrag ist nicht in dienstlicher Eigenschaft verfasst.

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DBA-Verständigungsverfahren – Bruns

Ich bin dankbar für dieses Thema, weil ich in gewisser Weise beide der vortragsgegenständlichen Perspektiven repräsentiere. Aus der Perspektive von Wissenschaft und Lehre bin ich eine Rechtspraktikerin, für die die Rechtsanwendung ein Handwerk ist und deren Handeln stark von den tatsächlichen Gegebenheiten geprägt wird. Die Kolleginnen und Kollegen, die die konkreten Fälle bearbeiten, wenden sich an die Ministerialbeamten, um insbesondere den Fällen zugrunde liegende generellabstrakte Auslegungsfragen zu besprechen. So werde ich mich beider Perspektiven annehmen und einige rechtspraktische und rechtsdogmatische Erwägungen darlegen, mit dem Ziel, mich am Ende meines Vortrags einer angemessenen und im praktischen Sinne auch realistischen Rolle von DBA-Verständigungsverfahren anzunähern, um so den gestern bereits begonnenen Diskurs über dessen Rolle fortzuführen. Denn idealiter geht es bei Rechtsdogmatik und Rechtspraxis um zwei Seiten einer Medaille, die sich gegenseitig ergänzen und ein stimmiges Gesamtbild ergeben.

II. Positionierung des Betrachtungsgegenstands Nähere ich mich der praktischen Bedeutung und Rolle von DBA-Verständigungsverfahren, ist die Positionierung des Betrachtungsgegenstands von großer Bedeutung. DBA-Verständigungsverfahren haben laut Art. 24 Abs. 2 der deutschen Verhandlungsgrundlage beziehungsweise Art. 25 Abs. 2 OECD-Musterabkommen die Aufgabe, „eine dem Abkommen nicht entsprechende Besteuerung“ zu vermeiden. Eine (juristische) Doppelbesteuerung ist nicht zwingend eine Voraussetzung für ein solches Verfahren. Im Kern geht es um das Ringen zweier Steuerverwaltungen um die Auslegung und Anwendung eines DBA und um das Lösen einer Streitfrage, die verschiedene Ursachen und Quellen haben kann. Damit rückt das Wesen eines DBA in den Fokus. Im Folgenden werde ich auf einige Charakteristika von DBA beziehungsweise DBA-Verhandlungen eingehen, die auch für die Betrachtung der Rolle und der Funktion von DBA-Verständigungsverfahren relevant sind. Als Ergebnis von DBA-Verhandlungen vereinbaren zwei Staaten mit unterschiedlichen nationalen Rechtssystemen einen Rechtstext, der in beiden Staaten rechtlich verbindlich wird und der in beiden Staaten durch deren Exekutive dem Grunde nach – abgesehen von einer Anwendung von Streitvermeidungsmechanismen – zunächst unabhängig voneinander angewendet wird. Ebenso unterliegt das Exekutivhandeln in beiden Staaten im Wesentlichen unabhängig voneinander der gesetzgeberischen

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DBA-Verständigungsverfahren – Bruns

und gerichtlichen Kontrolle. Das bedeutet zugleich aber auch, dass sowohl die Exekutive als auch die Jurisdiktion der Vertragsstaaten – und im Falle eines unilateralen DBA-Anwendungsgesetztes oder DBA-Anwendungsnorm auch deren Legislative – jeweils zu einer anderen „richtigen“ Entscheidung kommen können. Soll ein DBA angepasst werden, um rechtssicher Regelungen zu ändern oder Regelungslücken zu schließen, wäre hierfür, abgesehen von den von Deutschland nunmehr regelmäßig vereinbaren Notifizierungsklauseln im Methodenartikel entsprechend Art. 22 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. c der deutschen Verhandlungsgrundlage – eine bilaterale Einigung erforderlich, der eine regelmäßig zeitintensive und langwierige Verhandlungsphase vorausgeht. Oder es bleibt als gesetzgeberische Maßnahme lediglich das Instrument eines nationalen Treaty Overrides oder – als worst-case-scenario – das Instrument einer Abkommenskündigung. Laut Präambel haben DBA regelmäßig den Zweck, die beiderseitigen wirtschaftlichen Beziehungen weiterzuentwickeln, die Zusammenarbeit in Steuersachen zu vertiefen, um eine wirksame und zutreffende Besteuerung zu gewährleisten, und die Besteuerungsrechte gegenseitig abzugrenzen, so dass sowohl Doppelbesteuerung als auch Nichtbesteuerung vermieden werden. Im Zusammenspiel mit dem Methodenartikel bewirken DBA keine Belastung, sondern eine Entlastung. DBA-Regelungen begründen für sich allein betrachtet keinen Besteuerungsanspruch, sondern bestätigen oder modifizieren steuerpflichtbegründende Tatbestände des innerstaatlichen Rechts.2 Im Ergebnis beschränken sie in einem gewissen Umfang das Recht des einen oder anderen Vertragsstaats, von einem ansonsten bestehenden, innerstaatlich begründeten Besteuerungsrecht Gebrauch zu machen. Diese Feststellung trägt dem Grund nach auch dann, sofern und soweit ein Staat den Umfang seines nationalen Besteuerungsrechts betreffend einer der beschränkten Steuerpflicht unterfallenden Person auch von der Zuweisung eines Besteuerungsrechts in einem DBA abhängig ausgestaltet. Dann knüpft das nationale Recht mittels einer Vorfrage an die im DBA niedergelegten Beschränkungen an und stellt insoweit von vornherein eine Deckungsgleichheit von nationalem Besteuerungsbefehl und den DBA-Grenzkonturen her. Auch in diesem Fall begründet das DBA selbst keinen Besteuerungsanspruch. 2 Lehner in Vogel/Lehner, Doppelbesteuerungsabkommen, 7. Aufl. 2021, Grundlagen Rz. 66; Schönfeld/Häck in Schönfeld/Ditz (Hrsg.), DBA Kommentar, 2. Aufl. 2019, Systematik Rz. 44.

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DBA-Verständigungsverfahren – Bruns

Werden die DBA-Diskriminierungsverbote, die DBA-Regelungen zum Informationsaustausch und vergleichbare Regelungsbereiche außen vor gelassen, so sind materielle DBA-Normen im Kern Kollisions- oder Grenznormen. Beide nationalen Rechtssysteme werden dabei von den Vertragsparteien als im Wesentlichen angemessen und gleichwertig angesehen. Ziel einer DBA-Regelung ist nicht, einer unter welchen Aspekten auch immer als „besser“ erachteten steuerlichen Regelung der beiden nationalen Rechtssysteme zur Geltung zu verhelfen. Abgesehen von den DBA-Diskriminierungsverboten, die lediglich punktuell und abschließend die steuerliche Ungleichbehandlung zweier vergleichbarerer Sachverhalte verbieten, verfolgt ein DBA ebenso wenig das Ziel, spiegelbildliche Sachverhalte stets gleich zu behandeln. Eine abstrakt-generelle DBA-Zuweisungsnorm wirkt – sofern die Regelung zwingend ist – vielmehr in beide Richtungen und kann bei Vergleich der steuerlichen Behandlung der spiegelbildlichen Einzelfälle in den Vertragsstaaten, die stets durch das DBA und durch das nationale Steuerrecht des Staates, dem das Besteuerungsrecht jeweils zugewiesen ist, bestimmt wird, zu einer höheren Besteuerung für den einen und einer niedrigeren Besteuerung für den anderen führen. Der materielle Gehalt einer DBA-Zuweisungsnorm wird insbesondere von der Betrachtung und Abwägung der Stärke des „genuine link“ der betreffenden Einkünfte zu dem einen oder anderen Vertragsstaat geprägt, sowie von den fiskalischen Auswirkungen verbunden mit der Verhandlungspolitik der jeweiligen Vertragsstaaten. DBA enthalten selbst Elemente eines Methodengesetzes. So bestimmt eine dem Art. 3 Abs. 2 OECD-Musterabkommen entsprechende DBARegelung, wie die Bedeutung eines im Abkommen nicht definierten Ausdrucks auszulegen ist. Demnach ist zunächst die Definition im DBA selbst maßgebend. Ist ein Ausdruck im Abkommen nicht definiert, ist die Bedeutung nach dem im Anwenderstaat anzuwendenden Steuerrecht im Anwendungszeitraum maßgebend, es sei denn, der Abkommenszusammenhang erfordert anderes. Mit dem Update 2017 wurde in den OECD-Musterkommentar zudem der Vorrang einer zwischen den Behörden im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 25 OECD-Musterabkommen (Streitbeilegungs- und Konsultationsverfahren) eingefügt. Für die Auslegung von DBA als völkerrechtlicher Vertrag gelten zudem die kodifizierten Auslegungsregelungen der Art. 31 bis 33 des Wiener Übereinkommens vom 23.5.1969 über das Recht der Verträge (WÜRV), das in Deutschland mit Gesetz vom 3.8.1985 in nationales Recht transformiert

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wurde (s. Art. 1 des Gesetzes zum WÜRV).3 Im Sinne dieser Vorschriften ist der OECD-Musterkommentar ein widerlegliches Indiz für die Staatenpraxis. Der Kommentar wird von Delegationen der DBA-Vertragsparteien erarbeitet und auf Ebene des OECD-Rats von den Botschaftern der OECD-Staaten beschlossen. Ebenfalls gilt es zu bedenken, dass die Verhandlungen regelmäßig in englischer Sprache und auf Basis eines englischsprachigen Entwurfs geführt werden, und das paraphierte Abkommens- oder Revisionsprotokoll im Anschluss vor Unterzeichnung in einem aufwendigen Verfahren zunächst in die jeweiligen Landessprachen übersetzt und dann einem Sprachabgleich unterzogen wird. Welche Sprache(n) für die Auslegung maßgeblich sind, ist in von Deutschland abgeschlossenen DBA regelmäßig in den Schlussklauseln des DBA selbst geregelt. Ansonsten bekräftigt Art. 33 WÜRV die völkerrechtliche Regel, dass bei mehrsprachigen Verträgen die verschiedenen sprachlichen Fassungen in gleicher Weise verbindlich sind.4 Ebenso gilt es zu bedenken, dass DBA-Normen als zeitlich punktuell gesetztes Recht mit einer langen Haltbarkeitsdauer, die durchaus mehrere Jahrzehnte betragen kann, möglichst unabhängig von Änderungen in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen der Vertragsstaaten sein sollten. Ein Vertragsstaat kann während dieses Zeitraums sein Steuerrecht systematisch, oder auch im Hinblick auf die generelle Höhe der Steuerbelastung, ändern. Ebenso können sich tatsächlichen Umstände verändern, die für die Anwendung von DBA praktische Relevanz haben, wie es uns derzeit die mobiler gewordene Arbeitswelt plastisch vor Augen führt. Vor diesem Hintergrund haben Regelungen in DBA selbst einen sehr hohen Grad an Abstraktion. Dem möglichen Maß an Bestimmtheit sind zudem gewisse, der Materie innewohnende, Grenzen gesetzt. Die Grenzen einer gesetzlichen Konkretisierung oder Typisierung sind relativ schnell erreicht und es bedarf bei DBA-Regelungen in einem besonderen Maße einer konkretisierenden Auslegung. Dadurch sind diese sehr anfällig für zwischenstaatliche Streitfragen im Hinblick auf deren Anwendung und Auslegung. Die Bandbreiten der Auslegung sind sehr weit; das Bestehen einer punktuellen Richtigkeit dürfte die Ausnahme sein. Das 3 BGBl. II 1985, 927, in dem in Art. 1 dem von der Bundesrepublik Deutschland am 29.4.1970 unterzeichneten WÜRV zugestimmt wird. 4 Lehner in Vogel/Lehner, Doppelbesteuerungsabkommen, 7. Aufl. 2021, Grundlagen Rz. 111; Schönfeld/Häck in Schönfeld/Ditz (Hrsg.), DBA Kommentar, 2. Aufl. 2019, Systematik Rz. 106.

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Mittel der expliziten Typisierung, wie z.B. die hälftige Aufteilung der Besteuerungsrechte für u.a. Berufskraftfahrer im Verhältnis zu Luxemburg,5 wird aktuell in DBA (noch?) recht selten genutzt. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang, dass zu dieser Regelung derzeit ein Revisionsverfahren beim BFH anhängig ist.6

III. Rechtspraktische und rechtsdogmatische Einordnung Vor dem unter II. dargestellten Hintergrund sind DBA-Verständigungsverfahren rechtspraktisch und rechtsdogmatisch einzuordnen. Herr Professor Ismer hatte in seinem Vortrag bereits auf den konsularischen Schutz als Ursprung der Verständigungsverfahren hingewiesen. Die zuständigen Behörden des einen Staats setzten sich bei einem anderen Staat für den Schutz und die (steuerlichen) Interessen seiner Staatsbürger ein. Aufgrund der EU-Schiedskonvention, der EU-Schiedsrichtlinie und der größer werdenden Anzahl von Streitbeilegungsklauseln mit verpflichtender Schiedsphase in DBA sowie aufgrund des im Sinne eines Risikoausgleichs jedenfalls fachpolitischen Zusammenhangs zwischen der Verschärfung der steuerlichen Rahmenbedingungen durch den BEPSProzess und der Beförderung von verbindlichen Streitbeilegungsmechanismen, wird mit den DBA-Streitbeilegungsverfahren verstärkt die Erwartung verknüpft, dass in jedem Fall eine Lösung gefunden wird.

1. Rechtliche Grundlagen eines DBA-Verständigungsverfahrens Streitbeilegungsverfahren sind antragsgebundene Verwaltungsverfahren im Einzelfall. Während einer Verständigungsphase auf Grundlage einer dem Art. 25 Abs. 1 und 2 OECD-Musterabkommen entsprechenden Regelung in dem jeweils einschlägigen DBA bemühen sich die zuständigen Behörden der DBA-Vertragsstaaten, einen Fall, in dem ein Antragsteller der Auffassung ist, dass Maßnahmen eines oder beider Vertragsstaaten für diesen zu einer nicht dem Abkommen entsprechenden Besteuerung führen oder führen werden, zu lösen. Sind die Voraussetzungen erfüllt, hat der Antragsteller einen Anspruch auf Eröffnung und Durchführung eines DBA-Verständigungsverfahrens. Dem Steuerpflichtigen steht dem 5 Konsultationsvereinbarung mit Luxemburg v. 10.5.2005 (BStBl. I 2005, 696), erweitert am 7.9.2011 auf Lokomotivführer und Begleitpersonal (BStBl. I 2001, 849). 6 BFH I R 43/20 (anhängig seit 20.5.2021), Vorinstanz FG Rheinland-Pfalz v. 7.10.2020 – 1 K 1272/18.

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Grunde nach ein subjektiv-öffentliches Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung auf Durchführung eines – nicht obligatorischen – Verständigungsverfahrens nach dem Vorbild des Art. 25 Abs. 1 und 2 OECD-Musterabkommen zwecks Beseitigung einer Doppelbesteuerung zu; er hat einen Anspruch auf abkommensgemäße Besteuerung im Rahmen beider Rechtsordnungen.7 Gemäß dem Wortlaut der jeweils einschlägigen DBA-Norm müssen sich die zuständigen Behörden in der Verständigungsphase allerdings lediglich darum bemühen, eine Lösung für die Streitfrage zu finden; und dies auch nur mit dem Ziel, eine dem DBA nicht entsprechende Besteuerung zu vermeiden. Bietet ein DBA keine Lösung für einen Besteuerungskonflikt, verbleibt es bei einer Doppelbesteuerung. Der Antragsteller hat zudem keinen Anspruch auf eine bestimmte Vorgehensweise der zuständigen Behörden oder auf einen Erfolg des Bemühens dieser. Eine Verpflichtung, eine Verständigung zu erreichen, besteht nicht. Finden die zuständigen Behörden im Rahmen der Verständigungsphase eine Lösung, sind sie nicht verpflichtet, diese zu begründen und zu veröffentlichen. Die Umsetzung eines gefundenen Ergebnisses hat ungeachtet der innerstaatlichen Fristen zu erfolgen. Dies ist dem OECD-Musterabkommen in Art. 25 Abs. 2 Satz 2 zu entnehmen und ist, meiner Ansicht nach insoweit lediglich klarstellend, auch in § 175a AO niedergelegt. Die deutschen zuständigen Behörden treffen in der Praxis Verständigungsvereinbarungen stets unter dem Vorbehalt, dass sich der Antragsteller mit dieser einverstanden erklärt, anhängige Rechtsbehelfsverfahren für erledigt erklärt und keine neuen eingelegt werden.8 Auf diesem Wege kann die Frage der – gemäß der derzeit herrschenden Meinung fehlenden – Bindung der deutschen Gerichte an den Inhalt einer Verständigungsvereinbarung vermieden werden.

2. Ursachen und Ziele von DBA-Verständigungsverfahren Ursache und Anlass sind oftmals ein nicht oder nicht vollständig aufgeklärter Sachverhalt, beziehungsweise ein unterschiedliches Verständnis vom Sachverhalt, oder auch tatsächliche Verständigungen oder Tat7 BFH v. 26.5.1982 – I R 16/78, BStBl. II 1982, 583. 8 BMF v. 27.8.2021 – IV B 3-S 1304/21/10004 Rz. 84 (Merkblatt zu internationalen Verständigungs- und Schiedsverfahren (Streitbeilegungsverfahren) auf dem Gebiet vom Einkommen und vom Vermögen.

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sachenschätzungen in einem der Vertragsstaaten, die vom anderen Vertragsstaat nicht nachvollzogen werden. Insbesondere im Bereich der Verrechnungspreise ist die Grenze zwischen Tatsachen und rechtlicher Würdigung naturgemäß fließend und schillernd. Kern der Bemühungen ist, im Rahmen der Verständigungsphase mit dem anderen Staat ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, welche Tatsachen der rechtlichen Würdigung zugrunde zu legen sind, und ein gemeinsames Verständnis über den Sachverhalt zu erlangen. Gerade für diese Art von TatsachenStreitfragen ist das DBA-Verständigungsverfahren ein sachgerechtes und effizientes Instrument. Dies allerdings mit der Einschränkung, dass ein Antragsteller das Verständigungsverfahren nicht als Ersatz der jeweiligen nationalen Steuerverfahren missbrauchen soll, indem er beispielsweise Mitwirkungspflichten im Veranlagungsverfahren bewusst nicht nachkommt. Auch Streitvermeidungsmechanismen, die tatsächlich parallel und in die nationalen Verfahren eingebunden sind, unterliegen einem Regelwerk. Häufig liegt einer Streitfrage (auch) ein rechtlicher Konflikt zugrunde. Das heißt, die Vertragsstaaten legen das betreffende DBA unterschiedlich aus. Das DBA gibt demnach mehrere denkbare Antworten auf die zugrunde liegende Streitfrage. Wie bereits geschildert, ist der Bedeutungshof der auszulegenden und anzuwendenden Rechtsbegriffe in DBA groß. Es kann aber durchaus sein, dass sich die eine oder andere oder auch beide von den Vertragsstaaten vertretenen Auffassungen nicht innerhalb der Wortlautgrenzen der DBA-Normen bewegen und daher – jedenfalls unter Zugrundelegung der deutschen Spruchpraxis – tatsächlich schlicht „falsch“ sind, sofern man eine derartig kategorische Aussage in Fragen der Rechtsauslegung überhaupt treffen kann. Ziel der zuständigen Behörden ist, rechtliche Missverständnisse oder Subsumtionsfehler auszuräumen und um eine gemeinsame Auslegung zu ringen. Besondere Maßgeblichkeit hat für die zuständigen Behörden der OECD-Musterkommentar. Die Diskussion ist fokussiert auf den Einzelfall, im Hintergrund steht aber oftmals ein generelles, fallübergreifendes Streitthema. Daher stellt sich stets die Frage, ob dem Fall ein Missverständnis zugrunde liegt, für das sich eine offensichtliche Einigung findet, oder ob der Fall entweder im Kompromisswege gelöst werden kann oder doch zunächst zurückgestellt werden muss, bis auf anderer, ministerieller Ebene eine generelle Einigung über die zugrunde liegende Streitfrage gefunden werden konnte oder die Streitfrage in dem einen oder anderen Vertragsstaat gerichtlich geklärt worden ist.

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Insoweit kann ein DBA-Verständigungsverfahren Auslöser für ein DBAKonsultationsverfahren sein oder auch für eine DBA-Revision oder eine unilaterale gesetzliche Maßnahme über die Anwendung der streitgegenständlichen DBA-Regelung. Ein Streit ist nicht per se etwas Schlechtes oder Schädliches, sondern führt vielmehr zu einer Klärung, wenn er konstruktiv geführt wird. Aus der Perspektive der Streitbeilegung ist jedoch zu beachten, dass diese angestrebte grundsätzliche Klärung zu keinem Bearbeitungsstau der Einzelfälle führt. Im Zweifel scheitert ein DBA-Verständigungsverfahren, wenn die Positionen der zuständigen Behörden nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Oder es können ohne Präjudiz und unter Hintanstellung der rechtlichen Position des einen oder anderen Vertragsstaats Kompromisslösungen gefunden werden. Dies setzt jedoch voraus, dass dies in der Kompetenz der zuständigen Behörden steht. Auch die Steuerverwaltungen haben den Wunsch nach einer lernenden Rechtsfortbildung durch Streit. Folglich wird es nicht immer begrüßt, wenn ein nationales Gerichtsverfahren ausgesetzt wird, um auf das Ergebnis eines DBA-Streitbeilegungsverfahrens zu warten. Seltener liegt die Ursache für einen den Steuerpflichtigen belastenden Besteuerungskonflikt darin, dass ein DBA die Streitfrage nicht adressiert oder nicht löst. Das heißt, dass eine Doppelbesteuerung oder sonstige Belastung im Ergebnis mit dem DBA in Einklang steht und von diesem nicht aufgelöst wird. Folglich kann in diesen Fällen auch ein DBA-Verständigungsverfahren die Situation nicht auflösen, da die Besteuerung in beiden Vertragsstaaten jeweils dem DBA nicht widerspricht. Auf Grundlage einer dem Art. 25 Abs. 3 Satz 2 OECD-Musterabkommen entsprechenden Regelung in dem jeweils einschlägigen DBA besteht lediglich die Möglichkeit, den Fall im Rahmen von Konsultationsgesprächen zu adressieren. Ein weiterer Anlass dafür, dass ein Steuerpflichtiger ein Streitbeilegungsverfahren beantragt, kann darin begründet sein, dass einer oder beide der Vertragsstaaten einen Abkommensvorteil nicht gewähren, weil er oder sie der Auffassung sind, dass ein Abkommensmissbrauch vorliegt. Gegenstand des Streitbeilegungsverfahrens ist in diesen Fällen die Frage, ob diese Verweigerung der Abkommensvorteile im Einklang mit dem DBA steht. Grund für die Nichtgewährung von Abkommensvorteilen können insbesondere eine Missbrauchsvermeidungsnorm im DBA selbst, eine (allgemeine) nationale Missbrauchsvermeidungsnorm, die beide Vertragsstaaten in ihrem jeweiligen Rechtssystem kennen, oder eine (spezifische) nationale Missbrauchsvermeidungsnorm, für die es eine Öff-

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nungsklausel im DBA gibt, sein. Wurde eine nationale Missbrauchsvermeidungsnorm angewendet, stellt sich lediglich die Frage, ob das DBA dem Grunde nach oder im Ergebnis der Anwendung dieser nationalen Norm entgegensteht. Die Frage, ob die nationale Norm korrekt angewendet wurde, ist keine Frage über die Auslegung eines DBA und kann daher nicht Gegenstand eines DBA-Streitbeilegungsverfahrens sein, sondern wäre auf dem nationalen Rechtsweg zu klären. Bei DBA-Streitbeilegungsverfahren, deren Gegenstand (auch) die Anwendung einer Missbrauchsvermeidungsnorm ist, bemühen sich die zuständigen Behörden darum, ein gemeinsames Verständnis zu dieser Frage herzustellen. Besteuerungskonflikte können des Weiteren auch entstehen, wenn ein Vertragsstaat das DBA bewusst nicht anwendet, z.B. aufgrund eines Treaty Overrides. Der Begriff des Treaty Override umfasst Regelungen mit unterschiedlicher Zielsetzung und unterschiedlichem Gehalt. Zum einen solche, die als innerstaatliche, selbstbeschränkende oder auch unechte Treaty Overrides bezeichnet werden können, weil sie im völkerrechtlichen Sinne dem Grunde nach keine sind. Ziel dieser Regelungen ist nicht das Überschreiben eines bilateralen beziehungsweise internationalen Konsenses, sondern im Gegenteil die innerstaatliche Durchsetzung eines bilateralen beziehungsweise internationalen Konsenses. Weil die nationale Jurisdiktion eine DBA-Norm abweichend vom bilateralen beziehungsweise internationalen Konsens auslegt, wird eine nationale Norm erlassen, die mit anderen Worten genau das bestimmt, was dem bilateralen beziehungsweise dem internationalen Konsens entspricht. Ein Beispiel findet sich in § 50d Abs. 12 EStG, in dem geregelt wird, wie Abfindungszahlungen „für Zwecke der Anwendung des Abkommens“ zu qualifizieren sind. Zum anderen umfasst der Begriff auch solche, die als völkerrechtliche oder auch echte Treaty Overrides bezeichnet werden können. Diese überschreiben den Wortlaut einer DBA-Norm sowohl aus nationaler als auch aus völkerrechtlicher Perspektive, indem sie das gemeinsame Verständnis der Vertragsstaaten beziehungsweise den internationalen Konsens über die Auslegung einer DBA-Norm überschreiben. Dies trifft zum Beispiel, jedenfalls teilweise, auf § 50d Abs. 3 EStG zu, der unter bestimmten Voraussetzungen ausdrücklich anordnet, dass eine Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse „auf der Grundlage eines Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung keinen Anspruch auf Entlastung von der Kapitalertragsteuer und vom Steuerabzug nach § 50a“ hat. Nicht immer lassen sich Treaty Overrides eindeutig der einen oder anderen Kategorie zuordnen. In diesen Fällen kann von gemischten Treaty Overrides gesprochen werden. So z.B.

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bei Regelungen, die für Altfälle ein Abweichen von der späteren Praxis der Vertragsstaaten anordnen, damit die frühere Praxis für diese Dauersachverhalte perpetuiert wird, und Rechtsbrüche vermieden werden, die beispielsweise durch eine retrospektive und dadurch hypothetische Aufdeckung stiller Reserven entstehen, die durch eine Änderung der Spruchpraxis ausgelöst werden, beziehungsweise ausgelöst worden wären, wenn es diese Spruchpraxis in der Vergangenheit bereits gegeben hätte. § 50i Abs. 3 EStG perpetuiert z.B. die steuerliche Behandlung, wenn im Wegzugszeitpunkt nach damaliger Auffassung keine steuerliche Entstrickung angenommen wurde, und ordnet für die Altfälle eine laufende Besteuerung an. Wurde ein Treaty Override von dem einen oder anderen Vertragsstaat angewendet, dürfte es bei den innerstaatlichen Treaty Overrides eigentlich zu keinem Besteuerungskonflikt kommen. Wurde ein völkerrechtlicher Treaty Override angewendet, dürfte die Verständigungsphase scheitern, es sei denn, der Vertragsstaat, der den Treaty Override angewendet hat, kann die zuständige Behörde des anderen Vertragsstaats davon überzeugen, dass dieser sachgerecht ist. Denn in der Einigungsphase hat der Gesetzgeber mittels DBA der Exekutive lediglich den Auftrag und die Kompetenz übertragen, sich um eine Lösung zu bemühen. Dies weist der Exekutive keine hinreichende Kompetenz zu, den expliziten Willen des Gesetzgebers, eine DBA-Norm zu überschreiben, zu missachten.

3. Rechtlicher Rahmen für die Entscheidungsfindung in DBA-Verständigungsverfahren Zu den verfassungsrechtlichen Erwägungen hat Herr Professor Valta umfassend ausgeführt und ist – stark vereinfacht – zu dem Ergebnis gekommen, dass die Möglichkeiten der einvernehmlichen Streitbeilegung genutzt werden können. Dies kann ich lediglich bekräftigen. DBA-Verständigungsverfahren auf Grundlage einer dem Art. 25 Abs. 1 und 2 OECD-Musterabkommen entsprechenden Regelung beinhalten einen durch ein Vertragsgesetz i.S.v. Art. 59 Abs. 2 GG in nationales Recht transformierten Auftrag – und damit auch die Kompetenz –, DBAStreitbeilegungsverfahren durchzuführen. Den zuständigen Behörden wird durch den Gesetzgeber die Kompetenz und die Pflicht auferlegt, „den Fall durch Verständigung mit der zuständigen Behörde des anderen Vertragsstaats so zu regeln, dass eine dem Abkommen nicht entspre-

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chende Besteuerung vermieden wird.“9 § 2 Abs. 1 AO bekräftigt, dass DBA zu beachten sind. Das bedeutet, dass die Legislative unmittelbar durch das Gesetz die Exekutive beauftragt und es ihr erlaubt, Streitbeilegungsverfahren zu führen, und damit auch denknotwendigerweise, Lösungen zu finden und vorhandene Auslegungsspielräume zu nutzen. Der Charakter der Verständigungsklauseln fordert die Bereitschaft, früher eingenommene Standpunkte aufzugeben und der anderen Partei entgegenzukommen; die Verständigungsklausel selbst ist Rechtgrundlage für Kompromisse.10 Von einer dem Art. 25 Abs. 1 und 2 OECD-Musterabkommen entsprechenden Regelung ist auch das materielle Recht umfasst. Eines Rückgriffs auf § 175a AO bedarf es meiner Ansicht nach hierfür nicht. Regelungsgegenstand dieser letztgenannten Norm ist ein steuerverfahrensrechtlicher im Hinblick auf die Fristen der AO. Bei der Frage nach dem Entscheidungsspielraum der Exekutive im Rahmen von Streitbeilegungsverfahren, also die Konkretisierung der Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz, sind wiederum die anfangs geschilderten Wesensmerkmale und das rechtliche Umfeld eines DBA zu bedenken. Zunächst sind die Auslegungsregelungen im DBA selbst zu beachten, insbesondere die dem Art. 3 Abs. 2 OECD-MA entsprechenden Regelungen eines DBA, die ihrerseits durch das jeweilige Vertragsgesetz in nationales Recht transformiert worden sind. Des Weiteren die allgemeine Methodenlehre, insbesondere die Wortlautgrenze. Bei der Anwendung der allgemeinen Methodenlehre und der Beachtung der Wortlautgrenze ist meiner Ansicht nach ein weiter Maßstab anzulegen. Dies bedingen die in diesem Beitrag zuvor geschilderten Wesensmerkmale eines DBA. Bereits der Umstand, dass es im Einzelfall zwischen den Vertragsstaaten einen Besteuerungskonflikt gibt, spricht jedenfalls dann, wenn diesem Konflikt eine Auslegungsfrage zugrunde liegt, die das DBA dem Grunde nach auch adressiert, dafür, dass die betreffende Norm unterschiedlich ausgelegt werden kann. Es sei denn, einer der Vertragsstaaten verstößt klar gegen den Wortlaut des Abkommens. Die Praxiserfahrung aus den Diskussionen mit Verhandlungspartnern über die Auslegung von bestehenden Regelungen in DBA oder über die Formulierung einer zukünftigen DBA-Regelung, nachdem bereits Einigkeit über das gemeinsame Ziel und den materiellen Gehalt erreicht worden ist, zeigen allerdings 9 Art. 25 Abs. 2 OECD-Musterabkommen (2017). 10 So auch Flüchter in Schönfeld/Ditz (Hrsg.), DBA Kommentar, 2. Aufl. 2019, Art. 25 Rz. 155 m.w.N. auch zu abweichenden Auffassungen.

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meiner Erkenntnis nach, dass im Zweifel zwar durchaus festgestellt werden kann, ob der Wortlaut gegebenenfalls einer bestimmten Auslegung entgegensteht, jedoch selten bis nie zweifelsfrei festgestellt werden kann, dass ein Wortlaut ausschließlich eine einzige Auslegung zulässt. Des Weiteren gebietet Art. 25 GG und der Grundsatz der Entscheidungsharmonie,11 DBA-Normen nach Möglichkeit so auszulegen, dass kein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland entsteht. Dabei ist von mehreren möglichen Auslegungen eines Gesetzes grundsätzlich eine völkerrechtsfreundliche zu wählen.12 Im Zweifel ist somit ein vorhandener Auslegungsspielraum zu nutzen, um einen Konflikt auszuräumen. Der OECD-Kommentar zum OECD-Musterabkommen, der von Delegationen der DBA-Vertragsparteien erarbeitet wird und auf Ebene des OECD-Rats von den Botschaftern der OECDStaaten beschlossen wird, ist dabei ein widerlegbares Indiz für die Staatenpraxis; so hat der OECD-Rat hat am 23.10.1997 die Empfehlung abgegeben, dass die Mitglieder der OECD den Kommentaren in der jeweils gültigen Fassung folgen. Zudem sind die in Art. 31 ff. WÜRV13 niedergelegten Auslegungsprinzipien zu beachten, wobei die VN Generalversammlung mit einer Resolution14 die Relevanz von späteren Übereinkünften und einer späteren Praxis für die Auslegung von Verträgen bekräftigt hat. In der Praxis stellen sich konkret drei Fragestellungen, die sich im Rahmen der Entscheidungsfindung der Exekutive in DBA-Verständigungsverfahren ergeben: zum einen, ob Abweichungen von Entscheidungen der nationalen Gerichte möglich sind. Des Weiteren, ob die zuständigen Behörden bewusst vom Wortlaut des DBA abweichen können. Und nicht zuletzt, ob die zuständigen Behörden eine Einigung erzielen dürfen, die im Ergebnis dazu führt, dass ein Treaty Override überschrieben und nicht angewendet wird. Meiner Ansicht nach kann die Exekutive keine Entscheidung der Judikative überschreiben, wenn derselbe Sachverhalt, derselbe Steuerpflichtige und derselbe Veranlagungszeitraum streitgegenständlich sind. Die Argumente von Herrn Professor Seer, dass Art. 19 Abs. 4 GG vom Steu11 BFH v. 2.9.2009 – I R 90/08, juris Rz. 20; BFH v. 2.9.2009 – I R 111/08, juris Rz. 16; BFH v. 13.7.2021 – I R 63/17, juris Rz. 21. 12 BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12 Rz. 71. 13 BGBl. II 1985, 927, in dem in Art. 1 dem von der Bundesrepublik Deutschland am 29.4.1970 unterzeichneten WÜRV zugestimmt wird. 14 Resolution der VN Generalversammlung v. 20.12.2018, Nr. 73/202.

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erpflichtigen durchaus abdingbar sind, geben mir jedoch Anlass, diese Auffassung gegebenenfalls nochmals zu überdenken. In der Praxis dürfte diese Frage jedoch kaum relevant sein, weil in der Regel Gerichtsverfahren ausgesetzt werden, wenn ein Streitbeilegungsverfahren anhängig ist. Im Hinblick auf abstrakt-generelle Auslegungsprinzipien, die in einer Gerichtsentscheidung niedergelegt wurden, ist eine Abweichung seitens der zuständigen Behörden meines Erachtens nach allerdings möglich. Denn eine Art. 25 Abs. 2 OECD-Musterabkommen entsprechende Norm ist hinreichende Rechtsgrundlage für Kompromisse. Dieser Kompromiss wird zudem nur dann umgesetzt, wenn der Antragsteller dem Ergebnis zustimmt, so dass in jedem Fall von einem Einverständnis der betroffenen Personen ausgegangen werden kann. Die Grenze des Spielraums der Exekutive findet sich jedoch in der Wortlautgrenze. Wird der meiner Ansicht nach weite Auslegungsspielraum unzweifelhaft überschritten oder kann eine Lücke nicht durch rechtsfortbildende Auslegung geschlossen werden, können die zuständigen Behörden sich nur dahin einigen, dass keine Lösung gefunden werden kann. Denn nur eine dem DBA widersprechende Besteuerung soll vermieden werden, nicht eine dem DBA entsprechende. Diese Fälle dürften selten sein, sind aber durchaus denkbar. Dann verbleibt nur die potentielle Abhilfe im Billigkeitswege außerhalb eines Streitbeilegungsverfahrens, soweit das nationale Verfahrensrecht dies ermöglicht. Zu der Frage, ob die zuständigen Behörden einen Treaty Override übergehen dürfen, erfordert meiner Ansicht nach eine Einzelfallbetrachtung im Hinblick auf die jeweilige streitgegenständige Norm; insbesondere hängt es von der Art des Treaty Override ab. Kern der Fragestellung ist, ob eine DBA-Norm, die Art. 25 Abs. 2 OECD-Musterabkommen entspricht, einen Treaty Override überschreiben kann oder der Treaty Override den Auftrag an die zuständigen Behörden aus einer dem Art. 25 Abs. 2 OECD-Musterabkommen entsprechenden Norm. Dabei ist der Wille des Gesetzgebers entscheidend. In der Verständigungsphase sind die zuständigen Behörden lediglich gehalten, sich um eine Einigung über die Streitfrage zu bemühen. Handelt es sich um einen Treaty Override im völkerrechtlichen Sinne oder um eine Mischform, in dem der Gesetzgeber ungeachtet der DBA eine Besteuerung in Deutschland anordnet, dürfte es in der Regel eindeutig sein, dass der Gesetzgeber der Exekutive keine Kompetenz gibt, diese Besteuerungsanordnung zu übergehen. Anderes könnte meiner Ansicht nach in Einzelfällen lediglich dann gelten, wenn ein innerstaatlicher Treaty Override streitgegenständlich ist oder

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der Gesetzgeber eindeutig mit einem Treaty Override ausschließlich das Ziel verfolgt, eine doppelte Nichtbesteuerung zu vermeiden, ohne dass notwendigerweise Deutschland das Besteuerungsrecht zugewiesen wird, und in konkreten Einzelfall keine doppelte Nichtbesteuerung droht.

IV. Conclusio – Annäherung an eine Bestimmung der angemessenen Rolle von DBA-Verständigungsverfahren Vor dem Hintergrund der erfolgten rechtspraktischen und rechtsdogmatischen Erwägungen möchte ich mich der Bestimmung der angemessenen Rolle von DBA-Verständigungsverfahren annähern. Bildlich gesprochen handelt es sich bei diesen Verfahren um ein einzelfallbasiertes Handeln, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. DBA-Verständigungsverfahren sollen unmittelbar weder aus rechtspraktischer noch aus rechtsdogmatischer Perspektive eine allgemeingültige und rechtssichere Klärung einer abstrakten DBA-Auslegungsfrage und auch keine Rechtsfortbildung beziehungsweise -Konkretisierung herbeiführen. Als ein regelmäßig zu beschreitender Verfahrensschritt bei grenzüberschreitenden Sachverhalten wäre die Anzahl der Streitbeilegungsverfahren bereits aus praktischen Erwägungen heraus nicht handhabbar. Einem Instrument kann und sollte zudem nicht ein Mehr an Maßgeblichkeit zugewiesen werden als den handelnden Personen Kompetenz innewohnt. Ansonsten würde der Dreiklang der Gewaltenteilung auf dieser Ebene aus dem Lot geraten und Folge wäre eine Maßgeblichkeit des Verfahrensrechts über das materielle Recht hinaus. Streitvermeidung, Streitbeilegung und der Rechtsweg sollten sich vielmehr in einer praktischen Konkordanz ergänzen und gegenseitig in ihrer jeweiligen Rolle unterstützen. DBA-Verständigungsverfahren sind meines Erachtens nach ein äußerst wichtiges Instrument für den Rechtsfrieden im Einzelfall, das auch bereits ob seiner Existenz abstrakt-generell den Rechtsfrieden befördert. Die Verfahren sind aber auf das Lösen von Einzelfällen ohne rechtliche Präzedenzwirkung beschränkt. Sie sind kein Ersatz dafür, bei Wissen um Streitfragen und Lücken auf Dauer einen generellen Rechtsfrieden herzustellen. Um das zu erreichen, sind die zugrunde liegenden Fragestellungen einer abstrakt-generellen Klärung zuzuführen.

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Dies ist auf Ebene der Legislative mittels der Revision von DBA möglich, was allerdings sehr zeit- und ressourcenaufwendig ist, beziehungsweise durch Rechtssetzung im rein nationalen Recht, was allerdings im Zweifel den Erlass eines Treaty Overrides bedeutet. Die Gerichtsbarkeit spielt ebenfalls bei der Schaffung von Rechtsfrieden eine entscheidende Rolle. Bei Streitigkeiten über die Auslegung einer DBA-Norm kann derart der Rechtsfrieden regelmäßig jedoch nur im Inland hergestellt werden. Nationale Gerichtsentscheidungen beseitigen nicht automatisch internationale Konflikte, sie lassen vielmehr teilweise neue entstehen. Den nationalen Rechtswegen sind ihnen innewohnende Funktionsgrenzen gesetzt. Ihnen kann meiner Ansicht nach auch nicht isoliert eine höhere Funktionsebene zugewiesen werden, da auf jeder Ebene der sachgerechte Gleichklang der Gewaltenteilung zu wahren ist. Kurz gesagt, erfordert ein internationales Gericht zugleich ein diesem Kompetenzrahmen entsprechendes internationales Legislativorgan. Nicht zuletzt nimmt auch die Exekutive eine wichtige Rolle ein, um Rechtsfrieden zu schaffen und zu bewahren. Im Rahmen der Kompetenz der Exekutive kann diese zu DBA-Auslegungsfragen einen internationalen Konsens herstellen, eine internationale Übung begründen sowie Konsultationsvereinbarungen abschließen. Eine gleichmäßige regelbasierte Aufteilung des Besteuerungsrechts ist nur bei einer widerspruchsfreien Anwendung und Auslegung des DBA durch beide Vertragsstaaten möglich.15 Meines Erachtens kommen den Konsultationsvereinbarungen für die Streitvermeidung im materiell-rechtlichen Sinne, der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und Transparenz eine besondere Rolle zu. Insbesondere dann, wenn sich zwei Vertragsstaaten über eine Auslegung verständigen, die zwar nur eine von mehreren möglichen Auslegungen darstellt, sich aber innerhalb der Wortlautgrenze bewegt. Jedes der angesprochenen Instrumente hat seine Rolle und seinen Platz. Dieser ist jeweils zu finden und zu definieren, um sie zielgerichtet weiterzuentwickeln um ihnen innerhalb der rechtlichen und praktischen Grenzen ihren angemessenen und sachgerechten Raum zu geben.

15 BFH v. 14.12.1988 – I R 148/87, juris Rz. 17.

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Diskussion zu den Referaten von Dr. Isabella Zimmerl und Silke Bruns Prof. Dr. Ekkehart Reimer, Heidelberg Vielen Dank für diese beiden klaren, spannenden und analytisch starken Referate. Ich habe eine kurze Frage an Frau Zimmerl und eine etwas längere an Frau Bruns: Frau Zimmerl, Sie haben vor allem am Anfang des Referats sehr klar zwischen Advanced Pricing Agreements und Verständigungsvereinbarungen getrennt. Ich frage mich, ob das nicht doch dasselbe ist, jedenfalls dann, wenn man unter Advanced Pricing Agreements eben auch ein zwischenstaatliches Verfahren versteht, nicht nur die innerstaatliche, also unilaterale verbindliche Auskunft über Verrechnungspreise. Die Frage an Frau Bruns ist zweiteilig. Sie betrifft Ihre strenge Sicht auf den Art. 25 Abs. 2 OECD-MA, die dahin geht, dass die Vorschrift letztlich nur der Klärung von Einzelfällen diene. Ich verstehe, dass Sie einen starken Akzent auf die Klärung von Tatfragen setzen. Ich widerspreche nicht. Und doch braucht man auch Tatfragen nur zu beantworten, wenn man auch den rechtlichen Obersatz klärt, also das Abkommen auslegt. Diese Klärung in rechtlicher Hinsicht ist m.E. auch von Art. 25 Abs. 2 OECD-MA gedeckt. Damit erlangen auch die Verständigungsverfahren nach Art. 25 Abs. 2 OECD-MA etwas Allgemeingültiges. Denn man wird das Abkommen nicht heute so und morgen anders auslegen. Das wäre jedenfalls irrational und wenig rechtsstaatlich. Es entspräche auch nicht den Anforderungen, die die Wiener Vertragsrechtskonvention an die Stetigkeit einer völkerrechtlichen Praxis stellt. In diesem Zusammenhang darf man vielleicht auf Art. 31 Abs. 3 der Wiener Vertragsrechtskonvention verweisen: Selbst wenn es den Art. 25 Abs. 2 OECD-MA nicht gäbe, wäre trotzdem klar, dass die spätere Praxis der Vertragsstaaten jedenfalls da, wo sie einvernehmlich erfolgt, wo man sich also auf ein ganz bestimmtes Ergebnis einigt, aus völkerrechtlicher Sicht auch für die Zukunft maßgeblich wird. Das folgt aus Art. 25 GG, zudem aus dem Zustimmungsgesetz zu der Wiener Vertragsrechtskonvention. Es kommt also zu einer wirksamen Nachverdichtung des DBA innerhalb seiner Wortlautgrenzen, und zwar gerade da, wo der Wortlaut offen ist, wo er vertretbar unterschiedliche Auslegungen zulässt. Diese verwaltungsseitige Nachverdichtung ist völkerrechtlich und wegen des innerstaatli-

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Diskussion – zu Zimmerl und Bruns

chen Zustimmungsgesetzes zum Vertrag und zur Wiener Vertragsrechtskonvention auch innerstaatlich beachtlich. Sie bindet insbesondere auch die Rechtsprechung. Das ist verfassungsrechtlich zwingend. Der zweite Teil meiner Frage betrifft Art. 25 Abs. 3 OECD-MA, der ja auch in den meisten deutschen DBA enthalten ist. Hier ist nun völlig klar, dass es um die Auslegung des DBA, d.h. um die Obersatzbildung geht. Vielleicht hilft es, wenn man es der zuständigen Behörde gestattet, die Verfahren nach Art. 25 Abs. 2 und nach Art. 25 Abs. 3 OECD-MA nicht streng zu trennen. Meines Erachtens ist das DBA nicht so zu lesen, dass es zwei unterschiedliche und voneinander abzuschottende Verfahren zur Verfügung stellt, sondern dass es eine Art Übergang ad hoc zwischen beiden erlaubt. Deshalb könnten Sie meines Erachtens insgesamt etwas mutiger betonen, dass die Verwaltung selber nachträglich Recht setzen darf. Dieses Recht darf Verbindlichkeit beanspruchen. Prof. Dr. Matthias Valta, Düsseldorf Ich will mich einerseits meinem Vorredner anschließen; vielen Dank für die tollen Referate. Auch möchte ich mich dessen Frage anschließen: Was sind die Möglichkeiten, die sich ergeben, gerade auch für Art. 25 Abs. 2 OECD-MA? Die Differenzierung zwischen „echten“ und „unechten“ treaty overrides möchte ich unterstützen. Was ich nochmals rückfragen wollte: Darf ein Verständigungsverfahren ein Gerichtsurteil übergehen, oder kommt es zu einem Problem mit Art. 19 Abs. 4 GG? Was auch auf den Beitrag von Herrn Seer jetzt noch Bezug genommen hat. Wir reden nicht darüber, dass ein Verständigungsverfahren ein Urteil im konkreten Fall übergeht, sondern ob eine Rechtsprechungslinie abweichenden Verständigungen in nicht judizierten Fällen entgegensteht. In anderen gleichgelagerten Fällen bindet die Rechtskraft des Urteils nicht. Das Gericht entscheidet immer den einzelnen Fall. Die Finanzverwaltung darf sich der Nichtanwendungserlasse bedienen, so unschön das ist. Denn man darf auch aus Finanzverwaltungssicht gegen die Rechtsprechung in neuen Verfahren „ankämpfen“, weil die Rechtsprechung ein lernendes System ist, sich vielleicht ändert. Warum soll dann nicht mit Einverständnis des Steuerpflichtigen – der müsste dann dementsprechend zustimmen – in einem parallel gelagerten Fall eine Verständigung entgegen der Rechtsprechung ergehen? Danke.

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Prof. Dr. Klaus-Dieter Drüen, München Herr Valta hat den Punkt schon genannt, den ich auch ansprechen wollte. Frau Bruns hat bereits betont, dass die Verständigung nur mit Zustimmung des Steuerpflichtigen wirkt. Darum ist das Argument aus Art. 19 Abs. 4 GG aus meiner Sicht nicht unbedingt schlagend, weil der Steuerpflichtige seinen Rechtsschutz erlangt. Dann besteht die Frage, ob dieser überrollt wird. Ich sehe eher ein Problem – das hatten Sie in einem Nebensatz unter Hinweis auf den Dreiklang der Gewaltenteilung genannt – hinsichtlich der Gewaltenloyalität. Darf wirklich, wenn der BFH rechtskräftig entschieden hat, sein Ergebnis nochmals durch die Verwaltung in demselben Fall überrollt werden oder darf sie die missliebige Entscheidung – Herr Valta hatte das Stichwort schon genannt – nur für andere Fälle zum Anlass nehmen, den Richterspruch nicht als allgemeine Maxime anzusehen? Wir reden viel über Nichtanwendungserlasse, aber dahinter steckt ja der Grundsatz, dass sich die Administrative den richterlichen Rechtssatz über den Einzelfall hinaus überhaupt zur allgemeinen Leitlinie der Verwaltungspraxis macht. Das ist das Entscheidende im Steuerrecht als Massenfallrecht. Dieses Recht sehe ich nicht tangiert. Was die gemeinsame Übung angeht, hat Ekkehart Reimer schon gesagt, dass in der Tat zwar keine authentische Auslegung – so klang es bei Ihnen an, Frau Bruns – durch die Finanzbehörde erfolgt, aber ein gemeinsamer Konsens als gemeinsame Übung nach der Wiener Vertragsrechtskonvention eine Auslegungsrelevanz hat. Was mich noch interessieren würde ist Folgendes: Wir haben die Wirkung nationaler Urteile klein geredet und gesagt, sie haben keine Relevanz, aber es ist zumindest Übung, gute Übung. Man kann sich streiten, wie weit der Topos der Entscheidungsharmonie trägt, aber ich halte es für richtig, dass sich ein Gericht eines anderen Staates die Rechtsprechung des Partnerlandes anschaut und zumindest versucht, im Rahmen der Möglichkeiten zu einer „harmonischen“ Auslegung zu kommen. Ekkehart, ich glaube, wir sind unterschiedlicher Ansicht, was den Wortlaut als Grenze angeht. Wir sehen bei den Konsultationsvereinbarungen deutliche Beispiele, wo der BFH die übereinstimmende Auslegung als außerhalb jeglicher Wortlautauslegung ansieht. Gerade bei der abkommensgerechten Rentenbesteuerung bin ich kritisch, was die Dispositionsbefugnis der Verwaltung angeht. Gerade bei grenzüberschreitenden Rentenfällen bringt die Praxis gemeinsame Lösungen in Konsultationsvereinbarungen hervor, wo der eine Staat gar kein Besteuerungsrecht national reklamiert und dann gerne in einer Konsultationsvereinbarung darauf „verzichtet“. Das ist außerhalb des Rechts. Der BFH hat festgestellt, dass

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der Abkommenswortlaut als „Grenzmarke“ für das „richtige“ Abkommensverständnis überschritten werde. Also ich bin ein wenig ambivalent. Ich verstehe – und das fand ich sehr schön an Ihrem Vortrag –, wie Sie den Geist des Abkommens und die Aufgabe der Verwaltung innerhalb des Abkommens dargestellt haben. Auf der einen Seite meine ich aber – wie Ekkehart Reimer –, könnte man noch mutiger sein, auf der anderen Seite sehe ich aber engere Grenzen. Soweit mein ambivalentes Statement. Prof. Dr. Roman Seer, Bochum Ich habe auch zwei Fragen und, ja, vielleicht auch Anmerkungen dazu. Einmal, ich fange mal mit Ihnen, liebe Frau Zimmerl, an. Könnten Sie sich nicht vielleicht doch vorstellen, dass auch so ein Outcoming Letter im Sinne eines Assurance zwar nicht die Verbindlichkeit einer verbindlichen Auskunft oder Zusage erhält, aber so etwas, was, ja, ich sage mal in der Mitte, also Mezzanin könnte man auch sagen, zwischen schlichtem soft law und hard law steht im Sinne so einer präsumtiven Annahme, dass also, wenn jetzt dieser in dem ICAP-Prozess angeschaute Fall jetzt in dieser Risikoklasse verbleibt, dass dann nicht weiter geprüft wird und dass man dann vielleicht auch Annahmen sowas ähnliches doch wie Critical Assumptions im Zusammenhang mit dem APA, die wir dort kennen, nicht vielleicht doch ein paar Annahmen, Ponderabilien vielleicht im Sinne einer Regel-Beispiel-Methode formulieren könnte? Was sind dann Fälle, die in eine andere Risikobewertung kommen, so dass diese präsumtive Verbindlichkeit dann nicht mehr gilt? Dann hätten wir immerhin etwas mehr als dieses schlichte soft law. Das wäre also eine Frage an Sie. Die zweite Frage: Sie haben ja ganz kurz das für mich bisher unbekannte Verfahren der Finnen angesprochen unter dem Stichwort Cross-border Dialogue. Können Sie da nochmals, das war für mich ein bisschen kurz, erklären, wie also da der Unterschied zu verstehen ist zu einem Joint Audit und was das gerade ausmacht, dass wir da schneller sind, nämlich innerhalb von drei bis sechs Monaten, so hatte ich es mir aufgeschrieben, in diesem finnischen Prozess. Und dann an Sie, liebe Frau Bruns: Für mich, ich bin da ja nicht so in dem Thema, das gebe ich ehrlich zu. Also ich weiß gar nicht, ob ich dazu etwas sagen darf, wenn ich da gar nicht so richtig drin bin. Aber ich habe mir nur mal so vorgestellt, was Ekkehart Reimer eben ansprach, und ein bisschen weiter gedacht. Ja, man hat einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, ob ein Verständigungsverfahren beschritten wird oder nicht. Bräuchte ich da nicht doch auch, um, ich sage mal die Ermessens-

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fehlerfreiheit in irgendeiner Form überprüfen zu können, auch irgendeine Information über die Verwaltungspraxis, die sie pflegen, und brauche ich daher nicht auch ein gewisses Mindestmaß an Transparenz, dass dieser Anspruch nicht im Grunde in einem schlicht freien Ermessen liegt, was dann vielleicht an Kapazitätsgrenzen, wie viele Personen Sie haben und sonst was, letztlich festzumachen ist, so dass es also auch kein echter Anspruch, auch kein echter Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung darstellt. Und die andere Frage ist, ob man das wirklich so trennen kann? Das ist nur eine reine Einzelfallfrage, hat keinerlei präjudizielle Wirkung. O.k., das kann ich nachvollziehen. Aber ist es nicht doch so, dass dadurch Auslegungsfragen des DBA-Rechts in einer bestimmten Weise behandelt werden und dass nicht doch auch ein großes Interesse bestehen müsste, welche Praxis schleicht sich jetzt gerade in diesen Prozessen eigentlich ein. Also so, dass ich auch da so das Gefühl hätte, ich bräuchte mehr Transparenz. Prof. Dr. Roland Ismer, Erlangen-Nürnberg Ich habe einen kleinen Punkt zum Anspruch der Steuerpflichtigen auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens. Ich glaube, wir sind insbesondere dann, wenn wir nachgelagerte Schiedsverfahren haben, damit zu zögerlich. In der Konstellation sollten wir so weit gehen, dem Steuerpflichtigen nicht nur einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung, sondern einen gebundenen Anspruch zuzugestehen – die ganze Architektur ist darauf angelegt, dass der Streit zwischen den Behörden beseitigt werden wird. Wir müssen dann aber zugleich deutlicher werden, was Ausschlussgründe sind. Es ist durchaus denkbar, dass der Zugang zu den Schiedsverfahren nicht unbeschränkt ist. Die Ausschlussgründe ließen sich dann auch für die Einleitung des Verständigungsverfahrens auf der ersten Stufe heranziehen. Wir sollten die Behörde hier nicht allzu frei agieren lassen, wenn der Gesetzgeber eigentlich eine andere Konzeption verfolgt hat. Dr. Isabella Zimmerl, München Ja, vielen Dank für die interessanten Fragen. Herr Reimer, Sie hatten mich nach der Differenzierung zwischen Vorabverständigungsvereinbarungen und APAs gefragt. Ich glaube, da müssen wir zunächst festhalten, dass „APA“ kein präziser Begriff im Sinne des deutschen juristischen Verständnisses ist. Die beiden Instrumente lassen sich nicht immer gleichsetzen und unter den Begriff APA können etwa auch unilaterale

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rulings fallen. Zudem ist jeder Staat frei in seiner Einordnung solcher Instrumente. Ich glaube allerdings schon, dass sich APAs mittlerweile aufgrund der Art und Weise, wie sie gelebt werden – und durch die inzwischen überwiegend erteilten bilateralen oder multilateralen APAs – in Richtung der (Vorab-)Verständigungsverfahren bewegen. Wenn ich in meinem Vortrag von bilateralen APAs gesprochen habe, dann meinte ich auch genau diese Konstruktion, also ein völkerrechtliches Verfahren, an dessen Ende eine Vereinbarung zwischen Staaten steht. Dann hatten Sie gefragt, Herr Seer, ob der outcome letter, oder assurance letter, nicht eine Zwitterstellung haben könnte, ob ein Weg zwischen soft law und hard law denkbar ist? Hier kann ich mir vieles vorstellen und es ist auch klar: Faktische Rechtssicherheit zu haben ist natürlich besser als keine Rechtssicherheit zu erlangen. Allerdings glaube ich, dass die international tätigen Unternehmen vor allem Verlässlichkeit benötigen und die Erfahrung zeigt, dass die Dinge in der Praxis zumindest teilweise hinter dem zurückbleiben, was in der jeweiligen Vorgabe – Gesetz, DBA oder soft law – steht. Vereinzelt hört man etwa, dass es Joint Audits geben soll, in denen kein Joint-Audit-Bericht erteilt wird. Wenn wir also wissen, dass die Vorgaben nicht immer vollständig eingehalten werden, denke ich, tun wir gut daran, die Vorgaben möglichst hoch aufzuhängen, damit die Praxis diesen Spielraum etwas nutzen kann und auch ein Ergebnis, das hinter der Vorgabe zurückbleibt, noch ausreichende Rechtssicherheit bietet. Dann hatten Sie mich gebeten, zum cross-border dialogue der finnischen Finanzverwaltung noch ein paar Punkte zu sagen, insbesondere wie dieser sich von Joint Audits unterscheidet und weshalb die Verfahrensdauer so kurz ist. Dazu muss man wissen, dass der cross-border dialogue keine vollständige Prüfung der steuerlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen oder von ganzen Steuerjahren ist, sondern es dabei um punktuelle Fragen, einzelne Transaktionen, bestimmte Themen wie z.B. der Einstufung einer Präsenz als Betriebsstätte oder als ständiger Vertreter geht. Diese Reduzierung im Bereich des Sachverhalts bringt bereits eine starke Beschleunigung des Verfahrens mit sich. Es scheint auch so zu sein, ohne dass ich das in den wenigen Quellen genau nachvollziehen konnte, dass der cross-border dialogue eher aus Gesprächen und Dokumentenprüfung besteht, und eher keine Ortstermine stattfinden, wie sie bei Joint Audits typisch sind. Das spart weitere Zeit ein, da die Betriebsprüfer nicht reisen müssen. Insgesamt würde ich den cross-border dialogue auch eher bei APAs einordnen als bei einer Betriebsprüfung oder einem

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Joint Audit. Schließlich ist zu beachten, dass sich das Ergebnis des crossborder dialogue nach den nationalen Vorschriften richtet. Also beide beteiligten Jurisdiktionen erteilen am Ende des Verfahrens ein Instrument oder Dokument, das in ihrer Rechtsordnung vorgesehen ist. So können sie auf Erfahrung und bisherige Praxis zurückgreifen, was erneut Zeit einspart, indem sie sich nicht etwa auf neue Instrumente oder Regeln einlassen müssen. Ich denke, das sind die Hauptgründe, warum ein cross-border dialogue so schnell abgeschlossen werden kann. Silke Bruns, Berlin Ich bedanke mich ganz herzlich für diese Fragen, weil sie auf zwei, drei Punkte eingehen, die ich aus Zeitgründen gekürzt hatte. Daher kann ich jetzt die Möglichkeit nutzen, das eine oder andere vielleicht noch ein bisschen näher beziehungsweiser klarer auszuführen. Zunächst eine kurze Klarstellung anlässlich der Überlegungen von Roland Ismer: Bemühen und gemeinsames Reden ist auch meiner Ansicht nach immer gut und die Schwelle, dies tun zu können, sollte eine möglichst niedrige sein. Gerade aus diesem Grund erachte ich eine Trennung zwischen den Zugangsvoraussetzungen für ein Verständigungsverfahren und den Zugangsvoraussetzungen für eine sich potentiell anschließende Schiedsphase als sinnvoll. Gerade dies ermöglicht, dass die zuständigen Behörden zumindest die Möglichkeit haben, gerade auch Fälle, für die eine Schiedsphase nicht sachgerecht wäre, dennoch auszuloten, eventuell bestehende Missverständnisse aufzudecken, Tatsachen aufzuklären und gegebenenfalls sogar doch ein gemeinsames Rechtsverständnis zu entwickeln. Zu der Frage Kompetenz und Art. 19 Abs. 4 GG: Diesbezüglich hatte ich meine Ausführugen etwas gekürzt. Meine sehr stringente Linie bei der Betrachtung der verfassungsrechtlich gebotenen Grenzen des Handelns der Exekutive bezieht sich auf Gerichtsentscheidungen im Sinne von Einzelentscheidungen, die genau den Sachverhalt, genau den Steuerpflichtigen und genau den Veranlagungszeitraum betreffen. Bei anderen Entscheidungen, das ist im Vortrag vielleicht etwas zu kurz gekommen, sehe ich mehr Spielraum für die zuständigen Behörden. Ich sehe in den Grenzen des Wortlauts einen grundsätzlich weiten Auslegungsspielraum Dies führt in Folge zu interessanten weiteren Fragen, u.a.: Kann derselbe Wortlaut im Verhältnis zu verschiedenen Staaten gegebenenfalls unterschiedlich auszulegen sein? Dies mit der Begründung, dass zwar derselbe Wortlaut verwendet wurde, die Übung mit dem anderen

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Staat jedoch eine andere ist oder die nationalen Rechtssysteme der jeweiligen Vertragsstaaten andere sind. Derartigen Überlegungen stehe ich sehr offen gegenüber und ich bin auch der Auffassung, dass die Verwaltung insoweit einen sehr breiten Spielraum hat. Dies vor dem Hintergrund meiner Ausführungen Anfang meines Vortrags, in dem ich relativ viel Zeit darauf verwendet habe, um die Hintergründe, wie ein DBA entsteht, zu erläutern sowie auch die Charakteristika von DBA-Verteilungsnormen als sehr allgemein gehaltene Kollisionsregelungen, die auf Dauer angelegt sind, aber zu einem bestimmten Zeitpunkt verhandelt und vom Gesetzgeber beschlossen werden. Insoweit sehe auch ich einen großen Auslegungsspielraum, der meiner Ansicht nach auch der Verwaltung eingeräumt werden sollte. Damit komme ich jetzt zu meinem letzten Punkt: Art. 25 Abs. 2 und Art. 25 Abs. 3 OECD-Musterabkommen, beziehungsweise, wie die Einzelverständigungsverfahren und die generellen Konsultationsverfahren häufig beziffert werden, Art. 25 Abs. 1 und Art. 25 Abs. 3 OECD-Musterabkommen. Das Verhältnis dieser beiden Instrumente zueinander sollte präzise bedacht werden. Wie ich am Ende meines Vortrags betont habe, sind die Einzelverständnisverfahren meiner Ansicht nach ein sehr wichtiges Instrument. Doch die Abgrenzung zu den allgemeinen Konsultationsvereinbarungen muss meiner Ansicht nach klar und konsequent respektiert werden. Das sehe ich sicherlich allein schon deshalb so, weil die Einzelverständigungsverfahren grundsätzlich an das Bundeszentralamt der Steuern delegiert sind, die Konsultationsverfahren dagegen nicht. Wenn es um die bilaterale Festlegung einer generellen Auslegung einer Abkommensregelung geht, ist das Ministerium der Finanzen befasst. Wichtig ist mir diese Differenzierung der Instrumente allein schon aus dem Beweggrund, dass jedes Instrument seinen Platz hat und auch klar definiert sein sollte, damit insoweit Transparenz und Rechtssicherheit besteht, welche Wirkung und Reichweite das eine oder andere Instrument hat. Einzelfallverständigungsverfahren können durchaus Anlass sein für ein Konsultationsverfahren. Und genau das ist mein Ziel und mein Pepitum im Hinblick auf Verfahren, die Auslegungs- und Rechtsfragen betreffen: Ein Einzelfeststellungsverfahren ist dem Grunde nach stets ein Anlass, zu fragen, ob dieses sich im Bereich der Tatsachenfeststellungen, wie der konkreten Feststellung eines Verrechnungspreises im Einzelfall, bewegt, oder ob sich eine grundsätzliche Auslegungs- oder Anwendungsfrage zugrunde liegt. Mit anderen Worten: Ist es die Spitze des Eisbergs? Und wenn es die Spitze des Eisbergs ist, dann würde ich es nicht begrüßen, wenn dieser Eisberg in Einzelverständi-

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gungsverfahren nur für diejenigen, die einen Antrag auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens stellen, umschifft wird. Vielmehr sollte ein bekannter Konflikt einer generellen rechtsbefriedenden Klärung zugeführt werden. Und das ist die Rolle des Instruments der Konsultationsverfahren. Ich bin sehr gespannt auf die Entscheidungen des BFH in einem aktuell anhängigen Verfahren (I R 43/20) zum DBA Luxemburg, bei dem die Rechts- oder vielleicht auch Bindungswirkung einer Konsultationsvereinbarung, die sich innerhalb des Wortlauts des DBA bewegt, thematisiert werden könnte. Ich vertrete die Auffassung, dass innerhalb der Wortlautgrenze die Verwaltungen der Vertragsstaaten nicht nur sich selbst, sondern auch die Steuerpflichtigen binden können und diese Konsultationsvereinbarungen dann auch vor Gericht Bestand haben sollten. Doch ist es selbstverständlich nicht in der Kompetenz der Exekutive, für Deutschland abschließend zu entscheiden, was die Exekutive darf und was nicht. Es besteht derzeit steht die folgende Herausforderung: Uns steht zum einen das Instrument der Konsultationsvereinbarungen zur Verfügung, die mit dem anderen Vertragsstaat verhandelt und abgeschlossen werden müssen und die – jedenfalls noch – mit einer gewissen Unsicherheit verbunden sind, ob sie eine hinreichende Rechtssicherheit geben können. Der Gesetzgeber hat des Weiteren die Möglichkeit, nationales Recht zu setzten. Die entsprechende Norm wäre allerdings zumeist ein treaty override oder jedenfalls ein potentieller treaty override, um hinreichende Rechtssicherheit gewähren zu können, was per se nicht unproblematisch ist. Oder, als dritte Option, müsste das DBA revidiert werden, sofern nicht eine Notifikationsklausel genutzt werden kann. Das sind jeweils Prozesse, die Zeit in Anspruch nehmen, und es stellt sich die Frage, wie in der Zwischenzeit mit den anhängigen Fällen und dem zugrunde liegenden Problem verfahren werden kann und sollte? Vor diesem Hintergrund ist es dann für alle Beteiligten befreiend und in der Rechtspraxis ein guter und sachgerechter Weg, dass Art. 25 Abs. 1 bzw. 2 OECD-Musterabkommen allen Beteiligten in dieser Zeit helfen kann, indem mit einer Lösung im Rahmen eines Einzelverständigungsverfahrens Einzelfälle pragmatisch gelöst werden können, weil dieser Lösung gerade nicht automatisch qua faktischer Präzedenzwirkung, einer Veröffentlichung mit Präjudizeffekt oder der Annahme einer Übung eine Bedeutung über den Einzelfall hinaus beigemessen wird. Damit ein Einzelfallverständigungsverfahren diese Funktion wirklich ausüben kann, ist meiner Ansicht nach die Differenzierung zwischen Konsultationsverfahren und Einzelverständigungsverfahren erforderlich. Müsste jede Lösung im Einzelfall den Test bestehen, auch als generelle Lösung

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des zugrunde liegenden Konflikts zu dienen, würde dies die Handlungsfähigkeit der zuständigen Behörden stark einschränken. Im Rahmen von Einzelverständigungsverfahren sollen die zuständigen Behörden die Kompetenz und Freiheit haben, pragmatische Lösungen zu finden. Es ist aber den Konsultationsvereinbarungen vorbehalten, generelle Lösungen zu vereinbaren.

