Strafrechtliche Verfahrensgarantien im europäischen Kartellrecht: Implikationen und Grenzen der Strafrechtsähnlichkeit von Kartellbußgeldern [1 ed.] 9783428553938, 9783428153930

Das europäische Kartellrecht hat in den letzten Jahrzehnten diverse Reformen erfahren. Jedoch sind nach Ansicht des Auto

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Strafrechtliche Verfahrensgarantien im europäischen Kartellrecht: Implikationen und Grenzen der Strafrechtsähnlichkeit von Kartellbußgeldern [1 ed.]
 9783428553938, 9783428153930

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Schriften zum Europäischen Recht Band 182

Strafrechtliche Verfahrensgarantien im europäischen Kartellrecht Implikationen und Grenzen der Strafrechtsähnlichkeit von Kartellbußgeldern

Von Florian Henn

Duncker & Humblot · Berlin

FLORIAN HENN

Strafrechtliche Verfahrensgarantien im europäischen Kartellrecht

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 182

Strafrechtliche Verfahrensgarantien im europäischen Kartellrecht Implikationen und Grenzen der Strafrechtsähnlichkeit von Kartellbußgeldern

Von Florian Henn

Duncker & Humblot · Berlin

Basler Dissertation, 2017.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-15393-0 (Print) ISBN 978-3-428-55393-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-85393-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die ersten Notizen zu dieser Dissertation entstanden während einer Nebentätigkeit in einer Brüsseler Kartellrechtskanzlei. Dort zeigte sich bei der Beschäftigung mit dem Geltungsumfang des Grundsatzes „due process“ im europäischen Kartellverfahren eine oft von partikularen Interessen geleitete Diskussion: Von Vertretern der Europäischen Institutionen wurden Argumente vor allem mit dem Ziel vorgetragen, die Effektivität des Kartellrechts zu wahren und wenn möglich zu steigern. Vertreter der Anwaltschaft hingegen stritten für ein umfassendes und schlagkräftiges Bündel an Verteidigungsmitteln. Interessant war die Lektüre von Urteilen des Schweizer Bundesverwaltungsgerichts, das eine differenzierende Meinung zum Schweizer, dem europäischen sehr ähnlichen Kartellrecht zu vertreten schien. Es folgte der Entschluss, das Thema in einer Dissertation behandeln zu wollen. Und aus der Lektüre der Schweizer Urteile resultierte schließlich eine Anfrage bei Professor Stephan Breitenmoser an der Universität Basel, der zugleich Richter am Schweizer Bundesverwaltungsgericht ist, ob er ein solches Vorhaben betreuen wolle. Für die umgehende Zusage, den nachfolgenden fachlichen Austausch und ganz besonders für die höchst anregenden Doktorandenseminare auf dem Arenenberg möchte ich mich sehr herzlich bedanken. Dank gebührt ebenfalls Professor Claudia Seitz (Universität Basel) und Professor Walter Stoffel (Université Fribourg) für die Erstellung der weiteren Gutachten. Arvid Morawe verdanke ich eine besonders in gesellschaftsrechtlicher Hinsicht kritische Lektüre meines Manuskripts. Frankfurt am Main, September 2017

Florian Henn

Inhaltsübersicht Einleitung

27

A. Probleme im Ablauf des europäischen Kartellverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 B. Gang der Untersuchung, Schwerpunkte und Ausgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 C. Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 D. Verhältnis der den Prüfmaßstab bildenden Rechtsquellen EU-GRCh, EMRK und allgemeine Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 E. Terminologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Teil 1:

Grundsätzliche Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantienim europäischen Kartellverfahren

34

A. Aufbau von strafrechtlichen Verfahrensgarantiensowie Voraussetzungen für deren Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 B. Art. 6 EMRK – Anwendungsvoraussetzung „strafrechtliche Anklage“ . . . . . . . . . . . 36 C. Art. 41 EU-GRCh – Anwendungsvoraussetzung „Angelegenheiten von Organen der Europäischen Union“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 D. Art. 47 EU-GRCh – Anwendungsvoraussetzung „Verletzung in eigenen Rechten“ . . 50 E. Art. 48 EU-GRCh – Anwendungsvoraussetzung „Angeklagter“ . . . . . . . . . . . . . . . . 54 F. Fazit: Grundsätzliche Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantien in Kartellbußgeldverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

Teil 2:

Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus in Verwaltungssanktionsverfahren gegen Unternehmen

56

A. Keine grundsätzliche Unzulässigkeit von administrativen Sanktionsverfahrengegen Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 B. Bestimmung des Begriffs der Strafrechtsähnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

8

Inhaltsübersicht

C. Auslegungsmethodenfür die Bestimmung des strafverfahrensgarantierechtlichen Mindestschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 D. Zu berücksichtigende unternehmensspezifische Faktoren bei der Anwendung strafrechtlicher Verfahrensgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Teil 3:

Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts mit strafrechtlichen Verfahrensgarantien

87

A. Zulässigkeit vorgeschalteter Verwaltungssanktionsverfahrentrotz Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 B. Anspruch auf rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 C. Anspruch auf Ladung und Befragung von Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 D. Öffentlichkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 E. Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 F. Nemo-tenetur-Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 H. Anspruch auf Verhandlung innerhalb angemessener Frist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 I. Gesamtfazit zur Einhaltung strafrechtsähnlicher Verfahrensgarantienim europäischen Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Teil 4:

Gesamtfazit und Reformvorschläge für das europäische Kartellverfahren

264

A. Reformvorschläge im Rahmen der bestehenden Regelungender Art. 101 und 103 AEUV 264 B. Gesamtfazit: Vereinbarkeit des europäischen Kartellverfahrens mit Art. 6 EMRK und den korrespondierenden Garantien der EU-GRCh unter der Voraussetzung eines höheren Verfahrensgarantieniveaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Urteils- und Entscheidungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Materialienverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

Inhaltsverzeichnis Einleitung

27

A. Probleme im Ablauf des europäischen Kartellverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 B. Gang der Untersuchung, Schwerpunkte und Ausgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 C. Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 D. Verhältnis der den Prüfmaßstab bildenden Rechtsquellen EU-GRCh, EMRK und allgemeine Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 E. Terminologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

Teil 1: Grundsätzliche Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantienim europäischen Kartellverfahren



34

A. Aufbau von strafrechtlichen Verfahrensgarantiensowie Voraussetzungen für deren Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 B. Art. 6 EMRK – Anwendungsvoraussetzung „strafrechtliche Anklage“ . . . . . . . . . . . 36 I.

Merkmal „Anklage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1. Vorgaben aus der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Vorliegen einer Anklage im europäischen Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 a) Auskunftsverlangen gem. Art. 18 VO (EG) 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 b) Nachprüfungen gem. Art. 20 VO (EG) 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 c) Mitteilung der Beschwerdepunkte gem. Art. 27 VO (EG) 1/2003 . . . . . . 42

II. Merkmal „strafrechtlich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Keine Einordnung von Kartellbußgeldern als strafrechtlich im Unionsrecht 44 2. Natur des Vergehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 a) Repressiver Charakter von Kartellbußgeldern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 b) Präventiver Charakter von Kartellbußgeldern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 c) Abstrakt-genereller Adressatenkreis des Kartellverbots . . . . . . . . . . . . . . 48 3. Art und Schwere der angedrohten Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

10

Inhaltsverzeichnis a) Unmöglichkeit der Bewertung von Kartellbußgeldern nach der Art der angedrohten Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 b) Regelmäßig gegebene Schwere der angedrohten Strafe von Kartellbußgeldern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 III. Fazit: Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK im europäischen Kartellbußgeldverfahren 50

C. Art. 41 EU-GRCh – Anwendungsvoraussetzung „Angelegenheiten von Organen der Europäischen Union“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 D. Art. 47 EU-GRCh – Anwendungsvoraussetzung „Verletzung in eigenen Rechten“ . . 50 I.

Betroffenheit subjektiver Rechte durch Kartellbußgelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

II. Verletzung subjektiver Rechte durch Kartellbußgelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 III. Identische Anwendungsvoraussetzungen in Abs. 2 und 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 E. Art. 48 EU-GRCh – Anwendungsvoraussetzung „Angeklagter“ . . . . . . . . . . . . . . . . 54 F. Fazit: Grundsätzliche Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantien in Kartellbußgeldverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Teil 2: Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus in Verwaltungssanktionsverfahren gegen Unternehmen



56

A. Keine grundsätzliche Unzulässigkeit von administrativen Sanktionsverfahrengegen Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 I.

Praktizierte Einschränkung strafrechtlicher Verfahrensgarantien in Verwaltungssanktionsverfahren gegen Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

II. Möglichkeit zur unterschiedlich strengen Anwendung von strafrechtlichen Verfahrensgarantien aufgrund unbestimmten Wortlauts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 III. Widerlegung von Ansichten gegen die Anwendung strafrechtlicher Verfahrensgarantien in Verwaltungssanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1. Gefahr der Absenkung des Garantieniveaus auch in kernstrafrechtlichen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2. Einführung eines EMRK-Zusatzprotokolls als Alternative zur weiten Auslegung des Begriffs „strafrechtliche Anklage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 IV. Maßgeblichkeit der Heilungsmöglichkeit verfahrensgarantierechtlicher Defizite im Fall eines gerichtlichen Anfechtungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 B. Bestimmung des Begriffs der Strafrechtsähnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 I.

Unzulässigkeit der ausschließlich auf gesetzgeberischer Entscheidung beruhenden Einordnung von Sanktionen gegen Unternehmen als strafrechtsähnlich . . . 64

Inhaltsverzeichnis

11

II. Keine praxistaugliche Definition in der Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Verwaltungssanktionen gegen natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 III. Nichtübertragbarkeit der unabhängig von Verfahrensgarantien erfolgenden Differenzierung zwischen Strafrecht im engeren und im weiteren Sinn . . . . . . . . . 66 1. Unterscheidung nach dem sozial-ethischen Unwert einer Tat . . . . . . . . . . . 66 2. Unterscheidung anhand der angeordneten Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 IV. Existenzvernichtende Wirkung von Bußgeldern als einzige unzulässige Rechtsfolge in strafrechtsähnlichen Sanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1. Unmöglichkeit der Heilung nur bei existenzvernichtenden Sanktionen . . . . 69 2. Unbeachtlichkeit mittelbarer Sanktionsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3. Gesetzgeberische Einschätzungsprärogative unterhalb der Schwelle der Existenzvernichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 a) Bestehen einer gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative im Grenzbereich kernstrafrechtlicher und strafrechtsähnlicher Sanktionen . . . . . . 73 b) Grenzziehungen unterhalb der Schwelle der Existenzvernichtung als Ausprägung der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative . . . . . . . . . . . 74 c) Kriminalisierungsinitiativen als Ausübung der gesetzgeberischen Einschät­ zungsprärogative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4. Fazit: Unzulässigkeit strafrechtsähnlicher Sanktionsverfahren allein für existenzvernichtende Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 V. Identische Definition von Strafrechtsähnlichkeit im Kontext der EU-GRCh . . . 77 C. Auslegungsmethodenfür die Bestimmung des strafverfahrensgarantierechtlichen Mindestschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 I.

Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge als Ausgangspunkt . . . . . 77

II. Vorrang dynamisch-teleologischer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 III. Bestimmung des Schutzstandards durch Abwägungsentscheidung im Rahmen der Prüfung der Einhaltung einer Verfahrensgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 IV. Reduktion des Garantiestandards durch implizite Schranken aufgrund von Verhältnismäßigkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 V. Umsetzungsspielraum für EGMR-Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 VI. Fehlende Rechtsfolgenanordnung in Urteilen des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 D. Zu berücksichtigende unternehmensspezifische Faktoren bei der Anwendung strafrechtlicher Verfahrensgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 I.

Eigenschaften von Unternehmen im Vergleich mit natürlichen Personen . . . . . . 83 1. Gründung von Gesellschaften aufgrund rechtsgeschäftlichen Gründungsaktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2. Rechtspersönlichkeit nur aufgrund gesetzlicher Anordnung . . . . . . . . . . . . . 84

12

Inhaltsverzeichnis 3. Erfordernis gesetzlicher Vertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4. Erfahrenheit im Rechtsverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 II. Teleologische Unterschiede hinsichtlich der Schutzbedürftigkeit von Unternehmen und natürlichen Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts mit strafrechtlichen Verfahrensgarantien



87

A. Zulässigkeit vorgeschalteter Verwaltungssanktionsverfahrentrotz Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 I.

Grundsätzliche Zulässigkeit vorgeschalteter Verwaltungssanktionsverfahren . . 89 1. Unklare Grenzen für die Zulässigkeit von Verwaltungssanktionsverfahren in der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 a) Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR zur Zulässigkeit von strafrechtsähnlichen Sanktionsverfahren gegen natürliche Personen . . . . . . . 89 b) Zulässigkeit strafrechtsähnlicher Sanktionsverfahren gegen Unternehmen seit den Urteilen Société Sténuit und Menarini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 c) Stellungnahme: Möglichkeit zur gerichtlichen Kontrolle als einzige Voraussetzung für die Zulässigkeit administrativer Sanktionen . . . . . . . . . . . 92 2. Keine Aussage der EU-GRCh zur Zulässigkeit strafrechtsähnlicher Sanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

II. Keine besonderen Anforderungen an die Ausgestaltung der Verwaltungssanktionsbehörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 1. Darstellung und Ablehnung der rudimentären EGMR-Rechtsprechung zur institutionellen Organisation von Verwaltungssanktionsbehörden . . . . . . . . . . 94 a) Erfordernis einer organisatorischen Trennung der untersuchenden und entscheidenden Entitäten nach dem EGMR-Urteil Dubus . . . . . . . . . . . . 94 b) Ablehnung der Notwendigkeit einer organisatorischen Trennung innerhalb der Verwaltungssanktionsbehörde aufgrund der Gerichtsgarantie . . 95 aa) Unmöglichkeit der Wahrung der Unparteilichkeit auch bei einer Neuorganisation der Behörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 bb) Unmöglichkeit der Wahrung der Unabhängigkeit auch bei einer Neuorganisation der Behörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 cc) Kein zwingendes Erfordernis eines lediglich quasi-unabhängigen und quasi-unparteiischen Entscheidungsgremiums . . . . . . . . . . . . . 98 dd) Fazit: Maßgeblichkeit allenfalls sonstiger Verfahrensgarantien für besondere institutionell-organisatorische Behördenausgestaltungen 98 2. Keine Vorgaben zur institutionellen Organisation von Verwaltungssanktionsbehörden aus der EU-GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Inhaltsverzeichnis

13

III. Fazit: Grundsätzliche Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts mit dem Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 B. Anspruch auf rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 I.

Verfahrensgarantierechtliche Grundlagen des Anspruchs auf rechtliches Gehör 101 1. Anforderungen aus der EMRK an die Gewährung rechtlichen Gehörs in Verwaltungssanktionsverfahren gegen Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 a) Vorgaben aus der Rechtsprechung des EGMR zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör von natürlichen Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 aa) Unterrichtung über alle Details einer erhobenen Beschuldigung . . . 102 bb) Notwendiger Umfang der Gewährung rechtlichen Gehörs in Strafverfahren gegen natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 b) Uneingeschränkte Übertragbarkeit der Schutzzwecke auf Unternehmen auch in Verwaltungssanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 aa) Besonderheiten der Gewährung rechtlichen Gehörs in Verwaltungssanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 bb) Umfang der Gewährung rechtlichen Gehörs bei Unternehmen als Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 c) Rechtsfolge unterbliebener Gehörsgewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2. Nahezu identische Vorgaben zum rechtlichen Gehör aus Art. 41 EU-GRCh . 105

II. Gewährung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im europäischen Kartellver­ fahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1. Erfüllung der informatorischen Grundvoraussetzungen durch die Mitteilung der Beschwerdepunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Keine Defizite hinsichtlich des Umfanges der Äußerungsmöglichkeiten im europäischen Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3. Unmöglichkeit einer unvoreingenommenen Würdigung der Aussagen der Parteien angesichts der derzeitigen behördeninternen Strukturen . . . . . . . . . 109 a) Unerheblichkeit der fehlenden Anhörung vor dem allein entscheidungsbefugten Gremium der Kommissare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 b) Unvereinbarkeit der dreifachen Rolle der Generaldirektion Wettbewerb mit dem Grundsatz rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 c) Unzureichende Kompensation durch frühzeitige Verfahrenseinbeziehung der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 d) Keine Kompensation durch interne „peer review“-Prüfung . . . . . . . . . . . 116 e) Keine Kompensation durch Einbeziehung des Juristischen Dienstes, des „Chief Economist“ oder des Beratenden Ausschusses . . . . . . . . . . . . . . . 117 f) Keine Kompensation durch Einbeziehung des Anhörungsbeauftragten . . 118 4. Fazit: Erforderlichkeit einer institutionell-organisatorischen Trennung der verschiedenen Kompetenzen innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb . . 121 5. Maßgeblichkeit der Entscheidungserheblichkeit von Verstößen für die Rechtsfolge der Nichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

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C. Anspruch auf Ladung und Befragung von Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 I.

Recht zur Befragung von Belastungszeugen und zur Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 1. Teleologische Auslegung des Konfrontationsrechts in Art.  6  Abs.  3  lit.  d EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. Ablehnung eines Konfrontationsrechts aus allgemeinen Grundsätzen durch die Unionsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3. Herleitung eines Konfrontationsrechts aus der EU-GRCh . . . . . . . . . . . . . . 127

II. Uneingeschränkte Übertragbarkeit der Schutzzwecke auf Unternehmen insbesondere in Verwaltungssanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Übertragbarkeit der Schutzzwecke des Konfrontationsrechts auf Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2. Notwendige Zeugenladung und Zeugenbefragung auch in Verwaltungssanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 a) Kein pauschaler Anwendungsausschluss aufgrund nicht-gerichtlicher Sanktionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 b) Notwendige umfassende Geltung des Konfrontationsrechts auch in Verwaltungssanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3. Rechtsfolge unterbliebener Zeugenladung bzw. nichtgewährter Möglichkeit zur Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 III. Fazit: Unvereinbarkeit des europäischen Kartellverfahrensrechts mit der notwendigen uneingeschränkten Geltung des Konfrontationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . 134 D. Öffentlichkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 I.

Schutzumfang, Schutzzwecke und Grenzen des Öffentlichkeitsgrundsatzes . . . 136

II. Unmöglichkeit der Einhaltung des Öffentlichkeitsgrundsatzes in Verwaltungssanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Kein geringerer Maßstab wegen Unternehmenseigenschaft und lediglich administrativer Sanktionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Unvereinbarkeit einer umfassenden Geltung des Öffentlichkeitsgrundsatzes mit den Charakteristika von Verwaltungssanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . 139 III. Heilung der fehlenden Verfahrensöffentlichkeit bei uneingeschränkter gerichtlicher Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 E. Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 I. Grundlegende Anwendbarkeit auf Unternehmen in Verwaltungssanktionsver­ fahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Geltung der Unschuldsvermutung für Unternehmen nach der Rechtsprechung der Unionsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Begründung der Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung aus der EMRK zugunsten von Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

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II. Gebot der unvoreingenommenen Beweiswürdigung und Entscheidung . . . . . . . 142 1. Verfahrensgarantierechtliche Vorgaben zur Geltung des Gebots der Unvoreingenommenheit in Verwaltungssanktionsverfahren zugunsten von Unternehmen 143 a) Unvoreingenommenheit nach der EMRK als grundlegende prozessleitende Maxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 b) Kaum Aussagen zur Geltung der Unvoreingenommenheit nach der EUGRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 c) Stellungnahme: Notwendige Beachtung des Gebots der Unvoreingenommenheit auch in Verwaltungssanktionsverfahren gegen Unternehmen . . . 144 2. Unvereinbarkeit der dreifachen Rolle der Generaldirektion Wettbewerb mit dem Gebot der Unvoreingenommenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3. Unzulässigkeit des Fehlens eines Rechtsmittels gegen sonstige Verstöße gegen das Gebot der Unvoreingenommenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 III. Verbot schuldpräsumtiver öffentlicher Äußerungen vor Verfahrensabschluss . . 146 1. Verfahrensgarantierechtliche Vorgaben zur Unzulässigkeit öffentlicher Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 a) Zulässigkeit öffentlicher Äußerungen nach der EMRK bis zur Grenze der Voreingenommenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 b) Unklare Grenzen der Zulässigkeit öffentlicher Äußerungen nach der Rechtsprechung der Unionsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. Voraussetzungen für die Annahme eines Verstoßes gegen das Verbot öffentlicher Äußerungen im europäischen Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3. Teleologische Unvereinbarkeit des Fehlens eines Rechtsmittels gegen schuldpräsumtive öffentliche Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4. Fazit: Notwendige Einführung einer Regelung zur Stellung von Befangenheitsanträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 IV. Verbot der Beweislastverschiebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 1. Unzulässigkeit von Beweislastverschiebungen nach der EMRK . . . . . . . . . . 152 2. Billigung der Aufteilung der Beweislast durch die Unionsgerichte unter Außerachtlassung der EU-GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3. Stellungnahme zur Einhaltung der gebotenen Beweislastverteilung im europäischen Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 a) Uneingeschränkte Anwendbarkeit auf Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . 154 b) Uneingeschränkte Anwendbarkeit auch in Verwaltungssanktionsverfahren 155 c) Fazit: Unzulässigkeit der derzeitigen Beweislastverschiebung im europäischen Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4. Keine Einschränkungen des Verbotes von Beweislastverschiebungen bei Kronzeugenanträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 V. Erforderliches Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 1. Fehlende Aussage über das gebotene Beweismaß in der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

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Inhaltsverzeichnis 2. Maßgeblichkeit des „beyond reasonable doubt“-Standards in der Rechtsprechung der Unionsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3. Stellungnahme zum gebotenen Beweismaß im europäischen Kartellrecht . . 163 a) Herleitung des notwendigen Beweismaßes aus dem Grundsatz in dubio pro reo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 b) Lösungsmöglichkeiten für die allgemeine Beweisproblematik im Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 aa) Etablierung eines fallgruppenbezogenen Beweismaßes durch die Anwendung von Beweisvermutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 (1) Grenzen der Zulässigkeit von Beweisvermutungen nach der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 (2) Grenzen der Zulässigkeit von Beweisvermutungen nach der Rechtsprechung der Unionsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 (3) Zulässige Beweisvermutungen als mit dem Grundsatz in dubio pro reo zu vereinbarendes Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 bb) Indizienbeweise als Unterfall von Beweisvermutungen . . . . . . . . . . 168 c) Notwendigkeit weiterer Beweiserleichterungen aufgrund des Charakters des Kartellverbots als Wirtschaftsdelikt und als abstraktes Gefährdungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 d) Keine weitergehenden Vorgaben für das notwendige Beweismaß aus dem Grundsatz eines fairen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 e) Fazit: Herleitung eines praxistauglichen Beweismaßes für das europäische Kartellrecht aus dem Grundsatz in dubio pro reo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 4. Keine Einschränkung des Beweismaßes bei Kronzeugenanträgen . . . . . . . . 171 VI. Gesamtfazit: Mehrfache Unvereinbarkeit des europäischen Kartellrechts mit der Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

F. Nemo-tenetur-Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 I.

Rechtsprechung des EGMR zum Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit . . . . . 172 1. Umfang der Selbstbelastungsfreiheit für natürliche Personen . . . . . . . . . . . . 173 2. Keine Aussage über die Selbstbelastungsfreiheit für Unternehmen . . . . . . . 176

II. Auslegung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1. Uneingeschränkte Geltung der Selbstbelastungsfreiheit für Unternehmen . . 177 a) Telos der Selbstbelastungsfreiheit nach Ansicht des EGMR . . . . . . . . . . 177 aa) Gefahr von Fehlurteilen durch Zwang zu selbstbelastenden Aus­ sagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 bb) Schutz der Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 b) Weitgehende Unübertragbarkeit der vom EGMR formulierten Schutzzwecke auf Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 c) Schutzbegründung für Unternehmen aufgrund der staatlichen Beweispflicht aufgrund der Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

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d) Unmöglichkeit einer Beschränkung der Selbstbelastungsfreiheit auf das Eingeständnis einer Zuwiderhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 e) Keine Abwägung mit dem öffentlichen Aufklärungsinteresse . . . . . . . . . 185 f) Keine anderweitigen unüberwindbaren Aufklärungshindernisse . . . . . . . 186 g) Bedürfnis einer einheitlichen Anwendung auf sämtliche Unternehmensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 h) Zwischenfazit: Uneingeschränkte Geltung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit für Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 2. Uneingeschränkte Geltung der Selbstbelastungsfreiheit in Verwaltungssanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 a) Keine Einschränkung aufgrund eines in Verwaltungssanktionsverfahren in der Regel niedrigeren Sanktionsmaßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 b) Keine Unvereinbarkeit der Selbstbelastungsfreiheit mit den Charakteristika eines administrativen Sanktionierungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . 192 c) Keine Wahrung der Verteidigungsrechte durch Möglichkeit zur nachträglichen Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 3. Unverhältnismäßigkeit jeder Aussagepflicht unabhängig von den angedrohten Zwangsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 4. Umfang der Selbstbelastungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 a) Berufung von Mitarbeitern auf das Aussagverweigerungsrecht des Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 b) Kein Schutz vor Beschlagnahmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 c) Keine Pflicht zur aktiven Herausgabe von belastenden Dokumenten . . . 196 d) Keine Selbstbelastungsfreiheit für ohnehin preiszugebende Informationen 197 5. Unerheblichkeit eines Hinweises auf das Schweigerecht als Verwertbarkeitsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 III. Rechtsprechung der Unionsgerichte zum Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit 198 1. Keine unionsgerichtliche Herleitung des nemo-tenetur-Grundsatzes aus der EU-GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 2. Anerkennung eines sehr eingeschränkten Aussageverweigerungsrechts durch die Unionsgerichte als allgemeiner Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 a) Schutz vor Eingeständnissen einer Zuwiderhandlung: Orkem  – EuGH 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 b) Ungerechtfertigte Behinderung durch ein über den Schutz vor Eingeständnissen einer Zuwiderhandlung hinausgehendes Aussageverweigerungsrecht: PVC EuG – 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 c) Schutz vor der Pflicht zu einer dem Eingeständnis einer Zuwiderhandlung gleichkommenden Aussage: Mannesmannröhren-Werke – EuG 2001 . . . 201 d) Beschränkung des Schutzes auf Auskunftsentscheidungen: PVC – EuGH 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 e) Festhalten an der Orkem-Rechtsprechung als weiterhin ständige Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

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Inhaltsverzeichnis IV. Herleitung eines umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts für Unternehmen aus der EU-GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 1. Uneingeschränkte Geltung der Selbstbelastungsfreiheit für Unternehmen . . 205 2. Uneingeschränkte Geltung der Selbstbelastungsfreiheit in Verwaltungssanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 3. Aussicht auf Bußgeldreduktion als zulässiges Maß an Zwang . . . . . . . . . . . 209 4. Umfang der Selbstbelastungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 5. Unerheblichkeit eines Hinweises auf das Schweigerecht als Verwertbarkeitsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 6. Zulässigkeit der fehlenden aufschiebenden Wirkung von Klagen gegen Auskunftsverlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 V. Gesamtfazit: Unzulässigkeit jeglicher Aussagepflicht im europäischen Kartellverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 I.

Anforderungen an den Umfang der nachgelagerten gerichtlichen Kontrolle . . . 213 1. Anforderungen zum Prüfungsumfang aus der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 a) Fehlender Maßstab in der Rechtsprechung des EGMR zu Sanktionen gegen natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 b) Etablierung und Konturierung des Erfordernisses einer umfassenden Kontrolle durch das Urteil Menarini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 aa) Verbleiben eines tatbestandlichen Beurteilungsspielraumes trotz Forderung nach „pleine juridiction“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 bb) Zulässigkeit einer deutlich eingeschränkten Ermessensüberprüfung auf Rechtsfolgenseite trotz der Forderung nach „pleine juridiction“ 216 cc) Notwendige Kompetenz zur Abänderung der angeordneten Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Forderungen aus der EU-GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 3. Stellungnahme zur Menarini Rechtsprechung und Überprüfung des europäischen Kartellrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 a) Notwendige Prüfungsdichte hinsichtlich des Vorliegens von Tatbestandsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 aa) Unvereinbarkeit eines Beurteilungsspielraums für wirtschaftlich komplexe Fragestellungen mit dem Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 bb) Unvereinbarkeit der derzeitigen Prüfdichte im europäischen Kartellrecht mit dem Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht . . . . . 221 b) Notwendiger Kontrollumfang von Ermessensentscheidungen auf Rechtsfolgenseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 aa) Vereinbarkeit einer reinen Ermessensfehlerkontrolle mit dem Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

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bb) Vereinbarkeit der derzeitigen Ermessenskontrolle gem. Art. 261 AEUV i. V. m. Art. 31 VO (EG) 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 c) Kein Erfordernis einer Kompetenz zur Abänderung von Verwaltungssanktionsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 4. Fazit: Weitgehende Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts mit den verfahrensgarantierechtlichen Vorgaben zur notwendigen gerichtlichen Kotrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 II. Zulässigkeit der fehlenden umfassenden Prüfung von Amts wegen durch die Unionsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 1. Vereinbarkeit der geltenden Dispositionsmaxime mit der Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 2. Zulässigkeit der geltenden Dispositionsmaxime nach der Rechtsprechung der Unionsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 3. Fazit und Bewertung der Zulässigkeit der Geltung der Dispositionsmaxime im europäischen Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 III. Unzulässigkeit der fehlenden aufschiebenden Wirkung von Anfechtungsklagen 237 IV. Fazit: Notwendigkeit uneingeschränkter gerichtlicher Kontrolle tatbestandlicher Voraussetzungen bei reiner Ermessensfehlerkontrolle auf Rechtsfolgenseite . . . 241 H. Anspruch auf Verhandlung innerhalb angemessener Frist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 I.

Faktoren für die Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrenslänge . . . . . . 242 1. Weitgefasste Kriterien für die Bestimmung der Angemessenheit nach der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 2. Übernahme der Kriterien des EGMR in der Rechtsprechung zur EU-GRCh 246

II. Beurteilung der Verfahrenslänge im europäischen Kartellverfahren . . . . . . . . . . 248 1. Bewertung der Dauer des Verfahrens vor der Europäischen Kommission . . . 249 a) Hoher Komplexitätsgrad in Kartellverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 b) Große Belastung der Beschwerdeführerin durch hohen Sanktionsrahmen 250 c) Zu erwartende Nutzung diverser Verteidigungsmittel durch die Beschwerdeführerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 d) Schwierigkeit der Überprüfung des konkreten Verhaltens und struktureller Defizite der Europäischen Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 aa) Unbestimmbarkeit struktureller Defizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 bb) Schwierige Beweisbarkeit konkreter Verfahrensverzögerungen durch die Europäische Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 2. Bewertung der Dauer des Anfechtungsverfahrens vor den Unionsgerichten . 255 a) Geringere Komplexität von Anfechtungsverfahren vor den Unionsge­ richten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 b) Noch höhere Belastung in Gerichtsverfahren bei vorläufiger Vollstreckbarkeit von administrativ verhängten Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

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Inhaltsverzeichnis c) Einzelfallabhängige Bewertung des Verhaltens von Unternehmen und den Unionsgerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 III. Fazit: Keine strukturellen Mängel bei Bewertung der Gesamtdauer des behördlichen und gerichtlichen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

I. Gesamtfazit zur Einhaltung strafrechtsähnlicher Verfahrensgarantienim europäischen Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 I.

Notwendiges Verfahrensgarantieniveau im europäischen Kartellrecht . . . . . . . . 260

II. Heilung des Anspruchs auf Entscheidung durch ein Gericht und des Öffentlichkeitsgrundsatzes durch Möglichkeit zur gerichtlichen Nachprüfung . . . . . . . . . 262 III. Einzelfallabhängige Vereinbarkeit von Kartellbußgeldern mit dem derzeitigen administrativen Sanktionierungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Teil 4: Gesamtfazit und Reformvorschläge für das europäische Kartellverfahren



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A. Reformvorschläge im Rahmen der bestehenden Regelungender Art.  101 und 103 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 I.

Unzulässigkeit existenzvernichtender Kartellbußgelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

II. Umfassendes Aussageverweigerungsrecht für Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . 265 III. Kompetenzaufteilung innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb . . . . . . . . . . 265 IV. Rügemöglichkeit bei Verstößen gegen die Unvoreingenommenheit . . . . . . . . . . 266 V. Öffentlichkeit zumindest von mündlichen Anhörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 VI. Recht zur Ladung und Befragung von Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 VII. Abschaffung der Beweislastverschiebung für Rechtfertigungsgründe zulasten von Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 VIII. Intensivierung der gerichtlichen Kontrolle von Tatbestandsvoraussetzungen . . . 267 IX. Aufschiebende Wirkung von Klagen vor den Unionsgerichten . . . . . . . . . . . . . 267 B. Gesamtfazit: Vereinbarkeit des europäischen Kartellverfahrens mit Art. 6 EMRK und den korrespondierenden Garantien der EU-GRCh unter der Voraussetzung eines höheren Verfahrensgarantieniveaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

Inhaltsverzeichnis

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Urteils- und Entscheidungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 A. EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 B. EKMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 C. EuG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 D. EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 E. Schlussanträge der Generalanwälte am EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 F. EFTA-Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 G. Deutsche Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 H. Schweizer Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 I. Neuseeländischer High Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Materialienverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

Abkürzungsverzeichnis a. A. andere Ansicht a. F. alte Fassung ABl. Amtsblatt Abs. Absatz, Absätze AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union AJP Aktuelle Juristische Praxis Anm. Anmerkung Antitrust Bull. The Antitrust Bulletin Art. Artikel Begr. Begründer, Begründerin BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl. Bundesgesetzblatt BGer Schweizer Bundesgericht bspw. beispielsweise Bull. dr. h. Bulletin des droits de l’homme Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von GeldBußgeldleitlinien bußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. C 210 v. 01.09.2006, 2. BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Sammlung der Entscheide des BundesverwaltungsBVGE gerichts (Schweiz) BVGer Schweizer Bundesverwaltungsgericht bzw. beziehungsweise CCZ Corporate Compliance Zeitschrift Cahiers de droit européen CDE d. der, des d. h. das heißt DB Der Betrieb DÖV Die Öffentliche Verwaltung dt. deutsch E. L.Rev. European Law Review European Convention on Human Rights ECHR European Competition Journal ECJ ECLA European Competition Law Annual European Competition Law Review ECLR ECtHR European Court of Human Rights EFTA European Free Trade Association (Mitgliedstaaten Island, Liechtenstein, Norwegen und Schweiz) EG Europäische Gemeinschaft EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

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Abkürzungsverzeichnis

ehemaliger, ehemalige ehem. Einl. Einleitung European Journal of International Law EJIL Europäische Konvention zum Schutz der MenschenEMRK rechte und Grundfreiheiten EU Europäische Union Charta der Grundrechte der Europäischen Union EU-GRCh Europäisches Gericht EuG Europäischer Gerichtshof EuGH Europäische Grundrechte-Zeitschrift EuGRZ EuR Europarecht Vertrag über die Europäische Union EUV Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht EuZW Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht EWS folgender, folgende f. Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ ff. folgende Fédération Internationale pour le Droit Européen FIDE Fn. Fußnote Fordham International Law Journal Fordham Intl. L. J. FS Festschrift Generalanwalt, Generalanwältin GA Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Global Competition Law Centre – College of Europe GCLC gem. gemäß Geschäftsordnung der Kommission, ABl. L 308 v. Geschäftsordnung der 08.12.2000, 26, zuletzt geändert durch: Beschluss der Europäischen Kommission Kommission vom 9.  November 2011, ABl. L 296 v. 15.11.2011, 58. GK Gemeinschaftskommentar Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbH Gesetz betreffend Gesellschaften mit beschränkter HafGmbHG tung Charta der Grundrechte der Europäischen Union GrCh German Yearbook of International Law GYIL HGB Handelsgesetzbuch Herausgeber, Herausgeberin Hrsg. in, im i. im engeren Sinne i. e. S. im weiteren Sinne i.w.S. Internationaler Kommentar zur Europäischen MenIntKomm schenrechtskonvention Journal of European Competition Law and Practice JECLAP Juristische Rundschau JR Juristische Ausbildung JURA JZ JuristenZeitung

Abkürzungsverzeichnis

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Kommanditgesellschaft (Deutschland)/Bundesgesetz vom 6. Oktober 1995 (Schweiz) über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz, SR 251). Karlsruher Kommentar KK Europäische Kommission KOM lit. litera Liechtensteinische Juristen-Zeitung LJZ mit weiteren Nachweisen m. w. N. Beschluss des Präsidenten der Europäischen Kommission Mandat des vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren, ABl. L 275 v. 20.10.2011, 29. Münchener Kommentar MK Max Planck Encyclopedia of Public International Law MPEPIL No. Nummer Nr. Nummer Neue Zeitung für Kartellrecht NZKart New Zealand Law Reports NZLR Offene Handelsgesellschaft OHG Österreichische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht ÖZW Recht der internationalen Wirtschaft RIW RL Richtlinie Rz. Randziffer Satz, Sätze S. Seite, Seiten Protokoll Nr. 3 über die Satzung des Gerichtshofs der Satzung EuGH Europäischen Union, ABl. C 83 v. 30.03.2010, 210. Slg. Sammlung sogenannter, sogenannte sog. SR Systematische Rechtssammlung (Schweiz) StGB Strafregesetzbuch StPO Strafprozessordnung Schweizerische Zeitschrift für internationales und SZIER europäisches Recht unter anderem u. a. und andere UAbs. Unterabsatz Urt. Urteil v. vom Variante, Varianten Var. Verf. Verfasser Verfahrensordnung des Gerichts erster Instanz der Verfahrensordnung des Gerichts Europäischen Gemeinschaften vom 2. Mai 1991, ABl. L 136 v. 30.05.1991, 1, zuletzt geändert durch ABl. L 179 v. 08.07.2008, 12.  Verfahrensordnung des Gerichtshofs Verfahrensordnung des Gerichtshofs, ABl. L 265 v. 29.09.2012, 1, zuletzt geändert durch ABl. L 173 v. 26.06.2013, 65. KG

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Abkürzungsverzeichnis

vgl. vergleiche Verordnung (Europäische Union) VO Verordnung (EG) Nr.  1/2003 des Rates vom 16.  DeVO (EG) 1/2003 zember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. L 1 v. 04.01.2003, 1. Verordnung (EG) Nr.  17 des Rates vom 21.  Februar VO (EG) 17/62 1962: Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages, ABl. 13 v. 21.02.1962, 204. Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission über VO (EG) 773/2004 die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel 81 und 82 EG-Vertrag durch die Kommission, ABl. L 123 v. 27.04.2004, 18, zuletzt geändert durch: VO (EU) 2015/1248 vom 3. August 2015, ABl. L 208 v. 05.08.2015, 3. Volume Vol., vol. Vorbemerkung, Vorbemerkungen Vorbem. Wirtschaft und Verwaltung WiVerw World Competition World Comp. Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge WÜV Wirtschaft und Wettbewerb WuW Yearbook of European Law YEL Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und VerwalZBl tungsrecht Zentrum für Europäische Wirtschaftsordnung ZEW Ziffer, Ziffern Ziff. zitiert als zit. Zusatzprotokoll, Zusatzprotokolle ZP Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht ZStR ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für Wettbewerbsrecht ZWeR

Einleitung Kartellbußgelder der Europäischen Union, meinen nicht nur Vertreter von sanktionierten Unternehmen, leiden unter einem erheblichen verfahrensrechtlichen Legitimationsdefizit.1 Sie können bis zu 10 % des Vorjahresgesamtumsatzes betragen und stellen – zum Teil in Milliardenhöhe – enorme Belastungen für Unternehmen dar. Mit diesen Sanktionen wird die Abschreckung bezweckt Kartelle zu bilden, also solche wettbewerbswidrige Absprachen zu treffen, die einem funktionierenden europäischen Binnenmarkt und damit einer allgemeinen Wohlfahrtsoptimierung entgegenstehen. Damit die verhängten Sanktionen aber nicht als willkürlich oder unfair wahrgenommen werden, muss das Verfahren für ihre Verhängung transparent sein und mit grundlegenden rechtsstaatlichen Verfahrensprinzipien zu vereinbaren sein, was derzeit jedoch nicht in jeder Hinsicht der Fall ist. Dass mit der Europäischen Kommission kein Gericht, sondern eine Verwaltungsbehörde diese sehr hohen Sanktionen verhängt, setzt einen besonders hohen Legitima­ tionsbedarf voraus. Dem zu genügen ist höchst schwierig, da Kartellverfahren unter anderem deshalb enorm komplex sind, weil an Kartellabsprachen wenigstens zwei, meistens mehrere Unternehmen beteiligt sind und die Verfahrensakte eines Kartellverfahrens einen Umfang von über 100.000 Seiten übersteigen kann. Daraus ergibt sich ein fast unauflösliches Spannungsverhältnis, Verfahren zügig und effizient durchzuführen und dennoch strafrechtliche Verfahrensgarantien umfassend zu wahren. Die Antwort auf die berechtigte Kritik braucht jedoch weder ein gerichtliches Sanktionierungsverfahren zu sein, also die Kriminalisierung des Kartellsanktionsverfahrens, noch eine Reduktion des derzeitigen Bußgeldrahmens. Notwendig erscheinen jedoch zum Teil  grundlegende Änderungen der derzeitigen Verfahrenspraxis.

A. Probleme im Ablauf des europäischen Kartellverfahrens Aus verschiedenen Gründen ist die Vereinbarkeit des europäischen Kartellverfahrens mit rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien in der Vergangenheit wiederholt angezweifelt worden. Besonders häufig wurde kritisiert, dass Bußgeldbescheide nicht, wie bei Strafsanktionen erforderlich, durch ein Gericht verhängt werden, sondern durch die Europäische Kommission, also ein Organ der Exekutive. Dieses setzt sich aus Kommissaren verschiedener Fachrichtungen zusammen, 1

Vgl. sogar die allgemeine Tagespresse: Palzer, FAZ v. 05.12.2012, S. 19.

28

 Einleitung

die in der Regel mit dem Kartellrecht nicht vertraut sind. Somit folgen sie in ihren Beschlüssen meistens der Beschlussempfehlung der zuständigen Beamten der Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission, ohne den Fall selbst noch einmal geprüft zu haben. Diese Beamten sind in dreifacher Rolle sowohl ermittelnd, als auch anklagend und vor allem de facto auch richtend tätig. Ihre Tätigkeit erfüllt die Anforderungen an die Ausgestaltung und Arbeitsweise eines unabhängigen Gerichts nicht. Zwar ist es möglich, gegen die Bußgeldbescheide der Europäischen Kommission gerichtlich vorzugehen, jedoch schränken EuG und EuGH aufgrund der komplexen wirtschaftlichen Materie im Kartellrecht ihre Kontrolldichte ein. Da Kartellverfahren aber ganz überwiegend auf wirtschaftlich komplexen Bewertungen beruhen, bestehen Bedenken, ob somit der Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht – nachträglich – nicht nur formell, sondern auch inhaltlich gewahrt werden kann. Darüber hinaus nehmen die Unionsgerichte keine umfassende eigenständige Kontrolle vor, sondern überprüfen nur die von den Parteien vorgebrachten Punkte. Sobald der Bußgeldbescheid behördlich verhängt wurde, ist er unabhängig von der Erhebung einer gerichtlichen Anfechtungsklage sofort vollziehbar. Die behördliche Entscheidung entfaltet somit unmittelbar Wirkung. Eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung hat nur kontrollierenden, nicht aber genuin sanktionierenden Charakter, wie es bei einer gerichtlichen Entscheidung eigentlich üblich wäre. Bereits im behördlichen Ermittlungsverfahren besteht für Unternehmen die Pflicht, alle Umstände offen zu legen, die Bezug zur untersuchten Kartellabsprache haben. Auch wenn ein Schuldeingeständnis nicht erforderlich ist, kommt die derzeitige Regelung dennoch faktisch einer Selbstbelastungspflicht gleich, wohingegen in Strafverfahren die Selbstbelastungsfreiheit ein besonders wichtiges Gut ist. Und auch nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens bestehen erhebliche verfahrensgarantie­rechtliche Defizite. So erscheint zweifelhaft, ob Beamten, die bereits die Ermittlung geleitet haben und eine Mitteilung über die Beschwerdepunkte verfasst haben, noch in der Lage sind, Gegenargumente der Parteien unvoreingenommen zu würdigen. Ist dies nicht der Fall, so würde dies einen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör darstellen. Daneben sind Unternehmen nicht berechtigt, Zeugen zu laden oder zu befragen; sämtliche Verfahrensbestandteile, auch die mündliche Anhörung vor dem Anhörungsbeauftragten, finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und Unternehmen müssen das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen selbst beweisen. Außerdem besteht keine Reglung, aufgrund derer Befangenheitsanträge gestellt werden können und so voreingenommene Beamte vom Verfahren ausgeschlossen werden können. Zumindest das Maß des Nachweises, mit dem die Europäische Kommission Kartellverstöße beweist, erscheint grundsätzlich ausreichend. Das europäische Kartellverfahren scheint zunächst mit dem herkömmlichen Verständnis von strafrechtlichen Verfahrensgarantien nicht vereinbar. Ausgehend

B. Gang der Untersuchung

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von den in der Europäischen Union geltenden Verfahrensgarantien wurde in den letzten Jahren jedoch wiederholt die Ansicht vertreten, im europäischen Kartellverfahren gälten geringere Verfahrensgarantien. Begründet wird dies mit dem Umstand, Kartellbußgelder gehörten nicht zum Strafrecht im engeren Sinne, sondern hätten lediglich strafrechtsähnlichen Charakter. Eine Definition, wann Sanktionen lediglich strafrechtsähnlich sind und welche Folgerungen daraus konkret zu ziehen sind, ist der aktuellen Diskussion gleichwohl nicht zu entnehmen.

B. Gang der Untersuchung, Schwerpunkte und Ausgrenzungen Für die Untersuchung, welche strafrechtlichen Verfahrensgarantien im europäischen Kartellverfahren einzuhalten sind, soll zunächst nachgezeichnet werden, dass die notwendigen Anwendungsvoraussetzungen strafrechtlicher Verfahrensgarantien im europäischen Kartellverfahren vorliegen. Sodann erfolgen Vorüberlegungen, unter welchen Voraussetzungen Verwaltungssanktionsverfahren gegen Unternehmen überhaupt zulässig sein können. Eine gängige Definition von Strafrechtsähnlichkeit gibt es bis jetzt noch nicht. Durch die Rechtsprechung werden Sanktionen dann als strafrechtsähnlich bezeichnet, wenn sie von einer Behörde und nicht einem Gericht verhängt wurden. Die Argumentation müsste richtigerweise jedoch umgekehrt verlaufen: Wenn eine Sanktion strafrechtsähnlich ist, dann darf sie von einer Behörde anstatt von einem Gericht verhängt werden. Die Ausführungen zu dieser grundlegenden Frage münden in einer Definition, wann Sanktionen gegen Unternehmen lediglich strafrechtsähnlich sind. Anschließend werden die Methodik und die Voraussetzungen für die Auseinandersetzung erläutert, in welcher Strenge strafrechtliche Verfahrensgarantien auf Unternehmen insbesondere in Verwaltungssanktionsverfahren anzuwenden sind. Immerhin wurden diese ursprünglich zum Schutz natürlicher Personen in kernstrafrechtlichen Verfahren entwickelt. Der Abschnitt endet mit einem Vergleich der Schutzbedürftigkeit von natürlichen Personen und Unternehmen. Im dritten Teil wird das notwendige Verfahrensgarantieniveau im europäischen Kartellverfahren bestimmt und daran das derzeitige europäische Kartellrecht gemessen. Er stellt den Schwerpunkt dieser Arbeit dar. Untersucht werden alle verfahrensunmittelbaren Garantien, die sich aus Art. 6 EMRK bzw. den korrespondierenden Gewährleistungen der EU-GRCh ergeben. Ausgegrenzt wird deshalb die Frage, in welchem Umfang Beschlagnahmungen zulässig sind, da hier Schutz zumindest auch über Art. 8 EMRK gewährt wird und eine Untersuchung, ob die Garantie in strafrechtsähnlichen Verfahren vermindert streng anzuwenden ist, nicht relevant ist. Ausgenommen sind somit auch die Frage eines Anwaltsprivilegs bei Beschlagnahmungen und der notwendige Umfang eines Akteneinsichtsrechts für betroffene Unternehmen, da ein Teil der Verfahrensakte beschlagnahmte Dokumente sind. Ebenfalls nicht untersucht werden der Grundsatz, für dieselbe Tat

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 Einleitung

nicht zweimal bestraft oder vor Gericht gestellt zu werden (Art. 4 ZP 7 EMRK), Fragen der tatbestandlichen Bestimmtheit (Art. 7 EMRK), sowie ob dem Schuldgrundsatz im europäischen Kartellrecht derzeit entsprochen wird. Die gesamte Untersuchung mündet in Reformvorschlägen zum europäischen Kartellrecht.

C. Stand der Forschung Die Literatur zur Einhaltung strafrechtlicher Verfahrensgarantien im europäischen Kartellrecht ist vielfältig. Auffällig ist, dass sich die Autorenschaft aus vielen in der kartellrechtlichen Praxis tätigen Anwälten zusammensetzt.2 Ihnen ist gemein, dass sie die derzeitige Praxis der Europäischen Kommission in hohem Maße kritisieren. Zum Teil argumentieren ihre Beiträge mit den Verfahrensgarantien der EMRK bzw. der EU-GRCh. Ob die von ihnen dargestellten Schlussfolgerungen jedoch verfahrensgarantierechtlich zwingend sind, oder ob diese nicht vielmehr (auch) rechtspolitisch motiviert sind, bedarf einer ausführlichen Auseinandersetzung mit diesen Ansichten. Auffällig ist, dass manche Autoren aus der Wissenschaft, die rein auf Ebene der Verfahrensgarantien argumentieren, Schutzgehalte der EMRK mittels einer recht pauschalen Feststellung für die EU-GRCh übernehmen.3 Oder sie prüfen das europäische Kartellrecht ausschließlich an der EMRK,4 was angesichts der nicht unmittelbaren Geltung der EMRK in der Europäischen Union nicht gänzlich praxistauglich erscheint. Ein weiterer Kritikpunkt an diesen Abhandlungen ist das weitgehende Fehlen einer Auseinandersetzung mit der Frage, welche Rechtsfolge der Verstoß gegen eine Verfahrensgarantie auf einfachrechtlicher Ebene nach sich zieht bzw. ziehen sollte. Hinzu kommt, dass in vielen Abhandlungen Garantien wie der Anspruch auf ein öffentliches Verfahren nicht geprüft werden, weil sie in einem Verwaltungsverfahren womöglich ohnehin nicht eingehalten werden können. Der Umstand, dass manche Garantien in Verwaltungssanktionsverfahren aber nicht einhaltbar sind, ist für die Frage, ob eine administrative Sanktionierung überhaupt zulässig ist, von besonderer Wichtigkeit. Und diese Frage wird soweit ersichtlich in fast keiner Publikation zur Einhaltung strafrechtlicher Verfahrensgarantien im europäischen Kartellrecht thematisiert.5 2

So publizieren Anwälte der folgenden Kanzleien zum Teil regelmäßig zur Kartellrechtspraxis in der Europäischen Union und kritisieren diese zum Teil scharf: Ashurst (Slater, Donald; Waelbroeck, Denis); Freshfields Bruckhaus Deringer (Montag, Frank; Hoseinian, Foad); Gleiss Lutz (Bechtold, Rainer; Bosch, Wolfgang; Brinker, Ingo; Soltész, Ulrich); Morgan Lewis (Beninca, Jürgen; Zschocke, Christian O.); Redeker (Rosenfeld, Andreas); White & Case (Forrester, Ian S.). 3 So bspw.: Thanos, S. 135. 4 So bspw.: Vilsmeier, Tatsachenkontrolle und Beweisführung im EU-Kartellrecht. 5 Eine Ausnahme stellt dar: Niggli/Riedo, in: Amstutz/Hochreutener/Stoffel, S. 91 ff.

D. Rechtsquellen EU-GRCh, EMRK und allgemeine Grundsätze 

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Gleichzeitig dürfen strafrechtliche Verfahrensgarantien aber nicht überstrapaziert werden. Nicht jede wünschenswerte verfahrensrechtliche Bestimmung lässt sich auch aus Verfahrensgarantien herleiten. Sie stellen ein Mindestmaß dar, können aber nicht dafür nutzbar gemacht werden, detaillierte Vorgaben für die Ausgestaltung des europäischen Kartellrechts zu fordern.

D. Verhältnis der den Prüfmaßstab bildenden Rechtsquellen EU-GRCh, EMRK und allgemeine Grundsätze Verfahrensgarantien ergeben sich seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon auf Ebene der Europäischen Union vor allem aus der EU-GRCh. Daneben vermittelten allgemeine Rechtsgrundsätze – wie schon vor dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon – Schutz gem. Art. 6 Abs. 3 EUV.6 Auch heute werden sie von europäischen Gerichten immer wieder zitiert. Gem. Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV ist die Europäische Union außerdem zum Beitritt zur EMRK verpflichtet. Mit dem Gutachten 2/13 hat der EuGH diesen jedoch in der bis dahin geplanten Form untersagt.7 Dennoch ist eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Garantien aus der EMRK notwendig. Denn zum einen besteht die Beitrittsverpflichtung fort und die EMRK wird, wenn auch mit einiger Verzögerung, zumindest zukünftig in der Europäischen Union unmittelbare Wirkung entfalten. Zum anderen entfaltet die EMRK für die Europäische Union auch heute schon auf zwei anderen Wegen zumindest mittelbare Wirkung: So ist sie bei der Bildung der erwähnten allgemeinen Grundsätze gem. Art. 6 Abs. 3 EUV zu berücksichtigen. Zum anderen ist sie für die Auslegung der EU-GRCh nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 EU-GRCh he­ranzuziehen. Danach sind Garantien der ­EU-GRCh, die einer Garantie der EMRK „entsprechen“, so auszulegen, dass die Garantien der EU-GRCh die „gleiche Bedeutung und Tragweite [haben], wie sie ihnen in der genannten Konvention [gemeint ist die EMRK, Anm. d. Verf.] verliehen wird“. Zwar deutet die Rechtsprechung des EuGH auf einen engen Bezug zur EMRK hin.8 Wie weit diese Bezugnahme genau geht, ist aber weder in der zahlreichen,

6 Vgl. EuGH, Urt. v. 17.12.1970  – Rs.  11/70, Internationale Handelsgesellschaft/KOM, Slg. 1970, 1125, Rn. 4; EuGH, Urt. v. 14.05.1974 – Rs. 4/73, Nold Kohlen- und Baustoffgroßhandlung/KOM, Slg. 1974, 492, Rn. 13; EuGH, Urt. v. 13.12.1979 – Rs. 44/79, Liselotte Hauer/ Land Rheinland-Pfalz, Slg. 1979, 3727, Rn. 15; vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 435 ff., 674; Herdegen, § 8, Rn. 17; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 6 EUV, Rn. 1. 7 EuGH, Gutachten v. 18.12.2014 – 2/13, Beitritt der Europäischen Union zur EMRK, nicht in der amtlichen Sammlung. 8 Bspw. mit Bezug zum europäischen Kartellrecht: EuGH, Urt. v. 18.07.2013 – Rs. C-501/ 11 P, Schindler/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 32; EuGH, Urt. v. 10.07.2014 – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 40 f.