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Das Schiedsverfahren im internationalen Steuerrecht – unter Berücksichtigung der schweizerischen DBA-Praxis Prof. Dr. René Matteotti, LL.M. Rechtsanwalt, Universität Zürich

Dr. Büsra Beceren Rechtsanwältin, Universität Zürich

I. Einleitung II. Schiedsklauseln in der DBAPolitik der Schweiz 1. Grundlage 2. DBA der Schweiz mit Schiedsklauseln 3. Multilaterales Instrument 4. Gründe für die Aufnahme von DBA-Schiedsklauseln 5. Pflicht zum Abschluss von Durchführungsbestimmungen 6. Arten von Schiedsklauseln III. Schiedsverfahren 1. Grundzüge a) Gegenstand des Schiedsverfahrens gemäß OECD-MA b) Gegenstand des Schiedsverfahrens gemäß MLI c) Spezifika der Schweizerischen Abkommenspraxis 2. Zeitpunkt der Einleitung des Schiedsverfahrens a) Gemäß OECD-MA b) Gemäß MLI c) Spezifika der Schweizerischen Abkommenspraxis 3. Gründe für Ausschluss oder Aufschub des Schiedsverfahrens a) Gemäß OECD-MA b) Gemäß MLI c) Spezifika der Schweizerischen Abkommenspraxis

4. Übersicht des Verfahrensablaufs a) Verfahrensablauf gemäß Sample Mutual Agreement on Arbitration b) Verfahrensablauf gemäß MLI 5. Ernennung der Schiedsrichter a) Gemäß OECD-MA/MLI b) Abkommenspolitik der Schweiz 6. Rechtsstellung der gesuchstellenden Person 7. Kompetenzen der Schiedsstelle bei einer final offer arbitration 8. Entscheidung bei einer final offer arbitration 9. Umsetzung des Schiedsspruchs IV. Nationale Umsetzung der Verständigungsvereinbarung 1. Nationale Rechtsgrundlage 2. Umsetzungsverfügung bei rechtskräftiger Veranlagungsverfügung 3. Umsetzung im offenen Verfahren 4. Rechtsmittel gegen die Veranlagungsverfügung 5. Dauer der Umsetzungspflicht 6. Verzinsung, Kosten und Entschädigungen 7. Verrechnungssteuern bei Sekundärberichtigung V. Gesamtwürdigung und Schlussbetrachtung

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I. Einleitung Durch die Globalisierung und dadurch zunehmendem grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr werden die Steuerpflichtigen vermehrt mit Situationen konfrontiert, in denen es zu Überschneidungen der Besteuerungsansprüche der am zwischenstaatlichen Handel beteiligten Staaten kommt.1 Aufgrund des Souveränitätsprinzips haben innerstaatliche Gerichte allerdings keine Kompetenz, den von einer ausländischen Steuerbehörde geltend gemachten Besteuerungsanspruch einer rechtlichen Überprüfung bzw. einer Beurteilung zu unterziehen, weshalb die nationalen Rechtsmittelverfahren mitunter nicht ausreichen, um eine mögliche abkommenswidrige Besteuerung eines anderen Staates zu prüfen und zu beseitigen. Die Doppelbesteuerungsabkommen2 sehen deswegen einen alternativen Streitbeilegungsmechanismus vor, nämlich das Verständigungsverfahren, welches mit einer Schiedsklausel verbunden werden kann. Der vorliegende Aufsatz untersucht ausgewählte Aspekte des Schiedsverfahrens im Steuerrecht, die im Grenzbereich zwischen Völkerrecht, dem nationalen Verfahrensrecht sowie dem innerstaatlichen Steuerrecht verlaufen. Die Analyse erfolgt dabei aus einer schweizerischen Perspektive. Den völkerrechtlichen Aspekten dieses Aufsatzes Rechnung tragend dient der erste Teil der Schaffung einer Übersicht der schweizerischen Abkommenspraxis. Der zweite Teil beschäftigt sich ausführlich mit dem Schiedsverfahren als unselbständiger Verfahrensabschnitt des Verständigungsverfahrens im internationalen Steuerrecht. Beginnend mit einer kurzen Darstellung der OECD-Musterschiedsklausel3 werden neben einer Übersicht zum Verfahrensablauf, die verschiedenen Arten des Schiedsverfahrens und die Wirkungen des Schiedsspruchs auf völkerrechtlicher Ebene dargestellt. Stets wird dabei auch ein Blick auf die Rechtslage gemäß dem multilateralen Instrument4 und den von der Schweiz abgeschlossenen DBA geworfen. Der Fokus liegt dabei auf dem Anspruch auf Einleitung eines Schiedsverfahrens und allfälligen Gründen, die zum Ausschluss eines Schiedsverfahrens führen können. Be1 Unser herzlicher Dank gilt dem derzeitigen wissenschaftlichen Hilfsassistenten Giovanni Maria Giusti, BLaw, und dem ehemaligen wissenschaftlichen Hilfsassistenten Stefan Bollinger, BLaw, für die vielseitige Unterstützung bei der Ausarbeitung dieses Beitrages. 2 Folgend DBA. 3 Folgend OECD-MA. 4 Folgend MLI, SR. 0.671.1.

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leuchtet wird auch die rechtliche Stellung der antragstellenden steuerpflichtigen Person im Rahmen der Einleitung und der Durchführung eines Schiedsverfahrens. Der dritte Teil des Aufsatzes widmet sich spezifisch der innerstaatlichen Ebene, indem die Thematik der nationalen Umsetzung der Verständigungsvereinbarung unter Berücksichtigung des am 1.1.2022 in Kraft getretenen Bundesgesetzes über die Durchführung von internationalen Abkommen im Steuerbereich5 analysiert wird. Der vierte Teil beinhaltet schließlich eine kurze kritische Würdigung der derzeitigen Schiedsverfahren im internationalen Steuerrecht.

II. Schiedsklauseln in der DBA-Politik der Schweiz 1. Grundlage Die Vereinbarung von Schiedsklauseln ist ein fester Bestandteil der schweizerischen DBA-Politik.6 Die erste Schiedsklausel in einem schweizerischen DBA wurde mit den USA vereinbart (vgl. Tabelle 1). Das DBA inklusive der Schiedsklausel trat am 19.12.1997 in Kraft.7 Nach der Aufnahme der Schiedsklausel in das OECD-MA im Jahre 20088 wurden innert kurzer Zeit eine große Anzahl weiterer Schiedsklauseln in DBAs der Schweiz aufgenommen (vgl. hierzu Tabelle 1).

2. DBA der Schweiz mit Schiedsklauseln Mittlerweile hat die Schweiz im Bereich der Einkommenssteuern DBAs mit 96 Staaten abgeschlossen.9 Davon enthalten 36 eine Schiedsklausel (vgl. Tabelle 1).

5 Folgend StADG, SR. 672.2. 6 Siehe hierzu OECD, Making Dispute Resolution More Effective – MAP Peer Review Report, Switzerland (Stage 2), 2019, Rz. 228; Botschaft zur Genehmigung des multilateralen Übereinkommens zur Umsetzung steuerabkommensbezogener Massnahmen zur Verhinderung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, BBl 2018 5389 ff., 5422. 7 DBA CH-USA, SR 0.672.933.61; Botschaft über ein Doppelbesteuerungsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika, BBl 1997 II 1085 ff. 8 Siehe hierzu OECD, Model Tax Convention on Income and Capital, 2008, Art. 25 Abs. 5 sowie Art. 25 Rz. 5 ff. 9 SIF, Schweizerische Doppelbesteuerungsabkommen, 2022, https://www.sif.ad min.ch/dam/sif/de/dokumente/Internationale-Steuerpolitik/Doppelbesteuerung/ dba-liste-januar-2021.pdf.download.pdf/dba-liste-de.pdf (besucht am 22.10.2022).

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DBA-Schiedsverfahren – Matteotti/Beceren

Tabelle 1: DBA der Schweiz USA 19.12.1997

Polen 17.10.2011

Hongkong 15.10.2012

Island 6.11.2015

Pakistan 29.11.2018

Südafrika 27.1.2009

Niederlande 9.11.2011

Spanien 24.8.2013

Albanien 1.12.2016

Sambia 7.6.2019

Frankreich 30.3.2016

Kanada 16.12.2011

Slowenien 14.10.2013

Norwegen 26.10.2020

Ukraine 16.10.2020

Luxemburg 11.7.2013

Deutschland 21.12.2011

Kasachstan 26.2.2014

Liechtenstein 1.12.2021

Irland 21.10.2020

Dänemark 22.11.2010

Griechenland 27.12.2011

Schweden 6.12.2020

Belgien 19.7.2017

Neuseeland 10.12.2020

UK und Nordirland 19.7.2019

Uruguay 28.12.2011

Australien 14.10.2014

Lettland 3.9.2018

Bahrain 27.7.2021

Österreich 14.11.2012

Slowakei 8.8.2012

Estland 16.10.2015

Kosovo 10.10.2018

Mit weiteren 11 Ländern hat die Schweiz Meistbegünstigungsklauseln betreffend Schiedsverfahren abgeschlossen. Zu unterscheiden sind dabei Meistbegünstigungsklauseln in Form bereits ausformulierter Schiedsklauseln, wie man sie in den DBAs mit Bulgarien, Malta, Rumänien und Zypern findet, und solche ohne ausformulierte Schiedsklauseln, welche in den DBAs mit Korea, Mexiko, Peru, Russland, Saudi-Arabien, Tschechien und Ungarn enthalten sind.10 Die ausformulierten Schieds10 DBA CH-BG, SR 0.672.921.41, Botschaft über ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Bulgarien, BBl 2012 9531 ff.; DBA CH-MT, SR 0.672.954.51, Botschaft über ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Malta, BBl 2020 9377 ff.; DBA CH-RO, SR 0.672.966.31, Botschaft über ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Rumänien, BBl 2011 6923 ff.; DBA CH-CY, SR 0.672.925.81, Botschaft über ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Zypern, BBl 2014 9125 ff.; DBA CH-KR, SR 0.672.928.11, Botschaft über ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Südkorea BBl 1980 II 1503 ff.; DBA CH-MX, SR 0.672.956.31, Botschaft über ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Mexiko, BBl 1993 IV 482 ff.; DBA CH-PE, SR 0.672.964.11, Botschaft über ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Peru, BBl 2013 383 ff.; DBA CH-RU, SR 0.672.966.51, Botschaft über ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Russland BBl 2011 8955 ff.; DBA CHSA, SR. 0.672.914.91, Botschaft über ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Saudi-Arabien, BBl 2018 5273 ff.; DBA CH-CZ, SR 0.672.974.31, Botschaft

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klauseln sind anwendbar, wenn der Vertragsstaat mit einem Drittstaat eine Schiedsklausel in einem Abkommen oder einer Vereinbarung aufnimmt.11 Die Meistbegünstigungsklauseln ohne ausformulierte Schiedsklauseln schreiben vor, dass die Staaten in Verhandlungen bezüglich Abschluss einer Schiedsklausel treten müssen12, wenn sie mit einem anderen Staat eine solche vereinbart haben. Denkbar ist auch der Fall, in dem die Vertragsstaaten keine Schiedsklausel in ihr DBA aufgenommen haben, jedoch generell oder in Bezug auf einen spezifischen Fall ein Schiedsverfahren durchführen möchten. Für diesen Fall sieht der Kommentar zum OECD-MA vor, dass die Staaten im Rahmen einer Verständigungsvereinbarung ein solches Schiedsverfahren beschließen können.13 Die zuständigen Behörden der Schweiz sind grundsätzlich bereit, solche Ad-hoc-Schiedsverfahren durchzuführen.14

3. Multilaterales Instrument Die Abkommenspolitik der Schweiz widerspiegelt sich auch in Bezug auf das MLI, indem sie für die Anwendung des 6. Teils – Schiedsverfahren – optiert hat. Das MLI wurde von der Schweiz am 29.8.2019 ratifiziert und per 1.12.2019 in Kraft gesetzt.15 Es ist für die Schweiz jedoch bloß von untergeordneter Bedeutung, zumal sich nur 13 Staaten auf der Liste befinden, für welche das MLI im Verhältnis zur Schweiz zur Anwendung gelangen soll. Nach Art. 18 Satz 2 MLI gilt der 6. Teil des MLI nur dann für Vertragsparteien, wenn beide Vertragsstaaten eine Notifikation i.S.v. Art. 2 Abs. 1 lit. a MLI abgegeben haben, dass sie den 6. Teil anwenden

11 12

13 14 15

über ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Tschechische Republik, BBl 2012 9601 ff. DBA CH-MT, SR 0.672.913.62; DBA CH-CY, SR 0.672.925.81; DBA CH-BG, SR 0.672.961.41; DBA CH-RO, SR. 0.672.966.31. Ziff. 1 des Protokolls zum DBA CH-KR; Ziff. 10 des Protokolls zum DBA CH-MX; Ziff. 13 des Protokolls zum DBA CH-PE; Ziff. 6 des Protokolls zum DBA CH-RU; Ziff. 9 zum DBA CH-SA; Ziff. 6 des Protokolls zum DBA CHCZ. Dziurdz´/Kubik/Marchgraber in Gosch/Kroppen/Grotherr/Kraft, DBA-Kommentar 2023, Art. 25 OECD-MA Rz. 69. Duss/Salom, IFF Forum für Steuerrecht, 2018/I, 5. OECD, Signatories and Parties to the Multilateral Convention to Implement Tax Treaty Related Measures to Prevent Base Erosion and Profit Shifting, 2022, https://www.oecd.org/tax/treaties/beps-mli-signatories-and-parties.pdf (besucht am 22.10.2022).

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wollen. Damit das MLI auf ein Abkommen Anwendung findet, muss es sich weiter bei dem jeweiligen Abkommen um ein unter das Übereinkommen fallendes Steuerabkommen16 handeln. Die Voraussetzungen gem. Art. 2 Abs. 1 lit. a MLI erfüllen aus schweizerischer Perspektive nur Italien und Portugal. Portugal hat das MLI bereits ratifiziert17, während die Ratifikation seitens Italien18 noch aussteht.19 Aus Gründen der Rechtssicherheit überlagert das MLI gemäß schweizerischer Auffassung nicht etwa bloß ein bestehendes DBA, vielmehr stellt es eine Verpflichtung dar, die in Bezug auf ein bestimmtes Land anwendbaren Bestimmungen in eine Verständigungsvereinbarung zu überführen.20 Mit Portugal muss eine solche noch abgeschlossen werden.

4. Gründe für die Aufnahme von DBA-Schiedsklauseln Das zentrale Ziel der DBA-Schiedsklauseln besteht in der Beseitigung der Doppelbesteuerung. Haben zwei Staaten keine Schiedsklausel in ihrem DBA und endet das Verständigungsverfahren, ohne dass sich die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten einigen konnten, so bleibt eine allfällige Doppelbesteuerung oder eine anders geartete abkommenswidrige Besteuerung bestehen. Es besteht mithin keine Pflicht zur Erzielung

16 Vgl. hierzu Art. 2 Abs. 1 lit. a MLI. 17 Botschaft zur Genehmigung des multilateralen Übereinkommens zur Umsetzung steuerabkommensbezogener Massnahmen zur Verhinderung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, BBl 2018 5389 ff., 5421 f.; OECD, ITALY – MLI Arbitration Profile, 2022, http://www.oecd.org/tax/treaties/ beps-mli-arbitration-profile-italy.pdf (besucht am 22.10.2022); OECD, PORTUGAL – MLI Arbitration Profile, 2021, http://www.oecd.org/tax/treaties/bepsmli-arbitration-profile-portugal.pdf (besucht am 22.10.2022); OECD, Signatories and Parties to the Multilateral Convention to Implement Tax Treaty Related Measures to Prevent Base Erosion and Profit Shifting, 2022, https:// www.oecd.org/tax/treaties/beps-mli-signatories-and-parties.pdf (besucht am 26.5.2023). 18 Botschaft zur Genehmigung des multilateralen Übereinkommens zur Umsetzung steuerabkommensbezogener Massnahmen zur Verhinderung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, BBl 2018 5389 ff., 5421. 19 Botschaft zur Genehmigung des multilateralen Übereinkommens zur Umsetzung steuerabkommensbezogener Massnahmen zur Verhinderung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, BBl 2018 5389 ff., 5417. 20 Botschaft zur Genehmigung des multilateralen Übereinkommens zur Umsetzung steuerabkommensbezogener Massnahmen zur Verhinderung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, BBl 2018 5389 ff., 5395.

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einer Einigung.21 Die meisten Schiedsklauseln sehen für den Fall, dass sich die Behörden nicht innert einer bestimmten Frist auf eine Verständigungslösung einigen konnten, vor, dass der Steuerpflichtige ein Schiedsverfahren einleiten kann. Obligatorische Schiedsverfahren mit für die Vertragsstaaten verbindlichen Schiedssprüchen stellen ein wichtiges Instrument dar, um Fälle fehlender Einigung trotzdem noch voranzubringen und eine Doppelbesteuerung zu beseitigen. Mit der Aufnahme von Schiedsklauseln erhöht sich der Druck auf die zuständigen Behörden, innert vernünftiger Frist mittels Verständigungsverfahren zu einer Einigung zu gelangen22, da ansonsten ein Schiedsgericht über den Fall entscheiden wird. Wirkt der Druck, kommt es daher gar nicht zu einem Schiedsverfahren23, was auch in Bezug auf die Verfahrensdauer der Idealfall darstellt. Schiedsklauseln verbessern damit einerseits die Rechtssicherheit für die Steuerpflichtigen und erhöhen andererseits die Planungs- und Investitionssicherheit.24 Sie stärken die Attraktivität der Vertragsstaaten als Investitionsstandort.25 Gerade in Bezug auf DBAs mit Entwicklungsund Schwellenländern ist die Aufnahme von Schiedsklauseln als wichtiges Signal an die Investoren, dass allfällige Doppelbesteuerungen vermieden werden, zu verstehen. Schließlich dient das Schiedsverfahren auch dazu, faire Bedingungen bei der Konfliktbewältigung zu schaffen, indem Machtasymmetrien zwischen Vertragsstaaten ausgeglichen werden.26

5. Pflicht zum Abschluss von Durchführungsbestimmungen Gemäß Art. 25 Abs. 5 letzter Satz OECD-MA regeln die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten in gegenseitigem Einvernehmen die Anwendung des Art. 25 Abs. 5 OECD-MA. Das Verfahren ist dementsprechend in Art. 25 Abs. 5 OECD-MA nicht näher geregelt; es wird in Verständi21 Arth, Das Verständigungs- und Schiedsverfahren im internationalen Steuerrecht, Ausgewählte rechtsstaatliche Aspekte aus österreichischer und schweizerischer Sicht – ein Rechtsvergleich, Diss. Zürich/Bern 2020, 184. 22 Vgl. Dziurdz´/Kubik/Marchgraber in Gosch/Kroppen/Grotherr/Kraft, DBAKommentar, Art. 25 OECD-MA Rz. 91; IMF/OECD, 2019 Progress Report on Tax Certainty, 2019, 37. 23 Vgl. IMF/OECD, 2019 Progress Report on Tax Certainty, 2019, 37. 24 Vgl. IMF/OECD, Tax Certainty, 2017, 7; OECD/IMF 2019 Progress Report on Tax Certainty, 2019, 8. 25 Vgl. IMF/OECD, 2019 Progress Report on Tax Certainty, 2019, 37. 26 Zum Ganzen Simonek/Clinard in Lang et al. (Editors), Tax Treaty Arbitration, Amsterdam 2020, 787.

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gungsvereinbarungen festgelegt. Die OECD hat dazu das Sample Mutual Agreement on Arbitration veröffentlicht, welches im Anhang zum Kommentar von Art. 25 OECD-MA publiziert ist und als Vorlage für eine bilaterale Verständigungsvereinbarung dienen kann. Die Schweiz hat bisher nur sieben Durchführungsvereinbarungen abgeschlossen, und zwar mit Deutschland27, Norwegen28, den Vereinigten Staaten von Amerika29, Australien30, Österreich31, Irland32 und den Niederlanden33. Für die DBAs mit Irland und der Ukraine fehlen zwar Durchführungsvereinbarungen, jedoch gibt es in beiden Fällen ausführliche Durchführungsbestimmungen in den DBAs selbst. Das DBA mit der Ukraine regelt die Frist zur Einleitung eines Schiedsverfahrens34, die Endgültigkeit und Verbindlichkeit des Schiedsspruches inklusive Ausnahmen davon35, die Modalitäten des Informationsaustausches zwischen den Behörden sowie zwischen Behörde und Antragssteller36, die Ernennung und Eignung der Schiedsrichter37, Regeln zur Vertraulichkeit und zum Informationsaustausch38, Gründe für die Einstellung des Schiedsverfahrens39, den Ablauf des Verfahrens sowie die Art des Schiedsverfahrens40, die Umsetzung in einer Verständigungsvereinbarung41 und die Aufteilung der Kosten des Verfahrens42. Von diesen Bestimmungen sehen einige vor, dass die zuständigen Behörden sich stattdessen auf andere Vorschriften verständigen können43. Das DBA mit Irland folgt dem selben Aufbau, beinhaltet zusätzlich aber noch genauere Regelungen zum Ausschluss eines Schiedsverfahrens im 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Unterzeichnet am 21.12.2016. Unterzeichnet am 10.10.2019. Unterzeichnet am 23. und 28.7.2020. Unterzeichnet am 15.9.2020. Unterzeichnet am 3.11. und 23.10.2020. Unterzeichnet am 3.11. und 23.10.2020. Unterzeichnet am 6. und 29.9.2022. Art. 25a Abs. 2–9 DBA CH-UA. Art. 25a Abs. 4 DBA CH-UA. Art. 25a Abs. 5–9 DBA CH-UA. Art. 25a Abs. 14 DBA CH-UA. Art. 25a Abs. 15–16 DBA CH-UA. Art. 25a Abs. 17 DBA CH-UA. Art. 25a Abs. 18 DBA CH-UA. Art. 25a Abs. 4 Buchst. a DBA CH-UA. Art. 25a Abs. 19 DBA CH-UA. Vgl. Art. 25a Abs. 11–14, 18 DBA CH-UA.

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Zusammenhang mit dem Vorliegen von Entscheiden innerstaatlicher Gerichte bzw. dem Ergreifen innerstaatlicher Rechtsmittel44 sowie zur Verpflichtung, im Laufe des Schiedsverfahrens von einer der zuständigen Behörden oder der Schiedsstelle erhaltene Informationen nicht an eine andere Person weiterzugeben und die Folgen einer Verletzung eben dieser Verpflichtung.45 Die beiden DBAs mit Irland und der Ukraine lehnen sich an das MLI an.46 Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie die Rechtslage ist, wenn Durchführungsbestimmungen fehlen. Nach schweizerischer Sicht besteht aufgrund des Grundsatzes von Treu und Glauben eine völkerrechtliche Verpflichtung, dass die beiden Staaten entsprechende Durchführungsbestimmungen erlassen, wenn sie einer Schiedsklausel zugestimmt haben. Wer zum Abschluss einer Schiedsklausel ja sagt, verpflichtet sich völkerrechtlich auch zum Abschluss von Durchführungsvereinbarungen. Die Weigerung zu deren Abschluss stellt grundsätzlich einen Verstoß gegen das völkerrechtliche Vertrauensprinzip dar.47 Viele Staaten stellen sich auf den Standpunkt, dass bei Fehlen von Durchführungsbestimmungen keine vollständige Einigung über die Durchführung eines Schiedsverfahrens vorliegt, mit der Folge, dass auf diese Weise die Durchführung eines Schiedsverfahrens verweigert wird. Diese Auffassung birgt das Risiko, dass Schiedsverfahren aus Gründen verweigert werden, welche nicht in die Einflusssphäre des Antragsstellers fallen.48 In der Praxis wird mitunter festgestellt, dass Verhandlungen über den Abschluss der Durchführungsbestimmungen scheitern, um bedeutende pendente Verständigungsverfahren nicht einem Schiedsgericht zuführen zu müssen. Die geltende Rechtslage ist unbefriedigend. Wenn sich die Vertragsstaaten nicht auf eine Durchführungsbestimmung geeinigt haben, sollte das OECD-MA, um die Rechtssicherheit in diesem Zusammenhang zu erhöhen, eine Default-Regelung vorsehen, welche auf ein auf dem Sample Agreement aufgebautes vollständiges Model Agreement verweisen könnte, damit das Schiedsverfahren auch effektiv zur Anwendung gelangt. 44 Art. 25A Abs. 11 DBA CH-IRL, SR 0.672.944.11; vgl. auch Art. 19 Abs. 12 MLI. 45 Art. 25A Abs. 20 DBA CH-IRL. 46 Das MLI ist aber aufgrund von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a Nr. ii nicht anwendbar zwischen der Schweiz und Irland/Ukraine. 47 Vgl. hierzu Art. 26 VRK, SR. 0.111. 48 Vgl. hierzu Arth, Das Verständigungs- und Schiedsverfahren im internationalen Steuerrecht, 269.

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6. Arten von Schiedsklauseln Das Sample Mutual Agreement on Arbitration unterscheidet zwischen zwei Arten des Schiedsverfahrens. Nach der Methode der unabhängigen Meinung (independent opinion approach) fällen die Schiedsrichter nach Analyse der einschlägigen Tatsachen und anwendbaren Rechtsquellen eine eigene Entscheidung, die unter Umständen von den von den Vertragsstaaten der Schiedsstelle eingereichten Lösungsvorschlägen abweichen kann.49 Bei der Methode des abschließenden Angebotes (bekannt als last best offer bzw. final offer approach oder auch baseball arbitration) unterbreiten die zuständigen Behörden dem Spruchkörper jeweils einen eigenen Lösungsvorschlag.50 Die Schiedsstelle hat sich danach für einen der eingereichten Lösungsvorschläge auszusprechen. Die OECD hat heute eine Präferenz für den final offer approach.51 Vor dem OECD-MA Update 2017 war gemäß damaliger Mustervereinbarung noch der independent opinion approach die bevorzugte Schiedsverfahrensmethode.52 Die Schweiz zieht seit jeher die Variante des final offer approach vor, steht einer Bestimmung zur Anwendung der independent opinion Methode grundsätzlich aber offen gegenüber.53 Die Verständigungsvereinbarungen mit Deutschland, den Niederlanden, Norwegen und den Vereinigten Staaten von Amerika sehen jeweils die Methode des final offer Verfahrens vor.54 Die DBA mit Irland und der Ukraine enthalten ebenfalls die Methode des final offer Verfahrens, soweit sich die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten nicht auf andere Vorschriften verständigen.55 Die Verständigungsvereinbarungen zu den DBAs mit 49 50 51 52

Art. 4 und 5 Sample Mutual Agreement on Arbitration. Siehe zum Ganzen Art. 4 Abs. 5 Sample Mutual Agreement on Arbitration. Art. 4 Abs. 5 Sample Mutual Agreement on Arbitration. Vgl. hierzu OECD-Kommentar 2014, Art. 25 OECD-MA N 4; auch das MLI folgt diesem Ansatz, Art. 23 Abs. 1 und 2 MLI; zur Lage vor dem OECD-MA Update auch Albert, IFSt 2010, 18; Arth, Das Verständigungs- und Schiedsverfahren im internationalen Steuerrecht, 206. 53 Botschaft zur Genehmigung des multilateralen Übereinkommens zur Umsetzung steuerabkommensbezogener Massnahmen zur Verhinderung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, BBl 2018 5389 ff., 5420. 54 Art. 13 Buchst. b und c Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-DE, SR. 0.672.913.62; Art. 16 Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-NL, SR. 0.672.963.61; Art. 5 Abs. 4 Verständigungsvereinbarung zum DBA CHNO, SR. 0.672.959.81; Art. 18 Buchst. C Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-US. 55 Art. 25A Abs. 19 Buchst. c DBA CH-IRL; Art. 25a Abs. 18 Buchst. c DBA CH-UA.

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Australien, Österreich und Nordirland erwähnen als alternative Methode zum final offer Verfahren explizit das independent opinion Verfahren vor.56 Da das MLI ebenfalls diesem Ansatz folgt, wird dieser voraussichtlich auch für die DBA mit Italien und Portugal gelten.57 Im Falle der Durchführung eines final offer Verfahrens kommen – zusätzlich zu den grundsätzlichen Voraussetzungen für das Schiedsverfahren – folgende Regelungen zur Anwendung: Innerhalb von 90 Tagen nach der Bestellung des Vorsitzenden der Schiedsstelle hat die zuständige Behörde jedes Vertragsstaats dem Vorsitzenden der Schiedsstelle einen Lösungsvorschlag vorzulegen, in dem alle ungelösten Fragen des Falls behandelt werden. Der Vorsitzende hat nach Eingang beider Positionspapiere oder nach Ablauf der Frist von 90 Tagen, je nachdem, welcher Zeitpunkt früher eintritt, die Lösungsvorschläge an die Mitglieder der Schiedsstelle und die zuständigen Behörden weiterzuleiten. Die Positionspapiere werden daraufhin ausgetauscht, die Vertragsstaaten können replizieren.58 Gemäß der Verständigungsvereinbarung mit Deutschland hat die Schiedsstelle bei ihrer Entscheidfindung einerseits die im Verständigungsvorschlag genannten Quellen, aber andererseits auch die Rechtsauffassung und die Ermessensausübung der zuständigen Behörden zu berücksichtigen.59 Dem final offer arbitration wird in der Schweizerischen Abkommenspolitik der Vorrang eingeräumt, weil sie dem Ziel am besten dienen soll, die zuständigen Behörden zu einer Einigung während des Verständigungsverfahrens zu bewegen und dadurch ein Schiedsverfahren zu vermeiden. Aufgrund des sie definierenden Ablaufs ist die Methode der final offer arbitration die zeit- und kostensparendste Methode. Die zuständigen Behörden werden ermutigt, angemessene und besser ausgearbeitete Vorschläge vorzulegen, weil die Schiedsstelle lediglich einen der vorgelegten Regelungsvorschläge der Behörden auszuwählen hat und weder eine eigene Lösung ausarbeiten noch begründen muss.60

56 Art. 5 Abs. 6 und Art. 5 Abs. 7 Verständigungsvereinbarung zum DBA CHAU, SR. 0.672.915.81; Art. 17 ff. Verständigungsvereinbarung zum DBA CHAT, SR. 0.672.916.31; Art. 14 ff. und Art. 21 ff. Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-UK, SR. 0.672.936.712. 57 Art. 23 Abs. 1 und 2 MLI. 58 Siehe hierzu Art. 8 Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-DE. 59 Art. 13 Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-DE. 60 Vgl. zum Ganzen Art. 4 Abs. 5 Sample Mutual Agreement on Arbitration.

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Indem die Vertragsstaaten die Regelungsvorschläge ausarbeiten, behalten sie in ausgeprägter Form die Kontrolle über das Ergebnis. Dass sich die Schiedsstelle schlussendlich für einen solchen Regelungsvorschlag entscheiden muss, schafft auch einen Anreiz für die Staaten, angemessenere Verständigungsvorschläge vorzulegen und auf Extrempositionen zu verzichten. In der Literatur wird argumentiert, dass diese Methode am besten dazu geeignet ist, die zuständigen Behörden zu ermutigen, eine Einigung im Verständigungsverfahren zu erzielen und damit ein Schiedsverfahren zu verhindern. Schlussendlich wird im Verfahren nach dem final offer approach ein hoher Grad an Vertraulichkeit erreicht, da die Entscheidung in keiner Form – auch nicht anonymisiert – an die Öffentlichkeit gelangt.61 Der independent opinion approach erlaubt dagegen genau das, was für die Interpretation und Anwendung des entsprechenden DBA aber wertvoll sein kann. Da das Schiedsgericht beim independent opinion approach typischerweise auch die dem Schiedsspruch zugrunde gelegten Rechtsquellen sowie die Argumentation, die zum Schiedsspruch geführt hat, angibt, vermag es unter Umständen den Grundstein für eine Rechtsprechungspraxis zu begründen, was wiederum die Rechtssicherheit erhöht und zum besseren Verständnis des internationalen Steuerrechts beitragen kann.62

III. Schiedsverfahren 1. Grundzüge Das Schiedsverfahren weist einen unselbständigen Charakter auf, da es das Verständigungsverfahrens bloß – aber immerhin – erweitert.63 Es setzt ein Verständigungsverfahren voraus, welches ganz oder teilweise erfolgslos verlaufen ist, womit eine abkommenswidrige Besteuerung nicht beseitigt werden konnte.64 Dieser unselbständige Charakter des Schiedsverfahrens führt dazu, dass sich die Vertragsstaaten bis zur Eröffnung des Schiedsspruchs anderweitig einigen können.65 Sofern das Verständi61 S. zum Ganzen Simonek/Clinard, 791 f. m.w.V.; Art. 4 Abs. 5 Sample Mutual Agreement on Arbitration. 62 S. zum Ganzen Simonek/Clinard, 792 m.w.V. 63 OECD-Kommentar 2017, Art. 25 OECD-MA N 64. 64 Art. 25 Abs. 5 lit. a OECD-MA; OECD-Kommentar 2017, Art. 25 OECD-MA N 73; Opel, Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Internationales Steuerrecht, Art. 25 OECD-MA N 129. 65 Desax/Veit, Arbitration of the Tax Treaty Disputes: The OECD Proposal, Arb. Int. 2007, 414.

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gungsverfahren scheitert, nimmt das Schiedsverfahren, grundsätzlich ohne dass die betroffenen Behörden zustimmen müssen, auf Antrag des Steuerpflichtigen zwingend seinen Lauf, weshalb ihm zugleich auch ein obligatorischer Charakter zukommt.66

a) Gegenstand des Schiedsverfahrens gemäß OECD-MA Primär muss eine abkommenswidrige Besteuerung tatsächlich eingetreten67 sein, damit der Geltungsbereich des Schiedsverfahrens gegeben ist.68 Hingegen wird aber nicht vorausgesetzt, dass eine eigentliche Doppelbesteuerung vorliegt.69 Das Schiedsverfahren beschränkt sich auf jene Streitpunkte, welche im Rahmen des Verständigungsverfahrens nicht geregelt werden konnten.70 Grundlage des Schiedsgerichts stellen jene Materialien dar, welche bereits im Verständigungsverfahren zur Verfügung standen. Nur mit Zustimmung beider zuständigen Behörden können neue Informationen in das Schiedsverfahren eingeführt werden.71

b) Gegenstand des Schiedsverfahrens gemäß MLI Auch im MLI ist das Schiedsverfahren für alle noch ungelösten Fragen eines Falles vorgesehen.72 Die Staaten können aber Vorbehalte bezüglich des Anwendungsbereichs anbringen.73 Es wurde dabei auf eine abschließende Liste möglicher Vorbehalte verzichtet.74 Damit der Vorbehalt hin66 OECD-Kommentar 2017, Art. 25 OECD-MA N 64. 67 Droht eine solche bloß, so greift einzig das eigentliche Verständigungsverfahren, weshalb dem Schiedsverfahren zugleich ein subsidiärer Charakter zukommt, vgl. hierzu Lehner in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Art. 25 N 214. 68 Art. 25 Abs. 5 lit. a OECD-MA. 69 Vgl. hierzu Art. 25 Abs. 5 OECD-MA; vgl. weiter auch Opel, Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Internationales Steuerrecht, Art. 25 OECD-MA N 131. 70 OECD-Kommentar 2017, Art. 25 OECD-MA N 64. 71 Opel, Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Internationales Steuerrecht, Art. 25 OECD-MA N 148; Lehner in Vogel/Lehner7, DBA, Art. 25 N 227. 72 Art. 19 Abs. 1 MLI. 73 Art. 28 Abs. 2 MLI; OECD, Explanatory Statement to the Multilateral Convention to Implement Tax Treaty Related Measures to Prevent Base Erosion and Profit Shifting, N 216, 265. 74 OECD, Explanatory Statement to the Multilateral Convention to Implement Tax Treaty Related Measures to Prevent Base Erosion and Profit Shifting, N 265.

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sichtlich eines DBAs Geltung erlangt, muss er vom anderen Vertragsstaat akzeptiert werden, ansonsten ist der 6. Teil des MLI zwischen den jeweiligen Vertragsstaaten nicht anwendbar.75 Die Schweiz hat mittels Vorbehalts diejenigen Fälle vom Anwendungsbereich des 6. Teils des MLI ausgenommen, die Steuerjahre oder steuerbegründende Sachverhalte betreffen, die am oder vor dem Zeitpunkt begonnen haben oder eingetreten sind, an dem das Übereinkommen hinsichtlich des auf den konkreten Fall anwendbaren unter das Übereinkommen fallenden Steuerabkommens wirksam geworden ist. Die Schweiz behält sich vor, Fälle, die schwer bewertbare Immaterialgüter betreffen, vom Geltungsbereich des 6. Teils auszunehmen. Dafür muss die Erstberichtigung in einem Steuerjahr vorgenommen worden sein, das nicht verjährt ist.76

c) Spezifika der Schweizerischen Abkommenspraxis Die meisten von der Schweiz vereinbarten Schiedsklauseln übernehmen den Geltungsbereich, wie er in Art. 25 Abs. 5 OECD-MA vorgeschlagen wird. Nur in vereinzelten Abkommen finden sich Einschränkungen: Das DBA mit Frankreich regelt, dass lediglich Unternehmen einen Antrag auf Einleitung eines Schiedsverfahrens stellen können und auch nur in Verrechnungspreisfällen, für die Gewinnaufteilung zwischen einer Betriebsstätte und dem Stammhaus und für die Frage, ob überhaupt abkommensrechtlich eine Betriebsstätte besteht.77 Im DBA mit Kanada wurde vereinbart, dass das Schiedsverfahren auf ungelöste Rechtsfragen, die unter Art. 5 (Betriebsstätte), Art. 7 (Unternehmensgewinne) oder Art. 9 (Verbundene Unternehmen) sowie unter weitere, zu einem späteren Zeitpunkt unter den zuständigen Behörden vereinbarte Bestimmungen fallen,78 Anwendung findet.

75 Art. 28 Abs. 2 lit. b MLI; Botschaft zur Genehmigung des multilateralen Übereinkommens zur Umsetzung steuerabkommensbezogener Massnahmen zur Verhinderung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, BBI 2018 5398 ff., 5422; OECD, Explanatory Statement to the Multilateral Convention to Implement Tax Treaty Related Measures to Prevent Base Erosion and Profit Shifting, N 267. 76 Siehe hierzu Status der Liste der Vorbehalte und Notifikationen zum Zeitpunkt der Unterzeichnung, 2015, S. 13, https://www.oecd.org/tax/treaties/ beps-mli-position-switzerland.pdf (zuletzt aufgerufen 26.5.2023). 77 Art. 27 Abs. 5 DBA CH-FR, SR. 0.672.934.91; vgl. Botschaft DBA Kanada, BBl 2011 139 ff., 148. 78 Art. 24 Abs. 6 und 7 DBA CH-CA, SR. 0.672.923.21.

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Im DBA mit Norwegen ist geregelt, dass das Schiedsverfahren u.a. nicht auf bestimmte Fälle anwendbar ist, bei denen Streitpunkte betroffen sind, bei denen Kapitel VI D.4 (schwer zu bewertende immaterielle Werte) der OECD-Verrechnungspreisrichtlinien für multinationale Unternehmen und Steuerverwaltungen aus dem Jahr 2017 oder späterer Aktualisierungen dieser Richtlinien von einem Vertragsstaat anlässlich einer Berichtigung nach Art. 9 Abs. 1 DBA CH-NO angewendet werden.79

2. Zeitpunkt der Einleitung des Schiedsverfahrens a) Gemäß OECD-MA Die Einleitung des Schiedsverfahrens hängt von einem zumindest Teilscheitern des Verständigungsverfahrens ab. Gemäß Wortlaut von Art. 25 Abs. 5 OECD-MA kann die Schiedsstelle innert zwei Jahren seit der Unterbreitung des Falles angerufen werden, nachdem sich die zuständigen Behörden über den Fall nicht einigen konnten.80 Die Zweijahresperiode beginnt erst dann, wenn der Steuerpflichtige den zuständigen Behörden hinreichende Informationen zu der dem Abkommen nicht entsprechenden Besteuerung vorgelegt hat, damit die Behörden gestützt auf die Informationen entscheiden können.81 Das Schiedsverfahren wird grundsätzlich auf schriftlichen Antrag der steuerpflichtigen Person eröffnet.82

b) Gemäß MLI Die Schweiz hat im Einklang mit ihrer konsequenten Steuerabkommenspolitik in Art. 19 Abs. 11 MLI einen Vorbehalt abgebracht, wonach sie sich das Recht vorbehält, die Zweijahresfrist durch eine Dreijahresfrist zu ersetzen83. Jene Behörde, bei welcher der ursprüngliche Antrag auf ein Verständigungsverfahren einging, hat gemäß dem MLI innert zwei Kalendermonate nach Eingang des Antrags eine Mitteilung über den Eingang des Antrags an die steuerpflichtige Person sowie an die zuständige Behörde des anderen Vertragsstaates zu übermitteln.84 79 Art. 25 Abs. 6 Buchst. c DBA CH-NO. 80 Vgl. Dziurdz´/Kubik/Marchgraber in Gosch/Kroppen/Grotherr/Kraft, DBAKommentar, Art. 25 OECD-MA Rz. 100. 81 Vgl. hierzu OECD-Kommentar 2017, Art. 25 OECD-MA N 2. 82 Vgl. hierzu OECD-Kommentar 2017, Art. 25 OECD-MA N 70. 83 Siehe hierzu Status der Liste der Vorbehalte und Notifikationen zum Zeitpunkt der Unterzeichnung, 2015, S. 13, https://www.oecd.org/tax/treaties/ beps-mli-position-switzerland.pdf (zuletzt aufgerufen 26.5.2023). 84 Vgl. hierzu Art. 19 Abs. 5 MLI.

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c) Spezifika der Schweizerischen Abkommenspraxis Die meisten von der Schweiz vereinbarten Schiedsklauseln übernehmen die Regelung in Bezug auf den Zeitpunkt der Einleitung des Schiedsverfahrens, wie sie in Art. 25 Abs. 5 OECD-MA vorgeschlagen wird. So sieht auch die Mehrheit der aktuellen schweizerischen DBA vor, dass das Schiedsverfahren auf Antrag des Steuerpflichtigen eingeleitet wird. Abweichend vom OECD-MA enthalten aber die Schweizer Schiedsklausel eine Drei-Jahres-Frist, bevor die steuerpflichtige Person das Schiedsverfahren einleiten kann85, es sei denn, die zuständigen Behörden haben vor Ablauf dieser Frist eine andere Frist für diesen Fall vereinbart und die Person, die den Fall vorgelegt hat, darüber informiert. Das DBA der Schweiz mit Schweden86 enthält gar eine Frist von vier Jahren. Art. 26 Abs. 6 lit. c DBA der Schweiz mit Deutschland und Art. 26 Abs. 7 lit. d DBA der Schweiz mit den Vereinigten Staaten von Amerika enthält einen Automatismus. Das Schiedsverfahren beginnt entweder drei Jahre87 bzw. zwei Jahre88 nach dem Anfangszeitpunkt89 des Falles, sofern sich die zuständigen Behörden nicht vorher auf ein anderes Datum geeinigt haben, oder sobald die vom Schiedsverfahren betroffenen Personen eingewilligt haben, keine Informationen über das Verfahren (mit Ausnahme der Schiedsentscheidung) an andere Personen offenzulegen, je nachdem, welcher dieser beiden Zeitpunkte später eintritt.90 Das DBA der Schweiz mit Südafrika sieht vor, dass das Schiedsverfahren auf Antrag eines Vertragsstaates und nicht auf Antrag einer steuerpflichtigen Person eingeleitet wird.91

85 86 87 88 89

Siehe hierzu Botschaft DBA Dänemark, BBl 2010 89 ff., 94. Art. 26 Abs. 5 lit. b DBA CH-SWE, SR 0.672.971.41. Art. 26 Abs. 6 lit. c DBA CH-DE. Art. 26 Abs. 7 lit. d DBA CH-US. Sowohl das DBA CH-DE als auch DBA CH-US haben die gleiche Formulierung. Als „Anfangszeitpunkt“ eines Falles gilt i.S.v. Art. 26 Abs. 6 lit. b DBA CH-DE der frühste Zeitpunkt, in dem beide zuständigen Behörden die zur materiellen Beurteilung eines Verständiungsverfahrens nötigen Informationen erhalten haben. 90 Art. 2 lit. a DBA CH-DE. 91 Art. 24 Ziff. 7 DBA CH-Südafrika, SR. 0.672.911.82.

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3. Gründe für Ausschluss oder Aufschub des Schiedsverfahrens a) Gemäß OECD-MA Die Schwelle für die Anrufung der Schiedsstelle sollte sehr tief sein. Die ungelösten Streitpunkte können gemäß dem Wortlaut des Art. 25 Abs. 5 OECD-MA dann nicht dem Schiedsverfahren zugeführt werden, wenn bereits eine Gerichtsentscheidung über den Fall vorliegt. Auf diese Weise sollen widersprüchliche Entscheidungen vermieden und die Effektivität des Schiedsverfahrens gefördert werden.92 Der Kommentar zum OECD-MA empfiehlt aus Praktikabilitäts- und Zeitgründen nicht, das Schiedsverfahren gleichzeitig mit einem nationalen Rechtsmittelverfahren durchzuführen, weshalb die nationalen Rechtsmittel ruhen sollten, bis das Schiedsverfahren beendet ist.93 Sofern die betroffenen Personen den Schiedsspruch ablehnen, können sie auf innerstaatliche Rechtsmittel zurückgreifen. Andersherum haben sie auf die Ausübung der Rechtsmittel zu verzichten, wenn sie der Schiedslösung zustimmen.94

b) Gemäß MLI Auch das MLI qualifiziert das Vorliegen einer Gerichtsentscheidung als Schranke für die Einleitung eines Schiedsverfahrens. Ist nach der Stellung des Schiedsantrages und vor Übermittlung des Schiedsspruchs an die zuständige Behörde der Vertragsstaaten durch die Schiedsstelle in einem der Vertragsstaaten eine Gerichtsentscheidung zu einem identischen Fall mit der identischen Fragestellung ergangen, wird das Schiedsgericht den Fall abschreiben.95 Ferner wird die Schiedsstelle dann nicht auf das Verfahren eintreten, sofern sie die für eine sachliche Prüfung des Falles erforderliche Informationen von der steuerpflichtigen Person nicht erhalten hat.96

c) Spezifika der Schweizerischen Abkommenspraxis Die Schweiz stellt sich auf den Standpunkt, dass ein rechtskräftiges Gerichtsurteil keinen Hinderungsgrund dafür darstellen kann, einen Fall vor eine Schiedsstelle zu bringen. Denn die Kompetenzen des nationalen Gerichts sind beschränkt. Das nationale Gericht kann unter Um92 93 94 95 96

OECD-Kommentar 2017, Art. 25 OECD-MA N 76. Siehe hierzu OECD-Kommentar 2017, Art. 25 OECD-MA N 77. OECD-Kommentar 2017, Art. 25 OECD-MA N 76 ff. Vgl. hierzu Art. 19 Abs. 2 lit. a MLI. Art. 19 Abs. 6 lit. a und lit. b MLI.

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ständen die Doppelbesteuerung gar nicht beseitigen, wenn unterschiedliche Rechtsauffassungen darüber bestehen, wie ein Sachverhalt gewürdigt oder wie eine DBA-Bestimmung ausgelegt werden muss. Gemäß schweizerischer Auffassung führt ein rechtskräftiges Gerichtsurteil nicht zu einer Verletzung des Gewaltentrennungsprinzips. Die Staaten sind gemäß Abkommensrecht nämlich verpflichtet, alles zu tun, um Doppelbesteuerungen zu vermeiden.97 Gemäß schweizerischer Auffassung kann ein Schiedsverfahren, in Übereinstimmung mit dem DBA mit Deutschland, trotz Vorliegen eines rechtskräftigen Gerichtsentscheids durchgeführt werden. In der Verständigungsvereinbarung mit Deutschland wird aber aufgeführt, dass die beiden zuständigen Behörden übereinkommen können, der Fall sei für ein Schiedsverfahren ungeeignet, worunter etwa die Verletzung der Mitwirkungspflichten, die wiederholte Verspätung bei der Beantwortung von Anfragen, die Einleitung eines ordentlichen Rechtsmittelverfahrens bzw. eines außerordentliches Rechtsbehelfverfahrens sowie krasse Missbrauchs- und/oder Steuerverkürzungsfälle darunter fallen.98 Bei mangelndem Konsens muss die Schiedsstelle über den Fall entscheiden. Ein Sonderfall stellt die Schiedsklausel im DBA mit Frankreich dar, nach der das Schiedsverfahren bereits ausgeschlossen wird, wenn die betroffene steuerpflichtige Person noch einen nationalen gerichtlichen Entscheid erlangen kann.99

4. Übersicht des Verfahrensablaufs a) Verfahrensablauf gemäß Sample Mutual Agreement on Arbitration Das Sample Mutual Agreement on Arbitration regelt als erstes, wie ein Antrag auf ein Schiedsverfahren zu stellen ist, insbesondere, was die formellen und materiellen Anforderungen sind und wie die Behörden den Antrag zu behandeln haben (Art. 1 Sample Mutual Agreement on Arbitration). Weiter wird der Beginn des Fristenlaufs definiert, nach dessen Ablauf der Antrag auf ein Schiedsverfahren gestellt werden kann (Art. 2 Sample Mutual Agreement on Arbitration). Sodann werden Ernennung 97 Vgl. hierzu Arth, Das Verständigungs- und Schiedsverfahren im internationalen Steuerrecht, 30. 98 BMF v. 3.3.2017 – IV B 2-S 1301-CHE/07/10026-10; s. ferner: Art. 25 Abs. 6 lit. a DBA CH-NO; Art. 25 Abs. 6 lit. b DBA CH-US. 99 Vgl. hierzu Botschaft DBA Frankreich, BBl 2009 1631 ff., 1640.

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und Eignung der Schiedsrichter (Art. 3 Sample Mutual Agreement on Arbitration), der Ablauf und die Art des Schiedsverfahrens (Art. 4 und 5 Sample Mutual Agreement on Arbitration), der Informationsaustausch und die Vertraulichkeit (Art. 6 Sample Mutual Agreement on Arbitration) sowie die Aufteilung der Kosten des Schiedsverfahrens (Art. 8 Sample Mutual Agreement on Arbitration) geregelt. Auch ist im Agreement vorgesehen, was geschieht, sofern innerhalb der vorgesehenen Frist kein Schiedsspruch ergeht (Art. 9 Sample Mutual Agreement on Arbitration). Es werden Gründe für die Einstellung des Schiedsverfahrens genannt (Art. 10 Sample Mutual Agreement on Arbitration) und die Endgültigkeit des Schiedsspruchs festgelegt. Letzteres erfolgt unter der Voraussetzung, dass nicht ein Gericht eines beteiligten Vertragsstaates den Schiedsspruch als nicht umsetzbar qualifiziert (Art. 11 Sample Mutual Agreement on Arbitration). Schlussendlich wird die Umsetzung des Schiedsspruchs in einer Verständigungsvereinbarung behandelt (Art. 12 Sample Mutual Agreement on Arbitration). Über das gesamte Abkommen hinweg werden auch Fristen vorgeschlagen, innerhalb deren die jeweiligen Verfahrensschritte zu vollziehen sind.

b) Verfahrensablauf gemäß MLI Die im MLI enthaltenen Verfahrensregeln lehnen sich stark an das Sample Agreement an. Auch das MLI regelt die Frist, nach deren Ablauf ein Schiedsverfahren eingeleitet werden kann (Art. 19 Abs. 1–3 MLI). Zusätzlich werden in Anlehnung an das Sample Agreement ebenfalls die Modalitäten für die Übermittlung von Informationen bei der Antragsstellung bestimmt (Art. 19 Abs. 5–9 MLI). Weiter werden die Ernennung und Eignung der Schiedsrichter (Art. 20 MLI), die Art des Schiedsverfahrens (Art. 23 MLI), die Regeln zur Vertraulichkeit (Art. 21 MLI), die Aufteilung der Kosten (Art. 25 MLI), die Gründe für die Einstellung des Schiedsverfahrens (Art. 22 MLI), die Endgültigkeit und Verbindlichkeit des Schiedsspruchs inklusive Ausnahmen davon (Art. 19 Abs. 4 MLI) sowie die Umsetzung in einer Verständigungsvereinbarung (Art. 19 Abs. 4 Buchst. a MLI) geregelt. Auch hier sind für die jeweiligen Verfahrensschritte Fristen vorgesehen. Das MLI enthält schlussendlich auch eine Durchführungsklausel (Art. 19 Abs. 10 MLI), welche für die Regelung weiterer Fragen auf das Instrument der Verständigungsvereinbarung verweist.

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5. Ernennung der Schiedsrichter Für die Auswahl der Richter wird eine einfache Regelung vorgesehen.100 Die Schiedsstelle soll sich aus drei unabhängigen Einzelmitgliedern mit Fachkenntnissen auf dem Gebiet des internationalen Steuerrechts zusammensetzen.101

a) Gemäß OECD-MA/MLI Innerhalb von 60 Tagen nach dem Eingang des Schiedsantrages bestellt jede zuständige Behörde einen Schiedsrichter. Die beiden auf diese Weise bestellten Mitglieder der Schiedsstelle ernennen innerhalb von einem weiteren Monat ein drittes Mitglied, welches den Vorsitz der Schiedsstelle ausübt. Sofern innerhalb der angegebenen Frist ein drittes Mitglied nicht ernannt wird, kommt die Entscheidungskompetenz dem ranghöchsten Funktionsträger des Zentrums für Steuerpolitik und -verwaltung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu.102 Gemäß Art. 20 Abs. 2 lit. c MLI sind alle Personen wählbar, die nicht bereits zuvor mit demselben Fall beschäftigt waren und somit nicht befangen sind. Der Steuerpflichtige kann auf die Bestellung der Schiedsrichter keinen Einfluss nehmen.103

b) Abkommenspolitik der Schweiz Sowohl gemäß der Verständigungsvereinbarung mit Deutschland als auch gemäß derjenigen mit den Vereinigten Staaten von Amerika ermitteln die zuständigen Behörden beider Vertragsstaaten fünf bis zehn Personen, die geeignet und bereit sind, den Vorsitz einer Schiedsstelle zu übernehmen.104 Die in diesem Zusammenhang erstellten Listen möglicher Vorsitzender sind nicht öffentlich zugänglich.105 Zum Schiedsstellenmitglied können nur Personen ernannt werden, die nicht bereits in

100 101 102 103

Art. 20 Abs. 2 lit. a MLI. OECD-Kommentar 2017, Art. 25 OECD N 5. OECD-Kommentar 2017, Art. 25 OECD N 5. Opel, Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Internationales Steuerrecht, Art. 25 OECD-MA N 145. 104 Textziffer 6 Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-DE und Textziffer 8 lit. b Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-US. 105 Vgl. hierzu Textziffer 6 Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-DE und Textziffer 8 Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-US.

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früheren Verfahrensstufen mit dem Fall befasst waren und unparteiisch sind.106 Die Verständigungsvereinbarung mit Deutschland enthält zudem eine spezielle Regelung für den Fall, dass ein Schiedsstellenmitglied seine Aufgabe dauerhaft nicht mehr erfüllen kann.107 Versäumen es die ernannten Schiedsrichter, einen Vorsitzenden ernennen, sieht die Verständigungsvereinbarung mit den Vereinigten Staaten von Amerika die Bestellung zweier neuer Schiedsstellenmitglieder durch die zuständigen Behörden vor.108

6. Rechtsstellung der gesuchstellenden Person Von der Antragsbefugnis109 abgesehen wird die Rechtsstellung der gesuchstellenden Person in Art. 25 Abs. 5 OECD-MA nicht geregelt.110 Parteien des Schiedsverfahrens sind nur die zuständigen Behörden. Den betroffenen Personen kommt infolge der Einbettung in das Verständigungsverfahren keine Parteistellung zu.111 Immerhin hat die gesuchstellende Person bei der independent opinion arbitration das Recht, ein Positionspapier einzureichen und bei Zustimmung der zuständigen Behörden und der Schiedsrichter ihre Position mündlich vorzutragen. In nahezu112 sämtlichen Abkommen wird ihr das Recht zugestanden, die Schiedslösung abzulehnen113, wie dies auch in Art. 25 Abs. 5 OECD-MA vorgesehen ist. Die gesuchstellende Person ist zudem zur Diskretion verpflichtet, indem sie von den zuständigen Behörden oder der Schiedsstelle

106 Vgl. hierzu Textziffer 5 lit. c bis e Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-DE. 107 Textziffer 5 lit. b Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-DE. 108 Art. 9 lit. b und c. resp. e und f. Verständigungsvereinbarung zum DBA CHUS. 109 Im DBA mit Deutschland gilt der Grundsatz des Automatismus, weshalb die Stellung eines Antrags durch die steuerpflichtige Person nicht möglich ist. 110 Lehner in Kirchhof/Nieskens, FS Reiss, 2008, 670 ff. 111 Simonek, Steuerfragen mit internationalem Bezug/Schiedsklauseln in Doppelbesteuerungsabkommen der Schweiz – Rechtstellung der betroffenen Personen und Verhältnis zum innerstaatlichen Rechtsweg, in FS Reich, 2014, 382. 112 Eine Ausnahme bilden die Abkommen mit Frankreich und Südafrika, Art. 24 Abs. 7 DBA CH-Südafrika. 113 Art. 25 Abs. 5 OECD-MA.

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erhaltene Informationen nicht herausgeben darf bzw. der Geheimhaltung unterliegt.114 Mit dem StADG sowie der zugehörigen Verordnung im Jahre 2022 wurde in der Schweiz auch die Rechtsstellung der gesuchstellenden Partei auf nationaler Ebene geregelt.115 Das Gesetz wiederholt, dass die steuerpflichtige Person bei der Durchführung des Verständigungsverfahrens nicht Partei ist und deshalb nicht unmittelbar am zwischenstaatlichen Verfahren teilnimmt. Sie hat gemäß der Botschaft aber die Möglichkeit, aus eigener Initiative der zuständigen Behörden Stellungnahmen und Unterlagen zukommen zu lassen.116 Zudem kann das Staatssekretariat für Finanzfragen der gesuchstellenden Person gestützt auf Art. 12 Abs. 1 StADG Auskünfte erteilen, soweit dies nach dem anwendbaren Abkommen möglich ist.117

7. Kompetenzen der Schiedsstelle bei einer final offer arbitration Charakteristisch für die final offer arbitration ist, dass die Rechtsanwendung durch die Schiedsstelle eingeschränkt ist. Die Schiedsstelle ist an die Positionspapiere der competent authorities gebunden und kann nur zwischen den Regelungsvorschlägen wählen, die bereits ins Verfahren eingebracht wurden. Das Schiedsgericht hat außerdem keine Untersuchungskompetenz und folglich auch kein Recht, neue oder zusätzliche Unterlagen zu verlangen, welche den Behörden nichts bereits vorliegen.118 Gegenstand des Schiedsverfahrens unter dem OECD-MA sind nur jene Streitfragen, welche im Rahmen der Verständigungsverfahren nicht geklärt werden konnten. Folglich kommt der Schiedsstelle keine Kompetenz zur erneuten Entscheidung jener Punkte zu, hinsichtlich welcher die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten bereits eine Einigung er-

114 Vgl. hierzu Art. 23 Abs. 5 MLI. 115 Vgl. hierzu Bertschart/Hildebrand, Das Verständigungsverfahren nach StADG, StR 77/2022, 179. 116 Botschaft StADG, BBl 2020 9219 ff., 9238. 117 Art. 12 Abs. 2 StADG; s. so auch Botschaft StADG, BBl 2020 9219 ff., 9238. 118 Siehe hierzu Textziffer 13 lit. g Verständigungsvereinbarung zum DBA CHDE; s. auch Arth, Das Verständigungs- und Schiedsverfahren im internationalen Steuerrecht, 211.

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zielt haben.119 Insofern unterscheidet sich das Schiedsverfahren unter dem OECD-MA von anderen Formen der völkerrechtlichen Schiedsgerichtsbarkeit, bei denen sich die Kompetenz des Schiedsgerichts auf die Entscheidung des gesamten Falls erstreckt.120 Außerdem haben die zuständigen Behörden der beiden Vertragsstaaten bis zur Eröffnung des Schiedsspruchs durch die Schiedsrichter die Möglichkeit, sich einvernehmlich auf eine Lösung zu einigen121, mit der Folgerung, dass im Falle einer solchen Einigung ein Schiedsspruch nicht mehr ergehen kann.122 Wird allerdings ein Schiedsspruch verkündet, bindet die Entscheidung des Schiedsgerichts hinsichtlich des konkreten Einzelfalles und hinsichtlich der darin geklärten Fragen, nach Zustimmung der Steuerpflichtigen, beide Vertragsstaaten.123 Gemäß der Verständigungsvereinbarung zwischen der Schweiz und Deutschland entscheidet die Schiedsstelle über die Verständigungsvorschläge vorrangig nach den Bestimmungen des Abkommens einschließlich der Konsultationsvereinbarungen hierzu und vorbehaltlich dieser Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts der Vertragsstaaten sowie der Kommentare, Leitlinien oder Berichte zu den einschlägigen Teilen des OECD-MA.124 Es berücksichtigt die im Verständigungssvorschlag aufgeführten Quellen125 und ist an die Rechtsauffassung und die Ermessensausübung der competent authorities gebunden.126 Hervorzuheben und speziell am final offer approach ist, dass der Schiedsspruch nicht, auch nicht in anonymisierter Form, veröffentlicht wird, was für die betroffenen antragstellenden Unternehmen einen nicht zu unterschätzenden Vorteil darstellt.

119 Garbarino/Lombardo in Lang, Tax Treaties: Building Bridges between Law and Economics, Amsterdam 2010 475. 120 Siehe hierzu OECD-Kommentar 2017, Art. 25 OECD N 64; Garbarino/Lombardo in Lang, Rax Treaties, 475; Desax/Veit, 412; Arth, Das Verständigungsund Schiedsverfahren im internationalen Steuerrecht, 211. 121 Ziff. 10 OECD-MV. 122 Ziff. 10 OECD-MV; OECD-Kommentar 2017, Art. 25 OECD N 44. 123 OECD-Kommentar 2017, Art. 25 OECD N 76 ff., 82. 124 Vgl. hierzu Textziffer 12 Abs. 1 Verständigungsvereinbarung zum DBA CHDE. 125 Vgl. hierzu Textziffer 12 Abs. 2 Verständigungsvereinbarung zum DBA CHDE. 126 Vgl. hierzu Textziffer 8 Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-DE.

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8. Entscheidung bei einer final offer arbitration Innerhalb von 60 Tagen nach der letzten Replik bzw. innerhalb von 150 Tagen nach der Ernennung des Vorsitzenden, falls keine Replik eingereicht wurde, wird die Schiedsstelle gestützt auf die von den zuständigen Behörden eingereichten Verständigungsvorschläge und Positionspapiere eine Entscheidung fällen.127 Sofern nur eine zuständige Behörde innerhalb der vorgesehenen Frist einen Verständigungsvorschlag vorlegt, so gilt dieser als die Entscheidung des Schiedsgerichts im konkreten Fall und das Verfahren wird als beendet erklärt.128 Ansonsten erfolgt die Entscheidung durch Annahme einer der von den zuständigen Behörden zu den jeweiligen Streitfragen vorgelegten Verständigungsvorschläge. Da ein Schiedsverfahren mehrere Streitfragen umfassen kann, wird die Schiedsstelle über alle Streitfragen gesondert entscheiden, weshalb die endgültige Entscheidung der Schiedsstelle sich aus Teilen beider von den zuständigen Behörden vorgelegten Verständigungsvorschlägen zusammensetzen kann.129 Die schriftliche Entscheidung der Schiedsstelle enthält weder eine Begründung noch eine Analyse.130 Sie wird durch Mehrheitsbeschluss erlassen und den beiden zuständigen Behörden durch den Vorsitzenden übermittelt. Der Schiedsspruch hat keinen präjudiziellen Charakter.131

9. Umsetzung des Schiedsspruchs Innerhalb von 180 Tagen nach Eröffnung des Schiedsspruchs erlassen die zuständigen Behörden eine Verständigungsvereinbarung132 auf Grundlage des Schiedsspruchs.133 Aus völkerrechtlicher Perspektive gilt die Verständigungsvereinbarung als verbindlich, sofern der Steuerpflichtige

127 Vgl. hierzu Textziffer 8 lit. a Verständigungsvereinbarung zum DBA CHDE. 128 Textziffer 8 lit. b Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-DE. 129 Textziffer 13 lit. b Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-DE. 130 Textziffer 13 lit. c Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-DE. 131 Siehe hierzu: Textziffer 13 lit. c Verständigungsvereinbarung zum DBA CHDE. 132 Siehe zur Rechtnatur der Verständigungsvereinbarung: Arth, Das Verständigungs- und Schiedsverfahren im internationalen Steuerrecht, 41. 133 Gemäß Textziffer 13 lit. b Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-DE beträgt die Frist sogar im schweizerisch-deutschen Verhältnis 120 Tage.