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 Einleitung

oftmals unterschiedliche Ansichten vertretenden Literatur,9 noch in der Rechtsprechung abschließend hinsichtlich aller Details geklärt. Insbesondere ist weiterhin offen, ob und inwieweit die Rechtsprechung des EGMR für die entsprechenden Garantien der EU-GRCh übernommen werden muss. Jegliche eigene Interpretation von Art. 52 Abs. 3 S. 1 EU-GRCh würde auf unsicheren Annahmen basieren und könnte in keinem Fall eindeutige Richtigkeit für sich beanspruchen. Damit wäre auch jede an der EMRK orientierte Interpretation einer EU-GRCh-Garantie der Gefahr ausgesetzt, deshalb als nicht überzeugend kritisiert zu werden, weil die zugrundeliegende Methodik, gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 EU-GRCh bestimmte Inhalte aus der EMRK auf die EU-GRCh zu übertragen, inhaltlich als nicht der eigenen Meinung entsprechend bewertet werden könnte. Kritiker der vertretenen Ansichten bräuchten sich mithin nicht mit den eigentlichen Argumenten auseinanderzusetzten, sondern könnten schlicht die Auslegungsmethode nutzen, um das verfahrensgarantierechtliche Argument abzulehnen. Es sollen im Folgenden deshalb keine Wertungen aus der EMRK bzw. der Rechtsprechung zur EMRK gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 EU-GRCh bei der Auslegung der EU-GRCh übernommen werden. Stattdessen sollen EMRK und EU-GRCh unabhängig voneinander für jede untersuchte Verfahrensgarantie einzeln ausgewertet werden. In einer stets anschließenden Stellungnahme sollen die beiden Garantiestandards miteinander verglichen werden und sofern nötig für Verwaltungssanktionsverfahren gegen Unternehmen adaptiert werden. An dieser eigenen Stellungnahme werden abschließend jeweils die einzelnen Aspekte des europäischen Kartellverfahrens geprüft.

E. Terminologische Grundlagen Verwaltungssanktionsverfahren und gerichtliche Sanktionsverfahren stehen in einem Alternativverhältnis. Diese Gegensätzlichkeit spiegelt sich in der verwendeten Terminologie wider. Mit dem Begriff der Strafrechtsähnlichkeit sind solche Sanktionen gemeint, die administrativ verhängt werden. Das Gegenteil stellen kernstrafrechtliche Sanktionen, also gerichtlich verhängte Sanktionen dar. Beide Kategorien fallen unter den Oberbegriff der Strafrechtlichkeit. Denn die Voraussetzung für die Anwendung strafrechtlicher Verfahrensgarantien ist eine „strafrechtliche Anklage“. Liegt diese vor, sind die strafrechtlichen Verfahrensgarantien sowohl auf strafrechtsähnliche, als auch auf kernstrafrechtliche Sanktionsverfahren, wenn auch mit gewissen Modifikationen, anwendbar.

9

Bühler, S.  302 ff.; Callewaert, EuGRZ 2003, 198 ff.; Dorf, JZ 2005, 126, 128 f.; Eisner, S. 120 ff.; Naumann, EuR 2008, 424 ff.; Schmidt, Grund- und Menschenrechte in Europa, S. 116 ff.; Schneiders, S. 145 ff.; die verschiedenen Ansichten ausführlich darstellend: Ziegenhorn, S. 25 ff.

E. Terminologische Grundlagen

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Sanktionsobjekte für Kartellbußgelder sind im Rahmen der folgenden Untersuchung Unternehmen. Mit Unternehmen ist dabei im europäischen Sinne „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“10 gemeint. Jedes Unternehmen wird von einem sog. Unternehmensträger betrieben, der eine bestimmte Rechtsform hat. Auf diesen kommt es bei der Untersuchung, welches Schutzniveau in strafrechtsähnlichen Verfahren Anwendung finden soll, in der Regel nicht an. Andernfalls wird explizit auf den Unternehmensträger abgestellt.

10 Beispielhaft: EuGH, Urt. v. 11.12.2007 – Rs. C-280/06, Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato/ETI [u. a.], Slg. 2007, I-10925, Rn. 38, m. w. N.; sowie jüngst: EuGH, Urt. v. 04.09.2014 – Rs. C-434/13 P, Peter Hannifin Manufacturing/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 39, m. w. N.; Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil 2, Vor. Art. 23 f. VO (EG) 1/2003, Rn. 24; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, Band 1, Teil 1, Art. 101 AEUV, Rn. 7.

Teil 1:

Grundsätzliche Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantien im europäischen Kartellverfahren Strafrechtliche Verfahrensgarantien, wie sie in Art. 6 EMRK und Art. 48 EUGRCh normiert sind, finden nicht nur in gerichtlichen Strafverfahren Anwendung, sondern sind grundsätzlich auch in Verwaltungssanktionsverfahren wie dem europäischen Kartellbußgeldverfahren zu beachten. Daneben sind Art.  47  EUGRCh und Art. 41 EU-GRCh als zwar nicht genuin strafrechtliche, jedoch trotzdem anwendbare Verfahrensgarantien zu berücksichtigen. Während dies in der Rechtsprechung oftmals lediglich festgestellt wird, prüft die nachfolgende Untersuchung diese Praxis detailliert nach und belegt, dass der Schutzbereich der zitierten Verfahrensgarantien im europäischen Kartellverfahren eröffnet ist. Dadurch kann gezeigt werden, dass mögliche anderweitige Ansichten nicht überzeugen können. Außerdem ist diese Prüfung die Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Frage, in welcher Strenge Verfahrensgarantien in nicht kernstrafrechtlichen, sondern lediglich strafrechtsähnlichen Verfahren wie dem europäischen Kartellverfahren zur Anwendung kommen müssen.

A. Aufbau von strafrechtlichen Verfahrensgarantien sowie Voraussetzungen für deren Anwendbarkeit Normen der EMRK sind in der Regel nach dem Schema „Schutzbereich-EingriffRechtfertigung“ aufgebaut.1 Verfahrensrechtliche Garantien wie Art.  6  EMRK hingegen sind grundsätzlich nach dem nur zweischrittigen Schema „TatbestandRechtsfolge“ aufgebaut.2 Liegen die tatbestandlichen Schutzbereichsvoraussetzungen vor, sind als Rechtsfolge die verfahrensrechtlichen Garantiebestimmungen einzuhalten.3 Anders als bei abwehrrechtlichen Garantien, bei denen eine genauere Auseinandersetzung mit der Frage erforderlich ist, wann ein Eingriff anzunehmen ist, erübrigt sich bei verfahrensrechtlichen Garantien die Auseinan 1

Vgl. Grabenwarter/Pabel, § 18, Rn. 1. Grabenwarter/Pabel, § 18, Rn. 1; eine Ausnahme stellt Art. 2 ZP EMRK dar, in dessen Abs. 2 ein Rechtfertigungsgrund für die Nichteinhaltung der in Abs. 1 normierten Verfahrensgarantien normiert ist. Aufgrund dessen geringer Relevanz kann eine weitergehende Erörterung an dieser Stelle jedoch dahinstehen. 3 Grabenwarter/Pabel, § 18, Rn. 1. 2

A. Aufbau von strafrechtlichen Verfahrensgarantien

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dersetzung mit der Eingriffsdefinition, da lediglich die Nichteinhaltung der als Rechtsfolge normierten Verfahrensgarantien für einen Verstoß maßgeblich ist.4 Eine Prüfung von Rechtfertigungsgründen ist nicht durchzuführen. In der EU-GRCh sind sowohl verfahrensrechtliche, als auch abwehrrechtliche Garantien lediglich in der Form „Tatbestand-Rechtsfolge“ aufgebaut, da Rechtfertigungsvoraussetzungen eigenständig und allgemein in Art. 52 Abs. 1 EU-GRCh formuliert sind.5 Ebenfalls erübrigt sich, wie bei der EMRK, eine konkrete Eingriffsdefinition. Zu finden sind strafrechtliche bzw. auch in Strafverfahren anwendbare Verfahrensgarantien in Art.  6  EMRK sowie in Art.  47 und Art.  48  EU-GRCh: In Art.  6  EMRK sind dies in Abs.  1 der Anspruch auf ein unabhängiges, unparteiisches Gericht, das auf Gesetz beruhen muss, der Grundsatz eines fairen Verfahrens, der Öffentlichkeitsgrundsatz, die Verhandlung innerhalb angemessener Frist, sowie die öffentliche Urteilsverkündung. In Abs.  2 ist die Unschuldsvermutung normiert, in Abs. 3 finden sich Ausprägungen des Grundsatzes eines fairen Verfahrens. Die Garantien der Abs. 1 bis 3 von Art. 6 EMRK sind ebenso in Art.  47 und 48  EU-GRCh zu finden.6 Art.  41  EU-GRCh, der lediglich in Verwaltungssanktionsverfahren zur Anwendung kommt, enthält in Abs. 1 das Recht auf eine gerechte, unparteiische und fristgemäße Behandlung. Der daneben relevante Abs. 2 konkretisiert das in Abs. 1 normierte Recht auf eine gute Verwaltung weiter. Dass kartellrechtliche Ermittlungsmaßnahmen, die in der Europäischen Union zur Verhängung von Kartellbußgeldern im Sinne des Art.  23  Abs.  2  lit.  a  VO (EG)  1/2003 führen können, eine strafrechtliche „Anklage“ darstellen, ist nicht nur für die Europäische Union ganz herrschend anerkannt7 und wird wohl deshalb 4

Vgl. Grabenwarter/Pabel, § 18, Rn. 1. Ausführlich: Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 52 EU-GRCh, Rn. 58 ff. 6 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, S. 29 ff. 7 Sharpston, Schlussanträge v. 10.02.2011  – Rs. C-272/09 P, KME/KOM, Slg. 2011, I-12860, Rn.  64; in Hinblick auf das ebenfalls ein Bußgeld von bis zu 10 % des Vorjahresgesamtumsatzes vorsehende italienische Kartellrecht: EGMR, Urt. v. 27.09.2011  – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 44; in Hinblick auf das ein Bußgeld von sogar nur 5 % des Vorjahresgesamtumsatzes vorsehende französische Kartellrecht: EKMR, Entscheidung v. 30.05.1991  – No. 11598/85, Société Sténuit/ Frankreich, Series A vol. 232-A, § 67; in Hinblick auf das ebenfalls ein Bußgeld von bis zu 10 % des Vorjahresgesamtumsatzes vorsehende Schweizer Kartellrecht: BVGer, Urt. v. 24.02.2010 – B-2050/2007, Swisscom/WEKO, BVGE 2011/32, E. 4.2, S. 600 f.; BVGer, Urt. v. 27.04.2010 – B-2977/2007, Publigroupe/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 8.1.3; BGer, Urt. v. 29.06.2012  – 2C_484/2010, Publigroupe/WEKO, BGE 139  I  72, E.  2.2.2, S. 78 ff.; BVGer, Urt. v. 19.12.2013 – B-506/2010, Gaba/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 6.1.3; BVGer, Urt. v. 14.09.2015 – B-7633/2009, Swisscom/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E.  60 ff.; dem erstinstanzlichen Gaba-Urteil des BVGer jedenfalls nicht widersprechend: BGer, Urt. v. 04.04.2017  – 2C_172/2014, Gebro/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://www.bvger.ch (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017); in Hinblick auf die Kartellrechtsordnung der EFTA, die im Zeitpunkt des Bußgelderlasses die 5

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Teil 1: Grundsätzliche Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantien 

kaum erörtert. Im Folgenden soll nachgezeichnet werden, dass die Schutzbereiche von Art. 6 EMRK bzw. Art. 48 EU-GRCh für Kartellbußgeldverfahren eröffnet sind. Da die Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK primär für den Schutz natürlicher Personen konzeptioniert sind und die darauf basierende Rechtsprechung ebenfalls ganz überwiegend zu Verfahren mit natürlichen Personen als Beteiligte ergangen ist, muss die Anwendbarkeit der Schutzbereichsvoraussetzungen auf Unternehmen zum Teil anders begründet werden. Art. 47 EU-GRCh setzt anders als Art. 6 EMRK bzw. Art. 48 EU-GRCh tatbestandlich nur die „Verletzung in eigenen Rechten“ voraus. Fragen der Anwendbarkeit der Verfahrensgarantien auf Unternehmen stellen sich jedoch genauso. Gleiches gilt für Art. 41 EU-GRCh.

B. Art. 6 EMRK – Anwendungsvoraussetzung „strafrechtliche Anklage“ Damit die Garantien von Art.  6  EMRK zur Anwendung kommen, muss ein Bußgeldverfahren im Ausgangspunkt eine „strafrechtliche Anklage“ darstellen. Dass Art.  6  EMRK grundsätzlich auch auf Unternehmen anwendbar ist, ergibt sich schon aus Art. 34 EMRK, der die Parteifähigkeit von nichtstaatlichen Personengruppen im Rahmen von Individualbeschwerden voraussetzt. Im für das Kartellrecht sehr wichtigen Urteil Menarini, in dem der EGMR die EMRKKonformität des italienischen Kartellrechts prüft, das den gleichen Sanktionsrahmen wie das europäische Kartellrecht vorsieht,8 geht dieser nicht einmal auf Art. 34 EMRK ein, sondern setzt die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf Unternehmen ohne weitere Begründung voraus.9

I. Merkmal „Anklage“ Dass Ermittlungsmaßnahmen in Kartellverfahren schon vor der offiziellen Mitteilung der Beschwerdepunkte grundsätzlich eine Anklage im Sinne einer „strafrechtlichen Anklage“ darstellen können, ist unbestritten. Jedoch ist es von besonderer Relevanz, ab wann und unter welchen Voraussetzungen dies der Fall sein VO (EG) 1/2003 über Art. 15 Abs. 2 des Chapter II of Protocol 4 to the Surveillance and Court Agreement inkorporierte: EFTA-Gerichtshof, Urt. v. 18.04.2012 – Rs. E-15/10, Posten Norge AS/EFTA Surveillance Authority, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 88; vgl. Breitenmoser, SZIER 2007, 415, 433; vgl. Seitz, EuZW 2010, 292, 294. 8 So sieht das italienische Kartellrecht ebenfalls einen Bußgeldrahmen von 10 % des Vorjahresgesamtumsatzes vor: Norme a tutela della concorrenza e del mercato, Legge 10.10.1990 n° 287. 9 EGMR, Urt. v. 27.09.2011  – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, §§ 38 ff.

B. Art. 6 EMRK

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kann. Denn davon hängt ab, ab welchem Stadium sich Unternehmen schon in der Untersuchungsphase bei Ermittlungsmaßnahmen auf strafrechtliche Verfahrensgarantien berufen können. Dies gilt insbesondere für die Berufung auf ein mögliches Aussageverweigerungsrecht. 1. Vorgaben aus der Rechtsprechung des EGMR Wie bei sämtlichen Merkmalen der EMRK erfolgt auch bezüglich des Begriffes der Anklage eine autonome Auslegung und mitgliedstaatliche Wertungen finden keine Berücksichtigung.10 Der EGMR definiert in Hinblick auf natürliche Personen die Voraussetzungen einer Anklage stets gleich: „The ‚charge‘ could […] be defined as the official notification given to an individual by the competent authority of an allegation that he has committed a criminal offence.“11

Eine Anklage im formellen Sinn ist dabei jedoch nicht immer notwendig: „[I]t may in some instances take the form of other measures which carry the implication of such an allegation and which likewise substantially affect the situation of the suspect.“12

Damit vom Vorliegen einer Anklage zumindest im materiellen Sinn ausgegangen werden kann, kommt es somit auf eine ähnliche Beeinträchtigung oder Schlechterstellung an, wie sie mit einer formellen Anklage einhergeht. Dies hat der EGMR in der Vergangenheit für die Zustellung eines Durchsuchungsbefehls bzw. einer Beschlagnahmeverfügung angenommen.13 Somit kann eine Anklage im Sinn von Art. 6 Abs. 1 EMRK zeitlich bereits vor der formellen Anklage vorliegen und dies sogar, wenn letztere völlig unterbleibt,14 oder das Verfahren ein-

10 Erstmals: EGMR, Urt. v. 27.06.1968  – No. 1936/63, Neumeister/Österreich, Series A vol. 8, § 18; in Bezug auf Unternehmen: EKMR, Entscheidung v. 30.05.1991 – No. 11598/85, Société Sténuit/Frankreich, Series A vol. 232-A, §  55; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 23; Meyer-Ladewig/Harrendorf, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, Art. 6 EMRK, Rn. 23; Vogler, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 193. 11 EGMR, Urt. v. 27.02.1980  – No. 6903/75, Deweer/Belgien, Series A vol. 35, § 46, auf Deutsch: „Eine Anklage ist die amtliche Mitteilung an den Betroffenen durch die zuständige Behörde, dass er einer Straftat beschuldigt wird.“; sinngemäß auch: Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 14, Rn. 28; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 41; Vogler, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 193. 12 EGMR, Urt. v. 21.02.1984 – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, § 55, auf Deutsch: „Für eine Anklage kann es auch genügen, dass die Umstände das Vorliegen einer Anklage im Sinne der EGMR-Rechtsprechung erkennen lassen, und die Umstände die Position des Handelnden ebenso sehr wie eine formelle Anklage beeinträchtigen.“; inhaltlich fast identisch: EGMR, Urt. v. 27.02.1980 – No.6903/75, Deweer/Belgien, Series A vol. 35, § 42 ff.; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 36; Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 14, Rn. 28; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 41 f. 13 EGMR, Urt. v. 15.07.1982 – No. 8130/78, Eckle/Deutschland, Series A vol. 51, § 75. 14 Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 42.

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Teil 1: Grundsätzliche Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantien 

gestellt wird.15 Die Maßnahme darf jedoch nicht lediglich behördenintern sein.16 In jedem Fall muss das Verfahren die „Entscheidung über Schuld- oder Nichtschuld des Angeklagten“17 zum Gegenstand haben. Dieses Merkmal dient der Abgrenzung zu Verfahren, „die sich damit begnügen, einen gewissen Verdachtsgrad als Voraussetzung für strafprozessuale Maßnahmen zu prüfen“18. Eine Anklage kann somit bereits in einem frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens vorliegen. In Verwaltungssanktionsverfahren wird in aller Regel ein materielles Verständnis von Anklage maßgeblich sein. Argumente gegen eine Übertragung dieser ausdifferenzierten Kriterien auf Unternehmen sind nicht ersichtlich.19 2. Vorliegen einer Anklage im europäischen Kartellrecht Das europäische Kartellverfahren beginnt, indem die Europäische Kommission von Amts wegen oder aufgrund einer Beschwerde eines Mitgliedstaates bzw. einer dritten, juristischen oder natürlichen Person tätig wird.20 Fällt der Fall in den Zuständigkeitsbereich der Europäischen Kommission, bedient sich diese in der Regel ihrer Ermittlungsinstrumente und sendet an das Unternehmen entweder ein Auskunftsverlangen gem. Art. 18 VO (EG) 1/2003 oder sie nimmt eine auch als „dawn raid“ bekannte Nachprüfung gem. Art. 20 VO (EG) 1/2003 vor.21 In Frage steht nun, unter welchen Voraussetzungen diese Maßnahmen der Europäischen Kommission das Merkmal „Anklage“ erfüllen können. a) Auskunftsverlangen gem. Art. 18 VO (EG) 1/2003 Auskunftsverlangen können als einfaches Auskunftsverlangen gem. Art.  18  Abs. 1 VO (EG) 1/2003 gestellt werden, worauf das adressierte Unternehmen nicht zu antworten verpflichtet ist, oder als sogenannte Auskunftsentscheidung gem. 15

EGMR, Urt. v. 26.03.1982 – No. 8269/78, Adolf/Österreich, Series A vol. 49, § 33; Vogler, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 207, m. w. N. 16 Vgl. EGMR, Urt. v. 15.07.1982 – No. 8130/78, Eckle/Deutschland, Series A vol. 51, § 74; Grabenwarter/Pabel, § 24, Rn. 27. 17 Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 14, Rn. 29; Vogler, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 202. 18 Vogler, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 202. 19 Vgl. EKMR, Entscheidung v. 30.05.1991 – No. 11598/85, Société Sténuit/Frankreich, Series A vol. 232-A, § 55; im bereits zitierten Urteil Menarini thematisiert der EGMR diese Frage nicht einmal und scheint sie somit für gänzlich unproblematisch zu halten, vgl. EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 38. 20 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art.  101 und 102 AEUV, Ziff. 9, 11. 21 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art.  101 und 102 AEUV, Ziff. 15, sowie überblicksartig als Schaubild: S. 32.

B. Art. 6 EMRK

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Art. 18 Abs. 3 S. 1 VO (EG) 1/2003, die auf einer Entscheidung der Europäischen Kommission beruht und auf welche Unternehmen fristgemäß antworten müssen.22 Auskunftsverlangen gehen jedoch nicht zwangsläufig mit dem Verdacht einher, ein Unternehmen könne gegen das europäische Kartellrecht verstoßen haben.23 Vielmehr kann die Europäische Kommission auch solche Unternehmen adressieren, „die über sachdienliche Informationen für den betreffenden Fall verfügen könnten“24. Eine formelle Anklage stellt ein Auskunftsverlangen – sei es einfacher, oder sei es qualifizierter Art – aufgrund seiner nur nachforschenden und nicht anklagendenden Natur nie dar. Ob Auskunftsverlangen jedoch eine Anklage im materiellen Sinne sein können, hängt zunächst davon ab, ob mittels des Auskunftsverlangens dem Unternehmen seine mögliche Beschuldigtenstellung mitgeteilt wird. Hält die Europäische Kommission ein Unternehmen, an das sie ein Auskunftsverlangen stellt, für ein mögliches Kartellmitglied, so teilt die Europäische Kommission dem Unternehmen dies im Rahmen des Auskunftsverlangens mit.25 Anderenfalls scheidet die Einordnung als Anklage mangels Schlechterstellung aus. Angenommen einem Unternehmen wird seine Beschuldigtenstellung tatsächlich mitgeteilt, ist sodann zwischen einfachen und qualifizierten Auskunftsverlangen zu unterscheiden. Richtet die Europäische Kommission eine Auskunftsentscheidung an ein Unternehmen, das einer Kartellabsprache verdächtigt wird, so ist dieses ausweislich des Wortlautes von Art. 18 Abs. 3 S. 1 VO (EG) 1/2003 verpflichtet, den Fragenkatalog zu beantworten, den die Europäische Kommission versendet.26 Bei nicht fristgemäßer Beantwortung werden sie mit einem Bußgeld gem. Art. 18 Abs. 3 S. 2 i. V. m. Art. 23 Abs. 1 lit. b VO (EG) 1/2003 oder einem Zwangsgeld gem. Art. 24  Abs. 1 lit. d VO (EG) 1/2003 belegt. Lediglich geringfüge Einschränkungen ergeben sich aus Erwägungsgrund 23 der VO (EG) 1/2003: „Unternehmen, die einer Entscheidung der Kommission nachkommen, können nicht gezwungen werden, eine Zuwiderhandlung einzugestehen; sie sind auf jeden Fall aber verpflichtet, Fragen nach Tatsachen zu beantworten und Unterlagen vorzulegen, auch wenn die betreffenden Auskünfte dazu verwendet werden können, den Beweis einer Zuwiderhandlung durch die betreffenden oder andere Unternehmen zu erbringen.“

22 Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil  2, Art.  18 VO  (EG)  1/2003, Rn. 18. 23 Vgl. Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil 2, Art. 18 VO (EG) 1/2003, Rn. 14. 24 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art.  101 und 102 AEUV, Ziff. 32. 25 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art.  101 und 102 AEUV, Ziff. 15. 26 Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil  2, Art.  18 VO  (EG)  1/2003, Rn. 48.

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Teil 1: Grundsätzliche Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantien 

Durch ein solches qualifiziertes Auskunftsverlangen gem. Art.  18  Abs.  3 VO (EG) 1/2003 wird ein Unternehmen somit erheblich beeinträchtigt, was materiell betrachtet einer Anklage gem. Art. 6 EMRK gleich kommt. Ab diesem Zeitpunkt wären die Verfahrensgarantien somit vorbehaltlich des strafrechtlichen Charakters der Anklage anwendbar.27 Handelt es sich um ein einfaches Auskunftsverlangen gem. Art.  18  Abs.  1 VO (EG) 1/2003, besteht für das adressierte Unternehmen keine Pflicht zur Antwort und deshalb auch keine zwangsläufige Schlechterstellung. Antwortet das Unternehmen auf ein einfaches Auskunftsverlangen gem. Art. 18 Abs. 1 VO (EG)  1/2003 ohne dazu verpflichtet zu sein, so übermittelt es Informationen, aufgrund derer eine Kartellbußgeldverhängung erfolgen kann, was zwar zu einer Schlechterstellung des Unternehmens führt. Gleichwohl nimmt das Unternehmen dies bewusst in Kauf, da es die Informationen freiwillig übermittelt, was gegen eine Einordnung als Anklage im materiellen Sinn spricht. Will sich ein Unternehmen auf bestimmte strafrechtliche Verfahrensgarantien berufen, so ist ihm zu raten, auf das einfache Auskunftsverlangen nicht zu antworten und die Zustellung eines qualifizierten Auskunftsverlangens abzuwarten. Gleichzeitig ist die Europäische Kommission aber nicht daran gehindert, eine Auskunftsentscheidung zu erlassen und so eine Antwortpflicht für das Unternehmen zu begründen.28 Allein die Möglichkeit eines anschließenden qualifizierten Auskunftsverlangens ist jedoch nicht derart belastend, dass bereits ein einfaches Auskunftsverlagen gem. Art. 18 Abs. 1 VO (EG) 1/2003 zu einer Schlechterstellung des Unternehmens führt und eine Anklage gem. Art. 6 EMRK in materieller Hinsicht begründet. Folglich stellt ein einfaches Auskunftsverlangen keine Anklage im Sinn von Art. 6 EMRK dar.29 b) Nachprüfungen gem. Art. 20 VO (EG) 1/2003 Das zweite Ermittlungsinstrument sind Nachprüfungen gem. Art. 20 VO (EG) 1/2003, deren Zulässigkeit in Bezug auf die EMRK bzw. die EU-GRCh im Folgenden nicht weiter geprüft wird. Ihre Durchführung kann jedoch auch in Bezug auf 27 Vgl. EuGH, Urt. v. 29.09.2011 – Rs. C-521/09, Elf Aquitaine/KOM, Slg. 2011, I-8947, Rn. 116. 28 In der Diskussion zu Art. 18 VO (EG) 1/2003 wird zum Teil vorgebracht, aus Gründen der Verhältnismäßigkeit bedürfe es eines einfachen Auskunftsverlangens, bevor eine Auskunfts­ entscheidung getroffen werden dürfe. Vgl. Schwarze/Weitbrecht, § 4, Rn.  9 f. Daraus ergibt sich jedoch im Umkehrschluss, dass einer Auskunftsentscheidung nichts entgegensteht, wenn ein vorangegangenes, einfaches Auskunftsverlangen keinen Erfolg hatte und seinerseits rechtmäßig war. 29 Vgl. EuGH, Urt. v. 15.10.2002 – verb. Rs. C-238/99 P [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/KOM, Slg. 2002, I-8618, Rn. 286 ff., jedoch noch allgemeine Grundsätze anwendend und nicht die EMRK oder die EU-GRCh.

B. Art. 6 EMRK

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andere Ermittlungsmaßnahmen die Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantien auslösen und so für die Überprüfung von deren verfahrensgarantierechtlicher Zulässigkeit relevant sein. Im Folgenden ist daher zu untersuchen, unter welchen Voraussetzungen Nachprüfungen eine strafrechtliche Anklage darstellen. Umfasst ist von einer Nachprüfung gem. Art. 20 Abs. 2 lit. a-e VO (EG) 1/2003 unter anderem das Betreten von Räumen, die Prüfung und das Kopieren von Unterlagen, das Versiegeln betrieblicher Räumlichkeiten sowie Erläuterungen zu Tatsachen oder Unterlagen verlangen zu dürfen. Die Besonderheit von Nachprüfungen liegt im Überraschungseffekt.30 Es wird zwischen Nachprüfungen aufgrund eines einfachen, schriftlichen Prüfungsauftrags gem.  Art.  20  Abs.  3  VO  (EG) 1/2003 einerseits und Nachprüfungen aufgrund einer Prüfungsentscheidung gem. Art. 20 Abs. 4 VO (EG) 1/2003 andererseits unterschieden. Nur bezüglich letzterer besteht für Unternehmen ausweislich des Wortlauts von Abs. 4 eine explizite Pflicht zur Duldung. Bei einfachen Nachprüfungen gem. Art. 20 Abs. 3 VO (EG) 1/2003 teilt die Europäische Kommission dem betroffenen Unternehmen den Zweck der Nachprüfung mit und ob gegen das Unternehmen Ermittlungen wegen Verdachts auf einen Kartellverstoß eingeleitet wurden. Eine einfache Nachprüfung scheint mangels Duldungspflicht für die adressierten Unternehmen zunächst keine Schlechterstellung darzustellen. Doch auch wenn Unternehmen eine einfache Nachprüfung gestatten, so können sie sich unter bestimmten Umständen trotzdem einer Sanktion gem. Art. 20 Abs. 3 VO (EG) 1/2003 i. V. m. Art. 23 Abs. 1 lit. c VO (EG) 1/2003 ausgesetzt sehen: „Die Kommission kann gegen Unternehmen […] Geldbußen bis zu einem Höchstbetrag von 1 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes festsetzen, wenn sie […] bei Nachprüfungen nach Artikel 20 die angeforderten Bücher oder sonstigen Geschäftsunterlagen nicht vollständig vorlegen […].“

Ein solches Bußgeld ist gleichwohl nur ein Reflex einer freiwilligen Entscheidung, die Nachforschung zu dulden, die durch die Europäische Kommission unter Umständen als positiv zu bewertendes, kooperatives Verhalten eingestuft wird. Da demnach nur eine mittelbare Mitwirkungspflicht besteht, kommt die damit einhergehende Belastung in materieller Hinsicht nicht einer formellen Anklage im Sinne von Art. 6 EMRK gleich. Wird aufgrund einer Nachforschungsentscheidung gem. Art. 20 Abs. 4 VO (EG)  1/2003 eine duldungspflichtige Nachforschung bei einem Unternehmen vorgenommen, so wird dem Unternehmen dies von der Europäischen Kommission mitgeteilt, indem der Zweck der Nachprüfung gem. Art. 20 Abs. 4 VO (EG) 1/2003 bezeichnet wird. Aus der Rechtsprechung des EGMR ergibt sich, dass die Zustellung eines

30 Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil  2, Art.  18 VO  (EG)  1/2003, Rn. 5.

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Teil 1: Grundsätzliche Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantien 

Durchsuchungsbefehls materiell einer Anklage gleichkommt.31 Nachforschungen sind mit Durchsuchungsbefehlen nicht gänzlich identisch, weil sie keine Befugnis verleihen, „gewaltsam Räume, Möbel oder andere Behältnisse zu öffnen“32. Gleichwohl müssen Unternehmen diejenigen Unterlagen eigenhändig vorlegen, zu denen sich die Europäische Kommission im Fall eines Durchsuchungsbefehls nötigenfalls gewaltsam hätte Zugang verschaffen können,33 und müssen dabei aktiv mitwirken. Die Situation bei einer Nachforschung erscheint somit zumindest im materiellen Sinn identisch mit einer Anklage gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK. Ausforschungen, auch „fishing expeditions“ genannt, sind für sich genommen zwar unzulässig.34 Sie stellen jedoch keine einer Anklage gleichkommende Belastung dar.35 Denn ihr Ziel ist lediglich herauszufinden, ob überhaupt ein Verdacht begründet werden kann. Schutz vermitteln können unter Umständen andere, nicht genuin verfahrensbezogene Garantien der EMRK. c) Mitteilung der Beschwerdepunkte gem. Art. 27 VO (EG) 1/2003 Auskunftsverlangen und Nachforschungen gem. Art.  18 bzw. Art.  20  VO (EG) 1/2003 resultieren schließlich in der sogenannten Mitteilung der Beschwerdepunkte, wie sie in Art. 27 Abs. 1 VO (EG) 1/2003 und in Art. 10 der Durchführungsverordnung VO (EG) 773/2004 erwähnt ist. Dies stellt eine Mitteilung der Europäischen Kommission dar, durch die das betroffene Unternehmen beschuldigt wird, sich kartellrechtswidrig verhalten zu haben. Ab diesem Zeitpunkt ist das Merkmal Anklage gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK auch in formeller Hinsicht erfüllt.

II. Merkmal „strafrechtlich“ Die zweite tatbestandliche Voraussetzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK ist, dass die Anklage strafrechtlich sein muss. Ganz herrschend angewandter Maßstab bei der Prüfung der Strafrechtlichkeit sind die vom EGMR aufgestellten Engel-Kriterien.36 Eine Anklage ist danach strafrechtlich, wenn erstens die Normen, auf die sich die Anklage stützt, bereits entweder nach nationalem Recht (bzw. vorliegend 31

EGMR, Urt. v. 15.07.1982 – No. 8130/78, Eckle/Deutschland, Series A vol. 51, §§ 73 ff.,

72.

32

Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil  2, Art.  20 VO  (EG)  1/2003, Rn. 6. 33 Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil  2, Art.  20 VO  (EG)  1/2003, Rn. 6, m. w. N. 34 Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil  2, Art.  18 VO  (EG)  1/2003, Rn. 9 35 Vgl. Vogler, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 202 36 EGMR, Urt. v. 08.06.1976  – No. 5100/71 [u. a.], Engel [u. a.]/Niederlande, Series A vol. 22, § 82.

B. Art. 6 EMRK

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nach europäischem Sekundärrecht), dem Straf- oder Disziplinarrecht oder beidem zugeordnet werden, oder wenn zweitens die Natur des Vergehens strafrechtlichen Charakter hat, oder wenn drittens Art und Schwere der angedrohten Strafe strafrechtlichen Charakter haben.37 Diese drei Kriterien sollen im Folgenden nicht in Frage gestellt werden, sondern lediglich auf ihre Anwendbarkeit auf Unternehmen hin überprüft und ihre Auslegung sofern nötig adaptiert werden. Entwickelt in den 1970er Jahren38 hat sie der EGMR auch in späteren Urteilen zu Art. 6 EMRK in ständiger Rechtsprechung aufgegriffen.39 Die Notwendigkeit für die Engel- Rechtsprechung ist darin begründet, dass Tatbestandsmerkmale der Konvention stets autonom – und nicht nach nationalen Maßstäben – ausgelegt werden sollen, um eine Umgehung der Garantien der EMRK zu vermeiden.40 Auch wenn der Wortlaut von Art. 6 EMRK in den einzelnen Absätzen unterschiedlich ist („strafrechtliche Anklage“, „einer Straftat angeklagt“ bzw. „angeklagte Person“), löst das Vorliegen einer „strafrechtlichen Anklage“ nach Art. 6 Abs. 1 EMRK stets die Anwendbarkeit aller Absätze von Art. 6 EMRK aus.41 37 EGMR, Urt. v. 08.06.1976  – No. 5100/71 [u. a.], Engel [u. a.]/Niederlande, Series A vol. 22, § 82; EGMR, Urt. v. 21.02.1984 – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, §§ 47 ff.; EGMR, Urt. v. 29.04.1988  – No. 10328/83, Belilos/Schweiz, Series A vol.  132, § 62; EGMR, Urt. v. 22.05.1990 – No. 11034/84, Weber/Schweiz, Series A vol. 177, §§ 30 ff.; EGMR, Urt. v. 02.09.1998 – No. 4/1998/907/1119, Lauko/Schweiz, Reports 1998-VI, §§ 56 ff.; EGMR, Urt. v. 02.09.1998  – No. 5/1998/908/1120, Kadubec/Slowakei, Reports 1998-IV, §§ 50 ff.; EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, §§ 64 ff.; EGMR, Urt. v. 09.10.2003 – No. 39665/98 [u. a.], Ezeh u. Connors/Vereinigtes Königreich, ECHR 2003-X, §§ 82 ff.; EGMR, Urt. v. 23.11.2006 – No. 73053/06, Jussila/Finnland, ECHR 2006-IV, §§ 30 ff.; EGMR, Urt. v. 10.02.2009 – No. 14939/09, Zolotukhin/Russland, ECHR 2009-I, §§ 52 ff. 38 EGMR, Urt. v. 08.06.1976  – No. 5100/71 [u. a.], Engel [u. a.]/Niederlande, Series A vol. 22, § 82. 39 EGMR, Urt. v. 21.02.1984 – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, §§ 47 ff.; EGMR, Urt. v. 29.04.1988 – No. 10328/83, Belilos/Schweiz, Series A vol. 132, § 62; EGMR, Urt. v. 22.05.1990  – No. 11034/84, Weber/Schweiz, Series A vol. 177, §§ 30 ff.; EGMR, Urt. v. 02.09.1998  – No. 5/1998/908/1120, Kadubec/Slowakei, Reports 1998-IV, §§ 50 ff.; EGMR, Urt. v. 02.09.1998 – No. 4/1998/907/1119, Lauko/Schweiz, Reports 1998-VI, §§ 56 ff.; EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, §§ 64 ff.; EGMR, Urt. v. 09.10.2003  – No.  39665/98 [u. a.], Ezeh u. Connors/Vereinigtes Königreich, ECHR 2003-X, §§ 82 ff.; EGMR, Urt. v. 23.11.2006 – No. 73053/06, Jussila/Finnland, ECHR 2006-IV, §§ 30 ff.; EGMR, Urt. v. 10.02.2009  – No. 14939/09, Zolotukhin/Russland, ECHR 2009-I §§ 52 ff. 40 Vgl. EGMR, Urt. v. 08.06.1976 – No. 5100/71 [u. a.], Engel [u. a.]/Niederlande, Series A vol. 22, § 80. 41 Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 23; in Urteilen des EGMR wird dies nicht explizit erwähnt, ergibt sich jedoch aus dem Umstand, dass die Anwendungsvoraussetzungen der Abs. 2 und 3 des Art. 6 EMRK bei Anwendbarkeit des Abs. 1 nicht eigenständig geprüft werden.

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Teil 1: Grundsätzliche Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantien 

1. Keine Einordnung von Kartellbußgeldern als strafrechtlich im Unionsrecht Wird eine Sanktion bereits nach nationalem oder eben europäischem Recht als strafrechtlich eingeordnet, so wird diese Wertung bei der Prüfung der Schutzbereichsvoraussetzung von Art. 6 EMRK übernommen und die Sanktion entsprechend des ersten Engel-Kriteriums als strafrechtlich im Sinne der Konvention eingestuft.42 In Abs.  5 der Bußgeldvorschrift Art.  23  VO  (EG)  1/2003 wird jedoch statuiert, dass Geldbußen im Sinne von Art. 23 Abs. 2 lit. a VO (EG) 1/2003 „keinen strafrechtlichen Charakter“ haben.43 Demnach ist das erste Engel-Kriterium für Kartellbußgelder nicht erfüllt. 2. Natur des Vergehens Die Natur eines Vergehens wird als strafrechtlich eingestuft, wenn das Vergehen durch eine Regelung geahndet wird, die sowohl repressiven, als auch präventiven Charakter hat.44 a) Repressiver Charakter von Kartellbußgeldern Der Begriff repressiv wird in der Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK nicht definiert. Selbst in Urteilen, bei denen die Strafrechtlichkeit einer Sanktion offensichtlich umstritten ist – wie beispielsweise im bekannten Urteil Öztürk 45 –, unterbleibt eine eingehende Prüfung durch den EGMR; dieser stellt den repressiven Charakter der Strafe lediglich fest: „Whilst the […] penalty appears less burdensome in some respects than Geldstrafen, it has nonetheless retained a punitive character, which is the customary distinguishing feature of criminal penalties.“46 42 EGMR, Urt. v. 08.06.1976  – No. 5100/71 [u. a.], Engel [u. a.]/Niederlande, Series A vol. 22, § 82. 43 So auch bereits die Vorgängervorschrift Art. 15 Abs. 4 VO (EWG) 17/62, wonach Bußgelder als „nicht strafrechtlicher Art“ eingestuft wurden. 44 EGMR, Urt. v. 21.02.1984  – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, § 53; EGMR, Urt. v. 24.02.1994 – No. 12547/86, Bendenoun/Frankreich, Series A vol. 284, § 47; EGMR, Urt. v. 02.09.1998 – No. 5/1998/908/1120, Kadubec/Slowakei, Reports 1998-IV, § 52; EGMR, Urt. v. 02.09.1998 – No. 4/1998/907/1119, Lauko/Schweiz, Reports 1998-VI, §§ 56 ff.; Grabenwarter/Pabel, § 24, Rn. 21; Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 14, Rn. 23 f.; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 25. 45 EGMR, Urt. v. 21.02.1984 – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, §§ 50 ff. 46 EGMR, Urt. v. 21.02.1984 – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, § 53, auf Deutsch: „Auch wenn die verhängte Sanktion in mancher Hinsicht weniger belastend als eine Geldstrafe erscheint, so hat sie dennoch einen repressiven Charakter beibehalten, was das gängige Merkmal für eine strafrechtliche Einordnung ist.“

B. Art. 6 EMRK

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Auch in der Literatur findet soweit ersichtlich keine weitergehende Konkretisierung des Merkmals statt. Lediglich im Urteil OOO Neste St. Petersburg lehnt der EGMR die repressive Wirkung einer Geldzahlung ab, weil sie alleinig das Ziel verfolge, Verwerfungen im Markt vorzubeugen bzw. das Funktionieren des Marktes wiederherzustellen.47 In der Literatur wird der Begriff „repressiv“ bisweilen mit „ahndend“ gleichgesetzt.48 Während der EGMR stets nur ex post zu prüfen braucht, ob eine Sanktion auf eine repressive Wirkung abgezielt hat, ist für das europäische Kartellrecht maßgeblich, ob eine im Rahmen der Anklage angedrohte Sanktion, im Fall ihrer Verhängung repressiv wirken wird. Für eine abstrakte Auseinandersetzung muss zudem verallgemeinert werden, ob Kartellbußen in der Regel und nicht nur im angedrohten Einzelfall repressive Wirkung zeitigen. Dies hat zur Folge, dass unter einer repressiven Wirkung nur die Notwendigkeit verstanden werden kann, dass eine drohende Sanktion einen Bezug zu einem in der Vergangenheit liegenden Fehlverhalten haben muss, das der Täter unter Umständen zu verantworten hat. Der Gegensatz hierzu wären Beugemittel oder andere rein präventiv wirkende Maßnahmen, die auf die Beendigung einer fortdauernden Situation abzielen.49 Im Ergebnis erscheinen damit nur solche Sanktionen nicht repressiv, die ausnahmslos in die Zukunft wirken und keinen Rückbezug zu einem in der Vergangenheit liegenden möglichen Fehlverhalten aufweisen. Da Kartellgeldbußen nach Art. 23 Abs. 2 lit. a VO (EG) 1/2003 auf einen in der Vergangenheit liegenden bzw. in der Vergangenheit begonnenen und noch andauernden Verstoß abstellen, ist das Merkmal repressiv erfüllt.50 b) Präventiver Charakter von Kartellbußgeldern Der zweite Definitionsbestandteil, die präventive Wirkung, wird zwar in den Urteilen des EGMR behandelt. Gleichwohl wird in der Regel nur allgemein von Prävention oder auch Abschreckung gesprochen. Auffallend ist, dass in den Urteilen des EGMR keine Auseinandersetzung zur Frage stattfindet, unter welchen Voraussetzungen Sanktionen gegen Unternehmen präventiv wirken, obwohl die 47 EGMR, Urt. v. 03.06.2004 – No. 69042/01 [u. a.], OOO Neste St. Petersburg [u. a.]/Russland, nicht in der amtlichen Sammlung, S. 10. 48 Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 25. 49 Zehetner, in: Schick/Hilf, Kartellstrafrecht, S. 139. 50 Im Ergebnis so auch, zum Teil aber den repressiven Charakter nur feststellend: EuGH, Urt. v. 15.07.1970 – Rs. 41/69, ACF Chemiefarma/KOM, Slg. 1970, 661, Rn. 172/176; EuG, Urt. v. 12.07.2001 – verb. Rs. T-202/98 [u. a.], Tate & Lyle [u. a.]/KOM, Slg. 2001, II-2035, Rn.  133; EuG, Urt. v. 08.07.2004  – Rs. T-44/00, Mannesmannröhren-Werke/KOM, Slg. 2004, II-2233, Rn. 222; Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil 2, Vor. Art. 23 f. VO (EG) 1/2003, Rn. 24; Hellmann, in: Wiedemann, § 46, Rn. 1; Forrester, E. L.Rev. 2009, 817, 828; Nowak, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art.  23 VO  (EG)  1/2003, Rn. 4.

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Teil 1: Grundsätzliche Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantien 

Präventionswirkung von Kartellbußgeldern gewissen Bedenken ausgesetzt zu sein scheint. So wird im Rahmen der ökonomischen Analyse des Rechts zum Teil vertreten, Kartellbußgelder seien nicht effizient, da sich die Bildung von Kartellen trotz hoher Strafen aus ökonomischer Sicht lohne.51 Ob eine Sanktion effizient ist, hängt von dem durch das Delikt erzielten Mehrerlös ab.52 Dieser muss geringer sein, als die mit der Aufdeckungswahrscheinlichkeit multiplizierte verhängte Sanktion.53 Anderenfalls wäre ein Vergehen aus rein wirtschaftlicher Perspektive ex ante lohnenswert und wirtschaftlich gesehen sinnvoll. Doch eine solche Betrachtung vernachlässigt, dass ein Wirtschaftsdelikt zwar aus Perspektive ex ante lohnend erscheinen mag, der erzielte Verletzergewinn jedoch im Zeitpunkt der Sanktionsverhängung unter Umständen nicht mehr unbedingt in den liquiden Mitteln vorhanden ist, sondern beispielsweise entweder reinvestiert oder an die Gesellschafter ausgeschüttet wurde.54 Somit kann eine Sanktion im Moment der Bußgeldverhängung auf ein Unternehmen durchaus belastend und somit abschreckend wirken, wenn die Folgen entsprechend schwerwiegend sind.55 Dies dürfte insbesondere der Fall sein, wenn die verhängte Sanktion grundlegende Umstrukturierungen in der Finanzplanung erforderlich macht, die es erheblich erschweren, die bisherige Geschäftsstrategie identisch weiter zu verfolgen. Schlimmstenfalls kann eine nicht effiziente Sanktion sogar zur Insolvenz des sanktionierten Unternehmens führen.56 Im Ergebnis ist somit – unabhängig von der Effizienz einer Sanktion – angesichts der verheerenden bilanziellen Auswirkungen von Kartellbußgeldern für Unternehmen von deren präventiver 51 Combe/Monnier, Antitrust Bull. 2011, 235 ff.; Connor, Optimal Deterrence and Private International Cartels; Connor/Miller, Determinants of EC Antitrust Fines for Members of Global Cartels; Schinkel, Effective Cartel Enforcement in Europe; Veljanovski, World Comp., 2007, 65 ff. 52 Vgl. Schneider/Engelsing, in: MK, Kartellrecht, Band  1, Art.  23  VO  (EG)  1/2003, Rn. 11 ff.; Wils, S. 56, Rn. 184. 53 Ausführlich: Wils, S. 56, Rn. 184; nach Ansicht von Wouter Wils ist die subjektiv wahrgenommene Wahrscheinlichkeit einer Kartellaufdeckung maßgeblich, nicht die objektive Aufdeckungswahrscheinlichkeit: Wils, S. 74, Rn. 240; sich Wils’ Ansicht anschließend: Wagnervon Papp, WuW 2010, 268, 271. 54 Gegen dieses Argument wendet Connor ein, dass es bezüglich der Abschreckungswirkung auf die Perspektive ex ante ankomme, also auf den Zeitpunkt, wenn die Entscheidung getroffen werde, eine Kartellabsprache einzugehen. Nicht die bei einer Aufdeckung fällige hohe Buße, sondern die Buße in Bezug zur (immer noch) geringen Aufdeckungswahrscheinlichkeit sei maßgeblich: Connor, Optimal Deterrence and Private International Cartels. 55 Vgl. EGMR, Urt. v. 24.09.1997 – No. 18996/91, Garryfallou AEBE/Griechenland, Reports 1997-V, § 34; vgl. Jarass, Art. 48 EU-GRCh, Rn. 4. 56 Ein solches Szenario hält die Europäische Kommission auch nicht für ausgeschlossen. Dies geht implizit aus Ziff. 35 der Bußgeldleitlinien hervor, die für einen solchen Fall eine mögliche Bußgeldreduktion vorsehen: „Unter außergewöhnlichen Umständen kann die Kommission auf Antrag die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens in einem gegebenen sozialen und ökonomischen Umfeld berücksichtigen. Die Kommission wird jedoch keine Ermäßigung wegen der bloßen Tatsache einer nachteiligen oder defizitären Finanzlage gewähren.“

B. Art. 6 EMRK

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Wirkung auszugehen.57 Erst recht gilt dies für die Sanktionierung von Delikten, durch die ein Unternehmen keinen monetären Vorteil erzielt hat. Dann ist vielmehr die Sanktionsnorm auf ihre allgemeine, in Bezug auf das Vergehen abschreckende Wirkung hin zu untersuchen.58 Mittelbare Sanktionsfolgen wie Imageschäden und Umsatzeinbußen oder der Ausschluss von der Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungsverfahren,59 können bei der Bewertung der präventiven Wirkung von Kartellbußgeldern in der Regel nicht herangezogen werden, da von ihrem Eintritt noch nicht einmal zum Zeitpunkt der Sanktionierung mit Sicherheit ausgegangen werden kann. Gleiches gilt für mögliche privatrechtliche Schadensersatzklagen von kartellgeschädigten Dritten. Dass Kartellbußgelder nach der VO (EG) 1/2003 präventiv wirken, vertritt auch die ganz herrschende Meinung in der Literatur.60 Und dies entspricht auch der Ansicht der europäischen Gerichte,61 des EGMR, sowie verschiedener nationaler Gerichte mit ähnlichen Kartellbußgeldtatbeständen.62 Da der EGMR in Hinblick auf Sanktionen gegenüber natürlichen Personen spätestens seit dem Urteil Öztürk aus dem Jahr 1984 ein weites Verständnis des Präventionserfordernisses vertritt, wonach auch Sanktionen wegen Ordnungswidrigkeiten mit geringerem Strafmaß als präventiv anzusehen sind,63 erscheint die neuere Rechtsprechung zu Kartellsanktionen konsequent. 57

Vgl. zu den verheerenden Auswirkungen von Kartellbußgeldern: Generalanwalt Wathelet, Schlussanträge v. 26.09.2013 – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn.  143; zur ungebrochenen „Entwicklung zu immer höheren Geldbußen“: Schwarze/ Weitbrecht, § 7, Rn. 1 ff. 58 Vgl. Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 14, Rn. 24. 59 Kirch-Heim, S. 28. 60 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil  2, Vor. Art.  23 f. VO (EG)  1/2003, Rn.  25 f.; Forrester, E. L.Rev. 2009, 817, 828; Kindhäuser/Meyer, in: FK, Kartellrecht, Band III, Art.  23 VO  (EG)  1/2003, Rn.  36; Nowak, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 23 VO (EG) 1/2003, Rn. 4; Sura, in: Langen/Bunte, Band 2, Art. 23 VO (EG) 1/2003, Rn. 6. 61 Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 10.02.2011 – Rs. C-272/09 P, KME/KOM, Slg. 2011, I-12860, Rn. 64. 62 In Hinblick auf das ebenfalls ein Bußgeld von bis zu 10 % vorsehende italienische Kartellrecht: EGMR, Urt. v. 27.09.2011  – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 40; in Hinblick auf das ebenfalls ein Bußgeld von bis zu 10 % vorsehende Schweizer Kartellrecht: BGer, Urt. v. 29.06.2012  – 2C_484/2010, Publigroupe/ WEKO, BGE 139 I 72, E. 2.2.2, S. 78 ff.; BVGer, Urt. v. 14.09.2015 – B-7633/2009, Swisscom/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 60 ff.; in Hinblick auf die Kartellrechtsordnung der EFTA, die im Zeitpunkt des Bußgelderlasses die VO (EG) 1/2003 über Art. 15 Abs. 2 des Chapter II of Protocol 4 to the Surveillance and Court Agreement inkorporierte: EFTA-Gerichtshof, Urt. v. 18.04.2012  – Rs. E-15/10, Posten Norge AS/EFTA Surveillance Authority, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 88. 63 EGMR, Urt. v. 21.02.1984 – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, § 53 ff.; zur Tendenz des EGMR die Anwendungsvoraussetzungen strafrechtlicher Verfahrensgarantien weit auszulegen: Vogler, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 190.

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Teil 1: Grundsätzliche Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantien 

c) Abstrakt-genereller Adressatenkreis des Kartellverbots Damit eine Sanktion strafrechtlich im Sinne des zweiten Engel-Kriteriums ist, muss die Sanktionsnorm neben ihrer repressiv-präventiven Wirkung abstraktgenerell formuliert sein, sich also an jedermann richten und nicht nur an einen bestimmten Personenkreis.64 Da sich die Sanktionsdrohung in Art. 23 Abs. 2 lit. a VO (EG) 1/2003 im europäischen Kartellrecht ihrem Wortlaut nach generell an Unternehmen richtet, hat sie auch abstrakt-generellen Charakter.65 3. Art und Schwere der angedrohten Strafe Erfolgt die Prüfung der Strafrechtlichkeit nach dem dritten Engel-Kriterium, sind Art und Schwere der angedrohten Strafe maßgeblich.66 In der Rechtsprechung des EGMR kommt es dabei auf das in der Norm angelegte höchstmögliche Strafmaß an.67 a) Unmöglichkeit der Bewertung von Kartellbußgeldern nach der Art der angedrohten Strafe Hinsichtlich der Art der angedrohten Strafe kommen in Hinblick auf Unternehmen auch unabhängig von der hier vorgenommenen Beschränkung vor allem Geldbußen als überwiegende Sanktionsform in Betracht. Da eine Geldzahlung zunächst neutral ist, ist es nicht möglich, sie als strafrechtlich oder nicht-strafrechtlich zu klassifizieren. Dies kann erst unter Berücksichtigung des Ahndungszwecks und ihrer Höhe erfolgen. Diese Aspekte aber unterfallen der Untersuchung der Schwere der angedrohten Sanktion, weshalb das Merkmal der Art für Sanktionen gegen Unternehmen keinen Aussagegehalt hat.

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EGMR, Urt. v. 21.2.1984  – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, § 53; EGMR, Urt. v. 24.02.1994 – No. 12547/86, Bendenoun/France, § 47; EGMR, Urt. v. 23.11.2006 – No. 73053/06, Jussila/Finnland, ECHR 2006-IV, § 32; Grabenwarter/Pabel, § 24, Rn. 21; Vogler, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 198. 65 In Hinblick auf das italienische Kartellrecht: EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 40; in Bezug auf das sehr ähnliche Schweizer Kartellrecht: Wildhaber, Jusletter 04.07.2011, Rz. 8. 66 EGMR, Urt. v. 08.06.1976  – No. 5100/71 [u. a.], Engel [u. a.]/Niederlande, Series A vol. 22, § 82. 67 EGMR, Urt. v. 28.06.1984 – No.7819/77 [u. a.], Campbell u. Fell/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 233, § 73; EGMR, Urt. v. 27.08.1991 – No. 13057/87, Demicoli/Malta, Series A vol. 210, § 34; EGMR, Urt. v. 09.10.2003 – No. 39665/98 [u. a.], Ezeh u. Connors/Vereinigtes Königreich, ECHR 2003-X, § 129; Grabenwarter/Pabel, § 24, Rn. 22; Meyer, in: Karpenstein/ Mayer, Art.  6  EMRK, Rn.  26; Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band  I, Kapitel 14, Rn. 25.

B. Art. 6 EMRK

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b) Regelmäßig gegebene Schwere der angedrohten Strafe von Kartellbußgeldern Ab wann die relevante maximale Strafandrohung gegenüber Unternehmen als schwer anzusehen ist, ist bei Geldbußen mangels eindeutiger Obergrenzen in der Rechtsprechung des EGMR oder anderer Gerichte nicht klar ersichtlich. Selbst in Bezug auf natürliche Personen gibt es bei reinen Geldsanktionen bis jetzt keinen einheitlichen Grenzwert.68 In der Literatur werden zum Teil  „schwerwiegende Konsequenzen“ durch die Sanktionsverhängung gefordert.69 In Hinblick auf Unternehmen dürfte die Bildung von Grenzwerten aber wenig Aussagekraft haben, divergieren doch die Umsätze und Gewinne von Unternehmen noch deutlich stärker als die Einkommen und Vermögen von natürlichen Personen. Deswegen kann höchstens eine relative Obergrenze maßgeblich sein. Jedoch können Sanktionsandrohungen, die in Bezug zum Umsatz zweier verschiedener Unternehmen gleich hoch sind, unterschiedlich schwer wirken. So mögen Unternehmen in manchen Branchen hohe Umsätze im Vergleich zu einer nur geringen Marge vorweisen, in anderen Branchen hingegen kann es sich genau umgekehrt verhalten. Auch die konkrete Verfassung eines Unternehmens, wie hohe Rücklagen oder die bereits drohende Insolvenz, sind zu berücksichtigen. Weiter sind die wirtschaftliche Gesamtsituation und die Verfassung der jeweiligen Branche zu berücksichtigen. Nur aus der Gesamtschau dieser Faktoren kann abgeleitet werden, ob die Sanktion schwer im Sinne des dritten Engel-Kriteriums ist. Für die Bestimmung, ob eine angedrohte Sanktion schwer ist, muss demnach eine Vielzahl von Faktoren, die zum Teil voneinander abhängen, im Einzelfall abgewogen werden.70 Kartellbußgelder dürften insbesondere dann als schwer anzusehen sein, wenn die angedrohte Maximalsanktion höher als die vorhandenen liquiden Mittel ist oder den durchschnittlichen Gewinn übersteigt. Denn dann wäre das Unternehmen beim Vollzug der Sanktion gezwungen geschäftlich so umzudisponieren, dass die Bezahlung der drohenden Sanktion aus liquiden Mitteln oder durch die Auflösung von Aktivpositionen möglich wäre. Dies würde mit erheblichen Einschnitten im gesamten Geschäftsablauf einhergehen und damit das Erfordernis der Schwere erfüllen. Nur in seltenen Einzelfällen dürften diese Voraussetzungen nicht gegeben sein. In aller Regel ist davon auszugehen, dass Kartellbußgelder nach der „Schwere der angedrohten Strafe“ strafrechtlichen Charakter haben und die Voraussetzungen des dritten Engel-Kriteriums erfüllt sind.71 68

Grabenwarter/Pabel, § 24, Rn. 24; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 26. Grabenwarter/Pabel, § 24, Rn. 24, m. w. N. 70 Vgl. jeweils äußerst knapp: EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 41; EKMR, Entscheidung v. 30.05.1991 – No. 11598/85, Société Sténuit/Frankreich, Series A vol. 232-A, § 63 f. 71 Allgemein formulierend bspw.: Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 10.02.2011 – Rs. C-272/09 P, KME/KOM, Slg. 2011, I-12860, Rn. 64. 69

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Teil 1: Grundsätzliche Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantien 

III. Fazit: Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK im europäischen Kartellbußgeldverfahren Das Merkmal Anklage ist unabhängig von einer formellen Anklage in Bezug auf Unternehmen dann erfüllt, wenn seine Position durch staatliches Handeln genauso wie durch eine formelle Anklage beeinträchtigt wird und damit zumindest implizit der Vorwurf erhoben wird, eine Straftat (möglicherweise) begangen zu haben. Dies ist bei Auskunfts- und Nachprüfungsentscheidungen genauso wie ab dem Zeitpunkt der Mitteilung der Beschwerdepunkte der Fall. Diese Anklagen sind gemäß der Engel-Kriterien im Fall von europäischen Kartellbußgeldern in aller Regel auch strafrechtlicher Natur.

C. Art. 41 EU-GRCh – Anwendungsvoraussetzung „Angelegenheiten von Organen der Europäischen Union“ Eine Besonderheit im System der EU-GRCh stellt Art. 41 EU-GRCh dar, wonach das Recht auf eine gute Verwaltung gewährleistet wird. Der Wortlaut der Norm macht „Angelegenheiten von den Organen […] der Union“ zur tatbestandlichen Voraussetzung für die Eröffnung des Schutzbereiches. „Verwaltung“ als Wortlautbestandteil der amtlichen Überschrift ist dabei nicht im formell-behördlichen Sinne zu verstehen, sondern in Abgrenzung zu legislativem oder judikativem Handeln.72 Es kommt also nicht auf das Handeln eines ausdrücklich exekutiv zuständigen Verwaltungsorgans an.73 Eine positiv formulierte Definition ist der Literatur nicht zu entnehmen. Im Ergebnis gilt bei Art. 41 EU-GRCh (wie auch bei den anderen europäischen Verfahrensgarantien) ein sehr weites Verständnis der Schutzbereichsvoraussetzungen; auf die rechtliche Qualität des Handelns, zum Beispiel auf dessen strafrechtlichen Charakter, kommt es nicht an. Art. 41 EUGRCh ist auch im europäischen Kartellbußgeldverfahren anwendbar.

D. Art. 47 EU-GRCh – Anwendungsvoraussetzung „Verletzung in eigenen Rechten“ Anders als bei Art. 6 EMRK bedarf es für die Eröffnung des Schutzbereiches von Art. 47 EU-GRCh keiner strafrechtlichen Anklage, sondern es kommt auf die „Verletzung von Rechten“ an. Trotzdem handelt es sich um eine Verfahrensgarantie, die auch in strafrechtlichen Verfahren relevant sein kann. Der Begriff Recht 72

Jarass, Art. 41 EU-GRCh, Rn. 10. Jarass, Art. 41 EU-GRCh, Rn. 10.

73

D. Art. 47 EU-GRCh

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umfasst dabei nicht nur Rechte aus der EU-GRCh, sondern sowohl Normen des Primärrechts, als auch des Sekundärrechts.74 Da die EU-GRCh erst Ende 2009 in Kraft getreten ist, sind zu dieser Vorschrift erst wenige Urteile ergangen und eine einheitliche Definition der Anwendungsvoraussetzungen von Art. 47 EU-GRCh ist der Rechtsprechung von EuG und EuGH noch nicht zu entnehmen. Aus diesem Grund muss bei der folgenden Untersuchung überwiegend auf Quellen der Literatur zurückgegriffen werden.

I. Betroffenheit subjektiver Rechte durch Kartellbußgelder Eindeutig subjektiv im Sinne von Art. 47 Abs. 1 EU-GRCh dürfte ein Recht sein, wenn die verletzte Norm ausdrücklich ein subjektives Recht verleiht.75 Dies ist bei der Sanktionsnorm für Kartellbußgelder, die unter Umständen falsch angewandt worden sein könnte, jedoch nicht der Fall. Hinsichtlich anderer Maßstäbe zeigt ein Vergleich mit anderen Rechtsgebieten des Unionsrechts, dass entweder der Schutz personenbezogener Rechtsgüter genügt, oder der Umstand, dass eine Norm den Schutz eines Gemeinschaftsrechtsgutes bezweckt, und dass dabei die Person, die sich auf das Recht beruft, einen gewissen persönlichen Bezug zu dem geschützten Gemeinschaftsrechtsgut haben muss.76 Zu einem ähnlich weiten Verständnis der Anwendungsvoraussetzungen von Art. 47 Abs. 1 EU-GRCh kommen auch verschiedene Autoren, die sich mit der Auslegung des Begriffes subjektiv im Rahmen von Art. 47 Abs. 1 EU-GRCh auseinandergesetzt haben.77 Der Begriff subjektiv sei auf Ebene der Europäischen Union deutlich weiter zu verstehen als beispielsweise die deutsche Schutznormtheorie.78 Es wird insofern angeführt, ein Recht sei dann subjektiv, wenn es den „Interessenkreis von Bürgern de facto unmittelbar berühr[e]“79. Negativ definiert sei eine Norm dann nicht subjektiv, wenn sie ausschließlich dem öffentlichen 74

Folz, in: Vedder/von Heintschel-Heinegg, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 3; Jarass, Art. 47 EUGRCh, Rn. 6; Voet van Vormizeele, in: Schwarze, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 6. 75 Vgl. Jarass, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 8. 76 So lässt es der EuGH für die Anerkennung subjektiver Rechte bspw. ausreichen, dass eine RL dem Schutz „menschlicher Gesundheit“ diene: EuGH, Urt. v. 30.05.1991  – Rs. 361/88, Deutschland/KOM, Slg. 1991, I-2596, Rn. 16; auch aus der „Volksgesundheit“ seien subjektive Rechte herzuleiten, man muss jedoch wohl zusätzlich „Betroffener“ sein; dieses Merkmal wird jedoch nicht erläutert, dürfte aber im Sinne eines regionalen (und nicht weiter individualisierten) Bezuges zu verstehen sein: EuGH, Urt. v. 17.10.1991 – Rs. 58/89, KOM/Deutschland, Slg. 1991, I-5019, Rn. 14; ebenso vermittelten die Vorschriften über die Teilnahme und die Publizität dem Bieter einen Schutz vor Willkür des öffentlichen Auftraggebers: EuGH, Urt. v. 11.08.1995 – Rs. C-433/93, KOM/Deutschland, Slg. 1995, I-2311, Rn. 19; Hölscheidt, EuR 2001, 376, 387; Jarass, EU-Grundrechte, § 40, Rn. 8. 77 Blanke, in: Calliess/Ruffert, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 6; Jarass, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 8. 78 Blanke, in: Calliess/Ruffert, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 6; Jarass, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 8. 79 Jarass, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 8.

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Teil 1: Grundsätzliche Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantien 

Interesse zu dienen bestimmt wäre und sie Individualinteressen höchstens mittels eines Rechtsreflexes dienen würde.80 Sicherlich unmittelbar berührt sind Unternehmen durch die Verhängung von Kartellbußgeldern. Doch auch Auskunftsentscheidungen gem. Art. 18 Abs. 3 S. 1 VO (EG) 1/2003 berühren bereits die Interessen von Unternehmen, indem diese solche Informationen preisgeben müssen, die preiszugeben sie nicht bereit gewesen wären. Der Europäischen Kommission diesbezüglich dennoch auskunftspflichtig zu sein, kann unter Umständen einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung aus Art.  48  Abs.  2 EU-GRCh darstellen.81 Bei Nachprüfungsentscheidungen gem. Art. 20 Abs. 4 VO (EG) 1/2003 steht die Beeinträchtigung des Schutzes von Geschäftsräumen und Kommunikation, wie sie gem. Art. 7 EU-GRCh geschützt wird, in Rede.82 Nach dem beschriebenen weiten Verständnis dürfte eine Betroffenheit subjektiver Rechte sogar für einfache Auskunftsverlagen gem. Art. 18 Abs. 1 VO (EG) 1/2003 und Nachprüfungsverlangen gem. Art. 20 Abs. 3 VO (EG) 1/2003 vorliegen. Erst recht gilt dies für die Mitteilung der Beschwerdepunkte im Rahmen eines Kartellbußgeldverfahrens. Somit können subjektive Rechte sogar zu einem noch früheren Zeitpunkt betroffen sein, als die Anwendungsvoraussetzungen von Art. 6 EMRK als erfüllt anzusehen sind, was jedoch noch nicht zwangsläufig zu einer unmittelbaren Anwendbarkeit der Verfahrensgarantien von Art. 47 Abs. 1 EU-GRCh führt, der ja lediglich ein Recht zur gerichtlichen Kontrolle dieser behaupteten Verletzung gewährt. Ob daraus Vorwirkungen für Verwaltungssanktionsverfahren herzuleiten sind, bedarf einer Prüfung im Einzelfall. Dass der Wortlaut von Art.  47  Abs.  1 EU-GRCh neben Rechten auch Freiheiten umfasst, ist unerheblich, da dieser Begriff nur einen Unterfall der genannten Rechte darstellt.83

II. Verletzung subjektiver Rechte durch Kartellbußgelder Neben der Subjektivität des Rechts ist dessen Verletzung eine weitere tatbestandliche Voraussetzung. Da Art. 47 Abs. 1 EU-GRCh das Recht auf Zugang zu einem Gericht gewährleistet, kann es aber nicht auf dessen tatsächliche Verletzung ankommen, da diese ja erst durch ein Gericht, zu dem Art. 47 Abs. 1 EUGRCh Zugang verschaffen soll, festgestellt werden muss. Die Generalanwältin Trstenjak macht deswegen deutlich, dass es nur darauf ankommen darf, dass eine Verletzung naheliegt: „Da mit diesem Rechtsbehelf geklärt werden soll, ob tatsächlich unionsrechtlich garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, entsteht dieses Recht auf einen wirksamen 80

Blanke, in: Calliess/Ruffert, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 6. Siehe hierzu die Ausführungen unter, S. 205 ff. 82 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 7 EU-GRCh, Rn. 9 f., 11. 83 Blanke, in: Calliess/Ruffert, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 6; Jarass, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 6. 81

D. Art. 47 EU-GRCh

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Rechtsbehelf bereits ab dem Zeitpunkt, dass diese Rechtsverletzung in vertretbarer Weise behauptet wird.“84

Weder der Begriff einer Verletzung, noch der Begriff der Behauptung einer solchen erfahren in der Rechtsprechung oder in der Literatur eine genaue Definition. Unter einer Verletzung dürften jedoch die Nichtgewährung oder nur teilweise Gewährung von Rechten bzw. deren Nichteinhaltung zu verstehen sein. Zum Teil wird zum Merkmal der Behauptung angeführt, dieses sei dann nicht erfüllt, wenn der „Rechtsbehelf [der gegen die verletzende Handlung eingelegt wurde, Anm. d. Verf.] offensichtlich unbegründet ist“85. Im Ergebnis dürfte dies nur für völlig abwegige Verletzungsbehauptungen gelten. Denn auch für Klagen, die im Ergebnis wegen mangelnder Klagebefugnis als unzulässig abgewiesen werden, muss aufgrund von Art. 47 Abs. 1 EU-GRCh zunächst der Zugang zu einem Gericht eröffnet sein. Somit genügt jede substantiierte Behauptung einer Verletzung subjektiver Rechte für die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 47 Abs. 1 EUGRCh. Dies wird im europäischen Kartellrecht, das vielen verschiedenen Wertungen zugänglich ist, in den überwiegenden Fällen gelingen.

III. Identische Anwendungsvoraussetzungen in Abs. 2 und 3 Art.  47  Abs.  2  EU-GRCh, der die Anforderung an das gerichtliche Verfahren ausgestaltet, enthält keine spezifischen Anwendungsvoraussetzungen. Es geht nur um das Verhandeln der Sache. Gemeint ist damit die Streitigkeit, derentwegen ein Anspruch aus Art. 47 Abs. 1 EU-GRCh besteht, sodass im Ergebnis ebenfalls die „Verletzung subjektiver Rechte“ maßgeblich ist.86 Nach anderer Ansicht ist Abs.  2 noch weiter zu verstehen: er gelte „unabhängig von der Geltendmachung der durch das Unionsrecht verbürgten Rechte“87. Da europäische Kartellbußgelder auch die Anforderungen der ersten, engeren Ansicht erfüllen, kann eine Stellungnahme dahinstehen.88 Im Einzelfall ist jedoch noch zu untersuchen, ob die Rechtsfolgen von Abs. 2 auch schon in Verwaltungssanktionsverfahren gewisse

84 Generalanwältin Trstenjak, Schlussanträge v. 22.09.2011 – Rs. C-411/10, N. S./Secretary of State for the Home Department, Slg. 2011, I-13905, Rn. 159. 85 Jarass, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 11. 86 Jarass, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 2. 87 Blanke, in: Calliess/Ruffert, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 10. 88 Vgl. den Umstand, dass die Unionsgerichte Art. 47 Abs. 2 EU-GRCh in gerichtlichen Anfechtungsverfahren gegen europäische Kartellbußgelder verschiedentlich berücksichtigt haben, ohne sich mit den Anwendungsvoraussetzungen detailliert auseinandergesetzt zu haben: EuGH, Urt. v. 08.12.2011 – Rs. C-386/10 P, Chalkor/KOM, Slg. 2011, I-13085, Rn. 52; EuGH, Urt. v. 06.11.2012 – Rs. C-199/11, Otis [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 56; EuGH, Urt. v. 18.07.2013 – Rs. C-501/11 P, Schindler/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 30 ff.; EuGH, Urt. v. 10.07.2014 – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 42.

54

Teil 1: Grundsätzliche Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantien 

Vorwirkungen zeitigen können und deshalb auch in strafrechtsähnlichen Verfahren zu beachten sind.89 Art. 47 Abs. 3 EU-GRCh bezieht sich inhaltlich auf Art. 47 Abs. 1 EU-GRCh, indem die Prozesskostenhilfe an den Zugang zu einem Gericht gekoppelt ist, obgleich sie dessen Voraussetzung ist.90 Insofern bestehen die gleichen Voraussetzungen wie in Art. 47 Abs. 1 EU-GRCh.91

E. Art. 48 EU-GRCh – Anwendungsvoraussetzung „Angeklagter“ Art. 48 EU-GRCh setzt für die Eröffnung der Schutzbereiche in Abs. 1 und 2 voraus, dass derjenige, der sich auf die Garantien beruft, Angeklagter ist. Der Wortlaut von Art. 48 Abs. 1 EU-GRCh lässt bei isolierter Betrachtung keinen eindeutigen Schluss zu, in welcher Weise eine Personen Angeklagter sein muss. Da die als Rechtsfolge garantierte Unschuldsvermutung in Art. 48 Abs. 1 EU-GRCh jedoch stets einen strafrechtlichen Bezug voraussetzt, muss der Angeklagte notwendigerweise ein strafrechtlich zumindest im weiteren Sinn Angeklagter sein.92 Eine direkte Bezugnahme auf die Engel-Kriterien des EGMR gem. Art. 52 Abs. 3 EU-GRCh scheint weder in der Literatur, noch in der Rechtsprechung vertreten zu werden. Stattdessen werden in der Literatur entweder eigene Kriterien angeführt, wobei deren Nähe zur Engel-Rechtsprechung auffällt,93 oder die Problematik wird ohnehin kaum diskutiert.94 In beiden Fällen werden dafür sowohl Urteile von vor Inkrafttreten der EU-GRCh, als auch Urteile des EGMR zitiert, um die vertretenen Ansichten zu untermauern.95 Eine einheitliche Definition lässt sich daraus nicht ableiten. Aus Gründen der Vereinfachung, und weil damit keine Einschränkung einhergeht, wird im Folgenden unterstellt, dass der Anwendungsbereich von Art. 48 Abs. 1 EU-GRCh dem von Art. 6 EMRK in sachlicher und zeitlicher Hinsicht entspricht und somit die Engel-Kriterien das maßgebliche Kriterium sind. Die oben stehenden Erläuterungen zu den Voraussetzungen einer strafrechtlichen 89

Vgl. Jarass, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 48 f. Vgl. Voet van Vormizeele, in: Schwarze, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 14. 91 So auch: Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, S. 30. 92 Jarass, Art. 48 EU-GRCh, Rn. 4. 93 Jarass, Art. 48 EU-GRCh, Rn. 4: „Erfasst wird jede Verhängung repressiver Sanktionen wegen der Verantwortlichkeit für einen Rechtsverstoß. […] Die Sanktion muss allerdings von mehr als unerheblichem Gewicht sein. Insbesondere Geldsanktionen müssen, wie das der EGMR festgehalten hat, so gewichtig sein, dass sie für den Betroffenen eine schwerwiegende Konsequenz darstellen. Zudem ist bedeutsam, wieweit sich die Strafdrohung (potentiell) an die Allgemeinheit richtet.“ 94 Vgl. Blanke, in: Calliess/Ruffert, Art. 48 EU-GRCh, Rn. 2; vgl. Voet van Vormizeele, in: Schwarze, Art. 48 EU-GRCh, Rn. 2, 4. 95 Vgl. Jarass, Art. 48 EU-GRCh, Rn. 4; vgl. Voet van Vormizeele, in: Schwarze, Art. 48 EUGRCh, Rn. 4. 90

F. Fazit

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Anklage von Unternehmen in Verwaltungssanktionsverfahren können somit übertragen werden. Folglich ist angesichts der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK im europäischen Kartellbußgeldverfahren auch Art. 48 EU-GRCh anwendbar. In Art. 48 Abs. 2 EU-GRCh wird dem Angeklagten die Achtung seiner Verteidigungsrechte garantiert. Da es auf eine Verteidigung ebenfalls nur im Rahmen einer Anklage ankommen kann, ist auch dieses Merkmal strafrechtlich zu verstehen.96

F. Fazit: Grundsätzliche Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantien in Kartellbußgeldverfahren Im Grundsatz sind die Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK, Art. 41, 47 und 48 EU-GRCh somit im europäischen Kartellverfahren anwendbar.97 Da der Begriff der Strafrechtlichkeit sehr weit verstanden wird, sagt dieses Ergebnis jedoch noch nichts über das konkrete Garantieniveau aus, sondern ist lediglich die Voraussetzung für die folgende, weitere Untersuchung.

96

Jarass, Art. 48 EU-GRCh, Rn. 17. Sharpston, Schlussanträge v. 10.02.2011 – Rs. C-272/09 P, KME/KOM, Slg. 2011, I-12860, Rn.  64; in Bezug auf den nicht strafrechtlichen, aber in strafrechtlichen bzw. strafrechtsähnlichen Verfahren dennoch anwendbaren Art.  47  EU-GRCh: EuGH, Urt.  v.  08.12.2011  – Rs. C-386/10 P, Chalkor/KOM, Slg.  2011, I-13085, Rn.  52; EuGH, Urt. v. 06.11.2012  – Rs. C-199/11, Otis [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn.  56; EuGH, Urt. v. 18.07.2013 – Rs. C-501/11 P, Schindler/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 30 ff.; EuGH, Urt. v. 10.07.2014 – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn.  42; in Hinblick auf das ebenfalls ein Bußgeld von bis zu 10 % vorsehende italienische Kartellrecht: EGMR, Urt. v. 27.09.2011  – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 40; in Hinblick auf das ein Bußgeld von sogar nur 5 % vorsehende französische Kartellrecht: EKMR, Entscheidung v. 30.05.1991  – No. 11598/85, Société Sténuit/Frankreich, Series A vol. 232-A, §§ 69 ff.; in Hinblick auf das ebenfalls ein Bußgeld von bis zu 10 % vorsehende Schweizer Kartellrecht: BVGer, Urt. v. 24.02.2010  – B-2050/2007, Swisscom/WEKO, BVGE 2011/32, E. 4.2, S. 600 f.; BVGer, Urt. v. 27.04.2010 – B-2977/2007, Publigroupe/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 8.1.3; BGer, Urt. v. 29.06.2012  – 2C_484/2010, Publigroupe/WEKO, BGE 139  I  72, E.  2.2.2, S.  78 ff.; BVGer, Urt. v. 19.12.2013 – B-506/2010, Gaba/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 6.1.3; BVGer, Urt. v. 14.09.2015 – B-7633/2009, Swisscom/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 60 ff.; BVGer, Urt. v. 16.09.2016 – B-581/2012, Nikon/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 5.1; in Hinblick auf die im Zeitpunkt des Bußgelderlasses die VO (EG) 1/2003 über Art.  15 Abs.  2 des Chapter II of Protocol 4 to the Surveillance and Court Agreement inkorporierende Kartellrechtsordnung der EFTA: EFTA-Gerichtshof, Urt. v. 18.04.2012  – Rs. E-15/10, Posten Norge AS/EFTA Surveillance Authority, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 88. 97

Teil 2:

Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus in Verwaltungssanktionsverfahren gegen Unternehmen Die voranstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass der Begriff der Strafrechtlichkeit als Tatbestandsvoraussetzung von Art. 6 EMRK bzw. Art. 48 EUGRCh sehr weit verstanden wird. Erfasst werden nicht nur kriminalstrafrechtliche Sanktionen, die beispielsweise in Deutschland im Strafgesetzbuch geregelt sind, sondern auch solche Taten, die wie Verstöße gegen das europäische Kartellverbot verwaltungsrechtlich sanktioniert werden. Der EGMR stellt zu diesem inzwischen sehr weiten Anwendungsbereich strafrechtlicher Verfahrensgarantien im Urteil Jussila aus dem Jahr 2006 fest: „[…] the autonomous interpretation adopted by the Convention institutions of the notion of a „criminal charge“ by applying the Engel criteria have underpinned a gradual broaden­ ing of the criminal head to cases not strictly belonging to the traditional categories of the criminal law […].“1

Während also anerkannt ist, dass strafrechtliche Verfahrensgarantien auch in Verwaltungssanktionsverfahren beachtet werden müssen, ist nunmehr zu untersuchen, ob Verwaltungssanktionsverfahren auch grundsätzlich mit Strafverfahrensgarantien vereinbar sein können. Sodann sind die Grenzen der Zulässigkeit solcher administrativer Sanktionierungen zu bestimmen. Diese Auseinandersetzung lässt zunächst noch außer Betracht, ob einzelne strafrechtliche Verfahrensgarantien Unternehmen auch tatsächlich zugute kommen müssen. Dies kann nur die Untersuchung des jeweiligen Schutzzweckes ergeben und ist für die Definition des Begriffes der Strafrechtsähnlichkeit noch nicht von Relevanz. Sofern in der Literatur überhaupt Ansichten zur Unterscheidung kernstrafrechtlicher von strafrechtsähnlichen Sanktionen zu finden sind, beziehen sie sich fast ausschließlich auf die EMRK. Deswegen und aus Gründen der Vereinfachung erfolgt die nachfolgende Untersuchung überwiegend auf Art.  6  EMRK bezogen. Gleichwohl wird die Übertragbarkeit dieser Ergebnisse auf die EU-GRCh abschließend separat untersucht. 1 EGMR, Urt. v. 23.11.2006 – No. 73053/06, Jussila/Finnland, ECHR 2006-IV, § 43, auf Deutsch: „die autonome Auslegung des Begriffs „strafrechtliche Anklage“, wie sie von den Konventionsorganen unter Berücksichtigung der Engel-Kriterien vorgenommen wird, hat eine graduelle Ausweitung erfahren, wodurch nunmehr auch Fälle erfasst werden, die nicht strikt zum traditionellen Anwendungsbereich des Strafrechts gehören.“

A. Keine grundsätzliche Unzulässigkeit von administrativen Sanktionsverfahren 

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A. Keine grundsätzliche Unzulässigkeit von administrativen Sanktionsverfahrengegen Unternehmen Während in der Rechtsprechung zum europäischen Kartellrecht die Verhängung von Sanktionen in Verwaltungsverfahren ganz herrschend als grundsätzlich zulässig anerkannt ist, wird weder dort, noch in der Literatur ausführlicher diskutiert, wieso und unter welchen grundsätzlichen Voraussetzungen dies der Fall sein kann. Im Folgenden soll deshalb untersucht werden, welche abstrakten Vorgaben sich aus Art. 6 EMRK ergeben.

I. Praktizierte Einschränkung strafrechtlicher Verfahrensgarantien in Verwaltungssanktionsverfahren gegen Unternehmen In Verwaltungssanktionsverfahren wenden der EGMR und das EuG bzw. der EuGH neben dem Anspruch auf Entscheidung durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht auch andere strafrechtliche Verfahrensgarantien für Unternehmen nicht oder nur in geringerer Strenge an. So fehlt im europäischen Kartellrecht beispielsweise eine Regelung für Unternehmen, um Zeugen laden zu lassen und befragen zu können. Kein einziger Bestandteil der Verfahren vor der Europäischen Kommission ist öffentlich. Und der EuGH erkennt für Unternehmen unter anderem kein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht an, sondern begrenzt den Grundsatz des nemo tenetur auf solche Aussagen, die dem Eingeständnis einer Zuwiderhandlung gleich kommen.2 Dies sind nur einige der Aspekte, hinsichtlich derer im europäischen Kartellverfahren ein niedrigerer Verfahrensgarantiestandard eingehalten wird, als dies in kernstrafrechtlichen Verfahren erforderlich wäre. Im bereits zitierten Urteil Menarini, das zum italienischen Kartellrecht erging, welches dem europäischen Kartellrecht sehr ähnlich ist, hat der EGMR bezüglich des Verfahrensgarantieniveaus in Verwaltungssanktionsverfahren abstrakt festgestellt: „Par ailleurs, la Cour rappelle que la nature d’une procédure administrative peut différer, sous plusieurs aspects, de la nature d’une procédure pénale au sens strict du terme. Si ces différences ne sauraient exonérer les Etats contractants de leur obligation de respecter toutes les garanties offertes par le volet pénal de l’article 6, elles peuvent néanmoins influencer les modalités de leur application.“3

2

EuGH, Urt. v. 18.10.1989 – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3343, Rn. 35. EGMR, Urt. v. 27.09.2011  – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 62, auf Deutsch: „Das Gericht merkt an, dass die Natur eines Verwaltungsverfahrens sich in Hinblick auf verschiedene Aspekte von der Natur eines kernstrafrechtlichen Verfahrens unterscheiden kann. Auch wenn diese Unterschiede die Vertragsstaaten nicht 3

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Teil 2: Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus 

Die Praxis erfordert somit eine Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass strafrechtliche Verfahrensgarantien je nach Verfahrensart (administrativ oder gerichtlich) unterschiedlich streng angewandt werden.

II. Möglichkeit zur unterschiedlich strengen Anwendung von strafrechtlichen Verfahrensgarantien aufgrund unbestimmten Wortlauts Dass eine Adaption des Garantieniveaus möglich ist, liegt auch daran, dass Art.  6  EMRK und Art.  48  EU-GRCh wie die meisten juristischen Normen im Sinne des Tatbestand-Rechtsfolge-Modells aufgebaut sind. Während die Subsumtion des Sachverhalts als grober Vorfilter dient, um die Anwendbarkeit einer Norm zu begründen, bedarf es auf Rechtsfolgenseite einer anschließenden Abwägung.4 Dabei sind auf Rechtsfolgenseite zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe zu finden: Manche von ihnen sind einer Vielzahl von Auslegungsmöglichkeiten zugänglich, andere erlauben nur zwei Auslegungsvarianten. So beinhalten Abs. 1 und 2 von Art. 6 EMRK (ähnlich wie Art. 47 Abs. 2 EU-GRCh) die Begriffe „unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht“, „fair“, „öffentliche Verhandlung“, „Verhandlung in angemessener Frist“, „öffentliche Verkündung“ sowie die „Vermutung der Unschuld“ und Art. 48 Abs. 2 EU-GRCh zusätzlich die „Achtung der Verteidigungsrechte“; Art. 48 Abs. 1 EU-GRCh enthält wie Art. 6 Abs. 2 EMRK die Unschuldsvermutung. Der Wortlaut strafrechtlicher Verfahrensgarantien zeigt somit, dass ein geringeres Garantieniveau in Verwaltungssanktionsverfahren denkbar ist.

III. Widerlegung von Ansichten gegen die Anwendung strafrechtlicher Verfahrensgarantien in Verwaltungssanktionsverfahren Es werden jedoch vor allem in Bezug auf die EMRK verschiedene Argumente vorgebracht, wieso eine Anwendung strafrechtlicher Verfahrensgarantien in Verwaltungssanktionsverfahren abzulehnen ist oder neue Probleme verursachen kann. Diese Ansichten können jedoch im Ergebnis jeweils nicht überzeugen.

davon befreien, sämtliche in Art. 6 EMRK verankerten strafrechtlichen Verfahrensgarantien zu beachten, so können diese doch die Art und Weise der Anwendung [der Verfahrensgarantien, Anm. d. Verf.] beeinflussen.“ 4 Vgl. Canaris, S. 96 ff.

A. Keine grundsätzliche Unzulässigkeit von administrativen Sanktionsverfahren 

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1. Gefahr der Absenkung des Garantieniveaus auch in kernstrafrechtlichen Verfahren Zum einen wird angeführt, die Anwendung strafrechtlicher Verfahrensgarantien in administrativen Sanktionsverfahren könne nicht nur im Bereich strafrechtsähnlicher Sanktionen zu einer Absenkung der ursprünglich rein kernstrafrechtlichen Verfahrensgarantien führen, sondern auch im als traditionell bezeichneten Anwendungsbereich.5 Es bestehe die Gefahr, dass es im Bereich kernstrafrechtlicher Sanktionen aufgrund eines sog. „spill over“-Effektes zu einer Absenkung der eigentlich strikt anzuwendenden Verfahrensgarantien komme.6 Diese Gefahr habe sich sogar bereits in einigen Urteilen des EGMR realisiert.7 Es mag sein, dass eine extensive Auslegung der Schutzbereichsvoraussetzungen von Art. 6 EMRK die Gefahr einer Absenkung des Garantieniveaus in kernstrafrechtlichen Verfahren birgt. Dies beseitigt aber erstens nicht die Notwendigkeit, auch in Verwaltungssanktionsverfahren Schutz durch entsprechende Verfahrensgarantien zu gewähren. Zweitens sollte die gebotene Reaktion auf einen solchen Umstand der Rechtsunsicherheit nicht das Nicht-Gewähren von Rechten sein, sondern der Versuch, handhabbare Kriterien zu entwickeln, um einen möglichst umfassenden Schutz gewährleisten zu können. Angeführt wird in diesem Zusammenhang, auch aus anderen Garantiebestimmungen der EMRK, wie beispielsweise aus Art. 5, 8, 9, 10 und 11 EMRK, ließen sich Verfahrensanforderungen ableiten.8 Es sei deshalb nicht unbedingt notwendig, Art. 6 EMRK tatbestandlich so weit auszulegen, dass Verwaltungssanktionsverfahren erfasst würden.9 Zunächst ist hierbei jedoch in Frage zu stellen, ob dies mit der grundsätzlich weiten Auslegung der EMRK zu vereinbaren ist. Zusätzlich scheinen die oben beschriebenen „spill over“-Effekte, die zu einer Absenkung des Garantieniveaus in kernstrafrechtlichen Verfahren geführt haben, in der Rechtsprechung des EGMR inzwischen zum Teil zurück genommen worden zu sein.10 Der oben dargestellten Ansicht ist daher nicht zu folgen.

5

Stavros, S. 327 f.; die Ansicht von Stavros übersichtlich darstellend: Gaede, S. 175. Stavros, S. 327 ff.; erläuternd: Gaede, S. 178 f., m. w. N., S. 179 ff. 7 Gaede, S. 178 f.; Stavros, S. 329. 8 Stavros, S. 331 ff. 9 Stavros, S. 331. 10 Gaede, S. 185; Stavros, S. 302 ff., insbes. S. 304. 6

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Teil 2: Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus 

2. Einführung eines EMRK-Zusatzprotokolls als Alternative zur weiten Auslegung des Begriffs „strafrechtliche Anklage“ Zum Teil wurde auch die Einführung eines weiteren Zusatzprotokolls als Alternative zu einer weiten Auslegung von Strafrechtlichkeit gefordert.11 Dieses sollte verwaltungsrechtliche Verfahrensgarantien zum Inhalt haben.12 Diese Ansicht gründet darauf, die vom EGMR praktizierte weite Auslegung von Art. 6 EMRK sei nicht mit dem Vertragswortlaut bzw. der Intention der Vertragsstaaten vereinbar.13 Dass dies nicht der Fall ist, haben bereits die Ausführungen zur Anwendbarkeit strafrechtlicher Verfahrensgarantien in strafrechtsähnlichen Sanktionsverfahren gezeigt. Ohnehin dürfte die Einführung eines weiteren Zusatzprotokolls bereits an der praktischen Umsetzbarkeit scheitern.14 Der dargestellten Ansicht ist daher nicht zu folgen. Als erste Reaktion auf diese Debatte ließe sich außerdem Art. 47 Abs. 2 EUGRCh deuten: In den Erläuterungen zur EU-GRCh wird der Vergleich mit Art.  6  EMRK hergestellt und es wird festgestellt, dass der Anwendungsbereich von Art. 47 Abs. 2 EU-GRCh weiter sei und nicht auf zivilrechtliche Streitigkeiten oder strafrechtliche Anklagen beschränkt sei.15 Denn damit die dort verbürgten Verfahrensgarantien, die mit Art. 6 EMRK in weiten Teilen identisch sind, zur Anwendung kommen, bedarf es dem Wortlaut nach keiner strafrechtlichen Anklage, sondern es genügt schon eine unqualifizierte Verletzung in solchen Rechten, die durch die Europäische Union garantiert werden. Gleichwohl sind die als Rechtsfolge vorgesehenen Verfahrensgarantien von Art. 47 Abs. 2 EU-GRCh enger formuliert, indem sie expliziter an ein Gerichtsverfahren anknüpfen und nur im Rahmen einer möglichen Vorwirkung auch schon in Verwaltungssanktionsverfahren zu berücksichtigen sind. Ausdrücklichen Schutz gewährt Art. 41 EU-GRCh, der manche Aspekte von Art.  6  EMRK aufgreift und sogar ausschließlich in Verwaltungsverfahren und damit auch in Verwaltungssanktionsverfahren anwendbar ist.

11 Schoibl, EuGRZ 1988, 611, 612 f.; darstellend: Gaede, S.  175, m. w. N.; Kley-Struller, S. 55 ff.; vgl. Trechsel, Bull. dr. h. 1998, 1, 9. 12 Vgl. Appel, S. 302; vgl. Gaede, S. 175, m. w. N.; Schoibl, EuGRZ 1988, 611, 612. 13 Vgl. Appel, S. 302; vgl. Gaede, S. 175, m. w. N.; zusammenfassend: Öhlinger, EJIL 1990, 286, 290, m. w. N.; die Rechtsprechung des EGMR insbes. in Hinblick auf das Urteil Öztürk anzweifelnd, aber nicht grundlegend ablehnend: Thürer, ZBl 1986, 241, 264 f. 14 Vgl. Gaede, S. 175. 15 Vgl. Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, S. 30.

A. Keine grundsätzliche Unzulässigkeit von administrativen Sanktionsverfahren 

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IV. Maßgeblichkeit der Heilungsmöglichkeit verfahrensgarantierechtlicher Defizite im Fall eines gerichtlichen Anfechtungsverfahrens Es kann, wie bereits erläutert, als unbestritten gelten, dass strafrechtliche Verfahrensgarantien grundsätzlich auch in Verwaltungssanktionsverfahren beachtet werden müssen. Dies hat sowohl die Auseinandersetzung mit deren tatbestandlichen Voraussetzungen ergeben, als auch der Umstand, dass die voranstehenden Ansichten, die sich gegen eine Anwendung strafrechtlicher Verfahrensgarantien in Verwaltungssanktionsverfahren richten, nicht überzeugen konnten. Die Praxis des europäischen Kartellrechts mag, wie bereits festgestellt, gleichwohl suggerieren, dass ein deutlich niedrigerer Standard durchaus zulässig sein kann. Offen ist dabei jedoch, ob generell ein niedrigeres Verfahrensgarantieniveau gilt, oder ob dieses nur zunächst im Verwaltungssanktionsverfahren niedriger ist, die nicht eingehaltenen Verfahrensgarantien dann aber im gerichtlichen Verfahren vollumfänglich eingehalten werden müssen. Werden im Verwaltungssanktionsverfahren nicht oder nicht vollumfänglich eingehaltene Verfahrensgarantien im anschließenden gerichtlichen Anfechtungsverfahren nicht nachträglich in Gänze gewahrt, könnte dies damit begründet werden, dass in Verwaltungsverfahren in der Regel weniger schwerwiegende Sanktionen verhängt werden. Dahingestellt, ob eine solche Argumentation durchgreifen kann, wäre dann erforderlich, zu bestimmen, ab wann eine Sanktion so gering ist, dass ein Verwaltungssanktionsverfahren zulässig ist und dort nicht eingehaltene Verfahrensgarantien auch in einem möglicherweise anschließenden gerichtlichen Anfechtungsverfahren nicht eingehalten werden müssen. Die dafür notwendigen Kriterien zu bestimmen und im Einzelfall abzuwägen, erscheint jedoch fast unmöglich und spricht somit dagegen, Garantien sowohl im Veraltungssanktionsverfahren, als auch im anschließenden gerichtlichen Verfahren nur mit verminderter Strenge zur Anwendung kommen zu lassen. Ein solcher Ansatz birgt außerdem die bereits beschriebene Gefahr des „watering down“. Selbst wenn eine Grenzziehung möglich wäre, so könnte schnell argumentiert werden, auch für knapp oberhalb der Grenze liegende Sachverhalte solle mangels kategorialer Unterschiedlichkeit auch ein lediglich geringeres Verfahrensgarantieniveau gelten. Da für Kartellbußgelder mit ihrem exorbitanten Bußgeldrahmen jedoch die Einordnung als leichte Sanktion ohnehin nicht in Betracht kommt, kann eine abschließende Stellungnahme dahinstehen. Bestimmte Verfahrensgarantien allein aus Gründen des angedrohten Sanktionsmaßes weder im Verwaltungssanktionsverfahren zur Anwendung kommen zu lassen, noch im anschließenden gerichtlichen Anfechtungsverfahren zu wahren, scheidet zumindest für Kartellbußgelder aus. Argumentiert werden könnte dann lediglich, die Einhaltung bestimmter Verfahrensgarantien sei mit einem administrativen Sanktionsverfahren nicht zu vereinbaren. Ließe man eine solche Argumentation jedoch zu, so könnte die Pflicht,

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Teil 2: Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus 

strafrechtliche Verfahrensgarantien einzuhalten, durch die Wahl der Verfahrensart umgangen werden. Allein dieser Umstand verdeutlicht bereits, dass strafrechtliche Verfahrensgarantien stets – zumindest nachträglich im gerichtlichen Anfechtungsverfahren – eingehalten werden müssen. Überzeugender scheint es deshalb, aus dem Vorliegen der Anwendungsvoraussetzungen strafrechtlicher Verfahrensgarantien darauf zu schließen, dass die verfahrensgarantierechtlichen Rechtsfolgen uneingeschränkt zur Anwendung kommen müssen. Nur kann es unter bestimmten – noch zu klärenden Umständen – zulässig sein, dass einige Verfahrensgarantien im administrativen Sanktionsverfahren noch nicht einzuhalten sind, sondern ihre Verwirklichung erst im möglicherwiese anschließenden gerichtlichen Anfechtungsverfahren erfolgt.16 Sicherlich müssen die einzelnen Garantien teleologisch ausgelegt werden und so den Begebenheiten eines Verwaltungssanktionsverfahrens angepasst werden. Gleichwohl kann dies nur zu einer nuancierten Abstufung oder Adaption des Verfahrensgarantieniveaus führen. Würde man es für zulässig erachten, dass bestimmte Verfahrensgarantien sowohl im administrativen Sanktionsverfahren, als auch im gerichtlichen Anfechtungsverfahren gar nicht oder nur in geringerem Maße eingehalten werden müssen, so würde dies eine teleologische Reduktion der verfahrensgarantierechtlichen gebotenen Rechtsfolge darstellen. Eine solche ist, als umgekehrter Fall eines Analogieschlusses,17 im Völkerrecht jedoch nach überwiegender Ansicht unzulässig.18 Bestätigt wird diese Ansicht im Ergebnis vom Urteil Menarini, in dem der EGMR genau diese Ansicht vertritt, dass auch angesichts der nicht zu leugnenden Unterschiedlichkeit von Verwaltungssanktionsverfahren und kernstrafrechtlichen Verfahren, dennoch die Pflicht besteht, grundsätzlich „sämtliche in Art. 6 EMRK verankerten strafrechtlichen Verfahrensgarantien zu beachten.“19 Das in Verwaltungssanktionsverfahren anzuwendende Verfahrensgarantieniveau hängt somit davon ab, ob aus teleologischen Gründen eine Nichtanwendung zulässig ist und sodann, ob die nicht angewandte Garantie durch ihre Beachtung in einem möglicherweise anschließenden gerichtlichen Anfechtungsverfahren heilbar ist. Entscheidend ist, dass durch die Vorschaltung eines Administrativverfahrens die Verwirklichung der Rechte aus Art. 6 EMRK nicht unmöglich gemacht wird.20 Dies hat zur Folge, dass es nicht einerseits strafrechtsähnliche und andererseits kernstrafrechtliche Verfahrensgarantien gibt. Zu unterscheiden ist nur zwischen strafrechtsähnlichen und kernstrafrechtlichen Sanktionsverfahren. In letzteren können strafrechtliche Verfahrensgarantien lediglich zunächst nicht oder nur 16

Gaede, S. 185. Vgl. Canaris, S. 211. 18 Graf Vitzthum, in: Vitzthum/Proelß, 1. Abschnitt, Rn. 124. 19 EGMR, Urt. v. 27.09.2011  – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 62, im Französischen Original: „de respecter toutes les garanties offertes par le volet pénal de l’article 6.“ 20 Gaede, S. 185. 17

B. Bestimmung des Begriffs der Strafrechtsähnlichkeit

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vermindert streng zur Anwendung kommen, müssen aber im anschließenden gerichtlichen Anfechtungsverfahren umfassend gewahrt werden. Ob jedoch alleine die Möglichkeit zur Heilung für die Zulässigkeit eines Verwaltungssanktionsverfahrens spricht, oder weitere Faktoren die Durchführung eines solchen Verfahrens ausschließen können, bedarf einer weitergehenden Untersuchung, bei der auch die Eigenschaften von Unternehmen berücksichtigt werden müssen.

B. Bestimmung des Begriffs der Strafrechtsähnlichkeit Der Begriff der Strafrechtsähnlichkeit als Beschreibung für solche Sanktionen gegen Unternehmen, bei denen es unter anderem zulässig ist, dass sie nicht durch ein Gericht verhängt werden, ist bisher kaum definiert.21 Höchstens werden feststellende Beschreibungen verwendet, bspw. es handele sich nicht um eine „procé­ dure pénale au sens strict du terme“, so der EGMR im Urteil Menarini.22 Oder der EGMR führt im Urteil Jussila rein feststellend an, die Sanktion unterscheide sich „from the hard core of criminal law“.23 Beide Definitionen sind negativ formuliert und vollziehen eine Abgrenzung zu einer Kategorie, die als kernstrafrechtlich beschrieben wird, jedoch nicht weiter definiert ist. Die Formulierungen stellen für sich somit keine anwendbaren Definitionen dar. Umso erstaunlicher ist es, dass sich auch Generalanwältin Sharpston in ihren Schlussanträgen zum Verfahren KME der gleichen Formulierung bedient, indem sie den EGMR zitiert.24 Ansonsten stellt sich diese Abgrenzungsfrage vor den Unionsgerichten kaum, da die Europäische Union keine Kompetenz hat, kernstrafrechtliche Sanktionen zu verhängen. Die folgende Darstellung setzt sich deshalb weiterhin nur mit der EMRK auseinander. Untersucht wird zunächst, in welchen Fällen der EGMR Sanktionen gegen Unternehmen als strafrechtsähnlich eingestuft hat, ob sich in Bezug auf Sanktionen gegen natürliche Personen etwas anderes ergibt, und ob sich aus dem Kontext der Gesetzgebung weitere Schlüsse ergeben können. Abschließend wird geprüft, wie die Vorgabe aus der voranstehenden Untersuchung eingehalten werden kann, stets sämtliche Verfahrensgarantien zumindest in einem möglicherweise anschließenden gerichtlichen Anfechtungsverfahren zu wahren. Dies mündet in einer neuen Definition von Strafrechtsähnlichkeit von Sanktionen gegen 21

Esser, S. 604; Gaede, S. 177, m. w. N., S. 179. EGMR, Urt. v. 27.09.2011  – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, § 62, auf Deutsch: es handele sich nicht um „ein Verfahren, das strafrechtlich im engeren Sinne ist“. 23 EGMR, Urt. v. 23.11.2006 – No. 73053/06, Jussila/Finnland, ECHR 2006-IV, § 43, auf Deutsch: „vom harten Kern des Strafrechts abhebt“. 24 Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 10.02.2011 – Rs. C-272/09 P, KME/KOM, Slg. 2011, I-12860, Rn. 67. 22

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Teil 2: Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus 

Unternehmen. Dieses Ergebnis wird abschließend auf seine Übertragbarkeit auf die EU-GRCh hin untersucht.

I. Unzulässigkeit der ausschließlich auf gesetzgeberischer Entscheidung beruhenden Einordnung von Sanktionen gegen Unternehmen als strafrechtsähnlich Auch wenn der EGMR in der Vergangenheit ansatzweise versucht hat, die Kategorie strafrechtsähnlicher Sanktionen zu definieren, so stellt er in der Praxis in seinen Urteilsbegründungen weiterhin auf die Einordnung nach nationalem Recht ab: Sanktionen gegen Unternehmen, die von nationalen Exekutivorganen verhängt werden, also Verwaltungssanktionen sind, werden ohne weitere Prüfung als lediglich strafrechtsähnlich eingestuft.25 So haben der EGMR im Urteil Menarini bzw. die EKMR in ihrer Entscheidung Société Sténuit für jeweils administrativ verhängte Kartellbußgelder eine nachgelagerte gerichtliche Kontrolle als jeweils mit der EMRK vereinbar angesehen26 und sich ansonsten nicht eingehender mit der Schwere der verhängten Sanktion auseinandergesetzt. Aus dieser Praxis resultiert eine Verkettung mehrerer juristischer Unsauberkeiten: Weil Verfahrensgarantien vermindert streng angewandt werden, wenn eine lediglich strafrechtsähnliche Anklage vorliegt, wird diese tatbestandliche Einordnung ohne weitere Prüfung auf die Rechtsfolgenseite übertragen. Weil aber die tatbestandliche Einordnung als kernstrafrechtlich oder strafrechtsähnlich aufgrund der Rechtspraxis der Gerichte faktisch der Einordnung der Vertragsstaaten der EMRK bzw. durch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union folgt, senken die Gerichte somit geradezu auf Geheiß der Mitgliedstaaten das strafverfahrensrechtliche Garantieniveau vom kernstrafrechtlichen Normalstandard ab, ohne dass es zu einer eigenständigen Prüfung käme.27 Dies aber ist mit dem Erfordernis einer autonomen Begriffsauslegung nicht zu vereinbaren. Und da auch in den Vertragsstaaten der EMRK keine eindeutige Praxis existiert, nur bestimmte Sanktionen gegen Unternehmen dem Bereich strafrechtsähnlicher Sanktionen zuzuordnen, was eine dynamisch-teleologische Bestimmung von Strafrechtsähnlichkeit ermöglichen könnte, bedarf es einer sehr grundlegen-

25

Auch in Bezug auf natürliche Personen: Gaede, S. 179. EKMR, Entscheidung v. 30.05.1991 – No. 11598/85, Société Sténuit/Frankreich, Series A vol. 232-A, §§ 68 ff.; EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, §§ 57 ff.; zudem hat der EGMR im Urteil Jussila das Kartellrecht als Beispiel für eine strafrechtsähnliche Sanktion angeführt und die Entscheidung Société Sténuit zitiert: EGMR, Urt. v. 23.11.2006 – No. 73053/06, Jussila/Finnland, ECHR 2006-IV, § 43. 27 Vgl. Gaede, S. 179; Esser, S. 604, der auf das Fehlen jeglicher Abgrenzungsmerkmale hinweist; vgl. Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 27. 26

B. Bestimmung des Begriffs der Strafrechtsähnlichkeit

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den Auseinandersetzung bezüglich der Unterscheidung, wann ein administratives und wann ein gerichtliches Sanktionsverfahren gegen Unternehmen zu wählen ist.

II. Keine praxistaugliche Definition in der Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Verwaltungssanktionen gegen natürliche Personen Für natürliche Personen hält der EGMR Verwaltungssanktionen, anders als in der Literatur zum Teil  behauptet,28 nicht ausschließlich im Fall sog. „minor offences“ für zulässig. Es ist zwar richtig, dass der EGMR im oft zitierten Urteil­ Öztürk aus dem Jahr 1984 ein Verkehrsbußgeld in Höhe von heute etwa 35 Euro29 als „minor offence“30 eingestuft und deshalb eine administrative Sanktionierung für zulässig erachtet hat.31 Spätestens mit dem Urteil Bendenoun aus dem Jahr 1994 dürfte er aber von dieser Rechtsprechung abgerückt sein. Dabei ging es um eine Sanktion einer Verwaltungsbehörde in Höhe von etwa 45.000 Euro wegen Zollvergehen und anderer Verstöße.32 Die Grenze für strafrechtsähnliche Sanktionen sah der EGMR nicht als überschritten an, obwohl die zu zahlenden Aufschläge „großen Ausmaßes“ gewesen sind.33 Diese Einschätzung hat der EGMR im Jahr 2002 mit dem Urteil Janosevic bestätigt.34 Dabei ging es um einen Steueraufschlag durch eine Verwaltungsbehörde in Höhe von etwa 17.000 Euro.35 Zum Umstand, dass das sanktionierende Finanzamt kein Gericht im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK ist, führt der EGMR aus, dass der Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht kein absolutes Recht darstelle, sondern inhärenten Begrenzungen unterliege, die ihre Grenze dort fänden, wo diese nicht mehr zweckmäßig oder verhältnismäßig seien.36 Im vorliegenden Fall sieht der EGMR diese Grenze offensichtlich abermals nicht als überschritten an, selbst wenn Finanzbehörden Steueraufschläge „großen Ausmaßes“ verhängten.37 Erneut bestätigt wird diese Ansicht im Urteil Jussila aus dem Jahr 2006.38 Eine klare Grenze, bis zu welcher Höhe monetäre Sanktionen gegen natürliche Personen verhängt werden dürfen, lässt sich aus der Rechtsprechung des EGMR somit nicht ziehen.