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die Verständigungsvereinbarung nicht ablehnt134 oder ein Gericht eines der beiden Vertragsstaaten die Verständigungsvereinbarung für nicht umsetzbar erklärt.135 Zinsen oder Strafzuschläge werden nach den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts der Vertragsstaaten bemessen, sofern diesbezüglich im Einzelfall keine Einigung der zuständigen Behörden erfolgt136, während Aufwendungen und Honorare, welche im Zusammenhang mit einem Schiedsverfahren entstehen, von den zuständigen Behörden zu gleichen Anteilen getragen werden. Außerdem dürfen die zuständigen Behörden der betroffenen Person keine Aufwendungen und Honorare überwälzen.137

IV. Nationale Umsetzung der Verständigungsvereinbarung Die zuständigen Behörden setzen den Schiedsspruch wie erläutert dadurch um, indem sie zu dem Fall, der zum Schiedsverfahren geführt hat, eine Verständigungsvereinbarung treffen. Bei dieser Verständigungsvereinbarung handelt es sich nach schweizerischer Auffassung um einen Vertrag völkerrechtlicher Natur, der seine Grundlage in einem zwischenstaatlichen Abkommen hat. Haben die Staaten eine Verständigungsvereinbarung abgeschlossen, sind sie völkerrechtlich auf nationaler Ebene zur Umsetzung verpflichtet.

1. Nationale Rechtsgrundlage Dieser innerstaatliche Umsetzungsakt wird in der Schweiz im StADG geregelt und erfolgt im Rahmen einer Umsetzungsverfügung.138 Vor dem Inkrafttreten des StADG wurde in der Schweiz zur Umsetzung der Verständigungsvereinbarung der Weg der Revision gewählt, wenn die zu ändernden innerstaatlichen Veranlagungsverfügungen bereits in Rechtskraft waren. Das Vorliegen einer Verständigungsvereinbarung wurde als ungeschriebener Revisionsgrund betrachtet. Die Botschaft zum StADG 134 Gemäß Textziffer 13 lit. e Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-DE wird der steuerpflichtigen Person eine Frist von 60 Tagen, nachdem ihr die Verständigungsvereinbarung übermittelt wurde, gewährt. 135 Siehe hierzu OECD-Kommentar 2017, Art. 25 OECD N 83. 136 Vgl. hierzu Textziffer 13 lit. f Verständigungsvereinbarung zum DBA CHDE. 137 Vgl. hierzu Textziffer 11 Verständigungsvereinbarung zum DBA CH-DE. 138 Siehe hierzu zum Ganzen Botschaft StADG, BBl 2020 9219 ff., 9243.

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führt nun aus, dass sich die Vorschriften der Revision aus systematischer Sicht nicht für die Umsetzung der Verständigungsvereinbarung eignen. Da das Schiedsverfahren unabhängig vom innerstaatlichen Verfahren abläuft, soll auch die Umsetzung mittels einer eigenen Umsetzungsverfügung erfolgen. Die Umsetzungsverfügung i.S.v. Art. 19 StADG soll der Eigenständigkeit des Schiedsverfahrens und der daraus folgenden Verständigungsvereinbarung gerecht werden.139

2. Umsetzungsverfügung bei rechtskräftiger Veranlagungsverfügung In Art. 18 Abs. 1 und 2 StADG wird festgehalten, dass nach Mitteilung des SIF die – durch Zustimmung der betroffenen Person verbindlich gewordene – Verständigungslösung von Amtes wegen durch die zuständige Steuerbehörde umgesetzt werden muss. Die Form der Umsetzung hängt von der betroffenen Steuer und dem Stand des innerstaatlichen Verfahrens ab.140 Bei Vorliegen einer rechtskräftigen Veranlagungsverfügung sieht Art. 19 Abs. 1 StADG den Erlass einer Umsetzungsverfügung vor.141 Bei dieser handelt es sich um ein Rechtsinstitut142, welche die bisherige Veranlagungsverfügung ersetzt.143 Der Gesetzgeber lässt den Steuerbehörden bei der Ausgestaltung der Umsetzungsverfügung dabei einen gewissen Freiraum. Gemäß der Botschaft zum StADG ist die zuständige Steuerbehörde bei der Ausgestaltung der Umsetzungsverfügung insofern frei, als sie sich für eine optimale Lösung für die Umsetzung der Verständigungsvereinbarung entscheiden kann.144 Was allerdings unter einer optimalen Lösung zu verstehen ist, ergibt sich nicht aus der Botschaft. Für die direkten Bundesteuern und die Kantons- und Gemeindesteuern sind die kantonalen bzw. kommunalen Steuerbehörden für die Umsetzung zuständig.145

139 140 141 142 143 144 145

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Botschaft StADG, BBl 2020 9219 ff., 9245. Botschaft StADG, BBl 2020 9219 ff., 9243. Art. 18 Abs. 2 StADG. Botschaft StADG, BBl 2020 9219 ff., 9244. Bertschart/Hildebrand, Das Verständigungsverfahren nach StADG, 188. Botschaft StADG, BBl 2020 9219 ff., 9244. Botschaft StADG, BBl 2020 9219 ff., 9245; Bertschart/Hildebrand, Das Verständigungsverfahren nach StADG, 188. Die steuerpflichtige Person unterliegt, auch wenn die Umsetzungsverfügung von Amtes wegen erfolgt, einer Mitwirkungspflicht. Kommt sie ihrer Pflicht missbräuchlich nicht nach,

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3. Umsetzung im offenen Verfahren Sofern die Veranlagung der von der Verständigungsvereinbarung betroffenen Steuerperiode noch offen ist, wird die Verständigungsvereinbarung im Rahmen der Veranlagungsverfügung berücksichtigt, weshalb eine Umsetzungsverfügung gemäß der Botschaft zum StADG nicht erforderlich ist.146 Ist hingegen im Zeitpunkt der Mitteilung der SIF noch ein Rechtsmittelverfahren hängig, weil die Veranlagungsverfügung angefochten wurde, wird in der Praxis zwischen zwei Fällen unterschieden: Art. 18 Abs. 3 StDAG schreibt vor, dass Rechtsmittelverfahren im Zusammenhang mit dem in der Verständigungsvereinbarung geregelten Gegenstand vor oder mit der Umsetzung abgeschlossen sein müssen. Folglich hat die steuerpflichtige Person, sofern im Rechtsmittelverfahren der von der Verständigungsvereinbarung geregelte Gegenstand strittig ist, das Rechtsmittel zurückzuziehen.147 Mit diesem Rückzug wird die angefochtene Verfügung rechtskräftig, woraufhin die Steuerbehörde i.S.v. Art. 19 StADG eine Umsetzungsverfügung zu erlassen hat.148 Hingegen ist, sofern im Rechtsmittelverfahren außer der Verständigungsvereinbarung liegende Gegenstände strittig sind, das Rechtsmittelverfahren zuerst abzuschließen. Die Umsetzung der Verständigungsvereinbarung durch die zuständige Steuerbehörde kann erst dann erfolgen, wenn ein rechtskräftiger Entscheid der Rechtsmittelinstanz vorliegt.149

4. Rechtsmittel gegen die Veranlagungsverfügung Gegen die Umsetzungsverfügung stehen wiederum die gleichen Rechtsmittel zur Verfügung wie gegen jene Verfügung der zuständigen Steuerbehörden, die den Gegenstand der Umsetzungsverfügung betroffen hat. Bei den direkten Steuern kann gegen die Umsetzungsverfügung somit primär die Einsprache beim kantonalen Steueramt, und gegen einen letztinstanzlichen kantonalen Gerichtsentscheid die Beschwerde beim Bun-

146 147 148 149

bleibt die ursprüngliche Veranlagung bestehen, ohne dass eine Umsetzungsverfügung erfolgt, vgl. hierzu Botschaft StADG, BBl 2020 9219 ff., 9235. Botschaft StADG, BBl 2020 9219 ff., 9243. Art. 15 Abs. 2 StADG. Botschaft StADG, BBl 2020 9219 ff., 9243 f.; Bertschart/Hildebrand, Das Verständigungsverfahren nach StADG, 187. Botschaft StADG, BBl 2020 9219 ff., 9243 f.

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desgericht erhoben werden.150 Die steuerpflichtige Person kann nur die unrichtige Umsetzung der Verständigungsvereinbarung rügen. Der Inhalt der Verständigungsvereinbarung hingegen wurde selbst vom Steuerpflichtigen akzeptiert und kann somit nicht im Rechtsmittelverfahren geprüft werden.151

5. Dauer der Umsetzungspflicht Gemäß Art. 21 Abs. 1 StADG setzt die zuständige Steuerbehörde die Verständigungsvereinbarung um, sofern das Gesuch um Durchführung des Verständigungsverfahrens im Inland oder im Ausland abkommenskonform innert zehn Jahren nach Eröffnung der Verfügung oder des Entscheids eingereicht wird, die oder der den Gegenstand der Umsetzungsverfügung betrifft. Sofern das Gesuch mehr als zehn Jahre nach Fälligkeit der Steuern eingereicht wurde, erlischt gemäß Art. 21 Abs. 2 StADG die Pflicht der zuständigen Steuerbehörden zur Umsetzung der Verständigungsvereinbarung. Die Frist im StADG kommt allerdings nur dann zur Anwendung, wenn die DBA der Schweiz keine abweichenden Regelungen enthalten, denn die DBA-Normen gehen Art. 21 StADG vor. Namentlich sieht die DBA der Schweiz mit Niederlanden152 und Liechtenstein153 eine Umsetzung „ungeachtet der Fristen des innerstaatlichen Rechts“154 vor155, weshalb die in Art. 21 StADG vorgesehene Frist nicht im schweizerisch-niederländischen bzw. schweizerisch-liechtensteinischen Verhältnis gilt.156

6. Verzinsung, Kosten und Entschädigungen Die steuerpflichtige Person, welche von der Umsetzungsverfügung betroffen ist, hat gem. Art. 22 StADG Anspruch auf Rückerstattung bereits bezahlter Steuern und auf Verzugszinsen, die allerdings bei treuwidrigem Verhalten des Gesuchstellers von den Kantonen verwehrt werden können.157 Hätte das Verständigungs- und das darauffolgende Schiedsverfah150 151 152 153 154

Vgl. dazu Art. 132 DBG und Art. 149 Abs. 4 DBG, SR. 642.11. Botschaft StADG, BBl 2020 9219 ff., 9246. Art. 25 Abs. 2 DBA CH-NL. Art. 25 Abs. 2 DBA CH-FL, SR. 0.672.951.43. Der gleiche Wortlaut ist auch im DBA mit Hongkong, SR. 0.672.941.61, in Art. 24 Abs. 2 vorgesehen. 155 Vgl. hierzu Art. 25 Abs. 2 DBA CH-NL. 156 Botschaft StADG, BBl 2020 9219 ff., 9248. 157 Vgl. hierzu den Wortlaut zu Art. 22 StADG.

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ren bei zumutbarer Sorgfalt vermieden werden können, so können außerdem nach dem nationalen Verfahrensrecht i.S.v. Art. 23 Abs. 1 StADG sämtliche Kosten158, die mit der Umsetzung der Verständigungsvereinbarung im Zusammenhang stehen, von den Kantonen der steuerpflichtigen Person auferlegt werden.159 Außerdem besteht gem. Art. 23 Abs. 2 StADG kein Anspruch auf Entschädigung im Rahmen des Umsetzungsverfahrens.160

7. Verrechnungssteuern bei Sekundärberichtigung Bei Verrechnungspreiskorrekturen kann es geschehen, dass allfällige Übergewinne, die eine in der Schweiz ansässige Gesellschaft infolge unangemessener Verrechnungspreise erzielte, im Rahmen der sog. Sekundärberichtigung der im Ausland ansässigen und entreicherten verbundenen Gesellschaft effektiv rückvergütet werden müssen. Art. 18 Abs. 4 StADG bestätigt nun die bereits vor Inkrafttreten gelebte Praxis, dass die Verrechnungssteuer nicht zu erheben ist, wenn im Rahmen einer Sekundärberichtigung eine Ausgleichszahlung einer schweizerischen Gesellschaft an eine ausländische verbundene Gesellschaften in Übereinstimmung mit dem Ergebnis eines Verständigungsverfahrens erfolgt.

V. Gesamtwürdigung und Schlussbetrachtung Zwar stellt das DBA-Schiedsverfahren in Form der final offer arbitration die Beseitigung einer abkommenswidrigen Besteuerung grundsätzlich auf effiziente Weise sicher, allerdings steht es in einem Spannungsverhältnis zu verschiedenen elementaren Verfahrens-, Besteuerungs- und Verfassungsgrundsätzen, wie dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs, dem Gleichbehandlungsgrundsatz, dem Legalitätsprinzip wie auch dem Gewaltenteilungsprinzip. Die zuständigen Behörden behalten in einem gewissen Umfang die Kontrolle über das Verfahren, indem sie sich vor dem Abschluss des Schiedsverfahrens jederzeit einigen können. Das Schiedsgericht kann zudem nur zwischen den von den ersuchenden Behörden eingereichten Lösungsvorschlägen entscheiden. Bei allen dogmatischen Schwächen der final offer arbitration darf aber nicht darüber hinweggesehen werden, dass der betroffene antragstellende Steuerpflich158 Die Berechnung der Kosten richtet sich i.S.v. Art. 19 Abs. 3 StADG nach den anwendbaren Verfahrensbestimmungen. 159 Botschaft StADG, BBl 2020 9219 ff., 9249. 160 Botschaft StADG, BBl 2020 9219 ff., 9249.

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DBA-Schiedsverfahren – Matteotti/Beceren

tige das Recht hat, die auf einem Schiedsspruch basierende Verständigungsvereinbarung abzulehnen und das nationale Rechtsmittelverfahren fortzusetzen, wo er sämtliche Verfahrensrechte wahrnehmen kann. Zudem gewährt die final offer arbitration dem antragstellenden Steuerpflichtigen größtmögliche Vertraulichkeit, welche im nationalen Rechtsmittelverfahren in der Regel nicht gegeben ist. Das Ablehnungsrecht und die Gewährleistung der Vertraulichkeit vermögen zwar insbesondere die Kritik an den fehlenden Mitwirkungsrechten des Steuerpflichtigen zu relativieren. Dennoch wäre es erstrebenswert, wenn dem betroffenen Steuerpflichtigen das Recht eingeräumt würde, zu den von den zuständigen Behörden eingenommenen Positionen Stellung zu nehmen. Die Stellungnahme könnte zeitlich erfolgen, nachdem die zuständigen Behörden zu den eingereichten Positionspapieren gegenseitig Stellung beziehen konnten. Auf diese Weise könnte nicht nur die Perspektive des Steuerpflichtigen ins Schiedsverfahren einfließen und dessen Anspruch auf rechtliches Gehör gestärkt werden, sondern es würde auch die Transparenz des Verfahrens ihm gegenüber erhöht. Zudem könnte das Schiedsgericht aus der Eingabe des Steuerpflichtigen für seinen Entscheid zusätzliche wertvolle Erkenntnisse gewinnen. Eine darüberhinausgehende Perfektionierung des DBA-Schiedsverfahrens wäre wohl nur bei Schaffung eines internationalen Steuergerichts möglich. Ein solches erscheint aber heute aufgrund des damit einhergehenden Souveränitätsverlusts nicht realistisch zu sein. Zudem besteht bei einem Verfahren vor einem internationalen Steuergericht das Risiko, dass sich die Verfahrensdauer verlängern würde und die Vertraulichkeit des Verfahrens an Gewicht verlieren würde, weswegen bezweifelt werden kann, ob ein internationales Steuergericht für die Steuerpflichtigen, deren primäres Ziel darin besteht, eine Doppelbesteuerung zu vermeiden, ein Segen wäre.

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Alternative Streitbeilegungsmechanismen (Mediation, Güterichter, EU-Streitbeilegungs-Richtlinie) Prof. Dr. Barbara Gunacker-Slawitsch Universität Graz

I. Einleitung 1. Begriff der alternativen Streitbeilegung 2. Thesen 3. Gang der Untersuchung II. Weshalb besteht ein Bedarf nach alternativen Mechanismen zur Beilegung von Steuerstreitigkeiten? 1. Nationaler Kontext 2. Grenzüberschreitender Kontext III. Bergen alternative Streitbeilegungsmechanismen die Gefahr eines Rechtsschutz- oder (sonstigen) Rechtsstaatsdefizits? 1. Zur Funktion des Rechtsschutzes a) Sicherung des individuellen Rechtsschutzes b) Gewährleistung einer objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle 2. Gefährdung durch alternative Streitbeilegungsmechanismen? IV. Welche Vorteile können alternative Streitbeilegungsmechanismen bieten? V. Ausgewählte Streitbeilegungsmechanismen 1. Mediation

a) Verfahren und Anwendungsbereich b) Vorteile und Gefahren 2. Güterichterverfahren a) Verfahren und Anwendungsbereich b) Gefahren c) Vorteile 3. EU-Streitbeilegungs-Richtlinie: Anwendung alternativer Streitbeilegungsmethoden bei Einsetzung eines Ausschusses für alternative Streitbeilegung a) Allgemeines b) Der Ausschuss für alternative Streitbeilegung aa) Einsetzung eines Ausschusses für alternative Streitbeilegung bb) Möglichkeit der Anwendung alternativer Streitbeilegungsmethoden cc) Gefahren (1) Einschränkung der Mitwirkungsrechte (2) Flexibilität hinsichtlich der anzuwendenden Streitbeilegungsmethode dd) Vorteile VI. Fazit

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Alternative Streitbeilegungsmechanismen – Gunacker-Slawitsch

I. Einleitung 1. Begriff der alternativen Streitbeilegung Die Frage, inwieweit alternative Streitbeilegungsmechanismen geeignete Instrumente zur Lösung steuerrechtlicher Streitigkeiten sein können, ist nicht neu. Sie hat vor dem Hintergrund, dass in einer digital-globalisierten Welt sowohl die Komplexität steuerrechtlich zu beurteilender Sachverhalte als auch jene des Rechts weiterhin zunimmt,1 die Regulierung in einer modernen Welt smart sein soll und dabei auch ein Instrumentenmix gefordert wird,2 in jüngerer Zeit allerdings (wiederum)3 an Aktualität gewonnen. Zu beantworten sind in diesem Zusammenhang ein ganzes Bündel an Fragen: Welche Bedeutung haben alternative Streitbeilegungsmechanismen für die Beilegung von Besteuerungsstreitigkeiten? Weshalb besteht überhaupt ein Bedarf, nach „Alternativen“ zu suchen? Bergen alternative Mechanismen Gefahren für den Rechtsschutz des Einzelnen oder für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Besteuerung in einem fairen Verfahren in sich? Führen alternative Streitbeilegungsmechanismen somit zu einem Rechtsschutz- oder einem sonstigen Rechtsstaatsdefizit? Welche Vorteile können solche Mechanismen bieten? Unternimmt man den Versuch, diese Fragen zu beantworten, ist zunächst der Begriff der alternativen Streitbeilegung zu definieren. Dies erfordert zuerst, Mechanismen der Streitbeilegung von Mechanismen der Streitvermeidung zu unterscheiden. Als Abgrenzungsmerkmal wird im Folgenden auf die Entstehung eines nach außen in Erscheinung tretenden „Streits“ abgestellt. Hat die Behörde ihre Auffassung in förmlicher 1 Burger/Kälberer, Rechts- und Planungssicherheit im Zeichen einer neuen Weltsteuerordnung, IStR 2020, 411 (412); Gröhs/Pirringer/Rzeszut, Miteinander statt gegeneinander, SWK 2018, 1394. 2 Ausführlich Gunningham, Enforcement and Compliance Strategies, in Baldwin/Cave/Lodge (Hrsg.), The Oxford Handbook of Regulation, 2010, 120 (131); Baldwin/Cave/Lodge, Understanding Regulation, Theory, Strategy and Practice, 2. Aufl. 2012, 265; Gunningham/Sinclair, Smart regulation, in Drahos (Hrsg.), Regulatory Theory, 2017, 133; zum Steuerrecht Gunacker-Slawitsch, Amtswegigkeit und Mitwirkung im Abgabenverfahren, 2020, 643 ff.; Ehrke-Rabel/Anderwald, Rechtfertigung von Abgaben (Teil 1), ÖStZ 2022, 329 (330). 3 Vor allem im Zuge der Einführung des Gesetzes zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung (BGBl. I 2012, 1577) wurden alternative Streitbeilegungsmechanismen in Deutschland intensiv diskutiert, dazu Punkt V.1.

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Alternative Streitbeilegungsmechanismen – Gunacker-Slawitsch

Weise (in einem Bescheid) dem Steuerpflichtigen gegenüber kundgetan und setzt sich dieser dagegen zur Wehr, entsteht ein (im Folgenden als Abgrenzungskriterium herangezogener) Steuerstreit. Unter Streitbelegungsinstrumenten werden daher Instrumente verstanden, die darauf abzielen, einen Steuerstreit zu beenden. Solche Instrumente gelangen immer nach einer Sachverhaltsverwirklichung zur Anwendung. Von Streitbeilegungs- sind Streitvermeidungsmechanismen zu unterscheiden, die nicht Gegenstand dieses Beitrages sind. Der gegenständliche Beitrag bezieht sich auf Mechanismen alternativer Streitbeilegung, somit auf Mechanismen, die darauf abzielen, einen nach Sachverhaltsverwirklichung entstandenen Streit zu beenden. Im Schrifttum wird der Begriff der alternativen Streitbeilegung i.d.R. als Sammelbegriff verwendet, der verschiedene Verfahren umfasst, die teilweise völlig unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen und unterschiedliche Methoden einsetzen.4 Im Kern geht es bei alternativer Streitbeilegung um eine Alternative zu einem klassischen Streitbeilegungsverfahren vor Behörden oder Gerichten.5 Da klassische Verfahren gewisse Schwächen aufweisen, wurde nach Alternativen gesucht. Dabei kann es sich, im Vergleich zu „klassischen“ Verfahren, um echte „Alternativen“, vorgeschaltete Verfahren oder Parallelverfahren handeln.6 Ein Blick in die verschiedenen Rechtsbereiche lässt rasch erkennen, dass unterschiedliche alternative Streitbeilegungsmechanismen (z.B. Mediation, Schlichtungsverfahren, Schiedsverfahren, Einrichtung von Ombudsleuten) mit unterschiedlicher Ausgestaltung entwickelt wurden.7 Inwieweit alternative Streitbeilegungsmechanismen zur Lösung von Steuerstreitigkeiten einsetzbar sind, kann daher endgültig nur vor dem Hintergrund der konkreten Ausgestaltung eines bestimmten Mechanismus beantworten wer4 Meisinger/Salicites, Alternative Formen der Streitbeilegung in Deixler-Hübner/Schauer (Hrsg.), Alternative Formen der Konfliktbereinigung, 2016, 1 (2 f.); Perner/Völkl, Aktueller Stand des Rechts internationaler Wirtschaftsschlichtung, ÖJZ 2003, 495. 5 Perner/Völkl, ÖJZ 2003, 495; Kovacˇ, The Potentials and Limitations of Tax Dispute Prevention and Alternative Resolution Mechanisms, https://doi.org/ 10.30925/zpfsr.39.4.3, 1505 (1510). 6 Hirsch, Außergerichtliche Beilegung von Verbraucherstreitigkeiten – ein alternativer Zugang zum Recht entsteht, NJW 2013, 2088. 7 Für viele Hirsch, NJW 2013, 2088; Meisinger/Salicites in Deixler-Hübner/ Schauer (Hrsg.), Alternative Formen der Konfliktbereinigung, 1 (2 f.); zum Teil werden Begrifflichkeiten in diesem Zusammenhang auch in gesetzlichen Bestimmungen verwendet (und sind daher im jeweiligen Regelungskontext zu definieren), dazu Hirsch, NZW 2013, 2088.

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den. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf jene drei Mechanismen, die von den Organisatoren der diesjährigen Jahrestagung im Vortragstitel genannt wurden: Mediation, Güterichterverfahren und das Verfahren nach der EU-Streitbeilegungs-Richtlinie. Bei einer Mediation sollen die Beteiligten durch eine nicht entscheidungsbefugte Person dabei unterstützt werden, eine einvernehmliche Streitbeilegung zu erzielen.8 Von den hier behandelten Mechanismen stellt sie das „weichste“ Instrument dar. Eine Mediation kann entweder vor oder nach Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens durchgeführt werden (Mediation kann daher sowohl der Streitvermeidung als auch der Streitbeilegung dienen, dazu Punkt V.1.a). Im vorliegenden Beitrag wird der Fokus auf die Möglichkeit einer Mediation im nationalen gerichtlichen Verfahren gelegt. Auch im Güterichterverfahren werden die Beteiligten unterstützt, ihren Streit gütlich zu beenden. Dieses Verfahren ist ebenfalls ein „weiches“ Instrument, welches geschaffen wurde, um die „Starrheit“ des gerichtlichen Verfahrens für bestimmte Fälle zu reduzieren. Es handelt sich um ein Verfahren auf der Ebene des FG, welches vor einem unabhängigen und weisungsfreien, aber in diesem Fall nicht entscheidungsbefugten Richter geführt wird (Punkt V.2.a). Aufgrund der engen Einbindung in das gerichtliche Verfahren kann hinterfragt werden, ob es sich dabei tatsächlich um eine Form „alternativer“ Streitbeilegung handelt. Für die Zwecke dieses Beitrags wird der Begriff der alternativen Streitbeilegung allerdings weit und das Güterichterverfahren als ein alternativer Streitbeilegungsmechanismus verstanden. Das Verfahren nach der EU-Streitbeilegungs-RL stellt – wie in anderen Beiträgen ausführlich thematisiert wird9 – eine Alternative zu einem nationalen Verfahren dar, um Doppelbesteuerungskonflikte effektiv und effizient zu lösen. Innerhalb dieses alternativen Verfahrens wird den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt, durch Einsetzung eines Ausschusses für alternative Streitbeilegung verschiedene alternative Streitbeilegungstechniken zur Anwendung zu bringen. Diese Möglichkeit wird im vorliegenden Beitrag in den Blick genommen.

8 Dies ist, bei allen Unterschiedlichkeiten von Mediationsverfahren, i.d.R. als gemeinsamer Nenner solcher Verfahren zu nennen, Perner/Völkl, ÖJZ 2003, 495. 9 Ismer, in diesem Band; Bruns, in diesem Band; Matteoti, in diesem Band.

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2. Thesen Bevor den eingangs aufgeworfenen Fragen näher nachgegangen wird, sollen vier Thesen aufgestellt werden: 1. Die Gefahren alternativer Streitbeilegungsmechanismen liegen vor allem in der noch stärkeren Verringerung der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle und (damit zusammenhängend) in einer ungleichen Anwendung des Rechts. 2. Alternative Streitbeilegungsmechanismen bieten zugleich die Chance, die „Starrheit“ klassischer Verfahren aufzuweichen und durch Mechanismen zu ergänzen, die in dafür geeigneten Fällen zu einer Beschleunigung des Verfahrens führen. 3. Im nationalen Kontext ist der Bedarf nach alternativen Streitbeilegungsmechanismen gering. Dies liegt vor allem daran, dass die meisten Steuerpflichtigen durch einen Berater vertreten sind, für unvertretene Steuerpflichtige gewisse „Anlaufstellen“ bestehen und im finanzgerichtlichen Verfahren mit dem Erörterungstermin bereits ein „weiches“ Instrument für eine gütliche Streitbeilegung zur Verfügung steht. 4. Zur Lösung von Doppelbesteuerungskonflikten besteht demgegenüber ein Bedarf nach Alternativen zu nationalen Gerichtsverfahren. Innerhalb des alternativen Verfahrens nach der EU-StreitbeilegungsRichtlinie ist die Möglichkeit, bei Einsetzung eines Ausschusses für alternative Streitbeilegung alternative Methoden anzuwenden, ein interessantes „Experimentierfeld.“

3. Gang der Untersuchung Um diese Thesen näher zu begründen, wird zunächst in einer Gesamtbetrachtung den Fragen nachgegangen, weshalb ein Bedarf nach alternativer Streitbeilegung besteht, ob alternative Streitbeilegungsmechanismen rechtsstaatliche Bedenken hervorrufen und worin ihr Potential liegt. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Überlegungen werden die drei ausgewählten Mechanismen anschließend näher beleuchtet.

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II. Weshalb besteht ein Bedarf nach alternativen Mechanismen zur Beilegung von Steuerstreitigkeiten? 1. Nationaler Kontext Versteht man alternative Streitbeilegung als Alternative zu einem klassischen Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelverfahren, kann ein Bedarf nach einer solchen Alternative nur bestehen, wenn die klassischen Verfahren Schwächen aufweisen. Sowohl Deutschland als auch Österreich verfügen grundsätzlich über ein gut funktionierendes Rechtsschutzsystem in Steuersachen.10 Als größte Schwäche werden die zum Teil langen Verfahrensdauern identifiziert, die zu hohen Kosten und zu erheblicher Rechtsunsicherheit führen.11 Alternative Streitbeilegungsmechanismen können eine Entlastung der Gerichte bewirken, indem sie dazu führen, dass bestimmte12 Streitigkeiten einvernehmlich beendet werden. Solche Mechanismen können sowohl die Gerichte als auch die betroffenen Steuerpflichtigen entlasten, wenn deren Verfahren dadurch zügiger abgeschlossen werden. In Deutschland wurde offenbar ein Bedarf nach alternativen Streitbeilegungsmechanismen auf der Ebene des FG gesehen, da im Jahr 2012 mit dem „Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung“13 die Möglichkeit einer Mediation sowie das Güterichterverfahren in die Finanzgerichtsordnung implementiert wurden.14

10 Diesen Eindruck erwecken insbesondere auch die Jahresberichte der FG selbst: Für Deutschland: Statistisches Bundesamt (Destatis), Finanzgerichte 2020 (2021), https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/Publika tionen/Downloads-Gerichte/finanzgerichte-2100250207004.pdf?__blob=publica tionFile; für Österreich: BFG, Tätigkeitsbericht des Bundesfinanzgerichts für das Jahr 2021 (2022), https://www.bfg.gv.at/public/taetigkeitsbericht.html. 11 Für Österreich s. insbesondere den Bericht des Rechnungshofes: Bundesfinanzgericht – Bericht des Rechnungshofes BUND 2021/1, III-219 BlgNR 27. GP, GZ 0004.744/010-PR 3/21, 8; Gröhs/Pirringer/Rzeszut, Miteinander statt gegeneinander, SWK 2018, 1394; für Deutschland z.B. Burger/Kälberer, IStR 2020, 411 (414). 12 Die hier näher untersuchten Mechanismen betreffen bereits vor das Gericht gelangte Streitigkeiten, s. Punkt V.1 und V.2. 13 BGBl. I 2012, Nr. 35, 1577. 14 § 155 FGO.

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2. Grenzüberschreitender Kontext Anders ist die Situation im internationalen Steuerrecht: Werden zwischenstaatliche Abkommen in verschiedenen Staaten unterschiedlich angewandt oder ausgelegt und entsteht daraus ein Doppelbesteuerungskonflikt, existiert kein internationales Gericht, das mit der Lösung des Streits befasst werden kann.15 An in nationalen Gerichtsverfahren erzielte Ergebnisse sind andere Staaten nicht gebunden.16 In diesem Bereich waren die Staaten schon in der Vergangenheit gezwungen, andere „alternative“ Wege der Streitbeilegung zu suchen, was – wie in anderen Beiträgen in diesem Band näher thematisiert wird – insbesondere zur Entwicklung von Verständigungs- und Schiedsverfahren geführt hat. Da auch bei diesen Verfahren diverse Unzulänglichkeiten, wie insbesondere der fehlende Anspruch auf eine verbindliche Entscheidung oder – auch hier – zum Teil sehr lange Verfahrensdauern festgestellt wurden,17 wurde mit der EU-Streitbeilegungs-Richtlinie18 (in der Folge: SBRL) ein weiteres alternatives Streitbeilegungsinstrument entwickelt, das für Verfahren zur Beilegung von grenzüberschreitenden Besteuerungsstreitigkeiten innerhalb der Europäischen Union die identifizierten Schwächen überwinden soll.19

15 Zu einem Ausblick s. Mayr, in diesem Band. 16 Staringer, Das Schiedsverfahren nach dem EU-BStbG auf dem Prüfstand, in Kubik/Schmidjell-Dommes/Staringer (Hrsg.), Das EU-Besteuerungsstreitbeilegungsgesetz, SWI-Spezial, 2019, 40 (48). 17 Eilers/Drüen in Wassermeyer/Kaeser/Schwenke/Drüen (Hrsg.), Doppelbesteuerung, Art. 25 MA Rz. 13 ff. (Stand März 2020); Voje, EU Tax Dispute Resolution Directive (2017/1852): Paving the Path Toward a European Tax Court?, European Taxation 2018, 309; Baumhoff, Mediation bei Verrechnungspreiskonflikten als alternativer Streitbeilegungsansatz?, IStR 2020, 802. 18 Richtlinie (EU) 2017/1852 des Rates v. 10.10.2017 über Verfahren zur Beilegung von Besteuerungsstreitigkeiten in der Europäischen Union, ABl. Nr. L 265 v. 14.10.2017, S. 1. 19 Voje, The Limits to the Participation of the Taxpayer in Tax Dispute Resolution Procedure Under the Dispute Resolution Directive, Intertax 2020, 157 (158).

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III. Bergen alternative Streitbeilegungsmechanismen die Gefahr eines Rechtsschutz- oder (sonstigen) Rechtsstaatsdefizits? Ist ein Bedarf nach alternativer Streitbeilegung grundsätzlich identifiziert, ist zu prüfen, ob von solchen Instrumenten Gefahren für den Rechtsschutz und die Rechtsstaatlichkeit im Allgemeinen ausgehen. Dazu sind zunächst allgemeine Überlegungen zur Funktion des Rechtsschutzes anzustellen.

1. Zur Funktion des Rechtsschutzes a) Sicherung des individuellen Rechtsschutzes Nach Art. 19 Abs. 4 GG steht jedem, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der Rechtsweg offen. Gesichert werden insbesondere die Existenz einer staatlichen Gerichtsbarkeit, der Zugang zu dieser sowie ein Anspruch auf wirksamen (effektiven) Rechtsschutz.20 Voraussetzung für die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Rechtsweges ist eine subjektive Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt.21 Art. 19 Abs. 4 GG enthält damit eine Systementscheidung zugunsten eines Individualrechtsschutzes.22 Papier betont, dass es dem einfachen Gesetzgeber zwar freistehe, den Gerichten darüber hinausgehend auch Kompetenzen der objektiven (Gesetzmäßigkeits-)Kontrolle zu überantworten, die „verfassungsrechtlich verbürgten Primärfunktionen des Individualrechtsschutzes“ dürfen dadurch aber nicht substantiell behindert werden.23 Die österreichische Bundesverfassung kennt keine Art. 19 Abs. 4 GG im Wortlaut entsprechende explizite allgemeine Rechtsschutzgarantie gegen die öffentliche Gewalt. Eine Reihe verfassungsrechtlicher Bestimmungen sichern aber ebenso das Konzept eines umfassenden, effektiven

20 Papier in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 3. Aufl. 2010, § 177 Rz. 1, 19; Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Rz. 22.1; s. auch z.B. BVerfG v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02, BVerfGE 107, 395. 21 Papier in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts3, Bd. VIII, § 177 Rz. 2. 22 Papier in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts3, Bd. VIII, § 177 Rz. 2; Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 22.1. 23 Papier in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts3, Bd. VIII, § 177 Rz. 2.

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Rechtsschutzes.24 Auch in Österreich sind somit der Anspruch des Einzelnen, Akte der öffentlichen Gewalt durch staatliche Gerichte überprüfen zu lassen, sowie allgemein das Recht auf einen effektiven Rechtsschutz verfassungsrechtlich garantiert.25

b) Gewährleistung einer objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle Der Rechtsschutz gegen Handlungen der Finanzverwaltung beinhaltet auch eine gewisse objektive Komponente. Entscheidet sich der Steuerpflichtige dazu, gegen einen Verwaltungsakt ein Rechtsmittel zu ergreifen, wird damit letztendlich auch dem öffentlichen Interesse an der Rechtsrichtigkeit zum Schutz des staatlichen Steueranspruchs zum Durchbruch verholfen. Der Rechtsschutz dient damit auch der Kontrolle der Verwaltung. Diese Verwaltungskontrolle ist freilich insofern Ausfluss des Individualrechtsschutzes, als es der Steuerpflichtige in der Hand hat, ein Rechtsmittel zu erheben oder die Entscheidung der Finanzverwaltung zu akzeptieren.26 Welcher Stellenwert der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle in einem finanzgerichtlichen Verfahren zukommt, hängt maßgeblich von der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Verfahrens ab. Das deutsche finanzgerichtliche Verfahren ist primär auf die Wahrung individuellen Rechtsschutzes ausgerichtet.27 Dies zeigt sich vor allen darin, dass der Kläger mit seiner Klage bestimmt, in welchem Umfang das Gericht tätig werden darf. Das Gericht darf über das Klagebegehren nicht hinausgehen und nicht zu Ungunsten des Steuerpflichtigen verbösernde Entscheidungen treffen.28 Der Kläger kann seine Klage später auch wieder zurücknehmen (§ 72 FGO) und die Beteiligten sind berechtigt, den Rechtsstreit in der

24 Ausführlich Eberhard, Verfahrensökonomie und Effektivität des Rechtsschutzsystems, JRP 2014, 90; Traußnigg, Strukturfragen eines umfassenden effektiven Rechtsschutzes, JAP 2020, 83; s auch VfGH v. 14.3.2012 – U 466/ 11, VfSlg. 19.632. 25 Eberhard, JRP 2014, 90 (93 ff.); Traußnigg, JAP 2020, 83 (86 ff.), jeweils m.w.N. 26 Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 1996, 283; Gunacker-Slawitsch, Einigung im finanzgerichtlichen Verfahren, in Ehrke-Rabel/Merli (Hrsg.), Die belangte Behörde in der neuen Finanz- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2013, 61 (112). 27 Seer in Tipke/Kruse, Einf. FGO Rz. 28 (Stand Oktober 2019). 28 Seer in Tipke/Kruse, Einf. FGO Rz. 28; Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO Rz. 95 (Stand August 2018).

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Hauptsache übereinstimmend für erledigt zu erklären (§ 138 FGO).29 Dass unter bestimmten Voraussetzungen ein Konkurrentenrechtsschutz besteht,30 verdeutlicht aber, dass auch die Sicherung des objektiven Rechts zu den Aufgaben der Gerichtsbarkeit zählt. Im österreichischen finanzgerichtlichen Verfahren steht die objektive Rechtsschutzkomponente stärker im Vordergrund. Gemäß § 269 Abs. 1 BAO kommen dem Verwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren jene Obliegenheiten und Befugnisse zu, die den Abgabenbehörden auferlegt und eingeräumt sind. Das Verwaltungsgericht darf den angefochtenen Bescheid im Rahmen der „Sache“ des Verfahrens31 „nach jeder Richtung“ abändern (§ 279 Abs. 1 BAO), ist bei seiner Beurteilung nicht an die Beschwerdepunkte gebunden32 und darf (bzw. muss) auch verbösernde Entscheidungen treffen.33 Diese Befugnisse und Verpflichtungen sind in dem seit 2014 geltenden Rechtsmittelverfahren auch Ausdruck der Systementscheidung, dass der Abgabenbehörde ab der Vorlage der Beschwerde34 grundsätzlich keine Entscheidungsbefugnis mehr zusteht. Ohne Zustimmung des Beschwerdeführers und des Gerichts dürfen Bescheide nicht mehr aufgehoben und abgeändert werden (§ 300 BAO). Die Rechtmäßigkeitskontrolle ist daher ab der Vorlage der Beschwerde grundsätzlich35 die Aufgabe des Gerichts. Das verwaltungsgerichtliche Verfahren dient damit in Österreich jedenfalls auch der Kontrolle der objektiven Rechtmäßigkeit. Dass der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle im österreichischen Verfahren ein größerer Stellenwert als im deutschen Verfahren eingeräumt wird, mag auch mit ein Grund dafür sein, dass im österreichischen finanzgerichtlichen Verfahren – anders als in Deutschland – bisher keine auf einvernehmliche Streitbeilegung ausgerichteten alternativen Mechanismen etabliert wurden. Die Wahrung objektiver 29 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 22.162. 30 Dazu Helm, Konkurrentenklagen im Steuerrecht – Prozessuale Instrumente des Wirtschaftsordnungsrechts, StuW 2021, 265. 31 Dazu Staringer in Holoubek/Lang, Grundfragen der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit, 79 (91 ff.); s. auch VwGH v. 31.5.2017 – Ro 2015/13/0022. 32 Z.B. VwGH v. 10.5.2010 – 2008/16/0139; VwGH v. 22.10.2015 – Ro 2015/15/ 0035. 33 § 279 BAO; für viele VwGH v. 25.4.2013 – 2012/15/0161; Ellinger/Sutter/ Urtz3, § 279 BAO Anm. 9 (Stand 15.4.2018, rdb.at). 34 Bzw. ab Einbringung einer Vorlageerinnerung oder in bestimmten Fällen ab Einbringung der Bescheidbeschwerde (§ 300 Abs. 1 BAO). 35 Wobei das VerwG freilich nach Maßgabe des § 278 Abs. 1 BAO die Beschwerde durch Aufhebung des angefochtenen Bescheides unter Zurückverweisung der Sache an die Abgabenbehörde erledigen kann.

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Rechtmäßigkeit ist aber auch im österreichischen finanzgerichtlichen Verfahren nur ein Nebenzweck: Da die Verwaltungskontrolle durch den Steuerpflichtigen (mit der Erhebung einer Beschwerde) erst „angestoßen“ werden muss, grundsätzlich kein Konkurrentenrechtsschutz besteht36 und die Beschwerde auch wieder zurückgenommen werden kann, ist das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht ebenfalls in erster Linie darauf ausgerichtet, subjektiven Rechtsschutz gegen rechtswidriges Verwaltungshandeln zu bieten.37 Daraus folgt (sowohl für Deutschland als auch für Österreich): Der Schutz der Allgemeinheit vor rechtswidrigen Entscheidungen zur Wahrung der Gleichheit ist nicht primär die Aufgabe der Finanzgerichtsbarkeit. Der Umstand, dass gerichtliche Verfahren in erster Linie darauf ausgerichtet sind, dem Einzelnen zu seinem Recht zu verhelfen, bedeutet allerdings nicht, dass der Kontrolle der objektiven Rechtmäßigkeit überhaupt keine Bedeutung zukommt. Die Gerichte kontrollieren die Verwaltung und schützen damit neben dem Interesse des Einzelnen vor rechtswidriger (zu hoher) Besteuerung auch den Steueranspruch des Staates im Interesse der Allgemeinheit. Gerichtliche Entscheidungen tragen damit dazu bei, das Vertrauen der Bürger in den Staat zu stärken. Hinzu kommt, dass gerade die Transparenz gerichtlicher Verfahren und dabei insbesondere die Veröffentlichungspflicht von Entscheidungen dazu beitragen, das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit zu erhalten.38 In Österreich sind Entscheidungen des Bundesfinanzgerichts grundsätzlich zu veröffentlichen, wenn nicht im Einzelfall wesentliche Interessen der Parteien oder wesentliche öffentliche Interessen entgegenstehen (§ 23 BFGG).39 In Deutschland besteht 36 Zum Rechtsschutz des Konkurrenten im Abgabenverfahren Ehrke-Rabel, Gemeinschaftsrecht und österreichisches Abgabenverfahren, 2006, 226 ff.; Zorn, Entwicklungen in der Rechtsprechung zum Abgabenrecht, ÖStZ 2001, 186 (189); Mamut, Konkurrentenschutz im Abgabenrecht, 2009. 37 Gunacker-Slawitsch, Das Ermittlungsverfahren vor dem Bundesfinanzgericht, taxlex 2022, 111; Gunacker-Slawitsch in Ehrke-Rabel/Gunacker-Slawitsch (Hrsg.), Rechtsmittelverfahren in Abgabensachen, in Druck; s. aber Sutter in Holoubek/Lang (Hrsg.), Grundfragen der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit, 2017, 226 (235). 38 Staringer, Akte X – die geheimen Fälle des Bundesfinanzgerichts, AVR 2021, 12 (14). 39 Die Veröffentlichung von Formalbeschlüssen „sowie von Erkenntnissen ohne besondere rechtliche Bedeutung insbesondere betreffend Verwaltungsübertretungen“ kann gem. § 23 Abs. 3 BFGG unterbleiben. Zum Schutz priva-

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keine gesetzliche Publikationspflicht. Nach der Rechtsprechung besteht aber zumindest eine Rechtspflicht zur Publikation „veröffentlichungswürdiger“ Entscheidungen.40 Durch die Veröffentlichungspflicht von Entscheidungen wird die Rechtsanwendung vorhersehbarer.41 Gerichtliche Verfahren leisten damit auch einen Beitrag zur gleichmäßigen Anwendung des Rechts.42

2. Gefährdung durch alternative Streitbeilegungsmechanismen? Um die Frage zu beantworten, ob alternative Streitbeilegungsmechanismen zu einem Rechtsschutzdefizit führen, ist somit zunächst der verfassungsrechtlich garantierte Individualrechtsschutz in den Blick zu nehmen. Basierend auf dieser Garantie hat der Steuerpflichtige das Recht, das Handeln der Abgabenbehörde durch staatliche Gerichte überprüfen zu lassen, um sich gegen rechtswidrige Entscheidungen zu wehren.43 Der Steuerpflichtige muss von seinem Recht auf Zugang zum Gericht allerdings nicht Gebrauch machen. Es liegt in seiner Freiheit, den Rechtsweg zu beschreiten, davon abzusehen oder einen bereits beschrittenen Rechtsweg durch Zurücknahme eines Rechtsmittels oder durch Rechtsmittelverzicht wieder zu verlassen.44 Steht als Alternative zu einem klassischen gerichtsförmigen Verfahren ein anderer Mechanismus zur Lösung eines Streits mit der Finanzverwaltung zur Verfügung, beeinträchtigt dies den individuellen Rechtsschutz daher grundsätzlich nicht, wenn sich der Steuerpflichtige freiwillig für diese Alternative entscheiden kann.45

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ter Geheimhaltungsinteressen s. Gunacker-Slawitsch in Ehrke-Rabel/Gunacker-Slawitsch (Hrsg.), Rechtsmittelverfahren in Abgabensachen, in Druck. BVerwG v. 26.2.1997 – 6 C 3.96, NJW 1997, 2694; dazu Jesse, Der Grundsatz der Öffentlichkeit und deren Ausschluss im Steuerprozess, DB 2008, 1994 (2000); s auch Huff, Die Veröffentlichungspflicht der Gerichte, NJW 1997, 2651; BVerfG, Beschl. v. 14.9.2015 – 1 BvR 857/15. Staringer, AVR 2021, 12 (14); Staringer, Justice Needs to Be Seen, AVR 2021, 97 (99). Merli/Ehrke-Rabel in Ehrke-Rabel/Merli (Hrsg.), Die belangte Behörde in der neuen Finanz- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2013, 167 (199); Staringer, AVR 2021, 12. Zu einem Überblick hierüber s. für Deutschland Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 22.60 ff.; für Österreich Ehrke-Rabel/Gunacker-Slawitsch (Hrsg.) Rechtsmittelverfahren in Abgabensachen, in Druck. Papier in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts3, Bd. VIII, § 177 Rz. 67. So zur privaten Schiedsgerichtsbarkeit Grabenwarter/Ganglbauer in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer, Schiedsrecht, Rz. 1.4, 1.34 (Stand 1.5.2018,

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Da es in einem Verfahren zur Beilegung eines Steuerstreits aber letztendlich – sowohl zum Schutz des öffentlichen als auch zum Schutz des privaten Interesses – immer um die Wahrung einer gesetzmäßigen Besteuerung gehen muss, ist eine Einbettung alternativer Streitbeilegungsmechanismen in das klassische staatliche Verfahren zu fordern. Diese Forderung ist bei sämtlichen hier behandelten Streitbeilegungsmechanismen erfüllt (Punkt V). Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass der Steuerpflichtige mit der Wahl eines hier behandelten alternativen Streitbeilegungsmechanismus nicht endgültig auf den Zugang zur staatlichen Gerichtsbarkeit verzichtet. Bei Mediations- und Güterichterverfahren handelt es sich jeweils um zusätzliche Instrumente zur Förderung einer gütlichen Einigung zwischen der Behörde und dem Steuerpflichtigen. Eine Einigung setzt eine Zustimmung des Steuerpflichtigen voraus. Wird keine Einigung erzielt, wird das reguläre Gerichtsverfahren fortgeführt. Ebenso setzt die Durchsetzbarkeit eines Ergebnisses nach der EU-Streitbeilegungsrichtlinie die Zustimmung des Steuerpflichtigen voraus. Lehnt der Steuerpflichtige die Entscheidung ab, kann diese zwar nicht bekämpft, aber das nationale Rechtsmittelverfahren fortgesetzt werden.46 Der individuelle Rechtsschutz bleibt somit in allen Fällen gewahrt. Vor dem Hintergrund, dass gerichtliche Verfahren in gewisser Weise auch der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle dienen und die Veröffentlichungspflicht von Entscheidungen zur Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung beiträgt,47 können alternative Streitbeilegungsmechanismen, wenn sie auf eine einvernehmliche Streitbeilegung abzielen und den Gerichten dadurch Fälle „entziehen“, aber Gefahren für den Rechtsstaat bergen. Wie hoch diese Gefahr ist, hängt von der konkreten Ausgestaltung des jeweiligen Mechanismus ab.

rdb.at); zur Möglichkeit des Verzichts auf den Zugang zu staatlichen Gerichten im Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK EGMR v. 2.10.2018 – 40575/ 10, 67474/10 – Mutu and Pechstein v. Switzerland, zurückhaltend gegenüber Schiedsverfahren im Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 GG aber Papier in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts3, Bd. VIII, § 177 Rz. 17. 46 Staringer in Kubik/Schmidjell-Dommes/Staringer (Hrsg.), SWI-Spezial, 40 (47). 47 Merli/Ehrke-Rabel in Ehrke-Rabel/Merli (Hrsg.), Die belangte Behörde in der neuen Finanz- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, 167 (199).

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IV. Welche Vorteile können alternative Streitbeilegungsmechanismen bieten? Da alternative Streitbeilegungsmechanismen zumindest gewisse Gefahren bergen, drängt sich geradezu die Frage auf, welche Vorteile sie zu bieten haben. Im Schrifttum werden i.d.R. mit Blick auf ein bestimmtes Rechtsgebiet bzw. bezugnehmend auf ein konkretes Instrument unterschiedliche Vorteile genannt. Vorteile werden insbesondere darin gesehen, dass alternative Streitbeilegungsmechanismen dazu beitragen können, das Verfahren zu beschleunigen,48 die Gerichte zu entlasten,49 die Kosten zu reduzieren,50 das Verfahrensziel effektiver zu erreichen51 und eine höhere Akzeptanz von Entscheidungen52 bzw. einen nachhaltigeren Rechtsfrieden zu bewirken.53 Ob diese Argumente auch auf alternative Mechanismen zur Beilegung eines Steuerstreits zutreffen, ist unter Berücksichtigung des jeweiligen konkreten Mechanismus zu prüfen. Im Folgenden sollen die drei genannten Instrumente daher näher betrachtet werden.

V. Ausgewählte Streitbeilegungsmechanismen 1. Mediation a) Verfahren und Anwendungsbereich Sollen (rechtsstaatliche) Gefahren und Vorteile einer Mediation in Steuerverfahren ausgelotet werden, ist zunächst der Begriff der Mediation zu 48 Hölzer/Schnüttgen/Bornheim, Die Mediation im Steuerrecht nach dem Referentenentwurf zum Mediationsgesetz, DStR 2010, 2538 (2541); HübnerSchwarzinger, Der Einsatz von Mediation im abgabenrechtlichen Verfahren, SWK 2019, 394 (398); Hirsch, NJW 2013, 2088; Perner/Völkl, ÖJZ 2003, 495; Baumhoff, IStR 2020, 802 (802, 805). 49 Hölzer/Schnüttgen/Bornheim, DStR 2010, 2538 (2541). 50 Gröhs/Pirringer/Rzeszut, SWK 2018, 1394; Hölzer/Schnüttgen/Bornheim, DStR 2010, 2538; Perner/Völkl, ÖJZ 2003, 495. 51 Baumhoff, IStR 2020, 802. 52 Hübner-Schwarzinger, SWK 2019, 394 (398); Hölzer, Mediation in Steuerverfahren, ZKM 2012, 119 (121). 53 Hübner-Schwarzinger, SWK 2019, 394 (398); Baumhoff, IStR 2020, 802 (805); zu den verschiedenen Verfahren alternativer Streitbeilegung werden auch noch weitere Vorteile angeführt, z.B. strenge Geheimhaltungspflichten oder die Flexibilität des Verfahrens (Perner/Völkl, ÖJZ 2003, 495 zu ADR-Verfahren im Bereich des Zivilrechts).

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definieren. Dieser wird nämlich – jedenfalls im steuerrechtlichen Schrifttum – bisweilen in unterschiedlicher Bedeutung verstanden;54 zum Teil werden auch Mediation und Schlichtung als Synonyme verwendet.55 Im vorliegenden Beitrag wird unter Mediation eine Mediation i.S.d. deutschen Mediationsgesetzes56 verstanden. Mediation wird darin als ein strukturiertes Verfahren beschrieben, bei dem Parteien mithilfe eines oder mehrerer Mediatoren freiwillig und eigenverantwortlich eine einvernehmliche Beilegung ihres Konflikts anstreben (§ 1 MediationsG). Der Mediator soll in diesem Verfahren die Parteien darin unterstützen, ohne selbst entscheidungsbefugt zu sein. Er führt als unabhängige und neutrale Person die Parteien durch die Mediation und ist allen Parteien gleichermaßen verpflichtet (§§ 1, 2 Abs. 3, § 3 MediationsG). Zu seinen Aufgaben zählt es u.a., im Falle einer Einigung darauf hinzuwirken, dass die Parteien die Vereinbarung in Kenntnis der Sachlage treffen und ihren Inhalt verstehen, die Kommunikation der Parteien zu fördern und dafür Sorge zu tragen, dass die Parteien in angemessener und fairer Weise in die Mediation eingebunden sind.57 Ein zentraler Grundsatz einer Mediation ist die Vertraulichkeit des Verfahrens: So bestimmt auch das Mediationsgesetz, dass der Mediator und die in die Durchführung des Mediationsverfahrens eingebundenen Personen zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, soweit gesetzlich nichts anderes geregelt ist.58 Auf Steuerverfahren nimmt das Mediationsgesetz nicht gesondert Bezug, es hat für diese Verfahren aber ebenfalls Bedeutung, zumal in diesem Gesetz auch die Ausbildungsvoraussetzungen für Mediatoren geregelt werden.59

54 Z.B. Hübner-Schwarzinger, SWK 2019, 394; Gröhs/Pirringer/Rzeszut, SWK 2018, 1394. 55 Z.B. Perner/Völkl, ÖJZ 2003, 495; Baumhoff, IStR 2020, 802; Gröhs/Pirringer/Rzeszut, SWK 2018, 1394 (1397). 56 Mediationsgesetz v. 21.7.2012, BGBl. I 2012, 1577 (Nr. 35). 57 § 2 Abs. 3 und Abs. 6 MediationsG. 58 § 4 MediationsG; zur Verschwiegenheitspflicht im Rahmen einer Mediation im steuerbehördlichen Verfahren und im Finanzgerichtsprozess Thomas/ Wendler, Das neue Mediationsgesetz – Wesentliche Inhalte und Folgen für die Mediation im Steuerrecht, DStR 2012, 1881 (1883); Hölzer, ZKM 2012, 119 (121); zur Verschwiegenheit in gerichtsinternen und gerichtsnahen Mediationsverfahren Stapperfend in Gräber, 9. Aufl. 2019, § 155 FGO Rz. 33. 59 § 5 MediationsG; dazu Thomas/Wendler, DStR 2012, 1881 (1884); Hölzer, ZKM 2012, 119.

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Das Mediationsgesetz wurde im Jahr 2012 mit dem „Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung“60 beschlossen. Mit diesem Gesetz wurde zugleich – damals sehr umstritten61 – die Möglichkeit einer Mediation im finanzgerichtlichen Verfahren ausdrücklich etabliert, da in § 155 FGO ein ausdrücklicher Verweis auf die damals neu gefassten § 278 Abs. 5 ZPO und § 278a ZPO eingeführt wurde. Gemäß § 278a ZPO kann „das Gericht […] den Parteien eine Mediation oder ein anderes Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung vorschlagen […].“ § 155 FGO i.V.m. § 278a ZPO gestatten somit sowohl eine gerichtsinterne Mediation – sofern im Bereich der Justiz ein Mediator zur Verfügung steht62 – als auch eine Mediation durch einen außergerichtlichen (von den Parteien frei wählbaren)63 Mediator.64 Das Gericht kann ein solches Verfahren nicht anordnen, sondern nur vorschlagen.65 Entscheiden sich die Parteien zur Durchführung einer außergerichtlichen Mediation, ordnet das Gericht das Ruhen des Verfahrens an66 (§ 278a Abs. 2 ZPO). Auch im behördlichen Verfahren können Mediationsverfahren angewandt werden.67 Dazu existieren zwar keine gesonderten Regelungen, die Heranziehung eines Mediators (z.B. nach einer Betriebsprüfung) ist aber grundsätzlich nicht ausgeschlossen.68 Der Einsatz einer Mediation im behördlichen Verfahren steht im Ermessen der Abgabenbehörde69 und wird – aufgrund des engen Anwendungsbereichs einer Mediation (dazu sogleich) – nur in besonders gelagerten Fällen in Betracht kommen. Soweit die Beiziehung eines Mediators vor Bescheiderlassung in Erwägung gezogen wird, handelt es sich nach der oben getroffenen Abgrenzung um 60 BGBl. I 2012, 1577 (Nr. 35). 61 Zum (langwierigen) Gesetzgebungsverfahren und den darin vorgebrachten unterschiedlichen Standpunkten Thomas/Wendler, DStR 2012, 1881. 62 Stapperfend in Gräber9, § 155 FGO Rz. 30. 63 Schwarz in HHSp, § 155 FGO Rz. 48d (Stand Mai 2017). 64 Stapperfend in Gräber9, § 155 FGO Rz. 32. 65 Schwarz in HHSp, § 155 FGO Rz. 48d; Stapperfend in Gräber9, § 155 FGO Rz. 31. 66 Die in § 278a ZPO ebenfalls genannten anderen Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung spielen im finanzgerichtlichen Verfahren bisher offenbar keine Rolle, Schwarz in HHSp, § 155 FGO Rz. 48e. 67 Hölzer, ZKM 2012, 119; Baumhoff, IStR 2020, 802; für die Etablierung eines Mediations- bzw. Schlichtungsverfahrens im behördlichen Verfahren (für Österreich) Gröhs/Pirringer/Rzeszut, SWK 2018, 1394 (1397 f.). 68 Pflaum, Außenprüfung und Mediation, StBp 2013, 105 (105, 106). 69 Kritisch Pflaum, Außenprüfung und Mediation, StBp 2013, 105.

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einen Mechanismus der Streitvermeidung. Darauf wird im vorliegenden Beitrag nicht weiter eingegangen; eine praktische Bedeutung hat die Möglichkeit einer Mediation in behördlichen Verfahren offenbar ohnehin nicht erlangt.70 In Österreich spielen Mediationsverfahren bislang weder auf behördlicher noch auf finanzgerichtlicher Ebene eine Rolle; anders als in Deutschland existiert dafür auch kein rechtlicher Rahmen.71 Ungeachtet der Implementierung der Mediation in die FGO kommt der Mediation aber auch auf Ebene des (deutschen) finanzgerichtlichen Verfahrens, soweit ersichtlich, bisher keine (wesentliche) praktische Bedeutung zu.72 Dies dürfte vor allem darin begründet sein, dass der Anwendungsbereich einer Mediation (in behördlichen wie auch in gerichtlichen Verfahren) überaus gering ist,73 da über den Abgabenanspruch nicht frei disponiert werden kann.74 Die Abgabenbehörde ist – auch in alternativen Verfahren – verpflichtet, die Gesetzmäßigkeit der Besteuerung zu wahren.75 Eine durch eine Mediation unterstützte einvernehmliche Streitbeilegung kommt somit nur in jenen Fällen in Betracht, in denen eine solche auch ohne Mediation zulässig ist, z.B. weil Raum für eine tatsächliche Verständigung besteht.76

70 Dies gilt ebenso für eine Mediation im Einspruchsverfahren. 71 Auch im Schrifttum wurde der Einsatz einer Mediation in Abgabenverfahren bisher nur sehr vereinzelt gefordert, s. Hübner-Schwarzinger, SWK 2019, 394 (398). 72 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 22.178. 73 Stapperfend in Gräber9, § 155 FGO Rz. 20. Dies gilt jedenfalls für Deutschland und Österreich (für den Fall, dass der österreichische Gesetzgeber dem deutschen Vorbild folgen sollte). Zur Mediation in den Niederlanden und Belgien s. (kritisch) van Hout, Is Mediation the Pancea to the Profusion of Tax Disputes?, World Tax Journal 2018, 43. 74 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, 2. Aufl. 2000, 131; Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz 3.238; Seer, Der Vollzug von Steuergesetzen unter den Bedingungen einer Massenverwaltung, in Widmann (Hrsg.), Steuervollzug im Rechtsstaat, DStJG 31 (2008), 7 (10); Pflaum, StBp 2013, 105 (105, 106); Ehrke-Rabel in Doralt/Ruppe, Steuerrecht II, 8. Aufl. 2019, Rz. 28. 75 Art. 18 B-VG; Art. 20 Abs. 3 GG. 76 Schwarz in HHSp, § 155 FGO Rz. 48; Hölzer, ZKM 2012, 119 (121); ähnlich auch Baumhoff, IStR 2020, 802 (805). Denkbar ist auch eine Zurücknahme des Rechtsmittels als Mediationsergebnis, s. Pflaum, StBp 2013, 105 (110). Hübner-Schwarzinger, SWK 2019, 394 (396) betont, dass im österreichischen Abgabenverfahren in einem Erörterungstermin zumindest „mediative Elemente“ zum Einsatz gelangen können.

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b) Vorteile und Gefahren Denkbar ist ein Mehrwert einer Mediation vor allem dann, wenn z.B. nach einer langen Betriebsprüfung der Kommunikationsfluss zwischen Finanzamt und Steuerpflichtigem erheblich beeinträchtigt ist,77 dieser durch die Beiziehung einer in entsprechenden Verhandlungs- und Vermittlungstechniken geschulten Person wieder in Gang gesetzt und damit das Verfahren beschleunigt wird.78 Da diese Fälle aber vor allem unvertretene Steuerpflichtige betreffen werden, ist es kaum vorstellbar, dass diese zusätzliche Kosten einer Mediation auf sich nehmen können und wollen. Einige Staaten, die eine Mediation zur Beilegung von Steuerstreitigkeiten im behördlichen Verfahren etabliert haben, setzen daher verwaltungsinterne Mediatoren ein.79 Auf Ebene des FG können Güterichter diese Funktion erfüllen. Ist das FG noch nicht befasst, stehen unter Umständen bereits andere Anlaufstellen (wie z.B. ein Ombudsmann80) zur Verfügung. Wird der Anwendungsbereich der Mediation auf solche Fälle reduziert, bergen Mediationsverfahren kaum Gefahren für den Rechtsstaat: Soweit die Beiziehung von Mediatoren dazu führt, dass Fälle einvernehmlich gelöst statt gerichtlich entschieden werden, birgt der Einsatz einer Mediation zwar die Gefahr einer Einschränkung der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle zur Wahrung der Gleichheit der Besteuerung. Wird der Einsatz von Mediationsverfahren aber auf Fälle einer erheblich gestörten Kommunikation zwischen Behörde und Steuerpflichtigen konzentriert, ist die angesprochene Gefahr sehr gering. Nur in solchen und ähnlichen Fallkonstellationen kann eine Mediation auch zu einer Beschleunigung von Verfahren und unter Umständen, wenn mit verhaltenswissenschaftlichen Studien davon ausgegangen wird, dass ein verständnisvoller Um77 Hölzer, ZKM 2012, 119 (121); Westermann, Mediation im Steuerrecht – Mediationsgeeignete Fallgruppen, Stbg 2018, 304; Stapperfend in Gräber9, § 155 FGO Rz. 31; Schwarz, in HHSp, § 155 FGO Rz. 48d. 78 Kritisch auch Paul, Mediation – ein Thema für die Finanzgerichte?, DStR 2008, 1111. 79 Hensen/van Hout, Tax Mediation in Belgium and the Netherlands, in Pistone/de Goede (Hrsg.), Flexible multi-tier dispute resolution in international tax disputes, 2021, 71 ff. 80 Zur Steuerombudsstelle beim öBMF https://www.oesterreich.gv.at/themen/le ben_in_oesterreich/ombudsstellen_und_anwaltschaften/Seite.3240022.html; in Österreich bietet auch z.B. die Wirtschaftskammer Steuersprechtage an, https://www.wko.at/service/stmk/steuern/Serviceleistungen_und_Termine. html (abgerufen im Mai 2023).