28

Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 28 ff. EGMR, Urt. v. 21.02.1984 – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, § 11. 30 EGMR, Urt. v. 21.02.1984 – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, § 56. 31 EGMR, Urt. v. 21.02.1984 – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, § 56. 32 EGMR, Urt. v. 24.02.1994 – No. 12547/86, Bendenoun/Frankreich, Series A vol. 284, § 9. 33 EGMR, Urt. v. 24.02.1994  – No. 12547/86, Bendenoun/Frankreich, Series A vol. 284, § 46. 34 EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, § 81. 35 EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, § 9. 36 EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, § 80. 37 EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, § 81. 38 EGMR, Urt. v. 23.11.2006 – No. 73053/06, Jussila/Finnland, ECHR 2006-IV, § 43. 29

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Teil 2: Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus 

Etwas anderes kann allenfalls für Freiheitsentziehungen gelten. So hat der EGMR im Urteil Engel im Jahr 1976 eine für wenige Tage freiheitsbeschränkend, aber nicht freiheitsentziehend wirkende Disziplinarstrafe als mit Art.  6  EMRK vereinbar angesehen.39 Übertragen auf Unternehmen könnten Freiheitsentziehungen mit solchen Sanktionen gleichgesetzt werden, die ein umfassendes Tätigkeitsverbot darstellen oder gar zu einer Existenzvernichtung führen. Denn entzogene Freiheit kann nicht zurückgegeben werden, sondern allenfalls durch Geld kompensiert werden. Zwingende Schlüsse lassen sich aus der Rechtsprechung des EGMR aufgrund der Verschiedenartigkeit von Unternehmen und natürlichen Personen jedoch nicht ziehen.

III. Nichtübertragbarkeit der unabhängig von Verfahrensgarantien erfolgenden Differenzierung zwischen Strafrecht im engeren und im weiteren Sinn Unabhängig von strafrechtlichen Verfahrensgarantien wird in Wissenschaft und Rechtsprechung insbesondere im Kontext der Gesetzgebung zwischen Strafrecht im weiteren und Strafrecht im engeren Sinn unterschieden. Dies erfolgt in nahezu allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union.40 Die verschiedenen Ansichten führen neue, in der Rechtsprechung des EGMR noch nicht verwendete Kriterien für eine Kategorisierung an. Es mag daher naheliegen, diese Maßstäbe für die Unterscheidung zwischen kernstrafrechtlichen und strafrechtsähnlichen Sanktionsverfahren nutzbar zu machen. Tatsächlich sind diese Definitionsansätze selbst jedoch berechtigter Kritik ausgesetzt. 1. Unterscheidung nach dem sozial-ethischen Unwert einer Tat In der deutschen Literatur wird zur Unterscheidung von Strafrecht im engeren und Strafrecht im weiteren Sinn oftmals das mit der Sanktionierung einhergehende sozial-ethische Unwerturteil als maßgebliches Charakteristikum angeführt.41 Die Autoren sehen sich dabei zum Teil durch Urteile höchstrichterlicher Rechtsprechung bestätigt.42 Es wird in der Literatur dazu angeführt, durch die kriminalstrafrechtliche Sanktionierung finde eine größere Stigmatisierung statt.43 Diese Grundsätze werden von mehreren Autoren auch als maßgebend für andere 39 EGMR, Urt. v. 08.06.1976  – No. 5100/71 [u. a.], Engel [u. a.]/Niederlande, Series A vol. 22, §§ 33 ff., 88 f. 40 Deutscher, S. 166 f. 41 Böse, S. 36; Deutscher, S. 86 f.; Heine, ZStR 2007, 105, 113; Heitzer, S. 10; Satzger, S. 77. 42 Satzger, S. 77, Fn. 416 mit Verweis auf: BVerfG, Beschluss v. 06.06.1967 – 2 BvR 375/60 [u. a.], BVerfGE 22, 49, 80; BVerfG, Beschluss vom 16.07.1969 – 2 BvL 2/69, BVerfGE 27, 18, 29 f.; BVerfG, Beschluss vom 09.11.1976 – 2 BvL 1/76, BVerfGE 43, 101, 105. 43 Deutscher, S. 87.; vgl. Heine, WiVerw 1996, 149, 157.

B. Bestimmung des Begriffs der Strafrechtsähnlichkeit

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europäische Länder und zum Teil sogar für die Europäische Union angeführt.44 Niggli/Riedo entgegnen jedoch, dass der Begriff sozial-ethisch zwar der deutschen Rechtspraxis entstamme, die in den zitierten Aussagen vereinzelt angeführten Belege aus der englischen, französischen und österreichischen Rechtslehre jedoch dort jeweils nicht zu finden seien,45 was eine Nachprüfung bestätigt. Die Abgrenzung anhand eines sozial-ethischen Unwerturteils könne deshalb nicht im Rahmen eines wertenden Rechtsvergleichs als in den meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union gängiges Kriterium ausgemacht werden.46 Und auch gegen das Merkmal an sich führen Niggli/Riedo an, dass sich das staatliche Strafmonopol von den Bürgern eines Staates ableite und deshalb stets zum Ziel haben müsse, diese zumindest mittelbar zu schützen.47 Zwangsläufig müsse deshalb jede Form strafrechtlichen Schutzes die Wahrung ethischer oder sozialer Werte bezwecken.48 Die Konsequenz scheint deshalb, dass ethische oder soziale Werte nicht geeignet sind, eine Differenzierung zwischen Strafrecht im engeren und Strafrecht im weiteren Sinn vorzunehmen.49 Alternative Abgrenzungskriterien schlagen Niggli/Riedo nicht vor, da sie in strafrechtsähnlichen Verfahren letztendlich nur den Versuch sehen, die Einhaltung bestimmter strafrechtlicher Verfahrensgarantien zu umgehen.50 Wenn Generalanwalt Jacobs am EuGH in einem Gutachten obige Ansicht dennoch aufgreift und vertritt, kernstrafrechtliche Sanktionen enthielten „über die schlichte Abschreckung hinaus […] weiter die gesellschaftliche Missbilligung oder ein Unwerturteil“51, so kann dieser Ansicht aus den dargelegten Gründen nicht gefolgt werden. Der EGMR scheint sich mit dem vermeintlich gängigen Kriterium des sozialethischen Unwerturteils nicht auseinanderzusetzen, obwohl gerade er weit häufiger als die Unionsgerichte sowohl mit kernstrafrechtlichen, als auch strafrechtsähnlichen Sanktionen konfrontiert sein dürfte. Er formuliert stattdessen bspw. im Urteil Jussila deutlich allgemeiner: „[I]t is self-evident that there are criminal cases which do not carry any significant degree of stigma. There are clearly ‚criminal charges‘ of differing weight.“52 44 Böse, S. 36, Fn. 5 mit Verweisen auf Frankreich, Italien, die Niederlande, Portugal, Spanien und das Vereinigte Königreich; Deutscher, S. 87 mit Verweis auf das Gemeinschaftsrecht; Hecker, § 4, Rn. 63; Satzger, S. 77, Fn. 416 mit Verweisen auf Frankreich, Österreich und das Vereinigte Königreich; a. A. Heine, WiVerw 1996, 149, 156. 45 Niggli/Riedo, in: Amstutz/Hochreutener/Stoffel, S. 104. 46 Niggli/Riedo, in: Amstutz/Hochreutener/Stoffel, S. 104. 47 Niggli/Riedo, in: Amstutz/Hochreutener/Stoffel, S. 107. 48 Niggli/Riedo, in: Amstutz/Hochreutener/Stoffel, S. 107. 49 Niggli/Riedo, in: Amstutz/Hochreutener/Stoffel, S. 107 ff. 50 Niggli/Riedo, in: Amstutz/Hochreutener/Stoffel, S. 113 f. 51 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge v. 03.06.1992 – Rs. C-240/90, Deutschland/KOM, Slg. 1992, I-5404, Rn. 11. 52 EGMR, Urt. v. 23.11.2006 – No. 73053/06, Jussila/Finnland, ECHR 2006-IV, § 43, auf Deutsch: „Es ist es offensichtlich, dass es strafrechtliche Fälle gibt, denen kein nennenswertes Stigma anhaftet. Es gibt also „strafrechtliche Anklagen“ unterschiedlichen Gewichts.“

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Teil 2: Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus 

Allenfalls in der deutschen Strafrechtswissenschaft scheint sich somit das Kriterium des sozial-ethischen Unrechts als Merkmal für die Unterscheidung von Strafrecht im weiteren und im engeren Sinne etabliert zu haben, obgleich es nicht überzeugen kann und erst recht nicht für die Unterscheidung strafrechtsähnlicher von kernstrafrechtlichen Sanktionen nutzbar gemacht werden kann. 2. Unterscheidung anhand der angeordneten Sanktion Neben der Anknüpfung am sozial-ethischen Unwert einer Tat wird in der Literatur die verhängte Rechtsfolge als Anknüpfungspunkt für eine Unterscheidung zwischen Strafrecht im engeren und im weiteren Sinn angeführt. So sei die Rechtsfolge von Verwaltungssanktionen in der Regel eine Geldbuße oder eine andere wirtschaftlich nachteilige Rechtsfolge wie ein Aufschlag auf die Rückzahlung unrechtmäßig erlangter Vorteile.53 Könne gegen eine natürliche Person eine Ersatzfreiheitsstrafe für den Fall verhängt werden, dass eine verhängte Geldbuße nicht eingetrieben werden kann,54 so spreche dies für eine Einordnung als kriminalstrafrechtlich.55 Und so wird in der Literatur sehr grundsätzlich angeführt, eine Freiheitsstrafe sei mit der Einordnung als Verwaltungssanktion nicht vereinbar.56 Da dies nur für natürliche Personen gelten kann,57 kann dieses Argument kaum als brauchbares Differenzierungsmerkmal für Sanktionen gegen Unternehmen nutzbar gemacht werden. Umso erstaunlicher ist es, dass Satzger diesen Umstand als „wichtiges Argument gegen den kriminalstrafrechtlichen Charakter“58 von Geldbußen gegen Unternehmen anführt.59 Allenfalls wenn man die Ansicht vertreten würde, allein Freiheitsstrafen stellten echte kriminalstrafrechtliche Sanktionen dar und alle anderen Sanktionsarten dürften  – unabhängig von ihrer Höhe – administrativ verhängt werden, könnte man dieses Argument nutzbar machen.

53

Deutscher, S. 87; von Deutscher zitiert, jedoch nur die Rechtsprechung des EuGH wiedergebend: Kadelbach, in: van Gerven/Zuleeg, S. 81; Tsolka, S. 30 ff.; vgl. überblicksartig zum deutschen Recht: Pache, S. 216 ff. 54 Vgl. bspw. für das deutsche Strafrecht § 43 S. 1 StGB: „An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt Freiheitsstrafe.“; Ersatzfreiheitsstrafen sind auch im Europäischen Menschenrechtsschutz bekannt, vgl. anstatt vieler: Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 14, Rn. 28. 55 BVerfG, Beschluss v. 06.06.1967  – 2 BvR 375/60 [u. a.], BVerfGE 22, 49, 80; ohne weitere Begründung das Bundesverfassungsgericht lediglich zitierend: Bohnert, JURA 1984, 11, 20. 56 Heitzer, S. 13 f., 17; Satzger, S. 76. 57 Dies erkennend, jedoch daraus nicht den Schluss ziehend, dass das angeführte Kriterium kein geeignetes Differenzierungsmerkmal ist: Satzger, S. 84. 58 Satzger, S. 83. 59 Satzger, S. 84; Ersatzfreiheitsstrafen zunächst als konstitutives Merkmal darstellend, später jedoch relativierend: Deutscher, S. 189.

B. Bestimmung des Begriffs der Strafrechtsähnlichkeit

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Als außerdem für Verwaltungssanktionen charakteristisch wird angesehen, wenn eine Sanktionierung gegen ein Unternehmen nicht in ein Strafregister einge­ tragen wird, da auch so ein geringerer Unwertgehalt zum Ausdruck komme.60 Diese rechtsfolgenbasierte Unterscheidung von Strafrecht im weiteren und engeren Sinn beurteilen Niggli/Riedo abermals sehr kritisch und erkennen in der Differenzierung keine zugrundeliegende Argumentation, da nicht erkenntlich sei, wieso bestimmte Rechtsfolgen zwangsläufig zu einer Zuordnung zu einer der beiden Kategorien führen müssten.61 Denn ob die angeführten Kriterien dennoch überzeugen können, kann nicht aus ihnen selbst heraus begründet werden, sondern ist allenfalls das Ergebnis (und nicht die Begründung) eines deutlich mehr Faktoren einbeziehenden Abwägungsvorgangs. Die vorgeschlagene Kategorisierung erfolgt jedoch offensichtlich ohne eine nachvollziehbare Argumentation und kann deshalb ebenfalls nicht für die Unterscheidung strafrechtsähnlicher von kernstrafrechtlichen Sanktionen nutzbar gemacht werden.

IV. Existenzvernichtende Wirkung von Bußgeldern als einzige unzulässige Rechtsfolge in strafrechtsähnlichen Sanktionsverfahren Weder die Praxis des EGMR, wie dieser die Strafrechtsähnlichkeit von Sanktionen gegen Unternehmen bzw. gegen natürliche Personen bestimmt, konnte überzeugen, noch die voranstehend geschilderten Abgrenzungsmethoden aus dem Kontext der Gesetzgebung. Deshalb ist nunmehr auf das bereits erläuterte Minimalkriterium zurückzugreifen, wonach Verfahrensgarantien, die in einem Verwaltungssanktionsverfahren nicht eingehalten wurden, zumindest in einem mög­licherweise nachfolgenden gerichtlichen Anfechtungsverfahren eingehalten werden müssen. 1. Unmöglichkeit der Heilung nur bei existenzvernichtenden Sanktionen Damit in einem Verwaltungssanktionsverfahren nicht eingehaltene Verfahrensgarantien nachträglich gewahrt werden können, muss die administrative Entscheidung reversibel sein. Nur so kann sie durch eine gerichtliche Kontrolle korrigiert werden und in der Folge der Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht sowie andere nicht eingehaltene Verfahrensgarantien gewahrt werden. Ausgeschlossen sein kann dies aus zwei Gründen: Entweder die Sanktion ist ihrer Art nach nicht 60

Deutscher, S. 189; das deutsche Bundesverfassungsgericht zitierend: Satzger, S. 78, 84; Satzger zusammenfassend: Hecker, § 4, Rn. 63. 61 Niggli/Riedo, in: Amstutz/Hochreutener/Stoffel, S. 98.

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Teil 2: Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus 

reversibel, beispielsweise weil die Einstellung einer bestimmten Geschäftstätigkeit gefordert wird und ein späterer, neuerlicher Markteintritt ausgeschlossen ist, was jedoch im europäischen Kartellrecht nicht als Sanktionsart vorgesehen ist. Oder die Sanktion ist derart schwerwiegend, dass ein Unternehmen aufgrund ihrer Verhängung seine Geschäftstätigkeit nicht mehr fortführen kann und deshalb nicht mehr in der Lage ist, Rechtsmittel zu ergreifen. Im Ergebnis kann somit zunächst nur festgestellt werden, dass lediglich unmittelbar existenzvernichtende Sanktionen mit Art. 6 EMRK nicht zu vereinbaren sind und nicht in einem lediglich strafrechtsähnlichen Verfahren verhängt werden können. Auch wenn eine Sanktion nicht sofort vollziehbar ist, bzw. auch wenn eine möglicherweise erhobene Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung hat, kann aufgrund der Pflicht, Rückstellungen zu bilden, der Fall einer bilanziellen Überschuldung eintreten. Dieses Risiko ist gleichwohl deutlich geringer, sofern ein Bußgeld nicht auf einmal, sondern ratenweise fällig wird.62 Lediglich eine Zahlungsunfähigkeit ist mangels Vollzug der Zahlungspflicht ausgeschlossen. Im Ergebnis können somit auch nicht sofort vollziehbare Sanktionen irreversible Vorwirkungen zeitigen, die eine gerichtliche Anfechtung verunmöglichen. Eine Heilung der auf verwaltungssanktionsrechtlicher Ebene nicht eingehaltenen Verfahrensgarantien wäre ausgeschlossen. Die Verhängung solcher Sanktionen in einem administrativen Sanktionsverfahren ist somit nicht mit Art. 6 EMRK zu vereinbaren. Eingewandt werden könnte gegen den Ansatz, Sanktionen hinsichtlich ihrer existenzvernichtenden Wirkung zu kategorisieren, dass die Bezifferung mit erheblichen Unsicherheiten verbunden ist, da sie auf ungewissen Annahmen basieren muss und es sich um eine Prognoseentscheidung handelt. Dieses Argument kann sicherlich nicht gänzlich entkräftet werden, jedoch scheint die Europäische Kommission schon heute in der Lage zu sein, diesen Umstand zu berücksichtigen. Denn die Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit eines Unternehmens als Ermessensgesichtspunkt im Rahmen der Bußgeldfestsetzung gem. Ziffer 35 der Bußgeldleitlinien ist nichts anderes als die Prüfung der potentiell existenzvernichtenden Wirkung einer Sanktion.63 Und auch andere Rechtsgebiete kennen die Notwendigkeit derartiger Prognoseentscheidungen.64

62 Eine Ratenzahlung wird durch die Europäische Kommission in begründeten Einzelfällen gewährt. Maßgeblich ist hierfür Art. 89 der delegierten Verordnung (EU) Nr. 1268/2012 der Kommission vom 29. Oktober 2012 über die Anwendungsbestimmungen für die Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union. 63 Ausführlich zur Berücksichtigung der wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit: Frenz, Handbuch Europarecht, Band 2, Rn. 2975 ff. 64 So beispielsweise im deutschen Insolvenzrecht, wo es im Rahmen der Prüfung einer Überschuldung auch auf das Vorliegen einer positiven Fortführungsprognose ankommt. Ausführlich: Drukarczyk/Schüler, in: MK, Insolvenzordnung, Band 1, § 19, Rn. 21 ff.

B. Bestimmung des Begriffs der Strafrechtsähnlichkeit

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2. Unbeachtlichkeit mittelbarer Sanktionsfolgen Macht man die Zulässigkeit eines Verwaltungssanktionsverfahrens nicht nur vom Ausbleiben unmittelbarer Sanktionsfolgen und der damit verbundenen Einhaltung bzw. Heilung aller Strafverfahrensgarantien aus Art. 6 EMRK abhängig, so sind die mittelbaren Sanktionsfolgen zu bewerten. Einerseits resultieren schon aus der Entscheidung ein Sanktionsverfahren einzuleiten selbst Nachteile. So müssen Unternehmen Rückstellungen wegen der drohenden Zahlung bilden.65 Dies hat eine geringere Eigenkapitalquote zur Folge, was die Refinanzierung an den Kapitalmärkten erschwert und schlimmstenfalls zu Liquiditätsproblemen führen kann.66 Und ohnehin muss ein Unternehmen seine Liquiditätsplanung auf die drohende Fälligkeit eines Bußgeldes einstellen, da es andernfalls in Zahlungsprobleme geraten kann. Damit einher geht nicht selten die Notwendigkeit, die Geschäftsplanung erheblich anzupassen und die Durchführung geplanter Investitionsvorhaben auszusetzen. Solche Anpassungen müssen bereits während der Ermittlungsphase erfolgen, zumindest wenn die Verhängung eines Bußgeldes wahrscheinlich erscheint, damit das Unternehmen auf den Fall des Bußgeldvollzuges eingestellt ist. Dies gilt unabhängig davon, ob eine Sanktion administrativ oder sofort gerichtlich verhängt wird. Ist der Sofortvollzug für Verwaltungssanktionen ausgesetzt, liegt der Unterschied zwischen kernstrafrechtlichen und nicht sofort vollzogenen strafrechtsähnlichen Sanktionsverfahren darin, dass von der Einleitung der Ermittlungsmaßnahmen und damit vom Zeitpunkt, in dem ein Unternehmen seine Geschäftsstrategie an die drohende Bußgeldzahlung anpassen muss, bis zu einer gerichtlichen Entscheidung bei Verwaltungssanktionsverfahren mehr Zeit als bei kernstrafrechtlichen Verfahren vergeht. Aber auch schon in gerichtlichen Verfahren vergeht bis zur gerichtlichen Entscheidung so viel Zeit, dass mögliche Umstrukturierungen und Umplanungen nicht hinausgezögert werden können, sondern bereits vor der finalen gerichtlichen Sanktionierung mit ihrer Umsetzung begonnen werden muss. Damit liegt der Unterschied zwischen Verwaltungssanktionsverfahren und kernstrafrechtlichen Verfahren lediglich in der Dauer der Ungewissheit, ob es zum Vollzug kommt. Dies ist jedoch auch in kernstrafrechtlichen Verfahren kein unbekanntes Phänomen, gibt es für solche doch ebenfalls die Möglichkeit, erstinstanzliche Entscheidungen in Berufungs- und Revisionsverfahren anzufechten. Somit sind die dargestellten mittelbaren Belastungen aus einer administrativ verhängten Sanktion bei ausgesetztem Sofortvollzug nicht derart schwerwiegend, als dass sich daraus eine Einschränkung für die Zulässigkeit strafrechtsähnlicher Sanktionsverfahren ergeben würde.

65

Frenz, Handbuch Europarecht, Band 2, Rn. 2978. Auf Belastungen durch die „sich gegebenenfalls zu einem ungünstigen Zeitpunkt ergebende Zahlungspflicht“ hinweisend: Frenz, Handbuch Europarecht, Band 2, Rn. 2978. 66

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Teil 2: Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus 

Zum anderen geht von der Verwaltungssanktionsentscheidung eine gewisse Signalwirkung aus, die Dritte zu einem veränderten Verhalten veranlassen kann. Denkbar ist zum einen der Ausschluss von öffentlichen Vergabeverfahren. Ein solcher sollte jedoch in der Regel mit Verweis auf ein laufendes Anfechtungsverfahren noch abzuwenden sein. Jedoch ist es denkbar, dass Kunden, seien sie Privatpersonen oder ihrerseits ebenfalls Unternehmen, davon absehen, zukünftig Geschäfte mit dem Unternehmen zu machen, gegen das eine Kartellbuße verhängt wurde, was Umsatzeinbußen zur Folge hätte. Diese Einbußen dürften in aller Regel jedoch kein existenzbedrohendes Ausmaß annehmen. Zu beachten ist jedoch, dass sie anders als Geldbußen in ihrer Wirkung nicht gänzlich reversibel sind. Dieser Umstand könnte dafür sprechen, dem Fakt, dass aus der schieren Sanktionsentscheidung Umsatzeinbußen resultieren, einiges Gewicht bei der Abgrenzung kernstrafrechtlicher von strafrechtsähnlichen Sanktionen zukommen zu lassen. Ergibt die gerichtliche Kontrolle, dass eine Verwaltungssanktionsentscheidung nicht nur bezüglich einiger Details, sondern grundsätzlich in der Sache falsch war, so ist ein Staatshaftungsanspruch wegen der erlittenen Umsatzeinbußen denkbar.67 Sind hingegen nur Details einer Verwaltungssanktionsentscheidung durch das kontrollierende Gericht kritisiert worden, so dürften diese Details kaum für einen niedrigeren Umsatz ausschlaggebend gewesen sein, so dass dieser Aspekt bei der Abgrenzung strafrechtsähnlicher von kernstrafrechtlichen Sanktionen dahinstehen kann. Dass Unternehmen anders als natürliche Personen kein Gewissen haben, an das mittels einer Sanktion appelliert werden könnte,68 ist ein weiterer, sehr entscheidender Grund, wieso eine Begrenzung von Verwaltungssanktionsverfahren für andere als existenzvernichtende Sanktionen nicht notwendig erscheint. Die Sanktionierung von Unternehmen löst nämlich keine Konfliktlage aus, die eine seelische Belastung darstellen könnte. Wäre dies der Fall, so müsste auch für nicht existenzvernichtende Sanktionen unter Umständen sofort ein Gerichtsverfahren durchgeführt werden. Bei Unternehmen ist dies jedoch nicht der Fall. Somit hat eine Verwaltungsentscheidung keine besondere mittelbare Wirkung, die es erfordern würde, sehr hohe, aber nicht existenzvernichtende Sanktionen gerichtlich zu verhängen. 67 Vgl. EuG, Urt. v. 11.07.2007 – Rs. T-351/03, Schneider Electric/KOM, Slg. 2007, II-2251. In diesem Urteil hat das EuG dem Unternehmen Schneider einen Schadensersatzanspruch wegen einer zu Unrecht untersagten Fusion zugesprochen. Der Schaden lag darin, dass Schneider das erworbene Zielunternehmen zu einem geringeren Preis zurückverkaufen musste, als es für die ursprüngliche Akquise bezahlt hatte. In dieser Hinsicht lässt sich durchaus eine gewisse Parallele zu Kartellverfahren ziehen. Wird eine Kartellsanktion zu Unrecht verhängt, so kann dies zu Umsatzrückgängen führen, entweder weil das Unternehmen seine Produkte nur zu einem günstigeren Preis verkaufen kann (ähnlich wie Schneider), oder weil es weniger Produkte absetzt. Ausführlich zum Urteil des EuG: Seitz, EuZW, 2007, 659 ff. 68 Vgl. grundlegend: Coffee, Michigan Law Review, 1981, 386 ff.; Deutscher, Kompetenz zur Europäischen Strafgesetzgebung S.  193; vgl. Silva Sánchez, in: Kempf/Lüderssen/Volk, Unternehmensstrafrecht, S. 67 f.

B. Bestimmung des Begriffs der Strafrechtsähnlichkeit

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3. Gesetzgeberische Einschätzungsprärogative unterhalb der Schwelle der Existenzvernichtung Die voranstehende Argumentation hat dargelegt, dass Verfahrensgarantien stets nur allgemeine Vorgaben machen können und aus ihnen keine detaillierten verfahrensrechtlichen Vorgaben hergeleitet werden können. Aus diesem Grund können aus Art. 6 EMRK auch keine weiteren Vorgaben hergeleitet werden, als dass existenzvernichtende Sanktionen gerichtlich verhängt werden müssen. Das Bestehen einer gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative, die lediglich durch die vorstehenden Ergebnisse begrenzt wird, könnte dies bestätigen. a) Bestehen einer gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative im Grenzbereich kernstrafrechtlicher und strafrechtsähnlicher Sanktionen Während zwischen existenzvernichtenden und nicht-existenzvernichtenden Sanktionen ein qualitatives Alternativverhältnis besteht, würde die Einführung einer Grenze unterhalb des Kriteriums der Existenzvernichtung eher eine quantitative Abgrenzung darstellen. Der Grad der Strafrechtlichkeit – wie auch immer er bestimmt wird – ist somit verschiedenen Wertungen zugänglich.69 So vertreten das deutsche Bundesverfassungsgericht wie auch zum Teil Stimmen in der Literatur die „gemischt qualitativ-quantitative Theorie“, wonach zwischen den Kernbereichen des Strafrechts im weiteren und im engeren Sinn qualitative Unterschiede bestehen, in deren Grenzbereich hingegen nur quantitative Unterschiede.70 In diesem Grenzbereich hat der Gesetzgeber ein gesetzgeberisches Ermessen hinsichtlich der Einordnung einer Tat als zum Strafrecht im engeren oder im weiteren Sinne gehörig, welches er durch die Wahl des Sanktionsverfahrens ausüben kann.71 In den Kernbereichen kriminalstrafrechtlicher bzw. strafrechtsähnlicher Sanktionen muss hingegen das Sanktionsmaß bzw. die Sanktionsart selbst für die Zuordnung zu einem der beiden Sanktionsverfahren streiten. Diese Ansicht stützt das wegweisende Urteil Öztürk des EGMR, wonach sowohl die Tat selbst, als auch deren sanktionsrechtliche Konsequenzen für den Grad der Strafrechtlichkeit relevant sein können: „Such offences were said to be distinguishable from criminal offences not only by the procedure laid down for their prosecution and punishment but also by their juridical characteristics and consequences.“72 69

Vgl. zur Wertungsbedürftigkeit des Begriffes der Strafrechtlichkeit: Deutscher, S. 155, 163. BVerfG, Beschluss v. 21.06.1977 – 2 BvR 70/75, 2 BvR 361/75, BVerfGE 45, 272, 289; BVerfG, Beschluss v. 27.03.1979 – 2 BvL 7/78, BVerfGE 51, 60, 74; mit Bezug zum europäischen Kartellrecht: Kohlhoff, S. 111 ff. 71 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.06.1977 – 2 BvR 70/75, 2 BvR 361/75, BVerfGE 45, 272, 289; vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.03.1979 – 2 BvL 7/78, BVerfGE 51, 60, 74; erläuternd: Böse, S. 39 f.; Deutscher, S. 89; Wagner-von Papp, WuW 2010, 268, 276. 72 EGMR, Urt. v. 21.02.1984 – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, § 46, auf Deutsch: „Es ist davon auszugehen, dass es möglich ist, solche Vergehen von strafrechtlichen 70

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Teil 2: Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus 

Von der Ermessensausübung im Grenzbereich hat der meist nationale Gesetzgeber in der Vergangenheit Gebrauch gemacht, indem er bestimmte Delikte wie beispielsweise Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung entkriminalisiert hat.73 Auch gegenläufige Initiativen zur Einführung eines Unternehmensstrafrechts machen das Bestehen einer gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative deutlich. So gab es in den letzten Jahrzehnten international diverse Gesetzesänderungen, um Unternehmen kriminalstrafrechtlich zur Verantwortung ziehen zu können.74 Für welche Sanktionen ein Ermessensspielraum besteht und welche Sanktionen sich derart qualitativ unterscheiden, dass sie nur einer der beiden Kategorien zugeordnet werden können, kann den jeweiligen Debatten zur Kriminalisierung bzw. Entkriminalisierung bestimmter Delikte jedoch nicht entnommen werden. b) Grenzziehungen unterhalb der Schwelle der Existenzvernichtung als Ausprägung der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative Selbst wenn man nicht der Ansicht folgt, alle Sanktionen außer existenzvernichtende Sanktionen könnten administrativ verhängt werden, sind anderweitige Grenzziehungen zumindest verfahrensgarantierechtlich nicht zwingend. Wird dennoch eine Grenze unterhalb der Existenzvernichtung gezogen, so muss diese quantitativ begründet werden. Denn dann kommt es nur noch auf den Grad der finanziellen Belastung an, nicht aber darauf, ob diese existenzvernichtend ist oder nicht und somit qualitativ unterschiedlicher Natur ist. Eine solche quantitative Abgrenzung ist jedoch verschiedenen Wertungen zugänglich. Während für natürliche Personen eine qualitative Abgrenzung durchaus nicht auf die Freiheitsentziehung beschränkt sein muss, sondern auch einbeziehen kann, inwiefern eine Sanktion aufgrund ihrer spezifischen Schwere mit einem Moralapell einhergeht, kommt für Unternehmen eine qualitative Abgrenzung nur für das Kriterium der Existenzvernichtung in Frage. Dass eine eindeutige Abgrenzung nicht möglich ist, zeigt, dass es sich um einen Bereich der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative handelt und sowohl die Wahl eines strafrechtsähnlichen, als auch eines kernstrafrechtlichen Sanktionsverfahrens möglich ist.

Taten nicht nur anhand des Strafverfahrensrechts zu unterscheiden, sondern auch anhand der juristischen Charakteristika und Rechtsfolgen.“ 73 EGMR, Urt. v. 21.02.1984  – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, § 49; Deutscher, S. 162; vgl. Thürer, ZBl 1986, 241, 258. 74 Bohnert, JURA 1984, 11, 18 f.; Dannecker, GA 2001, 101; de Doelder, in: FS Tiedemann, S. 568 ff.; Deckert, in: Pieth/Ivory, Corporate Criminal Liability, S. 150; Keulen/Gritter, in: Pieth/Ivory, Corporate Criminal Liability, S. 181; Schünemann, in: FS Tiedemann, S. 440 f.; Silva Sánchez, in: Kempf/Lüderssen/Volk, Unternehmensstrafrecht, S.  59 ff.; Pieth/Ivory, in: Pieth/Ivory, Corporate Criminal Liability, S. 11.

B. Bestimmung des Begriffs der Strafrechtsähnlichkeit

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c) Kriminalisierungsinitiativen als Ausübung der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative In den letzten Jahren sind in verschiedenen nationalen Rechtsordnungen für Sanktionen gegen Unternehmen, die bisher dem Verwaltungssanktionsrecht zugeordnet waren, gerichtliche Sanktionsverfahren eingeführt worden. Offensichtlich hielt der Gesetzgeber dies jedoch weder für verfahrensgarantierechtlich geboten, noch hat er andere, schwerwiegendere Bußen eingeführt, wegen derer nur noch ein kernstrafrechtliches Sanktionsverfahren in Frage kommen könnte. Vielmehr ging es offensichtlich darum, sich den höheren Stigmatisierungseffekt von kernstrafrechtlichen Sanktionen zunutze zu machen. So zielt ein Gesetzesantrag im Deutschen Bundesrat aus dem Jahr 2014 nur auf eine Änderung des Sanktionsverfahrens zugunsten einer kernstrafrechtlichen Sanktionierung ab; der bisherige Bußgeldrahmen soll hingegen weiterhin bei 10 % des Vorjahresgesamtumsatzes belassen werden.75 Dass die vorgesehen Sanktionen so schwer seien, dass sie dem Strafrecht im engeren Sinne zugerechnet werden müssten, wird nicht vorgebracht. Vielmehr wird ausgeführt, der Gesetzesentwurf wolle sich die erhöhte Stigmatisierungswirkung von Kriminalstrafen zunutze machen: „Nur mit der Durchführung eines Strafverfahrens ist ein autoritatives, sozialethisches Unwerturteil über die Verbandsorganisation und das ihr anzulastende Verhalten verbunden, während die an eine Ordnungswidrigkeit geknüpfte Geldbuße nach wie vor eher als „Ermahnung“ angesehen und empfunden wird, die keine ins Gewicht fallende Beeinträchtigung des Ansehens und des Leumunds des Betroffenen zur Folge hat.“76

Geht man davon aus, dass bisherige, tatsächlich als Strafrecht im weiteren Sinn eingestufte Sanktionen zu Recht so klassifiziert wurden oder werden konnten, so stellt der Gesetzesentwurf lediglich die Ausübung des gesetzgeberischen Ermessens im Grenzbereich kernstrafrechtlicher und strafrechtsähnlicher Sanktionen dar.77 In Teilen der Mitgliedstaaten der EMRK bzw. der Europäischen Union werden einige Sanktionen gegen Unternehmen (inzwischen) gerichtlich verhängt,78 in an-

75 Landtag Nordrhein-Westfalen, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden, S. 10, § 6 Abs. 4 S. 3. 76 Landtag Nordrhein-Westfalen, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden, S. 25. 77 Inzwischen scheint die Landesregierung den Gesetzesantrag nach einem Regierungswechsel nicht mehr weiter zu verfolgen: Wieduwilt, FAZ v. 04.10.2017, S. 15. 78 de Doelder, in: FS Tiedemann, S. 568 ff.; Federmann, S. 87; Joecks, in: MK, Strafgesetzbuch, Band 1, Vorbem. zu § 25 StGB, Rn. 16; Pieth/Ivory, in: Pieth/Ivory, S. 11; Schünemann, in: FS Tiedemann, S.  440 f.; Silva Sánchez, in: Kempf/Lüderssen/Volk, Unternehmensstrafrecht, S. 59 ff.; historisch, jedoch bereits eine Tendenz zur Einführung und Kriminalisierung von Verbandsstrafen darstellend: Heine, S. 215 ff.

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Teil 2: Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus 

deren (wie auch der Europäischen Union) ausschließlich administrativ.79 Was der ausschlaggebende Umstand zur Kriminalisierung gewisser Taten von Unternehmen ist, könnte nur eine umfassende Analyse sämtlicher Gesetzesvorhaben beantworten. Bemerkenswert ist jedoch, dass Länder, die heute kernstrafrechtliche Sanktionen gegen Unternehmen verhängen, diese früher anders geregelt hatten und ihr System erst später umgestellt haben.80 Die Entscheidung für den Systemwechsel beruhe auf Gründen, wie der „Verbesserung der Präventionswirkung“81, und um deutlich zu machen, dass „juristische Personen unter bestimmten Voraussetzungen auch strafrechtlich haften sollen“82 und grundsätzlich „die gleiche Sozialschädlichkeit von Handlungen natürlicher Personen und solcher, die „durch“ Unternehmen begangen werden“83 ausgeht. Auch der Systemwechsel in anderen Ländern scheint somit nicht mit einer Verschärfung der Sanktionsdrohungen einherzugehen, sondern die Ausübung des gesetzgeberischen Ermessens im Grenzbereich kernstrafrechtlicher und strafrechtsähnlicher Sanktionen darzustellen. 4. Fazit: Unzulässigkeit strafrechtsähnlicher Sanktionsverfahren allein für existenzvernichtende Sanktionen Ob eine Sanktion administrativ verhängt werden darf, oder ein kernstrafrechtliches Sanktionsverfahren gewählt werden muss, entscheidet sich danach, ob eine Sanktion existenzvernichtend wirkt. Dies muss nicht nur bei sofort vollziehbaren Sanktionen der Fall sein. Insbesondere bei einer erst ratenweisen Fälligkeit ist die Wahrscheinlichkeit einer existenzvernichtenden Wirkung jedoch erheblich geringer.84 Auch wenn Verwaltungssanktionen zwar nicht unerhebliche mittelbare Sank­ tionsfolgen nach sich ziehen, vermögen diese jedoch im Ergebnis nicht für eine anderweitige Abgrenzung kernstrafrechtlicher von strafrechtsähnlichen Sanktionen zu streiten. Somit kann allein die Kategorisierung anhand des Merkmals der Existenzvernichtung aus Art. 6 EMRK zwingend hergeleitet werden. Sanktionen unterhalb der Schwelle der Existenzvernichtung können selbstverständlich dennoch gerichtlich verhängt werden. Durch die Wahl eines solchen Verfahrens würde der 79 Dölling/Laue, in: Stanislas/Colette-Basecqz/Nihoul, S. 29; Heine, S. 215 ff.; Kirch-Heim, S.  128 ff.; Pieth/Ivory, in: Pieth/Ivory, Corporate Criminal Liability, S.  11 f.; vgl. Heine, in: FS Lampe, S. 579; vgl. zur Lage in der Europäischen Union den Überblick über das supranationale (europäische)  Sanktionsrecht: Vogel/Brodowski, in: Sieber/Satzger/von HeintschelHeinegg, § 6, Rn. 1 ff. 80 Heine, S. 215 ff.; vgl. mit ausführlichen Quellenangaben hinsichtlich vieler verschiedener Länder aus unterschiedlichen Rechtskreisen: Kirch-Heim, S.  128 ff.; Pieth, in: FS Eser, S. 599 f. 81 Heine, S. 216, m. w. N. 82 Heine, S. 216, m. w. N.; in der Sache so auch: Pieth, in: FS Eser, S. 599. 83 Heine, S. 216, m. w. N. 84 Zur Möglichkeit Bußgelder ratenweise zu bezahlen siehe Fn. 62 auf S. 70.

C. Auslegungsmethoden

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Gesetzgeber dann seine ihm zustehende Einschätzungsprärogative ausüben, was in einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der EMRK erfolgt ist.

V. Identische Definition von Strafrechtsähnlichkeit im Kontext der EU-GRCh Anders als Art. 6 EMRK weist Art. 47 EU-GRCh nicht das gleiche Regel-Ausnahme-Verhältnis von sofortiger gerichtlicher Sanktionierung als Regel und einem vorgeschalteten Verwaltungssanktionsverfahren als Ausnahme auf. Der Grund liegt darin, dass der Wortlaut von Art. 47 Abs. 1 EU-GRCh lediglich von einem Rechtsbehelf bei einem Gericht gegen Verletzungen von unionsrechtlich garantierten Rechten spricht. Somit streitet die Verfahrensgarantie der EU-GRCh nicht per se für ein sofortiges Gerichtsverfahren, sondern impliziert im Gegenteil vielmehr, dass ein anderes vorgeschaltetes Verfahren der Regelfall ist. Jedoch würde genauso wie bei Art. 6 EMRK die administrative Verhängung existenzvernichtender Bußgelder zu einem Leerlaufen der Garantie führen. Der gleiche Effekt würde auch bezüglich der weiteren Verfahrensgarantien aus Art. 48 EU-GRCh eintreten. Somit kann die Argumentation zu Art. 6 EMRK zumindest im Ergebnis auch auf Art. 47 und Art. 48 EU-GRCh übertragen werden.

C. Auslegungsmethodenfür die Bestimmung des strafverfahrensgarantierechtlichen Mindestschutzes Um den Mindestschutz von Unternehmen durch strafrechtliche Verfahrensgarantien in Verwaltungssanktionsverfahren zu bestimmen, müssen die jeweiligen Verfahrensgarantien ausgelegt werden. Im Folgenden sollen die dafür anzuwendenden Methoden dargestellt werden und Besonderheiten bei der Auslegung menschenrechtlicher Verträge hervorgehoben werden.

I. Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge als Ausgangspunkt Der Maßstab für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge wie der EMRK und der EU-GRCh ist in der Regel das WÜV. Die Ratifikation dieses Übereinkommens durch alle Vertragsstaaten der EMRK dahingestellt, hat sich der EGMR im Urteil Golder bei der Auslegung von EMRK-Bestimmungen ausdrücklich von den einschlägigen Art.  31–33 WÜV leiten lassen.85 Dies seien, wie vielfach vertre 85 EGMR, Urt. v. 21.02.1975 – No. 4451/70, Golder/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 18, § 29; Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 4, Rn. 18; Gaede, S. 80 f.

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Teil 2: Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus 

ten, im Grundsatz generell akzeptierte Prinzipien des Völkerrechts.86 Aus letztgenanntem Grund wird im Folgenden auch für die Auslegung der EU-GRCh das WÜV als Maßstab herangezogen.87 Nach Art.  31  Abs.  1 WÜV gilt der übliche Auslegungskanon von Wortlaut, Telos und Systematik.

II. Vorrang dynamisch-teleologischer Auslegung Um zu entscheiden, wie dynamisch, also an neue Begebenheiten angepasst, Verfahrensgarantien ausgelegt werden können bzw. müssen, ist deren Charakter zu untersuchen. Völkerrechtliche Verträge können entweder als Austauschvertrag gegenseitige Rechte und Pflichten begründen, oder sie bestehen aus abstrakteren Formulierungen, weswegen sie dann zum Teil eher als Gesetz, denn als Vertrag wahrgenommen werden.88 Diese Verträge werden als „law-making treaties“ oder „traités-loi“ bezeichnet.89 Sowohl die EMRK, als auch die EU-GRCh bestehen aus solchen unbestimmten Formulierungen und haben einen in die Zukunft gerichteten Geltungsanspruch, der sich auf noch nicht konkret vorhersehbare Sachverhalte erstreckt.90 Sie fallen daher in die Kategorie von „traités-loi“.91 Dies hat zur Folge, dass dem ursprünglichen Wortlautverständnis der Vertragsparteien ein eher geringerer Grad an Verbindlichkeit zugemessen wird.92 Stattdessen sind die Garantien der beiden Verträge teleologisch auszulegen und es ist dabei darauf zu achten, dass der jeweilige Zeitgeist Berücksichtigung findet.93 Verträge diesen Charakters werden als „living instrument“ bezeichnet.94 Für die EMRK hat der EGMR im Urteil Tyrer daraus das Argument gezogen, dass er sich bei der Wortlautinterpretation maßgeblich von dem dynamischen Ver 86 EGMR, Urt. v. 21.02.1975 – No. 4451/70, Golder/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 18, § 29; hinsichtlich der Allgemeingültigkeit von Art. 31 WÜV: Gaede, S. 81; Peters/Altwicker, § 2, Rn. 40 sowie insbes. Fn. 129. 87 EuGH, Urt. v. 16.06.1998, Rs. C-162/96, Racke/Hauptzollamt Mainz, Slg. 1998, I-3688, Rn. 24, m. w. N.; EuGH, Urt. v. 25.02.2010 – Rs. C-386/08, Brita/Hauptzollamt Hafen-Hamburg, Slg. 2010, I-1289, Rn. 42. 88 Vgl. Brunnée, in: MPEPIL, International Legislation, Rn. 4 f. 89 Brunnée, in: MPEPIL, International Legislation, Rn. 4. 90 In Bezug auf die EMRK: vgl. EGMR, Urt. v. 23.03.1995 – No.15318/89, Loizidou/Türkei, Series A vol. 310, § 84; Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 4, Rn. 24, 129. 91 EGMR, Urt. v. 27.06.1968  – No. 2122/64, Wemhoff/Deutschland, Series A vol. 7, § 8; EGMR, Urt. v. 21.02.1975  – No. 4451/70, Golder/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 18, § 36; Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 4, Rn. 18, 129. 92 Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 4, Rn. 22. 93 EGMR, Urt. v. 25.04.1978 – No. 5856/72, Tyrer/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 26, § 31; instruktiv zur EMRK: Buß, DÖV 1998, 323, 328; vgl. für die EMRK auch: Peters/Alt­ wicker, § 2, Rn. 41. 94 EGMR, Urt. v. 25.04.1978 – No. 5856/72, Tyrer/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 26, § 31; EGMR, Urt. v. 23.03.1995 – No.15318/89, Loizidou/Türkei, Series A vol. 310, § 71; Bernhardt, GYIL 1999, 11, 16, 24; Peters/Altwicker, § 2, Rn. 41.

C. Auslegungsmethoden

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ständnis eines Begriffes in den Mitgliedstaaten leiten lässt bzw. der Ansicht ist, sich leiten lassen zu müssen.95 Standards, die in den Mitgliedstaaten als etabliert gelten, seien auf die EMRK zu übertragen.96 Dies ist eine Auslegungsmethode, um gesellschaftliche Entwicklungen aufzugreifen und im gesamten Geltungsbereich der EMRK zu etablieren. Zwingend ist sie jedoch nicht. Niedergeschlagen hat sich diese Auslegungsmethode beispielsweise in der Einbeziehung von Verwaltungssanktionsverfahren in den Anwendungsbereich strafrechtlicher Verfahrensgarantien und ist nun bei der Untersuchung maßgeblich, welche Verfahrensgarantien bereits in Verwaltungssanktionsverfahren zwingend berücksichtigt werden müssen.

III. Bestimmung des Schutzstandards durch Abwägungsentscheidung im Rahmen der Prüfung der Einhaltung einer Verfahrensgarantie Doch auch im Rahmen einer dynamisch-teleologischen Untersuchung wird es in Bezug auf einzelne Rechtsgebiete nicht immer möglich sein, den Schutzstandard von Verfahrensgarantien abstrakt und allgemein bestimmen zu können. Dies gilt gerade für Garantien wie bspw. die maximal zulässige Länge eines Verfahrens, deren Einhaltung nur durch die Abwägung einer Vielzahl von Faktoren festgestellt werden kann.97 Dieser Vorgang mutet wie eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen der Rechtsfertigungsprüfung eines Grundrechtseingriffes an, findet tatsächlich aber statt, um den Grundrechtseingriff erst festzustellen98 und wird in diesem Zusammenhang bisweilen als die „Abwägung widerstreitender Belange“99 bezeichnet. Bei gleicher Ausgangslage, also dem gleichen Grad der Strafrechtlichkeit einer Anklage, kann aufgrund der Abwägung das einzuhaltende Garantieniveau unterschiedlich hoch ausfallen. Somit können nur Faktoren aufgezeigt werden, die im Einzelfall mit Bezug zum konkreten Sachverhalt gegeneinander abgewogen werden müssen.

95 EGMR, Urt. v. 25.04.1978 – No. 5856/72, Tyrer/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 26, § 31. 96 EGMR, Urt. v. 25.04.1978 – No. 5856/72, Tyrer/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 26, § 31. 97 Vgl. Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Kapitel 14, Rn. 176. 98 Vgl. zur nötigen Abwägung bei Rechtsnormen, die als Prinzipien ausgestaltet sind: Martens, S. 313 f. 99 Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Kapitel 14, Rn. 176.

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Teil 2: Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus 

IV. Reduktion des Garantiestandards durch implizite Schranken aufgrund von Verhältnismäßigkeitsund Zweckmäßigkeitserwägungen Im Rahmen der erläuterten Abwägungsentscheidung finden in der Rechtsprechung des EGMR auch Zweckmäßigkeitsüberlegungen Einzug. Auf diesem Weg werde, so wird zum Teil geäußert, von einer absoluten Bindung an den Wortlaut abgewichen.100 Im Urteil Janosevic führt der EGMR dazu aus: „This right [der Anspruch auf ein Gericht, Anm. d. Verf.] is not absolute, but may be subject to limitations permitted by implication. However, these limitations must not restrict or reduce  a person’s access in such  a way or to such an extent that the very essence of the right is impaired. Furthermore, they will not be compatible with Article 6 § 1 if they do not pursue a legitimate aim or if there is not a reasonable relationship of proportionality between the means employed and the aim sought to be achieved.“101

Neben dem Recht auf Zugang zu einem Gericht werden in der Literatur bspw. vereinzelt der Zeugenbeweis und der Anspruch auf Öffentlichkeit bei einer Verhandlung als Fälle angeführt, die Zweckmäßigkeitsüberlegungen zugänglich sein sollen, gleichwohl ist eine entsprechende ständige Rechtsprechungspraxis hinsichtlich der beiden letztgenannten Fälle nicht ersichtlich.102 Dennoch stellen die Anerkennung impliziter Schranken ein wichtiges Instrumentarium dar, um strafrechtliche Verfahrensgarantien auf ihren Mindestschutz für Unternehmen in Verwaltungssanktionsverfahren hin zu untersuchen. Eine solche Beschränkung muss im Wortlaut oder zumindest dem Schutzzweck angelegt sein.103 Ob die Unionsgerichte Garantien auch als durch implizite Schranken beschränkbar ansehen, ist nicht ersichtlich. Da sich jedoch in der Praxis der Unionsgerichte die gleichen Probleme wie in der Praxis des EGMR stellen, spricht viel für die Übernahme dieses Argumentationsmusters. Durch die Formulierung, es dürfe nicht der Garantiekern, „the very essence of the right“, beeinträchtigt werden, wird eine Grenze dieser Reduktionsmöglichkeit aufgrund von Zweckmäßigkeitsüberlegungen aufgezeigt. Wie diese Begriffskerngrenze zu definieren ist, wird aber weder in diesem Kontext des Urteils erläutert, 100

Vgl. Grabenwarter/Pabel, § 18, Rn. 31; vgl. Peters/Altwicker, § 3, Rn. 21. EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, § 80, auf Deutsch: „Dieses Recht ist nicht absolut, sondern kann durch implizite Schranken begrenzt werden. Jedoch dürfen diese Beschränkungen nicht das Recht einer Person dergestalt beschränken oder reduzieren, dass dessen Wesensgehalt beeinträchtigt wird. Außerdem sind die Beschränkungen nicht mit Art. 6 EMRK vereinbar, wenn sie kein legitimes Ziel verfolgen oder die Zweck-Mittel-Relation dem entgegensteht.“ Im Wortlaut identisch und anstatt vieler mehr: EGMR, Urt. v. 28.10.1998  – No. 22924/93, Aït-Mouhoub/Frankreich, Reports 1998-VIII, § 52; sinngemäß so auch: EGMR, Urt. v. 27.02.1980 – No. 6903/75, Deweer/Belgien, Series A vol. 35, §§ 48 f.; erläuternd: Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 53. 102 Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Kapitel 14, Rn. 175. 103 EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, § 80. 101

C. Auslegungsmethoden

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noch scheint dies überhaupt abschließend möglich. Voraussetzung für eine solche zulässige Beschränkung ist zunächst, dass die Möglichkeit hierzu im Recht selbst angelegt sein muss und sodann die Beschränkung ein legitimes Ziel verfolgen muss.104 In einem vertretbaren Verhältnis müssen dabei die Mittel und der verfolgte Zweck stehen.105

V. Umsetzungsspielraum für EGMR-Urteile Aber auch wenn durch den EGMR ein bestimmtes Garantieniveau durch ein Urteil festgelegt wurde, steht den Mitgliedstaaten und zukünftig auch der Euro­ päischen Union immer noch ein Umsetzungsspielraum zu, der auch als „margin of appreciation“ bezeichnet wird.106 Gemeint ist damit ein Spielraum, innerhalb dessen die Vertragsstaaten bzw. die Europäische Union entscheiden können, wie sie Urteile des EGMR (und damit eine bestimmte Auslegung einer Garantie) national bzw. auf europäischer Ebene umsetzen wollen,107 wobei dies für die Europäische Union erst nach einem Beitritt zur EMRK von Bedeutung sein wird. Die folgende Untersuchung, welches Garantieniveau bei strafrechtsähnlichen Anklagen zu berücksichtigen ist, kann somit nicht als höchst detaillierte Handlungsanweisung fungieren, wie die Europäische Union Verwaltungssanktionsverfahren auszugestalten hat. Sie ist aus Gründen des bestehenden Umsetzungsspielraums vielmehr darauf beschränkt, grundlegende Leitlinien herauszuarbeiten. Erst im Einzelfall kann eine abschließende Bewertung stattfinden, ob diese eingehalten wurden.108 Besonders deutlich wird dies beispielsweise bei der Frage, welches Beweismaß in strafrechtsähnlichen Verfahren einzuhalten ist.