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gang zu einer Stärkung des Vertrauens in den Staat führen kann,81 zu einer erhöhten Akzeptanz der Steuerbefolgungspflicht beitragen.82

2. Güterichterverfahren a) Verfahren und Anwendungsbereich Gleichzeitig mit der Möglichkeit einer Mediation im finanzgerichtlichen Verfahren wurde in Deutschland im Jahr 2012 das Güterichterverfahren eingeführt.83 Auch dieses Verfahren findet seine gesetzliche Grundlage in § 155 FGO und dem darin enthaltenen Verweis auf § 278 Abs. 5 ZPO. § 278 Abs. 5 ZPO sieht vor, dass „das Gericht […] die Parteien für die Güteverhandlung sowie für weitere Güteversuche vor einen hierfür bestimmten und nicht entscheidungsbefugten Richter (Güterichter) verweisen [kann]. Der Güterichter kann alle Methoden der Konfliktbeilegung einschließlich der Mediation einsetzen.“ Der Verfahrensablauf sei hier in aller Kürze zusammengefasst: Es steht im Ermessen des Gerichts,84 die Parteien in jedem Stadium des Verfahrens85 vor einen Güterichter zu verweisen. Der Rechtsstreit selbst verbleibt dabei in der Zuständigkeit des Gerichts.86 Der Güterichter wird „vergleichbar einem ersuchten“,87 aber im konkreten Fall nicht entscheidungsbefugten Richter tätig.88 Als Richter handelt er stets in richterlicher

81 Für einen Überblick s. z.B. OECD, Forum on Tax Administration, Information Note, Understanding and Influencing Taxpayers’ Compliance Behaviour, 2010, 28 ff.; OECD, Trust and Public Policy, How better governance can help rebuild public trust, 2017, 47 ff.; dazu bereits Gunacker-Slawitsch, Amtswegigkeit und Mitwirkung im Abgabenverfahren, 2020, 620 ff. 82 Brizi/Giacomntonio/Schumpe/Mannetti, Intention to pay taxes or to avoid them: The impact of social value orientation, Journal of Economic Psychology, 2015, Vol 50, 22; s. auch Lemmens/Badisco, Taxation and Ethics: An impossible Marriage?, in Peeters/Gribnau/Badisco (Hrsg.), Building Trust in Taxation, 2017, 119 (126 ff.). 83 Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung; BGBl. I 2012, 1577 (Nr. 35). 84 Stapperfend in Gräber9, § 155 FGO Rz. 21. 85 Schwarz in HHSp, § 155 FGO Rz. 48a. 86 Schwarz in HHSp, § 155 FGO Rz. 48a. 87 Schwarz in HHSp, § 155 FGO Rz. 48a. 88 Stapperfend in Gräber9, § 155 FGO Rz. 22; Schwarz in HHSp, § 155 FGO Rz. 48a, 48b.

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Unabhängigkeit.89 Anders als ein Mediator ist ein Güterichter von den Parteien nicht frei wählbar.90 Die Parteien werden vielmehr durch das Gericht vor einen im Geschäftsverteilungsplan als Güterichter ausgewiesenen Richter verwiesen.91 Da kooperative bzw. konsensuale Verfahren allerdings nur dann zielführend erscheinen, wenn die Beteiligten zur Durchführung eines solchen Verfahrens bereit sind,92 kommt nach h.M. ein solches Verfahren nur mit Zustimmung der Beteiligten in Betracht.93 Kann der Rechtsstreit nicht beigelegt werden, gibt der Güterichter das Verfahren an das Gericht zur Fortsetzung des anhängig gebliebenen Verfahrens zurück.94 Wird im Güteverfahren eine Einigung erzielt, soll der Güterichter nach h.M. darauf hinwirken, dass die Beteiligten verfahrensbeendende Erklärungen abgeben.95 Die entsprechenden verfahrensbeendenden Beschlüsse muss allerdings der entscheidungsbefugte Richter erlassen.96 Das Güterichterverfahren ist somit ein in das gerichtliche Verfahren integriertes Instrument, um eine einvernehmliche Streitbeilegung zu fördern. Als „alternativer Streitbeilegungsmechanismus“ kann das Verfahren deshalb qualifiziert werden, da der – nicht entscheidungsbefugte – Güterichter gem. § 155 FGO i.V.m. § 278 Abs. 5 ZPO „alle Methoden der Konfliktbeilegung“ einsetzen kann.97 Der Güterichter kann den Parteien im finanzgerichtlichen Verfahren daher z.B. im Sinne einer Schlichtung einen (für den Streitfall unverbindlichen) Lösungsvorschlag unterbreiten98 oder sie dabei unterstützen, im Rahmen eines Mediationsverfahrens eine einvernehmliche Streitbeilegung zu erzielen.99 89 Schwarz in HHSp, § 155 FGO Rz. 48b. 90 Schwarz in HHSp, § 155 FGO Rz. 48b. 91 Stapperfend in Gräber9, § 155 FGO Rz. 22; Schwarz in HHSp, § 155 FGO Rz. 48a. 92 Ähnlich auch Perner/Völkl, ÖJZ 2003, 495 zu ADR-Verfahren im Zivilrecht. 93 Hölzer, ZKM 2012, 119 (122); Schwarz in HHSp, § 155 FGO Rz. 48a (Stand Mai 2017); Stapperfend in Gräber9, § 155 FGO Rz. 21. 94 Schwarz in HHSp, § 155 FGO Rz. 48c. 95 Stapperfend in Gräber9, § 155 FGO Rz. 25. 96 Stapperfend in Gräber9, § 155 FGO Rz. 23, 25. 97 S. dazu Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 17/8058, 18. 98 Dies unterscheidet u.a. die Mediation von einem Güterichterverfahren, Thomas/Wendler, DStR 2012, 1881 (1992). 99 Stapperfend in Gräber9, § 155 FGO Rz. 24.

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Die praktische Bedeutung dieses Verfahrens ist in den letzten Jahren allerdings sehr gering geblieben.100 In der Vergangenheit gab es nie mehr als 80 solcher Verfahren pro Jahr, wobei die Tendenz rückläufig ist.101 Dies dürfte vor allem daran liegen, dass mit dem Erörterungstermin bereits ein – in Deutschland weitaus stärker als in Österreich genutztes102 – Instrument zur Verfahrensbeschleunigung und zur Förderung einer gütlichen Streitbeilegung103 zur Verfügung steht.104

b) Gefahren Zu untersuchen ist, ob von einem solchen Verfahren Gefahren für den Rechtsstaat ausgehen. Vorauszuschicken ist, dass (ebenso wie bei der Mediation) bereits das Legalitätsprinzip den Anwendungsbereich dieses Verfahrens begrenzt. Die Abgabenbehörde als Partei des Verfahrens kann auch im Güterichterverfahren über den Abgabenanspruch nicht frei verfügen. Ihr Handeln muss sich stets im Rahmen der Gesetze bewegen.105 Soweit das Ziel eines Güterichterverfahrens im Abschluss einer tatsächlichen Verständigung zwischen der Behörde und dem Steuerpflichtigen liegt, kann eine solche im Zuge eines Güterichterverfahrens nur unter denselben Voraussetzungen zulässig sein wie außerhalb eines solchen. Innerhalb der für die Zulässigkeit von tatsächlichen Verständigungen

100 Dem Geschäftsbericht der Finanzgerichte der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 2016 bis 2018 (EFG 2019, 1493) zufolge wurden im Jahr 2014 insgesamt 26 Verfahren, im Jahr 2015 21 Verfahren, im Jahr 2016 47 Verfahren und im Jahr 2018 80 Verfahren vor einem Güterichter geführt. 101 Im Jahr 2020 haben (vermutlich auch pandemiegeschuldet) nur 26 Verfahren vor dem Güterichter stattgefunden, Statistisches Bundesamt (Destatis), Finanzgerichte 2020, 21. 102 Zur Bedeutung eines Erörterungstermins im deutschen finanzgerichtlichen Verfahren Krumm in Tipke/Kruse, § 79 FGO Rz. 3 ff. (Stand Januar 2020); in Österreich wurden im Jahr 2021 in nur 2,53 % der erledigten Fälle Erörterungstermine durchgeführt, Tätigkeitsbericht des Bundesfinanzgerichts für das Jahr 2021, 2022, 63. 103 Seer in Tipke/Kruse, § 79 FGO Rz. 4. 104 Zu Einigungen im Rahmen eines Erörterungstermins Krumm in Tipke/Kruse, § 79 FGO Rz. 3 ff.; für Österreich zuletzt Gunacker-Slawitsch in EhrkeRabel/Gunacker-Slawitsch (Hrsg.), Rechtsmittelverfahren in Abgabensachen, in Druck. 105 Ehrke-Rabel in Doralt/Ruppe, Steuerrecht II8, Rz. 26; Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz 3.238.

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entwickelten Grenzen106 besteht ein Raum für eine gütliche Einigung. Dass dies auch dann gilt, wenn das finanzgerichtliche Verfahren bereits eingeleitet wurde, wird mittlerweile in Deutschland grundsätzlich nicht mehr bestritten.107 Wird die Zulässigkeit einer gütlichen Streitbeilegung im klassischen gerichtlichen Verfahren – z.B. im Zuge eines Erörterungstermins – bejaht,108 muss dasselbe auch für eine gütliche Streitbeilegung vor einem Güterichter gelten. Für das Güterichterverfahren spricht aus rechtsstaatlicher Sicht zudem, dass die Beteiligten zur gütlichen Beilegung ihres Streits vor einen unabhängigen und weisungsfreien Richter verwiesen werden. Ebenso wie der Richter in einem Erörterungstermin fungiert auch der Güterichter in gewisser Weise als „Watchdog“ – eine Funktion, die einem außergerichtlichen, externen Mediator nicht zukommt. Dass eine Einigung der Verfahrensparteien nicht von der Zustimmung des Güterichters abhängt, ist (ebenfalls) kein Spezifikum des Güterichterverfahrens. Anders als im österreichischen finanzgerichtlichen Verfahren109 kann im Verfahren nach der FGO dem Gericht im Fall einer gütlichen Einigung der Verfahrensparteien der Streit auch gegen den Willen des Gerichts entzogen werden.110 Trägt das Güterichterverfahren als ein zusätzlicher, eine einvernehmliche Streitbeilegung fördernder Mechanismus dazu bei, dass weniger Verfahren gerichtlich entschieden werden, kann dies allerdings (wie bereits zu Mediationsverfahren ausgeführt) zu einer Einschränkung der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle führen und Gefahren für die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung bergen, da konsensuale Einigungen grundsätzlich nicht veröffentlicht werden (zur Veröffentlichung von finanzgerichtlichen Entscheidungen s. bereits Punkt III.1.b). Rechtsstaat106 Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 123 ff.; Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.146 ff.; Englisch, Bindende „tatsächliche“ und „rechtliche“ Verständigungen zwischen Finanzamt und Steuerpflichtigen, IFSt-Schrift Nr. 417, 2004. 107 Für viele Krumm in Tipke/Kruse, § 79 FGO Rz. 3 ff.; anders in Österreich, wo für die Umsetzung von Einigungen in gerichtlichen Verfahren ein spezieller Mechanismus (§ 300 BAO) zur Verfügung steht, dazu Gunacker-Slawitsch in Ehrke-Rabel/Gunacker-Slawitsch (Hrsg.), Rechtsmittelverfahren in Abgabensachen, in Druck; Rzeszut/Turpin in Rzeszut/Tanzer/Unger (Hrsg.), BAO: Stoll Kommentar, § 300 BAO Rz. 23 (Stand Dezember 2022). 108 Seer in Tipke/Kruse, § 79 FGO Rz. 4. 109 § 300 BAO. 110 Krumm in Tipke/Kruse, § 79 FGO Rz. 5.

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liche Bedenken gegen das Güterichterverfahren relativeren sich allerdings rasch: In einem Güterichterverfahren kann letztendlich nur – auf anderem Weg – dasselbe Ergebnis wie in einem „klassischen“ Verfahren, z.B. in einem Erörterungstermin, erzielt werden. Bestünden Bedenken gegen das Güterichterverfahren, müssten diese zunächst vor dem Hintergrund des Erörterungstermins diskutiert werden.

c) Vorteile Die Vorteile eines Güterichterverfahrens sind allerdings ebenfalls sehr begrenzt: Ob das Güterichterverfahren die Akzeptanz für steuerliche Entscheidungen stärker fördert als das „konventionelle“ gerichtliche Verfahren, sei dahingestellt. Die Bestimmung trägt jedenfalls verhaltenswissenschaftlichen Studien Rechnung, wonach die Mitwirkungsbereitschaft der Steuerpflichtigen durch vertrauensbildende Maßnahmen positiv gefördert werden können,111 Vertrauen auch durch prozedurale Fairness entsteht112 und es dabei auch darauf ankommt, inwieweit ein Verfahren von den Betroffenen als fair wahrgenommen wird und wie der Staat seinen Bürgern begegnet.113 In den allermeisten Fällen wird dies in „klassischen“ Verfahren aber auch gewährleistet werden.114 Einen Mehrwert kann ein Güterichterverfahren somit im Wesentlichen wiederum nur in jenen Fällen bieten, in denen sich die Fronten derart verhärtet haben, dass erst die Beiziehung einer in besonderen Vermittlungs- und Verhandlungstechniken bzw. Mediationstechniken geschulten Person die Chance erhöht, zu einem offeneren Gespräch, einem besseren Kommunikationsfluss und einer rascheren oder umfassenderen Klärung strittiger Punkte zu gelangen. (Nur) in solchen Fällen kann allenfalls früher Rechtssicherheit erreicht und die Effizienz des Verfahrens gesteigert werden. Um die effektive Nutzung des Güterichterverfahrens in diesen Konstellationen in Zukunft etwas zu erhöhen, könnte de lege ferenda erwogen 111 Brizi/Giacomntonio/Schumpe/Mannetti, Journal of Economic Psychology, 2015, Vol 50, 22; Gunacker-Slawitsch, Amtswegigkeit und Mitwirkung im Abgabenverfahren, 621 m.w.N. 112 OECD, Forum on Tax Administration, Information Note, Understanding and Influencing Taxpayers’ Compliance Behaviour, 28 f. 113 European Union, Behavioural Insights Applied to Policy, European Report 2016, 2016, 10; s. dazu bereits Ehrke-Rabel/Gunacker-Slawitsch, ALJ 2014, 99 (107). 114 Hölzer, ZKM 2012, 119 (121).

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werden, das Güterichterverfahren in der FGO näher zu determinieren. Dies würde die Sichtbarkeit des Rechts erhöhen und möglicherweise durch eine stärkere Institutionalisierung des Verfahrens die Bereitschaft, solche Verfahren zu nutzen, steigern. In diesem Zusammenhang könnte auch erwogen werden, die Möglichkeit der Verweisung der Beteiligten an einen externen (außergerichtlichen) Mediator im Steuerverfahren zu streichen. Zusammenfassend sind die Vorteile eines Güterichterverfahrens sehr gering. Als eine auf die Bedürfnisse einer bestimmten Gruppe von Steuerpflichtigen zugeschnittene Regelung berücksichtigt sie aber zumindest Teilelemente eines Smart-Regulation-Ansatzes; jedenfalls, wenn dieser so wie im Smart-Regulation-Forschungsbereich der Universität Graz verstanden wird.115 Der hinter diesem Ansatz stehende Gedanke, dass eine moderne Regulierung einem Methodenpluralismus offen gegenüberstehen und einen Instrumentenmix vorsehen sollte, sind im Übrigen auch Überlegungen, die in die EU-Streitbeilegungs-Richtlinie Eingang gefunden haben.

3. EU-Streitbeilegungs-Richtlinie: Anwendung alternativer Streitbeilegungsmethoden bei Einsetzung eines Ausschusses für alternative Streitbeilegung a) Allgemeines Die EU-Streitbeilegungsrichtlinie116 hat bekanntermaßen das Set internationaler Streitbeilegungsinstrumente erweitert.117 In ihrer Grund115 Gunningham in Baldwin/Cave/Lodge (Hrsg.), The Oxford Handbook of Regulation, 120 (131 ff.); s. auch Punkt I.1. m.w.N.; zum Profilbildenden Bereich Smart Regulation der Universität Graz s. z.B. Leyens/Eisenberger/Niemann (Hrsg.), Smart Regulation, Vertrag, Unternehmen und Markt, 2021. 116 Richtlinie (EU) 2017/1852 des Rates v. 10.10.2017 über das Verfahren zur Beilegung von Besteuerungsstreitigkeiten in der Europäischen Union, ABl. Nr. L 265/1. 117 Dazu Rasch/Mank, Verständigungs- und Schiedsverfahren als Instrumente zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, ISR 2019, 182 (186); Turcan, Das Verhältnis des EU-BStbG zu anderen Mechanismen der Streitbeilegung im internationalen Steuerrecht – die „Qual der Wahl“, in Kubik/Schmidjell-Dommes/Staringer (Hrsg.), Das EU-Besteuerungsstreitbeilegungsgesetz, SWISpezial, 2019, 19; Eilers/Drüen in Wassermeyer/Kaeser/Schwenke/Drüen (Hrsg.), Doppelbesteuerung, Art. 25 MA Rz. 2; zur Entstehungsgeschichte und den Hintergründen Orzechowski, Die Richtlinie über Verfahren zur Beilegung von Besteuerungsstreitigkeiten in der EU, in Kubik/Schmidjell-Dom-

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struktur knüpft die Richtlinie an andere Streitbeilegungsmechanismen im Internationalen Steuerrecht an.118 Der Streit soll zunächst im Rahmen eines Verständigungsverfahrens gelöst werden (Art. 4 SBRL); ist dieses erfolglos, wird auf Antrag des Steuerpflichtigen ein Schlichtungsbzw. Schiedsverfahren durchgeführt (Art. 6 SBRL).119 Für dieses Verfahren120 wird grundsätzlich ein beratender Ausschuss eingesetzt, der innerhalb einer vorgegebenen Frist eine Stellungnahme abgibt, wie die Streitfrage zu lösen ist (Art. 14 SBRL). Die zuständigen Behörden können den Schiedsspruch innerhalb von sechs Monaten durch eine andere Lösung ersetzen. Erzielen sie keine Einigung, sind sie an die Stellungnahme gebunden (Art. 15 Abs. 1 und Abs. 2 SBRL). Der Steuerpflichtige kann den Schiedsspruch zwar nicht bekämpfen, er kann diesen aber ablehnen. Stimmt er dem Schiedsspruch zu, steht ihm die Möglichkeit offen, dessen Umsetzung gerichtlich zu erzwingen (Art. 15 Abs. 4 SBRL).

b) Der Ausschuss für alternative Streitbeilegung aa) Einsetzung eines Ausschusses für alternative Streitbeilegung Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten können auch vereinbaren, anstelle des Beratenden Ausschusses einen Ausschuss für alternative Streitbeilegung einzusetzen (Art. 10 Abs. 1 SBRL). Dabei wird den Behörden eine große Flexibilität eingeräumt. Der Ausschuss kann sich – mit Ausnahme der Bestimmungen in Bezug auf die Unabhängigkeit seiner Mitglieder121 – sowohl hinsichtlich der Form als auch hinsichtlich seiner Zusammensetzung vom Beratenden Ausschuss unterscheiden.122

118 119

120 121 122

mes/Staringer (Hrsg.), Das EU-Besteuerungsstreitbeilegungsgesetz, SWI-Spezial, 2019, 4 ff.; Flüchter in Schaumburg/Englisch (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, 2. Aufl. 2020, Rz. 24.1 ff. Ismer/Piotrowski in Vogel/Lehner, 7. Aufl. 2021, Art. 25 DBA Rz. 300 ff. Zum Ablauf des Verfahrens im Einzelnen s. Drüen in Wassermeyer/Kaeser/ Schwenke/Drüen (Hrsg.), Doppelbesteuerung, Art. 25 MA Rz. 96 ff.; Rasch/ Mank, ISR 2019, 182 (186); Flüchter in Schaumburg/Englisch (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht2, Rz. 24.48 ff.; Zorn, Zwischen Schiedsgerichten und Verwaltungsgerichten, RdW 2019, 341 (342 f.). Im Fokus dieser Untersuchung steht das Schiedsverfahren; zur Rolle des beratenden Ausschusses im Zulassungsverfahren s. Art. 6 SBRL. Art. 10 Abs. 2 SBRL. Fiscalis Project Group (FPG), Working Paper on the Implementation of Article 10 of Directive (EU) 2017/1852 on Tax Dispute Resolution Mechanism in the European Union, 2019, 15 ff.; dazu Spanblöchl/Turcan, Das Verfahren vor dem Ausschuss für Alternative Streitbeilegung, in Kubik/Schmidjell-

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Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten können auch vereinbaren, einen permanenten („ständigen“) Ausschuss einzusetzen (Art. 10 Abs. 1 SBRL). Diese Möglichkeit birgt vor allem im Hinblick auf die damit verbundene Perspektive einer möglichen Weiterentwicklung zu „gerichtsförmigen Verfahren“ großes Potential;123 dazu sei auf den Beitrag von Gunter Mayr in diesem Band verwiesen.

bb) Möglichkeit der Anwendung alternativer Streitbeilegungsmethoden Wird ein Ausschuss für alternative Streitbeilegung eingesetzt, kann dieser unterschiedliche alternative Streitbeilegungsmethoden anwenden. Art. 10 SBRL bestimmt, dass ein Ausschuss für alternative Streitbeilegung, „soweit dies angemessen ist, jegliche Verfahren oder Techniken zur verbindlichen Streitbeilegung anwenden [kann]“, um zu seiner Entscheidung zu gelangen. Als Alternative zu jener Art des Streitbeilegungsverfahrens, die der beratende Ausschuss anwendet, „kann jede andere Art der Streitbeilegung, einschließlich des Schiedsverfahrens des ‚endgültigen Angebots‘ […]“ von den zuständigen Behörden vereinbart und vom Ausschuss für alternative Streitbeilegung angewandt werden (Art. 10 Abs. 2 SBRL). Die Möglichkeit zur Nutzung alternativer Methoden, die im Rahmen von Verständigungsverfahren als bloße Empfehlung in den Erwägungsgründen formuliert ist,124 wird für das Streitbeilegungsverfahren in Art. 10 SBRL institutionalisiert.125

Dommes/Staringer (Hrsg.), Das EU-Besteuerungsstreitbeilegungsgesetz, SWI-Spezial, 2019, 117 (120 f.); näher dazu Mayr in diesem Band. 123 Ismer/Piotrowski, Internationale Streitbeilegung in Steuersachen und innerstaatliches Verfassungsrecht: Auf zu gerichtsförmigen Verfahren!, IStR 2019, 845. 124 Erwägungsgrund 6 der SBRL; zur Involvierung von Ombudsleuten in das Verständigungsverfahren s. Perrou, The Ombudsman and the Process of Resolution of International Tax Disputes – Protecting the „Invisible Party“ to the MAP, World Tax Journal 2018, 99. 125 Die Einführung dieser Wahlmöglichkeit war durchaus umstritten, anders noch der Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Verfahren zur Beilegung von Doppelbesteuerungsstreitigkeiten in der Europäischen Union v 25.10.2016, COM(2016) 686 final; s. auch die Entschließung des Europäischen Parlaments v. 6.7.2017, P8_TA (2017)0314.

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cc) Gefahren (1) Einschränkung der Mitwirkungsrechte Die Möglichkeit, einen Ausschuss für alternative Streitbeilegung einzusetzen, bietet – im Vergleich zu einem beratenden Ausschuss – somit deutlich mehr Flexibilität. Dabei können nicht nur Form und Zusammensetzung, sondern auch das Verfahren unterschiedlich ausgestaltet werden. Für das Verfahren vor dem Ausschuss für alternative Streitbeilegung enthält die SBRL insbesondere zwei Besonderheiten: Sowohl hinsichtlich der Mitwirkung des Steuerpflichtigen als auch hinsichtlich der anzuwendenden Streitbeilegungstechnik kann Abweichendes vereinbart werden (Art. 10 Abs. 2 bis 4 SBRL). Nach Art. 13 SBRL können die Steuerpflichtigen dem Ausschuss Informationen, Nachweise oder Unterlagen vorlegen, die für die Entscheidung relevant sein können (Abs. 1) und vor dem Ausschuss erscheinen oder sich vertreten lassen (Abs. 2). All dies setzt allerdings voraus, dass die zuständigen Behörden dieser Mitwirkung zustimmen (Art. 13 SBRL). Werden demgegenüber Informationen, Nachweise oder Unterlagen seitens des Ausschusses angefordert, müssen diese grundsätzlich126 vorgelegt werden. Art. 10 Abs. 4 SBRL belässt den zuständigen Behörden das Recht, für das Verfahren vor dem Ausschuss für alternative Streitbeilegung in der Geschäftsordnung Abweichendes zu vereinbaren.127 Die SBRL gestattet somit offenbar, den betroffenen Steuerpflichtigen im Verfahren vor einem Ausschuss für alternative Streitbeilegung (noch) weniger Teilhaberechte als im Verfahren vor dem beratenden Ausschuss einzuräumen. Fraglich ist, ob gegen diese Bestimmungen (Art. 10 Abs. 4 und Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 SBRL) grundrechtliche Bedenken bestehen. Die GRC bindet die Mitgliedstaaten „bei der Durchführung des Rechts der Union“ (Art. 51 GRC). Nach der Rechtsprechung des EuGH gelten die Grundrechte „in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen.“128 Es sind nach der Rechtsprechung „keine Fallgestaltungen denk126 Die zuständigen Behörden können die Vorlage unter den in Art. 13 Abs. 1 SBRL genannten Gründen verweigern. 127 Österreich hat die Richtlinie in diesem Sinne (mit der Verankerung eines entsprechenden Abweichungsrechts) umgesetzt (§ 52 Abs. 2 EU-BStStG), während im deutschen Umsetzungsgesetz bestimmt wird, dass die Mitwirkungsbefugnis des Steuerpflichtigen gleichermaßen bei Einsetzung eines Ausschusses für alternative Streitbeilegung gilt (§ 30 Abs. 3 EU-DBA-SBG). 128 EuGH v. 28.11.2013 – C-258/13 – Sociedade Agricole, Rz. 19 bis 20; EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, ECLI:EU:C:2013:280 – Akerberg Fransson, Rz. 19;

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bar“, die vom Unionsrecht erfasst werden und in denen die Grundrechte der Union nicht anwendbar sind.129 Die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte (auch jene, die aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen entwickelt wurden) setzt somit den Anwendungsbereich des Unionsrechts voraus.130 Handeln die Mitgliedstaaten im Rahmen der SBRL, wenden sie Unionsrecht an.131 Dies gilt auch bei Einsetzung eines Ausschusses für alternative Streitbeilegung, da die Möglichkeit, einen solchen Ausschuss einzusetzen, ebenfalls unionsrechtlich „eingerahmt“132 ist. Daran anknüpfend stellt sich (u.a.)133 die Frage, ob dem Steuerpflichtigen im Schiedsverfahren nach der SBRL ein Recht auf Gehör zustehen muss. Für Verwaltungsverfahren sichert Art. 41 GRC das Recht auf eine gute Verwaltung, zu dem insbesondere auch das Recht jeder Person zählt, „gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird.“ Diese Bestimmung ist zwar nicht an die Mitgliedstaten gerichtet und daher im mitgliedstaatlichen Vollzug nicht anwendbar. Nach der Rechtsprechung des EuGH spiegelt sie allerdings einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts wider, der auch von den nationalen Behörden im Anwendungsbereich des Unionsrechts zu beachten ist.134 Erwogen werden könnte, aus diesem allgemeinen Rechtsgrundsatz Rechte des Steuerpflichtigen im Schiedsverfahren abzuleiten. Kokott hat dabei bereits folgende Überlegung zur Diskussion gestellt: Zwar sei die abschließende Entscheidung nicht unbedingt eine für den Steuerpflichtigen „nachteilige individuelle Maßnahme“, da er diese auch ablehnen kann. Dass sich Steuerpflichtige, um einer Doppelbesteuerung vorzubeugen, gehalten sehen könnten, dieser Entscheidung

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130 131 132 133 134

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EuGH v. 17.12.2015 – C-419/14, ECLI:EU:C:2015:832 – WebMindLicenses. EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, ECLI:EU:C:2013:280 – Akerberg Fransson, Rz. 21; zum Anwendungsbereich der GRC ausführlich Kofler, Europäischer Grundrechtsschutz im Steuerrecht, in Lang (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, DStjG 41 (2018), 125 (141 ff.). GA Bobek, Schlussanträge v. 7.9.2017 – C-298/16 – Ispas, Rz. 29 ff. Kokott, Grundrechte des Steuerzahlers im Kontext der Streitbeilegungs-RL, ISR 2019, 429 (430). Art. 10 Abs. 2 SBRL, Art. 14 f. SBRL. Zu weiteren Aspekten s. z.B. Voje, Intertax 2020, 157 (161 ff.). EuGH v. 8.5.2014 – C-604/12 – H.N., Rz. 49; s. auch EuGH v. 17.7.2014 – C-141/12, C-372/12, ECLI:EU:C:2014:2081 – Y.S. und M.S., Rz. 68; EuGH v. 11.12.2014 – C-249/13, Boudjlida, Rz. 32 ff.; dazu ausführlich GunackerSlawitsch, Das Grundrecht auf eine „gute Verwaltung“ im Abgabenverfahren, ÖStZ 2015, 256.

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zuzustimmen, wäre aber ein Argument, ein Recht auf Gehör anzunehmen, bevor die Entscheidung getroffen wird.135 Auch wenn dies in der SBRL nicht ausdrücklich vorgesehen ist, sollte Steuerpflichtigen daher ein Recht auf Anhörung gewährt werden, um Verletzungen der in der GRC verankerten Rechte zu vermeiden.136 Berücksichtigt man, dass bei einer Ablehnung der abschließenden Entscheidung nationale Gerichtsverfahren zwar fortgesetzt werden können, dieser Weg aber unter Umständen keine zielführende Streitbeilegungs„Alternative“ darstellt, könnte die abschließende Entscheidung tatsächlich als „individuelle nachteilige Maßnahme“ qualifiziert werden. Für diese Auffassung spricht zudem, dass auch der EGMR in Fällen privater Schiedsgerichtsbarkeit für die Frage, ob die Garantien des Art. 6 EMRK gewährt werden müssen, zwischen freiwilliger Schiedsgerichtsbarkeit und „Zwangsschiedsgerichtsbarkeit“ unterscheidet und dabei auch faktischem Zwang eine Bedeutung beimisst.137 Gegen die Annahme eines Rechts auf Gehör der betroffenen Steuerpflichtigen ist aber ins Treffen zu führen, dass das Schiedsverfahren im Wesentlichen als Kompensation eines gescheiterten Verständigungsverfahrens konzipiert ist und dem Steuerpflichtigen in diesem Verfahren daher keine weitergehenden Rechte als im vorangegangenen Verfahrensstadium zukommen. Das Verständigungsverfahren ist als zwischenstaatliches Verfahren ausgestaltet, in welchem dem Steuerpflichtigen keine Parteistellung zukommt.138 Wird in diesem Verfahren keine Einigung erzielt, hat der Steuerpflichtigen das Recht, im Streitbeilegungsverfahren eine verbindliche Entscheidung zu erhalten. Im Schiedsverfahren soll eine verbindliche Entscheidung „produziert“, somit nachgeholt werden, was die Behörden im Verständigungsverfahren nicht erreicht haben.139 Es bleibt von seiner Konzeption her aber ein Government-to-govern135 Kokott, Grundrechte des Steuerzahlers im Kontext der Streitbeilegungs-RL, ISR 2019, 429 (433). 136 Kokott, ISR 2019, 429 (433). 137 EGMR v. 2.10.2018 – 40575/10, 67474/10 – Mutu and Pechstein v. Switzerland; Lienbacher, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für den Abschluss von Schiedsvereinbarungen in Arbeitsrechtssachen, in Auer-Mayer/Felten/Mosler/Schrattbauer (Hrsg.), FS Pfeil, 2022, 175 (179). 138 Dijkstra/Pötgens/Spijker, Labyrinth of Choices in Respect of International Tax Dispute Resolution from a Netherlands Perspective, European Taxation 2023, 65 (71). 139 S. auch Staringer in Kubik/Schmidjell-Dommes/Staringer (Hrsg.), SWI-Spezial, 40.

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ment-Verfahren,140 in dem der Steuerpflichtige über keine Parteistellung verfügt.141 Auch diese Sichtweise hat allerdings nicht zur Konsequenz, dass die zuständigen Behörden bei der Frage, ob sie einem Anhörungsersuchen des Steuerpflichtigen zustimmen, beliebig vorgehen dürfen.142 Die zuständigen Behörden sind – jedenfalls nach nationalem Recht143 – stets dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung verpflichtet. Im Rahmen ihrer daraus entspringenden Verpflichtung zur Erforschung tatsächlich verwirklichter Sachverhalte kann es durchaus geboten sein, den Steuerpflichtigen anzuhören. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen sind Art. 10 und Art. 13 SBRL dahingehend zu interpretieren, dass sie den zuständigen Behörden einen Beurteilungsspielraum einräumen. Geht es um Streitigkeiten über Sachverhalte und erscheint auch nach Abschluss des nationalen behördlichen Verfahrens144 eine Anhörung des Steuerpflichtigen zur Ermittlung des tatsächlichen Sachverhaltes geboten, haben die zuständigen Behörden ihren Beurteilungsspielraum so zu üben, dass sie – sowohl bei Einsetzung eines beratenden Ausschusses als auch bei Einsetzung eines Ausschusses für alternative Streitbeilegung – einer Anhörung zustimmen oder gar eine solche einfordern. Geht es um die Entscheidung über unterschiedliche Rechtsauffassungen, wird eine Anhörung des Steuerpflichtigen z.T. nicht geboten sein. Dies deckt sich grundsätzlich mit der Rechtsprechung zum Parteiengehör: Zumindest nach der Rechtsprechung des öVwGH sind weder das Ergebnis der Beweiswürdigung noch die vom Verwaltungsgericht im Rahmen der Be140 Staringer in Kubik/Schmidjell-Dommes/Staringer (Hrsg.), SWI-Spezial, 40. 141 Voje, Intertax 2020, 157 (160). 142 Nach Dijkstra/Pötgens/Spijker, European Taxation 2023, 65 (73) ist sogar i.d.R. von einer Zustimmungspflicht der zuständigen Behörden auszugehen. 143 Auch das Unionsrecht kennt (als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips bzw. des unionsrechtlichen Legalitätsprinzips) einen Grundsatz der amtswegigen Ermittlungspflicht. Dieser Grundsatz enthält – so er in Streitbeilegungsverfahren nach der SBRL zur Anwendung gelangt – aber nur vage Konturen für die amtswegige Ermittlungspflicht, zum unionsrechtlichen Grundsatz der amtswegigen Ermittlungspflicht Gunacker-Slawitsch, Amtswegigkeit und Mitwirkung, 210 ff.; zur Bedeutung von Art. 6 EMRK s. Voje, Intertax 2020, 157. 144 Im nationalen behördlichen Verfahren muss den Steuerpflichtigen (jedenfalls im Anwendungsbereich des Unionsrechts und außerhalb desselben nach Maßgabe nationaler Bestimmungen) Parteiengehör gewährt werden (in Österreich gem. § 115 Abs. 2, § 161 Abs. 3, § 183 Abs. 4 BAO).

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weiswürdigung daraus gezogenen Schlüsse Gegenstand des Parteiengehörs.145 Auch nach der Rechtsprechung des EuGH dürfte die endgültige rechtliche Würdigung dem Betroffenen vorab nicht mitgeteilt werden müssen.146 Art. 10 und 13 SBRL (bzw. die diesen Bestimmungen entsprechenden nationalen Umsetzungsvorschriften) sind daher so zu verstehen, dass die Behörden ermessensgeleitet über eine Anhörung zu entscheiden haben. Die SBRL räumt den zuständigen Behörden somit einen Spielraum ein, entweder einen beratenden Ausschuss oder einen Ausschuss für alternative Streitbeilegung einzusetzen bzw. in der Geschäftsordnung für den Ausschuss für alternative Streitbeilegung ein Anhörungsrecht vorzusehen oder auszuschließen. Denkbar ist dabei auch – über Art. 13 SBRL hinausgehend – die Festlegung echter Mitwirkungsrechte. Dieser Spielraum ist unter Berücksichtigung der behördlichen Verpflichtung zur Erforschung der tatsächlichen Verhältnisse auszuüben. Im Ergebnis kommt diese Sichtweise einem Recht auf Gehör zumindest nahe. Einzuräumen ist allerdings, dass die nach nationalem Recht bestehende Spielräume der Behörden voneinander abweichen können und die Entscheidung über die eingeräumten Optionen vielfach ein Kompromiss sein wird. Da der Steuerpflichtige das Ergebnis dieses Verfahrens auch ablehnen (und sodann Rechtsschutz nach Maßgabe des nationalen Verfahrensrechts suchen) kann, dürfte dies grundrechtlich zu rechtfertigen sein. Rechtspolitisch kann die ausdrückliche Verankerung eines Anhörungsrecht in der SBRL freilich mit guten Gründen gefordert werden.147 Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass vor allem der Grundrechtsschutz der Steuerpflichtigen im Anwendungsbereich der EU-Streitbeilegungsrichtlinie etliche offene Fragen aufwirft.148 Das Verfahren vor einem Ausschuss für alternative Streitbeilegung stößt dabei aber im We-

145 Z.B. VwGH v. 30.5.2017 – Ra 2016/16/0087 m.w.N.; weiterführend Gunacker-Slawitsch in Ehrke-Rabel/Gunacker-Slawitsch (Hrsg.), Rechtsmittelverfahren in Abgabensachen, in Druck. 146 Z.B. EuGH v. 11.12.2014 – C-249/13 – Boudjlida, Rz. 55; EuGH v. 4.3.2020 – C-155/18 P u.a. – Tulliallan Burlington Ltd., Rz. 94 (jeweils zu Sekundärrecht). 147 So z.B. Staringer in Kubik/Schmidjell-Dommes/Staringer (Hrsg.), SWI-Spezial, 40 (48); Voje, Intertax 2020, 157 (173). 148 Weiterführend Kokott, ISR 2019, 429.

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sentlichen149 auf keine weitergehenden rechtsstaatlichen Bedenken als das Verfahren vor dem beratenden Ausschuss.

(2) Flexibilität hinsichtlich der anzuwendenden Streitbeilegungsmethode Bedenken könnte allerdings hervorrufen, dass die EU-Streitbeilegungsrichtlinie auch Verfahren wie z.B. das „baseball-arbitration-Verfahren“ zulässt, bei dem der Ausschuss für alternative Streitbeilegung nur zwischen zwei Entscheidungsvorschlägen auswählen kann.150 Dadurch wird, wie Staringer hervorhebt, besonders deutlich, dass das Schiedsverfahren nach der EU-Streitbeilegungsrichtlinie „stark von Pragmatismus“ geprägt ist.151 Je eher einzelne Streitbeilegungstechniken aber nicht primär die Erzielung eines gesetzmäßigen Ergebnisses, sondern vor allem das Ziel verfolgen, ein für den Steuerpflichtigen akzeptables Ergebnis in einem effizienten Verfahren zu erreichen,152 desto stärker werden grundsätzlich rechtsstaatliche Bedenken. Auch die Wahl des alternativen Streitbeilegungsverfahrens haben die Behörden153 aber unter Berücksichtigung ihrer (bereits nach nationalem Recht bestehenden)154 Bindung an die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu treffen. Einzuräumen ist freilich, dass auch hier eine gemeinsame Entscheidung der zuständigen Be149 Weiterführend könnte beispielsweise noch untersucht werden, ob dem Steuerpflichtigen immer (auch bei Einsetzung eines Ausschusses für alternative Streitbeilegung) ein Recht auf Begründung der Entscheidung zusteht; s. z.B. Kotha, Baseball Arbitration Option under the EU Dispute Resolution Directive: How Well Does it fare against the Objectives?, World Tax Journal 2021, 253 (272). 150 Schön, Internationalisierung des Internationalen Steuerrechts, in Drüen/ Hey/Mellinghoff (Hrsg.), FS BFH I, 2018, 923 (945); Dijkstra/Pötgens/Spijker, European Taxation 2023, 65 (76); Fiscalis Project Group (FPG), Working Paper on the Implementation of Article 10 of Directive (EU) 2017/1852 on Tax Dispute Resolution Mechanism in the European Union, 33. 151 Staringer in Kubik/Schmidjell-Dommes/Staringer (Hrsg.), SWI-Spezial, 40; s. auch Kotha, World Tax Journal 2021, 253 (268). 152 Fiscalis Project Group (FPG), Working Paper on the Implementation of Article 10 of Directive (EU) 2017/1852 on Tax Dispute Resolution Mechanism in the European Union, 33. 153 Die Art des Streitbeilegungsverfahrens ist nicht durch den Ausschuss selbst festzulegen, sondern grundsätzlich (s. aber Art. 11 Abs. 4 SBRL) von den zuständigen Behörden in der Geschäftsordnung zu vereinbaren. 154 S. dazu Punkt V.3.b.cc (1).

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hörden gefunden werden muss.155 Die Behörden dürfen allerdings keinesfalls beliebig vorgehen, sondern müssen eine „angemessene“ Methode festlegen. Dabei ist seitens der Behörden auch zu berücksichtigen, ob eine Mitwirkung des Steuerpflichtigen geboten erscheint oder ob rechtliche Erwägungen im Vordergrund stehen. Letztendlich ist die den Behörden zugestandene Flexibilität hinsichtlich der Wahl der geeigneten Streitbeilegungsmethode in erster Linie ein gleichheitsrechtliches Thema. Dass abschließende Entscheidungen – auch des Ausschusses für alternative Streitbeilegung – zumindest in einer Zusammenfassung zu veröffentlichen sind (Art. 18 SBRL), zeigt aber, dass der Unionsgesetzgeber immerhin bestrebt war, solchen Bedenken durch eine (zumindest gewisse)156 Transparenz zu begegnen.157

dd) Vorteile Die Möglichkeit, je nach Streitfrage unterschiedliche Streitbeilegungsmethoden anzuwenden, bietet jedenfalls auch Chancen: Die Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit, zurückgreifend auf die Erfahrungen bisheriger Schiedsverfahren für unterschiedliche Fälle unterschiedliche Methoden anzuwenden, um dadurch ein möglichst effektives und effizientes Verfahren zu gewährleisten. Als besonderer Vorteil der in der Richtlinie verankerten Option zur Anwendung alternativer Streitbeilegungsmethoden ist hervorzuheben, dass diese Möglichkeit ein unionsrechtliches „Experimentierfeld“158 darstellt, in dem den Mitgliedstaaten die Freiheit belassen wird, verschiedene Instrumente zu „testen“, um gefundene Ergebnisse unter Umständen später auf unionsrechtlicher Ebene zu verankern. Der Ausschuss für alternative Streitbeilegung bietet somit auch in dieser Hinsicht durchaus eine Chance für eine Weiterentwicklung des Verfahrens. 155 Zur Handhabung in einzelnen Mitgliedstaaten Kotha, World Tax Journal 2021, 253 (264). 156 Art. 18 SBRL; Art. 19 Abs. 3 SBRL. Dabei ist auch die Art des Schiedsverfahrens anzugeben (Art. 18 Abs. 3 SBRL). 157 Sollte der Ausschuss für alternative Streitbeilegung allerdings in Zukunft zu einem gerichtsförmigen Ausschuss weiterentwickelt werden, ist mit Gunter Mayr (in diesem Band) zu erwägen, diese Art der Streitbeilegungstechnik aufzugeben. 158 Zu Legal sandboxes s. Ehrke-Rabel, Reflexionen zu theorie- und evidenzbasierter Steuergesetzgebung, in Wendland/Eisenberger/Niemann (Hrsg.), Smart Regulation: Theorie- und evidenzbasierte Politik, 2023, 99 (104).

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Da die untersuchte Bestimmung auf einen Maßnahmenmix setzt, demzufolge für unterschiedliche Konstellationen unterschiedliche, darauf zugeschnittene Techniken angewendet werden können, folgt auch sie dem vorhin erwähnten Gedanken des Smart-Regulation-Ansatzes (Punkt V.2.c). Welche Bedeutung diese Bestimmung in der Praxis tatsächlich spielen wird, bleibt freilich weiterhin abzuwarten.

VI. Fazit 1. Die These, dass die Gefahren alternativer Streitbeilegungsmechanismen vor allem in der noch stärkeren Verringerung der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle und (damit zusammenhängend) in einer ungleichen Anwendung des Rechts liegen, hat sich bestätigt. Alternative Streitbeilegungsmechanismen bergen damit im Wesentlichen dieselben Gefahren wie Mechanismen der Streitvermeidung. 2. Mit dem Einsatz von Mediation und Güterichterverfahren sind allerdings kaum Gefahren verbunden, wenn deren Einsatz auf jene Fälle beschränkt wird, für die diese Verfahren „zugeschnitten“ sind. Im Kontext der EU-Streitbeilegungs-RL wird der aufgezeigten Gefahr immerhin durch eine Veröffentlichungspflicht zu begegnen versucht. 3. Alternative Streitbeilegungsmechanismen bieten durchaus Chancen, die „Starrheit“ klassischer Verfahren aufzuweichen und durch Mechanismen zu ergänzen, die in dafür geeigneten Fällen zu einer Beschleunigung des Verfahrens führen. Auf die untersuchten Mechanismen trifft dies jedenfalls zu. 4. Der Mediation durch externe Mediatoren kommt dabei (bereits aufgrund der Kostenfrage) die geringste praktische Bedeutung zu. Das Güterichterverfahren bietet etwas mehr Potential, da der Steuerpflichtige an einen Richter mit entsprechenden soft skills verwiesen wird. Vor allem aufgrund der Vorgaben des Legalitätsprinzips und des bewährten Instruments des Erörterungstermins ist der Anwendungsbereich dieses Verfahrens aber ebenfalls stark begrenzt. 5. Insgesamt ist der Bedarf nach und die Bedeutung von alternativen Streitbeilegungsmechanismen im nationalen Kontext relativ gering. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass – während Streitvermeidungsinstrumente in jüngerer Zeit eher für „große“ Steuerpflichtige ent-

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wickelt wurden159 – solche Instrumente auch „kleinen“ Steuerpflichtigen zu früherer Rechtssicherheit verhelfen können. Dies kann für die Beibehaltung bestehender alternativer Streitbeilegungsmechanismen sprechen. 6. Von den behandelten Formen alternativer Streitbeilegung kommt dem Streitbeilegungsverfahren nach der EU-Streitbeilegungs-RL jedenfalls die größte praktische Bedeutung zu. Die Möglichkeit, innerhalb dieses alternativen Verfahrens unterschiedliche alternative Streitbeilegungsmechanismen anzuwenden, erscheint als mögliches „Experimentierfeld“ im Sinne eines Smart-Regulation-Ansatzes durchaus interessant.

159 So z.B. aus jüngerer Zeit die begleitende Kontrolle als Instrument der co-operative compliance (§§ 153a ff. BAO) oder das Projekt ICAP (in Österreich umgesetzt in § 118b BAO).

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Diskussion zu den Referaten von Prof. Dr. René Matteotti, LL.M. und Prof. Dr. Barbara Gunacker-Slawitsch Prof. Dr. Klaus-Dieter Drüen, München Vielen Dank für diese schwungvollen und zugleich inhaltsreichen Vorträge aus der Schweiz und aus Österreich. Meine Fragen gelten dem Rechtsvergleich und den Rechtstatsachen. Ich fange mit der Schweiz an: Angesprochen wurde das Steuerabkommensdurchführungsgesetz, das seit dem 1.1.2022 in Kraft ist. Da würde mich die nähere verfahrensrechtliche Ausformung interessieren: Gibt es grundlegend etwas Neues aus deutscher Sicht? Ist das Verfahren anders strukturiert worden? Diese Frage richtet sich an René Matteotti. Und an Sie, Frau Gunacker-Slawitsch: Sie waren so freundlich, auch die deutsche Lage mit Art. 19 Abs. 4 GG in den Blick zu nehmen. Mich würde insoweit im Rechtsvergleich interessieren, wie die österreichische Verfassungslage für den Rechtsschutz aussieht. Lässt sich das für Deutschland Gesagte übertragen oder gelten in Österreich besondere Vorschriften für den Rechtsschutz? Und der letzte Punkt: Sie haben die neuen alternativen Instrumente zur Streitbeilegung im Prozess angesprochen. Da würde mich von den anwesenden Finanzrichtern – wir haben auch FG-Präsidenten unter uns – einfach die Einschätzung interessieren, wie viele Verfahren es dazu in der Gerichtspraxis gibt. Ist das nur etwas, was ins Gesetz aufgenommen ist, aber gar nicht praktisch gelebt wird? Sie haben Gründe schon genannt zum Erörterungstermin, der aus meiner Sicht ein sehr effizientes Verfahren einer Streitabschichtung und -schlichtung.ist. Das sind die Fragen, die ich stellen möchte. Prof. Dr. Ekkehart Reimer, Heidelberg Ich danke Frau Gunacker-Slawitsch ganz herzlich für diesen Einblick in die Grazer Werkstatt. Weil Sie es ja haben anklingen lassen, möchte ich kurz über ein gemeinsames Forschungsprojekt berichten, das in Göttingen Herr Kollege Andreas Oestreicher (BWL) und juristischerseits in Heidelberg gerade abgeschlossen worden ist. Auf Initiative der Stiftung Familienunternehmen haben wir uns mit der Frage der Verbesserung von Verrechnungspreisverfahren befasst. Enorm viel von dem, was Sie vorhin vorgetragen haben, lässt sich mit Möglichkeiten zur Streitvermeidung im Vorfeld verbinden. In der Göttingen-Heidelberger-Studie wird etwa

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erwogen, ob man Finanzbeamtinnen und Finanzbeamte, die gerade frisch in den Ruhestand eingetreten sind, für eine Zeit von drei oder fünf Jahren zu Ombudspersonen ernennen könnte. Diese Ombudspersonen sollte man bei atmosphärischen und verfahrensrechtlichen Problemen so beiziehen können, dass sie auf eigene Initiative stichprobenartig und unangekündigt bei einer solchen Verrechnungspreisprüfung anwesend sein oder auf Antrag einer der beiden Beteiligten (Verwaltung oder Steuerpflichtiger) beigezogen werden oder hinzugebeten werden können. Das schafft Vertrauen. So lassen sich manche Unstimmigkeiten vermeiden, notfalls schlichten. Im Sinne der Überlegungen, die Frau Oertel gestern vorgestellt hat, stärken Ombudspersonen das Vertrauen auf die Rechtsstaatlichkeit und Rechtzeitigkeit von Verfahren, insbesondere auf die Verhältnismäßigkeit der Informationsanforderungen, die behördlicherseits gestellt werden. Dr. Martin Vock, Wien Ich möchte zum Vortrag von Frau Gunacker-Slawitsch meine Anmerkungen machen. Vielen Dank für den großartigen Vortrag. Sie spricht mir aus der Seele mit allem, was sie gesagt hat. Ich möchte nur auf etwas hinweisen: Aus meiner Sicht ist eine Unterscheidung ganz wichtig, weshalb diese drei Instrumentarien auch nicht in einem Atemzug genannt werden sollen, nämlich Mediation und Güterichterverfahren einerseits und die EU-Streitbeilegungsrichtlinie andererseits. Aus meiner Sicht ist das Wesen eines Schiedsverfahrens und damit auch der Instrumente, die das EU-Streitbeilegungsverfahren in der Richtlinie vorsieht, notwendigerweise beschränkt auf Rechtssubjekte in derselben Rangordnung. Mediation und Schiedsverfahren kommen aus dem Zivilrecht, wo sich zwei gleichrangige Rechtssubjekte gegenüberstehen, die sehr viel Dispositionsfreiheit haben und sich auch im Rahmen dieser Instrumente einigen können. Das haben wir auch im Bereich der EU-Streitbeilegungsrichtlinie, weil es ja zwei Staaten sind, die miteinander zu einem Ergebnis kommen sollen. Das haben wir aber nicht in der FGO, wo es darum geht, dass der Staat als Fiskus und der Abgabepflichtige zu einem richtigen Ergebnis geführt werden sollen. Daher gibt es in Österreich in der Form weder den Güterichter noch die Mediation. Daher kann die Mediation aus meiner Sicht aus rechtstaatlichen Gründen nur eingeschränkt sein auf Fälle – Frau Gunacker-Slawitsch hat es hier auch genannt; ich möchte es nur noch einmal bestärken –, wo ein Verfahren emotional entgleist ist, wo es darum geht, die Emotionen wieder zurückzuholen, zu zügeln auf eine gemeinsame Gesprächsbasis zurück-

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zukommen. Diese Instrumente sollen aber aus meiner Sicht in keinerlei Weise, weder auf die Tatbestandsfrage noch auf die Rechtsfrage irgendeine Auswirkung haben. Silke Bruns, Berlin Vielen Dank für den Vortrag, Herr Matteotti. Ich möchte kurz auf die Frage antworten, ob ich das Verhältnis von DBA-Schiedsverfahren und treaty override genauso sehe wie vorgetragen. Die klare Juristenantwort ist: Es kommt darauf an. Auch das DBA-Schiedsverfahren, m.E. präziser die Schiedsphase eines Streibeilegungsverfahrens, ist aus meiner Sicht ein Teil des Verwaltungsverfahrens und kann deshalb auch nicht mehr als die Verwaltung selber kann. Folglich wird die Situation, die ich für den Bereich der DBA-Verständigungsverfahren geschildert habe, d.h. dieser vicious circle, meiner Ansicht nach lediglich auf eine andere Verfahrensstufe geschoben, konkret auf die Verfahrensstufe der Umsetzung einer Schiedsentscheidung. Auf dieser Stufe ist dann abzuwägen: Auf der einen Seite der Willen des Gesetzgebers, dass Schiedsentscheidungen umzusetzen sind, gegebenenfalls auch entgegen der deutschen Rechtsauslegung. Auf der anderen Seite der Wille des Gesetzgebers, das DBA zu überschreiben und damit gegebenenfalls das gesamte DBA einschließlich der Schiedsphase. Oder der Gesetzgeber wollte die Schiedsphase nicht überschreiben, weil sein Ziel gegebenenfalls nur eine Vermeidung einer doppelten Nichtbesteuerung oder das Erreichen einer Kongruenz mit dem internationalen Konsens ist. Kern ist, dass der Wille des Gesetzgebers zu eruieren ist, so dass ich, wie gesagt, auch zu der hier aufgeworfenen Frage antworten möchte: Es kommt ganz darauf an. Dr. Ulrich Pflaum, Nürnberg Ich komme gerne der Bitte von Herrn Drüen nach, einige Erfahrungen aus meiner Praxis am FG beizusteuern. Vorab aber vielen Dank an Frau Prof. Gunacker-Slawitsch für den wirklich sehr gut ausgewogenen differenzierten Vortrag. Er hat mir als Finanzrichter außerordentlich gut gefallen. Noch eine weitere Überlegung vorweg: Subjektive oder objektive Rechtmäßigkeitskontrolle? Die Klage gegen Steuerbescheide ist eine Anfechtungsklage, d.h. wir prüfen: Ist der Steuerbescheid rechtswidrig? Und erst dann, eigentlich im zweiten Schritt: Verletzt er den Steuerpflichtigen in seinen Rechten? Das ist bei einem Steuerbescheid regelmäßig der Fall, wenn er rechtwidrig ist, weil der Steuerpflichtige weniger zahlen müsste. Aber die erste Frage ist gedanklich: Ist der Steuerbescheid

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rechtswidrig? Insofern hat man da immer noch die objektive Rechtsmäßigkeitskontrolle vorangeschaltet. Zu der Frage nach Mediation kann ich sagen: in fünf Jahren am FG kein einziger Fall. So, wie ich die Gesetzesmaterialien zu dem deutschen Mediationsgesetz verstehe, zielt die Mediation auf Fälle, in denen die Parteien um etwas streiten, was ihnen von Gesetzes wegen nicht zugesprochen werden kann, wo also letztlich der Rechtsstreit nur einen tieferliegenden Konflikt hervorbrechen lässt. In dieser Situation habe ich als Finanzrichter und hat das Steuerrecht keine Möglichkeit, keinen Ermessensspielraum, irgendwas zu gewähren, was von Gesetzes wegen nicht gewährt werden kann. Wenn der Steuerpflichtige „beleidigt“ ist, weil der Betriebsprüfer sich schlecht benommen hat, dann rechtfertigt das keine Ermäßigung der Steuer. Zu der zweiten Frage nach dem Erörterungstermin sage ich aus meiner ganz persönlichen Praxis: in fünf Jahren fast keiner. Das kommt aus meiner Sicht daher: Wenn ich einen Erörterungstermin ordentlich vorbereite, muss ich den Streitstoff in sachlicher und rechtlicher Hinsicht ziemlich tief durchdringen. Dann bin ich so weit, dass ich ein Gutachten schreiben kann und damit bin ich eigentlich schon kurz vor dem Urteil. Und dann kann entweder die Vorsitzende oder ich als Einzelrichter zur mündlichen Verhandlung laden, dort natürlich noch einmal die vorläufige Rechtsauffassung darlegen und den Beteiligten anheimstellen, eine einvernehmliche Lösung zu finden. Oder es kann, wenn die Parteien eine einvernehmliche Lösung nicht finden, gleich ein Urteil ergehen und ich habe mir eine Schleife gespart. Das ist aber nur eine persönliche Sichtweise. Vielen Dank. Prof. Dr. Thomas Stapperfend, Berlin Ich möchte das nur kurz ergänzen und die Einschätzung von Herrn Pflaum bestätigen, was die Mediation und die Güterichter anbelangt. Beim FG Berlin-Brandenburg gab es bislang zwei Güterichterverfahren, die aber nicht einmal erfolgreich zu Ende geführt wurden. Das liegt daran, dass die Finanzverwaltung blockiert. Die Finanzverwaltung zieht sich darauf zurück, dass sie die Steuern nach Art. 20 Abs. 3 GG nach Gesetz und Recht festsetzen muss und damit kein Raum für ein Mediationsverfahren besteht. Zu den Erörterungsterminen: Beim FG BerlinBrandenburg sind die Erfahrungen ein wenig anders. Erörterungstermine finden statt, aber in erster Linie zur Sachaufklärung. Insgesamt gesehen haben die Erörterungstermine allerdings an Bedeutung verloren, seit zum 1.6.2004 die Möglichkeit der gebührenfreien Rücknahme von Klagen abgeschafft wurde. Bis dahin war es möglich, die Klage bis 14 Tage

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vor der mündlichen Verhandlung kostenfrei zurückzunehmen, so dass es natürlich interessant war, einmal auszuloten, wie das Gericht die Sache sieht. Aus diesem Grund haben die Kläger oftmals Erörterungstermine beantragt. Merkte man, dass es in die falsche Richtung läuft, hat man die Klage kostenfrei zurücknehmen können. Das ist nicht mehr so. Zur Sachaufklärung spielen Erörterungstermine noch eine Rolle, auch um ins Gespräch zu kommen. Sie haben aber lange nicht mehr die Bedeutung, die sie früher hatten, zumal man Erörterungen auch in Einzelrichtersitzungen oder der Senatssitzung durchführen kann. Prof. Dr. Hagen Kobor, Augsburg Vielen Dank Herr Stapperfend. Ich kann das betätigen. Aus Sicht des FG München, für das ich sprechen kann, ist auch kein einziger Fall bekannt für die Mediation aus den genannten Gründen. In 15 Jahren habe ich noch keinen Erörterungstermin gemacht, aus den von Herrn Pflaum genannten Gründen. Prof. Dr. Barbara Gunacker-Slawitsch, Graz Zunächst zur Frage von Ihnen, Herr Drüen, zur österreichischen Verfassungslage. Wir haben zwar keine Bestimmung, die wörtlich Art. 19 Abs. 4 GG entspricht, aber inhaltlich gilt dasselbe auch in Österreich. Aus der österreichischen Verfassung, vor allem aus dem Rechtsstaatsprinzip, werden dieselben Garantien abgeleitet. Zu den Stellungnahmen betreffend das Güterichterverfahren und den Erörterungstermin noch eine Anmerkung: Ich habe mich ein wenig umgehört im Vorfeld und auch mit Richtern gesprochen, die sehr viele Erörterungstermine durchführen. Dabei habe ich wahrgenommen, dass das Güterichterverfahren wenig bekannt ist. Dies hat mich zu meinem Vorschlag geführt, darüber nachzudenken, welche Verfahren beibehalten werden sollten und welche nicht. Möchte man das Güterichterverfahren zumindest noch eine Zeitlang beibehalten, könnte erwogen werden, dieses näher zu determinieren. Zu Ihrer Frage, Herr Reimer, betreffend die Ombudspersonen: Ich habe auch bereits von der Idee gehört, pensionierte Finanzbeamtinnen oder -beamte zu Ombudspersonen zu ernennen bzw. verstärkt verwaltungsinterne Ombudspersonen einzusetzen. Ich habe das Thema Ombudspersonen deshalb aus meinem Vortrag ausgeklammert, da ich im Vorfeld versucht habe, zwischen Streitbeilegung und Streitvermeidung zu trennen und ich dieses Thema – worauf Sie auch hingewiesen haben – der Streitvermeidung zugeordnet habe. Auf der Ebene der Streitvermei-

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dung kann man das durchaus überlegen und ebenfalls prüfen: Besteht ein Bedarf hierfür? Worin bestehen die Vorteile? Denn die Gefahren – etwa, dass Fälle dem Gericht entzogen werden – sind im Ergebnis dieselben wir jene, die ich in meinem Vortrag angesprochen habe. Zu Martin Vock: Ja, ich teile deine Einschätzung, das sind die Schwierigkeiten einer Mediation im Steuerrecht. Ich gebe dir auch völlig Recht, dass die Gesetzesbindung der Verwaltung durch eine Mediation keinesfalls ausgehebelt werden darf. Prof. Dr. René Matteotti, LL.M. Ich würde gerne zunächst das Instrument der Mediation in der Schweiz aufgreifen. Wir kennen die Mediation im öffentlichen Verfahrensrecht. Eine gesetzliche Grundlage hierfür ist also vorhanden. Es besteht teilweise auch von den Unternehmen ein großes Bedürfnis, solche Mediationen durchzuführen. Es gibt aber keinen einzigen Fall in der Schweiz, in welchem eine Steuerstreitigkeit einem Mediator zugeführt wurde. Ein mediationsähnliches Umfeld kann indes informell geschaffen werden, indem von einer Verfahrenspartei ein spezialisierter Professor beigezogen wird, der dann zu vermitteln versucht. Dies wäre freilich keine Mediation im rechtlichen Sinne. Nun noch zur Thematik des Steuerabkommensdurchführungsgesetzes, welches am 1.1.2022 in der Schweiz in Kraft getreten ist: Dieses ist auch im Zusammenhang mit der nationalen Umsetzung einer Verständigungslösung relevant. Ich konnte aus zeitlichen Gründen nicht darauf eingehen, möchte aber jetzt trotzdem zwei Punkte hervorgreifen. Wir müssen sauber zwischen der völkerrechtlichen Umsetzungspflicht und der nationalen Umsetzungspflicht unterscheiden. Bei der völkerrechtlichen Umsetzungspflicht sieht die OECD vor, dass eine Umsetzung des Schiedsspruchs eben nicht zwingend ist. Keine völkerrechtliche Verpflichtung zur Umsetzung besteht, wenn der Gesuchsteller der Verständigungslösung – basierend auf der Schiedslösung – nicht zustimmt oder wenn ein Gericht die Verständigungslösung als nicht umsetzbar erklärt. Hiermit kann ich den Bogen zum schweizerischen Recht spannen. Es stellt sich die Frage, wann dies in der Schweiz der Fall ist. In der Schweiz gab es eine große Diskussion zwischen den kantonalen Steuerbehörden, die für den Vollzug der direkten Bundessteuer zuständig sind. In Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Verbot der interkantonalen Doppelbesteuerung wurde die Auffassung vertreten, dass bei rechtsmissbräuchlichem Verhalten des Steuerpflichtigen oder des

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steuerpflichtigen Unternehmens auf die Beseitigung der interkantonalen Doppelbesteuerung verzichtet werden kann. Nach dieser Auffassung soll also kein Anspruch auf die Beseitigung der interkantonalen Doppelbesteuerung bestehen. Verschiedene kantonale Steuerverwaltungen stellen sich auf den Standpunkt, dass diese Rechtsprechung auch im Zusammenhang mit dem Verständigungsverfahren im DBA-Kontext zu berücksichtigen sei, mit der Folge, dass keine Umsetzung einer Verständigungsvereinbarung bei rechtsmissbräuchlichem Verhalten des Steuerpflichtigen erfolgen müsse. Meines Erachtens hat der Gesetzgeber diese Auffassung klar zurückgewiesen. Es besteht eine völkerrechtliche Verpflichtung, nach welcher die Kantone von Amtes wegen verpflichtet sind, eine Verständigungslösung umzusetzen. Dies gilt eben auch bei Verständigungslösungen, die auf einer Schiedsvereinbarung basieren. Den Vorbehalt des Rechtsmissbrauchsverbots gibt es bei der Umsetzung einer Verständigungslösung nicht. Möglich ist nach der neuen Gesetzeslage aber, dass dem Steuerpflichtigen die Kosten für das Verfahren zur Umsetzung einer Verständigungslösung auferlegt und auf die Entrichtung von Vergütungszinsen verzichtet wird, wenn er sich rechtsmissbräuchlich verhält.

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Nationale und europäische Ansätze zur Streitbeilegung bei der Umsatzsteuer Dr. Ulrich Grünwald Rechtsanwalt/Steuerberater, Berlin

I. Neutralität der Steuer – Korrespondenz der Steuerfestsetzungen 1. Funktionsweise 2. Neutralität im materiellen Recht 3. Gefährdete Neutralität 4. Korrespondierende Steuerfestsetzung im Verfahrensrecht II. Reform des Umsatzsteuerverfahrensrechts 1. Neutralität der Steuer erfordert kongruente Steuerfestsetzungen 2. Reformüberlegungen III. Reformvorschläge für das nationale Recht 1. Allgemeines Auskunftsverfahren

2. Gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für Zwecke der Umsatzsteuer 3. Änderungsvorschrift (§ 174a E-AO) 4. Beteiligung Beiladung/ Hinzuziehung 5. Verjährung 6. Keine Verzinsung ohne Liquiditätsvor- bzw. -nachteil IV. Reformvorschläge auf EU-Ebene 1. Ansätze 2. Verständigungsverfahren 3. Cross-Border-Ruling V. Fazit

I. Neutralität der Steuer – Korrespondenz der Steuerfestsetzungen 1. Funktionsweise Die deutsche Umsatzsteuer ist entsprechend der MwStSystRL als Allphasen-netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug ausgestaltet. Das bedeutet, dass sie auf allen Stufen wirtschaftlicher Wertschöpfung, unter Vermeidung einer kaskadenhaften Steuerbelastung im Sinne einer Steuer auf die Steuer, „netto“ erhoben wird, was gesetzestechnisch durch den Vorsteuerabzug gewährleistet wird. Unternehmer stellen sich für die von ihnen bewirkten Leistungen Umsatzsteuer in Rechnung und erklären diese gegenüber dem Finanzamt. Der jeweilige Leistungs- und Rechnungsempfänger kann diese im Wege des Vorsteuerabzugs bei der Berechnung seiner eigenen Steuerschuld als Vorsteuer abziehen. Das heißt, die Umsatzsteuer verhält sich in einer

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idealen Umsatzsteuerwelt, bei zum vollen Vorsteuerabzug berechtigten Unternehmern, neutral. Der EuGH unterstreicht in seiner Rechtsprechung regelmäßig, dass diese Neutralität eines der Grundprinzipien der harmonisierten europäischen Mehrwertsteuer ist. „Das Grundprinzip des Mehrwertsteuersystems [beruht] darauf, dass die Mehrwertsteuer nur den Endverbraucher belasten soll und für die Steuerpflichtigen, die auf den Produktions- und Vertriebsstufen vor dem Stadium der endgültigen Besteuerung tätig sind, unabhängig von der Zahl der Umsätze völlig neutral sein soll.“1

Die Umsatzsteuer verhält sich wirtschaftlich wie ein durchlaufender Posten. Der Unternehmer wird, obgleich ihn die MwStSystRL als „Steuerpflichtigen“ bezeichnet, nach dem Konzept der Umsatzsteuer nicht mit ihr belastet. Seine Aufgabe ist es, die dem Letztverbraucher als zivilrechtlich unselbständigen Preisbestandteil überwälzte Steuer einzusammeln und bei der Steuerbehörde abzuliefern.

2. Neutralität im materiellen Recht Materiell-rechtlich ist die Neutralität durch korrespondierende Normen geregelt. Der Steuer beim leistenden Unternehmer steht der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers gegenüber. § 15 Abs. 1 UStG bestimmt, dass der Unternehmer zum Abzug der gesetzlichen Steuer auf eine Eingangsleistung berechtigt ist; Art. 167 MwStSystRL regelt, dass das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Für nichtsteuerbare Leistungen z.B. im Rahmen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen nach § 1 Abs. 1a UStG oder innerhalb einer Organschaft nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG entsteht keine Umsatzsteuer. Korrespondierend ist ein Vorsteuerabzug nicht möglich. Bei grenzüberschreitenden Leistungen stellt das Gesetz auf gesetzestechnisch unterschiedlichem Weg für Lieferungen und Dienstleistungen ebenfalls die Neutralität sicher. Bei Lieferungen sieht das Mehrwertsteuerrecht hierfür zwei miteinander korrespondierende Tatbestände vor: Auf Seiten des Leistenden regelt das Gesetz eine im Inland steuerbare, aber steuerfreie innergemein1 EuGH v. 6.10.2021 – C 717/19, ECLI:EU:C:2021:818 – Boehringer Ingelheim, MwStR 2021, 930 Rz. 39.

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schaftliche Lieferung; auf Seiten des Leistungsempfängers unterliegt der innergemeinschaftliche Erwerb der Steuer im Bestimmungsland. Der Umsatz wird ohne Steuerbelastung als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung ins Bestimmungsland transferiert und dort unter Wahrung des Neutralitätsprinzips als steuerbarer innergemeinschaftlicher Erwerb bei gleichzeitigem Vorsteuerabzug den Regeln der Mehrwertsteuer unterworfen. Bei Dienstleistungen wird das gleiche Ergebnis durch eine Ortsverlagerung erreicht. Die innergemeinschaftliche Dienstleistung ist im Ursprungsland nicht steuerbar. Ort der Leistung ist der Sitz des Leistungsempfängers. Dieser hat die Dienstleistung im Reverse-Charge-Verfahren zu besteuern und kann wiederum den Vorsteuerabzug geltend machen. Der gesetzestechnische Unterschied besteht darin, dass der Erwerber einen eigenen Umsatz, nämlich den innergemeinschaftlichen Erwerb, besteuert, während ihm bei der innergemeinschaftlichen Dienstleistung lediglich die Steuerschuld des Leistenden übertragen wird. Im Ergebnis wird sowohl bei Lieferungen als auch bei Dienstleistungen das Besteuerungsrecht in einem ersten Schritt ins Bestimmungsland verlagert und anschließend die dort entstehende Steuer neutralisiert.

3. Gefährdete Neutralität Die nach Art. 167 MwStSystRL zeitgleich entstehenden Ansprüche auf Steuer einerseits und Vorsteuerabzug andererseits werden –

an unterschiedlichen Orten (Finanzamt, Bundesland, EU-Mitgliedstaat),



zu unterschiedlichen Zeiten (Umsatz z.B. im Dezember, Rechnungserteilung z.B. im Januar),



von unterschiedlichen Personen, die regelmäßig nicht – und schon gar nicht verfahrensrechtlich geregelt – miteinander kommunizieren,



mit ggf. unterschiedlichem verfahrensrechtlichen Status (Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung, anhängiges Rechtsbehelfs-, Finanzgerichtsverfahren, Bestandskraft, Festsetzungsverjährung)

festgesetzt.

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Dabei kommt es vor, dass die zuständigen Finanzämter ein und denselben Sachverhalt unterschiedlich beurteilen und dadurch für die an einer Transaktion Beteiligten Steuern festsetzen, die im Ergebnis nicht neutral sind.

4. Korrespondierende Steuerfestsetzung im Verfahrensrecht Im Verfahrensrecht fehlt es an Vorschriften, die verhindern, dass Steuern unter Verletzung des Neutralitätsprinzips festgesetzt werden, bzw. die die Neutralität sicherstellen. Die Steuern werden beim Leistenden und beim Leistungsempfänger unabhängig voneinander festgesetzt. Es gibt keine Norm, die die beiden Steuerfestsetzungen verfahrenstechnisch miteinander verknüpft. So kann für eine Transaktion beim Leistenden bestandkräftig Steuer festgesetzt werden – das Finanzamt verneint z.B. das Vorliegen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen-, obgleich der Vorsteuerabzug beim Leistungsempfänger verneint wird – das für ihn zuständige Finanzamt sieht die Voraussetzungen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen als gegeben an – und umgekehrt. Die Festsetzungsverjährung für beide Steuerfestsetzungen tritt unabhängig voneinander ein. Inkongruente Steuerfestsetzungen eröffnen nicht von Gesetzes wegen eine Änderungsmöglichkeit. Die Finanzbehörden haben gem. § 85 AO die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben. Insbesondere haben sie sicherzustellen, dass Steuern nicht verkürzt, zu Unrecht erhoben oder Steuererstattungen und Steuervergütungen nicht zu Unrecht gewährt oder versagt werden. Das Verfahrensrecht stellt ihnen das für diese Aufgabe notwendige Instrumentarium zur Verfügung. Das Verfahrensrecht existiert nicht um seiner selbst willen. Es hat gegenüber dem materiellen Recht eine dienende Funktion. Das Verfahrensrecht soll sicherstellen, dass die materiell-rechtlich richtige Steuer nach Maßgabe der einzelnen Steuergesetze festgesetzt wird. Dem wird das Verfahrensrecht im Hinblick auf die Umsatzsteuer nicht immer gerecht und bedarf daher der Reform. Die Bundessteuerberaterkammer hat ein Positionspapier zur Reform des Umsatzsteuerverfahrensrecht erarbeitet und zur Diskussion gestellt.2

2 Vgl. DStR 2021, 1792.

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II. Reform des Umsatzsteuerverfahrensrechts 1. Neutralität der Steuer erfordert kongruente Steuerfestsetzungen Das materiell-rechtliche Neutralitätsprinzip erfordert ein verfahrensrechtliches Korrespondenzprinzip. Die Steuerfestsetzungen beim Leistenden und beim Leistungsempfänger müssen verfahrensrechtlich miteinander verknüpft werden, um eine kongruente Steuerfestsetzung zu ermöglichen. Das erfordert –

Kommunikations- und Abstimmungsprozesse zwischen den die Steuer festsetzenden Behörden,



wechselseitige Änderungsmöglichkeiten der Steuerfestsetzungen durch diese und



Konfliktregelungsmechanismen für den Fall, dass zuständigen Finanzbehörden den Sachverhalt unterschiedlich beurteilen.

Die Steuerfestsetzungen haben –

korrespondierend, d.h. in wechselseitiger Abhängigkeit, und



kongruent, d.h. hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden rechtlichen Beurteilung inhaltlich übereinstimmend,

zu erfolgen.

2. Reformüberlegungen An dieser Stelle setzen die Reformüberlegungen an. Ziel ist es, das Neutralitätsprinzip dergestalt im Verfahrensrecht zu verankern, dass ein verfahrensrechtliches Korrespondenzprinzip dem materiell-rechtlichen Neutralitätsprinzip Geltung verschafft. Eine Änderung der Steuerfestsetzung beim Leistenden muss möglich sein, wenn bessere Erkenntnisse im Rahmen der Steuerfestsetzung beim Leistungsempfänger erstere als fehlerhaft erscheinen lassen und vice versa. Da zwischen den beteiligten Steuerbehörden nicht immer Einigkeit hinsichtlich der umsatzsteuerrechtlichen Beurteilung einer Transaktion herrscht, erscheint es sinnvoll, den Kommunikations- und Abstimmungsprozess zwischen den beteiligten Behörden gesetzlich zu regeln.

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Erforderlichenfalls sollte ergänzend ein Konfliktregelungsmechanismus zur Verfügung stehen. Die Reformvorschläge greifen auf bewährte Regelungen des Verfahrensrechts zurück und passen diese den Bedürfnissen der Mehrwertsteuer an.

III. Reformvorschläge für das nationale Recht 1. Allgemeines Auskunftsverfahren Es wird angeregt, einen allgemeinen Auskunftsanspruch zu etablieren. Demnach sollen die Steuerbehörden in Erweiterung der Regelungen der § 89 AO und §§ 204 ff. AO verpflichtet werden, zu einem konkreten Sachverhalt eine verbindliche Auskunft zu erteilen. Anders als in § 89 AO soll dieser Anspruch jedoch nicht nur für zukünftige noch nicht verwirklichte Sachverhalte bzw. anders als in §§ 204 ff. AO nach einer Außenprüfung geltend gemacht werden können, sondern grundsätzlich jederzeit. Dieser Anspruch könnte wie folgt ausgestaltet sein: § (neu) Allgemeine Rechtsauskunft Das Finanzamt hat auf Antrag eines an einem (beabsichtigten) Umsatz Beteiligten eine Auskunft mit Bindungswirkung zu erteilen. Der Antrag kann sowohl vor als auch nach Sachverhaltsverwirklichung gestellt werden. Antragsberechtigt ist jeder, für dessen Steuerfestsetzung die Beurteilung des Sachverhalts maßgeblich ist. Der jeweils andere Beteiligte ist zum Verfahren hinzuzuziehen. Die für die Besteuerung des anderen Beteiligten zuständige Finanzbehörde ist zum Zwecke der Erzielung von Einvernehmen zu beteiligen. Für den Fall, dass Einvernehmen nicht hergestellt werden kann, ist dies festzustellen. In diesem Fall entscheidet das Finanzgericht. Die Auskunft des Finanzamtes bzw. die Entscheidung des Finanzgerichts haben Bindungswirkung für den Antragsteller, den Hinzugezogenen und das beteiligte Finanzamt des Hinzugezogenen.

Durch das Verfahren zur Erteilung einer verbindlichen Auskunft mit Bindungswirkung für die Beteiligten und die für deren Besteuerung zuständigen Finanzämter wird eine korrespondierende Besteuerung beim Leistenden und Leistungsempfänger sichergestellt und eine widerstreitende Steuerfestsetzung vermieden. Ein erhöhter administrativer Aufwand ist nicht zu befürchten, da eine einmalige zeitnahe und abschließende Prüfung bei den beiden an einem

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Umsatz Beteiligten im Ergebnis einen geringeren Aufwand erfordert als nachgelagerte Prüfungen, Rechtsbehelfsverfahren etc., die bei den für die Beteiligten jeweils zuständigen Finanzbehörden unabhängig voneinander geführt werden. Darüber hinaus erfolgt diese vorgezogene Prüfung regelmäßig kooperativ mit dem Ziel, Rechtssicherheit zu erlangen und unter dem Eindruck eines allen Beteiligten präsenten Sachverhaltes. Zudem hat der Antragsteller den Sachverhalt und die rechtliche Würdigung gem. § 1 StAuskV in einer Weise vorzubereiten, die den Ermittlungsaufwand der Verwaltung auf ein Minimum reduziert.

2. Gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für Zwecke der Umsatzsteuer Bei bestimmten Sachverhalten erscheint es sachgerecht, umsatzsteuerrechtliche Besteuerungsgrundlagen gesondert und einheitlich festzustellen. Dies ist insbesondere dann der Fall, dass deren Beurteilung streitig ist. Ein entsprechendes Feststellungsverfahren könnte wie folgt geregelt sein. § (neu) Gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für Zwecke der Umsatzsteuer Umsatzsteuerrechtliche Besteuerungsgrundlagen im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 1a UStG sowie die Bestimmung des Steuerschuldners können auf Antrag eines am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmers oder von Amts wegen ganz oder teilweise gesondert festgestellt werden, wenn die Besteuerungsgrundlagen von den am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmen und/oder von einer für die Festsetzung der Umsatzsteuer bei den am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmern zuständigen Finanzbehörde unterschiedlich beurteilt werden (streitiger Sachverhalt). Ist der Sachverhalt nur zwischen zwei am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmern streitig, so ist für die Feststellung das Finanzamt des Leistenden zuständig. Ist der Leistungsempfänger Steuerschuldner, so ist das FINANZAMT des Leistungsempfängers zuständig.

Das Feststellungsverfahren bietet den Vorteil, dass für sämtliche an dem Leistungsaustausch Beteiligte Rechtssicherheit hinsichtlich der umsatzsteuerrechtlichen Beurteilung entsteht und eine korrespondierende Besteuerung beim Leistenden und Leistungsempfänger sichergestellt wird. Ein erhöhter administrativer Aufwand ist nicht zu befürchten, da das Feststellungsverfahren zum einen nur in den Fällen durchgeführt werden wird, in denen das Finanzamt oder die am Leistungsaustausch beteiligten Parteien eine unterschiedliche Rechtsauffassung vertreten oder aufgrund

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unterschiedlicher Rechtsprechung bzw. einer von dieser abweichenden Auffassung der Finanzverwaltung eine unterschiedliche Besteuerung zu befürchten ist. Ein vorgelagertes Feststellungsverfahren dürfte gegenüber einer streitigen Auseinandersetzung mit verschiedenen Finanzämtern einen geringeren Aufwand sowohl auf Seiten des Steuerpflichtigen als auch auf Seiten der Finanzbehörden erfordern.

3. Änderungsvorschrift (§ 174a E-AO) Den Kern des Reformvorschlags bildet eine Änderungsvorschrift nach dem Vorbild des § 174 AO. Die geltende Vorschrift des § 174 AO enthält Regelungen für Fälle widerstreitender Steuerfestsetzungen. In Fällen inkongruenter Umsatzsteuerfestsetzungen greifen die Tatbestände jedoch häufig nicht, da einzelne Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt sind, obgleich widerstreitende, die Neutralität der Umsatzsteuer verletzende, Steuerfestsetzungen vorliegen. Eine Ausdehnung des Regelungsbereichs dieser Vorschrift erscheint geeignet, diese Regelungslücke zu schließen. § 174 Abs. (neu) Widerstreitende Steuerfestsetzungen Führt eine andere rechtliche Beurteilung eines Sachverhalts gegenüber derjenigen bei erstmaliger Steuerfestsetzung zu einer Änderung einer Steuerfestsetzung (z.B. nach § 164 Abs. 2 AO, § 172 AO, § 173 AO) und führt diese andere rechtliche Beurteilung des Sachverhalts bei dem einen an dem Umsatz Beteiligten zu einer anderen rechtlichen Beurteilung als bei dem anderen an dem Umsatz Beteiligten, so ist auch die Steuerfestsetzung bei dem anderen an dem Umsatz Beteiligten zu ändern. Die beiden für die Steuerfestsetzung bei den Beteiligten zuständigen Finanzbehörden haben über die rechtliche Beurteilung des Sachverhalts Einvernehmen herzustellen. Für den Fall, dass Einvernehmen nicht hergestellt werden kann, ist dies festzustellen. In diesem Fall entscheidet das Finanzgericht.

Durch eine derartige Änderungsvorschrift wird eine korrespondierende Besteuerung beim Leistenden und Leistungsempfänger sichergestellt und widerstreitende Steuerfestsetzungen vermieden. Zudem wird die Notwendigkeit, parallele Verfahren zu Sicherstellung einer korrespondierenden Steuerfestsetzung zu führen, beseitigt. Ein erhöhter administrativer Aufwand ist nicht zu befürchten, da eine einmalige, zeitnahe und abschließende Prüfung bei beiden Beteiligten im Ergebnis einen geringeren Aufwand erfordert als parallele Verfahren bei den unterschiedlichen Beteiligten. Durch die gleichzeitige Beurteilung eines Sachverhalts für beide Beteiligte ist zudem sichergestellt, dass die zuständigen Finanzbehörden vom selben Sachverhalt ausgehen.

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4. Beteiligung Beiladung/Hinzuziehung Eine kongruente Besteuerung erfordert, dass ein Sachverhalt für alle Beteiligten einheitlich beurteilt wird und dass eine Entscheidung Bindungswirkung auch für den Steuerpflichtigen entfaltet, der das Verfahren nicht selbst führt. Verfahrensrechtlich wird eine Erstreckung der Bindungswirkung durch Hinzuziehung bzw. Beiladung sichergestellt. Die entsprechenden Vorschriften des § 360 AO und des § 60 FGO könnten dahin gehend geändert werden, dass von Amts wegen oder auf Antrag der an dem Umsatz Beteiligten der andere Unternehmer zum Verwaltungsverfahren hinzugezogen bzw. zum Finanzgerichtsverfahren beigeladen wird. Auch die Möglichkeit der Hinzuziehung bzw. Beiladung von Finanzbehörden erscheint sachgerecht, so dass Einvernehmen im Sinne kongruenter Steuerfestsetzungen bereits bei der erstmaligen Festsetzung und nicht erst im Änderungsverfahren angestrebt wird. Dies ist in einem Massenverfahren, wie der Umsatzsteuerfestsetzung, selbstredend nur in Ausnahmefällen sinnvoll. In Verfahren, in denen die Behörde nicht lediglich den Erklärungen des Steuerpflichtigen folgt, sondern bestimmte Sachverhalte bereits im Veranlagungsverfahren oder einer zeitnahen Umsatzsteuersonderprüfung im Detail prüft, bietet es sich jedoch an, diese Prüfung auf für die Steuerfestsetzung auch beim anderen an der Transaktion Beteiligten nutzbar zu machen und durch eine förmliche Beteiligung eine kongruente Besteuerung sicherzustellen.

5. Verjährung Gleichzeitig mit den vorgenannten Änderungen müssten die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung in den §§ 169 ff. AO ergänzt werden, damit die Festsetzungsverjährung einer geänderten Steuerfestsetzung nicht entgegensteht.

6. Keine Verzinsung ohne Liquiditätsvor- bzw. -nachteil Reformbedarf besteht auch hinsichtlich der Verzinsung vor Umsatzsteuernachforderungen, wenn fehlerhafte Umsatzsteuerfestsetzungen keinen Liquiditätsvorteil beim Steuerpflichtigen und keinen Liquiditätsnachteil beim Fiskus bewirkt haben.

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Die Vollverzinsung soll den Liquiditätsvorteil ausgleichen, den derjenige hat, der Steuern spät zahlt bzw. zurückzahlt. Wird Umsatzsteuer zu spät bezahlt, ist sie, wie die Ertragsteuern, grundsätzlich zu verzinsen. Wird Umsatzsteuer nicht bezahlt und Vorsteuer nicht abgezogen, weil die Beteiligten irrtümlich und korrespondierend von einem nicht steuerbaren Vorgang ausgehen, so entsteht bei den beteiligten Unternehmern kein Liquiditätsvorteil und beim Fiskus kein Liquiditätsnachteil. Eine rückwirkende Steuerfestsetzung zzgl. Zinsen bei gleichzeitiger Versagung des Vorsteuerabzugs bis zur Besitzerlangung einer Rechnung wird dem Neutralitätsgebot nicht gerecht. Wenn dem Fiskus saldiert eine Steuer in Höhe von 0 t zusteht und Steuer in Höhe von 0 t festgesetzt wurde, besteht weder im Fall der irrtümlichen Annahme eines nichtsteuerbaren Vorgangs mit der Folge der Nichtbesteuerung noch im Fall der irrtümlichen Annahme eines steuerpflichtigen Vorgangs bei gleichzeitigem Vorsteuerabzug eine Rechtfertigung für die Erhebung von Zinsen. Weder die korrespondierende zutreffende Steuerfestsetzung noch die korrespondierende fehlerhafte Steuerfestsetzung führen zu einem Liquiditätsvor- bzw. -nachteil, so dass für diese Fälle eine Verzinsung ausscheiden sollte. Zinsregelungen als steuerliche Nebenleistung bedürfen zur Wahrung der Belastungsgleichheit eines über den Zweck der Einnahmeerzielung hinausgehenden, besonderen sachlichen Rechtfertigungsgrunds.3 Das Ziel der Vollverzinsung, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden, ist nach Ansicht des BVerfG legitim.4 Der Verzinsung der Steuernachforderungen liegt dabei die Annahme zugrunde, dass Steuerschuldner, deren Steuer erst spät festgesetzt wird, einen fiktiven Zinsvorteil haben. Zweck der Vollverzinsung im Nachzahlungsfall ist damit die Abschöpfung des Zinsvorteils der Steuerpflichtigen.5 Ausdrücklich stellt das BVerfG klar, dass Nachzahlungszinsen – anders als etwa der Verspätungszuschlag – weder eine Sanktion noch ein Druckmittel, sondern eine Entschädigung für die Kapitalnutzung sind.6

3 4 5 6

BVerfG v. 8.7.2021 – 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, DStR 2021, 1934 Rz. 113. BVerfG v. 8.7.2021 – 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, DStR 2021, 1934 Rz. 123. BVerfG v. 8.7.2021 – 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, DStR 2021, 1934 Rz. 125. BVerfG v. 8.7.2021 – 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, DStR 2021, 1934 Rz. 126.

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In Fällen einer sog. Doppelten-Null-Situation entsteht kein Liquiditätsvor- bzw. Nachteil. Gehen die Beteiligten irrtümlich vom Vorliegen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen aus, stellt der Leistende keine Steuer in Rechnung, der Leistungsempfänger bezahlt keine Steuer und zieht keine Vorsteuer ab. Der Steuersaldo beträgt null. Wird dieser Fehler nach Jahren entdeckt, wird der Leistende die Steuer gegenüber dem Finanzamt erklären und eine berichtigte Rechnung mit Steuerausweis erteilen. Der Leistungsempfänger wird ein zusätzliches Entgelt in Höhe des Steuerbetrags entrichten und diesen in der berichtigten Rechnung ausgewiesenen Betrag gegenüber seinem Finanzamt als Vorsteuer geltend machen. Häufig wird bei solchen Konstellationen ein beim Leistungsempfänger entstehender Anspruch gegenüber dem Finanzamt zahlungshalber an das Finanzamt des Leistenden zur Begleichung der Steuerschuld abgetreten. Der Steuersaldo beträgt ebenfalls null. Die an dem Umsatz Beteiligten hatten durch die fehlerhafte Besteuerung keinen Liquiditätsvorteil, der Fiskus keinen Liquiditätsnachteil. Eine Zinsfestsetzung gegenüber dem Leistenden kann den gesetzgeberischen Zweck einer Liquiditätsabschöpfung nicht erreichen, da ein derartiger Vorteil nicht entstanden ist. Wenn aber diese Vorteilsabschöpfung Legitimitätsgrund für eine Zinsfestsetzung ist und diese keinen Sanktionscharakter haben soll, so ist die Erhebung von Zinsen in derartigen Fällen illegitim und stellt sich im Ergebnis als ungerechtfertigte Bereicherung des Fiskus dar. Es erscheint daher sachgerecht und vor dem Hintergrund der Entscheidung der Zinsentscheidung des BVerfG geboten, § 233a AO dahin gehend zu ändern, dass Zinsen in einer Doppelten-Null-Situation nicht festgesetzt werden.

IV. Reformvorschläge auf EU-Ebene 1. Ansätze Auch bei grenzüberschreitenden Transaktionen entstehen Besteuerungssituationen, die dem Neutralitätsprinzip widersprechen. So können beispielsweise beide beteiligte Staaten das Besteuerungsrecht für sich reklamieren, indem sie die einschlägige Ortsbestimmungsvorschrift jeweils in einer Weise auslegen, dass der Ort der Leistung aus ihrer Sicht im Inland liegt.

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Ursache hierfür kann zum einen eine Diskrepanz bei Umsetzung einer Richtlinienvorschrift bzw. bei der Interpretation einer harmonisierten Regelung sein. Zum anderen können die zuständigen Behörden bei der Beurteilung eines konkreten Sachverhalts zu unterschiedlichen Wertungen und damit zu einer im Ergebnis inkongruenten Besteuerung kommen. Ansätze für Konfliktlösungsmechanismen existieren auf EU-Ebene bereits in Gestalt eines Verständigungsverfahrens und eines Pilotverfahrens zu Cross-Border-Rulings. Beide könnten eine Grundlage für Konfliktlösungsmechanismen zur Vermeidung inkongruenter Besteuerung bei grenzüberschreitenden Transaktionen bilden.

2. Verständigungsverfahren Der Mehrwertsteuerausschuss wurde nach Art. 398 Mehrwertsteuerrichtlinie eingerichtet, um die koordinierte Anwendung der Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie zu fördern. Allerdings handelt es sich dabei um einen ausschließlich beratenden Ausschuss. Er hat keine Rechtsbefugnisse und kann daher keine rechtsverbindlichen Entscheidungen treffen. Er kann jedoch Hinweise zur kongruenten Anwendung der Richtlinie geben.7 Die EU-Kommission hat am 18.12.2020 einen Vorschlag zur Änderung der MwStSystRL vorgelegt, mit der der EU-Kommission Durchführungsbefugnisse zur Definition der Bedeutung bestimmter in der MwStSystRL verwendeter Begriffe übertragen werden sollen.8 Nach dem neugefassten Art. 397 MwStSystRL soll der Rat auf Vorschlag der EU-Kommission Maßnahmen, die zur Durchführung zahlreicher Bestimmungen der MwStSystRL erforderlich sind, beschließen können. Nach dem neuen Art. 397a MwStSystRL soll die EU-Kommission durch Durchführungsrechtsakte die Bedeutung zahlreicher in der MwStSystRL verwendeter

7 https://taxation-customs.ec.europa.eu/vat-committee.de. 8 „Drittes Corona-Steuerhilfegesetz mit Verlängerung der St …/3.3 Richtlinienvorschlag zur Übertragung von Durchführungsbefugnissen an die EU-Kommission zur Definition von Begrifflichkeiten der MwStSystRL“: https://www.hau fe.de/finance/haufe-finance-office-premium/drittes-corona-steuerhilfegesetzmit-verlaengerung-der-st-33-richtlinienvorschlag-zur-uebertragung-von-durch fuehrungsbefugnissen-an-die-eu-kommission-zur-definition-von-begrifflichkei ten-der-mwstsystrl_idesk_PI20354_HI14356719.html.

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Umsatzsteuer – Grünwald

Begriffe definieren können. Dabei soll die EU-Kommission gemäß dem neuen Art. 398a MwStSystRL von einem Ausschuss unterstützt werden.

3. Cross-Border-Ruling Während ein Verständigungsverfahren durch norminterpretierende Maßnahmen die Entstehung von Konflikten vermeiden will, dient das CrossBorder-Ruling der Lösung von Besteuerungskonflikten in konkreten Einzelfällen. Im Rahmen des EU-MwSt.-Forums erklärten sich mehrere Mitgliedstaaten bereit, an diesem Projekt teilzunehmen. Dieser Modellversuch, an dem sich Deutschland bedauerlicherweise nicht beteiligt hat, erlaubt Steuerpflichtigen, vorab eine amtliche Auskunft (Cross-Border-Ruling) über die mehrwertsteuerliche Behandlung von komplexen grenzüberschreitenden Transaktionen zu erhalten (Vorbescheid). Steuerpflichtige, die grenzüberschreitende Transaktionen in zwei oder mehreren dieser teilnehmenden Mitgliedstaaten beabsichtigen, können diesbezüglich einen solchen Vorbescheid beantragen. Konsultationen zwischen den zuständigen Behörden der betroffenen Mitgliedstaaten erfolgen nur auf ausdrückliches Verlangen des Steuerpflichtigen. Durch eine Konsultation wird zwar nicht gewährleistet, dass ein von den betroffenen Mitgliedstaaten vereinbarter Vorbescheid erteilt wird, ein solcher wird jedoch durch dieses Verfahren ermöglicht. Die EU-Kommission hat eine Liste der im Rahmen des Pilotprojekts getroffenen Cross-Border-Rulings veröffentlicht.9 Diese zeigen anschaulich Streitvermeidungsmaßnahmen, die in erster Linie im Interesse der beteiligten Unternehmer an einer Konfliktvermeidung, aber auch im Interesse der beteiligten Steuerbehörden an einer richtlinienkonformen Besteuerung eine kongruente Besteuerung empfehlen.

V. Fazit Das geltende Verfahrensrecht trägt dem Erfordernis einer kongruenten Umsatzbesteuerung beim Leistenden und beim Leistungsempfänger nicht hinreichend Rechnung. Dadurch kommt es zu bestandskräftigen

9 https://taxation-customs.eceuropa.eu/system/files/2019-10/cross-border-rulings .pdf.

387

Umsatzsteuer – Grünwald

Steuerfestsetzungen, die das Neutralitätsprinzip des harmonisierten europäischen Mehrwertsteuersystems verletzen. Durch eine Ergänzung vorhandener Regelungen mit dem Ziel einer kongruenten Umsatzbesteuerung könnte sichergestellt werden, dass die materiell-rechtlich richtige Steuer geändert festgesetzt werden kann.

388

Erfahrungen mit bi- und multilateralen Verrechnungspreisverfahren Prof. Dr. Stephan Rasch Rechtsanwalt, München Honorarprofessor Universität Augsburg

I. Einleitung II. Ausgangssituation 1. Betroffenheitsanalyse aus Sicht der Unternehmen und der öffentlichen Hand 2. Anzahl und Dauer der Verfahren III. Erfahrungen 1. Rahmen der OECD 2. Erfahrungen mit den bi- und multilateralen Verfahren in der Praxis a) Streitbeilegung im „Kreislauf“ der Streitbeilegung b) Advance Pricing Agreements in der Praxis c) Probleme bei der Mitwirkung und Verfahrenseröffnung sowie -durchführung aa) Begründung des Anspruchs auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens bb) Verletzung von Mitwirkungspflichten (1) Ermessensentscheidung und Schutzstellung des Steuerpflichtigen

(2) Arg. ex Schiedskonvention d) Stellung der Steuerpflichtigen in den Verständigungsverfahren e) Zinsen als „Verhandlungsmasse“ aa) Sichtweise der EU und der OECD bb) Nationale Rechtsprechung cc) Höhe der Zinsen f) Verhältnis zu anderen Streitbeilegungsmechanismen aa) Zeitliche Anwendbarkeit bb) Konkurrenzverhältnis cc) Auswirkung der Nichtanwendbarkeit der Streitbeilegungsrichtlinie auf Verständigungsverfahren IV. Reformansätze 1. Effektuierung des Rechtsschutzes 2. Einmalige Reduktion des Bestands der Verfahren 3. Etablierung eines Internationalen Gerichtshofs

I. Einleitung Der materiell-rechtlich vordergründig schlicht gehaltene Fremdvergleichsgrundsatz bringt in der Verrechnungspreisbestimmung erhebliche Probleme mit sich. Die Komplexität in der Anwendung von Verrech-

389

Verrechnungspreisverfahren – Rasch

nungspreismethoden als Operationalisierung des Fremdvergleichs für unterschiedliche Transaktionstypen, für materielle und immaterielle Vermögenswerte hat in den letzten zwei Dekaden erheblich zugenommen.1 Die Komplexität ergibt sich insbesondere daraus, dass mangels ausreichender Vergleichswerte in der Realität Bewertungsmethoden gefunden werden müssen, die eine gesetzmäßige und gleichmäßige Besteuerung gewährleisten können.2 Daneben steht die zunehmende Regelungsdichte der materiell-rechtlichen Vorgaben für die Verrechnungspreisermittlung durch den jeweiligen nationalen Gesetzgeber sowie durch regelmäßig überarbeitete Empfehlungen der OECD in der Form der OECD-Verrechnungspreisleitlinien (OECD-Leitlinien).3 Daraus wird sich eine erhöhte Anzahl von strittigen Fällen in Betriebsprüfungen sowie in anderen Verfahren wie den Verständigungsverfahren ergeben.4 Dies wird in Zukunft mit den angedachten Maßnahmen der OECD zu Pillar 1 und 25 zunehmend der Fall sein. Diese nicht zu vertiefenden Fragestellungen führen in der Praxis zu relevanten und vielfältigen verfahrensrechtlichen Problemen.

II. Ausgangssituation Es ist wohlfeil, anhand von Statistiken und der Anzahl der offenen Fälle der Verständigungsverfahren einseitig die Schuld zuzuweisen und die Ineffizienz in der Bearbeitung der Fälle zu beklagen. Das greift aber zu kurz, ist wiederholt vorgetragen und ausgearbeitet worden.6 Die Ausgangssituation soll anders beschrieben werden, und zwar durch eine Betroffenheitsanalyse aus Sicht der Unternehmen und der öffentlichen Hand. Da1 Vgl. etwa Kroppen/Rasch, IWB 2015, 828 m.z.N. 2 Vgl. Rasch/Mank in Kroppen/Rasch, Handbuch Internationale Verrechnungspreise, OECD-Kap. IV, Anm. 1. Hummel/Knebel/Born, IStR 2014, 832; Piltz, IStR 2015, 529; Benz/Eilers, IStR-Beih. 2016, 1; Greil/Rasch, IStR 2016, 686. 3 OECD (2022), OECD-Verrechnungspreisleitlinien für multinationale Unternehmen und Steuerverwaltungen 2022, OECD Publishing, Paris, https://doi. org/10.1787/148e4b28-de. 4 Vgl. Hummel/Knebel/Born, IStR 2014, 832; Piltz, IStR 2015, 529; Benz/Eilers, IStR-Beih. 2016, 1; Greil/Rasch, IStR 2016, 686. 5 OECD (2020), Statement by the OECD/G20 Inclusive Framework on BEPS on the Two-Pillar Approach to Address the Tax Challenges Arising from the Digitalisation of the Economy – January 2020, OECD/G20 Inclusive Framework on BEPS, OECD, Paris. www.oecd.org/tax/beps/statement-by-the-oecd-g20-inclu sive-framework-on-beps-january-2020.pdf. 6 Vgl. etwa Flüchter in Schönfeld/Ditz, Doppelbesteuerungsabkommen, 2. Aufl. 2019, Art. 25 Rz. 31; Rasch/Mank, ISR 2019, 182 (184).

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Verrechnungspreisverfahren – Rasch

bei bleibt Kritik nicht aus, aber anstatt sich auf die überschaubare Aussagekraft von Fallzahlen zu konzentrieren, sollte der Blick vielmehr auf die Möglichkeiten der statistischen Analyse gelenkt werden. Diese ist heute nicht möglich, weil Informationen fehlen, kann aber eine gewisse Richtung vorgeben. Diese Untersuchung beschäftigt sich mit den bi- und multilateralen Verrechnungspreisverfahren. Das ist kein technischer Begriff, sondern ist m.E. als Sammelbezeichnung für die Verständigungsverfahren wie für die Vorabverständigungsverfahren (§ 89a AO7) genauso wie für andere Verfahren der Streitbeilegung bzw. -vermeidung wie beispielsweise die unter dem Oberbegriff der gemeinsamen koordinierten Außenprüfungen zu fassenden „joint audits“ zu verstehen.

1. Betroffenheitsanalyse aus Sicht der Unternehmen und der öffentlichen Hand Die Ausgangssituation und damit die Wichtigkeit der Verrechnungspreisverfahren bestimmt sich m.E. durch drei wesentliche Parameter: Kapitalbindung, Anzahl und Dauer der Verfahren. Zunächst soll die betragsmäßige Auswirkung der Anpassungen im Verrechnungspreisbereich betrachtet werden. Anders formuliert geht es um die Frage, was die „Kapitalbindung“ des Staates und der Unternehmen ist. Für die Unternehmen bedeutet eine Doppelbesteuerung, um deren Beseitigung es in den Verfahren geht, möglicherweise jahrelange Rechtsunsicherheit. Je nach Höhe des Betrags kann die Auswirkung signifikant sein. Für den Staat bedeuten langlaufende Verfahren Unklarheit darüber, in welcher Höhe Gegenberichtigungen erforderlich sind. Der Staat kann die daraus resultierende Unsicherheit und eine in der Zukunft stehende Anpassung des Besteuerungssubstrats etwa nach einem Verständigungsverfahren tragen. Auch Unternehmen können Veränderungen im Zweifel tragen, brauchen aber gleichwohl Rechtssicherheit über die Belastungen. Für Unternehmen sollte sich nach Beseitigung der Doppelbesteuerung aus Konzernsicht kein Unterschied ergeben, in der Praxis macht es aufgrund unterschiedlicher Steuersätze ggf. schon einen Unterschied. Viel wichtiger ist aber die möglicherweise langandauernde Unsicherheit, ob der gewählte Verrechnungspreisansatz vertretbar ist. Beachtet man, welche steuerlichen Anpassungsbeträge Grundlage der zwischenstaatlichen Verständigungsverfahren sind, ergeben sich einige Anhaltspunkte: 7 Seit dem Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetzes (AbzStEntModG) v. 8.6.2021, BGBl. I 2021, 1259.

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Verrechnungspreisverfahren – Rasch

Beispielhaft kann man einige Hinweise der Literatur oder externen Untersuchungen entnehmen. Von der deutschen Finanzverwaltung werden in dieser Hinsicht keine Daten oder Hinweise veröffentlicht. Nach Angaben des (damaligen) parlamentarischen Staatssekretärs waren 2010 Streitwerte aus Verrechnungspreisanpassungen im Einzelfall bis 730.000.000 t zu verzeichnen.8 Eine interne Untersuchung von PricewaterhouseCoopers der anhängigen Fälle im Zeitraum Januar bis Juni 2022 zeigte, dass die Verrechnungspreisfälle in einer Bandbreite von etwa 700.000 t bis 350.000.000 t liegen. Vereinzelt gab es in der Vergangenheit aber auch multilaterale Anpassungen bezogen auf mehrere Länder, bei denen das Volumen bei über 1 Mrd. t lag. Eine Studie9 im Auftrag der EU-Kommission hat das bestätigt. Die Studie zeigt, dass die überwiegende Mehrzahl der Verrechnungspreisfälle ein Anpassungsvolumen über 1 Mio. t haben. Der weit überwiegende Teil der Verrechnungspreisfälle liegt in der Bandbreite zwischen 1 Mio. t und 10 Mio. t. Ein nicht unerheblicher Anteil liegt sogar noch deutlich darüber. Anzahl der Fälle (%)

Anpassungsvolumen (Euro) in der Bandbreite

11 %

100.000

1.000.000

67 %

1.000.000

10.000.000

18,5 %

10.000.000

100.000.000

3,5 %

100.000.000

1.000.000.000

8 Vgl. Flüchter, IStR 2012, 694 (700); Flüchter in Schönfeld/Ditz, DBA2, Art. 25 Rz. 31. Die Angabe der Höhe nach stammt vom damaligen parlamentarischen Staatssekretär Koschyk, abgedruckt im Beitrag von Ramthun in der Wirtschaftswoche v. 10.4.2010. Vgl. auch Greil/Rasch, IFA Cahiers de droit fiscal international, vol. 101A, 2016, S. 263 (275). 9 Directorate-General for Taxation and Customs Union, Summary Report of the Responses received Commission’s consultation on double taxation conventions and the internal market: factual examples of double taxation cases; 5 January 2012 TAXUD D1 D(2012); abrufbar unter: https://taxation-customs.ec.eu ropa.eu/system/files/2016-09/summary_report_3.pdf.

392

Verrechnungspreisverfahren – Rasch

2. Anzahl und Dauer der Verfahren Die Anzahl der Fälle ergibt sich aus den öffentlichen Statistiken, die von der OECD10 und der EU11 veröffentlicht werden. Darin sind alle offenen Fälle benannt, also auch Nicht-Verrechnungspreisfälle. Die Zählweise hat sich seit einigen Jahren geändert.12 1500

1422

1200 995

983

940

900

873 652

642

567

600

430

361

300

N ied er lan de

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Be lg Gr ien oß br ita nn ien

In di en

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0

Abbildung: Anzahl der Fälle im Jahr 2020, Datenstand 202213

Daraus lässt sich aber noch kein eindeutiger Rückschluss auf die Dauer der Verfahren ableiten. Betrachtet man den Zeitraum, den ein Verrechnungspreisfall im Durchschnitt in Anspruch nimmt, ist dieser mit 32,3 Monaten deutlich länger als für andere Fälle, die im Durchschnitt 20,7 Monate zur Erledigung brauchen.14 Die Zeiträume können im Einzelfall unzweifelhaft noch deutlich länger sein. Häufig vergehen mehrere Monate bis Jahre, bis der Antrag final angenommen wird und zur Verhandlung kommt. Auch hier scheint eine einseitige Schuldzuweisung 10 Vgl. die Nachweise unter: https://www.oecd.org/tax/dispute/mutual-agree ment-procedure-statistics.htm. 11 Vgl. die Nachweise unter: https://taxation-customs.ec.europa.eu/taxation-1/ statistics-apas-and-maps-eu_en. 12 Ausführlich zu den Statistiken und der geänderten Zählweise der Fälle Flüchter in Schönfeld/Ditz, DBA2, Art. 25 Rz. 31. 13 https://www.oecd.org/tax/dispute/mutual-agreement-procedure-statistics. htm. 14 Vgl. 2021 Werte: https://www.oecd.org/tax/dispute/mutual-agreement-proce dure-statistics.htm.

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Verrechnungspreisverfahren – Rasch

in vielen Fällen nicht hilfreich, da die Erfahrungen zeigen, dass Anträge nicht vollständig eingereicht werden. Gleichermaßen fehlen aber auch Ressourcen auf Seiten der Finanzverwaltung, um Anträge in allen Fällen zügig bearbeiten zu können. Flüchter stellt zu Recht heraus, dass in der Statistik gleichermaßen Fälle eingehen, die sich mit einer Quellensteuer auf Kleinstbeträge beschäftigen („200-t-Fälle“) und genauso als „ein“ Fall zählen, weswegen die bloße Fallzahlenbetrachtung in der Tat allein wenig zielführend ist.15 Außer Acht zu lassen sind die Fallzahlen – insbesondere im Vergleich zu den offenen Fällen anderer Industrieländer – gleichwohl nicht. Die Bedeutung der hier interessierenden Verrechnungspreis-Fälle ergibt sich regelmäßig aus den bereits skizzierten Anpassungsvolumina. Eine weitere Indikation ergibt sich aus einer Untersuchung zur Frage, ob internationale Verständigungsverfahren nach einer inländischen Betriebsprüfung tatsächlich beantragt werden. Es scheint, dass die Mehrzahl der Unternehmen eine resultierende Einkommenserhöhung und damit verbunden eine Doppelbesteuerung als Ergebnis der Betriebsprüfung hinnehmen. So hat sich in einer Umfrage gezeigt, dass Verständigungsverfahren nur in weniger als 15 % nach einer Betriebsprüfung der Fälle durchgeführt werden.16 Damit ist als Zwischenfazit festzuhalten: 1. Mit der tatsächlichen Anzahl an Verständigungsverfahren sehen wir nur die „Spitze des Eisbergs“. Die Anzahl der Fälle im Verrechnungspreisbereich sind Indikator für streitbefangene Entscheidungen in Betriebsprüfungen. Die Kapitalbindung und Rechtsunsicherheit ist jedoch für Unternehmen wie Finanzverwaltung nicht hinnehmbar. 2. Die Unternehmen, die verzichten, nehmen eine rechtswidrige Besteuerung in Kauf. Denn eine Besteuerung, die zu Doppelbesteuerung führt, steht nicht im Einklang mit dem Fremdvergleich. Und im bilateralen Verhältnis ist die Besteuerung damit m.E. rechtswidrig. 3. Es bedarf neuer Ansätze für die Streitvermeidung und die Streitbeilegung.

15 Flüchter, IStR 2012, 694 (700), Flüchter in Schönfeld/Ditz, DBA2, Art. 25 Rz. 31. 16 PricewaterhouseCoopers, Studie zur Praxis in der Betriebsprüfung in Deutschland, September 2019.

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Verrechnungspreisverfahren – Rasch

III. Erfahrungen 1. Rahmen der OECD Die Forderung nach effizienten Maßnahmen zur Streitbeseitigung ist nicht neu17 und im Rahmen der von der OECD diskutierten Maßnahmen für die digitalen Geschäftsmodelle18 nach „strong dispute resolution mechanisms“ und unter dem Stichwort „tax certainty“ im Rahmen der Pillar 1/2 Initiative und Entwicklung der entsprechenden Gesetzgebung auf Europäischer und nationaler Ebene erneuert worden. Es ist davon auszugehen19, dass mit den OECD/G20-Empfehlungen der BEPSInitiative und den sich daraus ergebenden Veränderungen im regulatorischen Umfeld neue Streitfälle aufkommen werden. Allein aufgrund der materiell-rechtlich komplexen Materie der immateriellen Vermögenswerte wird auch in Zukunft die Anzahl der Fälle, die in Verständigungsverfahren zu lösen sein werden, nochmals deutlich zunehmen. Im Rahmen der BEPS-Initiative wurden unter Aktionspunkt 14 Überlegungen zur Verbesserung der Effizienz von Streitbeilegungsmechanismen diskutiert und im Rahmen der Peer Review regelmäßig überprüft.20 Hier trifft allerdings der Wunsch auf die Wirklichkeit. Vergleicht man einige der Grundaussagen des Aktionspunkts 14 mit der Praxis, zeigt sich, dass die OECD zwar die richtigen Vorschläge macht, diese aber nicht ohne weiteres umsetzbar sind:21 –

So sollen nach Auffassung der OECD-Fälle innerhalb von 24 Monaten abgeschlossen sein. Wie bereits herausgestellt, liegt die Bearbeitungszeit bei den hier interessierenden Fällen mit durchschnittlich

17 Vgl. ausführlich Greil/Rasch, IStR 2016, 686 ff.; Greil/Rasch, Cahiers de droit fiscal international, vol. 101 a, Dispute resolution procedures in international tax matters, Germany, S. 263 ff. 18 Addressing the tax challenges of the digitalisation of the economy, Paris, 13.2.2019, abrufbar unter: http://www.oecd.org/tax/beps/public-consultationdocument-addressing-the-tax-challenges-of-the-digitalisation-of-the-economy. pdf. 19 Vgl. für eine nicht repräsentative Umfrage Greil/Rasch, Cahiers de droit fiscal international, vol. 101 a, Dispute resolution procedures in international tax matters, Germany, S. 263 ff. 20 OECD (2018), Verbesserung der Effizienz von Streitbeilegungsmechanismen, Aktionspunkt 14 – Abschlussbericht 2015, OECD/G20 Projekt Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/ 10.1787/9789264190122-de. 21 Vgl. Rasch/Mank, ISR 2019, 182 (183 f.).

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Verrechnungspreisverfahren – Rasch

32 Monaten deutlich darüber. Betrachtet man die OECD-Statistik,22 so ergibt sich für vor dem 1.1.2016 eröffnete Fälle eine durchschnittliche Bearbeitungszeit23 von 38,78 Monaten.24 Das bedeutet keineswegs, dass der Vorschlag der OECD nicht sinnvoll wäre. Hierzu bedarf es aber restriktiver Vorgaben (dazu noch zu IV.1). –

Die Staaten sollen ihre Positionen in MAP-Fällen transparent machen. Das ist nur eine Hoffnung. Richtig ist, dass in vielen Fällen das BZSt den Steuerpflichtigen auf Anfrage informell unterrichtet. Von einer strukturierten Information über die Position kann aber keine Rede sein. Das ist auf der Basis der geltenden Rechtslage nachvollziehbar, aber keineswegs hilfreich.



Die Staaten sollen sicherstellen, dass die „Competent Authority“ Entscheidungen unabhängig von der Auffassung der Betriebsprüfung treffen kann. Dies entspricht im Status quo nicht der Realität. Die Betriebsprüfung hat allein durch ihre Beteiligung am Verfahren faktisch Einfluss auf die Entscheidungen. Allerdings ist auch zu hinterfragen, ob die OECD-Forderung sowohl praktisch umsetzbar als auch sinnvoll ist. Die zuständige Behörde ist für ihre Entscheidung auf die mit dem Sachverhalt vertraute Betriebsprüfung angewiesen.



Die Staaten sollen sicherstellen, dass die zuständigen Behörden ausreichende Ressourcen zur Verfügung haben. Es ist bekannt, dass die Staaten ihre Ressourcen ausbauen. Allerdings scheint das auch nicht so einfach zu sein, wie die Forderung klingen mag.25 Auch die Finanzverwaltung muss bei entsprechend knappem Angebot in Konkurrenz

22 Siehe http://www.oecd.org/tax/dispute/2017-MAP-Statistics-Germany.pdf. 23 Berechnungsmodus: vgl. http://www.oecd.org/tax/dispute/2017-MAP-Statis tics-Germany.pdf: „The average time taken to close MAP cases that started before 1 January 2016 was computed by applying the following rules: (i) start date: the date the German competent authority received a request or, where the request was filed in the other jurisdiction, the date the German competent authority was informed about the request, and (ii) end date: the end dates as defined in paragraphs 12 and 13 of the new common MAP Statistics Reporting Framework.“ 24 Vgl. zur Kritik an einer starren Zeitvorgabe, Greil/Rasch, IStR 2016, 686 (688 f.). 25 Vgl. auch den Bericht des Bundesrechnungshofs, Bericht nach § 88 Abs. 2 BHO an den Finanzausschuss des Deutschen Bundestages Defizite bei der Mitwirkung der Bundesbetriebsprüfung, Gz.: VIII 3 – 2020 – 0295 (Bericht/1) v. 17.3.2022, S. 10, 12. Der 2005 geplante Aufwuchs der Bundesprüfer um 500 Bundesprüfer konnte zeitlich nicht plangemäß umgesetzt werden.

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Verrechnungspreisverfahren – Rasch

mit den Unternehmen und Beratung sowie anderen Stellen des öffentlichen Dienstes treten.26

2. Erfahrungen mit den bi- und multilateralen Verfahren in der Praxis a) Streitbeilegung im „Kreislauf“ der Streitbeilegung Die Erfahrungen und damit einhergehend das Verbesserungspotential sollte sich an dem Gedanken orientieren, dass das Thema Streitbeilegung als ein „Kreislauf“ zu verstehen ist.27 Dieser Kreislauf umfasst alle Stadien der Außenprüfung bis zur Durchführung und zum Abschluss eines möglichen Verständigungsverfahrens. Die Streitbeilegung beginnt in diesem Sinne jedoch nicht erst mit dem Start der Außenprüfung, sondern bereits im Vorhinein als Streitvermeidung.28 Vor Beginn der Betriebsprüfung bedarf es insbesondere der Erfüllung der Mitwirkung des Steuerpflichtigen. Die kooperative Ausrichtung der Zusammenarbeit zwischen der Finanzverwaltung und dem Steuerpflichtigen ist m.E. nicht lediglich eine optionale Möglichkeit der Zusammenarbeit. Die kooperative Ausrichtung ist in der richtig verstandenen Dichotomie des Untersuchungsgrundsatzes und der Mitwirkungsverpflichtung (allgemeine und besondere Mitwirkungsverpflichtungen in § 90 AO, für Verrechnungspreise insbesondere § 90 Abs. 2 bis 4 AO). Untersuchungsgrundsatz und Mitwirkungsverpflichtung wirken komplementär. Allerdings ist dieses Verständnis geprägt von einer balancierenden Betrachtung. Sofern der Steuerpflichtige seiner Mitwirkungsverpflichtung nachkommt, dann schließt das per se etwaige Schätzungen oder Strafzuschläge aus. Das steht in jüngerer Zeit wohl wieder in Frage.29

26 Vgl. Greil/Rasch, IStR 2016, 686 (689); im Hinblick auf die Ausstattung mit Personalressourcen Benz/Eilers, IStR-Beih 2016, 1 (14). 27 Vgl. Greil/Rasch, IFA Cahiers de droit fiscal international, vol. 101A, 2016, S. 263 ff. 28 Greil/Rasch, IStR 2016, 686 (688). 29 Melan, DStR 2021, 1394; Rasch, Erwiderung zu Melan, DStR 2021, 1739; Melan, Replik zu Rasch, DStR 2021, 1743; Rasch, Duplik zu Melan, DStR 2021, 1746.

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Verrechnungspreisverfahren – Rasch

b) Advance Pricing Agreements in der Praxis Bei einem Advance Pricing Agreement („APA“) handelt es sich nach der Definition der Tz. 4.134 OECD-Leitlinien um eine Vereinbarung zwischen Steuerpflichtigem und der betroffenen (Steuer-)Behörde, bei der insbesondere die maßgebenden Merkmale für die Bestimmung der Verrechnungspreise über einen bestimmten Zeitraum hinweg im Voraus festgestellt wird. Als maßgebende Merkmale werden beispielsweise die Methode, Vergleichswerte und deren entsprechende Anpassung und kritische Annahmen in Bezug auf künftige Ereignisse benannt. Die OECD betrachtet ein APA als Ergänzung der bestehenden Instrumentarien zur Festlegung zutreffender Verrechnungspreise. Bei einem APA handelt es sich um eine formelle Vereinbarung zwischen einem oder mehreren Steuerpflichtigen als Vertragspartner einerseits und den betroffenen Steuerbehörden andererseits. Das bilaterale Verfahren des APAs ist geeignet, Rechtssicherheit für alle Beteiligten sicherzustellen.30 Erfahrungen und Problembereiche sind aber in der konkreten Anwendung nicht auszublenden. In der Sache machen APA-Verfahren immer dann Sinn, wenn der zu regelnde Gegenstand eine gewisse Komplexität aufweist, so z.B. bei der Bewertung einer Funktionsverlagerung. Die Funktionsverlagerung kann nicht unerhebliche Liquiditätsfragestellungen hervorrufen. Umso wichtiger ist es, dafür im Vorhinein eine Lösung zu erreichen. Allerdings zeigen jüngere Erfahrungen, dass diese Fragestellung nicht zur Verhandlung angenommen werden soll. Vielmehr wird auf die Behandlung in Betriebsprüfungen verwiesen. In diesen Verfahren zeigt sich, dass es dabei regelmäßig zur Ablehnung bzw. frühzeitigen (erfolglosen) Beendigung des APA-Antrags kommt. Das ist deshalb misslich, weil der Steuerpflichtige für die Antragstellung umfassende Transparenz hergestellt hat. Die derzeitige Diskussion im Rahmen des § 89a AO, dass Antragsvoraussetzung ein „noch nicht verwirklichter Sachverhalt“ ist, ist m.E. eine unzulässige Verkürzung der Ausübung des Rechtswegs für den Steuerpflichtigen. Bei enger wörtlicher Auslegung würde das bedeuten, dass nur „neue“ Geschäftsvorfälle einem Vorabverständigungsverfahren zugänglich wären. Geschäftsbeziehungen mit nahestehenden Personen dürften aber oft bestehende Dauersachverhalte betreffen. In vielen Fällen werden Vorabverständigungsverfahren im Anschluss an eine Betriebsprüfung beantragt, um die dort gefundenen, einseitigen Kompromisse bilateral – auch im 30 Statt vieler Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 89a AO Rz. 1.

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Verrechnungspreisverfahren – Rasch

Interesse der lokalen Finanzverwaltung an einer gewissen Kontinuität – umzusetzen. Streng betrachtet wäre das – bezogen auf den Antragszeitpunkt – nicht möglich. Allerdings wird diese enge Auslegung durch die Materialien des Referentenentwurfs nicht bestätigt und sollte daher auch nicht greifen.31 Seer32 hebt zu Recht hervor, dass es ebenso wie bei der verbindlichen Zusage (§ 89 Abs. 2 AO) ausreichend sein muss, dass der zur Prüfung gestellte Sachverhalt einen Zukunftsbezug aufweist. Handelt es sich etwa um dauerhafte Geschäftsbeziehungen zwischen verbundenen Unternehmen (Sachverhalt mit Dauerwiederkehr), steht dem Abschluss einer Vorabverständigung nicht entgegen, wenn und soweit der Sachverhalt in einem oder mehreren Veranlagungszeiträumen bereits verwirklicht worden ist. Etwas anderes kann für die Funktionsverlagerung auch nicht gelten, da sich auch hier der Bezug zu vorhergehenden wie nachfolgenden Veranlagungszeiträumen ergibt. Es gibt aber derzeit auch eine Tendenz in der Praxis, APA-Anträge, die sich auf Länder beziehen, in denen eine vermeintlich aggressive Steuerplanung denkbar ist, ohne Bezug zum Sachverhalt abzulehnen. Und schließlich gibt es „normale“ Probleme. Es soll etwa ein APA für den Zeitraum 2020 bis 2025 abgeschlossen werden. Der Antrag kommt im Jahr 2020. Verhandlungen ziehen sich bis 2024 hin. Es stellt sich die Frage, was der Steuerpflichtige in den Jahren 2020 bis 2023 macht und ob er das neue Modell des APA-Antrags bereit anwenden kann. Hinzu kommt die Inkongruenz der Verfahrensprozesse. Ein APA-Verfahren beispielweise zwischen China und Deutschland sieht unterschiedliche Prozesse zur Zulassung des Verfahrens auf den unterschiedlichen Verwaltungsebenen in China vor, die den Prozess ohne weiteres in die 31 Die Begründung – sowohl im allgemeinen Teil und zu § 89a Abs. 1 Satz 1 AO – geht auf eine Limitierung nicht ein. Vielmehr wird Folgendes betont: „Deutschland schafft nunmehr eine eigenständige nationale Rechtsgrundlage für Vorabverständigungsverfahren, um zu verdeutlichen, dass der Wille besteht, Vorabverständigungsverfahren einzuleiten und dass der Rechtssicherheit ein sehr hoher Stellenwert beigemessen wird. Damit wird für die bisherige Steuerverwaltungspraxis eine eindeutige Regelung geschaffen, ein unkompliziertes Antragsverfahren gewährleistet und dem Ausland signalisiert, dass der Streitvermeidung im grenzüberschreitenden Kontext ein sehr hoher Stellenwert beigemessen wird.“ (vgl. Referentenentwurf des Bundesministeriums der Finanzen Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Anti-Steuervermeidungsrichtlinie (ATAD-Umsetzungsgesetz – ATADUmsG v. 24.3.2020). 32 Seer in Tipke/Kruse, § 89a AO Rz. 7.

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Länge ziehen können – ohne dass der Steuerpflichtige oder die deutsche zuständige Behörde das beeinflussen können.

c) Probleme bei der Mitwirkung und Verfahrenseröffnung sowie -durchführung Die Mitwirkung des Steuerpflichtigen an dem Verständigungsverfahren betrifft eine der bedeutsamsten Fragen in der praktischen Anwendung, dreht sich aber gleichermaßen auch um die Frage der rechtlichen Möglichkeit des Zugangs zum Verfahren.

aa) Begründung des Anspruchs auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens Der betroffene Steuerpflichtige hat gem. Art. 25 Abs. 1 OECD-Musterkommentar das Recht, die Durchführung eines Einigungsverfahrens zu beantragen. Dieses Recht ist unbestritten. Tz. 26 letzter Satz des OECDMusterkommentars zu Art. 25 stellt dazu fest: „Some States may deny the taxpayer the ability to initiate the mutual agreement procedure under paragraph 1 of Article 25 in cases where the transactions to which the request relates are regarded as abusive. This issue is closely related to the issue of ‚improper use of the Convention‘ discussed in paragraph 9.1 and the following paragraphs of the Commentary on Article 1. In the absence of a special provision, there is no general rule denying perceived abusive situations going to the mutual agreement procedure, however. The simple fact that a charge of tax is made under an avoidance provision of domestic law should not be a reason to deny access to mutual agreement. However, where serious violations of domestic laws resulting in significant penalties are involved, some States may wish to deny access to the mutual agreement procedure. The circumstances in which a State would deny access to the mutual agreement procedure should be made clear in the Convention.“

Diese Wortfassung lässt aber noch nicht erkennen, ob dem Steuerpflichtigen ein Anspruch auf Einleitung eines derartigen Verfahrens zusteht. Dies wird aber von der OECD in Tz. 4.58 Satz 1 OECD-Leitlinien eindeutig bejaht. In Deutschland gingen Finanzverwaltung und BFH33 bisher davon aus, dass ein derartiger Anspruch nicht besteht, sondern die Einleitung eines solchen Verfahrens eine Ermessensentscheidung darstellt. Diese Auffassung kann nicht aufrechterhalten werden, weil sie

33 BFH v. 26.5.1982 – I R 16/78, BStBI. II 1982, 583.

400

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dem Verhältnis von Staatsbürger zum Staat und dem Wesen des Steuerrechts als Eingriffsrecht widerspricht.34 Der BFH hat sich in einem jüngeren Urteil mit dem Zugang zum Verständigungsverfahren beschäftigt. Dabei ergeben sich für die Praxis wichtige Hinweise. Dem Fall I R 82/1735 ging eine Entscheidung des FG Köln36 voraus. Im Rahmen einer Betriebsprüfung bei einer deutschen Gesellschaft wurden Verrechnungspreiskorrekturen für Geschäftsbeziehungen zu ihrer spanischen Schwestergesellschaft aufgrund überhöhter Zahlungen vorgenommen und die deutschen Einkünfte wurden entsprechend erhöht. Die Zahlungen wurden in Spanien der Besteuerung zugeführt. Eine Gegenkorrektur in Spanien erfolgte nicht, wodurch es zu einer Doppelbesteuerung kam. Zusätzlich wurde der Geschäftsführer und mittelbare Alleingesellschafter der spanischen Gesellschaft und zugleich mittelbare Alleingesellschafter der deutschen Gesellschaft im Zusammenhang mit diesen überhöhten Zahlungen wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung zu einer Geldbuße von 50.000 t verurteilt. Die spanische Gesellschaft stellte einen Antrag auf Durchführung eines Verständigungsverfahrens nach der EU-Schiedskonvention bei der zuständigen spanischen Behörde. Die deutsche Behörde lehnte jedoch die Durchführung des Verständigungsverfahrens mit Verweis auf den Strafbefehl gem. Art. 8 Abs. 1 EU-Schiedskonvention ab. Die daraufhin erhobene Klage wies das FG Köln als teilweise zulässig, aber unbegründet zurück. Statthafte Klageart sei die allgemeine Leistungsklage, da die Klage nicht auf den Erlass eines Verwaltungsakts, sondern auf eine andere Leistung, nämlich die Durchführung des Verständigungsverfahrens nach der EU-Schiedskonvention gerichtet sei. Dem hat sich der BFH angeschlossen: Der BFH hat entschieden, dass statthafte Klageart für die Durchführung eines Verständigungsverfahrens die (sonstige) Leistungsklage ist, da es sich bei der Durchführung des Verständigungsverfahrens um ein bloßes Tun und nicht um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 118 AO handelt. Die Durchführung eines Verständigungsverfahrens nach der EU-Schiedskonvention sei zwar grundsätzlich verpflichtend, wenn die Antragsvoraussetzungen erfüllt sind. Dies gelte jedoch nicht, so der BFH, wenn endgültig festgestellt ist, dass eines der beteiligten Unternehmen durch Handlungen, die eine Gewinnberichtigung zur Folge haben, einen empfindlich zu bestrafenden Verstoß gegen steuer34 Vgl. insgesamt Rasch, IWB 2020, 514 (516 ff.). 35 BFH, Urt. v. 25.9.2019 – I R 82/17, BStBl. II 2020, 229. 36 FG Köln, Urt. v. 18.1.2017 – 2 K 930/13, EFG 2017, 715.

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liche Vorschriften i.S.d. Art. 8 Abs. 1 der EU-Schiedskonvention begangen hat. Die Behörde könne dann nach pflichtgemäßem Ermessen über die Durchführung eines Verständigungsverfahrens entscheiden. Der BFH hat sich im Übrigen der Entscheidung des FG angeschlossen und entschieden, dass aufgrund des Einigungszwangs im Rahmen des Verständigungsverfahrens es diesem obligatorischen Charakter widersprechen würde, wenn die Durchführung des Verfahrens im Ermessen der Behörde stünde. Diese Feststellungen sind beachtenswert. In Deutschland geht die Finanzverwaltung37 davon aus, dass ein derartiger Anspruch nicht besteht, sondern die Einleitung eines solchen Verfahrens eine Ermessensentscheidung darstellt. Der BFH38 war an dieser Stelle m.E. bisher nicht ganz eindeutig. Im aktuellen Urteil bezieht sich der BFH auch auf dieses Urteil und geht von einem „dem Grunde nach“ subjektiv-öffentlichen Recht auf ermessenfehlerfreie Entscheidung auf Durchführung eines nicht obligatorischen Verständigungsverfahrens i.S.d. Art. 25 Abs. 1, 2 OECD-MA aus. Es ist unzweifelhaft zwischen dem verpflichtenden Verfahren nach EU-Schiedskonvention und dem nicht obligatorischen Verfahren nach DBA zu unterscheiden. Die Auffassung der Finanzverwaltung kann grundsätzlich nicht aufrechterhalten werden.39 Die bisherige Sichtweise steht – auch wenn ihnen keine rechtliche Bindung beizumessen ist – im Widerspruch zum deutlichen Wortlaut der Tz. 4.58 OECD-Leitlinien: „Paragraph 1 of Article 25 of the OECD Model Tax Convention gives taxpayers the right to submit a request to initiate a mutual agreement procedure. Although the taxpayer has the right to initiate the procedure, the taxpayer has no specific right to participate in the process.“

37 Die Einleitung eines solchen Verfahrens stellt vielmehr eine Ermessensentscheidung der Behörde dar. Das FinMin. Baden-Württemberg hat in einem Erlass (FinMin. Baden-Württemberg v. 31.7.1995 – S 1300/20, DStR 1995, 1499 f.) zur formellen Abwicklung von Verrechnungspreiskorrekturen Stellung genommen. Danach soll die Betriebsprüfungsbehörde die Beteiligten spätestens im Rahmen der Schlussbesprechung auf mögliche Nachteile hinweisen. Bei fehlender Mitwirkung kann die Einleitung eines Verständigungsverfahrens jedoch abgelehnt werden. Eine nähere Begründung, auf welcher Grundlage die Ablehnung erfolgen soll, fehlt allerdings. 38 BFH, Urt. v. 26.5.1982 – I R 16/78, BStBI. II 1982, 583; in diesem Zusammenhang ausführlich Gloria, Das steuerliche Verständigungsverfahren und das Recht auf diplomatischen Schutz, Diss. 1988. 39 Vgl. auch Haverkamp, ISR 2020, 208 (209).