VI. Fehlende Rechtsfolgenanordnung in Urteilen des EGMR Urteile des EGMR sind in der Regel rein feststellender Natur wie sich aus Art. 41 EMRK ergibt, da ein Anspruch auf gerechte Entschädigung ausweißlich des Wortlautes nur vorgesehen ist, „wenn dies notwendig ist“.109 Da sich die Ver 104

EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, § 80. EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, § 80. 106 EGMR, Urt. v. 08.06.1976  – No. 5100/71 [u. a.], Engel [u. a.]/Niederlande, Series A vol. 22, § 59; EGMR, Urt. v. 07.12.1976 – No. 5493/72, Handyside/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 24, §§ 47 ff.; Gaede, S. 94, m. w. N. aus der Rechtsprechung des EGMR in Fn. 90; van Hoof, in: FS Zwaak, S. 126 ff.; Legg, S. 27 ff.; Peters/Altwicker, § 3, Rn. 18. 107 Vgl. EGMR, Urt. v. 08.06.1976 – No. 5100/71 [u. a.], Engel [u. a.]/Niederlande, Series A vol.  22, § 59; EGMR, Urt. v. 07.12.1976  – No. 5493/72, Handyside/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 24, §§ 47 ff.; Gaede, S. 94; Legg, S. 27 ff.; Peters/Altwicker, § 3, Rn. 18. 108 Ausführlich dazu: Gaede, S. 146 ff. 109 Meyer-Ladewig, Art. 41 EMRK, Rn. 1 und Art. 46 EMRK, Rn. 23; Peters/Altwicker, § 37, Rn. 2. 105

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Teil 2: Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus 

tragsstaaten der EMRK jedoch mit der Unterzeichnung an deren Einhaltung gebunden haben, sind sie auch angesichts eines Feststellungsurteils verpflichtet, der Konventionsverletzung auf nationaler Ebene Abhilfe zu verschaffen, wie der EGMR im Urteil Görgülü feststellt: „It follows, inter alia, that a judgment in which the Court finds a breach imposes on the respondent State a legal obligation […] to choose […] the general and/or, if appropriate, individual measures to be adopted in their domestic legal order to put an end to the violation found by the Court and to redress so far as possible the effects.“110

Wie dies jedoch zu erfolgen hat, legt der EGMR in seinen Urteilen in aller Regel nicht fest. Wendet nun ein anderes Gericht als der EGMR die EMRK an, so besteht die Problematik, dass dieses Gericht, im konkreten Fall die Unionsgerichte, auf keine etablierte Rechtsprechung des EGMR zurückgreifen kann, um konkrete Rechtsfolgen für Konventionsverletzungen auszusprechen. Aus diesem Grund fehlen diesbezügliche Ausführungen auch weitgehend in der entsprechenden Literatur zur EMRK. Da aber gerade die Frage der Rechtsfolge in der Praxis des europäischen Kartellrechts von besonderer Relevanz ist, müssen entsprechende Ausführungen ohne die Möglichkeit zur Bezugnahme auf andere Quellen auskommen. Allein Urteile der Unionsgerichte zur EU-GRCh, die in aller Regel eine entsprechende Rechtsfolgenanordnung enthalten, können als Anhaltspunkte genutzt werden, sofern die geprüften Garantien der EU-GRCh mit denen der EMRK übereinstimmen.

D. Zu berücksichtigende unternehmensspezifische Faktoren bei der Anwendung strafrechtlicher Verfahrensgarantien D. Unternehmensspezifische Faktoren bei strafrechtlichen Verfahrensgarantien

Während der eine Auslegungsschwerpunkt auf der Berücksichtigung des Umstandes liegt, dass Sanktionen im europäischen Kartellrecht nicht in einem gerichtlichen, sondern in einem administrativen Verfahren verhängt werden, soll im Folgenden dargelegt werden, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Verfahrensgarantien auch auf Unternehmen angewandt werden müssen. Menschenrechtliche Garantien, wie sie in der EMRK und der EU-GRCh zu finden sind, sollen gewährleisten, dass natürliche Personen im Rahmen der Nutzung ihrer Rechte und Pflichten durch staatliches Handeln nicht über Gebühr ein-

110 EGMR, Urt. v. 26.02.2004 – No. 74969/01, Görgülü/Deutschland, nicht in der amtlichen Sammlung, § 64, auf Deutsch: „Daraus folgt unter anderem, dass ein Urteil des Gerichtshofes, mit dem er eine Konventionsverletzung feststellt, eine Pflicht für den beklagten Staat nach sich zieht, allgemeine oder gegebenenfalls auch konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um im nationalen Recht die Konventionsverletzung abzustellen und deren Folgen soweit wie möglich zu beseitigen.“

D. Unternehmensspezifische Faktoren bei strafrechtlichen Verfahrensgarantien 

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geschränkt werden (abwehrrechtliche Dimension), dass sie an staatlichem Handeln adäquat partizipieren können (Leistungs- und Teilhaberechte), sowie dass der Staat in Interaktionen mit ihnen verfahrensrechtliche Mindeststandards einhält (Verfahrensgarantien).111 Da Unternehmen durch die Rechtsordnung Rechte verliehen und Pflichten auferlegt werden, erscheint es im Gegenzug grundsätzlich konsequent, ihnen menschenrechtliche Garantien in allen drei Schutzdimensionen zukommen zu lassen: sie so vor staatlicher Willkür zu schützen, ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, an staatlicher Leistungsverwaltung zu partizipieren und ihnen in Auseinandersetzungen mit dem Staat ein faires Verfahren zu garantieren. Ob der Schutz für Unternehmen in gleichem Maße zu garantieren ist, hängt maßgeblich vom Schutzzweck der jeweiligen Garantie ab und somit von der Frage, ob dieser – wie er für natürliche Personen gilt – auch auf Unternehmen übertragbar ist. Dafür sollen zunächst die Eigenschaften von Unternehmen untersucht werden. Anschließend werden daraus die Ansatzpunkte für eine teleologische Unterscheidung ihrer Schutzbedürftigkeit gefolgert.

I. Eigenschaften von Unternehmen im Vergleich mit natürlichen Personen Im deutschen Gesellschaftsrecht und im europäischen Bußgeldrecht wird zwischen den Begriffen Unternehmen und Unternehmensträger differenziert, was für die weitere Untersuchung der Unterschiede von natürlichen Personen und Unternehmen eine wichtige terminologische Grundlage ist. „Das Unternehmen ist eine wirtschaftliche Einheit aus sachlichen und personellen Mitteln, kann jedoch mangels Rechtsfähigkeit nicht Träger von Rechten und Pflichten sein.“112

Jedes Unternehmen muss daher einem Träger zugeordnet werden.113 Unternehmensträger können sowohl Personengesellschaften, als auch Körperschaften verschiedener Ausprägung sein.114 Es gibt aufgrund der Unterscheidung zwischen Unternehmen und Unternehmensträgern somit zwei Anknüpfungspunkte für die Untersuchung der Unterschiede zu natürlichen Personen. In nationalen bzw. europäischen Gesetzten wird bei der Bußgeldbemessung gegen Unternehmen nicht an die als Rechtsträger auftretende Gesellschaft angeknüpft, sondern im Wortlaut allgemein auf die operative Einheit Unternehmen

111

Vgl. anstatt vieler: Grabenwarter/Pabel, § 19, Rn. 1. Bitter/Heim, § 1, Rn. 22; vgl. auch: Jung, § 18, Rn. 1; Lettl, § 4, Rn. 107 ff.; grundlegend: Schmidt, § 3, Rn. 1 ff. 113 Bitter/Heim, § 1, Rn. 22; Jung, § 18, Rn. 2; Lettl, § 4, Rn. 109. 114 Bitter/Heim, § 1, Rn. 22; vgl. Jung, § 18, Rn. 2; vgl. Lettl, § 4, Rn. 110. 112

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Teil 2: Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus 

abgestellt.115 Der Begriff Unternehmen wird in der Rechtsprechung rein funktional definiert:116 „Der Begriff des Unternehmens umfasst jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“117.

Partei im behördlichen bzw. gerichtlichen Verfahren wiederum ist der Unternehmensträger, also die Gesellschaft.118 1. Gründung von Gesellschaften aufgrund rechtsgeschäftlichen Gründungsaktes Entstehen kann ein Unternehmensträger nur, indem sich eine oder mehrere Personen durch einen Gesellschaftsvertrag verpflichten, einen gemeinschaftlichen Zweck zu verfolgen.119 Die Gründung erfolgt also aus einem Akt überein­ stimmender Willensäußerungen.120 Ihre Entstehung ist somit nicht biologisch begründet, sondern rechtsgeschäftlich, was zur Einordnung als rechtliches Konstrukt führt. 2. Rechtspersönlichkeit nur aufgrund gesetzlicher Anordnung Während natürliche Personen grundsätzlich als rechtsfähig angesehen werden,121 muss als Rechtsträger fungierenden Unternehmensträgern durch die jeweilige nationale Rechtsordnung erst eine Rechtspersönlichkeit verliehen werden. Dies erfolgt beispielsweise für die deutsche GmbH gem. § 13 Abs. 1 GmbHG: „Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung hat als solche selbständig ihre Rechte und Pflichten; sie kann Eigentum und andere dingliche Rechte an Grundstücken erwerben, vor Gericht klagen und verklagt werden.“ 115 Kirch-Heim, S.  113 f.; Art.  101  Abs.  1  AEUV i. V. m. Art.  103  Abs.  2  lit.  a  AEUV; Art. 23 Abs. 2 lit. a VO (EG) 1/2003. 116 Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, Band  1, Teil  1, Art.  101 AEUV, Rn.  8; Stocken­ huber, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Band II, Art. 101 AEUV, Rn. 51. 117 Beispielhaft: EuGH, Urt. v. 11.12.2007 – Rs. C-280/06, Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato/ETI [u. a.], Slg. 2007, I-10925, Rn. 38, m. w. N.; sowie jüngst: EuGH, Urt. v. 04.09.2014 – Rs. C-434/13 P, Peter Hannifin Manufacturing/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 39, m. w. N.; Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil 2, Vor. Art. 23 f. VO (EG) 1/2003, Rn. 24; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, Band 1, Teil 1, Art. 101 AEUV, Rn. 7. 118 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil 2, Vor. Art. 23 f., VO (EG) 1/2003, Rn. 77 ff. 119 Bitter/Heim, § 1, Rn. 4; grundlegend: Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 75 ff. 120 Anstatt aller vgl. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 75. 121 Schmitt, in: MK, BGB, Band 1, § 1 BGB, Rn. 13.

D. Unternehmensspezifische Faktoren bei strafrechtlichen Verfahrensgarantien 

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Wird Personengesellschaften keine umfassende Rechtsfähigkeit im Sinne einer Rechtspersönlichkeit zugesprochen,122 so sind diese in der Regel jedoch zumindest teilrechtsfähig; sie können danach im Rahmen ihrer geschäftlichen Tätigkeit Rechte erwerben und Pflichten eingehen.123 Dies genügt, um ihre Funktion als Rechtsträgerin im Rechtsverkehr anzuerkennen und sie als von ihren Gesellschaftern losgelöste, rechtlich eigenständige Entitäten zu betrachten. Anders als natürliche Personen erlangen Unternehmensträger insgesamt nicht aus sich selbst heraus, sondern erst durch die Rechtsordnung eigene Rechte und gegebenenfalls eine eigene Rechtspersönlichkeit. 3. Erfordernis gesetzlicher Vertretung Da Unternehmensträger als rechtliches Konstrukt nicht eigenständig handeln können, müssen sie durch eine natürliche Person vertreten werden. Für die deutsche GmbH beispielsweise wird in § 35 Abs. 1 S. 1 GmbHG deshalb angeordnet: „Die Gesellschaft wird durch die Geschäftsführer gerichtlich und außergerichtlich vertreten.“

Natürliche Personen bedürfen in der Regel nur bei Minderjährigkeit einer gesetzlichen Vertretung.124 Ansonsten können sie eigenständig rechtsgeschäftlich handeln. 4. Erfahrenheit im Rechtsverkehr Der funktionale Unternehmensbegriff ist von der Vorstellung geprägt, dass Unternehmen am Markt als Marktteilnehmer tätig sind.125 Sie sind im Rechtsund Geschäftsverkehr erfahrener als natürliche Personen, die als Privatpersonen handeln, und können deshalb in dieser Hinsicht als weniger schutzbedürftig angesehen werden. Dieser Aspekt hat sich beispielsweise im deutschen Handelsgesetzbuch in den §§ 343 ff. HGB niedergeschlagen. Sie gehen dem allgemeinen Schuldrecht vor, sofern sie eigene oder ergänzende Regelungen treffen.

122 Ausführlich zur Frage, ob bspw. die dt. OHG Rechtssubjekt ist, oder ihre Teilrechtsfähigkeit dies ausschließt: Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1362 ff., m. w. N. 123 Mit Bezugnahme auf die deutsche OHG: Bitter/Heim, § 6, Rn. 3 f.; ebenfalls in Bezug auf die deutsche OHG: Roth, in: Baumbach/Hopt, § 124 HGB, Rn. 2; Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1362 ff. 124 Vgl. die Regelungen im dt. Recht: §§ 104 ff. BGB. 125 Vgl. Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, Band 1, Teil 1, Art. 101 AEUV, Rn. 15; Stockenhuber, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Band II, Art. 101 AEUV, Rn. 53.

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Teil 2: Grundlegungen für die Bestimmung des Verfahrensgarantieniveaus 

II. Teleologische Unterschiede hinsichtlich der Schutzbedürftigkeit von Unternehmen und natürlichen Personen Natürliche Personen erlangen ihre grundsätzliche Schutzbedürftigkeit, wie auch ihre Rechtsfähigkeit aus dem Umstand ihres Menschseins.126 Unternehmensträger hingegen stellen ein rechtliches Konstrukt dar, das keinen solchen Menschenwürdekern besitzt.127 Dies spricht dafür, Verfahrensgarantien nicht bzw. nur in geringerem Maße auch auf Unternehmen anzuwenden, soweit die Schutzbedürftigkeit allein oder überwiegend der Menschenwürde entstammt. Weitere verfahrensrechtliche Schutzgehalte für natürliche Personen existieren jedoch auch aufgrund allgemeiner rechtsstaatlicher Überlegungen. Danach sind alle natürlichen Personen in der Interaktion mit dem Staat und damit insbesondere im Rahmen von Strafverfahren unter anderem fair und vor allem gleich zu behandeln.128 Ausprägung dieses allgemeinen Gedankens sind Art. 6 EMRK bzw. Art. 47 und 48 EU-GRCh. Unternehmensträger unterscheiden sich in dieser Hinsicht in ihrer Position als Verfahrenspartei nicht grundlegend von natürlichen Personen. Ist der Schutz allgemein rechtsstaatlich motiviert, ist daher von einer grundsätzlichen Schutzwürdigkeit von Unternehmen auszugehen. Zu beachten ist jedoch auch im Kontext rechtsstaatlich begründeter Verfahrensgarantien, dass deren (teilweise) Nichtgewährung Unternehmen weniger hart trifft als natürliche Personen. Denn Partei des Verfahrens ist ein rechtliches Konstrukt, das nur aufgrund eines Gesellschaftsvertrages besteht, selbst nicht handeln kann und keine genuin eigene Rechtssubjektivität hat. Diese wird ihm nur durch die Rechtsordnung verliehen. Die Natur des Subjekts, das durch rechtsstaatliche Verfahrensgarantien geschützt werden soll, ist somit eine andere als die von natürlichen Personen. Die Nichtgewährung von Verfahrensgarantien hat somit für Unternehmen weniger negative Auswirkungen als für natürliche Personen. Jedoch kann dieser Umstand dafür nicht als pauschaler Rechtfertigungsgrund herangezogen werden, sondern darf allenfalls als einer von mehreren Abwägungsfaktoren berücksichtigt werden. Daneben kann die höhere Versiertheit von Unternehmen im Wirtschafts- und Rechtsverkehr die Schutzbedürftigkeit ebenfalls mindern. Insgesamt lässt sich feststellen, dass es grob verfehlt wäre, Unternehmen wegen der ihnen fehlenden Menschenwürde als überhaupt nicht schützenswert zu bezeichnen, jedoch erscheint ein geringeres Schutzniveau im Vergleich zu natürlichen Personen abhängig von der jeweiligen Verfahrensgarantie denkbar. 126 Bereits aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ergibt sich das Gebot an den Staat, die Würde des Menschen zu schützen. Dieser Aussage liegt eine grundsätzliche Schutzbedürftigkeit zugrunde. Vgl. Schmitt, in: MK, BGB, Band 1, § 1 BGB, Rn. 13; von Hein, in: MK, Band 10, Art. 6 EGBGB, Rn. 246. 127 Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut „Würde des Menschen“. Vgl. auch: Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Band 1, Art. 1 GG, Rn. 18; Dreier, in: Dreier, Band I, Art. 1 GG, Rn. 64. 128 So für die deutsche Rechtsordnung, jedoch hinsichtlich des Gedankenganges auf die europäische Ebene übertragbar: Schulze-Fielitz, in: Dreier, Band II, Art. 20 GG, Rn. 204 ff.; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Band 2, Art. 20 GG, Rn. 305, 323 ff.

Teil 3:

Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts mit strafrechtlichen Verfahrensgarantien Die Praxis, Kartellbußgelder durch eine Verwaltungsentscheidung zu verhängen, lässt sich durch die fehlende Strafkompetenz der Europäischen Union begründen. Damit einher gehen Vorteile wie eine höhere Sachnähe der Verwaltung und ein erheblich effizienteres Verfahren. Diese werden zum einen durch ein weniger förmliches Verfahren erreicht, zum anderen – so wird vertreten – indem bestimmte strafrechtliche Verfahrensgarantien nicht gewährt werden: „Strafrecht im weiteren Sinn bzw. Quasi-Strafrecht soll die klassischen strafrechtlichen Garantien vermeiden.“1

So können sich Unternehmen derzeit unter anderem nicht auf ein Aussageverweigerungsrecht für selbstbelastende Aussagen berufen, sie können weder Belastungszeugen befragen, noch Entlastungszeugen laden lassen und sie müssen das Vorliegen rechtfertigender Umstände selbst belegen. Die finale Entscheidung wird faktisch von Beamten getroffen, die bereits vorher die Untersuchung geleitet haben und eine erste Mitteilung mit den Beschwerdepunkten verfasst haben, so dass ihre Fähigkeit, Gegenargumente der Unternehmen unvoreingenommen zu würdigen, in Frage gestellt werden kann. Effizienzüberlegungen können aber in aller Regel kein Grund sein, Verfahrensgarantien einzuschränken, sondern allenfalls das Motiv dafür.2 Entscheidend dafür, ob eine Verfahrensgarantie im europäischen Kartellverfahren zu berücksichtigen ist, sind zwei Punkte: Zum einen muss ihr Schutzzweck auf Unternehmen anzuwenden sein. Zum anderen muss die Anwendung dieser Verfahrensgarantie mit den Charakteristika von Verwaltungsverfahren zu vereinbaren sein. Sollte dies nicht der Fall sein, so ist zu untersuchen, inwieweit eine spätere Verwirklichung der Verfahrensgarantie im Rahmen eines möglicherweise anschließenden gerichtlichen Anfechtungsverfahren in Frage kommt. Dies ist die grundlegende Voraussetzung, um am strafrechtsähnlichen Charakter von Kartellbußgeldern festhalten zu können und diese weiterhin in einem administrativen Sanktionsverfahren verhängen zu können. Einen Versuch, den Schutzstandard im europäischen Kartellrecht vor einem anderen Gericht als den Unionsgerichten zu rügen, stellt die Klage des Unterneh 1

Niggli/Riedo, in: Amstutz/Hochreutener/Stoffel, S. 113. Wohl a. A.: Wils, World Comp. 2004, 201, 209.

2

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

mens Outokumpu dar, das angesichts der Solange-Rechtsprechung den nationalen verfassungsgerichtlichen Klageweg in Deutschland für eröffnet hielt:3 „Die Entwicklung der Rechtsprechung im Bereich des EU-Kartellrechts in seiner Gesamtheit habe mittlerweile dazu geführt, dass die generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards vor den Unionsgerichten nicht mehr erreicht werden könne.“4

Zu einer Auseinandersetzung mit dieser Frage kommt es im Urteil jedoch nicht, da das deutsche Bundesverfassungsgericht die Klage im Jahr 2016 aus verschiedenen, nicht unmittelbar mit dem Grundrechtsstandard zusammenhängenden Gründen abgewiesen hat.5 Es bedarf somit weiterhin einer Auseinandersetzung mit dem Garantiestandard, wie er derzeit von der Europäischen Kommission praktiziert und von den Unionsgerichten gefordert wird. Die folgende Darstellung folgt dem Aufbau von Art. 6 EMRK. Gleichwohl findet auch jeweils eine Auseinandersetzung mit den korrespondierenden Garantien der EU-GRCh statt. Den Abschluss bildet die Untersuchung, wie eine umfassende gerichtliche Kontrolle durchgeführt werden muss, um unvermeidliche verfahrensgarantierechtliche Defizite im Verwaltungssanktionsverfahren zu kompensieren.

A. Zulässigkeit vorgeschalteter Verwaltungssanktionsverfahren trotz Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht Für natürliche Personen ist es schon seit den 1980er Jahren anerkannt, dass bestimmte Sanktionen nicht in einem Gerichtsverfahren verhängt werden müssen, sondern ein administratives Sanktionsverfahren zulässig sein kann. Mit dem Urteil Menarini aus dem Jahr 2011 hat der EGMR dies nunmehr auch für Unternehmen explizit bestätigt.6 Ob eine Verwaltungsbehörde mit der Kompetenz, Sanktionen zu verhängen, institutionell auf besondere Weise ausgestaltet sein muss, wird in der Rechtsprechung fast gar nicht thematisiert.

3 BVerfG, Beschluss v. 19.07.2016  – 2 BvR 2752/11, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 7 ff. 4 BVerfG, Beschluss v. 19.07.2016  – 2 BvR 2752/11, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 8. 5 BVerfG, Beschluss v. 19.07.2016  – 2 BvR 2752/11, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 15 ff.; für den eingetretenen Fall hält Kirchhoff eine Klage vor dem EGMR gegen das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts für denkbar: Kirchhoff, in: ECLA 2013, S. 389. 6 EGMR, Urt. v. 27.09.2011  – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, § 58; implizit bereits: EKMR, Entscheidung v. 30.05.1991 – No. 11598/85, Société Sténuit/Frankreich, Series A vol. 232-A, § 72.

A. Zulässigkeit vorgeschalteter Verwaltungssanktionsverfahren

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I. Grundsätzliche Zulässigkeit vorgeschalteter Verwaltungssanktionsverfahren Weder der EGMR, noch die Unionsgerichte haben sich in ihren Urteilen bisher damit beschäftigt, ob die Möglichkeit Verwaltungssanktionen gegen Unternehmen verhängen zu können, Grenzen unterliegt. 1. Unklare Grenzen für die Zulässigkeit von Verwaltungssanktionsverfahren in der Rechtsprechung des EGMR Die einzige Voraussetzung für die Zulässigkeit von Verwaltungssanktionsverfahren scheint die Forderung zu sein, dass diese gerichtlich nachkontrollierbar sein müssen. Eine echte Auseinandersetzung findet in keinem der ansonsten oftmals sehr grundlegenden Urteile statt. a) Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR zur Zulässigkeit von strafrechtsähnlichen Sanktionsverfahren gegen natürliche Personen Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiert für natürliche Personen im Fall einer strafrechtlichen Anklage einen Anspruch auf Verhandlung vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht, das auf Gesetz beruhen muss.7 Daraus folgt jedoch nicht zwangsläufig, dass jede Sanktion, welche die Anwendungsvoraussetzungen von Art. 6 EMRK erfüllt, bereits erstinstanzlich durch ein Gericht verhängt werden muss. Vielmehr hat der EGMR mit dem Urteil Engel den Begriff der „strafrechtlichen Anklage“ so ausgelegt, dass die Garantien von Art. 6 EMRK auch durch nicht-kernstrafrechtliche Sanktionen erfüllt sein können, im konkreten Fall durch die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen.8 Dieses Urteil stellt die Grundlage für die Zulässigkeit administrativer Sanktionsverfahren dar. Entscheidend weiterentwickelt hat der EGMR diesen Ansatz im Urteil Öztürk, in welchem er Art. 6 EMRK aufgrund der Engel-Rechtsprechung für in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren anwendbar erklärte, und – das ist die entscheidende Aussage des Urteils – so gleichzeitig die Sanktionierung durch ein Verwaltungsorgan für zulässig erachtete:9 „Having regard to the large number of minor offences, notably in the sphere of road traffic, a Contracting State may have good cause for relieving its courts of the task of their prosecu­ 7 Grundlegend zum Art. 6 EMRK inhärenten Recht auf Zugang zu einem Gericht: EGMR, Urt. v. 21.02.1975 – No. 4451/70, Golder/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 18, § 35. 8 EGMR, Urt. v. 08.06.1976  – No. 5100/71 [u. a.], Engel [u. a.]/Niederlande, Series A vol. 22, §§ 82 ff. 9 EGMR, Urt. v. 21.02.1984 – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, § 56.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts tion and punishment. Conferring the prosecution and punishment of minor offences on administrative authorities is not inconsistent with the Convention provided that the person concerned is enabled to take any decision thus made against him before a tribunal that does offer the guarantees of Article 6 (art. 6).“10

Als Begründung für die Zulässigkeit, dass im vorliegenden Fall zunächst eine Verwaltungsbehörde anstatt eines Gerichts über die Sanktion entscheiden konnte, führt der EGMR an, dass es sich um eine „minor offence“ handele.11 Jedoch wird der Begriff „minor offence“ nicht definiert und auch der Umstand nicht begründet, wieso bei solchen „minor offences“ nicht sofort ein gerichtliches Sanktionsverfahren erforderlich ist. Eine mit der Ausdifferenziertheit der Engel-Kriterien vergleichbare Definition kann aus dem Urteil Öztürk also nicht gezogen werden. In späteren Urteilen hat der EGMR, wie bereits dargestellt,12 administrative Sanktionsverfahren auch für deutlich schwerwiegendere Sanktion als zulässig angesehen.13 Gemein ist allen Urteilen, dass die nachgelagerte Kontrolle durch ein Gericht im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK möglich sein muss.14 b) Zulässigkeit strafrechtsähnlicher Sanktionsverfahren gegen Unternehmen seit den Urteilen Société Sténuit und Menarini Mit der Entscheidung Société Sténuit aus Jahr 1991 hat die EKMR schließlich impliziert, dass die Sanktionierung in einem Verwaltungsverfahren auch für 10 EGMR, Urt. v. 21.02.1984 – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, § 56, auf Deutsch: „Angesichts der großen Anzahl von kleineren Verstößen, insbesondere im Straßenverkehr, können Vertragsstaaten gewichtige Gründe ins Feld führen, ihre Gerichte von der Aufgabe zu entlasten, diese Vergehen zu verfolgen und zu bestrafen. Verwaltungsbehörden mit der Verfolgung und Bestrafung solcher kleinerer Verstöße zu betrauen ist mit der Konvention nicht unvereinbar, vorausgesetzt der betroffenen Person steht das Recht zu, die so getroffene Entscheidung vor einem mit Art. 6 EMRK konformen Gericht anzufechten.“ 11 EGMR, Urt. v. 21.02.1984 – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, § 56. 12 Siehe hierzu auch Teil 2: B. II., S. 65 f. 13 Ohne Einschränkung: EGMR, Urt. v. 24.02.1994 – No. 12547/86, Bendenoun/Frankreich, Series A vol. 284, § 46; EGMR, Urt. v. 14.11.2000 – No. 35115/97, Riepan/Österreich, ECHR 2000-XII, § 39; EGMR, Urt. v. 23.07.2002  – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, § 81; lediglich auf den Unterschied zum Kernstrafrecht verweisend: EGMR, Urt. v. 23.11.2006 – No. 73053/06, Jussila/Finnland, ECHR 2006-IV, § 43; weiterhin auf den Begriff der „minor offence“ abstellend: EGMR, Urt. v. 02.09.1998 – No. 5/1998/908/1120, Kadubec/ Slowakei, Reports 1998-IV, § 57; EGMR, Urt. v. 16.11.2004 – No. 53371/99, Čanády/Slowakei, nicht in der amtlichen Sammlung, § 31; vgl. Vilsmeier, S. 61 ff. 14 EGMR, Urt. v. 21.02.1984  – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73, § 56; EGMR, Urt. v. 24.02.1994  – No. 12547/86, Bendenoun/Frankreich, Series A vol. 284, § 46; EGMR, Urt. v. 14.11.2000 – No. 35115/97, Riepan/Österreich, ECHR 2000-XII, § 39; EGMR, Urt. v. 23.07.2002  – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, § 81; EGMR, Urt. v. 02.09.1998 – No. 5/1998/908/1120, Kadubec/Slowakei, Reports 1998-IV, § 57; EGMR, Urt. v. 16.11.2004  – No. 53371/99, Čanády/Slowakei, nicht in der amtlichen Sammlung, § 31.

A. Zulässigkeit vorgeschalteter Verwaltungssanktionsverfahren

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Sanktionen gegen Unternehmen zulässig sein kann.15 Wegweisend fortgeführt und umfassend erläutert hat der EGMR diese Entscheidung mit seinem Urteil Menarini aus dem Jahr 2011, das sich auf das italienische Kartellrecht bezieht, welches dem europäischen Kartellrecht weitgehend entspricht: „Si confier à des autorités administratives la tâche de poursuivre et de réprimer les contraventions n’est pas incompatible avec la Convention, il faut souligner cependant que l’intéressé doit pouvoir saisir de toute décision ainsi prise à son encontre un tribunal offrant les garanties de l’article 6.“16

Das Urteil Menarini ist dem Urteil Öztürk in vielerlei Hinsicht ähnlich: Als Voraussetzung für die Zulässigkeit einer administrativen Sanktionierung führt das Gericht die notwendige Möglichkeit zur nachgelagerten gerichtlichen Kontrolle an.17 Sodann fehlt im Urteil Menarini ebenfalls eine Auseinandersetzung mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine zunächst administrative Sanktionierung zulässig ist, und ob diese Voraussetzungen im konkreten Fall vorliegen. Da sich das Urteil auf das dem europäischen Kartellrecht nahezu identische italienische Kartellrecht bezieht,18 ist davon auszugehen, dass die Sanktionierung von Kartellverstößen in der Europäischen Union durch die Europäische Kommission zumindest aus Sicht des EGMR mit Art. 6 Abs. 1 EMRK in Einklang steht. Überdies dient das Urteil Menarini trotz der verbliebenen Unklarheiten inzwischen für viele Urteile anderer nationaler und internationaler Gerichte, insbesondere auch der Unionsgerichte als bedeutende Referenz.19

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EKMR, Entscheidung v. 30.05.1991 – No. 11598/85, Société Sténuit/Frankreich, Series A vol. 232-A, § 72. 16 EGMR, Urt. v. 27.09.2011  – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 58, auf Deutsch: „Die Verfolgung und Sanktionierung von Vergehen auf Verwaltungsbehörden zu übertragen ist mit der Konvention nicht unvereinbar, es muss jedoch betont werden, dass die Möglichkeit bestehen bleiben muss, die gesamte, gegen ihn verhängte Verwaltungsentscheidung durch ein Gericht prüfen zu lassen, das den Anforderungen von Art. 6 EMRK entspricht.“ 17 EGMR, Urt. v. 27.09.2011  – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 58. 18 So sieht das italienische Kartellrecht ebenfalls einen Bußgeldrahmen von 10 % des Vorjahresgesamtumsatzes vor: Norme a tutela della concorrenza e del mercato, Legge 10.10.1990 n° 287. 19 Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 13.12.2011  – Rs. C-439/11 P, Ziegler/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn.  140; EuGH, Urt. v. 18.07.2013  – Rs. C-501/11 P, Schindler/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 33 ff.; EuGH, Urt. v. 10.07.2014 – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 51; auch das Schweizer Bundesverwaltungsgericht zitiert Menarini in einem kartellrechtlichen Urteil: BVGer, Urt. v. 14.09.2015 – B-7633/2009, Swisscom/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 61; Swisscom bestätigend: BVGer, Urt. v. 16.09.2016  – B-581/2012, Nikon/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 5.2.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

c) Stellungnahme: Möglichkeit zur gerichtlichen Kontrolle als einzige Voraussetzung für die Zulässigkeit administrativer Sanktionen Aus welchen Gründen es mit Art. 6 EMRK vereinbar sein soll, dass nicht in allen Fällen einer Sanktionierung eine sofortige gerichtliche Entscheidung ergeht, ist mangels weitergehender Argumentation in den einschlägigen Urteilen nicht eindeutig. Erforderlich ist deswegen eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Art. 6 EMRK. Für die Zulässigkeit administrativer Sanktionsverfahren kann zunächst der Wortlaut angeführt werden, der lediglich vom Anspruch spricht, dass „über eine […] strafrechtliche Anklage von einem […] Gericht […] verhandelt wird.“ Zwar besteht ein Konditionalzusammenhang zwischen der Anklage und dem Recht auf eine Gerichtsverhandlung. Gleichwohl erscheint ein temporaler Unmittelbarkeitszusammenhang nicht zwingend. Es erscheint demnach zumindest mit dem Wortlaut vereinbar zu sein, eine nachgelagerte gerichtliche Kontrolle für die Wahrung des Anspruchs auf Entscheidung durch ein Gericht genügen zu lassen. Untersucht man den Telos der Gerichtsgarantie, so zeigt sich, dass sich dieser bereits im Wortlaut derselben wiederfindet: nämlich, dass über eine strafrechtliche Anklage von einem unparteiischen und unabhängigen Organ eine weisungsfreie Entscheidung getroffen werden soll, die keinen politischen oder sonstigen exekutiven Einflüssen unterliegt. Durch eine nachgelagerte gerichtliche Kontrolle kann diesem Schutzzweck, genauso wie dem Wortlaut, durchaus genügt werden.20 Ob sowohl der Wortlaut, als auch der Telos der Gerichtsgarantie hingegen mit jeglicher administrativer Sanktionsverhängung vereinbar sind, erscheint zweifelhaft. Denn zum einen würde der Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht auf einen Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle durch ein unabhängiges und unparteiisches Organ reduziert, wenn man zuließe, dass jegliche Sanktion in einem Verwaltungsverfahren verhängt werden darf. Zum anderen kann eine administrativ verhängte Sanktion für ein Unternehmen derart erdrosselnd wirken, dass sie zu dessen unmittelbarer Existenzvernichtung führt, und das Unternehmen nicht mehr in der Lage ist, eine nachgelagerte gerichtliche Überprüfung der Verwaltungssanktion anzustrengen. Dies ist, wie bereits im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Strafrechtsähnlichkeit erörtert, mit einem administrativen Sanktionsverfahren unvereinbar. Denn da auch im Fall administrativer Sanktionsverfahren alle strafrechtlichen Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK eingehalten werden müssen – nur möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt als in kernstrafrechtlichen Verfahren  –, können derart schwerwiegende Sanktionen nicht mehr als strafrechtsähnlich eingestuft werden. Eine administrative Sanktionierung ist daher wie dargelegt bei unmittelbar existenzvernichtenden Sanktionen 20

Vgl. Ackermann, NZKart 2015, 17, 23.

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weder mit dem Wortlaut, noch mit dem Schutzzweck von Art. 6 EMRK vereinbar. In allen anderen Fällen kann der Anspruch auf Entscheidung durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht bei umfassender, nachgelagerter gerichtliche Kontrolle gewahrt werden.21 Die Vereinbarkeit von Kartellbußen der Europäischen Kommission hängt somit vom Einzelfall ab. 2. Keine Aussage der EU-GRCh zur Zulässigkeit strafrechtsähnlicher Sanktionsverfahren Vor dem EuGH wurde der Umstand, dass es sich bei der Europäischen Kommission um kein Gericht handelt, wiederholt kritisiert, jedoch vom Gericht unter Verweis auf die Menarini-Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK ohne weitere Argumentation als unbeachtlich abgetan.22 Und auch vor dem Urteil Menarini haben die Unionsgerichte die Praxis gebilligt, dass mit der Europäischen Kommission kein Organ der Judikative über Kartellbußgelder entscheidet, und dabei auf die Rechtsprechung des EGMR zu Verwaltungssanktionen gegen natürliche Personen abgestellt.23 Aus der EU-GRCh selbst ergeben sich keine direkten Anhaltspunkte zur Zulässigkeit von Verwaltungssanktionsverfahren gegen Unternehmen. Art. 47 Abs. 1 EUGRCh gewährt das Recht, einen Rechtsbehelf vor einem Gericht einzulegen. Ein Anspruch auf sofortige Entscheidung durch ein Gericht ergibt sich daraus nicht. Unklar ist, ob aus der Regelung in Abs. 2 ein solcher Anspruch abgeleitet werden kann. Der Wortlaut suggeriert keine Einschränkung, indem er die Rechtsfolge gleichsam zur Tatbestandsvoraussetzung macht: „Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem […] Gericht […] verhandelt wird.“ Würde man daraus jedoch ein Recht auf eine sofortige gerichtliche Entscheidung ableiten, so läge darin ein systematischer Widerspruch zu Abs. 1. Einzig bei Bußgeldern, die unmittelbar zur Insolvenz eines Unternehmens führen, kann dem Anspruch auf gerichtliche Kontrolle nicht genügt werden, was, wie bereits abstrakt erörtert, zur Unzulässigkeit existenzvernichtender Bußgelder führt. Die EU-GRCh lässt somit genauso wie die EMRK die Verhängung existenzvernichtender Bußgelder in Verwaltungssanktionsverfahren nicht zu. Weitergehende Schlüsse bezüglich des Umstandes, dass im europäischen Kartellrecht

21 Zur Möglichkeit der Wahrung der Gerichtsgarantie durch nachgelagerte gerichtliche Kontrolle: Ackermann, NZKart 2015, 17, 23. 22 Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 13.12.2011  – Rs. C-439/11 P, Ziegler/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn.  140; EuGH, Urt. v. 18.07.2013  – Rs. C-501/11 P, Schindler/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn.  33 ff.; EuGH, Urt. v. 10.07.2014  – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 51. 23 Sharpston, Schlussanträge v. 10.02.2011  – Rs. C-272/09 P, KME/KOM, Slg. 2011, I-12860, Rn. 67.

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Bußgelder ausschließlich durch die Europäische Kommission und damit durch ein Organ der Exekutive verhängt werden, ermöglicht die EU-GRCh nicht.

II. Keine besonderen Anforderungen an die Ausgestaltung der Verwaltungssanktionsbehörde In der Literatur wurde wiederholt die fehlende Trennung der Kompetenzen innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb kritisiert, die für die Verfolgung von Kartellverstößen notwendig sind, nämlich das Vorliegen eines solchen Verstoßes zu untersuchen, ein Unternehmen dessen anzuklagen und schließlich über die Verhängung der Geldbuße zu entscheiden.24 Ein Argument, das in diesem Zusammenhang geltend gemacht wird, ist der Umstand, dass die fehlende kompetenzielle Trennung innerhalb der Wettbewerbsbehörde nicht den Anforderungen an ein unabhängiges und unparteiisches Gericht entspricht.25 Ob ein Verwaltungssanktionsorgan diese Kriterien jedoch überhaupt erfüllen muss, kann nur eine Analyse von EMRK und EU-GRCh ergeben. 1. Darstellung und Ablehnung der rudimentären EGMR-Rechtsprechung zur institutionellen Organisation von Verwaltungssanktionsbehörden Zwar hat der EGMR 2009 im Urteil Dubus gefordert, für die Verhängung von Verwaltungssanktionen bedürfe es angesichts von Art. 6 Abs. 1 EMRK eines unabhängigen Entscheidungsgremiums. Gleichwohl ist die diesbezügliche Argumentation nicht besonders ausführlich. Der Versuch, Gründe für die eher feststellende Ansicht des EGMR zu finden, zeigt, dass dessen Schlussfolgerungen nicht gänzlich überzeugen können. a) Erfordernis einer organisatorischen Trennung der untersuchenden und entscheidenden Entitäten nach dem EGMR-Urteil Dubus Im Urteil Dubus aus dem Jahr 2009 prüft der EGMR, ob die französische Bankenaufsicht befugt war, eine Sanktion gegen ein Finanzunternehmen zu verhängen, ohne dass die Ermittlungs- und Entscheidungskompetenzen innerhalb der Behörde getrennt waren. Dafür setzt sich der EGMR mit den verfahrensleitenden

24 de Bronett, ZWeR 2012, 157, 181 ff.; Forrester, Concurrences 2010, 13 ff.; Vilsmeier, S. 64 f.; noch zur alten Rechtslage unter der VO (EWG) 17/62: Montag, ECLR 1996, 428, 429. 25 de Bronett, ZWeR 2012, 157, 182.

A. Zulässigkeit vorgeschalteter Verwaltungssanktionsverfahren

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Bestimmungen auseinander26 und kommt zu dem Schluss, dass die damalige Behördenausgestaltung einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK darstellt. Argumentativer Ansatzpunkt für eine solche Ansicht sind die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der entscheidenden Instanz: „En résumé, la Cour n’est pas convaincue par l’affirmation du Gouvernement sur l’existence d’une séparation organique au sein de la Commission bancaire. Elle estime que la requérante pouvait nourrir des doutes objectivement fondés quant à l’indépendance et l’impartialité de la Commission du fait de l’absence de distinction claire entre ses différentes fonctions.“27

Eine detailliertere Auseinandersetzung mit Art. 6 Abs. 1 EMRK, wieso die fehlende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Entscheidungsinstanz zur Unvereinbarkeit mit dem Anspruch auf Entscheidung durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht führt, ist dem Urteil gleichwohl nicht zu entnehmen. Ebenso setzt sich das Gericht nicht damit auseinander, ob nicht die Möglichkeit einer nachgelagerten, gerichtlichen Kontrolle genügen könnte, um den Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht zu wahren.28 Auch hat diese im Urteil Dubus vertretene Ansicht durch den EGMR keine neuerliche Bestätigung erfahren. Wenn daraus verallgemeinernd – und damit auch für das europäische Kartellrecht – geschlossen wird, die untersuchenden Organe einer sanktionierenden Verwaltungsbehörde dürften nicht auch entscheidungsbefugt sein,29 so ist diese Ansicht genauso wie das Urteil mit seinen argumentativen Lücken zu hinterfragen. b) Ablehnung der Notwendigkeit einer organisatorischen Trennung innerhalb der Verwaltungssanktionsbehörde aufgrund der Gerichtsgarantie Während sich der Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 EMRK, unabhängig und unparteiisch zu sein, nur auf Gerichte bezieht, könnte der zugrundeliegende Schutzzweck durchaus dafür streiten, dass Verwaltungssanktionen nur durch ein von der sons-

26 EGMR, Urt. v. 11.06.2009  – No. 5242/04, Dubus/Frankreich, nicht in der amtlichen Sammlung, §§ 55 ff. 27 EGMR, Urt. v. 11.06.2009  – No. 5242/04, Dubus/Frankreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 61, auf Deutsch: „Im Ergebnis ist das Gericht nicht von der Bekräftigung der Regierung überzeugt, es bestehe innerhalb der Bankenaufsicht eine organschaftliche Trennung. Das Gericht ist der Überzeugung, dass das Fehlen einer klaren Unterscheidung zwischen den verschiedenen Funktionen der Bankenaufsicht bei der Klägerin objektiv begründete Zweifel an deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit wecken konnte.“ 28 Vilsmeier, S. 65, die aus dem Urteil Dubus ableitet, dass „die Unparteilichkeit des erst­ instanzlichen behördlichen Entscheidungsträgers zwingend erforderlich ist und hier keine­ Abstriche gemacht werden können.“ 29 Vilsmeier, S. 64 f., wobei die dort in Fn. 282 zitierten Autoren nur vermeintlich gleicher Ansicht sind.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

tigen Behörde unabhängiges und unparteiisches Entscheidungsgremium verhängt werden dürfen. Die Voraussetzung hierfür wäre, dass ein solches Entscheidungsgremium überhaupt in der Lage ist, den verfolgten Schutzzweck zu erfüllen, nämlich Einflussnahmen auf den Prozess der Entscheidungsfindung zu minimieren und die so getroffene Entscheidung zu legitimieren. Sodann müsste die Etablierung eines solchen Gremiums aber nicht nur möglich, sondern verfahrensgarantierechtlich auch geboten sein und darüber hinaus mit den Charakteristika eines Verwaltungssanktionsverfahrens vereinbar sein. aa) Unmöglichkeit der Wahrung der Unparteilichkeit auch bei einer Neuorganisation der Behörde Die Unparteilichkeit eines Gerichts beurteilt der EGMR in objektiver (institutionell-organisatorischer) und in subjektiver Hinsicht.30 Bedenken bestehen bei einer monistischen Behördenausgestaltung aber nur bezüglich der objektiven Unparteilichkeit. Denn die subjektive Unparteilichkeit muss auch in Verwaltungssanktionsverfahren allein deshalb uneingeschränkt gewahrt werden, da sachfremde Argumente auch unabhängig von der Geltung von Art. 6 EMRK zur Nichtigkeit einer Sanktionsentscheidung führen können. Dieser Dimension der Unparteilichkeit kann auch bei einer nicht organschaftlich getrennten Verwaltungsorganisation entsprochen werden. Es handelt sich dabei um die deutlich wichtigere Ausprägung des Grundsatzes der Unparteilichkeit,31 der außerdem bereits aus der allgemeinen Geltung des Rechtsstaatsprinzips folgt.32 Die objektive Unparteilichkeit hingegen beurteilt der EGMR nach äußeren Umständen.33 In Gerichtsverfahren kommt es für die Annahme eines Verstoßes gegen die objektive Unparteilichkeit nicht einmal darauf an, dass ein Richter mit einer Sache konkret vor seiner richterlichen Tätigkeit befasst war.34 Vielmehr ist die objektive Unparteilichkeit in Gerichtsverfahren bereits dann nicht gewährleistet, wenn ein Richter mit einem zu entscheidenden Fall in einem früheren Verfahrensstadium in seiner damaligen Funktion als Staatsanwalt schon nur zu tun gehabt haben konnte.35 Genau dies aber ist bei einer Kompetenzbündelung von Untersuchungs-, Anklage- und Entscheidungsfunktion innerhalb einer Behörde der Fall.

30

EGMR, Urt. v. 15.12.2005 – No. 73797/01, Kyprianou/Zypern, ECHR 2005-XIII, § 118; grundlegend zur Unterscheidung: Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 306 ff.; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 213 ff. 31 Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 213. 32 Schmidt-Aßmann, Handbuch des Staatsrechts, 2. Auflage, Band III, § 70, Rn. 14. 33 EGMR, Urt. v. 29.07.2004 – No.  77562/01, San Leonard Band Club/Malta, ECHR 2004-IX, § 60; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 216. 34 EGMR, Urt. v. 01.10.1982 – No. 8692/79, Piersack/Belgien, Series A vol. 53, § 30 lit. c. 35 EGMR, Urt. v. 01.10.1982 – No. 8692/79, Piersack/Belgien, Series A vol. 53, § 30 lit. d.

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Die derzeitige Struktur der Generaldirektion Wettbewerb kann den Anforderungen der objektiven Unparteilichkeit deshalb nicht genügen.36 Doch auch eine Reorganisation der Generaldirektion Wettbewerb, im Rahmen derer ein unabhängiges und unparteiisches Entscheidungsgremium eingeführt werden könnte, hätte nicht zur Folge, dass die Behörde unabhängig und unparteiisch im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK wäre. Da der EGMR die objektive Unparteilichkeit nämlich auch nach äußeren Umständen beurteilt, wäre es notwendig, die kompetenzielle Trennung auch nach außen sichtbar und nachvollziehbar zu machen. Dies ist jedoch kaum möglich, wenn die untersuchenden und die entscheidenden Beamten der gleichen Behörde angehören. Es wird immer der Eindruck bestehen, dass die entscheidenden Beamten zumindest auch im Sinne des Interesses der Behörde entscheiden. Dies ist auch deswegen der Fall, weil sie weiterhin Teil der Exekutive wären. Im Ergebnis wäre somit auch ein eigenständiges Entscheidungsgremium innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb stets nur unparteiischer, jedoch nie unparteiisch im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK. bb) Unmöglichkeit der Wahrung der Unabhängigkeit auch bei einer Neuorganisation der Behörde Neben der Unparteilichkeit ist auch die Unabhängigkeit als weitere Forderung aus Art. 6 Abs. 1 EMRK zu beachten, die mit dieser in einem engen Zusammenhang steht.37 So dürfen Richter nicht weisungsgebunden sein, um als unabhängig im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu gelten, und sie dürfen für ihre Tätigkeit auch keine Rechenschaft schulden.38 Jedoch ist es gerade eines der Hauptcharakteristika von Behörden, dass ihre Mitarbeiter weisungsgebunden und rechenschaftspflichtig sind.39 Abermals ließe sich innerhalb einer Behörde sicherlich ein weitgehend unabhängiges Entscheidungsorgan etablieren.40 Doch auch in dieser Hinsicht lässt sich der Anschein der Abhängigkeit nicht leugnen, wäre doch auch ein unabhängiges Entscheidungsgremium weiterhin Teil einer Verwaltungsbehörde und damit Teil der Exekutive.

36 Ausführlich, wieso Verwaltungsbehörden nicht den Anforderungen an ein Gericht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprechen können: Andreangeli, S. 52. 37 Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 306. 38 Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 204. 39 Vgl. de Bronett, ZWeR 2012, 157, 178 f. 40 Montag, ECLR 1996, 428, 434.

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cc) Kein zwingendes Erfordernis eines lediglich quasi-unabhängigen und quasi-unparteiischen Entscheidungsgremiums Die Etablierung eines weitgehend unabhängigen und unparteiischen Entscheidungsgremiums mag zwar den Anschein erwecken, dass dann die Möglichkeit politischer und sonstiger Einflussnahme in erheblichem Maße reduziert wäre. Eine solche Einschätzung basiert aber auf der Annahme, dass anderenfalls eine nicht unerhebliche Gefahr von Fehlurteilen bestünde. Dies ist jedoch nicht überzeugend. Denn auch monistisch getroffene Verwaltungsentscheidungen, die keiner weiteren behördeninternen Kontrolle unterliegen, erfolgen nicht willkürlich. Vielmehr sind die zuständigen Beamten, wie bereits dargestellt, auch an das Gebot subjektiver Unparteilichkeit gebunden. Hinzu kommt, dass die angeklagten Unternehmen in der Praxis ihrerseits bereits im Verwaltungssanktionsverfahren Gegenargumente vorbringen, mit denen sich die Verwaltungsbehörde auseinandersetzen muss und gegen die sie ihre eigene Argumentation verteidigen muss, was zu einer weiteren Verifikation der Argumente führt, die von der Behörde vorgebracht werden. Nicht eingehalten werden lediglich die objektive Unparteilichkeit und die Unabhängigkeit. Gerade diese stellen aber weniger eine verfahrensgarantierechtliche Absicherung dar, als vielmehr eine Stärkung der verfahrensrechtlichen Legitimationswirkung. Diese Legitimationswirkung wird durch die Einführung eines unabhängigen und unparteiischen Entscheidungsgremiums zwar in Teilen erreicht, jedoch kann erst eine gerichtliche Kontrolle inhaltlich vollumfängliche Legitimation entfalten. Die Einhaltung von bestimmten Verfahrensgarantien nur aus Gründen der Legitimationswirkung zu fordern – und nicht um ihrer Einhaltung selbst und um des daraus unmittelbar resultierenden Schutzes willen – ist aber vielmehr eine rechtspolitische Forderung, als eine verfahrensgarantierechtlich tatsächlich zwingende Forderung. dd) Fazit: Maßgeblichkeit allenfalls sonstiger Verfahrensgarantien für besondere institutionell-organisatorische Behördenausgestaltungen Die im Urteil Dubus aufgestellte Forderung, dass innerhalb von Verwaltungssanktionsbehörden die untersuchende und die entscheidende Entität getrennt sein müssen, kann aus der Gerichtsgarantie von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht zwangsläufig gefolgert werden.41 Notwendig ist jedoch die Möglichkeit zu einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle. Eine solche Kontrolle im europäischen Kartellrecht vorausgesetzt, ist die derzeitige Organisationsstruktur der Generaldirektion Wettbewerb keinen Bedenken ausgesetzt. 41 Anderer Ansicht, das Urteil Dubus ohne weitere Begründung auf für das europäische Kartellrecht für maßgeblich haltend: Forrester, E. L.Rev. 2009, 817, 837.

A. Zulässigkeit vorgeschalteter Verwaltungssanktionsverfahren

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Entscheidend für eine institutionelle Trennung kann allenfalls der Umstand sein, dass bei Fehlen einer solchen Trennung andere Verfahrensgarantien, wie beispielsweise der Anspruch auf rechtliches Gehör, nicht gewahrt werden können. 2. Keine Vorgaben zur institutionellen Organisation von Verwaltungssanktionsbehörden aus der EU-GRCh Der vorstehenden Stellungnahme entsprechend sind auch die Unionsgerichte der Ansicht, dass es keiner Trennung von ermittelnder, anklagender und entscheidender Stelle innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb bedarf.42 Noch ohne Bezug zur EU-GRCh scheint der EuGH die fehlende institutionelle Trennung von untersuchender, anklagender und entscheidender Stelle innerhalb der Europäischen Kommission nicht für kritikwürdig zu erachten.43 Generalanwältin Sharpston stellt diesbezüglich zunächst fest, dass die Europäische Kommission zweifellos kein unabhängiges und unparteiisches Gericht ist. Ob dem Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht und damit der Forderung nach Unabhängigkeit und Unparteilichkeit Genüge getan wird, werde aber erst im Rahmen der Untersuchung virulent, ob das die Behördenentscheidung kontrollierende Gericht seine umfassende Rechtsprechungsbefugnis ausgeübt hat.44 Wenn sich Unternehmen in Klagen vor den Unionsgerichten nunmehr auf Art. 47 Abs. 2 EU-GRCh berufen, um die fehlende Unparteilichkeit der Europäischen Kommission geltend zu machen, dann tun sie dies in der Regel im Gesamtzusammenhang mit dem Vorbringen, dass die Europäische Kommission mangels Gerichtseigenschaft überhaupt nicht zu einer Entscheidung befugt sei.45 Insofern kann in diesen Ausführungen nicht zugleich die implizite Forderung gesehen werden, die Europäische Kommission müsse intern auf eine bestimmte organisatorische Weise ausgestaltet sein. Und wenn sowieso aus Art. 47 Abs. 2 EU-GRCh schon nicht der Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht abgeleitet werden kann, so kann daraus erst recht nicht unmittelbar auf die notwendige institutionelle Ausgestaltung der für die Sanktionierung zuständigen Verwaltungsbehörde geschlossen werden.

42

EuGH, Urt. v. 07.06.1983 – verb. Rs. 100/80 [u. a.], Musique Diffusion Française [u. a.]/ KOM, Slg. 1983, 1831, Rn. 6 f. 43 In ihren Schlussanträgen zu den Verfahren KME und Chalkor hält Generalanwältin Sharpston die derzeitige Behördenorganisation für unbedenklich, wogegen die nachfolgenden Urteile des EuGH nicht widersprechen: Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 10.02.2011 – Rs. C-272/09 P, KME/KOM, Slg. 2011, I-12860, Rn. 68. 44 Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 10.02.2011 – Rs. C-272/09 P, KME/KOM, Slg. 2011, I-12860, Rn. 68. 45 EuG, Urt. v. 27.03.2014 – Rs. T-56/09 u. T-73/09, Saint-Gobain/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 58 ff.