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In der Literatur40 wird überwiegend angenommen, dass es im Ermessen der Finanzbehörde liegt, ob sie ein Verständigungsverfahren einleitet. Demzufolge hat der Steuerpflichtige auch nur einen Anspruch darauf, dass die Behörde ermessensfehlerfrei über den Antrag entscheidet. Diese Ansicht stützt sich insbesondere auf die Formulierung des Art. 25 Abs. 2 Satz 1 OECD-MA 2017, dass sich die zuständige Behörde bemühen wird, eine abkommenswidrige Besteuerung im Verständigungsverfahren zu beseitigen. Es ist zunächst festzustellen, dass sich ein etwaiges Ermessen jeweils nur aufgrund des Wortlauts des einschlägigen DBA ergeben kann. Soweit ein DBA dies nicht vorsieht, ist ein Ermessen bereits ausgeschlossen. Dies bestätigt nun auch der BFH im zuvor genannten Urteil I R 82/17: Liegen die Voraussetzungen vor, ist die Behörde verpflichtet, das Verfahren durchzuführen und bei der Beseitigung der Doppelbesteuerung mitzuwirken. Die Behörde ist aber in den Fällen des Art. 8 Abs. 1 EUSchiedskonvention nicht dazu verpflichtet, ein Verständigungsverfahren einzuleiten oder den Beratenden Ausschuss einzusetzen. Insoweit – und nach hier vertretenem Verständnis auch nur in diesem Fall – hat die Behörde nach pflichtgemäßem Ermessen über die Durchführung des Verständigungsverfahrens zu entscheiden.

bb) Verletzung von Mitwirkungspflichten Aufgrund entsprechender Erfahrungen in der Praxis und der Aussagen des BFH in dem Urteil ist auch eine weitergehende Fragestellung von Interesse. Fraglich ist, ob die Ablehnung des Verständigungsverfahrens von der zuständigen Behörde ermessensfehlerfrei allein auf die Tatsache gestützt werden kann, dass der Steuerpflichtige seine Mitwirkungspflichten verletzt hat. Betrachtet man das zitierte Urteil des BFH, scheint die Sachlage für verpflichtende Fälle klar. Aktuelle Fälle der Praxis zeigen jedoch ein anderes Bild. Es zeigt sich, dass wegen Mitwirkungspflichtverletzungen – nicht solcher nach Art. 8 EU-Schiedskonvention – das Verfahren abgelehnt werden soll. Dies wird mit der Ermessensausübung begründet. Daher ist – auch vor dem Hintergrund des BFH-Urteils – zu überlegen, ob diese fragliche Ablehnung überhaupt gerechtfertigt sein kann.

40 Vgl. nur Ismer/Piotrowski in Vogel/Lehner7, Art. 25 OECD-MA Rz. 90 m.w.N.; Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, Rz. 19.101 m.w.N.

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(1) Ermessensentscheidung und Schutzstellung des Steuerpflichtigen Allein der Umstand, dass der Steuerpflichtige (vermeintlich) seine Pflichten verletzt hat und anschließend seine Rechte wahrnehmen will, erscheint nicht ausreichend, einen Widerspruch in der Handlungsweise des Steuerpflichtigen zu bestimmen. Zuzugeben ist allerdings, dass die unterschiedliche Verhaltensausrichtung des Steuerpflichtigen problematisch ist. Ein tatsächlicher Widerspruch ist jedoch nicht zweifelsfrei festzustellen. In Anbetracht der Tatsache jedoch, dass die Rechtsausübung abweichend vom gesetzten Recht nur im Ausnahmefall zulässig sein soll, ist bei restriktiver Auslegung ein widersprüchliches Verhalten abzulehnen. Unterstellt man, dass das Verhalten des Steuerpflichtigen widersprüchlich ist, müsste die Behörde auf das vorherige Verhalten – die Mitwirkungsverweigerung – vertraut und diesbezüglich eine Disposition vorgenommen haben. Das ist aber auch kaum denkbar. Es ist nicht ohne weiteres erkennbar, dass die Behörde eine Disposition getroffen hat. Zumindest ist nicht ersichtlich, inwiefern eine solche Disposition einem Verständigungsverfahren entgegenstehen könnte.41

(2) Arg. ex Schiedskonvention Im Rahmen der EU-Schiedskonvention42 normiert Art. 6 eine ausdrückliche Einschränkung der Verpflichtung zur Einleitung des Verfahrens nach diesem multilateralen Abkommen. Eine Verpflichtung soll weder nach Art. 6, 7 oder 8 bestehen, wenn endgültig festgestellt ist, dass der erforderlichen Gewinnkorrektur ein „empfindlich zu bestrafender Verstoß gegen steuerliche Vorschriften“ zugrunde liegt. Die einzelnen Vertragsstaaten haben dazu in Erklärungen zu Art. 8 festgehalten, was sie unter einem empfindlich zu bestrafenden Verstoß verstehen. Deutschland versteht darunter einen Verstoß gegen Steuergesetze, der mit Freiheitsstrafe, Geldstrafe oder Bußgeld geahndet wird. Darunter fällt auch eine leichtfertige Steuerverkürzung.43 Darum handelt es sich bei der Verletzung 41 Umfassend dazu m.w.N. Rasch in Kroppen/Rasch, Handbuch Internationale Verrechnungspreise, OECD-Kap. IV, Anm. 163. 42 Übereinkommen über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Fall von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen, 90/436/EWG, ABl. EG 1990 Nr. L 225, 10. 43 Bellstedt, IWB Fach 11, Gruppe 2, 196; vgl. auch Lahodny-Karner in Gassner/ Lang/Lechner, Doppelbesteuerungsabkommen und EU-Recht, 1996, 202, 215.

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der Mitwirkungspflicht jedoch nicht. Im Umkehrschluss kann daher gefolgert werden, dass hinsichtlich des Verständigungsverfahrens nach DBA ebenfalls eine Verpflichtung zur Einleitung nur dann ausgeschlossen sein sollte, wenn eine Verletzung der genannten Qualität gegeben ist. Dies spricht ebenfalls dagegen, die Ablehnung als Sanktionsmöglichkeit in den Verwaltungsgrundsätzen und/oder in einer gesetzlichen Regelung aufzunehmen. Es könnte sich nämlich eine widersprüchliche Auslegung ergeben.

d) Stellung der Steuerpflichtigen in den Verständigungsverfahren Die OECD geht davon aus, dass der Steuerpflichtige zwar einen Anspruch auf Einleitung, aber nicht auch auf Teilnahme an einem Einigungsverfahren hat. Sie hat aber erkannt, dass dieser Anspruch immer häufiger und nachdrücklicher gestellt wird. Der Steuerpflichtige hat auch im Verständigungsverfahren ein uneingeschränktes Recht auf rechtliches Gehör und an der Mitwirkung am Einigungsverfahren. Die Anregung, dass der Steuerpflichtige auch das Recht haben sollte, an internen Besprechungen der beteiligten zuständigen Behörden teilzunehmen, wird in Tz. 4.59 OECD-Leitlinien aufgenommen. Die OECD weist nicht nur darauf hin, dass viele Mitgliedstaaten solche Mitwirkungsrechte bereits gewähren, sondern sie empfiehlt auch, diese Verfahrensweisen „weitestgehend“ zu übernehmen. Dies hat die OECD auch im „Manual on Effective Mutual Agreement Procedures (MEMAP)“ festgehalten.44 Das MEMAP ist in dieser Hinsicht hilfreich und enthält eine Reihe von effektiven Maßnahmen, um die Verfahren sinnvoll und beschleunigt durchzuführen. Die Ausführungen sind in der praktischen Umsetzung durchaus sinnvoll, gehen über technische Anleitungen jedoch nicht hinaus.45 Als wesentliche Bestandteile dieser Verfahrensweise werden die selbständige Unterrichtung über den Verlauf des Verfahrens und die Rückfrage, ob Teilergebnisse oder Ergebnisse einer angestrebten Lösung Zustimmung finden, angesehen.

44 www.oecd.org/document/45/0,3746,en_2649_33753_36156141_1_1_1_1,00. html. 45 Rasch/Mank, in Kroppen/Rasch, Handbuch Internationale Verrechnungspreise, OECD-Kap. IV, Anm. 200.

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Die Sichtweise der deutschen Finanzverwaltung dazu geht eindeutig aus dem Merkblatt Streitbeilegungsverfahren hervor.46 Beteiligte des Verständigungsverfahrens sind nur die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten. Das bedeutet, dass der Antragsteller keine rechtliche Stellung in der eigentlichen Durchführung des Verfahrens innehat. Das ruft regelmäßig Kritik an der Effizienz des Verfahrens hervor.47 Informationen über von diesen geäußerte oder erhaltene Rechtsauffassungen werden Dritten grundsätzlich nicht erteilt. Dem Antragsteller obliegt es, durch die Darlegung seiner Verhältnisse, Bezeichnung und ggf. Beibringung seiner Beweisunterlagen zu dem Verfahren beizutragen. Das BZSt soll den Antragsteller über den Stand und Fortgang des Verfahrens unterrichten. Der Antragsteller kann Anträge stellen, sich zu den für die Verständigung erheblichen Tatsachen und Rechtsfragen äußern, sich durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen. Ein unmittelbares Vortragsrecht und Teilnahmerecht an den Besprechungen ist dabei aber nicht vorgesehen. Die praktische Erfahrung zeigt zugleich, dass die Unterrichtung durch das BZSt in der Regel auf Nachfrage sinnvoll funktioniert.48

e) Zinsen als „Verhandlungsmasse“ Ein weiteres Problem entsteht durch die lange Dauer von Verständigungsverfahren, was die Frage der Verzinsung aufwirft. Die OECD-Leitlinien gestehen zu, dass die Zinsen die Höhe der Steuerschuld übersteigen können (Tz. 4.66 OECD-Leitlinien). Sie halten es deshalb für notwendig, dass im Einigungsverfahren auch die Verzinsung behandelt wird.

aa) Sichtweise der EU und der OECD Auch das Gemeinsame EU-Verrechnungspreisforum hat sich mit der Thematik beschäftigt und festgestellt, dass in den meisten derzeitigen und künftigen Mitgliedstaaten geregelt ist, wie Zahlungsrückstände im Falle von Nachforderungen für die vorausgegangenen Jahre und Steuererstattungen zu verzinsen sind. Das zeigt auch unmittelbar das Problem. Die Erhebung von Zinsen ist jeweils im nationalen Recht geregelt. Es wurde in den Diskussionen des Gemeinsamen EU-Verrechnungspreis46 Merkblatt zu internationalen Verständigungs- und Schiedsverfahren (Streitbeilegungsverfahren) auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen v. 27.8.2021 – IV B 3-S 1304/21/10004 :007 Rz. 80 f. 47 Rasch/Mank, in Kroppen/Rasch, Handbuch Internationale Verrechnungspreise, OECD-Kap. IV, Anm. 239. 48 Vgl. Greil/Rasch, IStR 2016, 686 (689).

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forums auch deutlich, dass eine Übertragung dieses Anspruchs nicht in Frage kommt. Die Ausgangspunkte für die Berechnung der Zinsen (auf Nachforderungen und Erstattungen) unterscheiden sich von Land zu Land, sind aber auf nationaler Ebene anscheinend kohärent. Die Steuerverwaltungen, die Zinsen auf Nachforderungen als abzugsfähigen Betriebsaufwand anerkennen, betrachten auch die Zinsvergütung auf Erstattungen als steuerbares Einkommen. Für die meisten Steuerverwaltungen gelten die Zinsen jedoch als steuerneutral (nicht abzugsfähig/ nicht steuerbar).49 Im EU-Kontext wichtiger ist jedoch eine Feststellung in Bezug auf die Gegenberichtigungen nach einer grenzübergreifenden Streitbeilegung (Verständigungs- oder Schlichtungsverfahren). Außer den Niederlanden sah im Rahmen der ursprünglichen Diskussion im Gemeinsamen EU-Verrechnungspreisforum kein Land die Möglichkeit vor, in einem Verständigungsverfahren dem Unternehmen auf die zu viel gezahlten Steuern eine Zinsvergütung zu gewähren, die der Verzinsung der Steuernachforderung durch den anderen Vertragsstaat entspricht (und umgekehrt), um die vom Unternehmen gezahlten und die ihm vergüteten Zinsen auszugleichen. Das Schiedsübereinkommen und die Doppelbesteuerungsabkommen zwischen den Mitgliedstaaten zielen zwar auf eine Beseitigung der Doppelbesteuerung ab, sehen aber keinen Ausgleich der auf Steuerrückstände gezahlten Zinsen und der im Rahmen der Erstattung erhaltenen Zinsvergütung vor.50 Im „Revised Code of Conduct“51 wurde die Thematik Erhebung von Steuern und Zinsen während grenzübergreifender Streitbeilegungsver-

49 Vgl. Tz. 3.1 Tätigkeitsbericht des gemeinsamen EU-Verrechnungspreisforums im Bereich der Unternehmensbesteuerung Oktober 2002 – Dezember 2003 Bericht des Gemeinsamen EU-Verrechnungspreisforums; abrufbar unter: http:// ec.europa.eu/taxation_customs/resources/documents/taxation/company_tax/ transfer_pricing/forum/com(2014)315_de.pdf. 50 Vgl. Tz. 3.1 Tätigkeitsbericht des gemeinsamen EU-Verrechnungspreisforums im Bereich der Unternehmensbesteuerung Oktober 2002-Dezember 2003, Bericht des Gemeinsamen EU-Verrechnungspreisforums; abrufbar unter: http:// ec.europa.eu/taxation_customs/resources/documents/taxation/company_tax/ transfer_pricing/forum/com(2014)315_de.pdf. 51 Revised Code of Conduct for the effective implementation of the Convention on the elimination of double taxation in connection with the adjustment of profits of associated enterprises (2009/C 322/01), ABl. 2009, Nr. C 322/1.

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fahren noch einmal aufgenommen. In Tz. 8 werden folgende Empfehlungen ausgesprochen: „a) Den Mitgliedstaaten wird empfohlen, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, damit den Unternehmen, die an den grenzübergreifenden Streitbeilegungsverfahren des Schiedsübereinkommens beteiligt sind, während dieser Verfahren unter denselben Bedingungen Zahlungsaufschub gewährt werden kann wie in innerstaatlichen außergerichtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren, auch wenn dies in manchen Mitgliedstaaten eine Änderung der Rechtsvorschriften erforderlich machen kann. Den Mitgliedstaaten wird weiter empfohlen, diese Maßnahmen auch auf die grenzübergreifenden Streitbeilegungsverfahren nach den Doppelbesteuerungsabkommen zwischen den Mitgliedstaaten auszudehnen. b) Da der Steuerpflichtige während der Verhandlungen im Rahmen des Verständigungsverfahrens keine Nachteile dadurch erleiden sollte, dass während der Dauer des Verständigungsverfahrens bei Zinsen und Rückzahlungen unterschiedliche Ansätze verfolgt werden, wird den Mitgliedstaaten empfohlen, auf folgende Weise vorzugehen: i)

Steuererhebungen und Steuerrückzahlungen ohne Zinsbelastung, oder

ii) Steuererhebungen und Steuerrückzahlungen mit Zinsbelastung, oder iii) Einzelfallentscheidung über Erhebung bzw. Rückzahlung von Zinsen (möglicherweise im Laufe des Verständigungsverfahrens).“

Es wird betont, dass die Mitgliedstaaten sich bemühen sollten, etwaige resultierende asymmetrische Zinsbelastungen zu vermeiden. Die Steuerpflichtigen werden ausdrücklich angeleitet, einen entsprechenden Antrag auf Berücksichtigung dieser Thematik in den Verhandlungen der Staaten zu stellen.52 Die Empfehlung zeigt, dass die EU-Mitgliedstaaten nach wie vor keine adäquate Lösung für die Verzinsung für die Dauer der Verständigungsverfahren anbieten können. Im Verfahren ist der Steuerpflichtige darauf angewiesen, dass die beteiligten Staaten sich auf eine der vorgenannten Möglichkeiten verständigen. Eine Verpflichtung der Staaten besteht nicht. Die Erfahrung in der Praxis zeigt, dass auch diese Verständigung den beteiligten Finanzverwaltungen Probleme bereitet. Dies gilt umso mehr für Fälle außerhalb des Anwendungsbereichs der EU-Schiedskonvention. 52 Vgl. Ziff. 44, Final Report on Improving the Functioning of the Arbitration Convention, JTPF/002/2015/EN, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/taxa tion_customs/sites/taxation/files/resources/documents/taxation/company_ tax/transfer_pricing/forum/final_report_ac_jtpf_002_2015_en_final_clean. pdf.

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bb) Nationale Rechtsprechung Eine ähnliche Frage hatte der BFH im Jahr 2014 zu entscheiden.53 Die Frage, ob die Festsetzung von Zinsen unbillig ist, hängt nach Auffassung des BFH nur von den Verhältnissen des jeweiligen Zinsschuldners ab; die Verhältnisse eines anderen Rechtssubjekts bleiben insoweit außer Betracht. Ein Zinserlass ist daher nicht geboten, wenn sich infolge einer Verrechnungspreiskorrektur einerseits die Körperschaftsteuer einer in einem anderen EU-Mitgliedstaat ansässigen Kapitalgesellschaft mindert und diese infolge des Fehlens einer dem § 233a AO entsprechenden Regelung dort keine Erstattungszinsen beanspruchen kann, und sich andererseits infolge der Gewinnerhöhung einer inländischen (Schwester)Mitunternehmerschaft die Einkommensteuer des inländischen Anteilseigners erhöht. Der BFH hatte darüber zu entscheiden, ob Nachzahlungszinsen, die auf eine Verrechnungspreiskorrektur zurückzuführen sind, aus Billigkeitsgründen zu erlassen sind. Zugrunde lag ein Sachverhalt, in dem der Kläger als natürliche Person Einkünfte aus Gewerbebetrieb aus der Beteiligung an einer inländischen KG erzielte. Die inländische KG hatte Geschäftsbeziehungen zu einer österreichischen GesmbH als Schwestergesellschaft. Im Rahmen einer Betriebsprüfung bei der inländischen KG wurde im Wege einer tatsächlichen Verständigung festgestellt, dass die Beteiligungsergebnisse des Klägers an der KG aufgrund unangemessener Verrechnungspreise der Geschäftsbeziehungen zwischen der KG und der österreichischen GesmbH zu niedrig festgestellt worden waren. Die Korrekturen betrafen die Jahre 1997 bis 1999 und führten zu einer Minderung der Körperschaftsteuer der GesmbH und gleichzeitig zu einer Erhöhung des zu versteuernden Einkommens des Klägers. Da es in den Streitjahren im österreichischen Abgabenrecht keine korrespondierende Vorschrift zu § 233a AO im innerstaatlichen Recht gab (eine solche wurde erst 2001 eingeführt), konnte die GesmbH für die geminderte Körperschaftsteuerschuld keine Erstattungszinsen geltend machen. Daher beantragte der Kläger, Nachzahlungszinsen für den Zeitraum i.H.v. etwa 795.000 t aus Billigkeitsgründen zu erlassen. Zur Begründung trugen sie vor, § 233a AO bezwecke die Abschöpfung von Zinsund Liquiditätsvorteilen. Sie – die Kläger – hätten aber durch die verspätete Festsetzung keinen Vorteil erlangt, denn die durch die Betriebsprüfung veranlassten Verrechnungspreiskorrekturen hätten nicht zu einem 53 BFH v. 3.7.2014 – III R 53/12, ISR 2014, 374 ff.; vgl. dazu die Anmerkung von Rasch, ISR 2014, 376 f.

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steuerlichen Mehrergebnis geführt, sondern lediglich zu einer Verschiebung des Steuerzugriffs zwischen Deutschland und Österreich. Die Gewinne der Streitjahre seien insgesamt in zutreffender Höhe der Besteuerung zugrunde gelegt worden. Österreich habe aber eine dem § 233a AO entsprechende Verzinsung erst 2001 eingeführt, so dass den in Deutschland entstandenen Nachzahlungszinsen keine korrespondierenden Erstattungszinsen gegenüberstünden. Das Urteil bringt keine neue Sichtweise und ist auch nicht überraschend, da der BFH auch bisher bei fehlender Identität zwischen Steuerverhältnissen des Schuldners der Nachzahlungszinsen und des (potentiellen) Gläubigers von Erstattungszinsen die Verhältnisse des anderen Rechtssubjekts außer Betracht gelassen hat. Der BFH hat betont, dass es nicht entscheidungserheblich war, ob Auswirkungen im Steuerrechtsverhältnis einer Person zu einem anderen EU-Mitgliedstaat stets außer Betracht zu lassen sind, oder ob die aufgrund der Erhöhung der deutschen Einkommensteuer entstandenen Nachzahlungszinsen (teilweise) zu erlassen gewesen wären, wenn den Klägern die gegen sie festgesetzte österreichische Einkommensteuer infolge der Verrechnungspreiskorrektur erstattet worden wäre, ohne dass sie insoweit Zinsen beanspruchen könnten. Es wird deutlich, dass die Erhebung der Zinsen die nationale Umsetzung des § 233a AO widerspiegelt. Allerdings ist das Problem unterschiedlicher Verzinsung der Staaten – unabhängig von dem benannten Urteilsfall – von teilweise erheblicher Bedeutung. Dies spielt häufig in Verständigungsverfahren über Verrechnungspreiskorrekturen eine Rolle. Der Umstand, dass es im Rahmen der Verständigungslösung zur Erstattung im einen Staat und zur Nachzahlung im anderen Staat kommt, ist zum einen sehr häufig anzutreffen. Zum anderen können – je nach Dauer der vorhergehenden Prüfung und des Verständigungsverfahrens – die Zinsen einen bedeutenden Teil des eigentlichen Sachverhalts ausmachen. Im für den Steuerpflichtigen schlimmsten Fall werden Erstattungszinsen vom schuldenden Staat gar nicht vorgesehen, was nicht nur das Verhältnis zu Drittstaaten, sondern auch innerhalb Europas betrifft. Umgekehrt sind auch andere Konstellationen denkbar.54 Ob Zinsen grundsätzlich Gegenstand eines Verständigungsverfahrens werden können, hängt von der Beurteilung der Zinsen

54 Vgl. Flüchter in Schönfeld/Ditz2, Art. 25 OECD-MA Rz. 195.

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als Steuern i.S.d. Art. 2 OECD-MA ab.55 In der deutschen Praxis können Zinsen Teil der Verständigungsvereinbarungen sein.56 Das Mindestziel muss dann sein, einen Ausgleich zwischen divergierenden Nachzahlungs- und Erstattungszinsen herzustellen. Flüchter stellt in diesem Zusammenhang auch heraus, dass für die Abkommenswidrigkeit und die Berücksichtigung im Verständigungsverfahren darauf abzustellen ist, dass die Zinsen das „Schicksal“ der abkommenswidrigen Besteuerung teilen.57 Allerdings gibt es hierzu keine Vorgaben der deutschen Finanzverwaltung. Es ist daher dringend anzuraten, den Antrag auf Einleitung eines Verständigungsverfahrens – ggf. hilfsweise – auf die Zinsen zu erweitern – neben dem Antrag, die abkommenswidrige Besteuerung zu beseitigen.

cc) Höhe der Zinsen Die Höhe der Zinsen hängt u.a. davon ab, in welchem Jahr eine Gegenberichtigung vorgenommen wird. Die OECD-Leitlinien machen deutlich, dass die Interessenlage der beteiligten Staaten bei Berichtigung und Gegenberichtigung sehr unterschiedlich sein können. Die OECD-Leitlinien (Tz. 4.67) machen schließlich darauf aufmerksam, dass bei der Nichtberücksichtigung, von Zinsen Verwerfungen entstehen können, weil die entsprechenden Zinsen in den einzelnen Staaten bei verschiedenen Steuerpflichtigen entstehen.

f) Verhältnis zu anderen Streitbeilegungsmechanismen Mit dem „Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2017/1852 des Rates vom 10.10.2017 über Verfahren zur Beilegung von Besteuerungsstreitigkeiten in der Europäischen Union“ (EU-DBA-SBG) wurde in Deutschland die sog. „Streitbeilegungsrichtlinie“ (SBRL) vom 10.10.201758 in 55 Vgl. auch Art. 2 Ziff. 4 OECD-MK; die Literatur bejaht die Qualifikation von Zinsen als Steuern i.S.d. Art. 2 OECD-MA, vgl. Vogel in V/L7, Art. 2 OECDMA Rz. 28; Flüchter in Schönfeld/Ditz2, Art. 25 OECD-MA Rz. 196 m.w.N. 56 Vgl. Flüchter in Schönfeld/Ditz2, Art. 25 OECD-MA Rz. 196; zu der Zustimmung von Mitgliedern aus der deutschen Verwaltungspraxis: Schmitz in Strunk/Kaminski/Köhler, AStG/DBA, Art. 25 OECD-MA Rz. 44; Becker in Haase, DBA3, Art. 25 OECD-MA Rz. 32. 57 Vgl. Flüchter in Schönfeld/Ditz2, Art. 25 OECD-MA Rz. 197. 58 Richtlinie (EU) 2017/1852 des Rates v. 10.10.2017 über Verfahren zur Beilegung von Besteuerungsstreitigkeiten in der Europäischen Union, ABl. L 265.

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nationales Recht umgesetzt. Durch die Umsetzung der SBRL wird innerhalb der EU ein zusätzliches Verfahren zur Beseitigung von Streitigkeiten aufgrund der Auslegung und Anwendung von DBA und der EUSchiedskonvention eingeführt. Mit der Streitbeilegungsrichtlinie soll den Steuerpflichtigen zur Beseitigung von Streitigkeiten über Doppelbesteuerungen ein zusätzliches Verfahren ermöglicht werden. Am Ende eines Streitbeilegungsverfahrens, wie es die Streitbeilegungsrichtlinie vorgibt, steht eine gemeinsame abschließende Entscheidung der zuständigen Behörden der jeweiligen Mitgliedstaaten über die Streitfrage.59 Das ist unzweifelhaft positiv zu werten.60

aa) Zeitliche Anwendbarkeit Um das im Einzelfall beste Verfahren zu wählen, ist zum einen auf den zeitlichen Anwendungsbereich des EU-Streitbeilegungsverfahrens zu achten. Das EU-DBA-SBG findet auf alle Streitbeilegungsbeschwerden Anwendung, die ab dem 1.7.2019 eingereicht werden, und zwar zu Streitfragen im Zusammenhang mit Einkommen oder Vermögen, die in einem Steuerjahr, das ab dem 1.1.2018 beginnt, erwirtschaftet werden. Für Verfahren, die vor dem Stichtag 1.7.2019 eingeleitet wurden, oder Verfahren, die sich auf Steuerjahre vor 2018 beziehen, gibt es grundsätzliche eine Anwendungsmöglichkeit, sofern sich die betroffenen Staaten darauf beziehen. Der Steuerpflichtige kann eine solche Anwendung anregen, hat darauf aber keinen Anspruch. In der Praxis sieht man unterschiedliche Herangehensweisen der Staaten. Deutschland ist offen, auch Jahre vor 2019 in das Verfahren aufzunehmen, während beispielsweise Dänemark und Rumänien dies nicht tun (vgl. auch noch III.2.f)cc)).

bb) Konkurrenzverhältnis Zu beachten ist, dass zu innerstaatlichen Rechtsbehelfsverfahren zur Streitfrage ein Nebeneinander mit verschiedenen Wechselwirkungen besteht.61 Für die Anwendung der Richtlinie ist ein innerstaatlicher Rechtsbehelf keine Zulässigkeitsvoraussetzung (vgl. Art. 16 Abs. 1 SBRL, § 4 59 Vgl. Begründung, BT-Drucks. 19/12112, 1, 28. 60 Vgl. Flüchter in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht2, Rz. 24.12; Flüchter, ISR 2020, 56 (63); Rasch/Mank, ISR 2019, 182 (186); Bühl, IWB, 2019, 756 (757). 61 Flüchter, ISR 2020, 56 (62).

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Abs. 3 Satz 2 EU-DBA-SBG). Andersherum sperrt die Streitbeilegungsbeschwerde nicht das Verfahren nach innerstaatlichen Rechtsbehelfen (Art. 16 Abs. 2 SBRL, § 1 Abs. 2 Satz 2 EU-DBA-SBG).62 Verständigungs- und Schiedsverfahren nach DBA und EU-Schiedskonvention einerseits und das Verfahren nach der Streitbeilegungsbeschwerde andererseits stehen im Verhältnis der Konkurrenz zueinander mit der Konsequenz, dass allein das Einreichen einer Streitbeilegungsbeschwerde (Art. 3 SBRL, § 4 Abs. 1 EU-DBA-SBG) jedes laufende Verständigungsoder Schiedsverfahren unmittelbar beendet (Art. 16 Abs. 5 SBRL, § 4 Abs. 4 EU-DBA-SBG).63 § 4 Abs. 4 Satz 3 EU-DBA-SBG regelt, dass ein sich anschließender (neuer) Antrag auf Verständigungs- oder andere abkommensrechtliche Streitbeilegungsverfahren zur selben Streitfrage unzulässig ist.64 Das gilt nach der Begründung des Regierungsentwurfs auch nach Beendigung des Verfahrens der Streitbeilegungsbeschwerde.65 Es ist nicht zwingend, einen Antrag zur neuen Streitbeilegungsbeschwerde nach EU-DBA-SBG zu stellen, prinzipiell ist diese wohl vorzugswürdig: –

Vorzugwürdig ist das neue Verfahren immer dann, wenn andere als Verrechnungspreisfälle einer möglichen Doppelbesteuerung unterliegen. Hier zeigt sich der große Vorteil des neuen Verfahrens der SBRL. Während Verfahren nach Art. 25 OECD-MA bzw. der EU-Schiedskonvention in der Anwendung auf Verrechnungspreisfälle und die Bestimmung der einer Betriebsstätte zuzuordnen Gewinne limitiert ist, ist das bei der Streitbeilegungsbeschwerde gerade nicht der Fall. Positiv ist auch, dass das neue Verfahren nach SBRL mehr Rechtssicherheit in der Form regelmäßig früherer und formaler Entscheidungen bringt.66 Allerdings ist der Aufwand nicht unerheblich. So ist die Streitbeilegungsbeschwerde in allen betroffenen Staaten gleichzeitig einzureichen, ggf. in mehreren Sprachen.67

62 Ausführlich auch Rasch in JbFfSt 2021, Internationale Verrechnungspreisaufsicht und Streitbeilegungsrichtlinie, 843, 889. 63 Vgl. Flüchter in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht2, Rz. 24.37. 64 Vgl. auch Flüchter, ISR 2020, 56 (62 f.). 65 Vgl. Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks. 19/12112, 32. 66 Hendricks/Strotkemper, Ubg 2019, 535 (538); Flüchter, ISR 2020, 56 (63). 67 Flüchter weist auch auf das mögliche Erfordernis nationaler Formulare oder Pflichten zur elektronischen Antragstellung hin, z.B. § 8 Abs. 2 des österr. EU-BStbG. Vgl. auch Kircher/Pfeiffer/Boch, IWB 2019, 526 (531).

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Wenn ein Verständigungsverfahren mit sich anschließendem potentiellen Schiedsverfahren in Betracht kommt, dann kann das Schiedsverfahren und dessen Durchführung auch die Wahl des Verfahrens beeinflussen. So kann in Fällen mit Österreich das Schiedsverfahren nach Art. 25 DBA Österreich ausschlaggebend sein, eröffnet dieses doch das Schiedsverfahren vor dem EuGH als Schiedsgericht. Das Schiedsverfahren nach EU-Schiedskonvention sieht nach Art. 7, 10 und 11 der Konvention vor, dass der Beratende Ausschuss eine unabhängige Meinung abgibt („independent opinion“). Im Verfahren nach SBRL/EU-DBA-SBG kann das Schiedsverfahren auch ein „independent opinion“-Verfahren sein. Flüchter weist zutreffend darauf hin, dass die zuständigen Behörden sich ohne Rücksicht auf das Vorbringen des Antragstellers auch für ein völlig anders gestaltetes Verfahren, etwa ein „final offer“-Verfahren entscheiden, oder aber das Verfahren durch einen „Ausschuss für alternative Streitbeilegung“ zur Entscheidung bringen.68



Sofern es sich um einen „klassischen“ Verrechnungspreissachverhalt handelt, steht einem Verfahren nach der EU-Schiedskonvention wohl nichts entgegen. Ob die zeitliche Durchsetzung im Verfahren nach SBRL/EU-DBA-SRG tatsächlich besser abläuft, muss die Praxis erst noch zeigen.

cc) Auswirkung der Nichtanwendbarkeit der Streitbeilegungsrichtlinie auf Verständigungsverfahren Für den Fall, dass die beteiligten Staaten sich nicht einigen können, die Erweiterung auf Steuerjahre vor 2018 anzuwenden (Art. 23 Abs. 2 SBRL, § 33 Abs. 2 EU-DBA-SBG), ist das Verfahren nach SBRL unzulässig. Die an sich möglichen Verständigungsverfahren sind dann allerdings grundsätzlich auch unzulässig, weil Art. 16 Abs. 5 SBRL bzw. § 4 Abs. 4 Satz 3 EU-DBA-SBG die Unzulässigkeit erklären.69 Das würde bedeuten, dass der Steuerpflichtige hier konkret wegen des Antrags nach SBRL keine Möglichkeit mehr hätte, die Doppelbesteuerung als Folge der Prüfungsfeststellungen in Rumänien beseitigen zu lassen. Diese Sichtweise kann aber nicht zutreffend sein. Die Begründung zu § 33 Abs. 2 EU-DBA-SBG (Möglichkeit der Staaten, Einigung für frühere 68 Flüchter, ISR 2020, 56 (64). 69 Vgl. auch Flüchter, ISR 2020, 56 (63), der dieses Szenario wohl zu Recht als „worst-case“ ansieht.

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Jahre als 2018 zu treffen) gibt keinen weitergehenden Hinweis. Sofern eine Einigung für Jahre vor 2018 – wie im vorliegenden Fall – durch die Behörden der Staaten nicht zustande kommt, dann liegt – trotz Antrags – kein Fall der Streitbeilegungsbeschwerde im Sinne der SBRL/EU-DBASBG vor. Dieser Antrag ist ein Nullum und kann keine Wirkung entfalten. Als Folge kann – mangels wirksamen Antrags – auch die Beschränkung der Art. 16 Abs. 5 SBRL bzw. § 4 Abs. 4 Satz 3 EU-DBA-SBG nicht eingreifen. Das Streitbeilegungsverfahren geht grundsätzlich den Verfahren nach DBA oder dem EU-Schiedsübereinkommen vor. Dies bedeutet nach der Begründung des Gesetzgebers, dass sobald der Steuerpflichtige ein Streitbeilegungsverfahren initiiert, vergleichbare Verfahren auf Grundlage des DBA oder dem EU-Schiedsübereinkommen zu beenden sind. Wurde ein Antrag des Steuerpflichtigen auf Streitbeilegungsverfahren eingelegt, ist ein Antrag auf Durchführung eines Verfahrens nach DBA oder dem EUSchiedsübereinkommen als unzulässig abzulehnen. Dies gilt auch nach Beendigung des Streitbeilegungsverfahrens.70 Diese Restriktion kann nach hier vertretener Auffassung aber nur greifen, wenn ein wirksamer Antrag vorliegt. Ansonsten wären die Rechtsfolgen der Konkurrenzregelung in § 4 Abs. 4 EU-DBA-SBG überschießend. Eine Limitierung der verfahrensmäßigen Rechte auf Durchführung eines Verständigungsverfahrens nach DBA oder EU-Schiedskonvention kann nicht durch einen nicht wirksamen Antrag auf Streitbeilegungsbeschwerde begründet werden. Das Ergebnis wäre auch unbillig. Motivation des Gesetzgebers war es, gleichzeitige oder sich überlappende Verfahren zu vermeiden. Daher findet sich der Hinweis, dass ein „Verfahren nach der SBRL als vorrangig zu Verfahren nach DBA oder dem EU-Schiedsübereinkommen bezeichnet werden“ kann.71 Diese Aussage ist offensichtlich nicht so zu verstehen, dass (i) eine zwingende Vorrangigkeit gegeben ist. Das Verfahren kann nur als vorrangig bezeichnet werden. Hätte der Gesetzgeber eine zwingende Vorrangigkeit erreichen wollen, hätte der Gesetzgeber eine entsprechende Formulierung wählen können und müssen. Darüber hinaus ist (ii) in dem hier interessierenden Fall einer nicht zulässigen Streitbeilegungsbeschwerde und einem vermeintlich konkurrierenden Verständi-

70 BT-Drucks. 19/12112, 32. 71 BT-Drucks. 19/12112, 27.

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gungsverfahren gerade keine Überlappung der Verfahren gegeben.72 Auch aus diesem Grund kann die Restriktion des § 4 Abs. 4 Satz 3 EU-DBASBG/Art. 16 Abs. 5 SBRK nicht greifen.

IV. Reformansätze Die unterschiedlichen Verfahren der Streitvermeidung – wie etwas das APA – und der Streitbeilegung – wie etwa „Joint Audits“, Verständigungsverfahren oder Streitbeilegungsrichtlinie – zeigen, dass Abhängigkeiten untereinander bestehen. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass die Verfahrensrechte bzw. die Stellung der Beteiligten eingeschränkt sein können. Es sollen daher schließlich noch einige Überlegungen zur Reformierung oder zumindest der Verbesserung in Form von Thesen skizziert werden.

1. Effektuierung des Rechtsschutzes Die Effektuierung des Rechtsschutzes in internationalen Verfahren erfordert: –

Schnelligkeit der Verfahren als Ausprägung des verwaltungsökonomischen Handelns sowie Substitution von Soll-Vorschriften. Wenn die Ressourcen in den Verwaltungen sinnvoll eingesetzt werden sollen, sollte die Tätigkeit fokussiert werden. Die Bearbeitung der Verfahren im Rahmen einer festen Zeitvorgabe erhöht die Anzahl der Abarbeitung. Aus den bisherigen Sollvorschriften etwa der OECD oder auch des „EU Code of Conduct“ für die Durchführung von Verständigungs- und Schiedsverfahren sind restriktive Vorgaben für die Bearbeitung der Anträge abzuleiten. Die Zeitvorgaben müssen eine zwingende Wirkung entfalten. Natürlich dürfen diese nicht willkürlich kurz gewählt werden, aber es bedarf klarer zeitlicher Vorgaben. So ist etwa für die Einleitung des Verfahrens eine feste zeitliche Vorgabe vorzusehen, innerhalb derer die Unterlagen vom Steuerpflichtigen vorzulegen sind. Wenn die Unterlagen vorgelegt werden, dann ist nach Ablauf z.B. von sechs Monaten zwingend der Verfahrensbeginn anzunehmen. Vorteil ist, dass die Fristen für die Einsetzung des Schiedsverfahrens (im Regelfall zwei Jahre) in Kraft gesetzt werden. Das bedeutet nicht, dass die zuständige Behörde nicht auch noch Nachfragen stellen oder weitere Unterlagen anfordern kann.

72 Ähnlich Bühl, IWB 2019, 756 (757).

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Gleichwohl läuft das Verfahren. Auf der anderen Seite haben die Steuerpflichtigen die Verpflichtung, die von der Finanzverwaltung angeforderten Unterlagen vollumfänglich und in bestem Wissen vorzulegen. Kommen die Steuerpflichtigen den Anforderungen nicht umfassend in der gesetzten Frist nach, dann tritt das Verfahren auch nicht in Kraft. Etwaige Verzögerungen gehen dann zu Lasten des Steuerpflichtigen. Erforderlich ist dafür, dass der Kanon der vorzulegenden Unterlagen eindeutig bestimmt ist. Das schließt nicht aus, dass Fragen – wie erwähnt – auch im Nachgang beantwortet werden müssen. –

Stellung des Beteiligten und Transparenz im Verfahren: Die Stellung des Steuerpflichtigen ist die eines Beteiligten. Während aber heute die Informationen von der zuständigen Behörde abgefragt werden müssen, sollte es in Zukunft eine aktive Informationspflicht seitens der Behörde geben. Damit verändert sich die Stellung des Steuerpflichtigen nicht, aber der Informationsfluss könnte deutlich zunehmen. Es wird regelmäßig angeführt73, dass sich Steuerverwaltungen auch gegenüber „innovativen“ Verrechnungspreisansätzen, wie beispielsweise Profit Split-Systemen, im Rahmen von (Vorab-)Verständigungsverfahren aufgeschlossen zeigen. Jedoch darf dann kritisch hinterfragt werden, ob nicht in diesem Bereich eine Art „secret body of law“ geschaffen wird, wenn die (Vorab-)Verständigungsvereinbarungen nicht der Öffentlichkeit (anonymisiert) zugänglich gemacht werden. Eine abstrakte Veröffentlichung, unter Wahrung des Steuergeheimnisses, könnte einerseits den Steuerpflichtigen ein Mehr an Information geben, die die Steuerpflichtigen in ihrem Entscheidungskalkül berücksichtigen könnten, und in einem gewissen Maße auch zu einem Mehr an Rechtssicherheit beitragen. Zumindest könnte in Erwägung gezogen werden, dass seitens der Steuerverwaltung in regelmäßigen Abständen, beispielsweise jährlich, ein APA-Report (bzw. ein Report über Verständigungsverfahren allgemein) veröffentlicht wird, um allgemein über das deutsche APAProgramm zu berichten und informieren. So wie es etwa in den USA ansatzweise bereits heute erfolgt.74

73 Vgl. Nachweise bei Greil/Rasch, IStR 2016, 686 (691). 74 Vgl. zum jüngsten Report des IRS zu APA Verfahren: Rasch, ISR 2023, 139 ff.

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2. Einmalige Reduktion des Bestands der Verfahren Auch wenn die bloße Anzahl von Verfahren kein ausreichender Indikator für die Bedeutung der Verfahren ist (vgl. oben II.1., 2.), ist der derzeitige Stand an offenen Verfahren hinderlich für eine effektive Bearbeitung von neuen Verfahren. Es ist daher in Betracht zu ziehen, eine einmalige Reduzierung der Verfahren zu erreichen. Als Beispiel kann das zwischen Indien und den USA abgeschlossene sog. „landmark framework agreement“ angesehen werden.75 Zwischen Indien und den USA hatten sich im Bereich der Verrechnungspreise zahlreiche Verständigungsverfahren aufgestaut. Um die Beziehungen zwischen den Staaten in diesem Bereich zu verbessern, wurde eine Verständigung zwischen den beiden Staaten im Januar 2015 erreicht, um den Bestand der Verständigungsverfahren – circa 250 Verrechnungspreisfälle insbesondere im IT-Bereich – möglichst schnell und effektiv abarbeiten und darüber hinaus auch zukünftig bilaterale APA vereinbaren zu können.76 Es wurden hierdurch über 100 Fälle in schneller Folge gelöst und ab Februar 2016 konnten US-Unternehmen Anträge auf bilaterale APA beim IRS einreichen.77 Dieses Vorgehen betrifft zunächst nur das bilaterale Verhältnis zwischen den USA und Indien und ist daher nicht ohne weiteres auf die deutsche Situation übertragbar, was bereits herausgestellt wurde.78 Um eine pauschalierende Beendigung und damit Reduktion der anhängigen Verfahren zu erreichen, wäre die Anwendung des dahinterstehenden Rechtsgedankens aber zumindest bedenkenswert. Die meisten DBA enthalten eine dem Art. 25 Abs. 3 OECD-Musterabkommen nachgebildete Vorschrift zur Anwendung des Konsultationsverfahrens. Zwar dient das Konsultationsverfahren grundsätzlich dazu, Schwierigkeiten und Zweifel allgemeiner Art bei der Auslegung und Anwendung des jeweiligen Abkommens zu lösen. Der OECD-Musterkommentar zu Art. 25 Abs. 3 Satz 2 OECD-MA stellt in Tz. 37 darauf ab, dass es sich um Doppelbesteuerungsfälle handeln soll, die im DBA nicht geregelt sind. Das zielt m.E. auf materiell-rechtliche Fragen ab79 und lässt zu, Fallgestaltungen losgelöst vom Einzelfall zu behandeln. Dies könnte dafürsprechen, 75 Vgl. Tax Notes International, Februar 2016, 428. Williams, Bloombergtax, The US and India must resolve advance pricing agreement concerns, 8.11.2022. 76 Greil/Rasch, IStR 2016, 686 (691). 77 Vgl. https://www.irs.gov/uac/newsroom/irs-to-begin-accepting-bilateral-adv ance-pricing-agreement-requests-for-india-on-february-16. 78 Greil/Rasch, IStR 2016, 686 (691). 79 Zuerst in Greil/Rasch, IStR 2016, 686 (691).

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gleichgelagerte Fälle in einem Konsultationsverfahren einer einheitlichen Lösung zuzuführen. Hier wären daher detailliertere rechtliche Überlegungen anzustellen. Der Gedanke ist, dass Fälle, die zum einen den gleichen Themenkomplex (z.B. Verrechnungspreise in Zusammenhang mit der Nutzungsüberlassung von immateriellen Wirtschaftsgütern; Behandlung von Dienstleistungen oder Kostenumlageverträge; Bestimmung eines angemessenen Entgelts für Routinefunktionen; Bestimmung von Vertriebsmargen; Anwendung der Profit Split Methode) betreffen, inhaltlich in „einem Cluster von Fällen“ gleichbehandelt werden sollten und können. Dazu würden für einzelne Länder die inhaltlich gleichgelagerten Fälle zusammengefasst und inhaltlich gemeinsam behandelt werden. Das ist auch für Regionen denkbar, die wirtschaftlich sehr einheitlich sind (wie z.B. die EU-27-Staaten). Ein Nachteil wäre sicherlich, dass jüngere Fälle möglicherweise gegenüber älteren Anträgen bevorzugt werden. Vorteil ist, dass mehrere inhaltlich gleich gelagerte Fälle gemeinsam behandelt werden und die Möglichkeit der Anwendung einheitlicher Grundsätze für diese Fälle gestärkt wird. Es geht um eine die Verwaltungstätigkeit vereinfachende Rechtsanwendung, mithin soll im Wege der typisierenden Betrachtungsweise eine über die Einzelheit des Falls hinausgehende Verallgemeinerung der Gemeinsamkeiten der Fälle in einem Cluster vorgenommen werden. Anders als teilweise diskutiert, soll die deutsche Finanzverwaltung dabei nicht die Fälle aufgeben, sondern sich bemühen, gleichgelagerte Fälle mit Ländern oder aber – wo möglich – wie z.B. auf Europäischer Ebene mit einer Reihe von Staaten gleichgelagerte Fälle zu definieren und diese Fälle einheitlich im Konsens mit den anderen Staaten zu lösen. Dabei werden Einzelheiten des Falls weniger bedeutsam und teilweise ignoriert werden müssen, was aber nicht gegen die Typisierung spricht. Es steht m.E. auch nicht dem Umstand entgegen, dass die deutsche Finanzverwaltung die internationalen Streitbeilegungsverfahren grundsätzlich als bilaterale Verfahren auf der Basis der DBA bzw. der EU-Schiedskonvention betreibt. Die Möglichkeit, multilaterale Verfahren zu betreiben, wird inzwischen nicht mehr grundlegend ausgeschlossen.80

80 Im Einzelfall können auch multilaterale Verfahren in Betracht kommen. Ob ein multilaterales Verfahren möglich und sachgerecht ist, hängt von den Rechtsgrundlagen und den Gegebenheiten des Einzelfalls ab. Vgl. Tz. 8, Merkblatt Streibtbeilegungsverfahren v. 27.8.2021.

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3. Etablierung eines Internationalen Gerichtshofs Schon lange gibt es den Gedanken, der auf die Etablierung eines internationalen Gerichtshofes für Verrechnungspreisstreitigkeiten abzielt.81 Bereits Ascoli82 äußerte den Gedanken, einen internationalen Gerichtshof für Verrechnungspreisstreitigkeiten einzurichten, sei es in Form einer regionalen Instanz beim EuGH oder in anderer Weise. Zu betrachten wäre, welche Kompetenzen dieser Gerichtshof überhaupt haben sollte. Unabhängig davon ist hier das Problem von entscheidender Bedeutung, anhand welcher Rechtsgrundsätze ein solches Gericht entscheiden sollte. Dieses Gericht könnte sich dabei nur auf allgemeine Rechtsprinzipien wie den Fremdvergleich oder aber die Leitlinien der OECD stützen. Daraus wäre dann eine allgemeine Spruchpraxis zu entwickeln. Für den Fremdvergleich würde sich eine Rechtsgrundlage aus Art. 4 der Schiedskonvention ergeben. Für die OECD-Leitlinien als eigenständige Rechtsgrundlage ist jedoch keine Ermächtigungsgrundlage ersichtlich.83 Auch unter diesem Gesichtspunkt ist eine Vereinheitlichung der Rechtsregeln über Verrechnungspreise wünschenswert. Schlussfolgern kann man daraus nämlich, dass unabhängig von den sonstigen Problemen der Einrichtung eines internationalen Gerichtshofs einheitliche Regeln Voraussetzung für die Schaffung eines solchen wären. Der zweite Gesichtspunkt ist der, dass ohne Vereinheitlichung nach wie vor für die Unternehmen das erhöhte Risiko besteht, dass Verrechnungspreisfragen dem Schiedsverfahren nicht standhalten, weil keine Einigung über die zu beachtenden Grundsätze besteht.84 Eine koordinierte Vorgehensweise würde dieses 81 Rasch, Konzernverrechnungspreise im nationalen, bilateralen und Europäischen Steuerrecht, Diss. 2000, 307; Flüchter, in Schönfeld/Ditz, DBA2, Art. 25 Rz. 6 mit detaillierten Nachweisen. Erstmalig in der Literatur wohl Spitaler, StuW 1950, 803; Lindencrona/Mattson, Arbitration in Taxation, 1981, 29 ff.; Züger, Schiedsverfahren für Doppelbesteuerungsabkommen, Diss. 2001, 122; Altman, Dispute Resolution Under Tax Treaties, Diss. 2005, 75/82 ff.; Keerl, Internationale Verrechnungspreise in der globalisierten Wirtschaft, Diss. 2008, 314 f.; Strotkemper, Das Spannungsverhältnis zwischen Schiedsverfahren in Steuersachen und einem Internationalen Steuergerichtshof, Diss. 2017, 629 ff., 967 ff.; Voje, ET 2018, 309 (315 f.); Camino in Majdanska/Turcan, OECD Arbitration inTax Treaty Law, 2018, 711; a.A. z.B. Wilkie in Lang/Owens, International Arbitration in TaxMatters, 2015, 321 (357 f.). 82 Ascoli, Länderbericht Italien Cahiers de droit fiscal International, 1981, S. 445 (465). 83 So bereits Saß, DB 1983, 306 (307); ähnlich Saß, DB 1979, 2196 (2197); auch Krabbe, RIW 1982, 269 (272). 84 So Gammie, EC Tax Review 1998, 159 ff. (161).

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Verrechnungspreisverfahren – Rasch

Risiko vermindern. In den letzten Jahren hat eine breite Verrechtlichung in vielen Ländern stattgefunden und auch die BEPS-Initiative mit der entsprechenden Anpassung der OECD-Leitlinien 2017 hat zumindest auf OECD-Ebene zu einer Vereinheitlichung geführt. Weit entfernt sind aber noch übereinstimmende Rechtsgrundlagen, da die Staaten die OECDEmpfehlungen entweder sehr differenziert oder aber gar nicht umsetzen. Somit ist zwar der OECD-Rahmen hilfreich für Verständigungs-/Schiedsoder APA-Verfahren, aber nicht verbindlich.

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Ständiger Ausschuss für Streitbeilegung in der EU und internationale Perspektiven Prof. DDr. Gunter Mayr Bundesministerium für Finanzen, Wien/Universität Wien

I. Einordnung II. Schiedsverfahren und die EUStreitbeilegungs-Richtlinie 1. Schiedsverfahren allgemein und in Österreich 2. Schiedsverfahren nach der EUStreitbeilegungs-Richtlinie (SBRL) a) Überblick b) Einordnung des Schiedsverfahrens c) Gestaltungsspielräume beim Ausschuss für alternative Streitbeilegung

III. Rechtliche Begrenzungen 1. Spielräume und Lösungsansatz 2. Wechselwirkung zu nationalen Rechtsbehelfen IV. Lösungsvorschläge 1. Betrauung EuGH? 2. Lösungsrahmen V. Ergebnisse und Ausblick

I. Einordnung Die Vision eines „Weltsteuergerichtshofs“ ist nicht neu und leuchtet wieder am Horizont.1 So anmutend diese Vision auch erscheinen mag, ihre Umsetzung liegt immer noch in der Zukunft. Um hier nicht zu sehr in Zukunftsvisionen zu versinken, wird der Blick auf die aktuellen internationalen Entwicklungen gerichtet. Denn auch diese bergen ein erhebliches rechtsstaatliches Potential, das abschließend wieder Raum für Visionen öffnet. In der Praxis gewinnen internationale Steuerthemen zunehmend an Bedeutung, wodurch die Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) stärker ins Blickfeld rücken. Droht bei der Auslegung und Anwendung der DBA ein Doppelbesteuerungskonflikt, kann dieser mittels eines Verständigungs1 Aktuell Petkova/Fehling, IStR 2022, 409; Greil, IStR 2022, 373; zum Diskussionsstand vor über 70 Jahren vgl. Spitaler, Empfiehlt sich die Errichtung eines Internationalen Steuergerichtshofes zur Entscheidung zwischenstaatlicher Steuerkonflikte?, StuW 1950, 803.

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Ständiger Ausschuss für Streitbeilegung, Perspektiven – Mayr

verfahrens gelöst werden.2 Die Anzahl der offenen Verständigungsverfahren ist ein internationaler Gradmesser; dabei liegt Österreich weltweit auf Platz 11, die Schweiz auf Platz 9 (OECD statistics 20203). Weltweiter Spitzenreiter ist Deutschland mit über 1.400 offenen Verständigungsverfahren. Setzt man allerdings die Anzahl der offenen Verständigungsverfahren von knapp 300 in Österreich oder über 400 in der Schweiz in eine Bevölkerungs-Relation zu Deutschland, würden die Schweiz und Österreich Deutschland locker überholen; Spitzenreiter wären dann aber Belgien und Luxemburg. Was leitet sich nun aus diesem Ranking ab? Ob eine so hohe Anzahl an offenen Verständigungsverfahren positiv oder negativ einzustufen ist, hängt vom Blickwinkel ab: Positiv betrachtet handelt es sich um exportorientierte Volkswirtschaften, in denen sich die Finanzverwaltungen für Unternehmen einsetzen, wenn Besteuerungskonflikte drohen. Negativ haftet den Verständigungsverfahren die lange Verfahrensdauer an, die bei Verrechnungspreisfällen mittlerweile schon bei durchschnittlich 35 Monaten liegt (OECD statistics 2020). Vor dem Hintergrund der langen Verfahrensdauer gehen die internationalen Entwicklungen verstärkt in Richtung einer frühzeitigen Streitvermeidung. Aktuelles Beispiel dafür ist ICAP: Das im Rahmen der OECD entwickelte ICAP (International Compliance Assurance Programme) setzt frühzeitig an und stellt den Blickwinkel neu; denn ICAP dient der frühzeitigen Streitverhütung.4 Die Erfahrungen aus zwei Pilotierungsphasen sind in das ICAP-Handbook der OECD eingeflossen.5 Vergleichsweise unbemerkt begann sodann im September 2021 der ICAP-Regelbetrieb, an dem seither weltweit 22 Finanzverwaltungen teilnehmen (u.a. Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich oder die USA). Das ICAPVerfahren soll eine möglichst frühzeitige kooperative Risikoanalyse auf multilateraler Ebene ermöglichen. Nach dem Vorbild von ICAP wurde zudem auf EU-Ebene mit ETACA (European Trust and Cooperation Approach) ein Verfahren entwickelt, das sich seit März 2022 – unter österreichischer Beteiligung – in der Pilotphase befindet.

2 Zu DBA-Verständigungsverfahren vgl. Bruns, in diesem Tagungsband. 3 Stand Jahresende 2020; abrufbar unter: https://www.oecd.org/tax/dispute/mu tual-agreement-procedure-statistics.htm. 4 Zu ICAP vgl. Zimmerl, in diesem Tagungsband. 5 Abrufbar auf der OECD-Homepage: International Compliance Assurance Programme: Handbook for tax administrations and MNE groups (oecd.org).

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Ständiger Ausschuss für Streitbeilegung, Perspektiven – Mayr

Internationalen Streitvermeidungstools wie ICAP haftet etwas innovativ Freischwebendes an, sie sind aber auch innerstaatlich einzuordnen. Bei dieser Einordnung traten in Österreich rechtsstaatliche Zweifel auf, weshalb im Rahmen des AbgÄG 2022 mit der multilateralen Risikobewertung in § 118b öBAO die ausdrückliche verfahrensrechtliche Grundlage für die Teilnahme der österreichischen Finanzverwaltung an ICAP und ETACA geschaffen wurde. Damit hat ICAP in Österreich den rechtsstaatlichen Sprung vom innerstaatlich freischwebenden Pilotprojekt zur ausdrücklichen verfahrensrechtlichen Grundlage geschafft und ist damit so manch anderem OECD-Staat etwas voraus.6

II. Schiedsverfahren und die EU-StreitbeilegungsRichtlinie 1. Schiedsverfahren allgemein und in Österreich Zurückkommend auf die Verständigungsverfahren können diese nicht nur lange dauern, sondern auch scheitern. Scheitert ein Verständigungsverfahren, kommt ein Schiedsverfahren in Betracht. Schiedsverfahren stellen gewissermaßen die Fortsetzung von Verständigungsverfahren dar, wenn innerhalb eines Zeitraums von zwei (oder drei) Jahren keine Einigung zwischen den zuständigen Behörden erreicht werden kann. Im Lichte der Schwächen von Verständigungsverfahren wird mit Schiedsverfahren ein ergänzendes Verfahren eröffnet, das eine Lösung des Problems der abkommenswidrigen Besteuerung gewährleisten soll.7 Österreich zählt zu den „schiedsfreundlichen Staaten“8 und hat bereits vor Einführung einer Schiedsklausel ins OECD-MA (2008) Schiedsklauseln mit seinen Abkommenspartnern verhandelt. Ohne Einbeziehung des MLI enthalten bereits 13 österreichische DBA Schiedsklauseln, wobei innerhalb der bilateralen Schiedsklauseln das DBA Österreich-Deutsch6 Ausführlich Mayr, Internationale Streitvermeidungstools für Konzerne aus rechtsstaatlicher Sicht, in Beiser/Hohenwarter/Kirchmayr/Mayr, FS Zorn, Wien 2022, 383. 7 Ismer/Piotrowski in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Art. 25 OECD-MA Rz. 209. 8 So hat sich etwa Österreich als einer von insgesamt 20 OECD-Mitgliedstaaten (darunter auch Deutschland) öffentlich zur Aufnahme von Schiedsklauseln in seinen bilateralen DBA verpflichtet, vgl. OECD, Making Dispute Resolution Mechanism More Effective, Action 14 – 2015 Final Report, 2015, Tz. 62; vgl. auch Turcan in Kubik/Schmidjell-Dommes/Staringer, EU-Besteuerungsstreitbeilegungsgesetz, SWI-Spezial 2019, 19.

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Ständiger Ausschuss für Streitbeilegung, Perspektiven – Mayr

land insofern eine Sonderstellung einnimmt, sieht es doch in Art. 25 Abs. 5 als Schiedsgericht den EuGH vor. Durch das MLI hat sich die Gesamtzahl der Schiedsklauseln in österreichischen DBA um weitere 14 auf insgesamt 27 erhöht.9 Als EU-Mitgliedstaat wendet Österreich seit 1995 zudem das EU-Schiedsübereinkommen an10 und hat die EU-Streitbeilegungs-Richtlinie national durch das EU-Besteuerungsstreitbeilegungsgesetz (EU-BStbG) umgesetzt.

2. Schiedsverfahren nach der EU-Streitbeilegungs-Richtlinie (SBRL) a) Überblick Nur sieben Monate nach Vorlage eines Richtlinienvorschlags durch die Europäische Kommission11 gelang bei der SBRL bereits im Mai 2017 die Einigung im ECOFIN.12 Zudem weicht die beschlossene SBRL in einigen wichtigen Punkten vom Richtlinienvorschlag ab,13 was ebenfalls die Initiative der EU-Mitgliedstaaten belegt. Als Schiedsgremium sieht die SBRL zunächst den Beratenden Ausschuss vor.14 Nach Art. 10 Abs. 1 SBRL können die zuständigen Behörden der betroffenen Mitgliedstaaten aber vereinbaren, einen Ausschuss für alternative Streitbeilegung einzusetzen, der dann anstelle des Beratenden Ausschusses eine Stellungnahme zur Lösung der Streitfrage abgibt. Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten können zudem vereinbaren, den Ausschuss für alternative Streitbeilegung in Form eines Ausschusses mit dem Charakter eines ständigen Gremiums einzusetzen („Ständiger Ausschuss“). Sodann kann sich nach Art. 10 Abs. 2 SBRL mit Ausnahme der Bestimmungen in Bezug auf die Unabhängigkeit seiner Mitglieder der Ausschuss für alternative Streitbeilegung hinsichtlich seiner Zusammensetzung und Form 9 Vgl. BMF-Info zu Verständigungs- und Schiedsverfahren nach DBA, EUSchiedsübereinkommen und dem EU-Besteuerungsstreitbeilegungsgesetz v. 5.5.2022, 2022-0.300.851. 10 90/436/EWG, Übereinkommen über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen, ABl. Nr. L 225 v. 20.8.1990. 11 COM(2016) 686 final v. 25.10.2016. 12 Press Release 287/17 des Rates der EU v. 23.5.2017. 13 Richtlinie (EU) 2017/1852 des Rates v. 10.10.2017 über Verfahren zur Beilegung von Besteuerungsstreitigkeiten in der EU; zur Vorgeschichte der Richtlinie vgl. z.B. Flüchter in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2. Aufl. 2020, 931. 14 Dazu Gunacker-Slawitsch, in diesem Tagungsband.

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vom Beratenden Ausschuss unterscheiden. Bei der Benennung von unabhängigen Personen legte Österreich bewusst hohe Maßstäbe an und nominierte ausschließlich (ausgewiesene) Richter des Bundesfinanzgerichts sowie (unabhängige) Universitäts-Professoren; auch mit dieser Auswahl sollte die Reputation des Schiedsverfahrens gestärkt werden. Art. 10 SBRL steckt nur den rechtlichen Rahmen für den Ausschuss für alternative Streitbeilegung ab, wodurch den betroffenen EU-Mitgliedstaaten eine erhebliche Flexibilität eingeräumt wird.15 Die betroffene Person selbst bleibt aber nach der schriftlichen Antragstellung auf Einsetzung eines Schiedsgerichts gewissermaßen Passagier, weil es ausschließlich den zuständigen Behörden obliegt, ob sie ein Schiedsverfahren vor dem Beratenden Ausschuss oder dem Ausschuss für alternative Streitbeilegung wählen. Die zuständigen Behörden haben weiters die Geschäftsordnung festzulegen und zu unterzeichnen.16 Der Beratende Ausschuss wie der Ausschuss für alternative Streitbeilegung haben nach Art. 14 SBRL innerhalb von sechs Monaten eine Stellungnahme an die zuständigen Behörden abzugeben, wobei diese Frist um drei Monate verlängert werden kann. Die Stellungnahme bedarf einer einfachen Mehrheit der Stimmen, bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag.17 Nach Übermittlung der Stellungnahme durch den Vorsitzenden haben die zuständigen Behörden sechs Monate Zeit, um die Streitfrage zu lösen (abschließende Stellungnahme nach Art. 15 SBRL). Dabei könnten die zuständigen Behörden auch von der Stellungnahme abweichen; erzielen sie aber keine abweichende Einigung, sind sie an die Stellungnahme des Beratenden Ausschusses oder des Ausschusses für alternative Streitbeilegung gebunden. Die abschließende Entscheidung wird sodann für die betroffenen Mitgliedstaaten verbindlich und wird bei Zustimmung der betroffenen Person(en) umgesetzt. Mit Einverständnis der betroffenen Person(en) können die zuständigen Behörden den gesamten Wortlaut der abschließenden Entscheidung veröffentlichen; jedenfalls zu veröffentlichen ist eine Zusammenfassung der abschließenden Entscheidung.18

15 16 17 18

Vgl. auch Erwägungsgrund 6 der SBRL. Art. 11 SBRL. Art. 14 SBRL. Art. 18 SBRL.

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b) Einordnung des Schiedsverfahrens Bereits auf den ersten Blick ist das Schiedsverfahren im Ablauf sehr flott konzipiert, Stellungnahme und abschließende Entscheidung sollten grundsätzlich innerhalb eines Jahres erfolgen. Auch wenn das Schiedsverfahren sodann letztlich ein Government-to-Government-Verfahren bleibt, erkennt auch das government-fremde Schrifttum wesentliche Verbesserungen für die Streitbeilegung. Staringer sieht etwa einen „Wesenszug des Schiedsverfahrens, dass allein die damit verbundene „Bedrohung“ der Vertragsstaaten durch eine letztlich ergehende Entscheidung die Effektivität eines MAP zwischen Vertragsstaaten verbessert“; der wichtigste Wert des Schiedsverfahrens liege in seiner präventiven Wirkung auf internationale Steuerstreitfälle.19 Abschließend hält Staringer das gesamte Verfahren aber für ausgesprochen behördenlastig und mit einem „echten“ Rechtsschutzverfahren für nicht vergleichbar und kritisiert den bloßen Vorschlagscharakter des Schiedsspruches.20 Das angesprochene Bedrohungsszenario sollte bei den zuständigen Behörden einiger EU-Mitgliedstaaten tatsächlich motivierend wirken, die Verbesserungen durch die SBRL gehen aber weit darüber hinaus. So scheint etwa die Kritik an der Unverbindlichkeit des Schiedsspruches überzeichnet; denn das Schiedsverfahren folgt einem gescheiterten Verständigungsverfahren, in dem sich die zuständigen Behörden gerade nicht einigen konnten. Die zuständigen Behörden sind zwar formal nicht an die Stellungnahme des Beratenden Ausschusses/Ausschuss für alternative Streitbeilegung gebunden, können davon aber nur abweichen, wenn sie gemeinsam eine abweichende Entscheidung treffen. Da sie sich aber vorweg im Verständigungsverfahren nicht einigen konnten, erscheint es unwahrscheinlich, dass sie sich nach dem Schiedsverfahren noch abweichend einigen werden. Damit wird der Stellungnahme vom Beratenden Ausschuss/Ausschuss für alternative Streitbeilegung wohl eine gewisse faktische Verbindlichkeit zukommen.