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Bestätigt wird dies auch durch den Umstand, dass mit Art. 41 EU-GRCh eine für Verwaltungsverfahren direkt anwendbare Regelung besteht, welche die Unparteilichkeit der zuständigen Verwaltungsbehörde fordert. Objektiv-organisatorische Anforderungen werden daraus jedoch offensichtlich nicht gefolgert, sondern vielmehr Anforderungen an die Eigenschaften und das konkrete Verhalten von mit einer Sache befassten Verwaltungsbeamten gestellt.46 Außerdem wird darunter zum Teil das Verbot „sachfremder, willkürlicher Argumente und Verfahrensweisen“47 verstanden. In der Rechtsprechung der Unionsgerichte sind Urteile zur Unparteilichkeit, die explizit auf Art. 41 EU-GRCh Bezug nehmen, extrem rar. Sie beziehen sich in keinem Fall auf die notwendige Ausgestaltung der zuständigen Behörde.48 Im Urteil Ziegler hat der EuGH im Jahr 2013 das vorangegangene Urteil des EuG bestätigt, wonach die Entscheidungserheblichkeit einer möglicherweise fehlenden Unparteilichkeit offensichtlich das maßgebliche Kriterium ist, ohne dies gleichwohl explizit so zu formulieren: „Im vorliegenden Fall hat das Gericht […] ausgeführt, dass ‚der Mangel an Objektivität, den die Kommission gezeigt haben soll, keine Verletzung der Verteidigungsrechte darstellt, die zur Nichtigerklärung der [streitigen] Entscheidung führen kann, sondern im Rahmen der Prüfung der Beweiswürdigung oder der Begründung der Entscheidung zu behandeln ist‘.“49 „Die Frage, ob die Argumentation des Gerichts, soweit es auf die objektive Unparteilichkeit dieselben Anforderungen anwendet wie auf die subjektive Unparteilichkeit, richtig ist oder nicht, betrifft die Begründetheit und kann unabhängig davon, wie die Antwort auf diese Frage ausfällt, […] nicht zu einem Begründungsmangel des angefochtenen Urteils führen.“50

Somit sind auch der EU-GRCh keine Anforderungen zu entnehmen, die eine Trennung von ermittelnder und entscheidender Stelle nötig machen.

III. Fazit: Grundsätzliche Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts mit dem Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht Dass im europäischen Kartellrecht Sanktionen durch die Europäische Kommission verhängt werden und nicht durch ein Gericht, wurde häufig kritisiert. Im Ergebnis ist die derzeitige Praxis jedoch kaum Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Anspruch auf Entscheidung bzw. Kontrolle durch ein Gericht 46

Vgl. Voet van Vormizeele, in: Schwarze, Art. 41 EU-GRCh, Rn. 6. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 41 EU-GRCh, Rn. 10. 48 Eine Ausnahme bzgl. der Auseinandersetzung mit dem Grundsatz der Unparteilichkeit darstellend, jedoch ebenfalls sehr knapp: EuG, Urt. v. 09.12.2014 – verb. Rs. T-472/09 [u. a.], SP/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 185 ff. 49 EuGH, Urt. v. 11.07.2013 – Rs. C-439/11 P, Ziegler/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 150. 50 EuGH, Urt. v. 11.07.2013 – Rs. C-439/11 P, Ziegler/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 152. 47

B. Anspruch auf rechtliches Gehör

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aus Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 47 EU-GRCh ausgesetzt. Somit ist es für alle Sanktionen, außer für unmittelbar existenzvernichtende, zulässig, dass eine Behörde und nicht ein Gericht eine Sanktion verhängt. Ebenfalls mit dem Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht vereinbar ist eine Behördenorganisation, im Rahmen derer untersuchende, anklagende und entscheidende Funktionen in Personalunion wahrgenommen werden. Neben der Sanktionshöhe ist der Umfang der gerichtlichen Kontrolle solcher Verwaltungssanktionsentscheidungen maßgeblich für deren allgemeine Zulässigkeit.

B. Anspruch auf rechtliches Gehör Der Anspruch auf rechtliches Gehör, also die Möglichkeit, in einem Verfahren als Angeklagter den eigenen Standpunkt darlegen zu können, stellt eine der fundamentalen Voraussetzungen für ein faires Verfahren dar. Ob das europäische Kartellrecht mit den Vorgaben aus der EMRK und der EU-GRCh vereinbar ist, erscheint jedoch erheblichen Bedenken ausgesetzt, weil die von den Unternehmen vorgebrachten Argumente von den gleichen Beamten gewürdigt werden, die bereits die Ermittlungen durchgeführt haben und die Mitteilung der Beschwerdepunkte verfasst haben. Auch, ob das Mandat des Anhörungsbeauftragten dieses Defizit zu kompensieren vermag, ist Zweifeln ausgesetzt.

I. Verfahrensgarantierechtliche Grundlagen des Anspruchs auf rechtliches Gehör Dass der Anspruch auf rechtliches Gehör für Unternehmen auch in Verwaltungssanktionsverfahren sowohl nach der EMRK, als auch der EU-GRCh gilt, erscheint unbestritten. Zu untersuchen ist jedoch, welche konkreten Anforderungen sich aus der Rechtsprechung des EGMR bzw. der Unionsgerichte ableiten lassen. 1. Anforderungen aus der EMRK an die Gewährung rechtlichen Gehörs in Verwaltungssanktionsverfahren gegen Unternehmen In der EMRK hat der Anspruch auf rechtliches Gehör seine normative Grundlage im Grundsatz eines fairen Verfahrens.51 In der englischen Fassung der EMRK wird der Grundsatz als „fair hearing“52 bezeichnet; in der französischen Fassung 51

Grabenwarter/Pabel, § 24, Rn.  66, 72; Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art.  6 EMRK, Rn. 360 ff.; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 99 f.; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 114. 52 Wörtlich auf Deutsch: „faire Anhörung“.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

ist er mit der Formulierung „soit entendue équitablement“53 festgeschrieben. Nur in der deutschen Fassung ergibt sich der Anspruch nicht direkt aus dem Wortlaut. Durch einen Vergleich mit den beiden anderen offiziellen Sprachfassungen wird aber deutlich, dass sich eine Auseinandersetzung hinsichtlich der richtigen Rechtsgrundlage erübrigt. a) Vorgaben aus der Rechtsprechung des EGMR zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör von natürlichen Personen Neben der eigentlichen Möglichkeit sich äußern zu können und gehört zu werden, kommt es für die Gewährung rechtlichen Gehörs von natürlichen Personen fundamental darauf an, dass diese zunächst über alle Details der erhobenen Beschuldigung unterrichtet werden. aa) Unterrichtung über alle Details einer erhobenen Beschuldigung Um sich in einem Strafverfahren überhaupt zu einer Sache äußern zu können und angehört zu werden, ist von grundlegender Bedeutung, dass die betroffene Person weiß, dass gegen sie eine Anklage besteht und welche Punkte diese umfasst,54 was auch aus Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK als Ausprägung des Gebots eines fairen Verfahrens hervorgeht. Danach müssen Angeklagte „in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet werden“. Der Sinn und Zweck dieser Garantie ist es, der angeklagten Person überhaupt ihre Verteidigung zu ermöglichen.55 Die Unterrichtung muss dabei sowohl tatsächliche Umstände umfassen, als auch eine erste rechtliche Einordung beinhalten, aus der hervorgeht, welche Delikte dem Angeklagten vorgeworfen werden.56 bb) Notwendiger Umfang der Gewährung rechtlichen Gehörs in Strafverfahren gegen natürliche Personen Unter welchen Voraussetzungen das rechtliche Gehör in einem gerichtlichen Strafverfahren gegen eine natürliche Person als gewährt gelten kann, hängt in er 53

Wörtlich auf Deutsch: „soll auf faire Art und Weise angehört werden“. EGMR, Urt. v. 25.03.1999 – No.  25444/94, Pélissier und Sassi/Österreich, Reports 1999-II, § 51; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art.  6  EMRK, Rn.  114; vgl.  Grabenwarter/Pabel, § 24, Rn. 113. 55 Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 282. 56 EGMR, Urt. v. 25.03.1999 – No.  25444/94, Pélissier und Sassi/Österreich, Reports 1999-II, § 51; EGMR, Urt. v. 19.12.1989  – No. 9783/82, Kamasinski/Österreich, Series A vol. 168, § 79; Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 14, Rn. 138; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 282. 54

B. Anspruch auf rechtliches Gehör

103

heblichem Maß vom Einzelfall ab.57 Sehr pauschal setzt der Anspruch auf rechtliches Gehör voraus, dass dem Angeklagten eine ausreichende Möglichkeit eingeräumt sein muss, seine Ansichten zum Fall vorzutragen.58 Darüberhinaus ist entscheidend, dass das Gericht die vorgetragenen Argumente auch ausreichend würdigt, anderenfalls wäre das Parteivorbringen nicht gewinnbringend.59 b) Uneingeschränkte Übertragbarkeit der Schutzzwecke auf Unternehmen auch in Verwaltungssanktionsverfahren Nicht nur in der Rechtsprechung, sondern auch in der Literatur ist weitgehend ungeklärt, ob und in welchem Maß sich Unternehmen auf einen Anspruch auf rechtliches Gehör berufen können. Dies gilt vor allem für nicht-gerichtliche administrative Sanktionsverfahren. Detaillierte Vorgaben hierzu sind der Rechtsprechung nicht zu entnehmen. aa) Besonderheiten der Gewährung rechtlichen Gehörs in Verwaltungssanktionsverfahren Ob dem Anspruch auf rechtliches Gehör in Verwaltungssanktionsverfahren bei der gängigen monistischen Behördenausgestaltung entsprochen werden kann, erscheint vor allem hinsichtlich der Fähigkeit, Parteivorbringen zu würdigen, gewissen Zweifeln ausgesetzt. Denn Gegenargumente der Parteien werden von denselben Personen gewürdigt, gegen deren Anschuldigungen sich die Parteien zu verteidigen versuchen. Dies liegt im Umstand begründet, dass in Verwaltungssanktionsverfahren ein adversatorisches Verfahren, das eine gänzlich unvoreingenommene Würdigung von Parteivorbringen durch einen unabhängigen Richter ermöglichen würde, in der Regel nicht stattfindet. Ein solches Verfahren aber hat der EGMR im kurzen und weitgehend unbekannten Urteil Mantovanelli als Voraussetzung dafür gefordert, dass dem Anspruch auf rechtliches Gehör genügt werden kann.60 Da das Urteil jedoch zu einem gerichtlichen Verfahren ergangen ist,61 bleibt unklar, ob in Verwaltungssanktionsverfahren die untersuchende bzw. anklagende Stelle innerhalb einer Behörde von der entscheidenden Stelle verschieden sein muss. 57

EKMR, Entscheidung v. 10.03.1962 – No. 1013/61, X. u. Y./Deutschland, D. R. 8, 106; EKMR, Entscheidung v. 09.12.1981 – No. 9099/80, X. u. Y./Österreich, D. R. 27, 209; Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 369. 58 EGMR, Urt. v. 27.10.1993  – No. 14448/88, Dombo Beheer/Niederlande, Series A vol. 274, § 33. 59 Trechsel, S. 89. 60 EGMR, Urt. v. 18.03.1997 – No. 21497/93, Mantovanelli/Frankreich, Reports 1997-II, § 33. 61 EGMR, Urt. v. 18.03.1997  – No. 21497/93, Mantovanelli/Frankreich, Reports 1997-II, §§ 12, 33.

104

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Dafür könnte das Gebot der Unvoreingenommenheit angeführt werden, das sich aus der Unschuldsvermutung ableitet.62 Danach darf ein Richter, wenn er über einen Fall entscheidet, die Verhandlung nicht mit der Überzeugung beginnen, der Angeklagte sei schuldig.63 Genau dies aber geschieht, wenn Beamte den Vorwurf erheben, gegen eine Verwaltungssanktionsvorschrift verstoßen zu haben und mit dieser vorgefassten Meinung sich dann der Würdigung des Parteivorbringens widmen.64 Welche Gefahren aus dieser Kompetenzakkumulation resultieren, dürfte maßgeblich vom Komplexitätsgrad eines Falles abhängen. Denn je komplexer ein Fall ist und je mehr Wertungen die Feststellung eines Verstoßes unterliegt, desto schwieriger dürfte es für die zuständigen Beamten sein, von einer vorgefassten Meinung abzurücken und Gegenargumente hinreichend zu würdigen. Um die Würdigung von Parteivorbringen aber so effektiv zu gestalten, dass sie zu einer echten Partizipationsmöglichkeit führt, muss die Voreingenommenheit der zuständigen Beamten weitest möglich reduziert werden. Hierfür sind neben der Einführung eines unabhängigen Entscheidungsgremiums innerhalb der Behörde auch andere verfahrenssichernde Maßnahmen denkbar. Unter welchen Umständen die Würdigung der Parteivorbringen in hinreichender Art und Weise gesichert ist, hängt maßgeblich von der konkreten Materie ab. In dieser Hinsicht hat der EGMR bereits festgestellt, dass die konkrete verfahrensrechtliche Ausgestaltung, durch die der Anspruch auf rechtliches Gehör gewahrt bleiben soll, dem nationalen Gesetzgeber obliegt.65 Detailliertere Vorgaben lassen sich aus der EMRK hierzu nicht abstrakt entwickeln. bb) Umfang der Gewährung rechtlichen Gehörs bei Unternehmen als Angeklagten Der gleiche Maßstab, wie er vorstehend für Verwaltungssanktionsverfahren gegen natürliche Personen entwickelt wurde, sollte auch für Unternehmen in strafrechtsähnlichen Verfahren gelten. Denn die Rechtsquelle des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist der Grundsatz eines fairen Verfahrens. Und dessen Schutzzweck ist objektiv-rechtsstaatlicher Natur. Außerdem muss der Staat begründen, warum er sein Strafmonopol ausübt. Zu dieser Begründung gehört auch, dass er sich hinreichend mit möglichen Argumenten gegen die Ausübung seines Strafmonopols 62

Siehe hierzu die Ausführungen unter Teil 3: E. II., S. 142 ff. EKMR, Entscheidung v. 05.05.1981 – No. 9037/80, X./Schweiz, D. R. 24, 224, § 3; EGMR, Urt. v. 06.12.1988 – No. 10590/83, Barberà [u. a.]/Spanien, Series A vol. 146, § 77; EGMR, Urt. v. 20.03.2001 – No. 33501/96 – Telfner/Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 15. 64 In Bezug auf das europäische Kartellrecht: de Bronett, ZWeR 2012, 157, 182; Forrester, Concurrences 2010, 13, 15, Rn. 14; Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 33 f.; Wils, World Comp. 2004, 201, 212 ff. 65 EGMR, Urt. v. 27.10.1993  – No. 14448/88, Dombo Beheer/Niederlande, Series A vol. 274, § 33. 63

B. Anspruch auf rechtliches Gehör

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auseinandersetzt. Dies gilt für natürliche Personen gleichermaßen wie für Unternehmen. In ihrer Schutzbedürftigkeit unterscheiden sich Unternehmen somit nicht von natürlichen Personen. Dass durch die Gewährung rechtlichen Gehörs gleichzeitig der Subjekteigenschaft natürlicher Personen Rechnung getragen wird,66 betont deren Schutzbedürftigkeit, kann jedoch nicht als grundlegendes Argument gegen die Schutzbedürftigkeit von Unternehmen angeführt werden. Allenfalls können Adaptionen hinsichtlich des Umfanges des rechtlichen Gehörs gemacht werden. c) Rechtsfolge unterbliebener Gehörsgewährung Zur Rechtsfolge einer unterbliebenen Gewährung rechtlichen Gehörs zugunsten von Unternehmen hat sich der EGMR bisher, wie zu erwarten, nicht geäußert. Maßgeblich dürften die Erheblichkeit und die konkrete Auswirkung auf das Verfahren sein. Nur wenn die unterbliebene Anhörung zu einem anderen Verfahrensausgang geführt hat als dies bei einer konventionskonformen Anhörung der Fall gewesen wäre, erscheint es angebracht, die Nichtigkeit einer Entscheidung zu fordern. 2. Nahezu identische Vorgaben zum rechtlichen Gehör aus Art. 41 EU-GRCh Für Verwaltungsverfahren, und damit auch für Verwaltungssanktionsverfahren ist in Art. 41 Abs. 2 lit. a EU-GRCh der Anspruch auf rechtliches Gehör explizit normiert, wonach das in Abs. 1 normierte Recht auf eine gute Verwaltung insbesondere „das Recht einer jeden Person [umfasst], gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird.“ Bisher sind nur wenige Urteile zu Art.  41  EU-GRCh ergangen, die als Auslegungshilfe dienen könnten. Jedoch galt ein Anspruch auf rechtliches Gehör schon vor Inkrafttreten der EU-GRCh als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts.67 Aus den hierzu ergangenen Urteilen können somit Schlüsse für den Geltungsumfang von Art. 41 Abs. 2 lit. a EU-GRCh gezogen werden, der eine Fortschreibung dieses allgemeinen Grundsatzes darstellt. Wie auch für die EMRK, fällt die Konturierung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im grundlegenden Urteil

66

Trechsel, S. 89. EuGH, Urt. v. 13.02.1979 – Rs. 85/76, Hoffmann-La Roche/KOM, Slg. 1979, 461, Rn. 9; vgl. EuGH, Urt. v. 26.06.1980  – Rs. 136/79, National Panasonic/KOM, Slg.  1980, 2033, Rn.  21; EuGH, Urt. 19.01.2006  – Rs. C-240/03 P, Comunità montana della Valneria/KOM, Slg. 2006, I-757, Rn. 129; Galetta/Grzeszick, in: Stern/Sachs, Art. 41 EU-GRCh, Rn. 62; Voet van Vormizeele, in: Schwarze, Art. 41 EU-GRCh, Rn. 8. 67

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Lisrestal des EuG, aus dem auch eine ständige Rechtsprechung des EuGH hervorging, äußerst knapp aus: „Dieser Grundsatz gebietet es, jeder Person, der gegenüber eine beschwerende Entscheidung ergehen kann, Gelegenheit zu geben, zu den Gesichtspunkten Stellung zu nehmen, auf die die Kommission bei der Begründung der streitigen Entscheidung zu ihrem Nachteil abstellt.“68

Inhaltlich muss sich die Stellungnahme auf die „von der Kommission angeführten Tatsachen und Umstände“69 beziehen können.70 Hinsichtlich der Art und Weise der Anhörung hat der EuGH den Anspruch auf eine mündliche Verhandlung explizit ausgeschlossen, vorausgesetzt es bestand die Möglichkeit zu einer schriftlichen Stellungnahme.71 In der Literatur wird vereinzelt gefordert, Unternehmen hätten ein Recht auf Berücksichtigung ihrer Stellungnahme,72 was überzeugt, da der Anspruch auf rechtliches Gehör anderenfalls ein reiner Formalismus wäre. Institutionelle oder spezielle verfahrensrechtliche Anforderungen wie ein adversatorisches Verfahren sind der Rechtsprechung der Unionsgerichte als Voraussetzungen für die Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht zu entnehmen.73 Unerlässlich dürfte aber auch, wie bereits für die EMRK gefordert, eine weitgehend unvoreingenommene Herangehensweise an die Würdigung der von den Unternehmen vorgebrachten Argumente sein. Notwendige Voraussetzung ist in jedem Fall, dass Unternehmen über die Tatsache der Verfahrenseröffnung und das vorgeworfene Verhalten informiert werden.74 Welche Rechtsfolge die (teilweise)  Nichtgewährung rechtlichen Gehörs hat, geht aus den Urteilen der Unionsgerichte für Verfahren zwischen der Europäischen Kommission und Unternehmen nicht hervor. Jedoch hat der EuGH für Ver 68 EuG, Urt. v. 06.12.1994 – Rs. T-450/93, Lisrestal [u. a.]/KOM, Slg. 1994, II-1180, Rn. 42; bestätigt durch: EuGH, Urt. 19.01.2006 – Rs. C-240/03 P, Comunità montana della Valneria/ KOM, Slg.  2006, I-757, Rn.  129; EuGH, Urt. v. 21.09.2000  – Rs. C-462/98  P, Mediocurso/ KOM, Slg. 2000, I-7196, Rn. 36; EuGH, Urt. v. 09.06.2005 – Rs. C-287/02, Spanien/KOM, Slg. 2005, I-5112, Rn. 37. 69 EuGH, Urt. v. 07.01.2004 – verb. Rs. C-204/00 P [u. a.], Aalborg Portland [u. a.]/KOM, Slg. 2004, I-403, Rn. 66. 70 EuGH, Urt. v. 27.06.1991 – Rs. 49/88, Al-Jubail [u. a.]/KOM, Slg. 1991, I-3236, Rn. 17; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 41 EU-GRCh, Rn. 15; vgl. Jarass, Art. 41, Rn. 22. 71 EuGH, Urt. v. 19.10.1980  – Rs. 209/78 [u. a.], van Ladewyck [u. a.]/KOM, Slg.  1980, 3125, Rn. 18; Jarass, Art. 41, Rn. 17. 72 Jarass, Art. 41, Rn. 17. 73 Vgl. nur allgemein zur fehlenden organisatorischen Trennung innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb, dies jedoch für unbedenklich haltend: Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 10.02.2011 – Rs. C-272/09 P, KME/KOM, Slg. 2011, I-12860, Rn. 68. 74 EuG, Urt. v. 20.04.1999 – verb. Rs. T-305/94 [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/ KOM, Slg. 1999, II-945, Rn. 263; EuGH, Urt. v. 21.09.2000 – Rs. C-462/98 P, Mediocurso/ KOM, Slg.  2000, I-7196, Rn.  42 ff.; Galetta/Grzeszick, in: Stern/Sachs, Art.  41  EU-GRCh, Rn. 66; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 41 EU-GRCh, Rn. 15; vgl. Jarass, Art. 41, Rn. 17.

B. Anspruch auf rechtliches Gehör

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fahren gegen Mitgliedstaaten in der Vergangenheit auf die potentielle Entscheidungserheblichkeit abgestellt.75 Abgesehen davon, dass Art. 6 EMRK möglicherweise eine adversatorische Verfahrensausgestaltung als Voraussetzung für die Ermöglichung rechtlichen Gehörs fordert, entsprechen die Anforderungen aus Art 41 Abs. 2 lit. a EU-GRCh den Anforderungen aus der EMRK. Es kann somit von einem einheitlichen Garantiestandard ausgegangen werden. Eine Auslegung von Art. 48 EU-GRCh, der in Abs. 2 die „Achtung der Verteidigungsrechte“ gewährleistet, führt zu einem inhaltlichen Gleichlauf mit Art.  41  EU-GRCh und kann deshalb dahinstehen. Denn die im Rahmen von Art. 41 EU-GRCh angeführten Urteile basieren auf der Annahme, dass angeklagten Personen aufgrund der notwendigen Achtung der Verteidigungsrechte rechtliches Gehör gewährt werden muss. Was damals als allgemeiner Grundsatz galt, ist nunmehr in der EU-GRCh zweifach kodifiziert. Art. 41 EU-GRCh dürfte jedoch als lex specialis Vorrang vor Art. 48 EU-GRCh genießen, was aufgrund der inhaltsgleichen Geltung jedoch dahinstehen kann.

II. Gewährung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im europäischen Kartellverfahren Ob dem Anspruch auf rechtliches Gehör im europäischen Kartellverfahren genügt wird, muss für drei verschiedene Verfahrensschritte geprüft werden. Zum einen muss die Mitteilung der Beschwerdepunkte, durch die das einleitende Ermittlungsverfahren abgeschlossen wird, die informatorischen Grundvoraussetzungen erfüllen, damit Unternehmen überhaupt wissen, was ihnen vorgeworfen wird. Sodann muss ihnen die Möglichkeit gegeben werden, sich hierzu zu äußern und abschließend ist zu prüfen, inwiefern die Generaldirektion Wettbewerb diese Äußerungen hinreichend prüft bzw. dazu strukturell überhaupt in der Lage ist. Bezüglich dieses Aspektes bestehen angesichts der dreifachen Rolle der Europäischen Kommission als ermittelnde, anklagende und entscheidende Stelle erhebliche Bedenken. Für die weitere Prüfung ist insgesamt zu beachten, dass Kartellverfahren hoch komplex sind und sich die Europäische Kommission im Rahmen von deren Durchführung mit enormen Datenmengen auseinandersetzen muss. So hat die Verfahrensakte von Kartellverfahren zum Teil mehr als 100.000 Seiten.76

75

EuGH, Urt. v. 14.02.1990 – Rs. 301/87, Frankreich/KOM, Slg. 1990, I-351, Rn. 31; EuGH, Urt. v. 05.10.2002 – Rs. C-288/96, Deutschland/KOM, Slg. 2000, I-8285, Rn. 101; Voet van Vormizeele, in: Schwarze, Art. 41 EU-GRCh, Rn. 8. 76 Bueren, WuW 2012, 684, 688, m. w. N. in Fn. 48.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

1. Erfüllung der informatorischen Grundvoraussetzungen durch die Mitteilung der Beschwerdepunkte Die Praxis, worüber Unternehmen im Rahmen der Mitteilung der Beschwerde­ punkte gem. Art.  27  Abs.  1  VO  (EG)  1/2003 informiert werden, scheint den Vorgaben der EMRK und der EU-GRCh zu entsprechen. Zwar sind weder dem Art.  27  VO  (EG)  1/2003, noch der ergänzenden Vorschrift Art.  10  VO (EG) 773/2004 diesbezügliche Vorgaben zu entnehmen.77 Jedoch wird in Ziff. 84 der Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art. 101 und 102 AEUV festgelegt, dass die Europäische Kommission in der Mitteilung der Beschwerdepunkte bekannt zu machen hat, ob sie plant, eine Geldbuße zu verhängen. Dafür soll sie die „tatsächlichen und rechtlichen Umstände [nennen], die zur Verhängung einer Geldbuße führen können“, wozu die „Dauer und Schwere“ gehören und die „Frage, ob die Zuwiderhandlung vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde“. Außerdem sind die „einschlägigen Grundsätze der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen“ zu zitieren. Zwar kommt den zitierten Bekanntmachungen keine rechtsverbindliche Wirkung zu, jedoch ist festzustellen, dass sie mit dem EuGH-Urteil Musique Diffusion française aus dem Jahr 1983 im Wortlaut fast identisch sind,78 das schon damals einen etablierten Standard darstellte: „Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt, müssen in der Mitteilung der Beschwerdepunkte die wesentlichen Tatsachen, auf die sich die Kommission in diesem Verfahrensstadium stützt, klar angegeben werden.“79

Die Rechtsprechung zum Urteil Musique Diffusion française wurde in diversen nachfolgenden Urteilen bestätigt.80 In der Literatur wird diesbezüglich verschiedentlich diskutiert, welche Einzelaspekte in der Mitteilung der Beschwerdepunkte enthalten sein müssen.81 Insgesamt sind jedoch keine strukturellen Defizite zu erkennen, die eine Unvereinbarkeit der Praxis der Europäischen Kommission mit den Forderungen aus der EMRK oder der EU-GRCh zur Folge hätten. 77

Kerse/Khan, EC Antitrust Procedure, Rn. 4–022. EuGH, Urt. v. 07.06.1983 – verb. Rs. 100/80 [u. a.], Musique Diffusion Française [u. a.]/ KOM, Slg. 1983, 1831, Rn. 15, 21. 79 EuGH, Urt. v. 07.06.1983 – verb. Rs. 100/80 [u. a.], Musique Diffusion Française [u. a.]/ KOM, Slg. 1983, 1831, Rn. 14. 80 EuGH, Urt. v. 09.11.1983  – Rs. 322/81, Michelin/KOM, Slg. 1983, 3461, Rn.  19 f.; EuGH, Urt. v. 16.03.2000  – Rs. C-395/96 P, Compagnie Maritime Belge Transport/KOM, Slg. 2000, I-1365, Rn. 142; EuGH, Urt. v. 28.06.2005 – verb. Rs. 189/02 P [u. a.], Dansk Rørindustri [u. a.]/KOM, Slg. 2005, I-5425, Rn. 428; EuGH, Urt. v. 09.07.2009 – Rs. C-511/06 P, Archer Daniels Midland/KOM, Slg. 2009, I-5843, Rn. 68; EuGH, Urt. v. 24.09.2009 – verb. Rs. C-125/07 P [u. a.], Erste Group Bank [u. a.]/KOM, Slg. 2009, I-8681, Rn. 181; EuG, Urt. v. 20.04.1999 – verb. Rs. T-305/94 [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/KOM, Slg. 1999, II-945, Rn. 263. 81 Bischke/Schirra, MK, Kartellrecht, Band 1, Art. 27 VO (EG) 1/2003, Rn. 4; de Bronett, Art. 27 VO (EG) 1/2003, Rn. 12 ff.; Joshua, Fordham Intl. L. J. 1991, 16, 34 ff. 78

B. Anspruch auf rechtliches Gehör

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2. Keine Defizite hinsichtlich des Umfanges der Äußerungsmöglichkeiten im europäischen Kartellrecht Art. 27 Abs. 1 S. 1 VO (EG) 1/2003 i. V. m. Art. 10 f. VO (EG) 733/2004 räumt den Parteien das Recht ein, sich zu den Beschwerdepunkten schriftlich zu äußern, die sich in der Mitteilung der Beschwerdepunkte der Europäischen Kommission befinden. Die abschließende Bußgeldentscheidung darf sich nach Art.  27 Abs. 1 S. 2 VO (EG) 1/2003 nur auf diejenigen Punkte stützen, zu denen sich die Parteien äußern konnten. Dass diese Voraussetzung eingehalten wird, überprüft der Anhörungsbeauftragte und erstellt nach Art. 14 Abs. 1 des Mandats des Anhörungsbeauftragten einen Bericht zur Frage, „ob den Beteiligten Gelegenheit gegeben wurde, sich zu allen in dem Beschlussentwurf behandelten Beschwerdepunkten zu äußern“. Damit ist nicht nur die Äußerungsmöglichkeit im Rahmen der mündlichen Anhörung gemeint, was die Bezeichnung Anhörungsbeauftragter suggerieren könnte, sondern auch die schriftliche Anhörung. Somit ist gewährleistet, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör hinsichtlich der Möglichkeit, sich schriftlich äußern zu können, gewahrt wird. Mündliche Anhörungen finden gem. Art. 12 VO (EG) 733/2004 nur auf Antrag der Parteien statt und stellen daher einen Ausnahmefall dar.82 Sie werden gem. Art. 14 Abs. 1 VO (EG) 733/2004 vom Anhörungsbeauftragten geleitet. Zwar hat der EGMR zur Form der Äußerung bis jetzt keine Stellung genommen hat, es ist aber nicht ersichtlich, dass aus einer rein schriftlichen Äußerungsmöglichkeit Nachteile erwachsen. Aus diesem Grund, und da die Unionsgerichte eine rein schriftliche Stellungnahme, wie dargestellt, für zulässig erachten, erscheint diese Regelung als mit verfahrensgarantierechtlichen Vorgaben vereinbar. 3. Unmöglichkeit einer unvoreingenommenen Würdigung der Aussagen der Parteien angesichts der derzeitigen behördeninternen Strukturen In Hinblick auf die notwendige Würdigung der mündlichen oder schriftlichen Aussagen der Parteien wird häufig vorgetragen, die finale Bußgeldentscheidung der Generaldirektion Wettbewerb sei der Mitteilung der Beschwerdepunkte oftmals im Wortlaut derart ähnlich, dass es nicht nachzuvollziehen sei, ob sich die zuständigen Beamten überhaupt mit den von den Parteien vorgebrachten Einwänden auseinandergesetzt hätten.83 In Einzelfällen entsprechen sogar über 90 % der Bußgeldentscheidung dem Wortlaut der ursprünglichen Mitteilung der Beschwerdepunkte.84 Dieser Umstand kann entweder darauf zurückzuführen sein, dass die von den Parteien vorgebrachten Argumente nicht durchgreifen, oder dass sich die 82

de Bronett, Art. 27, Rn. 6 Beninca/Zschocke, S. 110; Montag, ECLR 1996, 428, 429. 84 Montag, ECLR 1996, 428, 429, Fn. 6. 83

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Europäische Kommission nicht hinreichend mit diesen auseinandergesetzt hat. Bemerkenswert ist, dass im Zeitraum der Jahre 2000 bis 2010 fast zwei Drittel der Bußgeldbescheide der Europäischen Kommission vor den Unionsgerichten angefochten wurden,85 was darauf hindeutet, dass sich die Europäische Kommission nur unzureichend mit den vorgebrachten Argumenten auseinander setzt.86 Dies ist weitergehend zu untersuchen. Und während eine Würdigung der von den Parteien schriftlich oder gar mündlich vorgebrachten Argumente vor dem Gremium der Kommissare gar nicht stattfindet,87 geben die Beamten der Generaldirektion Wettbewerb, die eine Beschlussempfehlung für das Gremium der Kommissare erarbeiten, den Parteien zwar durchaus die Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung. Gleichwohl tun sie dies in dreifacher Rolle: Sie hören die Parteien nicht nur an und würdigen deren vorgebrachte Argumente, sondern sind gleichzeitig auch dafür zuständig, die vorgelagerten Untersuchungen durchzuführen und die Mitteilung der Beschwerdepunkte zu verfassen.88 Ob diese Beamten sich von Argumenten überzeugen lassen, die sich gegen die von ihnen selbst formulierten Beschwerdepunkte richten, bedarf deshalb einer weiteren Untersuchung. Gleiches gilt für den Anhörungsbeauftragten. a) Unerheblichkeit der fehlenden Anhörung vor dem allein entscheidungsbefugten Gremium der Kommissare Der Umstand, dass das Gremium der Kommissare der Europäischen Kommission über die Verhängung von Kartellbußgeldern entscheidet, ohne selbst die beschuldigten Unternehmen mündlich oder schriftlich angehört zu haben, wurde wiederholt kritisiert.89 Dem Anspruch auf rechtliches Gehör könne so nicht genügt 85 Hellwig/Hüschelrath/Laitenberger, ZEW Discussion Paper No. 16–010, S. 8; bereits auf die früher hohe Zahl an Anfechtungen hinweisend: Montag, ECLR 1996, 428, 432; auf Montag verweisend: Venit, in: ECLA 2009, S. 232, Fn. 125; Dass die Zahl der Anfechtungen in den letzten Jahre abgenommen hat, wird zum Teil darauf zurückgeführt, dass 1996 die Kronzeugenregelung eingeführt wurde und nunmehr Bußgeldentscheidungen zumindest nicht mehr von denjenigen Unternehmen angefochten werden, die als Kronzeugen aufgetreten sind, so bspw. Montag/Rosenfeld, ZWeR 2003, 107, 109. Und auch die Einführung von Settlementverfahren könnte einen ähnlichen Effekt nach sich gezogen haben: Hellwig/Hüschelrath/Laitenberger, ZEW Discussion Paper No. 16–010, S. 9. Der Schluss, Parteivorbringen würden nunmehr besser gewürdigt, kann daraus gleichwohl nicht zwangsläufig gezogen werden. 86 Venit, in: ECLA 2009, S. 232 f. 87 Kritisch: de Bronett, ZWeR 2012, 157, 176; Forrester, Concurrences 2010, 13, 15, Rn. 12 ff.; Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 36. 88 Kritisch: de Bronett, ZWeR 2012, 157, 182; Forrester, Concurrences 2010, 13, 15, Rn. 14; Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S.  33 f.; Wils, World Comp. 2004, 201, 203, 212 ff. 89 Anderson/Cuff, Fordham Intl. L. J. 2010–2011, 385, 397; de Bronett, ZWeR 2012, 157, 176; Forrester, Concurrences 2010, 13, 15, Rn. 12 ff.; Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC ­Working Paper 04/08, S. 36.

B. Anspruch auf rechtliches Gehör

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werden.90 Selbst die OECD hat im Rahmen eines „Peer Reviews“ angemerkt, dass die Verfahrenspraxis in der Europäischen Union verglichen mit der Praxis in den Mitgliedstaaten einmalig sei.91 Richtig ist, dass für Unternehmen vor dem Gremium der Kommissare keine Möglichkeit besteht, schriftlich oder mündlich Stellung zu nehmen, da sie zu den Sitzungen gar nicht geladen werden. Außerdem liegen die Verfahrensakte und damit auch die schriftlichen Einlassungen der Unternehmen, aufgrund derer sie sich während des Verfahrens Gehör verschafft haben, dem Gremium der Kommissare in der Regel nicht vor.92 Ihm wird lediglich der Bericht des Anhörungsbeauftragten aus der mündlichen Anhörung zusammen mit dem Beschlussentwurf der Generaldirektion Wettbewerb zugeleitet.93 Hierzu ist jedoch anzumerken, dass die Kommissare in aller Regel nur dem Beschlussentwurf folgen, den die Generaldirektion Wettbewerb für den Wettbewerbskommissar vorbereitet,94 und den Fall ohnehin nicht eigenständig würdigen. Zum einen scheidet allein aus zeitlichen Gründen aus, dass sich die Kommissare, die sich im Rahmen ihrer wöchentlichen Sitzungen mit einer Fülle von Entscheidungen beschäftigen müssen, mit einem kartellrechtlichen Fall tiefergehend beschäftigen.95 Zudem fehlt ihnen als Politikern die nötige Fachkompetenz, um sich über hochkomplexe Fragen des Kartellrechts eine eigene Meinung bilden zu können.96 Faktisch entscheidet nicht das Gremium der Kommissare, sondern die zuständige Abteilung der Generaldirektion Wettbewerb, die eine Beschlussempfehlung abgibt.97 Es ist deshalb ausgeschlossen, dass das Gremium der Kommissare die Einlassungen der Unternehmen im Sinn der Wahrung des rechtlichen Gehörs würdigt. Ob dem Anspruch auf rechtliches Gehör genügt wird, ist somit auf der vorgelagerten Stufe der Entscheidungsfindung zu bewerten, nämlich für die zuständige Abteilung der Generaldirektion Wettbewerb.98 Zumindest in einem, offensichtlich einen Einzelfall darstellenden Urteil aus dem Jahr 1970 hat der EuGH ebenfalls diese Ansicht vertreten.99 90 de Bronett, ZWeR 2012, 157, 176; Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 36 91 OECD Country Studies – Peer Review of Competition Law and Policy in the European Union 2005, S. 64. 92 de Bronett, ZWeR 2012, 157, 167. 93 EU Antitrust Manual of Procedures, Internal DG Competition working documents on proce­dures for the application of Articles 101 and 102 TFEU, Kapitel 2, Rn. 21. 94 Vgl. Wils, World Comp. 2004, 201, 203; feststellend, dass die Kommissare Bußgeldentscheidungen auf Vorschlag des für Wettbewerbsfragen zuständigen Kommissars erlassen: Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art.  101 und 102 AEUV, Ziff. 145. 95 de Bronett, ZWeR 2012, 157, 180. 96 de Bronett, ZWeR 2012, 157, 180; Joshua, Fordham Intl. L. J. 1991, 16, 72; vgl. Forrester, Concurrences 2010, 13, 15, Rn. 12. 97 Vgl. de Bronett, ZWeR 2012, 157, 180. 98 Forrester, Concurrences 2010, 13, 15, Rn. 16. 99 EuGH, Urt. v. 15.07.1970 – Rs. C-45/69, Boehringer Mannheim/KOM, Slg. 1970, 769, Rn. 23.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Zum Teil wird als Voraussetzung einer solchen Betrachtung gefordert, es müsse sichergestellt sein, dass der Entscheidungsspielraum des Gremiums der Kommissare darauf beschränkt sei, Beschlussvorschläge tatsächlich nur annehmen oder ablehnen zu können.100 Da Entscheidungen, die nicht lediglich auf einer Zustimmung zur Beschlussvorlage basieren, angesichts der dann fehlenden Anhörung für nichtig erklärt werden könnten, dürfte das Mandat der Kommissare somit bereits heute hinreichend faktisch beschränkt sein. Es bedarf keiner weiteren Modifikationen, vorausgesetzt dem Anspruch auf rechtliches Gehör wird als zu beachtende Verfahrensgarantie vor der Beschlussfassung durch das Gremium der Kommissare Rechnung getragen. b) Unvereinbarkeit der dreifachen Rolle der Generaldirektion Wettbewerb mit dem Grundsatz rechtlichen Gehörs Da somit faktisch die zuständigen Beamten der Generaldirektion Wettbewerb über die Verhängung eines Kartellbußgeldes entscheiden, ist es maßgeblich, ob den Parteien in der Zusammenarbeit mit diesen in hinreichender Weise rechtliches Gehör gewährt wird. Während bereits festgestellt wurde, dass der Umfang der Äußerungsmöglichkeit genügt, steht nunmehr in Frage, ob die Beamten diese Aussagen auch in ausreichender Weise würdigen bzw. würdigen können. Als eines der gravierendsten Probleme des europäischen Kartellverfahrens wird dabei der Umstand gesehen, dass die eine Anklage erhebende Behörde in Personalunion auch über die Validität von Gegenargumenten entscheiden muss, die von den angeklagten Unternehmen vorgebracht werden.101 Auch wenn es nicht ausgeschlossen ist, dass die Beamten der zuständigen Generaldirektion Wettbewerb für Gegenargumente der Parteien nicht resistent sind, so wird dennoch in weiten Teilen der Literatur angezweifelt, dass sie in der Lage sind, eine unvoreingenommene Würdigung der im Rahmen des rechtlichen Gehörs vorgebrachten Argumente vorzunehmen.102 Unerklärlich ist in diesem Zusammenhang das Urteil Cimenteries des EuG aus dem Jahr 2000, in dem das EuG die dreifache Rolle der Generaldirektion Wettbewerb deshalb für unbedenklich hält, weil nicht die zuständigen Beamten über den Fall entscheiden, sondern das Gremium der Kommissare.103 Ob die Organisationsstruktur tatsächlich zu einer mangelhaften Würdigung der Argumente der Unternehmen führt und es dadurch zu unrichtigen Wertungen 100

Forrester, Concurrences 2010, 13, 15, Rn. 16. de Bronett, ZWeR 2012, 157, 182; Forrester, Concurrences 2010, 13, 15, Rn. 14; Killick/ Dawes, JECLAP 2010, 211, 212; Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 33 f.; Wils, World Comp. 2004, 201, 203, 212 ff. 102 de Bronett, ZWeR 2012, 157, 182; Forrester, Concurrences 2010, 13, 15, Rn. 14; Slater/ Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 33 f.; Wils, World Comp. 2004, 201, 212 ff. 103 EuG, Urt. v. 15.03.2000 – verb. Rs. T-25/95 [u. a.], Cimenteries CBR [u. a.]/KOM, Slg. 2000, II-508, Rn. 721. 101

B. Anspruch auf rechtliches Gehör

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durch die Beamten und in der Folge zu falschen Entscheidungen der Europäischen Kommission kommt, ist empirisch nur schwer nachweisbar.104 Unter Umständen sind die institutionellen Defizite jedoch so offensichtlich und damit die Möglichkeit zu einer angemessenen Würdigung der Parteivorbringen so unzureichend bzw. das daraus resultierende Legitimationsdefizit so groß, dass sich eine empirische Untersuchung erübrigt.105 Dass die derzeitige Behördenorganisation unzureichend ist, wird mit psychologischen Argumenten begründet. Diese basieren auf der Annahme, dass eine unvoreingenommene Würdigung durch die zuständigen Beamten deswegen nur eingeschränkt möglich ist, weil sie bereits untersuchend und anklagend in den Fall involviert waren, was auch als „prosecutorial bias“ beschrieben wird.106 Wer bereits erheblichen Aufwand in die Begründung einer These, also in die Begründung der Mitteilung der Beschwerdepunkte investiert hat, versuche zu vermeiden, dass die eigene These als falsch dargestellt wird.107 Aus diesem Grund erscheine es zweifelhaft, dass die Beamten die Gegenargumente der Parteien objektiv und unvoreingenommen würdigen und nicht den eigenen Argumenten eine höhere Überzeugungskraft beimessen.108 Hinzu komme, dass es institutionell gesehen die Aufgabe der Generaldirektion Wettbewerb und damit der Beamten ist, Kartellverstöße nachzuweisen.109 Um dieser Aufgabe nachzukommen, unterlägen die Beamten einer gewissen „confirmation bias“.110 Sie seien insofern aus zusätzlichen Gründen voreingenommen, da sie aufgrund ihrer institutionellen Angehörigkeit dazu berufen seien, das Vorliegen eines Kartellverstoßes eher anzunehmen als abzulehnen und die eigenen Argumente daher unbewusst als überzeugender wahrnähmen als die der Unternehmen.111

104 Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 36; Wils, World Comp. 2004, 201, 213 f.; Frank Montag hat 1996 eine Studie veröffentlicht (Montag, ECLR 1996, 428, 430 ff.), die eine hohe Zahl angefochtener Kartellbußgeldbescheide nachweisen konnte. Gleichwohl lag der untersuchte Zeitraum vor der Einführung der Kronzeugenregelung. Da gegen Kronzeuginnen keine Kartellbußgeldbescheide ergehen, bedürfte es einer neuen und umfassenden Untersuchung, um eine validen empirischen Nachweis zu erbringen. Vgl. Montag/Rosenfeld, ZWeR 2003, 107, 109; andere, kritische Ansichten darstellend: Venit, in: ECLA 2009, S. 232, Fn. 125. 105 Vgl. Wils, World Comp. 2004, 201, 213 f. 106 Forrester, Concurrences 2010, 13, 15, Rn. 14; Wils, World Comp. 2004, 201, 215. 107 Montag, ECLR 1996, 428, 429 f.; Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 34. 108 Montag, ECLR 1996, 428, 429 f.; Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 34; Wils, World Comp. 2004, 201, 215 ff. 109 Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 34; vgl. Montag/Chapman, in: Baudenbacher, S. 55. 110 Forrester, E. L.Rev. 2009, 817, 836; Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 34; Wils, World Comp. 2004, 201, 215. 111 Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 34; Wils, World Comp. 2004, 201, 215.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Dies werde durch das allgemeine Bestreben der Europäischen Kommission verstärkt, möglichst viele Kartellabsprachen aufzudecken.112 Besonders schwer wiegen diese institutionellen Defizite angesichts der hohen Komplexität von Kartellverfahren. In Fällen, wo eine einfache Sachverhaltssubsumtion ergibt, ob die Voraussetzungen eines Bußgeldtatbestandes erfüllt sind, kann dem Anspruch auf rechtliches Gehör durchaus genügt werden, wenn der gleiche Beamte auch die beschuldigte Partei anhört. Kartellverfahren hingegen erfordern eine so umfassende Ermittlung, Prüfung und Auswertung, dass sie oftmals mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Dabei sind die zu prüfenden Tatbestandsmerkmale vielen Wertungen zugänglich, somit verschiedene Ansichten zum selben Umstand möglich und deren Würdigung und Bewertung umso anspruchsvoller. Hinzu kommt, dass im Kartellrecht für die Beweisführung oftmals auf Beweisvermutungen oder Indizienbeweise zurückgegriffen werden muss.113 Die ohnehin schwierige Feststellung, ob bestimmte Voraussetzungen für eine Bebußung erfüllt sind, erfolgt somit zum Teil  aufgrund einer beweisrechtlich nicht gänzlich lückenlosen Grundlage. Wenn aber die Beamten, welche die Untersuchung durchgeführt haben und auch die Mitteilung der Beschwerdepunkte verfasst haben, zu dem Schluss gekommen sind, dass die Voraussetzungen für die Erhebung einer Beschwerde vorliegen, dann tun sie dies aufgrund einer vertretbaren subjektiven Überzeugung. Gleichzeitig dürften auch andere Ansichten vertretbar sein, beispielsweise zur Frage, ob dem erforderlichen Beweismaß genügt wird oder ob die vorgenommenen Wertungen so überzeugen können. Auch wenn von den Beamten der Generaldirektion Wettbewerb grundsätzlich Unvoreingenommenheit zu erwarten ist, liegt es dennoch nahe, dass diese einer mehr als rein abstrakten Gefahr unterliegen, mündliche oder schriftliche Aussagen von Unternehmen nicht objektiv genug zu würdigen bzw. würdigen zu können. Dem Anspruch auf rechtliches Gehör wird deshalb nicht genügt.114 Dies legt den Schluss nahe, dass eine organisatorische Trennung zwischen der untersuchenden und anklagenden Entität innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb einerseits und der entscheidenden Entität andererseits notwendig ist, um 112 Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 34; Wils, World Comp. 2004, 201, 217; so führt die Generaldirektion Wettbewerb selbst an, dass ihr Fokus auf denjenigen Fällen läge, bei denen mit hoher Wahrscheinlichkeit der Nachweis eines Kartellverstoßes gelingt: Proceedings for the application of Art. 101 and 102 TFEU: Key actors and checks and balances, S. 1. 113 Ausführlich siehe hierzu unten Teil 3: E. V. 3) b), S. 164 ff. 114 Wils, World Comp. 2004, 201, 218 f., m. w. N. aus der psychologischen Fachliteratur, merkt an: „As confirmation bias, hindsight bias and the avoidance of cognitive dissonance would appear to be general psychological tendencies, it cannot be excluded that even the most ethical professionals might not be entirely immune from them.“, auf Deutsch: „Da Bestätigungsfehler, Rückschaufehler und die Vermeidung kognitiver Dissonanzen als allgemeine psychologische Phänomene anzusehen sind, kann nicht ausgeschlossen werden, dass selbst besonders ethisch agierende Berufsträger einer gewissen Beeinflussung durch sie unterliegen können.“

B. Anspruch auf rechtliches Gehör

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die von den Unternehmen vorgebrachten Argumente angemessen würdigen zu können.115 Die Unternehmen würden dann schriftlich auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte reagieren können, die Behörde möglicherweise darauf erneut reagieren und auch die Unternehmen einen zweiten Schriftsatz verfassen. Würdigen würde diese Schriftsätze eine soweit als möglich unabhängige Entität innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb, die mit den untersuchenden und anklagenden Beamten personenverschieden zu sein hätte. Eine mündliche Verhandlung, im Rahmen derer die Parteien ihren Standpunkt noch einmal erläutern könnten, würde dann ein adversatorisches Verfahren vor dem Entscheidungskörper innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb erfordern. Die Folge wäre ein deutlich formalisierteres Verfahren als dies bisher der Fall ist. Denkbar ist jedoch auch, die Würdigung des Vorbringens der Parteien durch andere institutionelle Ausgestaltungen zu gewährleisten.116 Ob jedoch Maßnahmen wie die frühzeitige Einbeziehung der Parteien, „peer review“-Prüfungen, die Hinzuziehung diverser anderer Einheiten der Europäischen Kommission oder auch die Einschaltung des Anhörungsbeauftragten die aufgezeigten Defizite kompensieren können, ist einigen Zweifeln ausgesetzt. c) Unzureichende Kompensation durch frühzeitige Verfahrenseinbeziehung der Parteien Die Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art. 101 und 102 AEUV sieht in Ziff. 60 ff. vor, dass „die Generaldirektion Wettbewerb bestrebt [sein soll], den Parteien des Verfahrens reichlich Gelegenheit für offene und freimütige Gespräche und zur Äußerung ihres Standpunkts zu bieten“117. Dazu werden Treffen zum Verfahrensstand einberufen, die schon vor der Mitteilung der Beschwerdepunkte den Zweck haben, „über den momentanen Sachstand und den voraussichtlichen Umfang der Untersuchung“118 zu informieren. In diesen Treffen zum Verfahrensstand kann somit grundsätzlich eine zusätzliche Möglichkeit für die Parteien gesehen werden, sich rechtliches Gehör zu verschaffen. Von besonderer Bedeutung ist, dass die Beamten der Generaldirektion Wettbewerb zu diesem Zeitpunkt noch deutlich weniger voreingenommen sein dürften als nach der Mitteilung der Beschwerdepunkte. Durch die frühzeitige Verfahrenseinbeziehung besteht somit nicht nur eine weitere Möglichkeit zur Äußerung, sondern die Würdigung dieser Äußerungen dürfte vor allem objektiver er 115 Forrester, Concurrences 2010, 13, 16, Rn.  20; Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 38 ff. 116 Forrester, Concurrences 2010, 13, 16, Rn. 29. 117 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art.  101 und 102 AEUV, Ziff. 60. 118 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art.  101 und 102 AEUV, Ziff. 63/1.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

folgen können. Dem Anspruch auf rechtliches Gehör kann so insgesamt erheblich effektiver Rechnung getragen werden. Jedoch bestehen zweierlei Bedenken. Zum einen kann auch die frühzeitige Möglichkeit zur Darlegung des eigenen Standpunktes die Bedenken aufgrund der derzeitigen Struktur der Generaldirektion Wettbewerb nicht gänzlich beseitigen. Zum anderen entspricht es der Praxis der Europäischen Kommission, in kartellrechtlichen Fällen (und damit anders als in Fusionskontrollverfahren) Treffen zum Verfahrensstand erst nach der Mitteilung der Beschwerdepunkte durchzuführen.119 Dann aber können diese die Gefahr einer unzureichenden Würdigung des Vorbringens der Unternehmen eben nicht kompensieren. Und auch der Umstand, dass „die Kommission den Parteien der Untersuchung“ gem. Ziff. 7.1 „frühzeitig […] und spätestens nach der Verfahrenseinleitung Gelegenheit [gibt], zu einer nichtvertraulichen Fassung der Beschwerde Stellung zu nehmen“120, könnte zwar grundsätzlich eine weitere Möglichkeit für Unternehmen darstellen, sich zu einem Zeitpunkt rechtliches Gehör zu verschaffen, zu dem die Würdigung durch die Beamten der Generaldirektion Wettbewerb noch deutlich unvoreingenommener erfolgen könnte. Gleichwohl ist auch dieser Verfahrensschritt für Kartellverfahren aus nicht benannten Gründen nicht vorgesehen.121 d) Keine Kompensation durch interne „peer review“-Prüfung In keinem Regelwerk festgeschrieben ist die Durchführung eines sog. „peer reviews“, die der Verfahrenspraxis der Generaldirektion Wettbewerb gleichwohl nicht fremd ist.122 Die Aufgabe der „peer review panels“, die sich aus andern als den am Fall beteiligten Beamten der Generaldirektion Wettbewerb zusammensetzen, ist es vor allem, zu neuartigen oder besonders komplizierten Rechtsfragen Stellung zu nehmen und die bisherige Arbeit der zuständigen Beamten noch einmal unvoreingenommen zu überprüfen. Da solche Rechtsprobleme anders als in Kartellverfahren in Fusionskontrollverfahren häufig auftreten, werden „peer review panels“ vor allem in letzteren eingesetzt.123 Sollte von ihnen in Kartellverfahren tatsächlich Gebrauch gemacht werden, so dürften sie kaum zu einer besseren Würdigung des Parteivorbringens beitragen 119 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art.  101 und 102 AEUV, Ziff. 65. 120 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art.  101 und 102 AEUV, Ziff. 71. 121 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art.  101 und 102 AEUV, Ziff. 74. 122 Lowe, in: Vives, Competition Policy in the EU, S. 37; Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 35; Wils, World Comp. 2004, 201, 203, 219. 123 Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 35; Wils, World Comp. 2004, 201, 203.