19 Staringer in Kubik/Schmidjell-Dommes/Staringer, EU-Besteuerungsstreitbeilegungsgesetz, SWI-Spezial 2019, 40; ähnlich auch Klokar, SWI-Spezial 2019, 104 (115) und Kubik, SWK 2019, 1018 (1024). 20 Staringer in Kubik/Schmidjell-Dommes/Staringer, EU-Besteuerungsstreitbeilegungsgesetz, SWI-Spezial 2019, 40 (48); das Argument des „Druckmittels“ wurde auch schon bisher bei Verständigungsverfahren vorgebracht, vgl. z.B. Ismer/Piotrowski in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Art. 25 OECD-MA Rz. 212 unter Hinweis auf Züger, IWB Fach 5, Österreich, Gruppe 2, 466.

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Die abschließende Entscheidung ist für die betroffenen Mitgliedstaaten verbindlich, stellt nach Art. 15 Abs. 4 SBRL aber keinen Präzedenzfall dar. Die fehlende Präzedenzwirkung ist rechtssystematisch konsequent, fehlt doch auch z.B. Gerichtsentscheidungen in Österreich eine solche Bindungswirkung. Damit rückt aber die Veröffentlichung der abschließenden Entscheidung in das Blickfeld. Sind die zuständigen Behörden oder die betroffene Person nicht mit der Veröffentlichung des gesamten Wortlautes der abschließenden Entscheidung einverstanden, ist zumindest eine Zusammenfassung der abschließenden Entscheidung zu veröffentlichen. Um einer übermäßigen Komprimierung der Zusammenfassung entgegenzuwirken, listet Art. 18 Abs. 3 SBRL die erforderlichen Inhaltspunkte auf; dabei sollten insbesondere bei der „Kurzbeschreibung des Endergebnisses“ auch die Entscheidungsgründe erkennbar werden. Die Durchführungsverordnung der Europäischen Kommission enthält im Anhang II ein Musterformular für die Übermittlung von Informationen für die Veröffentlichung einer abschließenden Entscheidung;21 so begrüßenswert ein einheitlicher Standard für die Zusammenfassung auch ist, darf dieser Formularcharakter nicht zur Verknappung der Zusammenfassung führen.22 Denn nur mit inhaltlich aussagekräftigen Zusammenfassungen würde den abschließenden Entscheidungen eine gewisse faktische Relevanz zukommen. Mit diesem Mindestmaß an Transparenz wäre eine gewisse Orientierung für zukünftig gleichgelagerte Fälle verbunden, die zur Erhöhung der Rechtssicherheit beitragen kann.23 Zieht man den Vergleich mit den OECD-Streitbeilegungsinstrumenten, kommt der SBRL damit eine internationale Vorreiterrolle zu.24

c) Gestaltungsspielräume beim Ausschuss für alternative Streitbeilegung Wie oben erwähnt besteht bei der Ausgestaltung des Ausschusses für alternative Streitbeilegung beachtliche Flexibilität, nach Art. 10 Abs. 1 SBRL können ihn die zuständigen Behörden auch in Form eines ständigen Gremiums als „Ständiger Ausschuss“ einsetzen. Diese Möglichkeit der Einsetzung eines Ständigen Ausschusses geht auf die Initiative einiger EU-Mitgliedstaaten zurück, der Richtlinienvorschlag der Europäi21 22 23 24

Durchführungsverordnung (EU) 2019/652 der Kommission v. 24.4.2019. Diese Befürchtung äußert Rüll, IStR 2019, 728. Vgl. Ismer/Piotrowski, IStR 2019, 845. Vgl. Mittendorfer/Streicher in Kubik/Schmidjell-Dommes/Staringer, EU-Besteuerungsstreitbeilegungsgesetz, SWI-Spezial 2019, 138.

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schen Kommission enthielt sie noch nicht. Art. 10 Abs. 1 SBRL ließe es dabei wohl auch zu, bereits bestehende Institutionen wie den EuGH als Schiedsgremium zu betrauen.25 Auf Initiative von Deutschland formierte sich eine Fiscalis-Projektgruppe, bestehend aus Vertretern von 13 EU-Mitgliedsstaaten,26 um Optionen im Rahmen von Art. 10 SBRL auszuloten; die Fiscalis-Projektgruppe legte dazu im August 2019 ein Arbeitspapier vor.27 Bei der „Form“ des Ausschusses für alternative Streitbeilegung beschäftigte sich das Arbeitspapier mit dem „Grad der Beständigkeit“ und sah vier Optionen:28 –

Option 1: Vollzeitschiedsrichter;



Option 2: Teilzeit-Schiedsrichter;



Option 3: Geschäftsaufteilung bzw. Dienstplan;



Option 4: Ad-hoc-Gremium wie Beratender Ausschuss.

Die Fiscalis-Projektgruppe präferierte zwar keine der Optionen, gab jedoch zu bedenken, dass die Option 1 für eine höhere Zahl an Streitfällen ausgelegt (und die teuerste Option) wäre. Da im August 2019 die künftige Arbeitsauslastung kaum abschätzbar war, verankerte die Fiscalis-Projektgruppe unter dem Titel „Growing over time“ einen sehr interessanten Gedanken: Man könnte auch mit einem Ständigen Ausschuss mit Teilzeitrichtern (Option 2) starten, der das Potential für eine Umwandlung in einen Ständigen Ausschuss mit Vollzeitrichtern hätte (Option 1).29 Österreich unterstützt die Einrichtung eines Ständigen Ausschusses, wobei die konkrete Ausgestaltung in Form von Option 1 (Vollzeitschieds25 Ebenso Vock/Spanböchl, RdW 2019, 192; nach Rüll, IStR 2019, 728 (735) wäre im Falle der Berufung des EuGH in der Vereinbarung der zuständigen Behörden ein Schiedsvertrag i.S.d. Art. 273 AEUV zu sehen und damit die Zuständigkeit des EuGH nach dieser Vorschrift begründet. 26 Austria, Belgium, Czech Republic, Finland, France, Germany, Italy, Netherlands, Poland, Slovak Republic, Spain, Sweden und damals noch United Kingdom. 27 Fiscalis Project Group (FPG) 093, Working Paper on the Implementation of Article 10 of Directive (EU) 2017/1852 on Tax Dispute Resolution Mechanisms in the European Union, August 2019; im Folgenden: FPG 093, Working Paper; dazu auch Spanblöchl/Turcan in Kubik/Schmidjell-Dommes/Staringer, EUBesteuerungsstreitbeilegungsgesetz, SWI-Spezial 2019, 117. 28 FPG 093, 14 ff. 29 FPG 093, 38.

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richtern) oder Option 2 (Teilzeitschiedsrichtern) vor allem von der zu erwartenden Arbeitsauslastung abhängen wird. Derzeit (September 2022) dürften zwar noch keine Schiedsverfahren anhängt sein;30 die ersten Schiedsverfahren sind aber schon absehbar, wie etwa in einem Verständigungsverfahren zwischen Italien und Österreich, in dem sich die zuständigen Behörden nicht einigen können. Zudem nehmen in Österreich Verständigungsverfahren nach der SBRL kontinuierlich zu. Aus österreichischer Perspektive spricht derzeit Vieles für Option 2 (Teilzeitschiedsrichter) mit Ausbau-Perspektive zu Option 1. Auch wenn nun die mögliche Perspektive auf Option 1 mit Vollzeitschiedsrichtern sogleich zu gefallen vermag, bliebe selbst ein solcher Ständiger Ausschuss mit Vollzeitschiedsrichtern eingebettet in der (derzeitigen) SBRL; das behördengeprägte Verfahren bliebe grundsätzlich erhalten. Das Arbeitspapier der Fiscalis-Projektgruppe spricht dies im Abschnitt „Legal Framework“ offen an; denn es gehe nicht um die Schaffung eines „international court or tribunal for tax disputes“, sondern vielmehr um einen Entscheidungsprozess zwischen den Steuerbehörden souveräner Staaten unter Einbindung unabhängiger Personen.31 An das Arbeitspapier anknüpfend teilte auch die Europäische Kommission im Juli 2020 mit, dass sie in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten weiterhin an der Einrichtung eines ständigen Gremiums für die Streitbeilegung, einem Ständigen Ausschuss, arbeite; der Ständige Ausschuss solle einen Beitrag zur Wirksamkeit der Streitbeilegung zwischen den Mitgliedstaaten leisten.32 Unter deutscher Leitung arbeiten derzeit die Mitgliedsstaaten in einer fortgesetzten Fiscalis-Projektgruppe an einem Ausschuss für alternative Streitbeilegung in Form eines Ständigen Ausschusses mit Teilzeitschiedsrichtern. Die Ergebnisse dieser Arbeiten sollten 2023 vorliegen. So vielversprechend diese Entwicklungen auch klingen, gilt es auch Ursachenforschung zu betreiben und zu hinterfragen, was im derzeitigen rechtlichen Rahmen der SBRL ein Ständiger Ausschuss mit Voll-/Teilzeitschiedsrichtern überhaupt zu leisten im Stande wäre.

30 Jedenfalls gibt es noch keine Veröffentlichungen von abschließenden Entscheidungen im zentralen Register der Europäischen Kommission gem. Art. 19 Abs. 3 SBRL. 31 FPG 093, 8. 32 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 15.7.2020, COM(2020), 312 final, Aktionspunkt 15.

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III. Rechtliche Begrenzungen 1. Spielräume und Lösungsansatz Das Dilemma bei gescheiterten Verständigungsverfahren besteht oftmals darin, dass es den zuständigen Behörden schlichtweg am notwendigen Spielraum fehlt, um eine Einigung erreichen zu können. Ganz allgemein hängt der Spielraum bei Verständigungsverfahren von der Art der Streitigkeit ab. Bei Streitigkeiten über den Sachverhalt wird den zuständigen Behörden in der Regel ein ausreichender Einigungs-Spielraum zukommen. Gerade im internationalen Steuerrecht sind Streitfragen oftmals sachverhaltslastig und für nationale Gerichtsverfahren ohnehin nicht prädestiniert;33 dies gilt vor allem für Transfer-Pricing-Fälle, wobei es auch in solchen Fällen die Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu wahren gilt. Für Streitigkeiten über den Sachverhalt erscheinen Verständigungsverfahren sehr gut geeignet; sollte ein Verständigungsverfahren dann dennoch scheitern, bedeutet ein mit unabhängigen Experten besetztes Schiedsgericht einen beachtlichen Fortschritt. Anders stellt sich die Situation bei unterschiedlichen Rechtsauffassungen dar; besonders plakativ etwa dann, wenn unterschiedliche Sichtweisen über den zur Anwendung kommenden Verteilungsartikel bestehen. Besonders eindrucksvoll zeigte sich dies bei einem in Deutschland ansässigen Lichtdesigner für Opern, über den der BFH im Jahre 2018 zu entscheiden hatte; bei der Anwendung des DBA kamen als Verteilungsartikel Art. 15 (Einkünfte aus unselbständiger Arbeit), Art. 7 (Unternehmensgewinne) und Art. 17 (Künstler) in Betracht. Das FG knüpfte bei der Einkünftequalifikation an die ausländischen Arbeitgeberbescheinigungen in Schweden, Frankreich und der Schweiz an. Dagegen verwarf der BFH diese Beurteilung der Nichtansässigkeitsstaaten, wendete vielmehr Art. 3 Abs. 2 OECD-MA an und hielt damit das deutsche innerstaatliche Recht für maßgeblich. Als (vermeintlichen) Ausweg für den Steuerpflichtigen sprach der BFH noch den Grundsatz der Entscheidungsharmonie an, der es keineswegs ausschließe, „dass die Vertragsauslegung der Vertragsstaaten zu Qualifikationskonflikten führt und diese gegebenenfalls im Wege des Verständigungsverfahrens ausgeräumt oder gemildert werden“.34 33 Vgl. Staringer in Kubik/Schmidjell-Dommes/Staringer, EU-Besteuerungsstreitbeilegungsgesetz, SWI-Spezial 2019, 40 (48). 34 BFH v. 11.7.2018 – I R 44/16.

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Ismer/Piotrowski werfen daraufhin die Frage auf, was denn nun der Gegenstand eines solchen Verständigungsverfahrens sein möge? Denn die Lösung der Rechtsfrage für Deutschland hätte im konkreten Fall bereits der BFH vorgenommen; daran sei die deutsche Behörde gebunden, wollte sie keinen Rechtsbruch begehen.35 Das Problem ist aber noch breiter angelegt und kann auch dort auftreten, wo das Abkommen autonom auszulegen ist, die Gerichte der beiden Vertragsstaaten aber zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Die Bindung der zuständigen Behörden durch höchstgerichtliche Rechtsprechung verunmöglicht die Einigung im Verständigungsverfahren, wodurch das DBA seinen Zweck – die Vermeidung der Doppelbesteuerung – nicht erreicht.36 Um aber den Zweck der DBA zu erreichen, fordern Ismer/Piotrowski Mechanismen, die eine Abweichung von den höchstrichterlichen Entscheidungen der beiden Vertragsstaaten zulassen. Da die Einrichtung eines Weltsteuergerichts derzeit nicht realistisch erscheine, knüpfen sie an die SBRL an und schlagen vor, den Ständigen Ausschuss gerichtsförmig auszugestalten. Unter Berücksichtigung von verfassungsrechtlichen und unionsrechtlichen Anforderungen können sich Ismer/Piotrowski einen solchen Ständigen Ausschuss zunächst auch als Pilotprojekt vorstellen.37 Bevor an diesem lösungsorientierten Gedanken weitergesponnen wird, soll noch die Wechselwirkung zu nationalen Rechtsbehelfen beleuchtet werden.

2. Wechselwirkung zu nationalen Rechtsbehelfen Nach Art. 16 Abs. 4 SBRL können die Mitgliedstaaten eine Regelung zur Beendigung des Verfahrens vorsehen, sofern ein nationales Gericht oder eine Justizbehörde eine Entscheidung getroffen hat, von der nach nationalem Recht nicht mehr abgewichen werden kann. Im Lichte des Stellenwerts von nationalen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen (BFG) und des objektiven Rechtsschutzes sowie der Bindung von Abgabenbehörden38 war es für Österreich selbstverständlich, eine solche Beendigungsvorschrift zu verankern: Hat daher das österreichische Bun-

35 36 37 38

Ismer/Piotrowski, IStR 2019, 845. Ismer/Piotrowski, IStR 2019, 845. Ismer/Piotrowski, IStR 2019, 845. Zur allgemeinen Bindungswirkung s. § 279 Abs. 3 österr. BAO; zur Vollstreckung § 282 österr. BAO.

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desfinanzgericht über die (konkrete)39 Streitfrage entschieden, so gilt die Streitfrage nach § 62 EU-BStbG als weggefallen; gleichermaßen endet das Schiedsverfahren, wenn die zuständige Behörde eines anderen EUMitgliedsstaates mitteilt, dass ein maßgebliches Gericht oder eine maßgebliche andere Justizbehörde über die Streitfrage entschieden hat und von dieser Entscheidung nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedsstaats nicht abgewichen werden kann.40 Deutschland hat hingegen Art. 16 Abs. 4 SBRL in § 20 Abs. 4 EU-DBA-SBG nur eingeschränkt auf rechtskräftige Entscheidungen durch ein Gericht oder andere Justizbehörde in einem anderen EU-Mitgliedstaat umgesetzt. Anders als in Österreich steht in Deutschland damit ein (nationales) Urteil eines FG einem Schiedsverfahren nicht entgegen, was aus deutscher Perspektive vor allem im Lichte der zu § 175a AO vertretenen Sichtweise konsequent erscheinen mag.41 Dennoch spiegelt dieser – durchaus erhebliche – Unterschied in Deutschland und Österreich letztlich den unterschiedlichen Zugang zu und Stellenwert von nationalen Gerichtsentscheidungen im Verständigungsverfahren wider. Die Bindungswirkung an nationale verwaltungsrechtliche Entscheidungen besteht in Österreich unabhängig davon, ob das Schiedsverfahren nach der SBRL durch einen Beratenden Ausschuss oder durch einen Ständigen Ausschuss mit Voll-/Teilzeitschiedsrichtern erfolgt. Wenn man nun das Schiedsverfahren als bloße Fortsetzung des (gescheiterten) Verständigungsverfahrens ansieht, stellt sich die Frage, ob in einem Schiedsverfahren überhaupt Streitigkeiten gelöst werden können, die zuvor im Verständigungsverfahren grundsätzlich unlösbar erschienen. Die Fragestellung lässt sich anhand eines Beispiels verdeutlichen: Auf Grund von (gefestigter) VwGH-Rechtsprechung zu vergleichbaren Sachverhalten besteht für die zuständige Behörde in Österreich keinerlei 39 § 62 Abs. 1 EU-BStbG ist insofern sprachlich präziser als Art. 16 Abs. 4 SBRL („eine Entscheidung über eine Streitfrage“), wobei sich Art. 16 Abs. 4 SBRL m.E. auch auf die konkrete Streitfrage bezieht (und nicht auch auf Gerichtsentscheidungen bei anderen Steuerpflichtigen zu vergleichbaren Auslegungsfragen); ebenso Flüchter in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2. Aufl. 2020, Kap. 24.41. 40 § 62 Abs. 1 und Abs. 2 sowie § 34 österr. EU-BStbG. 41 Zur Durchbrechung der Rechtskraft gerichtlicher Urteile im Verständigungsund Schiedsverfahren vgl. z.B. Ismer/Piotrowski in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Art. 25 OECD-MA Rz. 121 und 229; vgl. weiters Becker in Achatz, Internationales Steuerrecht, DStjG 36 (2013), 167 (181 f.); kritisch Lehner in Vogel/Lehner, DBA, 6. Aufl. 2015, Art. 25 OECD-MA Rz. 218.

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Spielraum im Verständigungsverfahren. Zum konkreten Sachverhalt gibt es aber kein nationales Gerichtsurteil, weshalb das Verfahren nach SBRL fortgesetzt werden kann. Im Verständigungsverfahren gelingt dann keine Einigung, weil es auf österreichischer Seite an Spielräumen mangelt. Im nachfolgenden Schiedsverfahren sind die zuständigen Behörden nach Art. 15 SBRL an die Stellungnahme des Beratenden Ausschusses/ Ausschusses für alternative Streitbeilegung gebunden, sofern sie keine abweichende Entscheidung treffen. Eine von der Stellungnahme abweichende Einigung der zuständigen Behörden wird auszuschließen sein, weshalb die Stellungnahme als abschließende Entscheidung umzusetzen ist. Das Beispiel belegt, dass mittels Schiedsverfahren auch in Fällen eine abschließende Entscheidung erreicht werden kann, in denen es der österreichischen Finanzverwaltung im Verständigungsverfahren an Spielraum fehlt. In solchen Konstellationen vermag das Schiedsverfahren tatsächlich mehr zu leisten als das vorgelagerte Verständigungsverfahren. Damit hätte es der Steuerpflichtige gewissermaßen selbst in der Hand, auf ein nationales Rechtsmittel zu verzichten, um das Schiedsverfahren offen zu halten. Im Verzicht auf nationale Rechtsmittel die taugliche Lösung zu sehen, mag für den individuellen Rechtsschutz noch hinnehmbar sein,42 rechtsstaatlich befriedigen vermag das aber nicht. Die Lösung sollte daher so umfassend ausgestaltet sein, um auch im Falle nationaler Gerichtsentscheidungen die Streitigkeit klären zu können.

IV. Lösungsvorschläge 1. Betrauung EuGH? Wie oben bereits angesprochen besteht bei der Ausgestaltung des alternativen Ausschusses ein hohes Ausmaß an Flexibilität und Art. 10 SBRL ließe es auch zu, bestehende Institutionen wie den EuGH als Schiedsgremium zu betrauen (vgl. oben II.2.c). Ein zwischenstaatliches Schiedsverfahren vor dem EuGH auf Grundlage des Art. 273 AEUV vorzusehen, wäre insofern kein Novum, enthält doch auch das DBA DeutschlandÖsterreich in Art. 25 Abs. 5 als Schiedsgericht den EuGH. Und über 15 Jahre nach Aufnahme dieser Schiedsklausel im DBA erging sodann am 12.9.2017 auch das erste und bislang einzige Schiedsgerichtsurteil

42 Vgl. Gunacker-Slawitsch, in diesem Tagungsband.

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durch den EuGH.43 Ein Schiedsgerichtsurteil durch den EuGH genießt naturgemäß rechtsstaatlich höchste Akzeptanz. Im Falle einer solchen Betrauung durch den EuGH erschiene es daher auch für Österreich möglich, auf Art. 16 Abs. 4 SBRL zu verzichten und das schiedsgerichtliche Verfahren auch dann fortzusetzen, wenn im konkreten Fall eine Entscheidung durch das BFG oder den VwGH ergangen ist; das österreichische EUBStbG wäre entsprechend abzuändern. Bei aller rechtsstaatlichen Euphorie gilt es aber zu bedenken: Der EuGH würde als Organ der Union handeln, weshalb die Regelungen über das Verfahren vor dem EuGH zu beachten wären.44 Nüchtern betrachtet ist diese Verfahrensordnung für bilaterale Streitigkeiten kaum geeignet, wie auch der gesamte Art. 273 AEUV bisher noch keine besondere praktische Bedeutung erlangt hat.45 Auch die Verfahrensdauer für das Schiedsverfahren zwischen Deutschland und Österreich mit über sechs Jahren entspricht nicht den praktischen Bedürfnissen und geht weit über die in Art. 14 SBRL vorgesehenen sechs Monate hinaus. Dies alles trübt die rechtsstaatliche Euphorie, im Anwendungsbereich von Art. 273 AEUV eine praxistaugliche Lösung finden zu können.

2. Lösungsrahmen Aus heutiger Sicht wird eine praxistaugliche wie umsetzbare Lösung in einem rechtstaatlichen Kompromiss münden. Je nach konkreter Ausgestaltung kann ein solcher Kompromiss einen erheblichen Fortschritt bedeuten. Da die EU-Mitgliedstaaten derzeit an einem Ausschuss für alternative Streitbeilegung in Form eines Ständigen Ausschusses arbeiten (vgl. oben II.2.c), gilt es aus österreichischer Perspektive, das Potential beim Ständigen Ausschuss auszuschöpfen und mögliche Gefahren im Auge zu behalten.46 Aus rechtsstaatlicher Sicht erscheint das Potential von Art. 10 SBRL durchaus beachtlich, doch bereits das Arbeitspapier der 43 EuGH v. 12.9.2017 – C-648/15 – Österreich/Deutschland; dazu z.B. Strotkemper, IStR 2019, 235; Jirousek, SWI 2017, 300. 44 Vgl. Ehricke in Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 273 AEUV Rz. 4; Ismer/Piotrowski in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Art. 25 OECD-MA Rz. 266. 45 Ehricke in Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 273 AEUV Rz. 5, wobei es im Lichte der Eurokrise mit Stabilitätspakt und ESM-Vertrag zu einer Trendwende kommen könnte; vgl. auch Cremer in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 273 AEUV Rz. 1 (Fn. 3). 46 Die Flexibilität sollte etwa nicht zu einer Einschränkung von Mitwirkungsrechten führen; vgl. Gunacker-Slawitsch, in diesem Tagungsband.

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Fiscalis-Projektgruppe greift relativierend ein, als es nicht um die Schaffung eines „internationale court or tribunal for tax disputes“ gehe, sondern um einen Entscheidungsprozess zwischen den Steuerbehörden souveräner Staaten unter Einbindung unabhängiger Personen.47 Eine umsetzbare Lösung bewegt sich zunächst im bestehenden Rahmen der SBRL. Auf Grund der noch schwer abschätzbaren Arbeitsauslastung befürwortet Österreich einen Ständigen Ausschuss mit Teilzeitschiedsrichtern (Option 2) mit Ausbau-Perspektive zu Option 1 (Vollzeitschiedsrichter); ein solcher Ständiger Ausschuss sollte (mittelfristig) auch den Beratenden Ausschuss gänzlich ablösen. Die rechtsstaatlichen Weichen für den Ständigen Ausschuss gilt es jetzt zu stellen. So schlagen auch Ismer/Piotrowski vor, den Ständigen Ausschuss „gerichtsförmig“ auszugestalten, wobei in Deutschland die Anforderungen an die Gerichtsförmigkeit im Einklang mit den zu Art. 19 Abs. 4 GG entwickelten Vorgaben zu bestimmen sein dürften.48 Ein „gerichtsförmig“ ausgestalteter Ständiger Ausschuss wäre rechtsstaatlich ein Türöffner: Je „gerichtsförmiger“ der Ständige Ausschuss ausgestaltet wird, desto leichter täten sich EU-Mitgliedstaaten wie Österreich, vom eingeräumten Wahlrecht nach Art. 16 Abs. 4 SBRL abzusehen; denn hat bisher das österreichisches Bundesfinanzgericht über die Streitfrage entschieden, so gilt die Streitfrage nach § 62 EU-BStbG als weggefallen. Greift man beim Begriff „Gericht“ als Orientierungshilfe auf Art. 6 Abs. 1 EMRK („tribunal“) zurück, kommt es nach der Rechtsprechung des EGMR für die Tribunalqualität eines rechtsprechenden Organs auf die judizielle Funktion, die Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive und den Verfahrensbeteiligten sowie auf die Unparteilichkeit an. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit müssen auch durch die Art und Weise der Bestellung der Organwalter und deren (längere) Amtsdauer gesichert sein.49 Übertragen auf den Ständigen Ausschuss wird vor allem der Unabhängigkeit der (Teilzeit-)Schiedsrichter erhebliche Bedeutung zukommen: Bei der Auswahl der (Teilzeit-)Schiedsrichter sollten hinsichtlich deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit möglichst hohe Maßstäbe angelegt werden; ideal erschiene eine Besetzung ausschließlich mit (Finanz-)Rich-

47 FPG 093, 8. 48 Ismer/Piotrowski, IStR 2019, 845. 49 Mayer/Kucsko-Stadlmayer/Stöger, Bundesverfassungsrecht, 11. Aufl. 2015, 834 unter Hinweis auf EGMR.

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tern, für eine Dauer von mindestens drei Jahren.50 Zum Schutz der schiedsrichterlichen Unabhängigkeit würde auch eine vorbestimmte Geschäftsverteilung beitragen.51 Fachlich daran anknüpfend empfehlen sich Spezialisierungen; denn ein Ständiger Ausschuss mit (Teilzeit-)Schiedsrichtern läuft Gefahr, den (Teilzeit-)Schiedsrichtern ein zu breites Portfolio an speziellen Fachkenntnissen aufzubürden (zumal Teilzeitschiedsrichter nicht permanent tagen). Dies trifft vor allem auf die Verrechnungspreise zu, bei denen sich sowohl in der Beratungspraxis als auch in den Finanzverwaltungen Experten-Einheiten herausgebildet haben. Gerade für die Verrechnungspreise erschiene es daher zweckmäßig, innerhalb des Ständigen Ausschusses ein gesondertes „Panel“ für Verrechnungspreise einzurichten.52 Ein hoher Grad an Unabhängigkeit der (Teilzeit-)Schiedsrichter, deren Mindestbestelldauer sowie Fachexpertise würden jedenfalls zur Reputation des Ständigen Ausschusses beitragen. Daneben gilt es noch eine Reihe von weiteren Fragen zu klären, wie etwa die infrastrukturelle Anbindung des Ständigen Ausschusses oder die Einrichtung eines Sekretariats. Dem Ständigen Ausschuss würde es jedenfalls gut zu Gesichte stehen, infrastrukturell an ein z.B. „internationales Gericht“ angebunden zu sein; die Möglichkeiten dafür gilt es noch auszuloten.53 Bei einem in diesem Sinne ausgestalteten Ständigen Ausschuss erscheint die Verprobung interessant, ob dieser sodann auch ein zur Vorlage an den EuGH berechtigtes Gericht nach Art. 267 AEUV wäre. Der EuGH hat zur Bestimmung des Gerichtsbegriffs nach Art. 267 AEUV eine Reihe von Kriterien herausgearbeitet, wobei wesentlich sei, dass es sich um eine unabhängige Stelle auf gesetzlicher Grundlage handle, die eine ständige und obligatorische Gerichtsbarkeit ausübe und deren potentiell verbindliche Entscheidungen unter Anwendung von Rechtsnormen zustande komme und auf rechtsstaatlichen Grundsätzen basieren.54 Eine „ständi50 So wurde die geforderte (längere) Amtsdauer bereits bei einer Bestelldauer von drei Jahren als hinreichend angesehen, Mayer/Kucsko-Stadlmayer/Stöger, Bundesverfassungsrecht11 (2015), 836. 51 Das österreichisches Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) sieht in Art. 87 Abs. 3 B-VG eine feste Geschäftsverteilung vor. 52 Bereits das Fiscalis Working Paper wirft bei Option 2 die Frage von „specialised panels“ auf, FPG 093, 25; vgl. auch Spanblöchl/Turcan in Kubik/SchmidjellDommes/Staringer, EU-Besteuerungsstreitbeilegungsgesetz, SWI-Spezial 2019, 117 (122). 53 Vgl. schon FPG 093, 38. 54 Ehrike in Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 267 AEUV Rz. 29.

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ge und obligatorische Gerichtsbarkeit“ würde der Ständige Ausschuss wohl ausüben.55 Schwieriger zu erfüllen erscheint das Kriterium der „potentiell verbindlichen Entscheidungen unter Anwendung von Rechtsnormen“: Bei der „Anwendung von Rechtsnormen“ fällt der Blick sogleich auf Art. 10 Abs. 2 SBRL, der „jegliche Verfahren oder Techniken zur verbindlichen Streitbeilegung“ ermöglicht; damit käme als Alternativ-Verfahren zur unabhängigen Stellungnahme (independent opinion) auch das endgültige Angebot (final offer oder baseball arbitration) in Betracht. Beim „final offer“-Verfahren würden die zuständigen Behörden dem Ständigen Ausschuss jeweils einen Entscheidungsvorschlag vorlegen, aus denen der Ständige Ausschuss auszuwählen hätte. Ohne die praktischen Erleichterungen des „final offer“-Verfahrens schmälern zu wollen (insbesondere bei Verrechnungspreisstreitigkeiten), gewährleistet es nicht materiell richtige Lösungen;56 den Ansprüchen eines gerichtsförmig ausgestalteten Ständigen Ausschusses wird das Verfahren der unabhängigen Stellungnahme jedenfalls besser gerecht. Sodann ist die Stellungnahme (formal) nicht verbindlich, wobei die zuständigen Behörden nur dann von der Stellungnahme abweichen können, wenn sie gemeinsam eine abweichende Entscheidung treffen; damit wird der Stellungnahme vom Beratenden Ausschuss/Ausschuss für alternative Streitbeilegung aber ohnehin schon eine faktische Verbindlichkeit zukommen (vgl. oben II.2.b). Rüll hält dies für die Einstufung als Gericht i.S.d. Art. 267 AEUV für ausreichend, weil die Stellungnahme eben verbindlich wird, wenn sich die Behörden nicht auf eine andere Lösung einigen können.57 Diese Sichtweise scheint vertretbar,58 wenngleich es optisch wesentlich eleganter wäre, wenn der Stellungnahme vom Beratenden Ausschuss/Ausschuss für alternative Streitbeilegung nicht nur faktische, sondern formale Verbindlichkeit zukäme.

55 Obligatorisch deshalb, weil es – anders als bei privaten Schiedsgerichten – für die Einsetzung keiner weiteren Abreden mehr bedarf, sondern nur des Antrags der betroffenen Person gem. Art. 6 Abs. 1 SBRL, vgl. Rüll, IStR 2019, 728 (737). 56 Kritisch auch Ismer/Piotrowski in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Art. 25 OECD-MA Rz. 225. 57 Rüll, IStR 2019, 728 unter Hinweis auf EuGH. 58 Im Ergebnis erachten Ismer/Piotrowski in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl. 2021, Art. 25 OECD-MA Rz. 340 ebenso den Beratenden Ausschuss als „Gericht eines Mitgliedstaates“.

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Eine solche (formale) Verbindlichkeit hätte eine deutliche rechtsstaatliche Signalwirkung, bedürfte aber auch Anpassungen der SBRL, vor allem bei den Art. 15 Abs. 1 und 2 SBRL. Sollten die EU-Mitgliedstaaten im Lichte eines gestärkten Ständigen Ausschusses tatsächlich bereit sein, die SBRL inhaltlich anzupassen, würden sich noch einige Begleitanpassungen anbieten; dies beträfe ganz allgemein Art. 10 SBRL oder auch die Geschäftsordnung nach Art. 11 SBRL. Solche Anpassungen der SBRL entspringen aber eher einem (persönlichen) Wunschdenken, weil sich in der bisherigen EU-Praxis Änderungen von steuerlichen EU-Richtlinien als besonders mühsam herausgestellt haben. Dennoch sei dieser Gedanke noch zu Ende gedacht: Bei einem gerichtsförmig ausgestalteten Ständigen Ausschuss könnten auch EU-Mitgliedstaaten wie Österreich vom eingeräumten Wahlrecht nach Art. 16 Abs. 4 SBRL absehen. Art. 16 Abs. 4 SBRL würde sich sodann als starker Durchsetzungs-Hebel präsentieren: Denn entfiele das Mitgliedstaaten-Wahlrecht in Art. 16 Abs. 4 in der SBRL, käme dem Unionsrecht ohnehin Vorrang zu gegenüber dem nationalen (österreichischen) Recht; etwaigen nationalen verfassungsrechtlichen Vorbehalten käme hier keine Bedeutung zu.59

V. Ergebnisse und Ausblick Schiedsverfahren nach der SBRL zeichnen sich durch beachtliche Verbesserungen aus, die über ein bloßes Bedrohungsszenario für einzelne EU-Mitgliedstaaten bei Verständigungsverfahren hinausgehen: So ist etwa das Schiedsverfahren in seinem Ablauf sehr flott konzipiert; der Stellungnahme vom Beratenden Ausschuss/Ausschuss für alternative Streitbeilegung wird wiederum eine gewisse faktische Verbindlichkeit zukommen, weil die zuständigen Behörden von der Stellungnahme nur abweichen dürfen, wenn sie gemeinsam eine abweichende Entscheidung treffen. Die Veröffentlichung der abschließenden Entscheidung oder zumindest ihrer Zusammenfassung ermöglicht eine gewisse Orientierung für zukünftig gleichgelagerte Fälle und kann damit zur Erhöhung der Rechtssicherheit beitragen. Anders als Deutschland hat Österreich die Möglichkeit der Verfahrensbeendigung nach Art. 16 Abs. 4 SBRL (Entscheidung eines nationalen Gerichts liegt vor) vollumfänglich 59 Der „integrationsfeste Verfassungskern“ würde in Österreich nicht tangiert, dazu Mayer/Kucsko-Stadlmayer/Stöger, Bundesverfassungsrecht, 11. Aufl. 2015, 139; zu den verfassungsrechtlichen Vorbehalten in Deutschland z.B. Schaumburg in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2. Aufl. 2020, 56.

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umgesetzt, was es bei den weiteren konzeptionellen Überlegungen mitzudenken gilt, dem hohen Stellenwert von nationalen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen in Österreich aber Rechnung trägt. Beim Ausschuss für alternative Streitbeilegung eröffnet die SBRL Gestaltungsspielräume: Dieser kann auch als Ständiger Ausschuss eingesetzt werden, an dessen Konzeption derzeit eine Gruppe von EU-Mitgliedstaaten arbeitet. Bei der Ausgestaltung des alternativen Ausschusses besteht ein hohes Ausmaß an Flexibilität, wobei es Art. 10 SBRL auch zuließe, bestehende Institutionen wie den EuGH als Schiedsgremium zu betrauen; die Verfahrensordnung vor dem EuGH ist allerdings für bilaterale Streitigkeiten kaum geeignet. Aus österreichischer Perspektive gilt es, das „rechtsstaatliche Potential“ von Art. 10 SBRL auszuschöpfen. Da aber die Arbeitsauslastung eines Ständigen Ausschusses derzeit noch schwer abschätzbar ist, befürwortet Österreich einen Ständigen Ausschuss mit Teilzeitschiedsrichtern (Option 2) mit Ausbau-Perspektive zu Option 1 (Vollzeitschiedsrichter). Der Ständige Ausschuss sollte möglichst „gerichtsförmig“ ausgestaltet werden. Dabei kommt vor allem der Unabhängigkeit der (Teilzeit-)Schiedsrichter erhebliche Bedeutung zu; ideal erschiene eine Besetzung ausschließlich mit (Finanz-)Richtern, für eine Dauer von mindestens drei Jahren. Fachlich daran anknüpfend würden sich noch Spezialisierungen empfehlen (wie insbesondere für Verrechnungspreise). Bei einem unter Ausschöpfung des Potentials der SBRL ausgestalteten Ständigen Ausschuss erscheint rechtsstaatlich die Verprobung interessant, ob dieser sodann ein zur Vorlage an den EuGH berechtigtes Gericht nach Art. 267 AEUV wäre. Dies erscheint letztlich vertretbar, wenngleich es eleganter wäre, käme der Stellungnahme vom Beratenden Ausschuss/Ausschuss für alternative Streitbeilegung nicht nur faktische, sondern auch formale Verbindlichkeit zu. Eine solche (formale) Verbindlichkeit bedürfte einer Anpassung der SBRL. Auch wenn inhaltliche Anpassungen der SBRL einem Wunschdenken entspringen, würden sich noch einige Begleitanpassungen anbieten. Art. 16 Abs. 4 SBRL würde sich zudem als starker Durchsetzungs-Hebel präsentieren; denn entfiele das Mitgliedstaaten-Wahlrecht in Art. 16 Abs. 4 SBRL, käme dem Unionsrecht ohnehin Vorrang zu gegenüber dem nationalen (österreichischen) Recht. Doch auch im bestehenden Rahmen der SBRL ließe sich der Ständige Ausschuss „gerichtsförmig“ ausgestalten, wenngleich mit gewissen Schönheitsfehlern behaftet. Eine solche Ausgestaltung wäre zeitnah

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möglich und erscheint durchaus realistisch. Einem gerichtsförmiger ausgestalteten Ständigen Ausschuss fiele wohl rechtsstaatliche Akzeptanz zu. Mit einem solchen Ständigen Ausschuss würde die EU ein starkes Signal senden, das weltweit zu hören wäre. Denn nach jahrelangen, intensiven Verhandlungen haben sich im Oktober 2021 137 Staaten des OECD/G20 Inclusive Framework zur Two-Pillar Solution bekannt und bei Pillar One auch die „Tax Certainty“ ausdrücklich angesprochen.60 Der im Oktober 2022 veröffentlichte „Progress Report on the Administration and Tax Certainty Aspect of Pillar One“61 präsentiert sich quantitativ zwar umfassend, qualitativ aber holprig. So ist beim Tax Certainty Framework for Amount A im Falle von Uneinigkeiten zwar ein Determination Panel vorgesehen, die Ausführungen dazu bewegen sich aber in Optionalitäten;62 bei der Entscheidungsfindung wird eine Vielzahl von Optionen aufgezeigt. Doch auch bei der Zusammensetzung des Determination Panels bleibt ein weites Spektrum: So schlägt Option A ein Independent Expert only Panel vor, Option B ein Government Official only Panel und Option C ein Mixed Panel. Wohlwollend betrachtet ist die OECD zumindest redlich bemüht, die (unterschiedlichen) Interessen der globalen Steuerwelt abzubilden und Schnittmengen zu zeichnen. Der Weg bis zur globalen Einigung bleibt aber steinig. Mit einem gerichtsförmiger ausgestalteten Ständigen Ausschuss könnte sich die EU als rechtsstaatliche Lokomotive für Schiedsverfahren präsentieren. Aus dieser Lokomotive blickend könnte sich sodann am fernen Horizont auch noch die Vision eines Weltsteuergerichts abzeichnen.

60 OECD/G20 Base Erosion and Profit Shifting Project, Statement on a Two-Pillar Solution to Address the Tax Challenges Arising from the Digitalisation of the Economy, 8 October 2021. 61 OECD/G20 Base Erosion and Profit Shifting Project, Progress Report on the Administration and Tax Certainty Aspects of Pillar One, Public consultation, 6 October 2022. 62 OECD/G20 Base Erosion and Profit Shifting Project, Progress Report on the Administration and Tax Certainty Aspects of Pillar One, Public consultation, 6 October 2022, 117 ff.

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Diskussion zu den Referaten von Dr. Ulrich Grünwald, Prof. Dr. Stephan Rasch und Prof. DDr. Gunter Mayr Prof. Dr. Roman Seer, Bochum Ich fange mal an mit dem Beitrag von Ihnen, lieber Herr Grünwald. Sie sprechen mir ja mit Vielem aus der Seele und ich hatte am Montagmorgen auch das als einen kleinen wichtigen Punkt in meinem eigenen Vortrag, ohne Ihnen da irgendwie viel vorwegnehmen zu wollen: Ihre Konzeption, die Sie jetzt vorgeschlagen haben, will ja, wenn man so will, wenn ich es richtig verstehe, den Leistungsempfänger mit einbeziehen, d.h. also, und dazu wollen Sie die verfahrensrechtlichen Mittel der Hinzuziehung und Beiladung, wenn man so will, nutzen. Das kann ja erstmal nur Sinn machen im Verhältnis B2B-Leistungen, d.h. also im zwischenunternehmerischen Verkehr, so dass man es darauf also beschränken müsste, denn den nicht erkennbaren Konsumenten kann ich ja schlecht einbeziehen. Das vielleicht nur zur Klarstellung. Aber zum anderen sehe ich darin auch gewisse verfahrensrechtliche Probleme, weil das natürlich das Verfahren verzögert. Das heißt also, ich müsste hier an der Stelle erst einmal ermitteln: Wer ist der Leistungsempfänger? Ich müsste mich wohl entscheiden: Ist das eine notwendige oder ist das eine einfache Hinzuziehung? Ist das also obligatorisch oder fakultativ? Und genau das, was an sich der Unternehmer braucht, nämlich relativ schnelle Klarheit über die umsatzsteuerlichen Verhältnisse und die Problemfragen – haben Sie ja in der einen Folie ziemlich klar dargestellt –, das wird er dann wahrscheinlich nicht bekommen. Deshalb meine Frage: Könnte man es nicht doch einfach bei dem Leistenden belassen und das ist letztlich dann auch verbindlich für den Leistungsempfänger hier an der Stelle, ohne dass man die Person jetzt hinzuziehen muss und dass damit dann auch klar ein Pre in der Behandlung bei dem Leistenden liegt und dass dann eben die Finanzverwaltung des Leistungsempfängers dem folgen muss. Wenn es nämlich nur darum geht, bei B2B-Leistungen zu gewährleisten, dass die Umsatzsteuern einen durchlaufenden Posten darstellen, sehe ich auch nicht so sehr die Schutzbedürftigkeit des Leistungsempfängers an dieser Stelle. Und im Übrigen: Die Schutzbedürftigkeit des Leistungsempfängers besteht eher bei den B2C-Fällen. Nehmen wir meinetwegen den folgenden Fall: Der Unternehmer hat keinen ermäßigten, sondern den regulären Steuersatz von 19 % angewendet. Aber

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in Wirklichkeit wäre richtig vielleicht oder richtiger aus Sicht eines Konsumenten ein 7%iger Steuersatz, was immerhin einen Spread von 12 Prozentpunkten ausmacht. Dieser C wäre schutzlos. Weil der B ja gar kein Interesse daran hat, das besonders zu klären. Also insoweit weiß ich nicht, ob diese Idee der Hinzuziehung und Verknüpfung richtig Sinn macht. Wo es natürlich richtig ist, dass ich die Gegenseite brauche, ist bei den vielleicht ein bisschen zu kurz gekommenen grenzüberschreitenden Fällen. Also da brauchen wir unbedingt einen entsprechenden Mechanismus, um den anderen Fiskus mit einzubeziehen. Zumal es da ja dann oft darum geht: Wer hat das Besteuerungsrecht eigentlich? Wenn Sie an den Ort der Leistung denken. Da geht es ja nicht um eine Korrespondenz des Vorsteuerabzugs, sondern da geht es wirklich um die Ortsbestimmung. Silke Bruns, Berlin Gerne möchte ich einen der Punkte des Vortrags von Herrn Rasch aufgreifen, um ein kurzes Statement abzugeben, ohne ein Co-Referat zu halten. Ich durfte bereits heute früh bereits vortragen. Das Thema der Analyse der OECD-Statistik hat Kollege Gunter Mayr dankenswerterweise schon in die richtige Position gerückt. Aufgreifen möchte ich das Thema der Veröffentlichung nach einem Streitbeilegungsverfahren, einschließlich einer potentiellen Schiedsphase, und die bisherige Diskussion um einen Aspekt ergänzen. Wenn es veröffentlichungswürdige, abstrakt-generelle Ergebnisse im Rahmen eines Streitbeilegungsverfahrens gibt, ist meiner Ansicht nach das dafür eigentlich vorgesehene Instrument, um derartige Ergebnisse zu veröffentlichen, ein BMF-Schreiben, das mit den Bundesländern abgestimmt und dann auch im Bundessteuerblatt veröffentlicht wird. In einem Einzelfall haben wir im Rahmen eines Streitbeilegungsverfahrens dagegen das in § 5 Abs. 1 Nr. 5 FVG gesetzlich normierte Einvernehmensprinzip, so dass eine Abstimmung mit den jeweils betroffenen Bundesländern erfolgt. Es ist weder sachgerecht noch ist es die Funktion des Instruments der Einzelfallverständigungsverfahren, mit allen Bundesländern anlässlich eines jeden Einzelfalls generellabstrakte veröffentlichungswürdige Leitsätze abzustimmen. Es würde die einzelnen Verfahren verlängern, wenn ein Verfahren erst dann abgeschlossen werden kann, wenn mit allen Bundesländern Einvernehmen über die Veröffentlichung von Aussagen zu einer abstrakt-rechtlichen Frage besteht. Abschließen möchte ich mein kurzes Statement mit einem Dank für den sehr lebhaften und anregenden Vortrag.

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Prof. Dr. Roland Ismer, Erlangen-Nürnberg Ich habe eine Frage an Ulrich Grünwald zur Umsatzsteuer. Die Herausforderung gerade bei der Umsatzsteuer ist, dass wir schnell sein müssen. Alle Instrumente aus dem internationalen Ertragsteuerrecht sind eigentlich zu langsam für eine Transaktionssteuer wie die Umsatzsteuer. Vor diesem Hintergrund meine Frage: Wenn wir die elektronische Rechnung kriegen sollten, wonach es insbesondere für grenzüberschreitende Transaktionen aussieht, dann haben wir nicht nur Complianceverbesserungen, sondern wir haben Daten. Wir kennen die Steuerpflichtigen, die beteiligt sind, sehr gut und auch in elektronischer Form. Wäre das nicht eine herausragende Möglichkeit, dann zu einem schnelleren Verfahren zu kommen, um die Zuordnungsentscheidungen auf einer ziemlich mechanischen, routinierten Basis abzuarbeiten? Prof. Dr. Gregor Kirchhof, LL.M., Augsburg Ich habe Fragen zu Deiner zentralen These, lieber Stephan, und würde mir erlauben, Sie, lieber Herr Mayr, ebenfalls um eine Stellungnahme hierzu zu bitten, auch wenn es nicht Ihre These ist. Die Idee war, die Rechtsgedanken des „landmark framework agreement“ zwischen Indien und den USA zu abstrahieren, auf weitere Verrechnungspreisfälle anzuwenden und so die Vielzahl der Verfahren der Streitvermeidung und Streitbeilegung in diesem Bereich deutlich zu reduzieren. Würde das konkret bedeuten, Kategorien von Verrechnungspreisfällen mit entsprechenden Lösungen zu entwickeln? Müssten hierfür allgemeine Maßstäbe des Umgangs mit Verrechnungspreisen vermessen werden? Würden wir diese Kategorien und Maßstäbe entwickeln, würde nicht nur die Zahl der Verfahren deutlich reduziert. Zudem könnten wir diese Grundlagen auch auf neue Fälle anwenden und diese deutlich leichter lösen. Prof. Dr. Klaus-Dieter Drüen, München Herr Grünwald, mir leuchtet vieles ein, was Sie als Probleme identifiziert haben. Bei den Lösungen habe ich wie Roman Seer auch kritische Nachfragen. Was unmittelbar einleuchtend ist, ist Ihr Problem bei der Umkehr der Steuerschuld. Was die Aufarbeitung dieser Fälle für Kräfte und für Ressourcen auf Seiten der Steuerpflichtigen, der Verwaltung und der Gerichte gekostet hat, ist unsäglich. Gerade für diese Fallgruppe sollte es eine kleine Lösung geben, wie eine Ad-hoc-Umsatzsteueranrufungsauskunft, weil es eigentlich völlig egal ist, wo die Besteuerung erfolgt. Sie haben es schön als zentrale These formuliert: Neutralität muss auch

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verfahrensrechtlich umgesetzt werden durch Korrespondenz. Bei der Umkehr der Steuerschuld kann man würfeln. Es muss für beide Seiten nur einfach gemacht werden, dann ist es ein Nullsummenspiel. Zudem wird sowohl auf Seiten der Unternehmer als Steuerkollektoren als auch auf Seiten der Verwaltung der Aufwand erheblich reduziert. Man müsste nur eine Stelle bestimmen, die sagt: A) oder B) und das ist die Lösung im zwischenunternehmerischen Bereich. Bei grenzüberschreitenden Leistungen ist das natürlich viel schwieriger. Aber vielleicht wäre dann eine kleine Lösung für diese begrenzten Ausnahmen mit Reverse Charge (Umkehr der Steuerschuld) schon mal ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Nun zu den Verständigungsverfahren und ihrer Publikation. Wenn Verständigungsverfahren ein Ersatz für Gerichtsentscheidungen sind, dann spricht viel dafür, sie auch zu veröffentlichen. Frau Bruns hat die Schwierigkeiten im Föderalismus angesprochen, abstrakte Rechtsfragen herauszugreifen und konsentiert für die Verwaltung allgemeingültig zu veröffentlichen. Der Mehrwert wäre, den Steuerpflichtigen Orientierung zu geben. Vielleicht lässt sich das Verfahren abkoppeln, denn ich verstehe die Schwierigkeiten bei Anwendung des typischen BMF-Länderabstimmungsmodus. Das waren die abstrakten Fragen. Die konkrete Frage betrifft die Veröffentlichungsfähigkeit von Verständigungen über Verrechnungspreise. Die Gerichte haben zum Teil erhebliche Schwierigkeiten, wenn Verrechnungspreisstreitigkeiten bei ihnen anladen und zu entscheiden sind, wovon Stephan Rasch bereits gesprochen hat, diese dann zu veröffentlichen und dabei dem Steuergeheimnis gerecht zu werden, wovon gestern schon die Rede war. Ich habe selber in Düsseldorf an einem Fall als Berichterstatter mitgewirkt, der sich trotz aller Mühen nicht so neutralisieren ließ, dass Rückschlüsse auf den konkreten Steuerpflichtigen unmöglich waren. Die rechtskräftige Entscheidung ist nicht veröffentlicht worden. Bei den Verrechnungspreisen besteht das grundsätzliche Problem, wenn die Strukturen und die Geschäftsmodelle des Entscheidungsfalls genau darlegt werden, bietet seine Veröffentlichung der Praxis eine Orientierung, die aber einen Rückschluss auf die Branche und die konkreten Unternehmen eröffnen kann, weil der Markt so klein ist und Insider genau wissen, worum und um wen es geht. Wird dagegen Einzelfallmaterial ausgeblendet, dann hat die Veröffentlichung aber kaum einen Aussagewert. Ich verstehe die Forderung nach einer Veröffentlichung der Verständigungsverfahren als Guideline für die Praxis, aber ich meine, dass bei der Publikation die gleichen Maßstäbe an Verständigungsverfahren anzulegen sind wie bei Gerichtsverfahren. Ich

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wollte nur auf die Schwierigkeiten hinweisen, Verständigungsergebnisse und den relevanten Sachverhalt zu anonymisieren und trotzdem noch aussagefähige Rechtssätze für die Praxis zu veröffentlichen. Dr. Ulrich Grünwald, Berlin Gerne beantworte ich Ihre Frage, Herr Prof. Seer, zum Thema B2C, B2B. Ich sag’ mal ganz plakativ: In B2C-Fällen ist der Leistungsempfänger nicht schutzbedürftig, weil die Umsatzsteuer unselbständiger Bestandteil des zivilrechtlichen Preises ist. Er kauft billiger oder teurer; wird aber nicht unzutreffend besteuert. Ich weiß, das ist eine sehr formalistische Antwort. Das Problem besteht unter dem Aspekt der Wettbewerbsneutralität. Der Unternehmer, der mit 7 % Steuer verkauft, steht mit demjenigen, der mit 19 % verkauft, in einem Wettbewerbsverhältnis. Deswegen ist es weniger der Verbraucher als der Wettbewerber, der die Möglichkeit haben sollte, sich hier zu beteiligen. Herr Heinrichshofen hat diesen Gedanken bei seinem Vorschlag zum Feststellungsverfahren berücksichtigt, indem er einen Dritten zum Antragsberechtigten machen will, um dadurch diesem Umstand Rechnung zu tragen. Im Übrigen gilt die Neutralität natürlich nur im B2B-Bereich, so dass das, was ich versucht habe deutlich zu machen, sich auf diesen Bereich beschränkt. Die Beteiligung des Leistungsempfängers kann schwierig sein: Richtig. Es dauert lange. Das sind wichtige Argumente, die dagegensprechen, ihn zu beteiligen. Ihn ausfindig zu machen, wird häufig nicht das Problem sein, weil er gerade in den typischen Fällen, wie z.B. einer Geschäftsveräußerung im Ganzen usw. ja bekannt ist und ein gleichlaufendes Interesse hat, so dass er sich möglicherweise beteiligen will. Ich stimme Ihnen zu. In der Regel wird es genügen, das Finanzamt des Anderen zu beteiligen, nur kann dann ein Rechtsschutzinteresse des Leistungsempfängers beeinträchtigt sein, weil sich die beiden zuständigen Finanzämter und der Leistende zu seinen Lasten einigen können. Dies ist insbesondere in den Fällen, die ich aus Vereinfachungsgründen ausgenommen habe, in denen der Empfänger nur eingeschränkt zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, wie z.B. im Finanzdienstleistungsbereich, problematisch. Zum Punkt: „elektronische Rechnung“. Roland Ismer, ich stimme in allen Punkten zu. Ich glaube, die elektronische Rechnung und alles, was dahintersteckt, nämlich der unmittelbare Datenaustausch, das Wissen um die relevanten Informationen, wird viele Probleme lösen, die wir im Moment unter dem Thema Beanstandung von Rechnungen und den sich

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daraus ergebenden Konsequenzen, insbesondere im Bereich der Zinsen haben. Wenn die elektronische Rechnung dazu führen würde, dass die Verzinsung in doppelten Nullfällen kurzfristig komplett abgeschafft werden würde, dann wäre das eine sehr begrüßenswerte Konsequenz der Digitalisierung im Allgemeinen und der elektronischen Rechnung im Speziellen. Prof. Dr. Stephan Rasch, München Ich versuche meine Antwort in der Chronologie der Beiträge abzuarbeiten. Frau Bruns, was Sie gesagt haben, ist völlig zutreffend. Ich sehe das Problem, dass wir für die Frage der Veröffentlichung der Ergebnisse von Streitbeilegungsverfahren den Föderalismus als beschränkendes Element haben. Herr Drüen hat in dieser Hinsicht gerade nochmals ausgeführt. Ich habe mir das mit meiner Forderung nach Veröffentlichung dieser Ergebnisse sehr einfach gemacht und diese Hürde komplett ignoriert. Wir müssen nun überlegen, ob die Veröffentlichung nicht gleichwohl ein deutliches Mehr an Rechtssicherheit und damit einen Vorteil bringen kann, der die mit den Zuständigkeiten versehenen Probleme zurücktreten lässt. Das soll nicht bedeuten, dass die Veröffentlichung – was gar nicht möglich ist – ohne die Länderzustimmung erfolgen soll. Ich verknüpfe aber den damit einhergehenden Aspekt, der auch von Herrn Drüen angesprochen wurde, und zwar in welchem Umfang oder besser wie anonymisiert die Ergebnisse veröffentlicht werden können. Es ist zu überlegen, ob es auf Ebene des BZSt nicht die Möglichkeit geben mag, auf sehr aggregierte Weise und anonymisiert eine Veröffentlichung der Ergebnisse vorzunehmen. Das bedeutet unzweifelhaft Informationsverlust, hat aber den Vorteil, dass der Steuerpflichtige ein Verständnis dafür bekommt, wie und welche Ergebnisse etwa in MAP oder APA-Verfahren erzielt werden. Der Vorteil liegt darin, dass der Steuerpflichtige einen Überblick erhält, dass es z.B. in einzelnen Verfahren Lösungen gibt, die die klassische Methodenanwendung hinter sich lassen und beispielsweise eine Kombination von Methoden möglich ist, um eine sinnvolle und – teilweise auch – pragmatische Lösung zu finden. Wenn ich dann auf den zweiten Punkt eingehen darf, den Gregor Kirchhof angesprochen hat. Es geht um die Frage, wie die unzweifelhaft hohe Anzahl von offenen Fällen „mit einem Federstrich“ reduziert werden kann, um einen „Nullstand“ hinzubekommen. Um es vorwegzusagen,

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ein Nullstand ist illusorisch. Gleichwohl habe ich eine radikale Vorgehensweise vorgeschlagen, die gedanklich an das zitierte „Landmark Framework Agreement“ zwischen Indien und den USA anknüpft. Auch das möchte ich klarstellen: Dabei geht es nur darum, den Rechtsgedanken anzuwenden, der diesem indisch-amerikanisch Vorgehen zugrunde liegt. Aber jetzt auf den Punkt zu kommen, den Gregor Kirchhof gemacht hat: Wie können wir das faktisch einordnen und gibt es dafür entsprechende übergreifende Rechtsvorschriften? Dabei geht es um die Frage, ob wir die existierenden, offenen Fälle so ordnen können, dass wir gewisse Gemeinsamkeiten oder gar gleiche Fälle identifizieren können. Ich glaube, dass wir die Fälle faktisch einordnen bzw. sortieren können. Dabei würde ich mich immer an der Kette orientieren, anhand der die konzerninternen Transaktionen ablaufen. Ich habe im Vortrag exemplarisch Fälle von Funktionsverlagerungen, der Lizenzierung, von Dienstleistung, von Kosten-Umlage-Verträgen und von Finanzierungstransaktionen benannt. Zwischen diesen einzelnen Transaktionen kann ich relativ gut eine Abschichtung und damit eine „Clusterung“ der Fälle vornehmen. Natürlich sind die Probleme dann teilweise überlappend. Meines Erachtens ist es aber eine relativ klare Struktur. Ich nehme einmal den Typus Finanzierungstransaktionen heraus. Dort habe ich u.a. Darlehen, die Bestimmung der Vergütung von Patronatserklärungen usw. Man kann diese Fälle weiter ausarbeiten. Die Überlegung ist die Betrachtung eines Bündels. Auch wenn die Überlegung noch nicht ausgereift ist, dann sehe ich das Potential, die vorgenannten Untergliederungen der Finanztransaktionen zusammenzufassen. Wenn ich diese Fälle dann z.B. im Verhältnis zwischen Deutschland und USA filtere und alle diese Fälle gemeinsam anschaue, dann kann ich – so meine These – Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten. Ich will nicht einer ausufernden Pauschalisierung der Lösungen oder Typisierung der Fälle das Wort reden. Wenn ich aber tatsächlich vergleichbare Fälle in dem Verhältnis zwischen den beiden Ländern habe, dann sollte auch eine Möglichkeit bestehen, diese Fälle gleichsam zu behandeln. Dabei ist nicht die Idee, alle Darlehensfälle, die im Rahmen von MAP-Verfahren zwischen Deutschland und den USA anhängig sind, vollständig gleich zu behandeln, aber nach den gleichen Grundsätzen zu bearbeiten und damit eine Beschleunigung dieser gemeinsamen Fälle zu erreichen. Ich weiß, das alles ist jetzt auf dem Reißbrett leicht gesagt. Den Charme, den ich dabei aber sehe: Einen noch radikaleren Schnitt, alle Fälle fallen

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lassen, ist illusorisch. Um aber von dem relativ hohen Niveau an offenen Fällen runterzukommen, ist die skizzierte Möglichkeit der Clusterung zumindest eine solche. Jetzt der letzte Punkt und die Frage: Gibt es denn einen übergreifenden Kanon an Rechtsvorschriften? Die ehrliche Antwort lautet nein. Es gibt nur die OECD-Leitlinien. Aber wenn ich sage, „nur“, ist das in Anführungsstrichen gesetzt, weil die OECD-Leitlinien geeignet sind, uns eine gute Grundlage in der gemeinsamen Beurteilung zu geben. Sie sind aber durch Konsens geprägt, und damit in vielerlei Hinsicht auch nicht eindeutig genug. Damit können wir also nicht alle materiell-rechtlichen Probleme lösen, aber ich habe zumindest einen übergreifenden Kanon, der global sehr breite Zustimmung hat. Das wäre für mich der Ansatz. Prof. DDr. Gunter Mayr, Wien Es ist eine gewisse Herausforderung, wenn unmittelbar vor dem eigenen Vortrag der Vorredner am Schluss eine provokante These in den Raum stellt, auf die man am liebsten gleich eingehen möchte. Ich maße mir keinen Kommentar zu Indien und den USA an, das sind sehr große Volkswirtschaften mit speziellen Themenstellungen. Übertragen auf Österreich ein Pauschalverfahren anzuwenden, um die Geschichte zu bereinigen, kann ich mir nicht vorstellen. Auch wenn bei Verrechnungspreisen in der Praxis tatsächlich Spielräume bestehen, würde sich bei einem Pauschalverfahren die Frage stellen, wie man das denn macht? Geht das in die Richtung fifty-fifty? Wahrscheinlich wird das im Ergebnis in eine solche Richtung gegangen sein. Ich sehe das kritisch, die Fälle sind viel zu heterogen. Herr Rasch, Sie haben ganz am Beginn aufgezeigt, wie umfassend die Bandbreite und Volumina sind, das lässt sich für mich nicht einfach pauschal bereinigen. Konkret würde mich interessieren, wie viele Fälle zwischen Indien und den USA offen waren und ob diese thematisch einen gewissen Zusammenhang hatten. Zur Veranschaulichung habe ich jetzt überschlagsartig ausgerechnet, wie viele Fälle es in etwa zwischen Deutschland und Österreich geben wird. Ende 2020 hatte Österreich 286 Fälle offen; etwas weniger als die Hälfte davon sind Fälle mit Deutschland, also Größenordnung gut 130 Fälle. Grob überschlagen betreffen damit ca 10 % der deutschen Verständigungsverfahren Österreich. Wenn davon Größenordnung 80 Verrechnungspreisfälle mit Österreich offen sind, sind diese inhaltlich zu heterogen und lassen sich nicht mit einem solchen Pauschalverfahren lösen.

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Prof. Dr. Stephan Rasch, München Wenn das widersprüchlich geklungen hat, dann war das nicht die Intention. Ja, ich habe die mehr als 1.400 Fälle in seiner Gesamtheit angeführt, ohne die Fälle auf einzelne Staaten herunterzubrechen. So wie es Herr Mayr gerade im Überblick für das Verhältnis Österreich zu Deutschland getan hat. Das schließt meines Erachtens aber nicht aus, diesen von mir als radikal bezeichneten Schnitt tatsächlich zu tun. Ich verstehe sofort, dass wir damit die Gleichmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung in Frage stellen. Die Frage ist aber, ob das möglicherweise doch vertretbar ist. Die Intention des Vorschlags ist nicht, eine „Sonder-Steueramnestie“ für Verrechnungspreisfälle zu begründen. Ich habe gerade nochmals die Zahl herausgesucht: In dem angeführten Beispiel Indien – USA gab es einen Rückstau von etwa 250 Fällen. Und diese Fälle betrafen vor allen Dingen einen Industriebereich, und das ist nicht erstaunlich, nämlich den IT-Bereich. Auch in diesem Verhältnis hat man nicht einfach alle Fälle völlig pauschal beschieden bzw. die Fälle einfach zugemacht, sondern die Fälle wurden im Einzelfall betrachtet. Daraus wurde abgeleitet, wie diese Fälle gelöst werden können. Das ging nicht „von jetzt auf gleich“, was ich möglicherweise verkürzt dargestellt habe. Und das würde ich zudem im hier übertragenen Sinne nicht sehen. Ich sehe im Vordergrund das Problem der Vielzahl von offenen Fällen und frage mich, ob es sinnvoll sein kann, die Anzahl weiter anwachsen zu lassen. Ende 2019 waren wir bei etwa 1.200, am Ende 2021 waren wir über 1.400 Fällen. Es hat also aufgebaut. Um das nochmals zu betonen: ich erhebe keinen Vorwurf, wie bereits während meines Vortrags ausgeführt, sondern mache eine bloße Feststellung zur Lage, ohne jegliche Schuldzuweisung. Die Frage ist aber, ob man versuchen muss oder zumindest sollte, das Ganze mit einer einmaligen gewissen Radikalität in der Lösungsfindung zu behandeln, um die nächsten Fälle wieder sinnvoll verhandeln zu können. Ich glaube nur nicht, dass uns das Fortführen der Fälle weiterbringen wird. Sie haben vorhin gesagt, Herr Mayr, dass Pillar I und Pillar II unmittelbar bevorstehen. Mag die Ausgestaltung noch nicht in allen Punkten klar sein, so können wir sicher sein, es wird kommen und die Diskussion und Streitigkeiten werden nicht ganz unerheblich, sondern komplex werden. Mein Vorschlag hat vielleicht den Vorteil, nicht mit einem großen „Rückstau“ an Fällen in dieses neue, noch unklare Reglungsgeflecht zu starten.

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Prof. Dr. Gregor Kirchhof, LL.M., Augsburg Ich nutze als Gastgeber in Augsburg die Gelegenheit, mich nochmals sehr herzlich bei allen Referenten, den Teilnehmern der Diskussion und dem gesamten Auditorium zu bedanken. Vor mir liegt eine Pressemitteilung des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen und für Heimat. Die Mitteilung fasst die Ausführungen des Staatsministers und unseres Vorsitzenden beim Empfang am gestrigen Abend im Schaezlerpalais zusammen. Eine bemerkenswerte Parallele beider Stellungnahmen ist zu erkennen. Die Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft und unser Tagungsthema der „Streitvermeidung und Streitbeilegung“ sind – so heißt es – rechtlich, politisch und gesellschaftlich wichtig. Das ist doch ein schönes Schlusswort, das ich Ihnen nicht unterschlagen wollte. Herzlichen Dank! Prof. Dr. Klaus-Dieter Drüen, München Lieber Herr Kirchhof, ich möchte Ihnen und Ihrem gesamten Team ganz herzlich danken. Ich bin mir sicher, dass Augsburg und seine Universität in den letzten Tagen viele Freunde unter den Steuerjuristen gewonnen haben. Ein herzlicher Dank geht zudem an den Augsburger Block der Referenten und Herrn Kobor für die Tagungsleitung am zweiten Tag. Es war aus meiner Sicht nicht nur eine intellektuell anregende Tagung mit interessanten Referaten und Thesen, die wir im Jahresband im nächsten Jahr in den Händen halten dürfen, sondern insgesamt bis hin zum Wetter eine rundum gelungene Tagung. Allen Beteiligten gebührt unser ganz herzlicher Dank dafür, zumal es nach der coronabedingten Absage im Jahr 2020 der zweite Tagungsanlauf war. Mit diesem Dank auch an Frau Verhoeven von unserer Geschäftsstelle beschließe ich die Augsburger Jahrestagung 2022.