B. Anspruch auf rechtliches Gehör

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können. Zum einen ist die Prüfung auf Rechtsfragen beschränkt, zum anderen nimmt das „peer review panel“ eher die Stellung eines Dialogpartners für die zuständigen Beamten ein und ist kein Gremium, das eine unabhängige Abwägungsentscheidung treffen würde. Der Einsatz eines solchen Gremiums führt somit zu keiner unvoreingenommeneren Würdigung von Parteivorbringen.124 e) Keine Kompensation durch Einbeziehung des Juristischen Dienstes, des „Chief Economist“ oder des Beratenden Ausschusses Zum Teil  wird eingewandt, innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb gebe es durchaus sog. „checks and balances“125, durch welche die in Personalunion ermittelnden, anklagenden und entscheidenden Beamten kontrolliert würden und so ihre Tätigkeit zusätzlich legitimiert werde.126 So muss der Juristische Dienst gem. Art. 23 Abs. 4 der Geschäftsordnung der Europäischen Kommission zu „allen Entwürfen von Beschlüssen und Vorschlägen von Rechtsakten sowie zu allen Vorlagen, die rechtliche Wirkungen haben können“, angehört werden. Er hat dabei Zugriff auf die gesamte Verfahrensakte und steht in dauerndem und engem Austausch mit den zuständigen Beamten der Generaldirektion Wettbewerb.127 Ab welchem Verfahrensstadium der Juristische Dienst einbezogen werden muss, ist nicht eindeutig festgelegt und folgt keinem formalisierten Verfahren. Zwar werden ihm die schriftlichen Antworten der Parteien auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte übersandt,128 inwiefern er sich jedoch mit dem Vorbringen der Parteien umfassend oder nur bezüglich einzelner Rechtsfragen auseinandersetzt, ist unklar. Aussagen, ob die Hinzuziehung des Juristischen Dienstes zumindest teilweise zu einer objektiveren Würdigung des Parteivorbringens führt, sind daher nicht möglich. Gleiches gilt für die Einbeziehung des „Chief Economist“ und seines Teams, die in ähnlichem Umfang involviert werden wie der Juristische Dienst, jedoch in Bezug auf ökonomische Fragen.129 Daneben ist gem. Art. 14 Abs. 1 VO (EG) 1/2003 vorgesehen, dass vor jeder Entscheidung der Beratende Ausschuss für Kartell- und Monopolfragen angehört 124

Vilsmeier, S. 74. Wils, World Comp. 2004, 201, 219. 126 vgl. Joshua, Fordham Intl. L. J. 1991, 16, 72; Wils, World Comp. 2004, 201, 219 f. 127 EU Antitrust Manual of Procedures, Internal DG Competition working documents on procedures for the application of Articles 101 and 102 TFEU, Kapitel 1, Rn. 51; dass der Juristische Dienst Zugriff auf die gesamte Verfahrensakte hat, ergibt sich nicht aus den Rechtsvorschriften der Europäischen Kommission, sondern lediglich aus einem Übersichtsdokument: Proceedings for the application of Art. 101 and 102 TFEU: Key actors and checks and balances, S. 4. 128 EU Antitrust Manual of Procedures, Internal DG Competition working documents on procedures for the application of Articles 101 and 102 TFEU, Kapitel 13, Rn. 24. 129 EU Antitrust Manual of Procedures, Internal DG Competition working documents on procedures for the application of Articles 101 and 102 TFEU, Kapitel 11, Rn. 23; Proceedings for the application of Art. 101 and 102 TFEU: Key actors and checks and balances, S. 2. 125

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

wird. Der Ausschuss setzt sich gem. Abs. 2 S. 1 aus Vertretern der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten zusammen. Das Ergebnis seiner Tätigkeit ist eine Stellungnahme, welche die Europäische Kommission gem. Abs.  5 S.  1 „soweit wie möglich“ berücksichtigt. Die Europäische Kommission ist überdies nach S. 2 verpflichtet „den Ausschuss darüber [zu unterrichten], inwieweit sie seine Stellungnahme berücksichtigt hat“. Vor der Konsultation des Beratenden Ausschusses muss für die Unternehmen, an die zuvor eine Mitteilung der Beschwerdepunkte übersandt wurde, gem. Art. 11 Abs. 1 VO (EG) 773/2004 die Möglichkeit zur Äußerung bestehen. Welche Unterlagen dem Beratenden Ausschuss aber dann für die Erarbeitung seiner Stellungnahme zur Verfügung stehen, geht weder aus Art. 14 VO (EG) 1/2003 hervor, noch ist sonstigen Rechtsgrundlagen wie der „Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden“, den „Internal DG Competition working documents on procedures for the application of Articles 101 and 102 TFEU“ oder den „EU Antitrust Manual of Procedures“ Näheres zu entnehmen. In einem Dokument mit der Bezeichnung „Proceedings for the application of Art.  101 and 102 TFEU: Key actors and checks and balances“ informiert die Europäische Kommission jedoch, die Mitglieder des Beratenden Ausschusses hätten Zugriff auf die wichtigsten Dokumente und auch auf solche Dokumente, die zusätzlich für die Beurteilung des Falles von Relevanz seien.130 Die Prüfung eines Kartellfalles durch den Beratenden Ausschuss birgt somit strukturell zwar das Potential, die Stellungnahmen der Parteien mit den von der Europäischen Kommission erhobenen Vorwürfen abzuwägen und insgesamt zu bewerten. Gleichwohl scheitert eine solche Prüfung aktuell daran, dass dem Ausschuss nicht die gesamte Verfahrensakte zugänglich gemacht wird. Doch auch wenn dies geschähe, wäre der Ausschuss mangels ausreichenden Personals als reines Konsultationsorgan sowie angesichts des in der Regel riesigen Umfangs der Verfahrensakte wohl kaum in der Lage, eine solche Funktion auszufüllen. Deswegen erscheint es auch in Zukunft ausgeschlossen, dass er eine Rolle einnimmt, die eine bessere Würdigung der Argumentation der Parteien ermöglichen würde, wodurch dem Anspruch auf rechtliches Gehör besser entsprochen würde. f) Keine Kompensation durch Einbeziehung des Anhörungsbeauftragten Die Position des Anhörungsbeauftragten wurde 1982 geschaffen und mehrfach mit umfangreicheren Befugnissen ausgestattet.131 Sinn und Zweck der Tätigkeit des Anhörungsbeauftragten ergibt sich aus den Erwägungsgründen des Mandats des Anhörungsbeauftragten: 130

Proceedings for the application of Art. 101 and 102 TFEU: Key actors and checks and­ balances, S. 4. 131 Albers/Jourdan, JECLAP 2011, 185, 186 ff.; de Bronett, Art. 27 VO (EG) 1/2003, Rn. 9; zu Änderungen aufgrund der jüngsten Reform von 2011: Bueren, WuW 2012, 684, 689 ff.

B. Anspruch auf rechtliches Gehör

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„Um zu gewährleisten, dass die Verfahrensrechte der Parteien […] effektiv gewahrt werden, sollte eine in Wettbewerbsfragen erfahrene unabhängige Person, die aufgrund ihrer Integrität geeignet ist, die Objektivität, Transparenz und Effizienz solcher Verfahren zu fördern, damit betraut werden, die Wahrung dieser Rechte sicherzustellen.“132

Gewährleistet werden die Verfahrensrechte zum einen dadurch, dass der Anhörungsbeauftragte schon in der Ermittlungsphase für die Entscheidung über verschiedene Einzelfragen zuständig ist, beispielsweise gem. Art. 4 Abs. 2 lit. a Mandat des Anhörungsbeauftragten über die Frage, ob ein beschlagnahmtes Schriftstück unter das Anwaltsprivileg fällt. Ähnliche Kompetenzen kommen ihm auch weiterhin nach der Mitteilung der Beschwerdepunkte zu.133 Daneben sind aber zwei weitere Aspekte mit Blick auf die Gewährung rechtlichen Gehörs bzw. die Würdigung der vorgebrachten Argumente der Parteien besonders hervorzuheben. So verfasst der Anhörungsbeauftragte gem. Art. 14 Abs. 1 einen Zwischenbericht und einen Abschlussbericht gem. Art. 16 Abs. 1 Mandat des Anhörungsbeauftragten, in denen er feststellt, ob die wesentlichen Verfahrensgarantien eingehalten wurden.134 Dazu zählt gem. Art. 14 Abs. 1 Mandat des Anhörungsbeauftragten unter anderem die Beurteilung der „Wahrung des Rechts auf Anhörung“ und der „ordnungsgemäßen Durchführung der Anhörung“. Zwar geht aus dem Wortlaut nicht eindeutig hervor, ob sich dies ausschließlich auf die mündliche Anhörung bezieht, die der Anhörungsbeauftragte selbst durchführt. Aus systematischen Gründen liegt es jedoch nahe, darin auch die Gewährung rechtlichen Gehörs durch ein schriftliches Verfahren zu verstehen. Anderenfalls würde die Garantie mit der Formulierung „ordnungsgemäße Durchführung der Anhörung“ doppelt genannt. Trotzdem stellt diese Berichtspflicht nur fest, ob die Parteien die Möglichkeit zur Aussage hatten und zuvor eine umfassende Mitteilung über die Beschwerdepunkte erhalten haben. Eine bessere Würdigung der vorgebrachten Argumente geht damit nicht einher. Denn ein inhaltlicher Abgleich der Mitteilung der Beschwerdepunkte, des Parteivorbringens und schließlich des finalen Beschlussvorschlages findet nicht statt. Nur ein solcher ginge über eine formelle Prüfung hinaus und könnte das Haupt­ problem einer unzureichenden Würdigung zumindest teilweise kompensieren. Und auch die mündliche Anhörung, die der Anhörungsbeauftragte gem. Art 14. Abs.  1  VO  (EG)  773/2004 i. V. m. Art.  10 ff.  Mandat des Anhörungsbeauftragten durchführt, und zu der er neben Vertretern der Generaldirektion Wettbewerb unter anderem die Unternehmen einlädt, an die eine Mitteilung der Beschwerdepunkte erging, führt unmittelbar nicht zu einer besseren Würdigung der von den Parteien vorgebrachten Argumente. Denn der Anhörungsbeauftragte führt die Anhörung gem. Art. 10 Abs. 2 Mandat des Anhörungsbeauftragten zwar unabhängig durch und die im Rahmen der Anhörung gemachten Aussagen werden gem. Art. 14 Abs. 8 VO (EG) 773/2004 aufgezeichnet, was Teil der Verfahrens 132

Erwägungsgrund 3 des Mandats des Anhörungsbeauftragten. Ausführlich: Bueren, WuW 2012, 684, 691 ff.; Albers/Jourdan, JECLAP 2011, 185, 189 ff. 134 Albers/Jourdan, JECLAP 2011, 185, 196 ff. 133

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

akte wird. Bei der Anhörung handelt es sich aber nur um ein Verfahren der Verschriftlichung.135 Der Anhörungsbeauftragte würdigt die vorgebrachten Argumente nicht,136 was aber ohnehin am oft enormen Umfang der Verfahrensakte von zum Teil über 100.000 Seiten scheitern dürfte.137 Seine derzeitige Funktion vermag somit nicht die Defizite zu kompensieren, die sich aus der dreifachen Rolle der Generaldirektion Wettbewerb ergeben. Gleichwohl hat die mündliche Anhörung durchaus das Potential, die Beamten der Generaldirektion Wettbewerb durch die persönliche Konfrontation mit den Unternehmen zu einer kritischeren Würdigung von deren Argumenten zu animieren. So könnten sich diese angesichts der Präsenz des Anhörungsbeauftragten eher rechtfertigungspflichtig fühlen, wenn sie bestimmten, von den Parteien vorgebrachten Argumenten nicht folgen. Damit würde eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Argumenten der Parteien notwendig, und es wäre von einer insgesamt besseren Würdigung auszugehen. Allerdings erscheint das Eintreten eines solchen Effekts angesichts der derzeitigen Verfahrenspraxis eher in geringem Maße gegeben, wie sich zwar nicht aus den Rechtsgrundlagen zur Anhörung, jedoch aus Berichten in der Literatur ergibt: „[…] any potential confrontation between the defendant and the Commission is limited to a dialogue composed of two, set piece monologues presented, respectively, by the Commission and the defendant. As a result, oral hearings as they are currently conducted do not provide a forum for dynamic, interactive probing of evidence or discovery of the truth.“138

Zwar wird in der Literatur auch gegenteilig angeführt, dass dieses rigide System zunehmend adversatorischen Charakter annehme.139 Ein formalisiertes Verfahren, das beispielsweise ein explizites Fragerecht gegenüber den Beamten der Generaldirektion Wettbewerb vorsehen könnte, ist jedoch nicht gegeben.140 Und angesichts des enormen Umfanges von Kartellverfahren können im Rahmen der mündlichen Anhörung nur einzelne Aspekte vertieft werden. Eine Abhandlung aller relevanten Rechts- und Tatsachenfragen ist faktisch ausgeschlossen. Dieser Ansatz entspricht zwar dem Sinn und Zweck der mündlichen Anhörung, eine „zusätzliche Gelegenheit [zu] sein, um sicherzustellen, dass alle relevanten Sachverhalte […] so weit wie möglich geklärt werden.“141 Ein tiefgehender Reflexionsprozess sei 135

de Bronett, Art. 27 VO (EG) 1/2003, Rn. 39. Forrester, Concurrences 2010, 13, 15, Rn. 13. 137 Zum Umfang der Verfahrensakte: Bueren, WuW 2012, 684, 688, m. w. N. in Fn. 48. 138 Venit, in: ECLA 2009, S. 228, auf Deutsch: „Jegliche Konfrontation zwischen dem Angeklagten und der Kommission beschränkt sich auf einen Dialog, der aus zwei abgelesenen Monologen besteht, wobei erst die Kommission und dann der Anklagte spricht. Im Ergebnis sind mündliche Anhörungen derzeit kein Forum für eine dynamische und interaktive Infragestellung von Beweisen oder allgemein für die Wahrheitsfindung.“ 139 Albers/Jourdan, JECLAP 2011, 185, 194; Bueren, WuW 2012, 684, 697. 140 Vgl. Albers/Jourdan, JECLAP 2011, 185, 194; krit.: ECLF Working Group, ECJ 2010, 475, 487 f. 141 Erwägungsgrund 19 des Mandats des Anhörungsbeauftragten; vgl. auch: Schwarze/Weitbrecht, § 5, Rn. 12. 136

B. Anspruch auf rechtliches Gehör

121

tens der Generaldirektion Wettbewerb, im Rahmen dessen sie gehalten wäre, ihren eigenen, in der Mitteilung der Beschwerdepunkte vertretenen Standpunkt grundlegend zu hinterfragen, wird derzeit nicht bewirkt. Und auch wenn dies der Fall wäre, oder die mündliche Anhörung deutlich umfangreicher ausgestaltet würde, so würde sie weiterhin nur eine Abmilderung der derzeitigen Problematik einer unzulänglichen Würdigung bewirken, diese aber nicht vollständig beheben. Die mündliche Anhörung kann somit nur sehr eingeschränkt den mittelbaren Effekt haben, zu einer besseren Würdigung der Parteivorbringen zu führen. Insgesamt vermag der Anhörungsbeauftragte nur allgemein, insbesondere durch seine Berichtspflichten nach Art. 14 Abs. 1 bzw. Art. 16 Abs. 1 des Mandats des Anhörungsbeauftragten, die Rechtssicherheit von Kartellverfahren zu erhöhen. In Bezug auf das rechtliche Gehör besteht zwar die Möglichkeit, sich durch mündliche Äußerungen zusätzlich Gehör zu verschaffen. Das grundlegende Problem einer unzureichenden Würdigung wird damit jedoch in keiner Weise behoben.

4. Fazit: Erforderlichkeit einer institutionellorganisatorischen Trennung der verschiedenen Kompetenzen innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb Dem Anspruch auf rechtliches Gehör, der sowohl nach der EMRK, als auch nach der EU-GRCh auch für Verwaltungssanktionsverfahren gegen Unternehmen gilt, wird bezüglich der informatorischen Grundvoraussetzungen durch die Mitteilung der Beschwerdepunkte und durch die Möglichkeit für die Parteien, sich zu den so erhobenen Vorwürfen sowohl schriftlich, als auch auf Antrag mündlich äußern zu können, genügt. Die Würdigung der von den Unternehmen vorgebrachten Argumente ist jedoch unzureichend. Zwar ist es unerheblich, dass das Gremium der Kommissare die finale Entscheidung trifft, da sie dem von der Generaldirektion Wettbewerb erarbeiteten Entscheidungsvorschlag folgen. Dass diese aber keine organisatorische Trennung der ermittelnden, anklagenden und schließlich – faktisch – entscheidenden Stelle vorsieht, führt dazu, dass eine unvoreingenommene Würdigung der Parteivorbringen erheblich erschwert ist. Dies stellt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar, der im Fall schriftlichen Parteivorbringens trotz verschiedener Sicherungsmechanismen nicht kompensiert werden kann. Und auch die Möglichkeit einer mündlichen Anhörung kann den Anspruch auf eine unvoreingenommene Würdigung des Parteivorbringens nicht kompensieren. Die Lösung für dieses Defizit liegt in einer organisatorischen Trennung innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb. Die entscheidungsbefugten Beamten müssen dafür eine unabhängige Entität innerhalb der Behörde einnehmen, welche die Ansicht der ermittelnden und anklagenden Beamten mit den Ansichten der beschuldigten Unternehmen abwägt und eine Entscheidung trifft, die vom Gremium

122

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

der Kommissare final beschlossen wird. Die Funktion des Anhörungsbeauftragten wäre dann hinfällig, da die entscheidenden Beamten nicht nur die Schriftsätze bewerten würden, sondern auch die mündliche Anhörung vornehmen würden. Wenn als andere Lösungsmöglichkeit vorgeschlagen wird, die Rolle des Anhörungsbeauftragten weiter zu stärken,142 dann kann dies nur zu einer besseren Würdigung mündlichen Parteivorbringens führen, aber nicht die Defizite schriftlich vorgebrachter Argumente beheben. Allenfalls wenn der Anhörungsbeauftragte die Funktion eines wie oben beschriebenen, unabhängigen Entscheidungsgremiums innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb übernähme, das sowohl über mündliches, als auch über schriftliches Parteivorbringen zu entscheiden hätte,143 würde eine solche Reform die bestehenden Defizite beheben können. 5. Maßgeblichkeit der Entscheidungserheblichkeit von Verstößen für die Rechtsfolge der Nichtigkeit Wird das rechtliche Gehör heute durch unzulängliche informatorische Grundvoraussetzungen oder durch unzureichende schriftliche oder mündliche Äußerungsmöglichkeiten verletzt, oder – nach einer Reform – durch eine unzureichende Würdigung dieser Äußerungen, so muss daraus noch nicht zwangsläufig die Nichtigkeit der Entscheidung folgen, die auf diesen Äußerungen basiert. Denn auch wenn sich der EGMR zur Rechtsfolge einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bisher nicht geäußert hat, so kommt die Nichtigkeit einer Bußgeldentscheidung nur dann in Betracht, wenn der nicht angehörte Umstand potentiell entscheidungserheblich war. Diese Einschätzung teilen auch die Unionsgerichte, die ebenfalls auf die Entscheidungserheblichkeit abstellen.144 Europarechtlich wird dieser Forderung durch Art. 263 Abs. 4 AEUV entsprochen, wonach eine Nichtigkeitsklage möglich ist, sofern nach Abs. 2 „wesentliche Formvorschriften“ verletzt wurden, worunter die Nichtgewährung rechtlichen Gehörs fällt.145 Dass sich Urteile zur Erheblichkeit einer Verletzung nur auf den Umfang der Mitteilung der Beschwerdepunkte beziehen oder auf Fragen der Akteneinsicht, dürfte damit zusammenhängen, dass der Umfang der Äußerungsmöglichkeit im europäischen Kartellverfahren den verfahrensgarantierechtlichen Anforderungen genügt und

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ECLF Working Group, ECJ 2010, 475, 488, Ziff. 2 f. ECLF Working Group, ECJ 2010, 475, 488, Ziff. 1. 144 In Bezug auf unvollständige Angaben in der Mitteilung der Beschwerdepunkte als informatorische Grundvoraussetzung für die Gewährung rechtlichen Gehörs: vgl. EuGH, Urt. v. 19.10.1980 – Rs. 209/78 [u. a.], van Ladewyck [u. a.]/KOM, Slg. 1980, 3125, Rn. 24 f.; EuG, Urt. v. 08.07.2004  – Rs. T-48/00, Corus/KOM, Slg. 2004, II-2331, Rn.  154; Bechtold, EuR 1992, 41, 50; de Bronett, Art. 27 VO (EG) 1/2003, Rn. 1; Kellerbauer, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, Art. 27 VO (EG) 1/2003, Rn. 39. 145 Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Band III, Art. 263 AEUV, Rn. 167; Körber, in: Weiß, Rechtliches Gehör, S. 75. 143

C. Anspruch auf Ladung und Befragung von Zeugen

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die Unionsgerichte keine Bedenken hinsichtlich der institutionellen Organisation der Generaldirektion Wettbewerb haben.

C. Anspruch auf Ladung und Befragung von Zeugen Nach Art. 6 Abs. 3 lit. d enthält die EMRK – als Konkretisierungen des Gebots eines fairen Verfahrens –146 das Recht, „Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und 
Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für 
Belastungszeugen gelten.“ Im europäischen Kartellrecht sind Vorschriften zur Befragung von Zeugen durch die Europäische Kommission in verschiedenen Rechtsgrundlagen zu finden. So hat die Europäische Kommission gem. Art. 19 Abs. 1 VO (EG) 1/2003 ein sehr umfassendes Recht, natürliche Personen zu befragen: „Zur Erfüllung der ihr durch diese Verordnung übertragenen Aufgaben kann die Kommission alle natürlichen und juristischen Personen befragen […].“

Gleichwohl steht dies unter dem Vorbehalt, dass diese Personen ihrer Befragung zustimmen. Anzumerken ist auch, dass kein Anspruch für Unternehmen besteht, Zeugen laden zu lassen oder sie selbst zu befragen.147 Daneben kann die Europäische Kommission im Rahmen der Anhörung vor dem Anhörungsbeauftragten Personen auffordern als Zeugen auszusagen, wie sich aus Art. 13 Abs. 3 S. 2 der Durchführungsverordnung VO (EG) 773/2004 ergibt. Eine Vorschrift, aufgrund derer die Parteien an den Anhörungsbeauftragten Anträge zur Zeugenladung oder -vernehmung stellen könnten, existiert jedoch auch in dieser Hinsicht nicht. Und ohnehin handelt es sich bei Art. 13 Abs. 3 S. 2 der Durchführungsverordnung VO (EG) 773/2004 um eine Ermessensvorschrift. Es ist in dieser Hinsicht nicht ersichtlich, dass die Europäische Kommission ihr Ermessen zumindest für die Ladung relevanter Zeugen als auf Null reduziert ansieht.148 Diesbezügliche Urteile der Unionsgerichte, die sich auf eine frühere, im Wortlaut sehr ähnliche Ermessensvorschrift149 beziehen, lassen ebenfalls keine solche Tendenz erkennen.150 146 EGMR, Urt. v. 23.04.1997 – No. 21363/93 [u. a.], van Mechelen [u. a.]/Niederlande, Reports 1997-III, § 49; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 170. 147 Venit, in: ECLA 2009, S. 225, 228; Vilsmeier, S. 150 ff. 148 Vilsmeier, S. 150. 149 So Art. 3 Abs. 3 S. 2 der VO (EWG) 99/63: „Sie [die Unternehmen, Anm. d. Verf.] können auch vorschlagen, daß die Kommission Personen hört, die die vorgetragenen Tatsachen bestätigen können.“ 150 EuG, Urt. v. 20.03.2002  – Rs. T-9/99, HFB [u. a.]/KOM, Slg. 2002, II-1498, Rn.  383, mit Verweis auf: EuGH, Urt. v. 17.01.1984  – verb. Rs. 43/82 [u. a.], VBVB u. VBBB/KOM, Slg.  1984, 19, Rn.  18; ebenso: Vilsmeier, S.  150, jedoch die einschlägigen alten Rechtsvorschriften widersprüchlich zitierend.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Schließlich kann die Europäische Kommission auch bereits im Rahmen von Nachprüfungen gem. Art. 20 Abs. 2 lit. e VO (EG) 1/2003 Zeugen befragen: „Die mit den Nachprüfungen beauftragten Bediensteten der Kommission und die anderen von ihr ermächtigten Begleitpersonen sind befugt, von allen Vertretern oder Mitgliedern der Belegschaft des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung Erläuterungen zu Tatsachen oder Unterlagen zu verlangen, die mit Gegenstand und Zweck der Nachprüfung in Zusammenhang stehen“.

Dies bezieht sich auf die Ermittlungsphase vor der Mitteilung der Beschwerdepunkte und geht abermals nicht mit einem Recht zur Ladung oder eigenständigen Befragung von Zeugen einher. Ob das europäische Kartellrecht die Garantie des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK unter den oben geschilderten Umständen verletzt, hängt davon ab, ob die Bestimmung zum einen auf Unternehmen Anwendung findet und zum anderen, ob die Forderung aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK mit dem Charakter von lediglich strafrechtsähnlichen Verwaltungsverfahren überhaupt zu vereinbaren ist. Zusätzlich ist zu untersuchen, ob aus der EU-GRCh, die keine entsprechende explizite Formulierung enthält, ebenfalls ein solches Recht abgeleitet werden kann.

I. Recht zur Befragung von Belastungszeugen und zur Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen Neben der Untersuchung, welche Rechte aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK genau gefolgert werden können, und neben der Frage, ob dies auch für die EU-GRCh gilt, ist vor allem der Schutzzweck des Konfrontationsrechts zu untersuchen. Dies dient als Grundlage für die weitere Untersuchung, ob die Garantie auch Unternehmen in Verwaltungssanktionsverfahren zugute kommen muss. 1. Teleologische Auslegung des Konfrontationsrechts in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK gewährt natürlichen Personen Schutz für zwei unterschiedliche Konstellationen: Der erste Aspekt der Gewährleistung soll dem Angeklagten die Möglichkeit geben, genauso Belastungszeugen befragen zu können, wie dies die Staatsanwaltschaft kann.151 Das setzt eine mündliche Verhandlung voraus.152 Telos dieser Vorschrift ist es, so eingebrachte Zeugenbeweise durch 151 Vgl. EGMR, Urt. v. 15.06.1992 – No. 12433/86, Lüdi/Schweiz, Series A vol. 238, § 47, wonach es auf die Erlangung des Beweismaterials durch adversative Befragung ankommt. 152 Mit Verweis auf eine diesbezügliche ständige Rechtsprechung: EGMR, Urt. v. 15.06.1992 – No. 12433/86, Lüdi/Schweiz, Series A vol. 238, § 47; EGMR, Urt. v. 23.04.1997 – No. 21363/93 [u. a.], van Mechelen [u. a.]/Niederlande, Reports 1997-III, § 51.

C. Anspruch auf Ladung und Befragung von Zeugen

125

eine konfrontative Befragung in Frage stellen zu können.153 Anders als bei schriftlichen Beweisstücken ist es bei Zeugenbeweisen nämlich erforderlich, deren Beweisinhalt im Zeitpunkt der Beweiserhebung anzuzweifeln, also im Zeitpunkt der Befragung des Zeugen, und nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt. Denn bei einer späteren Verlesung von Zeugenaussagen wäre eine Infragestellung nur deutlich schwieriger möglich. Die zweite Gewährleistung hat die Qualität eines aktiven Leistungsrechts.154 Dieses gewährt angeklagten Personen das Recht, die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen zu erwirken. Ausweislich des Wortlautes muss dies unter denselben Bedingungen möglich sein, wie sie für Belastungszeugen gelten. Der Schutzzweck dieses Rechts ist somit der Grundsatz der Waffengleichheit.155 Während Staatsanwaltschaften Zeugen laden dürfen, um den Angeklagten zu belasten, muss ihm Gleiches zustehen, um sich zu entlasten. Nur so kann die Gesamtfairness des Verfahrens gewahrt werden und so der Subjektqualität des Angeklagten entsprochen werden.156 Gleichwohl wird Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK nicht einschränkungslos gewährt.157 So besteht kein Recht, eine beliebige Anzahl an Entlastungszeugen zu laden und zu befragen.158 Dieses kann vielmehr aus teleologischen Gründen im Sinne der Waffengleichheit durch Vorschriften im nationalen Verfahrensrecht begrenzt werden.159 Die Bewertung, welche Zeugen zu laden sind, obliegt regelmäßig den nationalen Gerichten.160 Ein völliger Ausschluss des Rechts Entlastungszeugen zu laden wird zwar weder in der Rechtsprechung, noch in der Literatur diskutiert, dürfte aber mit den erwähnten Einschränkungsmöglichkeiten nicht zu vereinbaren sein, da dies zum Leerlaufen von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK führen würde. 153

EGMR, Urt. v. 15.06.1992 – No. 12433/86, Lüdi/Schweiz, Series A vol. 238, § 47; EGMR, Urt. v. 23.04.1997 – No. 21363/93 [u. a.], van Mechelen [u. a.]/Niederlande, Reports 1997-III, § 51. 154 Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 201. 155 EGMR, Urt. v. 08.06.1976  – No. 5100/71 [u. a.], Engel [u. a.]/Niederlande, Series A vol. 22, § 91; EGMR, Urt. v. 22.04.1992 – No. 12351/86, Vidal/Belgien, Series A vol. 235-B, § 33; EGMR, Urt. v. 16.07.2009 – No. 18002/02, Gorgievski/Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 47; Esser, S. 633; vgl. Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 577; Weiß, S. 327. 156 Vgl. Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 198. 157 Vgl. EGMR, Urt. v. 23.04.1997 – No. 21363/93 [u. a.], van Mechelen [u. a.]/Niederlande, Reports 1997-III, § 58; ausführlich zu den Einschränkungsmöglichkeiten und -gründen: Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 202 ff. 158 EGMR, Urt. v. 08.06.1976  – No. 5100/71 [u. a.], Engel [u. a.]/Niederlande, Series A vol. 22, § 91; Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 602 f., m. w. N. aus der Rechtsprechung der EKMR. 159 EGMR, Urt. v. 08.06.1976  – No. 5100/71 [u. a.], Engel [u. a.]/Niederlande, Series A vol.  22, § 91; EGMR, Urt. v. 10.07.2011  – No. 58331/09, Gregačević/Kroatien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 60; EGMR, Urt. v. 10.10.2013 – No. 51355/10, Topić/Kroatien, nicht in der amtlichen Sammlung, §§ 40 ff.; Esser, S.  633 f.; Kühne, IntKomm, Ordner 1, Art.  6 EMRK, Rn. 605. 160 EGMR, Urt. v. 10.07.2011 – No. 58331/09, Gregačević/Kroatien nicht in der amtlichen Sammlung, § 60; EGMR, Urt. v. 10.10.2013 – No. 51355/10, Topić/Kroatien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 41; Esser, S. 633; Kühne, IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 605.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

2. Ablehnung eines Konfrontationsrechts aus allgemeinen Grundsätzen durch die Unionsgerichte Im Bereich der EU-GRCh ist zur Geltung und zum Schutzumfang eines Konfrontationsrechtes einschlägige Rechtsprechung noch nicht ergangen. Somit ist sowohl dessen allgemeine Geltung, als auch – ebenso wie für die EMRK – dessen Anwendung auf Unternehmen in Verwaltungsverfahren gänzlich ungeklärt. Vor der Einführung der EU-GRCh lehnten die Unionsgerichte im Bereich des europäischen Kartellrechts fast durchgängig eine Herleitung eines Konfrontationsrechts aus den bereits damals zu beachtenden allgemeinen Grundsätzen ab, was umso erstaunlicher ist, als für deren Bildung auch die Bestimmungen der EMRK heranzuziehen sind, die – wie dargestellt – ein solches Recht zumindest für Gerichtsverfahren explizit gewähren: „Auch wenn die Kommission kein Gericht im Sinne des Artikels 6 EMRK ist und die von ihr verhängten Geldbußen nicht strafrechtlicher Art sind, muss sie jedoch im Verwaltungsverfahren die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten […]. Die Tat­sache, dass die Kommission nach dem Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft nicht verpflichtet ist, Entlastungszeugen vorzuladen, deren Anhörung beantragt wird, verstößt nicht gegen die genannten Grundsätze. Die Kommission kann zwar natürliche oder juristische Personen anhören, wenn sie dies für erforderlich hält, ist aber auch bei Belastungszeugen nicht berechtigt, sie ohne ihr Einverständnis vorzuladen.“161

Zum Teil führen die Unionsgerichte auch an, ein Recht für Unternehmen, Zeugen laden zu lassen, bestehe auch deshalb nicht, weil es sich bei dem Verfahren vor der Europäischen Kommission um ein nicht-gerichtliches Verfahren handele.162 Diese Meinung hat das EuG auch noch nach Inkrafttreten der EU-GRCh im Jahr 2012 vertreten, jedoch ohne auf diese Bezug zu nehmen.163 Dies wirkt umso erstaunlicher, als der EuGH schon im Jahr 2005 anerkannt hat, dass sich ein Konfrontationsrecht aus Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK ergebe.164 Im konkreten Fall hat er die Verletzung wegen der Nichtladung eines bestimmten Zeugen jedoch abgelehnt, weil die Europäische Kommission ihrer Ermittlungspflicht durch anderweitige Maßnahmen nachgekommen sei.165 Die Rechtsprechung der

161 EuG, Urt. v. 20.03.2002 – Rs. T-9/99, HFB [u. a.]/KOM, Slg. 2002, II-1498, Rn. 391 f.; fast wortgleich bestätigt durch: EuG, Urt. v. 26.04.2007 – verb. Rs. T-109/02 [u. a.], Bolloré [u. a.]/ KOM, Slg. 2007, II-965, Rn. 87. 162 EuGH, Urt. v. 07.01.2004 – verb. Rs. C-204/00 P [u. a.], Aalborg Portland [u. a.]/KOM, Slg. 2004, I-403, Rn. 200; EuG, Urt. v. 27.06.2012 – Rs. T-439/07, Coats Holdings/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 171. 163 EuG, Urt. v. 27.06.2012  – Rs. T-439/07, Coats Holdings/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 171. 164 EuGH, Urt. v. 28.06.2005  – verb. Rs. 189/02 P [u. a.], Dansk Rørindustri [u. a.]/KOM, Slg. 2005, I-5425, Rn. 69 ff. 165 EuGH, Urt. v. 28.06.2005  – verb. Rs. 189/02 P [u. a.], Dansk Rørindustri [u. a.]/KOM, Slg. 2005, I-5425, Rn. 69 ff.

C. Anspruch auf Ladung und Befragung von Zeugen

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Unionsgerichte zur Geltung des Konfrontationsrechtes erweist sich somit als uneinheitlich. Dessen Schutzumfang lässt sich deshalb aus den entsprechenden Urteilen erst recht nicht entnehmen. 3. Herleitung eines Konfrontationsrechts aus der EU-GRCh Für die EU-GRCh ist nicht nur der Umfang eines Konfrontationsrechts unklar, sondern auch – sein Bestehen vorausgesetzt – dessen Rechtsquelle. In Frage kommen das in Art.  47  Abs.  2  EU-GRCh normierte Gebot eines fairen Verfahrens oder die in Art.  48  EU-GRCh normierte Achtung der Verteidigungsrechte. Die einschlägige Kommentarliteratur sieht das Konfrontationsrecht überwiegend in Art. 48 EU-GRCh verortet, stellt dies jedoch entweder nur fest oder argumentiert mit den Erläuterungen zur Grundrechtecharta, wonach Art. 48 Abs. 2 EU-GRCh der Regelung von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK entsprechen soll.166 Für eine Verortung und damit eine Herleitung des Konfrontationsrechts aus dem Gebot eines fairen Verfahrens nach Art.  47  Abs.  2  EU-GRCh mag zunächst sprechen, dass aus dem dort normierten Gebot eines fairen Verfahrens auch das Gebot der Waffengleichheit abgeleitet werden kann.167 Kann die Ermittlungsbehörde Zeugen laden, so muss dies für angeklagte Personen zugunsten ihrer eigenen, waffengleichen Verteidigung ebenfalls möglich sein. Gleichwohl ist der Grundsatz einer fairen Verteidigung für strafrechtliche Verfahren speziell in Art. 48 Abs. 2 EU-GRCh geregelt. Zu einer erfolgreichen Verteidigung gehört dabei auch, dass Angeklagte die Möglichkeit haben müssen, Umstände beweisen zu können, die ihrer Entlastung dienen, oder belastende Umstände zu hinterfragen. Sollte für die eigene Entlastung die Ladung von Zeugen erforderlich sein, so würde eine Verweigerung eine Erschwerung der Verteidigung darstellen und somit die in Art. 48 Abs. 2 EU-GRCh normierten Verteidigungsrechte verletzten. Die Ansicht der Literatur, das Konfrontationsrecht aus dem Anspruch auf Achtung der Verteidigungsrechte abzuleiten, kann somit überzeugen. Inhaltlich dürfte ein solches Recht weitgehend den Rechten aus der EMRK entsprechen, die sich alle auf den Schutzzweck der Waffengleichheit zurückführen lassen. Gleichwohl hat die Rechtsprechung, wie erwähnt, noch keine Stellung genommen, sodass diese Ausführungen unter dem Vorbehalt nachfolgender, gegenteiliger Rechtsprechung der Unionsgerichte stehen. Aus Gründen der Vereinfachung und mangels gegenteiliger Anhaltspunkte wird im Folgenden ein inhaltlicher Gleichlauf von EU-GRCh und EMRK angenommen.

166

Jarass, Art. 48 EU-GRCh, Rn. 27; Voet van Vormizeele, in: Schwarze, Art. 48 EU-GRCh, Rn. 8. 167 Blanke, in: Calliess/Ruffert, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 15; Jarass, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 37; Voet van Vormizeele, in: Schwarze Art. 47 EU-GRCh, Rn. 13.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

II. Uneingeschränkte Übertragbarkeit der Schutzzwecke auf Unternehmen insbesondere in Verwaltungssanktionsverfahren Während die Vorgaben für das Recht natürlicher Personen, in Gerichtsverfahren Zeugen zu laden bzw. laden zu lassen und diese zu befragen, nunmehr klar bestimmt sind, ist die Anwendbarkeit für Unternehmen in Verwaltungssanktionsverfahren noch ungeklärt.

1. Übertragbarkeit der Schutzzwecke des Konfrontationsrechts auf Unternehmen Werden Unternehmen angeklagt, so ist der zu befragende oder zu ladende Zeuge nicht ebenfalls ein Unternehmen, sondern stets eine natürliche Person. Diese kann ein Mitarbeiter des beklagten Unternehmens, eines anderen angeklagten oder sonstigen Unternehmens sein oder sie kann eine Person sein, die mit keinem Unternehmen in einem Zusammenhang steht. Dabei ist allgemein zu beachten, dass der Beweiswert von Zeugenaussagen in komplexen Wirtschaftsprozessen schon aufgrund der Komplexität der Verfahren geringer sein kann, weil es für Zeugen zum Teil unmöglich ist, die Prozesse als Ganzes zu erfassen. Außerdem ist der Beweiswert einer Aussage eines Entlastungszeugen umso geringer, je näher dieser dem angeklagten Unternehmen bzw. dessen Konkurrenten steht. Daraus folgt aber, dass die Aussagen solcher Belastungszeugen besonders kritisch zu hinterfragen sind. Aus diesem Grund findet hier der Schutzzweck, Zeugenaussagen durch eigene Befragungen in Frage zu stellen, erst recht auch auf Unternehmen Anwendung. Einschränkungen würden zumindest in Wirtschaftsprozessen demnach sogar noch schwerwiegendere Konsequenzen für den Beweiswert von Zeugenaussagen nach sich ziehen, als üblicherweise in Prozessen gegen natürliche Personen. Für die Ladung und Befragung von Entlastungszeugen könnte daraus gleichwohl auch das Gegenteil geschlossen werden. Wenn der Beweiswert von Zeugen in Wirtschaftsprozessen ohnehin schon gering ist, so wird die mit der Auswahl von Entlastungszeugen einhergehende Vorselektion den Beweiswert solcher Aussagen in noch höherem Maße schmälern. Gleichwohl hat die Anklagebehörde ihrerseits die Möglichkeit, Aussagen eines solchen Entlastungszeugen durch eigene Fragen an diesen Zeugen anzuzweifeln. Da die Gefahr der Vorselektion jedoch auch bei solchen Zeugen besteht, die von der Staatsanwaltschaft als Belastungszeugen geladen werden, kann dieses Argument nicht einseitig durchgreifen, sondern allenfalls allgemein den Beweiswert von Zeugenaussagen in Wirtschaftsprozessen in Frage stellen. Wenn aber die Staatsanwaltschaft berechtigt ist, solche Zeugen zu laden, dann müssen Unternehmen dazu ebenso berechtigt sein, da es anderenfalls

C. Anspruch auf Ladung und Befragung von Zeugen

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zu einer Asymmetrie in der Verhandlung kommt und der objektive Schutzzweck der Waffengleichheit verletzt würde. 2. Notwendige Zeugenladung und Zeugenbefragung auch in Verwaltungssanktionsverfahren Ob diese Ausführungen auch für Verwaltungssanktionsverfahren gelten, muss eigenständig begründet werden. Zunächst ist dafür auf die Ansicht einiger Unionsgerichte einzugehen, ein Konfrontationsrecht bestehe vor der Europäischen Kommission deswegen nicht, da diese kein Gericht sei.168 Zusätzlich zur Aus­ einandersetzung mit diesem Ausschlussargument, bedarf es auch einer positiven Begründung, wieso Unternehmen auch in Verwaltungssanktionsverfahren das Recht haben müssen, Zeugen zu laden und zu befragen. Maßgeblich ist dafür die vorangegangene teleologische Untersuchung. a) Kein pauschaler Anwendungsausschluss aufgrund nicht-gerichtlicher Sanktionierung Die in einigen Urteilen von Unionsgerichten vertretene Meinung, ein Konfrontationsrecht stehe Unternehmen in Verwaltungssanktionsverfahren deshalb nicht zu, weil es sich bei der Europäischen Kommission nicht um ein Gericht handelt, macht die Gerichtseigenschaft der entscheidenden Behörde gleichsam zur tatbestandlichen Voraussetzung. Diese Argumentation aber kann nicht überzeugen.169 Zum einen lässt der Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK, auf den sich zumindest das EuG explizit bezieht, keine dahingehende Einschränkung erkennen. Der Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 EMRK, in dem das Gebot eines fairen Verfahrens geregelt ist, dessen Ausprägung Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK ist, spricht zwar von einer Verhandlung vor einem „Gericht in einem fairen Verfahren“. Folgt man aber der Ansicht, dass Art. 6 EMRK grundsätzlich auch in Verwaltungssanktionsverfahren Anwendung findet, so ist die Argumentation der Unionsgerichte in dieser Hinsicht nicht überzeugend: Eine Einschränkung der Gerichtsgarantie kann nicht als Ausnahme hingenommen werden und daraus gleichzeitig mit einem Wortlautargument die Nichtgeltung der anderen Verfahrensgarantien hergeleitet werden. Vielmehr muss die Nichtanwendbarkeit weiterer Garantien selbständig begründet werden. Die Verfahrensgarantien sind zu unterschiedlich, als dass die für das Gericht geltende Argumentation zwangsläufig auch die Geltung bzw.

168

EuGH, Urt. v. 07.01.2004 – verb. Rs. C-204/00 P [u. a.], Aalborg Portland [u. a.]/KOM, Slg. 2004, I-403, Rn. 200; EuG, Urt. v. 27.06.2012 – Rs. T-439/07, Coats Holdings/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 171. 169 Dannecker, NZKart 2015, 30, 40 f.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Nichtgeltung anderer Verfahrensgarantien beeinflussen kann. Einschränkungen sind somit nicht ausgeschlossen, bedürften aber einer eigenständigen Begründung. b) Notwendige umfassende Geltung des Konfrontationsrechts auch in Verwaltungssanktionsverfahren Anders als gerichtliche Verfahren sind Verwaltungssanktionsverfahren weniger formell170, und es ist in der Regel nicht von einem strikten Strengbeweis auszugehen.171 Können Unternehmen keine Entlastungszeugen benennen, so ist anzunehmen, dass sie Mitarbeiter oder sonstige Zeugen zumindest in ihren Schriftsätzen zitieren werden oder deren Aussagen anderweitig in eigene Stellungnahmen einflechten werden.172 In einem solchen Fall aber kann sich mangels Unmittelbarkeit der Beweiserhebung weder die Anklagebehörde, noch das entscheidende Organ ein Bild von der Glaubwürdigkeit des zitierten Entlastungszeugen machen. Dieser Umstand spricht dafür, Unternehmen den Anspruch auf Ladung und Befragung von Zeugen auch in Verwaltungssanktionsverfahren zu gewähren. Besonders schwer wiegt dies, wenn sich ein Unternehmen durch die Zitierung eines solchen Zeugens nicht nur selbst zu entlasten versucht, sondern im Fall von Delikten, an denen mehrere Unternehmen beteiligt sind, gleichzeitig ein anderes Unternehmen belastet.173 In besonders krasser Weise hat sich diese Gefahr im weltweiten GIS-Kartellverfahren manifestiert, das sowohl ein Verfahren vor der Europäischen Kommission, als auch vor Neuseeländischen Gerichten nach sich gezogen hat.174 Im europäischen Kartellverfahren stützt sich der Antrag der Kronzeugin unter anderem auf die Aussage eines langjährigen Mitarbeiters, der zwar von Beamten der Europäischen Kommission angehört wurde,175 sich jedoch zu 170 So ist im deutschen Recht bspw. nur in Ausnahmefällen ein sog. förmliches Verwaltungsverfahren nach den §§ 63 ff. VwVfG vorgesehen, ansonsten gilt gem. § 10 VwVfG: „Das Verwaltungsverfahren ist an bestimmte Formen nicht gebunden, soweit keine besonderen Rechtsvorschriften für die Form des Verfahrens bestehen. Es ist einfach, zweckmäßig und zügig durchzuführen.“ Ausführlich zum Regel-Ausnahme Verhältnis der Formlosigkeit von deutschen Verwaltungsverfahren: Siegmund, in: Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, Lit. C, Rn. 1 ff. 171 Vgl. für das deutsche Verwaltungsrecht: Siegmund, in: Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, Lit. B, Rn. 162. 172 Genau dies macht die Klägerin im Verfahren EuGH, Urt. v. 07.01.2004 – verb. Rs. C-204/ 00 P [u. a.], Aalborg Portland [u. a.]/KOM, Slg. 2004, I-403, in Rn. 199 geltend: „[Die Klägerin] wirft dem Gericht vor, es habe in Randnummer 1399 des angefochtenen Urteils zu Unrecht ihr Vorbringen zurückgewiesen, dass ihr […] die Erklärung von Herrn Kalogeropoulos nicht entgegengehalten werden könne, da sie keine Gelegenheit gehabt habe, die Verfasser dieser Unterlagen zu befragen.“ 173 Zur steigenden Bedeutung von Zeugenaussagen angesichts einer zunehmenden Tendenz zur Einreichung von Kronzeugenanträgen: Soltész, WuW 2012, 141, 148. 174 Ausführlich zur Parallelität der Verfahren: Forrester, Facts are chiels that winna ding, S. 8 f. 175 Zur mündlichen Anhörung: EuG, Urt. v. 03.03.2011 – Rs. T-110/07, Siemens/KOM, Slg. 2011, II-477, Rn. 69.

C. Anspruch auf Ladung und Befragung von Zeugen

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keinem Zeitpunkt einem Kreuzverhör durch die anderen kartellbeteiligten Unternehmen ausgesetzt sah.176 Die Klägerin hat nun mit ihrer Klage vor dem EuG die Glaubwürdigkeit dieses Zeugen, der zugleich Mitarbeiter der Kronzeugin war, angezweifelt.177 Ohne den Zeugen befragt zu haben, also ohne sich ein persönliches Bild von ihm als Person gemacht haben zu können, konstatiert das EuG: „Herr M. war daher ein unmittelbarer Zeuge für die von ihm dargestellten Umstände. Sein Zeugnis ist somit grundsätzlich als Beweismittel mit hohem Beweiswert anzusehen. Außerdem sind die Erklärungen von Herrn M. kohärent und klar, auch wenn er sich nicht an alle tatsächlichen Einzelheiten der Durchführung des Kartells erinnert, an dem er sich für ABB 14 Jahre lang beteiligt hat. Bei einer Aussage, die sich auf einen so langen Zeitraum bezieht, ist es als normal anzusehen, wenn diese Erklärungen möglicherweise kleinere Unrichtigkeiten enthalten. Den Erklärungen von Herrn M. ist daher ungeachtet dessen, dass sie, wie vorstehend festgestellt worden ist, als für ABB abgegeben zu werten sind, hohe Glaubwürdigkeit beizumessen.“178

In darauffolgenden Abschnitten des Urteils versucht das EuG seine Einschätzung zu begründen und führt an, die Aussage eines von der Klägerin zitierten Zeugens widerspreche nicht der Aussage des Mitarbeiters der Kronzeugin.179 Ohne dies weiter nachprüfen zu können, mag dies zwar stimmen. Aus dem Umstand, dass die Aussagen des Zeugens der Klägerin den Aussagen des Mitarbeiters der Kronzeugin nicht widersprechen, muss diese aber noch nicht zwangsläufig als richtig erscheinen lassen. Frappierend für die Behauptung des EuG, den Aussagen des Mitarbeiters der Kronzeugin sei eine „hohe Glaubwürdigkeit beizumessen“ ist die exakt gegenteilige Feststellung eines Neuseeländischen Gerichts, das sich mit dem gleichen Verfahren beschäftigt hat, den Zeugen jedoch in einem Kreuzverhör vernommen hat: „As this cross-examination proceeded I formed an impression that Mr Mayr was seeking to maintain an unrealistic position.“180 „Mr Mayr’s evidence on this topic was not convincing. In recording that conclusion I am not intending to suggest that Mr Mayr was being deliberately misleading. What I am now recording is the view I developed as the cross-examination of Mr Mayr on this topic progressed. […] The position he was seeking to maintain […] was unrealistic. Mr Mayr was the principal witness for the Commission. He had worked from 1975 until 2004 for ABB, the cartel member that had informed the European Commission and the New Zealand Commerce Commission of the existence of the cartel and agreed to give evidence for the Commerce Commission in return for immunity. Mr Mayr seemed to me to be determined to maintain a position which seemingly needed to be maintained, but which could not realistically be main 176

Forrester, Facts are chiels that winna ding, S. 8. EuG, Urt. v. 03.03.2011 – Rs. T-110/07, Siemens/KOM, Slg. 2011, II-477, Rn. 63, 78 ff. 178 EuG, Urt. v. 03.03.2011 – Rs. T-110/07, Siemens/KOM, Slg. 2011, II-477, Rn. 75 ff. 179 EuG, Urt. v. 03.03.2011 – Rs. T-110/07, Siemens/KOM, Slg. 2011, II-477, Rn. 78 ff. 180 New Zealand High Court, Urt. v. 28.10.2010  – CIV 2007–404–2165, NZ Commerce Commission/Siemens, NZLR 2010, 1, Rn. 127, auf Deutsch: „Im Rahmen des durchgeführten Kreuzverhörs hat sich mir der Eindruck aufgedrängt, dass Herr Mayr versucht hat, eine unrealistische Position aufrecht zu erhalten.“ 177

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

tained. The impression I formed when the evidence was being given was that Mr Mayr was somewhat over-zealous. Related to this was the fact that Mr Mayr had devoted a considerable part of his working life entirely to cartel business and he seemed determined to present the cartel as a highly successful organisation which embraced all aspects of the GIS industry.“181

Anders als das EuG setzt sich das Neuseeländische Gericht nicht nur mit den Inhalten der Zeugenaussage auseinander, sondern auch mit der Person, wenn es feststellt, dass der Zeuge darauf festgelegt schien, eine bestimmte Meinung um des Aufrechterhaltens willen aufrecht erhalten zu haben. Zwar hatte die Europäische Kommission ebenfalls Kontakt mit dem Zeugen, jedoch nicht im Rahmen eines Kreuzverhörs, durch das dessen Aussagen hätten hinterfragt und seine Glaubwürdigkeit hätte verifiziert werden können. Ausführungen des EuG über die Glaubwürdigkeit des Zeugen sind mangels jeglichen Kontakts mit dem Zeugen kaum nachvollziehbar. Werden solche schriftlich eingebrachten Zeugenaussagen dennoch verwertet, so besteht eine hohe Gefahr, dass die womöglich einseitige Darstellung eines Sachverhalts nicht in Frage gestellt wird und es so schlimmstenfalls zu Fehlurteilen kommt. Nur wenn ein solcher Zeuge geladen und tatsächlich befragt wird, kann dessen Glaubwürdigkeit geprüft werden. Einschränkungen sind auch in Verwaltungs­ verfahren mit dem Schutzzweck der Waffengleichheit und dem Recht, Zeugen­ aussagen durch eine eigene konfrontative Befragung zu prüfen, in keiner Weise zu vereinbaren. Dies gilt umso mehr, wenn im Rahmen eines gerichtlichen Anfechtungsverfahrens wie vor dem EuG, und damit auch wie im konkreten Fall, keine Zeugenbefragung stattfindet.182 Das Gericht muss eine vorliegende Zeugenaussage dann als richtig hinnehmen, da Ausführungen über dessen Glaubwürdigkeit weitgehend nur mutmaßender Art sein können. Um ein solches Konfrontationsrecht, wie vorstehend gefordert, uneingeschränkt zu gewähren, bedarf es einer mündlichen Verhandlung. Eine solche mündliche 181 New Zealand High Court, Urt. v. 28.10.2010 – CIV 2007–404–2165, NZ Commerce Commission/Siemens, NZLR 2010, 1, Rn. 140, auf Deutsch: „Die von Herrn Mayr vorgebrachten Beweise konnten nicht überzeugen. Dabei zielt meine Feststellung nicht darauf ab zu suggerieren, Herr Mayr hätte bewusst falsch ausgesagt. Meine Überzeugung, die ich nun darlege, entstand im Laufe des Fortgangs des Kreuzverhörs von Herrn Mayr. […] Die von ihm aufrechterhaltene Position […] erschien unrealistisch. Herr Mayr war der Hauptzeuge der Kommission. Er hat für ABB von 1975 bis 2004 gearbeitet und war damit bei dem am Kartell beteiligten Unternehmen beschäftigt, das die Europäische Kommission und die Neuseeländische Handelskommission über die Existenz des Kartells informiert hat und das im Gegenzug für die zugesicherte Immunität zugestimmt hat, der Handelskommission Beweise zu liefern. Herr Mayr erschien darauf erpicht, eine Position aufrecht zu erhalten, die offensichtlich aufrechterhalten werden musste, aber realistischerweise nicht aufrechtzuerhalten war. Der Eindruck, der im Rahmen der Zeugenaussage entstand, war, dass Herr Mayr übereifrig agierte. Dies war vor dem Hintergrund zu betrachten, dass Herr Mayr während eines großen Teils seines Arbeitslebens in dem Geschäftsbereich tätig gewesen war, der von der Kartellabsprache betroffen war. Es kam ihm darauf an, das Kartell als höchst erfolgreiche Organisation darzustellen, die alle Aspekte des GIS-Marktes umfasste.“ 182 Dannecker, NZKart 2015, 30, 41.