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Die Streitvermeidung geht der Streitbeilegung vor – über die Freiheit im Steuerrecht – Resümee und Ausblick Prof. Dr. Gregor Kirchhof, LL.M. Universität Augsburg

I. Streitvermeidung – dreifacher Blick in die Zukunft II. Streitbeilegung – Rechtsstand, Erneuerungsauftrag und Visionen

III. Historische Wurzeln – die vernachlässigte zweite Seite der Freiheitsrechte IV. Die Streitvermeidung geht der Streitbeilegung vor – über einen notwendigen Systemwechsel

I. Streitvermeidung – dreifacher Blick in die Zukunft Der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg, der Stadt Augsburg und auch dem Freistaat Bayern war es eine Freude und Ehre, die Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft zu ihrer Jahrestagung im Jahr 2022 begrüßen zu dürfen. Die Empfänge der Oberbürgermeisterin Eva Weber im Goldenen Saal der Stadt und des Bayerischen Staatsministers der Finanzen und für Heimat Albert Füracker im Schaezlerpalais mögen dies bezeugen. Das Thema der Tagung, die „Streitvermeidung und Streitbeilegung im Steuerrecht“, erfasst das nationale und übernationale Recht in seiner gesamten Breite. Dieser Ansatz, der zahlreiche Sachgebiete übergreift, erinnert in der jüngeren Zeit an zwei vergangene Veranstaltungen der Steuerjuristischen Gesellschaft, die in den Augsburger Referaten und Diskussionen einen steten Referenzpunkt bildeten: die „Digitalisierung im Steuerrecht“, die 2018 in Köln diskutiert wurde, und die damit verbundene „Erneuerung des Steuerrechts“, das Thema der Berliner Tagung vor zehn Jahren. Beide Themen weisen auf zentrale Schlüssel für eine verlässliche Streitvermeidung. Solange diese Schlüssel nicht beherzt genutzt werden, bleiben eine vorausschauende streitvermeidende Beratung und vor allem die Streitbeilegung aufwendige Beschäftigungsfelder des Steuerrechts. Das Thema der Streitvermeidung blickt in einem dreifachen Sinne in die Zukunft. Erstens gilt es auf der Grundlage der bisherigen Erfahrun-

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gen bestehende und zukünftige Streitfelder im nationalen und internationalen Steuerrecht auszumachen und so Konflikte zu vermeiden. Roman Seer benennt hier insbesondere die steuerliche Bewertung, die Unterscheidung steuerlicher Sphären, Dokumentations- und andere Mitwirkungspflichten, Schätzungen sowie (weitere) Unsicherheiten von Sachverhalten. So wird – zweitens – der Auftrag der nationalen und internationalen Gesetzgeber deutlich, die maßgeblichen Regelungen so zu verändern, dass Streitigkeiten von vornherein unterbleiben. Der verfassungsrechtliche und unionsrechtliche Rahmen für eine solche Streitvermeidung ist weit. Es sollte – so ergänzt Matthias Valta – insofern keine falsche Scheu bestehen. Ohnehin erwarten das Verfassungs- und Europarecht kein kompliziertes, sondern ein schonendes Steuerrecht. Die Entwicklung im internationalen Steuerrecht ist jedoch – ganz im Gegenteil – von einer zunehmenden Komplexität und steigenden Mitwirkungspflichten der Steuerbetroffenen geprägt, die ihren Ursprung in übernationalen Steuergestaltungen und den nachgreifenden Reaktionen des Rechts haben. Auch deshalb sind – so fährt Roland Ismer fort – die Befolgungskosten des Steuerrechts stärker in den Blick zu nehmen. Die Komplexität ist weitestgehend zu reduzieren. Hierfür sind neue Normen und Mechanismen auch im Sinne einer „verbindlichen Rechtskonkretisierung“ zu schaffen. Weiter in die Zukunft greift – drittens – die „Digitalisierung des Steuerrechts.“ Diese Entwicklung eröffnet beeindruckende Möglichkeiten, die Steuererhebung umfassend zu automatisieren, die Akzeptanz für das Steuerrecht zu stärken und den grundrechtlichen Auftrag besser zu erfüllen, die Steuerpflichtigen so weit wie möglich zu schonen. Die steuerliche Digitalisierung verlangt, die steuerliche Ausbildung und die Methoden sorgsam anzupassen. Wenn sich – so die abschließenden Worte Heribert Anzingers – die Wirkung des Rechts durch die Digitalisierung verändert, müssen auch die Kompetenzordnungen und das materielle Recht entsprechend fortgebildet werden. Der Gesetzgeber habe angesichts der enormen Vereinfachungsmöglichkeit eine weite Typisierungsbefugnis. Eine Vereinfachung des Steuerrechts, ein mutiger Gebrauch von Typisierungen und Pauschalierungen, vermag beide Ziele zu erreichen, die Streitvermeidung und die Digitalisierung des Steuerrechts. Konflikte werden vermieden und die zuweilen streitbelasteten Mitwirkungs- und Dokumentationspflichten deutlich reduziert. Der mögliche Hinweis, Typisierungen würden sich von einer „richtigen“ Steuerschuld lösen, geht insoweit fehl, als der Gesetzgeber diese Schuld in den Gren-

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zen des Verfassungs- und Europarechts bestimmt. Solange er diese Grenzen wahrt, ist die gesetzlich geregelte Steuerlast stets die treffende.

II. Streitbeilegung – Rechtsstand, Erneuerungsauftrag und Visionen Die digitalisierte Streitvermeidung und die umfassende Entlastung der Steuerbetroffenen blicken in eine Zukunft, die in anderen Ländern wie z.B. Estland bereits in weiten Teilen verwirklicht ist. Deutschland und das internationale Steuerrecht sollten sich hier ein Beispiel nehmen. Doch die Konzepte der OECD und auch der Europäischen Union bereiten nicht selten einem überkomplizierten Recht den Weg. Die Ziele des Steuerrechts, die öffentliche Hand verlässlich zu finanzieren und die Steuerpflichtigen so weit wie möglich zu schonen, werden zuweilen deutlich verfehlt. Die Praxis hat daher eine bemerkenswerte Vielzahl an Methoden der Streitbeilegung entwickelt. Abstrakt helfen hier die Transparenz und Publizität im Steuerstreit, wenn die Informationen zukünftige Streitigkeiten vermeiden. Caroline Heber mahnt daher insoweit trotz des Steuergeheimnisses zu mehr Mut. Insbesondere wenn Unsicherheiten in Sachverhalten und Rechtsfragen bestehen, nutzt die Praxis Verständigungen und Vergleiche, die den Vorbehalt des Gesetzes nicht untergraben dürfen (Eva Oertel, Stefanie Beinert, Thomas Stapperfend und Silke Bruns für die DBA-Verständigungsverfahren). Gerade im internationalen Steuerrecht dauern die Verfahren zur Streitbeilegung zu lange und sind zuweilen nicht in der Lage, eine rechtssichere Lösung zu bewirken. Es bedarf daher – so Isabella Zimmerl – neuer Instrumente, die sie in weiteren Dialogformen, in Kombinationen existierender Verfahren und insbesondere darin erkennt, Verfahren des internationalen Steuerrechts in einem rechtlich bindenden Dokument abzuschließen. Zwar stoßen DBA-Schiedsverfahren auf rechtsstaatliche Bedenken. Gleichwohl verdeutlicht René Matteotti ihren Stellenwert und fordert, die betroffenen Steuerpflichtigen besser zu beteiligen. Wie die Schiedsverfahren bergen auch alternative Streitbeilegungsmechanismen rechtsstaatliche Gefahren, wenn sie die Rechtmäßigkeitskontrolle schwächen. Barbara Gunacker-Slawitsch betont aber gleichzeitig, dass Mediationen und Güterichterverfahren diese Schwachstellen nicht kennen, soweit sie in passenden Fällen genutzt werden. Auch in den Bereichen der Umsatzsteuer und der Verrechnungspreise sind neue Ansätze der Streitbeilegung von Nöten (Ulrich Grünwald, Stephan Rasch). Es besteht – so mahnt Matthias Valta – ein verfassungs- und unionsrecht-

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licher Anspruch auf zeitnahe Lösung steuerlicher Fälle. Ein internationales Steuergericht könnte zwar weitreichende Verbesserungen bringen, doch ist dieser Schritt gegenwärtig kaum realistisch (René Matteotti). Eine Vorstufe wäre ein gerichtsförmig ausgestalteter Ständiger Ausschuss. Die „Vision am fernen Horizont“ aber ist ein Weltsteuergericht (Gunter Mayr).

III. Historische Wurzeln – die vernachlässigte zweite Seite der Freiheitsrechte Insgesamt erschien in den Referaten und Diskussionen der Augsburger Tagung eine erfolgreiche breite Streitvermeidung eher als ein fernes und vages Ziel, die Streitbeilegung hingegen als eine äußerst aufwendige und verbesserungsbedürftige Realität des Steuerrechts. Doch der Steuer- und der Grundrechtsstaat, diese historischen Wurzeln der heutigen Staatlichkeit, mahnen, dass die Streitvermeidung der Streitbeilegung vorgeht. Die moderne öffentliche Gewalt finanziert sich vor allem durch Steuern.1 Dieses Primat setzte sich in Europa im Begriff des Steuerstaats zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch.2 Der Steuerstaat ist dabei durch eine bemerkenswerte grundrechtliche Ambivalenz gekennzeichnet. Die Grundrechte fordern und mäßigen die Steuer. Steuern greifen in der Zahllast und den Mitwirkungspflichten in Grundrechte ein. Gleichzeitig ermöglichen sie eine freiheitsgerechte staatliche Gewalt. Die öffentliche Hand erhält sich durch die Steuergelder und muss die Steuerpflichtigen daher nicht zu Arbeit oder Naturalleistungen verpflichten. Sie ist nicht darauf angewiesen, ihr Geld am Markt zu verdienen und daher in Konkurrenz zu privaten Unternehmen zu treten. Der Steuerstaat ist ein Garant des freien Wettbewerbs. Insofern ist es folgerichtig, dass der Grundrechtsschutz nach markanten Schritten der Verrechtlichung im 17. und 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und damit parallel zum Steuerstaat entscheidende normative Kraft gewann.3 Der moderne demokratische Rechtsstaat erhielt mit den Grundrechten und Steuern sein individualrechtliches und finanzielles Profil. 1 von Stein, Finanzwissenschaft, 1860, 102. 2 Schäffle in von Stein, Lehrbuch der Finanzwissenschaften, Teil 1, 1895, 74 (107); Schumpeter, Die Krise des Steuerstaats, 1918; 8; K. Vogel in Isensee/ P. Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 30 Rz. 54 ff. 3 Stern, Die Idee der Menschen- und Grundrechte, HGR I, 2003, § 1 Rz. 14 ff., 35 ff.

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Das gemeinsame Ursprungsanliegen des Steuerstaates und des Grundrechtsschutzes wird jedoch steuerlich seit langem vernachlässigt: die Freiheit. Steuern finanzieren die öffentliche Hand. Die Freiheitsrechte fordern, die Steuerpflichtigen dabei so weit wie möglich zu schonen. Die steuerliche Zahllast wahrt zwar in aller Regel das grundrechtliche Maß. Doch sind die Steuerpflichtigen auch darüber hinaus möglichst nicht zu belasten. Diese zweite Seite der Freiheitsrechte wird gegenwärtig vernachlässigt. Die Dokumentations- und Mitwirkungslasten des nationalen und internationalen Rechts, aber auch die Kosten und Mühen für Steuerstreitigkeiten sind in den letzten Jahren – auch dies hat die Augsburger Tagung eindrucksvoll dargestellt – deutlich gestiegen.4 Gleichzeitig führt die zunehmende Komplexität des Steuerrechts zu mehr Steuergestaltungen und dann zu schwindenden Steuereinnahmen. Hierauf reagiert der Gesetzgeber nicht selten mit weiteren Mitwirkungspflichten und komplizierten Regeln, die erneut steuermindernde Gestaltungen anregen. Die Verfahrenslasten steigen, die Steuereinnahmen sinken. Es entsteht ein Sog, in dem die Steuereinnahmen und die Freiheit, in dem der Steuerund Grundrechtsstaat zunehmend geschwächt werden. Die grundrechtliche Freiheit wurde gegen diese Entwicklung bislang nicht entschieden in Position gebracht. Doch sind die entstandenen Lasten beträchtlich. Grundrechtlich müssen sie in der Kumulation bei einem Betroffenen und in der Breitenwirkung des steuerlichen Massenfallrechts verhältnismäßig sein. Dieses doppelte Maß wird selten geprüft, schon weil die Gesamtlasten kaum ermittelt werden. Mitwirkungspflichten sind für eine effiziente und gleichheitsgerechte Besteuerung unabdingbar. Dem nationalen und übernationalen Gesetzgeber stehen beträchtliche Entscheidungsräume offen, entsprechende Grundrechtseingriffe zu regeln. Nicht jede Dokumentations- und Mitwirkungspflicht, die Vereinfachungspotentiale ungenutzt lässt, ist rechtswidrig. Doch dürfen diese Befunde nicht dazu führen, die Lasten nicht oder nur kaum grundrechtlich zu prüfen. Nur die Zahllasten und nicht die Mitwirkungspflichten erfüllen das grundrechtliche Ziel der Steuern, die öffentliche Hand zu finanzieren.

4 Jüngst Schön, Vor dem Regulierungsbankrott, FAZ, 23.6.2023, Nr. 143, S. 18.

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IV. Die Streitvermeidung geht der Streitbeilegung vor – über einen notwendigen Systemwechsel Die freiheitliche Besteuerung führt damit zum steuerlichen Auftrag unserer Zeit, auf den in der Augsburger Tagung zuweilen hingewiesen wurde. Das Steuerrecht ist in einer Digitalisierung zu erneuern. Dieses Anliegen erinnert an die grundlegenden Forderungen von Adam Smith, jede Steuer müsse gleichmäßig, bestimmt, bequem und wohlfeil sein.5 Diese Forderungen werden bis heute nicht hinreichend erfüllt. Vielleicht haben sich die Steuerbeteiligten an diesen ernüchternden Befund zu sehr gewöhnt. Dies erstaunt auch deshalb, weil Adam Smith das grundrechtliche Maß einer gleichheitsgerechten, schonenden und rechtsstaatlichen Besteuerung zwar nicht im heutigen Sinne individualrechtlich, aber dennoch in einer bemerkenswerten Weitsicht fasste. Gegenwärtig bieten die Vereinfachung und die dann mögliche umfassende Digitalisierung des Steuerrechts die große Chance, die Besteuerung in dieses ursprüngliche grundrechtliche Maß zu führen. Aufgrund der zahlreichen parallelen Fälle, der Zahllast als berechenbare Rechtsfolge, der nicht selten bereits durch Rechner datentechnisch aufbereiteten Tatbestände und der binären Codierungen von steuerverstrickten und nicht steuerbaren Sachverhalten sind Steuern als ein Recht in Zahlen prädestiniert, digital angewandt zu werden. Die modernen Grundsteuergesetze, die Bayern, Hamburg, Hessen und Niedersachsen erlassen haben, weisen hier den Weg. Würde sodann das vereinfachte Steuerrecht auf Grundlage von vorausgefüllten Steuererklärungen automatisch angewandt, würden Steuerstreitigkeiten vermieden und die Steuereinnahmen bereits deshalb gesichert. Die Programme und Rechner der Finanzverwaltung würden nicht wie bisher vor allem für den Fiskus, sondern vermehrt und im Sinne der Freiheit auch für die Steuerpflichtigen arbeiten. Die öffentliche Hand würde umfassend steuerlich informieren. Die Finanzverwaltung würde die Bemühungen der Steuerpflichtigen, das Steuerrecht anzuwenden, nicht im Nachhinein strafbewehrt korrigieren, sondern Fehler von vornherein vermeiden und rechtsstaatlich mit offenen Karten spielen. Die Gewinne an Freiheit und Gleichheit, an Rechtsstaatlichkeit, auch an steuerlicher Effizienz, an informationeller Waffengleichheit und Transparenz wären groß. Die Steuerpflichtigen wären nahezu vollständig entlastet. Gleichzeitig würden Steuerstreitigkeiten 5 A. Smith, An Inquriy into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776, S. 119 ff.

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vermieden. Die Streitvermeidung würde gestärkt, die Streitbeilegung schonend an Raum verlieren und die Steuereinnahmen würden beständiger fließen. Für eine solche umfassende Digitalisierung muss das nationale und internationale Steuerrecht grundlegend vereinfacht werden. Die Geschichte gibt hier in der Sollbesteuerung eine hilfreiche Orientierung. Das System, das erwartete Erträge steuerlich belastet und in Deutschland erst am Ende des 19. Jahrhunderts durch die geltende Istbesteuerung abgelöst wurde, verhinderte Steuerhinterziehungen, sicherte die Steuereinnahmen, schonte die Daten der Steuerpflichtigen und entlastete alle Steuerbetroffenen. Die steuerliche Bemessungsgrundlage wurde nicht wie bei der geltenden Istbesteuerung möglichst präzise, sondern typisierend und pauschalierend nach äußeren Merkmalen ermittelt. Die Besteuerung war ohne großen Aufwand für die Steuerpflichtigen und die öffentliche Hand möglich. Die Abgabenlast eines Landwirts richtete sich z.B. nach der Nutzart seiner Felder, der Größe und Lage des Betriebs, der Anzahl der Mitarbeiter und der sichtbaren Kapitalausstattung.6 Diese Besteuerung nach äußeren Merkmalen mag an aktuelle Erwägungen erinnern, die Steuerlast internationaler Unternehmen in vergleichbarer Weise grob zu bemessen, um Steuerverkürzungen zu vermeiden, die Steuererträge rechtssicher auf die betroffenen Staaten zu verteilen und insgesamt eine verlässliche Besteuerung zu bewirken. Nicht nur die Freiheit der Steuerpflichtigen wäre deutlich besser geschützt. Das schwer zu vollziehende nationale und internationale Steuerrecht sowie der damit verbundene Kampf gegen steuervermeidende Gestaltung verdeutlichen auch eine Gleichheitsfrage, die zu Zeiten der Sollbesteuerung im Vordergrund stand. Der Gleichheitsgedanke sollte nicht die Bemessungsgrundlage millimetergenau erfassen – das ist bei einer Sollertragsteuer nicht möglich und auch in der Istbesteuerung ein nur äußerst schwer zu erreichendes Ziel. Das Gleichmaß war erreicht, wenn alle im Sinne der Allgemeinheit der Steuer gesetzeskonform zur Besteuerung herangezogen wurden. Die historischen Gründe der Sollbesteuerung, die Steuerbetroffenen zu schonen und die Steuereinnahmen zu sichern, sind hochaktuell. Dennoch ist an dem Ausgangspunkt der Istbesteuerung festzuhalten. Im Modell der Sollbesteuerung müsste ein Steuerpflichtiger, der den erwarteten Ertrag unterschreitet, eine Steuerschuld begleichen, die seine steu-

6 Insgesamt Knöller, Die Besteuerung von Sollertrag und Istertrag, 2015.

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erliche Leistungsfähigkeit übertrifft. Der Systemwechsel zur Istbesteuerung war und ist verfassungsrechtlich und steuersystematisch gut begründbar. Die Steuergesetze setzen aber trotz des Systemwechsels bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts in Typisierungen und Pauschalierungen auf Elemente des Sollsystems. Auch das heutige Einkommensteuergesetz ist durch zahlreiche solche Elemente geprägt. Abzugsverbote und Abzugsbeschränkungen, Absetzungen für Abnutzung, Freibeträge, Freigrenzen und Pauschalen sind selbstverständlicher Teil des Steuersystems. Bestimmte Gewinne werden mit Hilfe von Vergröberungen ermittelt. Die Steuerlast wird schließlich robust im Steuertarif und in den Progressionsgrenzen ermittelt. Das deutsche Steuerrecht entscheidet sich für die Istbesteuerung. Diese Grundentscheidung wird aber durch viele Elemente eines Sollsystems verwirklicht. Das Ergebnis ist eine unübersichtliche Mischung. Diese Mischung sollte rationalisiert und zum System gemacht werden. Dies ist der Pfad zur Vereinfachung und Digitalisierung des Steuerrechts. Das Steuerrecht ist insgesamt davon geprägt, dass wirtschaftliche Realitäten in Beträgen abgebildet werden. Letztlich entspricht jede Bewertung – mag sie streitbefangen sein oder nicht – nicht der Realität, sondern nähert sich dieser nur an. Dann aber sind Typisierungen nicht – wie oft angenommen – die Ausnahme, sondern die Regel. Das BVerfG lässt ganz in diesem Sinne gesetzliche Typisierungen in einem breiten Maß zu. Sie müssen sich am Regelfall orientieren, gleichheitsgerecht und verhältnismäßig sein. Doch sind in diesem weiten Rahmen auch Härten und Ungerechtigkeiten hinnehmbar, um normative Schwierigkeiten zu vermeiden und den Gesetzesvollzug im Massenfallrecht zu erleichtern.7 So weist das Gericht indirekt auf den genannten Weg der steuerlichen Digitalisierung. Der weite verfassungsrechtliche Entscheidungsraum, der auf der europäischen Ebene ein Pendant kennt, sollte für den Systemwechsel, für eine umfassende Vereinfachung des materiellen Steuerrechts und die dann mögliche Digitalisierung genutzt werden. Dem Einwand, die Einzelfallgerechtigkeit könnte in diesem System zu stark vernachlässigt werden, mögen bestimmte Fälle des geltenden Steuerrechts vor Augen stehen. In einer Gesamtperspektive greift er aber fehl. Ein Steuergesetz ist nur so gerecht wie sein Vollzug. Doch diese elementare und letztlich entschei7 BVerfG v. 19.11.2019 – 2 BvL 22/14, 2 BvL 23/14, 2 BvL 24/14, 2 BvL 25/14, 2 BvL 26/14, 2 BvL 27/14, BVerfGE 152, 274 (313 ff., Rz. 100 ff. m.w.N. auf die st. Rspr.).

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dende Gleichheit vermag ein kompliziertes Steuerrecht kaum zu erreichen. Einfache nationale und internationale Regeln würden die Steuerpflichtigen hingegen verlässlicher, freiheitlicher und gleichheitsgerechter belasten. Der Kampf gegen Steuervermeidungen würde besser gelingen. Die wachsenden Erhebungskosten wären gemindert und wieder in ein angemessenes Verhältnis zu den Steuereinnahmen gebracht. Der Steuerstandort Deutschland und auch die Europäische Union wären in den gegenwärtigen Krisenzeiten gestärkt. Das Steuerrecht würde in der Zahllast weiterhin seinen Auftrag erfüllen, die öffentliche Hand zu finanzieren. Im Übrigen aber wären alle Steuerbetroffenen so weit wie möglich geschont. Im Steuer- und Grundrechtsstaat geht die Streitvermeidung der Streitbeilegung vor.

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Laudatio – aus Anlass der Verleihung des Albert-Hensel-Preises 2022 an Dr. Jonathan Schindler Prof. Dr. Tina Ehrke-Rabel Universität Graz

Dieses Jahr wurden zwölf Arbeiten für den Albert-Hensel-Preis eingereicht. Die Arbeiten waren alle hochspannend, zu sehr unterschiedlichen Themen. Wie jedes Jahr sind wir in zwei Etappen vorgegangen. Die Dissertation von Jonathan Schindler mit dem Titel „Geldwäschegesetzgebung und Steuerrecht“ war für uns schlussendlich diejenige, die wir jeder Steuerrechtlerin und jedem Steuerrechtler ans Herz legen wollen. Jonathan Schindler hat an der LMU unter der Erstbegutachtung von Kollegen Schön promoviert. Seine Arbeit ist in der Schriftenreihe „Rechtsordnung und Steuerwesen“ im Verlag Otto Schmidt erschienen. Wir alle wissen, dass die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zu einem Regelwerk geführt hat, das vor allem Banken (Finanzdienstleister im Allgemeinen), Notare, Anwälte und Steuerberater im Laufe der Jahre zunehmend in die Pflicht genommen und so unmittelbar an der Bekämpfung dieses als umfassend gesellschaftsschädigend eingestuften Verhaltens beteiligt hat. Diese Berufsgruppen müssen durch Sammlung und Verarbeitung von Kundendaten im Rahmen sog. Risikomanagementsysteme Geldwäscheverdachtsfälle melden. Die entsprechenden (unionsrechtlichen und umsetzenden nationalen) Vorgaben erscheinen aus der Warte des Steuerrechts nicht minimalinvasiv, ist die Funktionsweise der Risikomanagementsysteme doch nicht umfassend transparent und erfolgt eine Weitergabe von Verdachtsfällen ohne vorangegangenes Parteiengehör, also heimlich, wie es Jonathan Schindler formuliert. Steuern haben insoweit auch im Rahmen dieser Geldwäschebekämpfungsmaßnahmen Bedeutung, als einerseits Steuerhinterziehungen Geldwäschevortaten sein können und andererseits zwischen Geldwäscheverpflichteten und Abgabenverwaltung wechselseitige Informationspflichten bestehen. Die Arbeit gliedert sich in drei Kapitel und bereitet zunächst das Thema auf, in dem die Geldwäsche als solche definiert wird (was gar nicht so einfach ist) und die (Anti-)Geldwäschegesetzgebung in ihrer historischen Entwicklung dargelegt wird. Die Ausführungen haben u.a. deshalb be-

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eindruckt, weil es Jonathan Schindler gelungen ist, die unterschiedlichen internationalen Einflussfaktoren sichtbar zu machen, die vorwiegend nicht in rechtlich institutionalisierten Gremien bestehen. Kapitel 2 schafft dann die Verbindung zwischen Geldwäschegesetzgebung und Steuerrecht. Auch hier wird eindrucksvoll dargelegt, wie sich der Kampf gegen den Steuerbetrug, die aggressive Steuerplanung international „entwickelt“ hat. Dem Leser/der Leserin wird bewusst gemacht, dass es internationale Gremien und einzelne Staaten sind, die die Dinge in Gang gebracht haben und dass zwischen den Geldwäschebekämpfungsinitiatoren und den internationalen Steuerbetrugsbekämpfungsinitiatoren Verschränkungen bestehen. Das Kapitel schließt mit der Darlegung der Zusammenarbeit zwischen Steuerbehörden und Geldwäschebekämpfungseinrichtungen zum Zwecke der Bekämpfung sowohl der Steuerhinterziehung als auch der Geldwäsche. Kapitel 3 lotet schließlich die Grenzen des Zugriffs der Finanzbehörden auf Informationen aus der Geldwäschebekämpfung ab. Diese Kapitel ist gründlich grundrechtlich gearbeitet, enthält eine beeindruckende Auseinandersetzung mit dem Anwendungsbereich der EU-Grundrechtecharta im mittelbaren Vollzug von Unionsrecht und konzentriert sich auf die Übereinstimmung der Informationszugriffsrechte der Finanzbehörden auf Geldwäscheinformationen vor dem Hintergrund des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Jonathan Schindler ortet – wohlbegründet – einen Verstoß gegen die Verfassung und beschließt die Arbeit mit einem grob skizzierten Änderungsvorschlag für die Gesetzgebung. Die Jury des Albert-Hensel-Preises hat sich dem Urteil von Wolfgang Schön und Rainer Hüttemann, das sich im Vorwort des gedruckten Werkes findet, angeschlossen. Ich möchte wörtlich zitieren: „Die Arbeit beeindruckt durch die Breite des rechtspolitischen und rechtstatsächlichen Fundaments, die Vielfalt der vertieft analysierten Rechtsbereiche und schließlich die Stringenz der – stark grundrechtlich geprägten – Argumentation. Vom nationalen und internationalen Geldwäscherecht und Steuerverfahrensrecht bis hin ins materielle Strafrecht und hinauf zum Verfassungs- und Europarecht reicht die Bandbreite der stets sachkundig aufbereiteten Themen und Streitfragen. […] Die Schlussthese ist herausfordernd und wird zur Diskussion Anlass geben – aber das ist auch gut so […].“

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Weiter lese ich nicht, denn ich stimme mit Wolfgang Schön und Rainer Hüttemann überein, dass die Schlussthese heraufordernd und Diskussion notwendig ist. Im Namen der Jury gratuliere ich dem Preisträger zu dieser hervorragenden Arbeit und danke ihm dafür, mutig Position bezogen zu haben. Mögen auch andere inspiriert sein, Ihre Gedanken zu reflektieren, und wünschen wir uns, dass Sie so eine Diskussion entfacht haben, die uns die großen Veränderungen, die hier von außen in das Steuerverfahrensrecht Einzug halten, bewusst machen, so dass wir vielleicht bewusster entscheiden können, ob wir das auch wollen! Herzlichen Glückwunsch!

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Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft e.V. Satzung i.d.F. v. 9.9.2013 (Auszug)1 § 2 Vereinszweck Der Verein verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke i.S.d. Abschnitts „Steuerbegünstigte Zwecke“ der Abgabenordnung. Der Verein hat den Zweck, a) die steuerrechtliche Forschung und Lehre und die Umsetzung steuerwissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis zu fördern; b) auf eine angemessene Berücksichtigung des Steuerrechts im Hochschulunterricht und in staatlichen und akademischen Prüfungen hinzuwirken; c) Ausbildungsrichtlinien und Berufsbilder für die juristischen Tätigkeiten im Bereich des Steuerwesens zu entwickeln; d) in wichtigen Fällen zu Fragen des Steuerrechts, insbesondere zu Gesetzgebungsvorhaben, öffentlich oder durch Eingaben Stellung zu nehmen; e) das Gespräch zwischen den in der Gesetzgebung, in der Verwaltung, in der Gerichtsbarkeit, im freien Beruf und in der Forschung und Lehre tätigen Steuerjuristen zu fördern; f) die Zusammenarbeit mit allen im Steuerwesen tätigen Personen und Institutionen zu pflegen. Der Verein ist selbstlos tätig; er verfolgt nicht in erster Linie eigenwirtschaftliche Zwecke. Mittel des Vereins dürfen nur für die satzungsmäßigen Zwecke verwendet werden. Die Mitglieder erhalten keine Zuwendungen aus Vereinsmitteln. Es dürfen keine Personen durch zweckfremde Ausgaben oder durch unverhältnismäßig hohe Vergütungen begünstigt werden. § 3 Mitgliedschaft (1) Mitglied kann jeder Jurist werden, der sich in Forschung, Lehre oder Praxis mit dem Steuerrecht befasst. (2) Andere Personen, Vereinigungen und Körperschaften können fördernde Mitglieder werden. Sie haben kein Stimm- und Wahlrecht. (3) Die Mitgliedschaft wird dadurch erworben, dass der Beitritt zur Gesellschaft schriftlich erklärt wird und der Vorstand die Aufnahme als Mitglied bestätigt.

1 Sitz der Gesellschaft ist Köln (§ 1 Abs. 2 der Satzung). Geschäftsstelle: Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln.

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Satzung (4) Die Mitgliedschaft endet durch a) Austrittserklärung zum Schluss des Geschäftsjahres unter Einhaltung einer Frist von drei Monaten; b) Wegfall der in Abs. 1 für die Aufnahme als Mitglied genannten Voraussetzungen; c) Ausschluss durch die Mitgliederversammlung; d) Ausschluss durch Beschluss des Vorstands, wenn ein Mitglied seinen Beitrag für drei aufeinanderfolgende Jahre nicht gezahlt hat; der Beschluss bedarf keiner Ankündigung und keiner Mitteilung, wenn das Mitglied der Gesellschaft eine Adressänderung nicht angezeigt hat und seine Anschrift der Gesellschaft nicht bekannt ist. (5) Der Mitgliedsbeitrag ist am 1. April des jeweiligen Jahres fällig. Tritt ein Mitglied während eines Jahres der Gesellschaft bei, ist der volle Beitrag nach Ablauf eines Monats nach Erwerb der Mitgliedschaft gem. Abs. 3 fällig. (6) Der Vorstand kann rückständige Mitgliedsbeiträge erlassen, wenn deren Einziehung unbillig oder der für die Einziehung erforderliche Aufwand unverhältnismäßig hoch wäre.

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Vorstand und Wissenschaftlicher Beirat der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V. Vorstand Prof. Dr. Klaus-Dieter Drüen (Vorsitzender); Prof. Dr. Johanna Hey (stellv. Vorsitzende); Präsident des BFH Dr. Hans-Josef Thesling; Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Lang; Ministerialdirektor Dr. Nils Weiht; Prof. Dr. Jens Schönfeld; Dr. Isabella Zimmerl (Schriftführerin); Verlagsleiter Prof. Dr. Felix C. Hey (Schatzmeister und Leiter der Geschäftsstelle). Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. Hanno Kube, LL.M. (Vorsitzender); Prof. Dr. Johanna Hey (stellv. Vorsitzende); Prof. Dr. Markus Achatz; Prof. Dr. Heribert M. Anzinger; Rechtsanwältin Dr. Stefanie Beinert; Vors. Richter am BFH Dr. Peter Brandis; Ministerialrat Dr. Harald Brandl; Ltd. Ministerialrat Dr. Stefan Breinersdorfer; Rechtsanwalt Prof. Dr. Axel Cordewener, LL.M.; Rechtsanwalt Prof. Dr. Christian Dorenkamp, LL.M.; Prof. Dr. Klaus-Dieter Drüen; Prof. Dr. Tina Ehrke-Rabel; Prof. Dr. Joachim Englisch; Präsident der Bundesfinanzakademie Dr. Robert Heller; Prof. Dr. Joachim Hennrichs; Vors. Richter am BFH Prof. Dr. Bernd Heuermann; Verlagsleiter Prof. Dr. Felix C. Hey; Prof. Dr. Rainer Hüttemann; Prof. Dr. Roland Ismer; Vors. Richterin am BFH Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel; Prof. Dr. Gregor Kirchhof; Rechtsanwalt Dr. Martin Klein; Prof. Dr. Dr. Juliane Kokott; Ministerialdirigent Martin Kreienbaum; Prof. Dr. Marcel Krumm; Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Lang; Richter am BFH Prof. Dr. Matthias Loose; Prof. Dr. René Matteotti; Prof. Dr. Dr. Gunter Mayr; Präsident des BFH a.D. Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff; Ministerialdirektor Dr. Rolf Möhlenbrock; Prof. Dr. Christine Osterloh-Konrad; Rechtsanwalt und Steuerberater Dr. Jürgen Pelka; Rechtsanwalt und Steuerberater Dr. Dirk Pohl; Prof. Dr. Ekkehart Reimer; Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Schön; Rechtsanwalt Dr. Jens Schönfeld; Prof. Dr. Roman Seer; Prof. Dr. Madeleine Simonek; Präsident des FG Berlin-Brandenburg Prof. Dr. Thomas Stapperfend; Prof. Dr. Christian Waldhoff; Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater Dr. Thomas Weckerle, LL.M.; Prof. Dr. Birgit Weitemeyer; Prof. Dr. Rainer Wernsmann; Hofrat Prof. Dr. Nikolaus Zorn.

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Stichwortverzeichnis Verfasserin: Dipl.-Kauffrau Dr. Ursula Roth-Caspari Abhilfebescheid 214 f. Abhilfezusage 215 Advanced Pricing Agreement (APA) 190 f., 249, 252 ff., 398 ff. – Begriff 398 – bilaterale 253 – in der Praxis 398 ff. – künftige Entwicklungsmöglichkeiten 271 f. – Rechtsgrundlage für die Erteilung nach § 89a AO 253 ff., 205 – Rechtssicherheit für alle Beteiligten 398 – Streitvermeidungsinstrument 100 f. – unilaterale 252 – Veröffentlichung 256 – Vorabverständigungsverfahren 205 Advance Tax Rulings – Streitvermeidungsinstrument 100 Alternative Dispute Resolution 5 Alternative Streitbeilegung 333 ff. – Begriff 334 f. – Gefahren für Rechtsschutz und Rechtsstaatlichkeit 340 ff. Alternative Streitbeilegung, Streitbeilegungsmechanismen – Gefahren für Rechtsschutz und Rechtsstaatlichkeit, Rechtsschutzdefitite? 344 ff., 366 Alternative Streitbeilegungsmechanismen – Güterichterverfahren 336 – Mediation 336 – Verfahren nach der EU-Streitbeilegungs-Richtlinie 336 – Vorteile 346 Amtsermittlungsgrundsatz (§ 88 AO) 259 Anonymisierte Publizierung von Gerichtsurteilen 134 f.

Anspruch auf Streitvermeidung und Streitbeilegung 53 f. Anti-Tax-Avoidance-Directive (ATAD) 38 APA Report der Europäischen Union 257, 271 Assurance letter – Bindungswirkung 268 – Verfahrensabschluss im Rahmen von ICAP 250, 267 f. Aufgaben der Finanzgerichte – an Gesetz und Recht gebundene Rechtsprechung, Art. 20 Abs. 3 GG 221 ff. – Rechtsfortbildung 225 f. – Streitschlichtung 224 f. Auskunftsanspruch eines Konkurrenten bei Konkurrentenklage 127 Ausschuss für alternative Streitbeilegung 428 ff. – Ausgestaltung 429 ff. Außenprüfung 46 f. – Abschlussbesprechung 46 – Abschlussbesprechung als „vergleichsähnliches Verständigungsverfahren“ 59 – Form für späte Streitbeilegung 60 – Mitteilungspflichten 46 – Prüfungsbericht 46 – späte 46 f. Authorized OECD Approach (AOA) 36 Automationsgerechte und streitvermeidende Gesetzgebung – Abgeltungsteuer 149 f. Automationsgerechte und streitvermeidende Typisierung – Abbildung des privaten Nutzungsanteils eines überwiegend beruflich genutzten Kraftfahrzeugs durch die 1% Regelung 149

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Stichwortverzeichnis – Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, Familienheimfahrten 149 Baseball-arbitration-Verfahren 364 Beihilfeverbot des Art. 107 AEUV 69 f. Besonderes elektronisches Bürger- und Organisationenpostfach (eBO) 162 Betriebsprüfung – Modernisierung, Beschleunigung 201 Betriebsprüfung, zeitnahe, § 4a BPO 60 Bi- und multilaterale Verrechnungspreisverfahren 389 ff. Bitcoin 145 Blockchain-Technologie 160 f. Comfort letter oder Outcome letter – Beihilfeverfahren Europäische Kommission 98 Computerhardware – Nutzungsdauer 145 Cooperative Compliance 184, 190 – transparency in exchange for certainity 200 Country-by-Country-Reporting, § 138 AO 267, 81, 128 Cross-border dialogue (CBD) 272 f., 102 Cross-Border-Ruling 387 – keine Projektteilnahme Deutschlands 387 – Lösung von Besteuerungskonflikten in konkreten Einzelfällen 387 – Vorbescheid 387 DBA-Normen – Auslegung 289 DBA-Schiedsklauseln 108 – Arten 312 ff. – Unionsrechtskonformität 109 – Vorteile 113 – Ziel Beseitigung der Doppelbesteuerung 308 f.

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DBA-Schiedsverfahren s. Schiedsverfahren DBA-Verständigungsverfahren 277 ff. – Aufgabe 278 – Beurteilung 291 f. – rechtliche Grundlagen 282 f. – rechtlicher Rahmen für die Entscheidungsfindung 287 ff. – Ursachen, Gründe 273 ff. – Ziele 273 ff. DEMPE-Konzept 32 Deutsche Umsatzsteuer s. Umsatzsteuer Dienstleistungsrichtlinie – RL 2006/123/EG 72 Digitaler Steuerbescheid 164 Digitales Einspruchverfahren 164 Digitales Rechtsmittelportal für Einspruchs- und Finanzgerichtsverfahren 164 Digitalisierung der Betriebsprüfung 158 f. – automatisierte Systeme zur Beurteilung der Notwendigkeit weiterer Prüfungen 158 – digitale Datenzugriffsmöglichkeiten 158 – Einsatz automatisierter innerbetrieblicher Kontrollsysteme (Steuer-IKS, Tax Compliance Management Systeme) 158 Digitalisierung des Besteuerungsverfahrens – elektronische Abgabe von Steuererklärungen 150 – elektronische Übermittlung von Bilanzen 150 Digitalisierung zur Streitvermeidung und Streitbeilegung 143 ff. – digitale Tatbestandsmerkmale 147 ff. – Streitvermeidung durch digitale Gesetze 153 ff. – Streitvermeidung durch digitalen Vollzug 156 ff.

Stichwortverzeichnis – Streitvermeidung durch digitalen Rechtsschutz 161 ff. Dispute resolution 5, 250 Dispute prevention 250 Doppelbesteuerung – internationale 248 Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) 190, 423 – alternativer Streitbeilegungsmechanismus 304 – Zweck 279 Doppelbesteuerungskonflikt 423, 339 Effizienzprinzip 66 Einigung, automationsbasierte 186 Einigung, formlose im Ermittlungsverfahren 184 ff. Einspruchsverfahren, außergerichtliches – Streitbeilegungsinstrument im Steuerverfahren 3 Einspruchs- und Finanzgerichtsverfahren – Aufholbedarf im internationalen Vergleich bezogen auf Medieneinsatz und Digitalisierung 162 f. Elektronische Führung neu angelegter Akten bei den Gerichten gemäß § 52b Abs. 1a Satz 1 FGO 162 Elektronische Kommunikation gemäß § 91a FGO – mündliche Finanzgerichtsverhandlung unter Einbeziehung einer Videokonferenz 161 Elektronisches Dokument und seine Übermittlung nach § 52a Abs. 4 Satz 1 FGO 161 Entscheidungsassistenzsysteme 170 Erörterungstermin finanzgerichtliches Verfahren – Instrument zur Förderung einer gütlichen Streitbeilegung 353 EU-DBA-SBG – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 201/1852 des Rates vom

10.10.2017 über Verfahren zur Beilegung von Besteuerungsstreitigkeiten in der Europäischen Union 411 – zeitliche Anwendbarkeit 412 EU-Streitbeilegungsrichtlinie s. Streitbeilegungsrichtlinie EuGH-Rechtsprechung Achmea, EuGH v. 6.3.2018 - C-284/16 109 Europäisches Schiedsübereinkommen 95 European Trust and Coorporation Approach (ETACA) – europäisches Pendant zu ICAP 250, 269 ff., 424, 200 – outcome letter 269 f. – Risikobewertungsprogramm 269 f. – Streitvermeidungsinstrument 101 – Vergleich zu ICAP 271 Faire Besteuerung 124 Final offer approach – bevorzugte Schiedsverfahrensmethode der OECD 312 Forum on Tax Administration (FTA) 205 – Gründung durch OECD in 2002 200 Fremdvergleichsgrundsatz 389 Gemeinsames EU-Verrechnungspreisforum 406 Gerichtsöffentlichkeit 130 ff. – Gefahren einer weiten Öffentlichkeit 140 f. – Medienöffentlichkeit in Gerichtssälen 139 – Öffentlichkeit bei Einspruchs- und Finanzgerichtsverfahren 131 ff. – Saalöffentlichkeit, § 169 GVG 130 f. – Streitvermeidung durch öffentlich zugängliche Gerichtsurteile 139 f. – Veröffentlichungspflicht von Urteilen 133 ff.

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Stichwortverzeichnis Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung 338 Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens 150 – allgemein ausgestaltete Datenermittlung durch Dritte, § 93c AO 150 – Anforderungen an nicht amtliche Datenverarbeitungsprogramme für das Besteuerungsverfahren, § 87c AO 156 f. Gesetz zur Modernisierung des Steuerverfahrensrechts 158 f. Gesetzesvorbehalt, nicht Computervorbehalt 151 Gesetzmäßigkeit des Steuervollzugs 192 f. Gleichmäßigkeit des Steuervollzugs 192 f. Gesetzmäßigkeitsprinzip 46 f. Gesetzmäßigkeitsprinzip, -gebot 4 Gleichheitssatz 59 ff. – Anspruch auf Auskunftserteilung 32 Government-to-government-Verfahren 361 f. Grenzüberschreitende Rechtssicherheit – internationaler Verwaltungsvertrag 274 f. – MAPs und APAs 252 – Verschränkung von bilateralem APA und Joint Audit 274 f. Grundrechtecharta, europäische 67 – Garantie zu effektivem Rechtsschutz, Art. 47 GrCh. 67, 131 – Garantie zu effektivem Rechtsschutz, Art. 47 GrCh., Parallelnorm zu Art. 19 Abs. 4 GG 67 – Garantie zu rechtlichem Gehör, Art. 41 Abs. 2 c GrCh. 67 – Recht auf gute Verwaltung, Art. 41 GrCh. 40 f.

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– Unternehmerfreiheit, Art. 16 GrCh. 67 Grundsatz der Entscheidungsharmonie 289, 432 Grundsatz der Gewaltenteilung und der freien richterlichen Überzeugungsbildung – Ausschluss einer vollständigen Algorithmisierung des Rechts 155 Grundsatz der Gerichtsöffentlichkeit 130 ff. Grundsatz formeller Territorialität 259 Güterichterverfahren 336, 351 ff. – Gefahren 353 ff. – gesetzliche Grundlage im finanzgerichtlichen Verfahren in § 155 FGO mit Verweis auf § 278 Abs. 5 ZPO 351 – Güterichter 351 f., 354 – praktische Bedeutung im finanzgerichtlichen Verfahren 353 – Verfahrensablauf 351 f. – Vorteile 355 f. Horizontal Monitoring 226 f. ICAP-Handbuch der OECD 268, 423 Independent oppinion approach 312 Individueller Rechtsschutz – Wahrung für alle alternativen Streitbeilegungsmechanismen 344 f. Individueller Rechtsschutz und seine Sicherung 340 f. Informelle Absprachen 203 Informationelles Selbstbestimmungsrecht des Steuerpflichtigen 126 Institutionelles Rücksichtnahmegebot 62 f. Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) 98 International Compliance Assurance Programme (ICAP) 196 f., 250, 267 ff., 423, 200 – Abwesenheit Deutschlands in der ersten Pilotphase 42

Stichwortverzeichnis – Streitvermeidungsinstrument 101 – Tax Control Framework 106 Internationale Steuerstreitigkeiten Typologie 92 ff. – Parteien der Streitigkeiten 92 f. – Streitigkeiten über Tatsachen oder Rechtsfragen 93 ff. – Ziel des Verfahrens (Einzelfalllösung oder Rechtskonkretisierung) 95 f. Internationale Streitbeilegungsverfahren 197 f. Internationale Verständigungen – Potential der Einwirkung auf das nationale Recht 211 ff. Internationale (Vorab-) Verständigungsverfahren, § 89a AO 190 f. – Advanced Pricing Agreement (APA) 190 f. – völkerrechtliche Verträge 190 f. Internationaler Gerichtshof für Verrechnungspreisstreitigkeiten 420 f. Internationales Steuergericht 332 Joint Audit – koordinierte bzw. grenzüberschreitende Betriebsprüfung 102 f., 251 f., 255 f., 258 ff. Joint Audit auf Basis von §§ 10, 11 EU-Amtshilfegesetz in Deutschland 258 f. Joint Audit Bericht oder Report 260 f. – keine rechtliche Bindungswirkung 261 – Verwandlung in ein rechtlich bindendes Dokument durch internationalen Verwaltungsvertrag 263 ff. – Verwandlung in ein rechtlich bindendes Dokument durch Verschränkung mit bilateralem APA 261 ff. Kognitive Assistenzsysteme in der Rechtsprechung 170 Konfliktmanagementplattform 170 Konkurrentenklage im Steuerrecht 342 Konkurrentenrechtsschutz 342

Konkurrenzverhältnis – Verständigungs- und Schiedsverfahren nach DBA und EU-Schiedskonvention und Verfahren nach der Streitbeilegungsbeschwerde 413 f. Konsentierter Streit 24 Kryptowerte, Kryptowährung – steuerrechtliche Einorndung 145 Legalitätsprinzip – Begrenzung des Anwendungsbereichs von Mediation und Güterichterverfahren 353, 366 Leistungsklage – Klageart für die Durchführung eines Verständigungsverfahrens 401 Lohnsteueranrufungsauskunft, § 42e EStG 38, 190, 43 – feststellender Verwaltungsakt 190 Manual on Effective Mutual Agreement Procedures (MEMAP) 405 Mediation 336, 346 ff. – Begriff 346 f. – Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung 348 – gesetzliche Grundlage im finanzgerichtlichen Verfahren in § 155 FGO mit Verweis auf § 278 Abs. 5 ZPO und § 278a ZPO 348 – keine wesentliche praktische Bedeutung im finanzgerichtlichen Verfahren 349 – Verfahrensablauf 347 ff. – Vorteile und Gefahren 350 f. Medienöffentlichkeit in Gerichtssälen 139 Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL) 375 f. Meistbegünstigungsklauseln betreffend Schiedsverfahren (Schweiz) 306 f. – in Form ausformulierter Schiedsklauseln 306 f.

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Stichwortverzeichnis – ohne ausformulierte Schiedsklauseln 306 f. Mitwirkungsverpflichtung des Steuerpflichtigen 397 – allgemeine und besondere in § 90 AO 397 – bei Verrechnungspreisen § 90 Abs. 2 bis 4 AO 397 Mitwirkungsverzögerungsgeld 25, 202 Multilaterales Instrument 307 f. Neutralitätsprinzip des Mehrwertsteuersystems 375 f. New Approach im Rahmen des Art. 23 OECD-MA 94 OECD-Musterabkommen (OECD-MA) 277 f. – Art. 25 Verständigungsverfahren und Schiedsverfahren 5 f. – Schiedsklausel 107 OECD-Verrechnungspreisleitlinien 390 Öffentlichkeit im Steuerstreit – Ausschluss der Öffentlichkeit im Finanzgerichtsverfahren 132 f. – Einspruchsverfahren, nicht öffentlich 131 f. – Finanzgerichtsverfahren, grundsätzlich öffentlich 132 f. Öffentlichkeitsgrundsatz 130 f. Online-Streitbeilegungsplattform 169 Outcome letter 269 f., 200 Pflicht-Verständigung 186 Pillar One 273, 442 – frühzeitige Steuersicherheit 200 – Tax-Certainty-Instrumente (Entwicklungsphase) 103 f. – Verlagerung der Besteuerungsrechte an Marktstaaten 90 Pillar Two 273 – Einführung einer globalen Mindestbesteuerung 90 Pillar Two, Two-Pillar Solution 442 Prinzip der Rechtsstaatlichkeit 125

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Profit Split-Systeme 417 Prozessvergleich – Aussetzungszinsen 214 – Erledigungserklärung im Finanzgerichtsprozess 214 – Erörterungstermin Finanzgericht 211 – Instrument zur Streitbeilegung 211 Publizität 124 Qualifiziertes Mitwirkungsverlangen, § 200a AO 25, 202 Rechnergeleitete Steuererklärung 157 Recht auf Akteneinsicht 126 Rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG 50 ff. – Äußerungspflicht des Bürgers 50 – Anspruch im Verwaltungsverfahren 50 f. – automatisierte Aussteuerung bei Einträgen im Freitextfeld nach § 155 Abs. 4 Satz 3 AO 160 – Informationspflicht des Gerichts 50 Rechtmäßigkeitskontrolle, objektive und ihre Gewährleistung 341 ff. Rechtsbehelfsverfahren, nationale 215 f. – Vorteile 216 Rechtsschutz und seine Sicherung 340 f. Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG 45, 61 ff., 63 f. – im Steuerrecht kein Recht auf Streitvermeidung und Streitbeilegung ableitbar 62 Rechtssicherheit 195 – Abgrenzung zu Tax Certainity 97 f. – Begriff 97 – Gebot, Grundsatz 139 Rechtssicherheit, grenzüberschreitende 274 Rechtssicherheit im internationalen Bereich 196 f. Rechtsstaatlichkeit 125

Stichwortverzeichnis Rechtsstaatsprinzip 138 Reformansätze für Verfahren der Streitvermeidung und der Streitbeilegung – Effektuierung des Rechtsschutzes 416 f. – einmalige Reduktion des Bestands der Verfahren 418 f. – Etablierung eines internationalen Gerichtshofs 420 f. Reformvorschläge für das nationale Umsatzsteuerrecht – Änderungsvorschrift, § 174a E-AO 382 – Erstreckungswirkung der Bindungswirkung durch Hinzuziehung bzw. Beiladung 383 – gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen 381 f. – keine Verzinsung in einer Doppelten-Null-Situation 383 ff. – Verfahren zur Erteilung einer verbindlichen Auskunft 380 f. – Verjährung 383 Reformvorschläge für das Umsatzsteuerrecht auf EU-Ebene 385 ff. – Cross-Border-Ruling 387 – Verständigungsverfahren 386 f. Richtlinie über grenzüberschreitenden Informationsaustausch 71 Roll back 249 – Nennung in § 89a Abs. 6 Satz 2 AO 255 Saalöffentlichkeit, § 169 GVG 130 f. Sample Mutual Agreement on Arbitration – Methode der unabhängigen Meinung (independent opinion approach) 312 – Methode des abschließenden Angebots (final offer approach) 312 – Schiedsverfahrensablauf 320 f. – Vorlage für eine bilaterale Verständigungsvereinbarung 310

– zwei Arten von Schiedsverfahren 312 f. Schiedsgerichtsurteil durch den EuGH 436 Schiedsklauseln s. DBA-Schiedsklauseln Schiedsspruch – Ablehnung 319, 332 – Zustimmung 319 Schiedsverfahren 425 f. – Bestellung der Schiedsrichter 322 f. – Entscheidung (final offer arbitration) 326 – Erweiterung des Verständigungsverfahrens 314 – Gegenstand 315 f. – Gründe für Ausschluss oder Aufschub 319 f. – Kompetenzen der Schiedsstelle (final offer arbitration) 324 f. – kritische Würdigung 331 f. – Parteien 323 f. – Umsetzung des Schiedsspruchs in eine Verständigungsvereinbarung 326 f. – unselbständiger Charakter 314 – Verfahrensablauf 320 f. – Zeitpunkt der Einleitung 317 f. Schiedsverfahren nach der EU-Streitbeilegungs-Richtlinie (SBRL) 426 ff. – Government-to-GovernmentVerfahren 428 Schiedsverfahren zwischen Investoren und Staaten in Investitionsschutzabkommen 112 f. Schutz vor Gestaltungswirkungen der Besteuerung 54 f. Schutz vor Zwangskooperation 56, 64 f. Smart-Regulation-Ansatz 356 Software in Cloud-Umgebungen – wirtschaftliche Zuordnung 145 Souveränitätsprinzip 304 Steuer-IKS – automatisiertes innerbetriebliches Kontrollsystem 158

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Stichwortverzeichnis Steuergeheimnis 128 ff., 141 – entgegenhaltend Prinzip der Öffentlichkeit 131 – Geheimhaltungsinteresse zugunsten des Steuerpflichtigen 131 Steuerverfahrensrecht – vergangenheitsbezogene Kontrolle in Deutschland 43 Steuervergleich 209 ff. – weder in AO noch FGO geregelt 210 Streitbeilegung 209 ff. – Begriff 5 Streitbeilegung, alternative 334 f. Streitbeilegung außerhalb gerichtlicher Verfahren 6 Streitbeilegung bei der Umsatzsteuer 375 ff. Streitbeilegungsmechanismen, alternative 333 ff.; s.a. Alternative Streitbeilegungsmechanismen Streitbeilegungsrichtlinie 72, 95 – alternatives Streitbeilegungsinstrument 339 – Ausschuss für alternative Streitbeilegung, Art. 10 Abs. 1 SBRL 357 f. – beratender Ausschuss, Art. 14 SBRL 357 – Einschränkung von Mitgliedsrechten der Steuerpflichtigen 359 ff. – Flexibilität bei anzuwendender Streitbeilegungsmethode 364 f. – Grundsätzliches 356 f. – Inhalt 72 – nationale Umsetzung 108 – praktische Bedeutung 367 – Recht auf Gehör für den Steuerpflichtigen im Schiedsverfahren 360 f. – Smart-Regulation-Ansatz 356, 366 – Verfahrensablauf 356 f. – Vorteile 365 f. Streitbeilegungsverfahren 107 ff., 282 – Forenproliferation 107 f.

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– Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 110 – Ineffizienz 215 – multilaterale Konstellationen 110 – Unionsrechtskonformität von Schiedsklauseln in DBA, EuGH Rechtsprechung Achmea 109 Streitfelder im internationalen Steuerrecht 31 ff. – Bestimmung von Verrechnungspreisen 31 ff. – Betriebsstätte, Betriebsstättenbegriff 35 f. – erweiterte Mitwirkungs- und Dokumentationspflichten 33 f. – grenzüberschreitende Gewinnzuordnung zu Betriebsstätten 35 ff. – grenzüberschreitendes Umsatzsteuerrecht (Doppelbesteuerung, doppelte Nichtbesteuerung 39 f. – Home Office im Ausland 37 f. – Korrespondenzregeln 38 f. – Mitarbeiterentsendung ins Ausland 37 f. – Verlagerung betrieblicher Funktionen 34 f. – Verrechnungspreisdokumentation 33 f. – Verrechnungspreisrichtlinien (Guidelines) 32 Streitfelder im Lohnsteuerverfahren 29 ff. – Anrufungsauskunft beim Betriebsstätten-Finanzamt 30 – Antrag auf Lohnsteuerpauschalierung als Möglichkeit für eine streitvermeidende Verständigung 30 f. – Unternehmer als Steuerentrichtungspflichtiger 29 f. Streitfelder im Steuerrecht 13 ff. – bei der Steuerfestsetzung 14 ff. – grenzüberschreitende Streitfelder 31 ff. – Spezifika der Umsatz- und Lohnsteuerverfahren 27 ff.

Stichwortverzeichnis Streitfelder im Umfeld der Steuerfestsetzung – Abgrenzung von Aufwendungen betrieblicher und privater Art 17 ff. – Abgrenzung von Einkommenserzielung und Einkommensverwendung 17, 19 f. – Abgrenzung von Gemeinnützigkeit und wirtschaftlichem Geschäftsbetrieb 20 – Aufteilung gemischter Aufwendungen 17 f. – Bewertung von Wirtschaftsgütern 14 ff. – Bewertung von Wirtschaftslasten, insb. Rückstellungen 15 – formelle Ordnungsmäßigkeit der Buchführung 22 f. – häusliches Arbeitszimmer 18 – kapitalmarktfremde Verzinsung von Steueransprüchen 26 f. – nichtabzugsfähige Betriebsausgaben 18 – Schätzung von Umsatz und Gewinn 21 ff. – Schätzungsbefugnis der Finanzbehörde 22 f. – Schätzungshöhe 23 – Teilbetrieb und seine Abgrenzung 16 – Teilwert 15 f. – Verkehrswert 14 f. – Verspätungszuschlag 27 – Vertragsbeziehungen zwischen nahen Angehörigen 19 f. – Verzögerungsgeld 27 Streitbelegungsinstrument im Steuerverfahren – außergerichtliches Einspruchsverfahren 3 Streitfelder im Umsatzsteuerverfahren 27 ff. – Steuerbarkeit 18 – Steuerfreiheit 18 – Steuersatz 18 – Vorsteuerabzug 18 f.

Streitvermeidung – Einsatz automatisierter innerbetrieblicher Kontrollsysteme (Steuer-IKS, Tax Compliance Management Systeme) 158 – Entwicklungen 60 ff. – öffentlich zugängliche Urteile 139 f. Streitvermeidung durch Digitalisierung von Steuerrecht und Steuervollzug 9 Streitvermeidung und Streitbeilegung im nationalen Steuerrecht 41 ff. – unionsrechtlicher Rahmen 66 ff. – verfassungsrechtlicher Rahmen 50 ff. Streitvermeidung und Streitbeilegung im Steuerrecht aus nationaler sowie internationaler Perspektive 1 ff. Streitvermeidungsinstrumente 99 ff. – Advance Pricing Agreements (APA) 100 f. – Advance Tax Rulings 100 – Cross-Border-Dialogue (CBD) 102 – European Trust and Cooperation Approach (ETACA) 101 f. – International Compliance Assurance Programme (ICAP) 101 – Joint Audits 102 f. – kritische Beurteilung 104 ff. – Tax-Certainty-Instrumente nach Pillar One (Entwicklunhgsphase) 103 f. Strong dispute resolute mechanisms 395 Tatsächliche Verständigung 4, 186 ff., 228, 207 ff. – besondere Anwendungsfälle 228 – Bindung der Finanzgerichte 230 ff. – Bindung der Finanzgerichte, Kritik 231 f. – Bindung der Finanzverwaltung 229 f. – Bindung des Steuerpflichtigen 229 f.

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Stichwortverzeichnis – kein Eintreten der Bindungswirkung 229 f. – öffentlich-rechtlicher Vertrag 188, 65 – steuerliche Praxis 232 f. – Unterschied zur verbindlichen Zusage 189 Tax Certainity 184, 195 f., 395 – Abgrenzung zu Rechtssicherheit 97 f. – Begriff 97 ff. Tax Certainty – erreichbar auch durch nicht bindende Instrumente wie ICAP, ETACA, Joint Audits 99 Tax Compliance Management Systeme 158 f. Tax Control Framework 106 Tax relationship manager 47 Teilabhilfebescheid 213 Teilabschlussbescheid 201 – Gesetz vom 20.12.2022 über die Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden und zur Modernisierung des Steuerverfahrensrechts 24 Transparenz 124 – Offenheit Steuerpflichtiger gegenüber Steuerverwaltung 124 – Offenheit Steuerverwaltung gegenüber Steuerpflichtigem 124 Treaty Override 279, 286 – echter 286 – gemischter 286 f. – unechter 286 Treaty Overrides und EU-Streitbeilegungsrichtlinie 111 f. Übergewinn 90 Umsatzsteuer – Allphasen-netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug 375 – durchlaufender Posten 376 – innergemeinschaftliche Lieferungen, innergemeinschaftlicher Erwerb 375 f. – Neutralität im materiellen Recht 376 ff.

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Umsatzsteuerverfahrensrecht – fehlende Vorschriften zur Sicherstellung der Neutralität 378 – keine vollständige kongruente Umsatzbesteuerung beim Leistenden und beim Leistungsempfänger 387 f. – Reform, Reformüberlegungen 379 – Reformvorschläge für das nationale Recht 380 ff. – Reformvorschäge für das Recht auf EU-Ebene 385 ff. Verbindliche Auskunft, § 89 AO 189 f., 43 f., 203 ff. – Begriff 189, 204 – eingeschränkte Wirksamkeit 44 – Unterschied zur tatsächlichen Verständigung 190 – Wahrnehmung als „Selbstbindung“ der Verwaltung 204 Verbindliche Zusage, § 204 AO 189 f., 205 ff. – Begriff 188, 205 – Kontinuitätsgarantie 189 – Unterschied zur tatsächlichen Verständigung 189 – zeitlicher Zusammenhang 206 Verfahren nach der EU-Streitbeilegungs-Richtlinie 336 Verfahrensautonomie 66 Verfahrensdauer in Steuersachen – Schwachstelle der langen Dauer 338 Verfahrensdimension der Grundrechte 53 f. Verfahrensgerechtigkeit, faires Verfahren 130 f. Verfahrensrahmen für die rechtssichere Vermeidung von Steuerstreitigkeiten 247 ff. – grenzüberschreitende Rechtssicherheit durch bilateralem APA und Joint Audit sowie internationalem Verwaltungsvertrag 274 f.

Stichwortverzeichnis Verfahrensverständigung zwischen Finanzbehörde und Steuerpflichtigem 26 Vergleich 191 f. – Begriff 191 – Unzulässigkeit im Steuerrecht 191 Vergleichsvertragsrecht – Definition der Voraussetzungen und Rechtsfolgen eines Steuervergleichs 210 Veröffentlichkeitspflicht von Urteilen – Rechtsfortbildung 133 – Konkretisierung von Rechtsnormen 133 – Prinzip der Gewaltenteilung, Demokratieprinzip 134 Verifikationsprinzip 42 Verrechnungspreis, Verrechnungspreisstreitigkeiten 7 Verrechnungspreisverfahren, bi- und multilaterale 389 ff. – Anpassungsvolumen 392 – Anzahl und Dauer der Verfahren 393 f. – Einleitung im Ermessen der Finanzbehörde 393 – Sammelbezeichnung für Verständigungsverfahren 391 – Stellung des Steuerpflichtigen im Verfahren 405 f. – Verzinsung für die Dauer des Verfahrens 406 ff. – Verzinsung für die Dauer des Verfahrens, nationale Rechtsprechung 409 ff. Verständigung – Einigung über strittige Fragen 183 f. – tatsächliche 186 ff. Verständigung und Vergleiche in Steuerverfahren – aus Perspektive der Beraterschaft und Unternehmen 199 ff. – aus Perspektive der Finanzgerichtsbarkeit 221 ff.

– aus Perspektive der Finanzverwaltung 183 ff. Verständigungs- und Schiedsverfahren nach den Doppelbesteuerungsabkommen 67 f. – Wahlrecht des Steuerpflichtigen 67 Verständigungsprotokoll 214 Verständigungsvereinbarung – nationale Umsetzung in der Schweiz 327 ff. Verständigungsverfahren 423 f. – bilaterale 249 – Nachteile 424 – Schiedsverfahren bei Scheitern 33 f. Verständigungsverfahren nach Art. 25 OECD-Musterabkommen (MAPs) 248 f. Vertragsformverbot 58 f. Vertrauen der Bürger in den Staat – Stärkung durch Transparenz gerichtlicher Verfahren 343 Vertrauensschutz 194 Verwaltungsrechtliche Anhörungspflicht, § 91 AO 51, 53 Vorabauskunft des § 98 Abs. 2 AO 61 Vorabverständigungsverfahren (APA) 205 – nationale Rechtsgrundlage in § 89a AO 205, 391 Vorabklärung 213 Vorausgefüllte Steuererklärung 157 Vorlage an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) 67 Welteinkommensprinzip (§ 1 EStG, §§ 1 und 8 KStG) 259 Zeitnahe Außenprüfung 73 Zeitnahe Betriebsprüfung, § 4a BPO 60 Zinslast, § 233a AO – Nachzahlung von Steuern in Deutschland nach Umsetzung einer Verständigungslösung 218 f.

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