C. Anspruch auf Ladung und Befragung von Zeugen

133

Anhörung ist in Verwaltungssanktionsverfahren zwar nicht immer vorgesehen. Der Charakter von administrativen Sanktionsverfahren steht aber einer Zeugen­ ladung und -befragung nicht grundsätzlich entgegen. Wenn die Verwaltungsbehörde wie im europäischen Kartellverfahren in Personalunion als ermittelnde, anklagende und richtende Stelle auftritt, so besteht jedoch das gravierende Problem, dass die Aussagen von Zeugen, ganz besonders von Entlastungszeugen, nicht mit der notwendigen Unvoreingenommenheit gewürdigt werden können.183 Vollumfängliche Wirkung kann dem Konfrontationsrecht nur zukommen, wenn die Zeugenaussagen von einer anderen Stelle gewürdigt werden als der Entität, welche die Ermittlungen durchgeführt hat und die Mitteilung der Beschwerdepunkte verfasst hat. Die Verwirklichung des Rechts zur Ladung und Befragung von Zeugen setzt somit eine institutionell-organisatorische Trennung voraus. Deren derzeitiges Fehlen schließt das Recht, Zeugen zu laden und zu befragen, aber keineswegs aus.184 Es kann allerdings nicht die gleiche Wirkung entfalten. 3. Rechtsfolge unterbliebener Zeugenladung bzw. nichtgewährter Möglichkeit zur Befragung Der EGMR hat in seinen Urteilen stets betont, dass die Beurteilung über die Relevanz eines Zeugen den nationalen Gerichten obliegt.185 Aufgrund des rein feststellenden Charakters von Urteilen des EGMR sind diesen keine angeordneten Rechtsfolgen zu entnehmen. Und da die Unionsgerichte weder aus der EU-GRCh, noch aus allgemeinen Grundsätzen ein Konfrontationsrecht hergeleitet haben, scheidet auch die Anerkennung einer entsprechenden Verletzung aus. Die folgenden Ausführungen können demnach auf keine Quellen aus der Rechtsprechung zurückgreifen. Eine durchgreifende Rechtsfolge kann bzgl. der Nichtladung von Zeugen nur angeordnet werden, wenn deren mögliche Aussage als erheblich für das Verfahren angesehen werden kann und eine nachträgliche Zeugenaussage das nicht unwahrscheinliche Potential eines anderen Verfahrensausgangs birgt.186 Kann ein Umstand nach Verfahrensabschluss mit Sicherheit als erwiesen angesehen werden, so wäre es eine formalistische Forderung, eine Verwaltungsentscheidung aufzuheben 183

Ausführlich zur problematischen dreifachen Rolle der Generaldirektion Wettbewerb bereits Teil 3: B. II. 3) b), S. 112 ff. 184 Vgl. Weiß, S. 326 f. 185 Jüngst: EGMR, Urt. v. 10.07.2011  – No. 58331/09, Gregačević/Kroatien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 60; EGMR, Urt. v. 10.10.2013 – No. 51355/10, Topić/Kroatien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 41; Esser, S. 633; Kühne, IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 605. 186 Vgl. hierzu die Voraussetzungen einer Aufklärungsrüge im deutschen Strafprozessrecht: Krehl, in: KK, Strafprozessordnung, § 244 StPO, Rn. 216.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

und in Bezug auf diesen Umstand erneut eine Anhörung durchzuführen, nur weil diesbezüglich kein Zeuge geladen wurde oder keine Möglichkeit zur Befragung bestand. Umgekehrt darf aber die Relevanz einer Zeugenaussage und Zeugenbefragung für den Verfahrensausgang nicht so eng verstanden werden, dass es nie zu einer erneuten Beweisaufnahme kommt. Denn gerade Zeugenaussagen ist immanent, dass ihre Verfahrensrelevanz erst durch die Zeugenaussage selbst klar wird. Somit gilt, dass sanktionierende Verwaltungsbehörden eine erneute Anhörung durchführen müssen, wenn diese die Ladung und Vernehmung von verfahrensrelevanten Zeugen abgelehnt hatten, aber belegt werden kann, dass deren Aussage in Anbetracht der Gesamtbeweislage durchaus nicht unwahrscheinlich zu einer anderen Einschätzung führen kann.

III. Fazit: Unvereinbarkeit des europäischen Kartellverfahrensrechts mit der notwendigen uneingeschränkten Geltung des Konfrontationsrechts Das Konfrontationsrecht als das Recht Belastungszeugen zu befragen und Entlastungszeugen laden zu lassen und dann zu befragen, sollte auch für Unternehmen in Verwaltungssanktionsverfahren uneingeschränkt gelten.187 Die Voraussetzungen hierfür sind im europäischen Kartellverfahren trotz der Anhörung der Parteien vor dem Anhörungsbeauftragten jedoch nicht gegeben.188 Mit den vorstehenden Ausführungen zur Geltung des Konfrontationsrechts auch für Unterneh-

187

Dannecker, NZKart 2015, 30, 39; Weiß, S. 332. Venit, in: ECLA 2009, S.  228: „While under Regulation 1/2003 there has been an increased tendency on the part of the case team to question representatives of the defendant attending the oral hearing, this questioning is limited in scope and time, frequently account­ ing for no more than 30 to 60 minutes of  a two-day hearing, and lacking the intensity and follow-up that one would find in  a well-conducted deposition. More important, there is no provision whatsoever for cross-examination of the case team by the defendant, let alone the cross-examination of witnesses in relation to documents relied on by the case team. Rather, any potential confrontation between the defendant and the Commission is limited to a dialogue composed of two, set piece monologues presented, respectively, by the Commission and the defendant.“, auf Deutsch: „Zwar werden seit der Einführung der VO  (EG)  1/2003 zunehmend Unternehmensvertreter, die bei der Anhörung des angeklagten Unternehmens anwesend sind, befragt. Jedoch ist diese Befragung inhaltlich und zeitlich auf nicht mehr als 30 bis 60 Minuten im Rahmen einer zweitägigen Anhörung begrenzt. Außerdem fehlen dabei kritische Nachfragen, wie sie in solchen Verfahren üblich sein sollten. Wichtiger aber ist noch der Umstand, dass es keine Regelungen über die Möglichkeit zum Kreuzverhör des „case teams“ durch das angeklagte Unternehmen gibt und es erst recht keine Möglichkeit zum Kreuzverhör von Zeugen gibt, die Auskunft zu Unterlagen geben könnten, die vom „case team“ als Beweise herangezogen wurden. Vielmehr ist jegliche Konfrontation zwischen dem angeklagten Unternehmen und der Europäischen Kommission auf zwei vorgefasste mündliche Stellungnahmen begrenzt, wobei eine vom angeklagten Unternehmen stammt, und die andere von der Europäischen Kommission.“ 188

D. Öffentlichkeitsgrundsatz

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men in Verwaltungssanktionsverfahren ist dies nicht zu vereinbaren.189 Dass Unternehmen nicht die Möglichkeit haben, mit Zeugenaussagen zusätzliche Beweise in das Verfahren einzubringen, wiegt dabei besonders schwer, da die Europäische Kommission in Kartellverfahren oftmals nicht in der Lage ist, lückenlose Beweise zu führen, sondern auf Beweisvermutungen zurückgreifen muss. Die Ladung von Zeugen zur Anhörung vor dem Anhörungsbeauftragten würde bei der derzeitigen Kompetenzaufteilung innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb dem Schutzzweck jedoch nur partiell genügen. Alleine eine kompetenzielle Trennung von anklagender und entscheidender Stelle ist in der Lage, Zeugenaussagen mit der nötigen Unvoreingenommenheit zu würdigen. Besonders schwer wiegt die derzeit unterbleibende Ladung von Zeugen angesichts des Umstandes, dass dies im Verfahren vor dem EuG in der Regel nicht nachgeholt wird.190

D. Öffentlichkeitsgrundsatz Der Grundsatz der Öffentlichkeit muss gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK in zweierlei Hinsicht beachtet werden: Zum einen muss öffentlich verhandelt werden (S. 1) und sodann muss das Urteil öffentlich verkündet werden (S. 2). Art. 47 Abs. 2 S. 1 EU-GRCh hingegen verlangt nur eine öffentliche Verhandlung, trifft jedoch keine Aussage über den Modus der Verkündung. Im europäischen Kartellrecht wird jedoch weder im Rahmen der Beschlussfassung durch das Gremium der Kommissare, noch im Rahmen der Anhörung vor dem Anhörungsbeauftragten öffentlich verhandelt, wie sich aus Art.  14  Abs.  6 S. 1 VO (EG) 773/2004 ergibt. Die anderen Verfahrensteile sind rein schriftlicher Natur und eine Öffentlichkeitseinbeziehung daher gar nicht möglich. Lediglich das möglicherweise nachfolgende gerichtliche Anfechtungsverfahren vor den Unionsgerichten ist öffentlich und entspricht so den Vorgaben der EMRK bzw. der EU-GRCh. Ob mit der fehlenden Verfahrensöffentlichkeit im Verfahren vor der Europäischen Kommission eine Verletzung von EMRK bzw. EU-GRCh einhergeht, ist jedoch angesichts des besonderen Charakters von Verwaltungssanktionsverfahren gewissen Zweifeln ausgesetzt. Da die Bestimmung der EU-GRCh und der EMRK zur Öffentlichkeit der Verhandlung im Wortlaut identisch sind („Jede Person hat ein Recht darauf, dass […] öffentlich […] verhandelt wird.“) und da auch keine eigenständige oder die Vorschrift gar anders interpretierende Rechtsprechung der Unionsgerichte ersichtlich ist, erfolgt die nachstehende Betrachtung einheitlich.

189 Vgl. ECLF Working Group, ECJ 2010, 475, 488; Killick/Dawes, JECLAP 2010, 211, 212; Weitbrecht, EuZW 2003, 69, 71. 190 Dannecker, NZKart 2015, 30, 41.

136

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

I. Schutzumfang, Schutzzwecke und Grenzen des Öffentlichkeitsgrundsatzes Der Öffentlichkeitsgrundsatz, als Erfordernis einer öffentlichen Verhandlung in EMRK und EU-GRCh gleichermaßen verankert, birgt in Strafverfahren zwei Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit ihm genügt wird. Zum einen muss der Öffentlichkeit Zutritt zur Verhandlung gewährt werden. Sodann muss im Rahmen dieser Verhandlung auch tatsächlich mündlich verhandelt werden,191 da anderenfalls ein Zutritt der Öffentlichkeit nicht die Schutzzwecke des Öffentlichkeitsgrundsatzes erfüllen kann. Der EGMR formuliert dies so: „The Court recalls that the public character of proceedings protects litigants against the administration of justice in secret with no public scrutiny; it is also one of the means whereby confidence in the courts, superior and inferior, can be maintained. By rendering the administration of justice visible, publicity contributes to the achievement of the aim of Article 6 § 1, namely a fair trial, the guarantee of which is one of the fundamental principles of any democratic society, within the meaning of the Convention.“192

Zusammengefasst soll also Geheimjustiz unmöglich gemacht werden, das Vertrauen in die Justiz gestärkt werden und so durch die Möglichkeit zur öffentlichen Überprüfung dem Gesamttelos eines fairen Verfahrens Genüge getan werden.193 Eingeschränkt werden kann der Grundsatz der Verfahrensöffentlichkeit gem. Art. 6 Abs. 1 S. 2 EMRK aus Gründen der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit oder zum Schutz von Jugendlichen bzw. zum Schutz des Privatlebens von Prozessparteien. Möglich ist auch eine Einschränkung, wenn eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde. Dies muss jedoch „unbedingt erforderlich“ sein. 191 Esser, S.  708; Jarass, Art.  47 EU-GRCh, Rn.  39; vgl. Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 60 f.; vgl. allgemein zum Anspruch auf eine mündliche Verhandlung: MeyerLadewig/Harrendorf, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, Art. 6 EMRK, Rn. 170. 192 EGMR, Urt. v. 17.01.2008  – No. 14810/02, Ryakib Biryukov/Russland, ECHR 2008I, § 30, auf Deutsch: „Das Gericht erinnert daran, dass die Parteien durch die Öffentlichkeit des Verfahrens vor Geheimjustiz ohne eine Möglichkeit zur Überprüfung durch die Öffentlichkeit geschützt werden sollen; so kann das Vertrauen in die erstinstanzlichen und höherinstanzlichen Gerichte gewahrt werden. Durch die Sichtbarmachung der Rechtsprechung trägt die Verfahrensöffentlichkeit dazu bei, den Telos von Art.  6  Abs.  1  EMRK zu verwirklichen, nämlich ein faires Verfahren zu gewährleisten, das eines der fundamentalen, demokratischen Prinzipien der Konvention ist.“; im Wortlaut sehr ähnlich oder identisch: EGMR, Urt. v. 08.12.1983  – No. 7984/77, Pretto [u. a.]/Italien, Series A vol. 71, § 21; EGMR, Urt. v. 08.12.1983  – No. 8273/78, Axen/Deutschland, Series A vol. 72, § 25; EGMR, Urt. v. 26.09.1995  – No. 18160/91, Diennet/Frankreich, Series A vol. 325-A, § 33; EGMR, Urt. v. 24.11.1997  – No. 21835/93, Werner/Österreich, Reports 1997-VII, § 45; EGMR, Urt. v. 20.05.1998 – No. 21257/93 [u. a.], Gautrin [u. a.]/Frankreich, Reports 1998-III, § 42; EGMR, Urt. v. 14.11.2000 – No. 35115/97, Riepan/Spanien, ECHR 2000-XII, § 27. 193 Peukert, in: Frowein/Peukert, Art.  6 EMRK, Rn.  187; Esser, S.  707; Gaede, S.  220 f.; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 60; Peters/Altwicker, § 19, Rn. 45; Sayers, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 47.213.

D. Öffentlichkeitsgrundsatz

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Anders als die EMRK enthält die EU-GRCh diese Schranken nicht. Daraus kann jedoch nicht auf die Uneinschränkbarkeit des Öffentlichkeitsgrundsatzes nach der EU-GRCh geschlossen werden. Denn Garantiebestimmungen der EUGRCh erhalten per se keine spezifischen Schranken. Vielmehr gilt gem. Art. 52 Abs.  1 EU-GRCh allgemein der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Zwar müssen über Art. 52 Abs. 1 EU-GRCh nicht zwangsläufig die gleichen Schranken wie in der EMRK gelten, jedoch erscheint es denkbar, ähnliche Einschränkungsmöglichkeiten mittels dieser Vorschrift zu begründen. Welche Rechtsfolge aus einem Verstoß abgeleitet werden sollte, kann der Rechtsprechung des EGMR nicht entnommen werden, da dieser nur Feststellungsurteile fällt. Und auch der Literatur sind genauso wie der Rechtsprechung der Unionsgerichte keine entsprechenden Ausführungen zu entnehmen. Festzustellen ist zunächst, dass eine im Einzelfall fehlende Verfahrensöffentlichkeit keine zwangsläufige Auswirkung auf die Richtigkeit des Verfahrensausgangs haben dürfte. Allein das Vertrauen in die Richtigkeit des Verfahrens dürfte geschwächt sein. Das Entstehen einer Geheimjustiz dürfte nicht zu befürchten sein, wenn es sich lediglich um einen Einzelfall handelt. Jedoch sollte dem Angeklagten das Recht zustehen, sich dem Fortgang der Verhandlung zu verweigern, wenn der Öffentlichkeit kein Zugang zum Verfahren gewährt wird. Außerdem stellt der Öffentlichkeitsgrundsatz einen Auftrag an die Legislative dar, die nationale Gerichtsverfahrensordnung so auszugestalten, dass in ihr der Zugang der Öffentlichkeit verankert ist. Doch ein Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz in der ersten Instanz muss noch nicht zwangsläufig zu einer definitiven Verletzung des Anspruchs auf ein öffentliches Verfahren führen. Dies setzt jedoch nach der Rechtsprechung des EGMR voraus, dass das Gericht der folgenden Instanz über volle gerichtliche Kontrollbefugnis verfügt.194 Diese Möglichkeit zur Heilung hat der EGMR jedoch bis jetzt nur in disziplinarrechtlichen Fällen innerhalb einer berufsständischen Kammer195 oder in Fällen geringer Geldbußen eingeräumt.196 Für Fälle kernstrafrechtlicher Sanktionen schließt er eine Heilungsmöglichkeit explizit aus.197 Der nur in der EMRK normierte zweite Aspekt des Öffentlichkeitsgrundsatzes ist das Erfordernis einer öffentlichen Urteilsverkündung. Hieran stellt der EGMR 194 EGMR, Urt. v. 23.06.1981 – No. 6878/75 [u. a.], Le Compte, Van Leuven und De Meyere/ Belgien, Series A vol. 43, § 60; EGMR, Urt. v. 10.02.1982 – No. 7299/75 [u. a.], Albert et le Compte/Belgien, Series A vol. 58, § 36; EGMR, Urt. v. 22.05.1990  – No. 11034/84, Weber/ Schweiz, Series A vol. 177, § 39; EGMR, Urt. v. 26.09.1995 – No. 18160/91, Diennet/Frankreich, Series A vol. 325-A, § 34; Peters/Altwicker, § 19, Rn. 45. 195 EGMR, Urt. v. 23.06.1981 – No. 6878/75 [u. a.], Le Compte, Van Leuven und De Meyere/ Belgien, Series A vol. 43, §§ 9 ff.; EGMR, Urt. v. 10.02.1982 – No. 7299/75 [u. a.], Albert et le Compte/Belgien, Series A vol. 58, §§ 13 f.; EGMR, Urt. v. 26.09.1995 – No. 18160/91, Diennet/Frankreich, Series A vol. 325-A, §§ 7 ff. 196 EGMR, Urt. v. 22.05.1990 – No. 11034/84, Weber/Schweiz, Series A vol. 177, §§ 7 ff., § 16. 197 EGMR, Urt. v. 14.11.2000 – No. 35115/97, Riepan/Spanien, ECHR 2000-XII, §§ 39 f.; so auch: Esser, S. 710.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

geringe Anforderungen;198 in Einzelfällen lässt er sogar die Möglichkeit einer öffentlichen Einsichtnahme in das Urteil genügen.199

II. Unmöglichkeit der Einhaltung des Öffentlichkeitsgrundsatzes in Verwaltungssanktionsverfahren Kartellverfahren vor der Europäischen Kommission sehen zu keinem Zeitpunkt eine Verfahrensöffentlichkeit vor. Weder die Sitzung des Gremiums der Kommissare, noch das diesem Beschluss vorangehende Verfahren innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb oder die mündliche Anhörung vor dem Anhörungsbeauftragten finden öffentlich statt. Ebenfalls nicht öffentlich sind die Konsultationen der Generaldirektion Wettbewerb mit anderen Entitäten innerhalb der Euro­ päischen Kommission oder mit dem Beratenden Ausschuss. Einen Verstoß gegen den Grundsatz eines öffentlichen Verfahrens stellt dies jedoch nur dar, wenn er genauso auch für Unternehmen in Verwaltungssank­tions­ verfahren gilt und er auch in Verwaltungssanktionsverfahren anwendbar sein muss. 1. Kein geringerer Maßstab wegen Unternehmenseigenschaft und lediglich administrativer Sanktionierung Eine Einschränkung des Öffentlichkeitsgrundsatzes wegen der Unterschiedlichkeit von Unternehmen im Vergleich zu natürlichen Personen erscheint nicht geboten. Denn die Schutzzwecke einer öffentlichen Verhandlung – Vermeidung von Geheimjustiz, Stärkung des Vertrauens in die Justiz und Möglichkeit zur öffentlichen Überprüfung – knüpfen nicht an Attributen an, die nur natürliche Personen aufweisen. Vielmehr weisen die Schutzzwecke eine objektiv-rechtsstaatliche Dimension auf, weshalb Gründe für eine Einschränkung des Schutzes zulasten von Unternehmen nicht ersichtlich sind. Denkbar ist es jedoch, den Umstand, dass im europäischen Kartellverfahren Sanktionen in einem Verwaltungsverfahren verhängt werden, als Grund für eine möglicherweise zulässige Einschränkung des Öffentlichkeitsgrundsatzes heranzuziehen. Dafür könnte angeführt werden, dass in Verwaltungsverfahren in der Regel weniger schwerwiegende Sanktionen verhängt werden. Für das europäische Kartellrecht mit einem Bußgeldrahmen von bis zu 10 % des Vorjahresgesamtumsatzes kann ein solches Argument, wie bereits abstrakt erörtert, aber nicht überzeugen. Der Schutzzweck, durch Gewährung einer Verfahrensöffentlichkeit

198 Vgl. Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 197; vgl. Meyer, in: Karpenstein/ Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 71; vgl. Peters/Altwicker, § 19, Rn. 47. 199 EGMR, Urt. v. 17.01.2008 – No. 14810/02, Ryakib Biryukov/Russland, ECHR 2008-I, § 34.

D. Öffentlichkeitsgrundsatz

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dem Verfahren mehr Legitimation zu verschaffen und das Vertrauen der Öffentlichkeit zu stärken, hat somit zumindest bei derart hohen Sanktionen weiterhin Geltungsbedarf. Zumindest im europäischen Kartellrecht erscheint eine Einschränkung zumindest aus teleologischen Gründen somit nicht geboten.200 2. Unvereinbarkeit einer umfassenden Geltung des Öffentlichkeitsgrundsatzes mit den Charakteristika von Verwaltungssanktionsverfahren Denkbar ist allenfalls, die Berücksichtigung des Öffentlichkeitsgrundsatzes in Verwaltungssanktionsverfahren deshalb nicht zu fordern, weil Verwaltungsverfahren per se nicht mit einer grundsätzlichen Verfahrensöffentlichkeit in Einklang zu bringen sind. Dies würde eine Reduktion des Garantiestandards für das Verwaltungssanktionsverfahren aufgrund von Zweckmäßigkeitserwägungen darstellen, wie sie bereits als grundlegende Auslegungsmethode beschrieben wurde. Notwendig ist dann aber eine spätere Wahrung der Verfahrensöffentlichkeit durch die Möglichkeit eines anschließenden gerichtlichen Anfechtungsverfahrens. Im derzeitigen Kartellverfahren kommt die Öffnung des Verfahrens für die Öffentlichkeit nur für die mündliche Anhörung vor dem Anhörungsbeauftragten in Frage. Für den Großteil des Kartellverfahrens, der von informellen Treffen und von Schriftsatzwechseln geprägt ist,201 könnte der Öffentlichkeitsgrundsatz somit bei Beibehaltung der derzeitigen Behördenstruktur seine legitimierende Wirkung nicht entfalten. Doch auch bei einer personellen Trennung der anklagenden und der entscheidenden Stelle innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb geht damit noch nicht zwangsläufig eine mündliche Verhandlung einher, in der sämtliche entscheidungsrelevanten Aspekte verhandelt werden. Vielmehr ist weiterhin eine Entscheidung nach Aktenlage denkbar, die um eine mündliche Anhörung ergänzt wird, die sich nur auf einzelne Aspekte bezieht. Für diese beiden Konstellationen sind keine Gründe ersichtlich, die gegen eine Verfahrensöffentlichkeit sprechen. Gleichwohl tritt der legitimierende Effekt der Öffentlichkeitsbeteiligung nur für die mündlich verhandelten Aspekte ein. Umfassende Legitimation kann durch den Öffentlichkeitsgrundsatz nur durch eine solche mündliche Verhandlung erreicht werden,202 die sämtliche entscheidungsrelevanten Tatsachen- und Rechtsfragen behandelt, wie es in kernstrafrechtlichen Verfahren der Regelfall ist. Ob dies jedoch mit dem Charakter von Verwaltungssanktionsverfahren zu vereinbaren ist, erscheint erheblichen Zweifeln ausgesetzt. Denn dies zu fordern würde letztendlich einen Versuch darstellen, ein administratives Verfahren einem Gerichtsverfahren gleich auszugestalten. Soll 200

Vgl. im Ergebnis so auch: Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 36. Vgl. zur Informalität sehr knapp: Bechtold, EuR 1992, 41, 42. 202 Zum Erfordernis einer mündlichen Verhandlung: Gumbel, S. 228 f., m. w. N. 201

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der Grundsatz der Öffentlichkeit dennoch gewahrt werden, so ist ein gerichtliches Verfahren vorzuziehen. Denn nur dieses kann die Schutzzwecke des Öffentlichkeitsgrundsatzes wirklich umfangreich wahren. Verwaltungsverfahren sind ihrer Natur nach somit per se nicht mit einer umfassenden Geltung des Öffentlichkeitsgrundsatzes zu vereinbaren. Entscheidend für die Zulässigkeit von Verwaltungssanktionsverfahren anstatt eines gerichtlichen Verfahrens ist somit, ob dem Anspruch auf Verfahrensöffentlichkeit in einem gerichtlichen Anfechtungsverfahren nachträglich genügt werden kann. Bestehen bleibt, dass Verwaltungsverfahren mangels Verfahrensöffentlichkeit intransparenter sind und deshalb eine geringere Legitimationswirkung haben.203

III. Heilung der fehlenden Verfahrensöffentlichkeit bei uneingeschränkter gerichtlicher Kontrolle Da im Rahmen von Verwaltungssanktionsverfahren zumindest eine umfassende Einhaltung des Öffentlichkeitsgrundsatzes weder de lege lata, noch de lege ferrenda möglich ist, kommt allein eine Heilung im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung in Betracht, um dem Öffentlichkeitsgrundsatz dennoch zu genügen. Dies setzt jedoch nach der Rechtsprechung des EGMR voraus, dass das EuG im Rahmen von Anfechtungsklagen gegen Kartellbußgeldbescheide zu einer uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle in der Lage ist und diese auch ausübt.204

E. Unschuldsvermutung Die Unschuldsvermutung, verankert in Art. 6 Abs. 2 EMRK bzw. in Art. 48 Abs. 1 EU-GRCh, gilt während der gesamten Dauer eines strafrechtlichen Verfahrens als allgemeines Prinzip, aus dem sich verschiedene verfahrensgarantierechtliche Ausprägungen ableiten. Als Grundsatz, der die einzelnen Verfahrensteile überspannt, hat vor allem das Gebot der Unvoreingenommenheit besondere Bedeutung und ist, wie noch darzustellen, im europäischen Kartellrecht auch zu beachten. Gleichwohl ist die Praxis zweierlei Bedenken ausgesetzt. Erstens fehlt eine explizite Regelung, um Befangenheitsanträge gegen bestimmte Beamte stellen zu können, die mit einem Fall befasst sind. Wann Anlass zur Annahme der Befangenheit bestehen kann, ist dabei besonders für öffentliche Stellungnahmen der Europäischen Kommission vor Verfahrensabschluss zu untersuchen. Zweitens erscheint eine gänzlich unvoreingenommene Bußgeldent 203

Forrester, Concurrences 2010, 13, 15 f., Rn. 14, 18. EGMR, Urt. v. 22.05.1990  – No. 11034/84, Weber/Schweiz, Series A vol. 177, § 39; EGMR, Urt. v. 26.09.1995 – No. 18160/91, Diennet/Frankreich, Series A vol. 325-A, § 34; Peters/ Altwicker, § 19, Rn. 45; Waser, S. 288. 204

E. Unschuldsvermutung

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scheidung angesichts der kompetenziellen Befugnisakkumulation innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb strukturell ausgeschlossen. Darüberhinaus weist die Unschuldsvermutung als Verfahrensgarantie auch materiell-rechtliche Bezüge auf. Die Beweislastverschiebung für das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen nach der VO  (EG)  1/2003 scheint hiermit nur schwierig vereinbar zu sein. Außerdem ist zu klären, ob das derzeit angewandte Beweismaß und die gängigen Grenzen für die Zulässigkeit von Vermutungsregelungen im europäischen Kartellrecht mit der Unschuldsvermutung in Einklang zu bringen sind.

I. Grundlegende Anwendbarkeit auf Unternehmen in Verwaltungssanktionsverfahren Während die Unionsgerichte zugunsten von Unternehmen auch für Verwaltungssanktionsverfahren uneingeschränkt von der Geltung der Unschuldsvermu­ tung ausgehen, hat sich der EGMR hierzu noch nicht geäußert. Gleichwohl dürfte jegliche anderslautende Ansicht kaum vertretbar sein. 1. Geltung der Unschuldsvermutung für Unternehmen nach der Rechtsprechung der Unionsgerichte Schon im Jahr 1999, also vor dem Inkrafttreten der EU-GRCh, hat der EuGH im Urteil Hüls die Geltung der Unschuldsvermutung als allgemeinen Grundsatz festgestellt: „In diesem Zusammenhang ist anzuerkennen, daß die Unschuldsvermutung [für Unternehmen, Anm.  d. Verf.], wie sie sich insbesondere aus Artikel 6 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, zu den Grundrechten gehört, die nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes […] in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt werden.“205

Zur Frage, ob dies auch für administrativ verhängte Kartellbußgelder gilt, ergänzt das Gericht: „Ferner ist anzuerkennen, daß der Grundsatz der Unschuldsvermutung angesichts der Art der fraglichen Zuwiderhandlungen sowie der Art und der Schwere der ihretwegen verhängten Sanktionen in Verfahren wegen der Verletzung der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln anwendbar ist, die zur Verhängung von Geldbußen oder Zwangsgeldern führen kann.“206

205

EuGH, Urt. v. 08.07.1999 – Rs. C-199/92 P, Hüls/KOM, Slg. 1999-I, 4336, Rn. 149; wortgleich: EuGH, Urt. v. 08.07.1999 – Rs. C-235/92 P, Montecatini/KOM, Slg. 1999, I-4575, Rn. 175. 206 EuGH, Urt. v. 08.07.1999 – Rs. C-199/92 P, Hüls/KOM, Slg. 1999-I, 4336, Rn. 150; wortgleich: EuGH, Urt. v. 08.07.1999 – Rs. C-235/92 P, Montecatini/KOM, Slg. 1999, I-4575, Rn. 175.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Wird die Unschuldsvermutung aus Art. 48 Abs. 1 EU-GRCh hergeleitet, so ergibt sich für die grundsätzliche Anwendbarkeit auf Unternehmen in Verwaltungssanktionsverfahren im Vergleich zum Urteil Hüls kein Unterschied.207 2. Begründung der Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung aus der EMRK zugunsten von Unternehmen Der EGMR hingegen hat mit dem Urteil Lutz die Geltung der Unschuldsvermutung in Verwaltungssanktionsverfahren nur zugunsten von natürlichen Personen explizit bestätigt: Art. 6 Abs. 2 EMRK müsse zur Anwendung kommen, wenn die Engel-Kriterien vorliegen.208 Dass es sich dabei um ein lediglich strafrechtsähnliches Verfahren handelt, greift der EGMR in seiner inhaltlichen Prüfung nicht auf,209 da er diesen Umstand offensichtlich für nicht relevant hält. Um die Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung zugunsten von Unternehmen zu begründen, ist auf den Telos derselben abzustellen. Im Urteil Salabiaku hat der EGMR in dieser Hinsicht die „rule of law“ angeführt.210 Der Schutzzweck ist somit objektiv-rechtsstaatlicher Natur, was den grundsätzlichen Schutz auch von Unternehmen durch die Unschuldsvermutung nahelegt. Gleichwohl beschränkt sich diese Feststellung allein auf den Umstand, dass die Unschuldsvermutung als grundlegendes Konzept auf Unternehmen Anwendung findet. Weitere Besonderheiten sind im Rahmen der einzelnen verfahrensgarantierechtlichen Ausprägungen der Unschuldsvermutung zu berücksichtigen und erfordern zum Teil eine sehr ausführliche weitergehende Prüfung.

II. Gebot der unvoreingenommenen Beweiswürdigung und Entscheidung Das Verfahren nach der VO (EG) 1/2003 ist in Bezug auf das Gebot der Unvoreingenommenheit, wie bereits erwähnt, in zweierlei Hinsicht Bedenken ausgesetzt. Zum einen deutet die mangelnde kompetenzielle Trennung zwischen den ermittelnden und den entscheidenden Beamten auf eine erhebliche Erschwerung hin, eine unvoreingenommene Entscheidung zu treffen. Zum anderen fehlt ein Rechtsbehelf, die mögliche Voreingenommenheit eines Beamten mittels eines Befangenheitsantrags geltend machen zu können.

207 Zwar noch vor Inkrafttreten der EU-GRCh, jedoch bereits auf diese Bezug nehmend: EuG, Urt. v. 12.10.2007 – Rs. T-474/04, Pergan Hilfsstoffe/KOM, Slg. 2007, II-4231, Rn. 75. 208 EGMR, Urt. v. 25.08.1987 – No. 9912/82, Lutz/Deutschland, Series A vol. 123, §§ 51 ff., insbes. § 54. 209 Vgl. EGMR, Urt. v. 25.08.1987 – No. 9912/82, Lutz/Deutschland, Series A vol. 123, §§ 51 ff. 210 EGMR, Urt. v. 07.10.1988 – No. 10519/83, Salabiaku/Frankreich, Series A vol. 141-A, § 28.

E. Unschuldsvermutung

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1. Verfahrensgarantierechtliche Vorgaben zur Geltung des Gebots der Unvoreingenommenheit in Verwaltungssanktionsverfahren zugunsten von Unternehmen Als Ausprägung der Unschuldsvermutung leitet sich das Gebot der Unvoreingenommenheit sowohl aus der EU-GRCh, als auch aus der EMRK ab. a) Unvoreingenommenheit nach der EMRK als grundlegende prozessleitende Maxime Zur notwendigen Unvoreingenommenheit des Richters gibt es nur wenige Urteile des EGMR bzw. Entscheidungen der EKMR.211 Jedoch wird aus der Unschuldsvermutung gefolgert, dass der Richter nicht bereits zu Beginn einer Verhandlung von der Schuld des Angeklagten ausgehen darf.212 Dies bedeutet, dass das Verhalten eines Richters keinen Anlass zu einer solchen Annahme geben darf.213 Nur so kann die Vermutung der Unschuld aufrechterhalten werden und der Angeklagte vor Parteilichkeit geschützt werden.214 b) Kaum Aussagen zur Geltung der Unvoreingenommenheit nach der EU-GRCh Die Unionsgerichte behandeln das Gebot der Unvoreingenommenheit noch spärlicher als der EGMR. Zwar prüfen sie in einigen Urteilen, ob das Gebot der Unvoreingenommenheit in Verfahren vor der Europäischen Kommission eingehalten wurde, bzw. erwähnen oder implizieren zumindest dessen Geltung in Verwaltungssanktionsverfahren, Ausführungen zum Inhalt sind jedoch nicht zu entnehmen.215 Auch wenn keine explizite Bezugnahme auf die EU-GRCh stattfindet, 211 Selbst der sonst sehr ausführliche IntKomm zur EMRK, an dem sich die folgende Darstellung orientiert, führt nur äußerst wenige Quellen an: Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 441 ff.; den von Kühne zitierten Entscheidungen der EKMR sind jedoch die zitierten Aussagen nicht stets zu entnehmen. Grundsätzlich dürfte der Umstand, dass nur wenige Urteile zu dieser Thematik ergangen sind, damit zusammenhängen, dass das Erfordernis der Unvoreingenommenheit bereits in den jeweiligen Strafprozessordnungen der Vertragsstaaten der EMRK als wesentliche Voraussetzung für einen fairen und die Unschuldsvermutung achtenden Prozess festgelegt ist. 212 EKMR, Entscheidung v. 05.05.1981  – No. 9037/80, X./Schweiz, D. R. 24, 224, § 3; EGMR, Urt. v. 06.12.1988 – No. 10590/83, Barberà [u. a.]/Spanien, Series A vol. 146, § 77; EGMR, Urt. v. 20.03.2001 – No. 33501/96 – Telfner/Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 15. 213 Vgl. Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 442. 214 Vgl. EKMR, Entscheidung v. 05.05.1981 – No. 9037/80, X./Schweiz, D. R. 24, 224, § 3; Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 441. 215 EuG, Urt. v. 13.01.2004 – Rs. T-67/01, JCB Service/KOM, Slg. 2004, II-56, Rn. 47; EuG, Urt. v. 26.06.2008 – Rs. T-442/03, SIC/KOM, Slg. 2008, II-1161, Rn. 220; Generalanwältin

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

so ist angesichts der in Art. 48 Abs. 1 EU-GRCh normierten Unschuldsvermutung zumindest von der Herleitung aus dieser Garantiebestimmung auszugehen und damit deren chartarechtliche Verbürgung anzunehmen. c) Stellungnahme: Notwendige Beachtung des Gebots der Unvoreingenommenheit auch in Verwaltungssanktionsverfahren gegen Unternehmen Als eine der grundlegenden Maximen von Strafverfahren muss das Gebot der Unvoreingenommenheit nach der EMRK, wie es im Rahmen der EU-GRCh bereits der Fall ist, auch zugunsten von Unternehmen gelten. Außerdem muss dies auch für Verwaltungssanktionsverfahren gelten. Denn wenn der Staat sein Strafmonopol ausübt, so ist er dafür rechtfertigungspflichtig. Dies aber gelingt nur dann überzeugend, wenn die Begründung in unvoreingenommener Weise erfolgt. Dass in solchen strafrechtsähnlichen Verfahren in der Regel weniger schwerwiegende Sanktionen verhängt werden, ändert nichts an dieser Einschätzung. 2. Unvereinbarkeit der dreifachen Rolle der Generaldirektion Wettbewerb mit dem Gebot der Unvoreingenommenheit In der derzeitigen Verfahrensausgestaltung des europäischen Kartellrechts verfassen diejenigen Beamte die Mitteilung der Beschwerdepunkte, die zuvor die kartellrechtlichen Ermittlungen durchgeführt haben. Die Mitteilung der Beschwerdepunkte erfolgt somit in der Überzeugung, die Unternehmen hätten sich der vorgebrachten Beschwerdepunkte schuldig gemacht. Bei den ermittelnden und nunmehr anklagenden Beamten hat sich somit eine solche Überzeugung gebildet, die – würden sie nunmehr nach einer objektiven Meinung zum Fall gefragt –, als Voreingenommenheit bewertet werden müsste. Reagieren Unternehmen nunmehr auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte mit Gegenargumenten und entscheiden die gleichen Beamten über die Stichhaltigkeit dieser Gegenargumente, die zuvor mit der Ermittlung und der Abfassung der Beschwerdepunkte betraut waren, so tun sie dies in voreingenommener Weise.216 Genauso wie bereits festgestellt wurde, dass diese Verfahrenspraxis gegen den Anspruch auf eine unvoreingenommene

Kokott, Schlussanträge v. 13.12.2011 – Rs. C-439/11 P, Ziegler/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 141; EuG, Urt. v. 28.02.2012 – Rs. T-282/08, Grazer Wechselseitige Versicherung/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn.  80 ff., 111 ff.; EuG, Urt. v. 28.02.2012  – verb. Rs. T-268/08 und T-281/08, Land Burgenland, Republik Österreich/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 73. 216 Siehe hierzu bereits die Ausführungen unter Teil 3: B. II. 3. b), S. 112 ff.; grundlegend: Wils, World Comp. 2004, 201, 212 ff.

E. Unschuldsvermutung

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Würdigung im Rahmen der Gewährung rechtlichen Gehörs verstößt, ist sie auch mit der Unschuldsvermutung unvereinbar. Gegen eine solche Einschätzung ließen sich zwar Effizienzargumente anführen, die für die derzeitige Behördenorganisation sprechen. Allein daraus zu schließen, das Gebot der Unvoreingenommenheit brauche nicht beachtet zu werden, kann damit aber wohl kaum gerechtfertigt werden. Gleiches dürfte für das Argument gelten, in Verwaltungssanktionsverfahren würden weniger schwerwiegende Sanktionen als in kernstrafrechtlichen Verfahren verhängt, was für Kartellbußgelder, wie bereits dargelegt, ohnehin kaum überzeugen kann. Auch erscheint es mit der Charakteristik von Verwaltungssanktionsverfahren nicht grundsätzlich unvereinbar, Verfahren so auszugestalten, dass dem Gebot der Unvoreingenommenheit Rechnung getragen wird.217 Und selbst wenn man diesen Argumenten nicht folgt, würde jedenfalls der Anspruch auf rechtliches Gehör weiterhin für eine institutionelle Trennung innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb streiten. 3. Unzulässigkeit des Fehlens eines Rechtsmittels gegen sonstige Verstöße gegen das Gebot der Unvoreingenommenheit Es ist jedoch auch denkbar, dass Beamte zusätzlich noch aus Gründen als voreingenommen anzusehen sind, die nicht institutioneller Natur sind, sondern in ihrer Person oder ihrem Verhalten begründet sind. In kernstrafrechtlichen Verfahren sehen die nationalen Rechtsordnungen in solchen Fällen meistens die Möglichkeit vor, einen Befangenheitsantrag gegen voreingenommene Richter zu stellen. Im europäischen Kartellrecht fehlt eine solche Regelung, mittels derer befangene Beamte vom Verfahren ausgeschlossen werden können.218 Dies stellt ein nicht hinzunehmendes Defizit dar. Während in Gerichtserfahren die Befangenheit von Richtern stets zu deren Ausschluss führt, muss als Besonderheit von Verwaltungssanktionsverfahren berücksichtigt werden, ob eine Beeinflussung des Verfahrens durch einen voreingenommenen Beamten überhaupt potentiell möglich ist. Relevant dafür sind das Verfahrensstadium, wer die entsprechende Äußerung getätigt hat und mögliche Besonderheiten des konkreten Verfahrensablaufs. 217 Belgien, Spanien und Süd Afrika als Beispiele für Länder nennend, in denen untersuchend, anklagende und entscheidende Stellen innerhalb der jeweiligen Wettbewerbsbehörden kompetenziell getrennt seien: Forrester, E. L.Rev. 2009, 817, 838; das französische Kartellrecht als positives Beispiel anführend: Möschel, DB 2010, 2377, 2380; vgl. außerdem die in der Schweiz getrennten Aufgaben des Sekretariats gem. Art. 23 KG und die der Wettbewerbskommission gem. Art. 18 ff. KG. 218 Montag/Chapman weisen darauf hin, dass sich die ehemalige Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes gleichwohl wegen möglicher Befangenheit mehrfach bei kartellrechtlichen Entscheidungen ihrer Stimme enthalten hat: Montag/Chapman, in: Baudenbacher, S. 56 f., m. w. N., detailliert in Fn. 6.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Derzeit entwirft die Generaldirektion Wettbewerb einen Beschlussvorschlag, welcher dem Gremium der Kommissare zur Entscheidung vorgelegt wird. In aller Regel üben diese kein Ermessen aus und ändern die Entscheidung auch sonst nicht ab.219 Zwar mag die Voreingenommenheit eines Kommissars nach außen zunächst ein Bild abgeben, das mit dem Anspruch auf eine legitime Entscheidung scheinbar nicht vereinbar ist. Jedoch ist jegliche negative Einflussnahme durch seine Voreingenommenheit mangels eines Entscheidungsspielraums ausgeschlossen, weswegen ein Ausschluss des Kommissars von der Entscheidungsfindung unnötig erscheint. Dies gilt jedoch nicht für den zuständigen Wettbewerbskommissar, der auf die Entscheidungsfindung innerhalb seiner Generaldirektion einwirken kann. Gibt das Verhalten von Beamten der Generaldirektion Wettbewerb, die den notwendigen Beschlussvorschlag ausarbeiten, selbst Anlass zur Annahme der Befangenheit, so sind anders als für das Gremium der Kommissare keine Einschränkungen denkbar. Dieser betreffende Beamte muss mittels eines Befangenheitsantrags vom Verfahren ausgeschlossen werden können. Bei einer Trennung der anklagenden und der entscheidenden Entität innerhalb der Generaldirektion käme es gleichwohl nur auf die Unvoreingenommenheit der tatsächlich entscheidungsgefugten Beamten an. Um das bestehende Garantiedefizit zu beheben, bedarf es einer entsprechenden Regelung, um Befangenheitsanträge stellen zu können.

III. Verbot schuldpräsumtiver öffentlicher Äußerungen vor Verfahrensabschluss Über kartellrechtliche Verfahren vor der Europäischen Kommission gegen oftmals international tätige Konzerne wird nicht selten ab dem Zeitpunkt erster Ermittlungen medial umfassend berichtet. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die betroffenen Unternehmen zur Tatsache von gegen sie laufenden Ermittlungen öffentlich Stellung nehmen und sich so gegen den von der Europäischen Kommission erhobenen Verdacht wehren. In diesem Zusammenhang stellt sich jedoch die Frage, inwiefern die Europäische Kommission bzw. die zuständige Generaldirektion Wettbewerb während des laufenden Verfahrens ihrerseits die eigene, oftmals vermutlich erheblich divergierende Ansicht öffentlich äußern dürfen. So hat Joaquín Almunia im Jahr 2014 zum damaligen Missbrauchsverfahren gegen Google als für Wettbewerbsrecht zuständiger Kommissar einen Brief veröffentlicht, den er mit „Ich diszipliniere Google“ betitelt hat.220 Darin schreibt er unter anderem, er habe „ernsthafte Bedenken zu mehreren Geschäftspraktiken Googles geäußert.“221 Dahingestellt 219

de Bronet, ZWeR 2012, 157, 180. Almunia, FAZ v. 13.05.2014, S. 11. 221 Almunia, FAZ v. 13.05.2014, S. 11. 220

E. Unschuldsvermutung

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ob diese früheren Äußerungen zulässig waren und dahingestellt in welchem Kontext sie erfolgten, macht sich Kommissar Almunia diese Äußerungen in dem veröffentlichten Brief erneut vor Verfahrensabschluss zu eigen und impliziert, dass er das Vorliegen eines Verstoßes für überwiegend wahrscheinlich hält. Die Veröffentlichung erfolgte nach Abschluss des Verfahrens durch die zuständige Generaldirektion Wettbewerb, jedoch vor der finalen Entscheidung durch die Europäische Kommission. Derzeit ist für das europäische Kartellrecht weder geklärt, wo die Grenzen für solche Äußerungen liegen, noch besteht die Möglichkeit, einen Befangenheitsantrag gegen Beamte zu stellen, die solche Äußerungen tätigen. Eine gerichtliche Anfechtung greift nur durch, sofern sich die schuldpräsumtive Äußerung als entscheidungserheblich erweist.222 1. Verfahrensgarantierechtliche Vorgaben zur Unzulässigkeit öffentlicher Äußerungen Um die Grenzen für öffentliche Äußerungen von Mitgliedern der Europäischen Kommission zu bestimmen, bedarf es einer Auseinandersetzung mit der Frage, wie weit die Unschuldsvermutung in dieser Hinsicht Schutz entfalten kann. a) Zulässigkeit öffentlicher Äußerungen nach der EMRK bis zur Grenze der Voreingenommenheit Der EGMR geht dann von einem Verstoß gegen die Unschuldsvermutung durch öffentliche Aussagen aus, wenn sie die vorstehend erläuterten Grenzen des Verbots einer voreingenommenen Verhandlungsführung überschreiten. Äußerungen staatlicher Stellen vor Verfahrensabschluss zu einer noch im Stadium der Ermittlung befindlichen Sache stellen danach insbesondere dann einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung dar, wenn sie die Schuld des Angeklagten unterstellen oder gar positiv feststellen.223 In solchen Fällen ist ein Verstoß gegen die Un-

222 EuGH, Urt. v. 16.12.1975 – verb. Rs. 40/73 [u. a.], Suiker Unie [u. a.]/KOM, Slg. 1975, 1668, Rn. 91/92; EuG, Urt. v. 07.07.1994 – Rs. T-43/92, Dunlop Slazenger/KOM, Slg. 1994, II-447, Rn. 29; EuG, Urt. v. 06.07.2000 – Rs. T-62/98, Volkswagen/KOM, Slg. 2000, II-2713, Rn. 283; bestätigt durch: EuGH, Urt. v. 18.09.2003  – Rs. C-338/00 P, Volkswagen/KOM, Slg.  2000, I-9219, Rn.  163; EuG, Urt. v. 15.03.2006  – Rs. T-15/02, BASF/KOM, Slg. 2006, II-516, Rn. 606; EuG, Urt. v. 05.04.2006 – Rs. T-279/02, Degussa/KOM, Slg. 2006, II-913, Rn. 416. 223 Vgl. EGMR, Urt. v. 10.02.1995  – No. 15175/89, Allenet de Ribemont/Frankreich, Series A vol. 308, § 35; EGMR, Urt. v. 10.03.2002  – No. 42095/98, Daktaras/Litauen, ECHR 2000-X, § 41; EGMR, Urt. v. 26.03.2002 – No. 48297/99, Butkevičius/Litauen, ECHR 2000-X, § 49; EGMR, Urt. v. 28.10.2004 – No. 48173/99 [u. a.], Y. B. [u. a.]/Türkei, nicht in der amtlichen Sammlung, § 43.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

schuldsvermutung anzunehmen.224 Sinn und Zweck des Verbotes ist es, nicht den Anschein der Voreingenommenheit des Gerichts hervorzurufen oder dieses gar in seiner Beweiswürdigung durch entsprechende öffentliche Vorabäußerungen zu beeinflussen.225 Schwierig ist die Bestimmung bei weniger drastischen Äußerungen, insbesondere wenn ein großes Informationsinteresse der Öffentlichkeit an einem laufenden Verfahren besteht. In solchen Fällen hält der EGMR die Wortwahl und den Kontext der Äußerung für maßgeblich, um zu entscheiden, ob es zu einer Verletzung der Unschuldsvermutung gekommen ist.226 Eine absolute Grenze dürften Äußerungen darstellen, welche die Schuld des Angeklagten unterstellen. Das Verbot, solche Äußerungen zu tätigen, betrifft jedoch nicht nur diejenigen Organe, die für die Sanktionierung unmittelbar zuständig sind, sondern auch andere (autoritative) staatliche Organe.227 Da der EGMR nur feststellende Urteile fällt, sind der Rechtsprechung keine Aussagen über die Folgen einer solchen Verletzung der Unschuldsvermutung zu entnehmen. b) Unklare Grenzen der Zulässigkeit öffentlicher Äußerungen nach der Rechtsprechung der Unionsgerichte Die Unionsgerichte haben sich anders als der EGMR noch nicht abstrakt zur Zulässigkeit öffentlicher Äußerungen der Europäischen Kommission während eines laufenden Verfahrens geäußert. Gleichwohl hat das EuG im Urteil Volkswagen in dieser Hinsicht hervorgehoben, dass eine Veröffentlichung von Teilen eines Entscheidungsentwurfs, der noch nicht von der Europäischen Kommission beschlossen war, gegen die Unschuldsvermutung verstoßen hat.228 Das Gericht bezieht sich dabei hinsichtlich der Geltung der Unschuldsvermutung in Verwaltungssanktionsverfahren auf die Rechtsprechung des EGMR.229

224

EGMR, Urt. v. 10.02.1995  – No. 15175/89, Allenet de Ribemont/Frankreich, Series A vol. 308, § 41. 225 EGMR, Urt. v. 10.02.1995  – No. 15175/89, Allenet de Ribemont/Frankreich, Series A vol. 308, § 41. 226 EGMR, Urt. v. 10.03.2002 – No. 42095/98, Daktaras/Litauen, ECHR 2000-X, §§ 41, 43; EGMR, Urt. v. 28.10.2004  – No. 48173/99 [u. a.], Y. B. [u. a.]/Türkei, nicht in der amtlichen Sammlung, § 44. 227 EGMR, Urt. v. 10.02.1995  – No. 15175/89, Allenet de Ribemont/Frankreich, Series A vol. 308, § 41; EGMR, Urt. v. 10.03.2002 – No. 42095/98, Daktaras/Litauen, ECHR 2000-X, §§ 41 f.; EGMR, Urt. v. 26.03.2002 – No. 48297/99, Butkevičius/Litauen, ECHR 2000-X, § 49; EGMR, Urt. v. 28.10.2004  – No. 48173/99 [u. a.], Y. B. [u. a.]/Türkei, nicht in der amtlichen Sammlung, § 44. 228 EuG, Urt. v. 06.07.2000 – Rs. T-62/98, Volkswagen/KOM, Slg. 2000, II-2713, Rn. 281. 229 EuG, Urt. v. 06.07.2000 – Rs. T-62/98, Volkswagen/KOM, Slg. 2000, II-2713, Rn. 281.

E. Unschuldsvermutung

149

2. Voraussetzungen für die Annahme eines Verstoßes gegen das Verbot öffentlicher Äußerungen im europäischen Kartellrecht Die Kriterien des EGMR, wann öffentliche Äußerungen vor Verfahrensabschluss einen Verstoß gegen das Gebot der Unvoreingenommenheit darstellen, überzeugen. Sie sollten für die EU-GRCh übernommen werden und bezogen auf das europäische Kartellrecht weiter konturiert werden. Überzeugend ist zunächst, in allen solchen Äußerungen einen Verstoß zu sehen, die eine Stellungnahme zur Schuld des verdächtigten Unternehmens darstellen. Davon sollten nicht nur Äußerungen zur Frage umfasst sein, die sich auf die Tatsache einer Bußgeldverhängung beziehen, sondern auch solche Äußerungen, welche die Modalitäten einer Bebußung betreffen. Denn sie implizieren bereits, dass über die Bußgeldverhängung entschieden ist. Aussagen zum Vorliegen bestimmter Tatbestandsvoraussetzungen sind dann unproblematisch, wenn ihr Vorliegen lückenlos nachweisbar ist. Dies gilt auch dann, wenn ihre Subsumtion unter einen Verbotstatbestand den Schluss zulässt, dass es zu einer Sanktionierung kommen wird, solange diese Tatsachen weiterhin einem unwiderlegbaren Beweis zugänglich sind. Anders stellt sich die Situation dar, wenn Äußerungen über das Vorliegen von Tatbestandsvoraussetzungen weiteren Wertungen oder der Anwendung von Vermutungsregelungen unterliegen. Da dies im Kartellrecht für die Mehrzahl der Tatbestandsmerkmale oder von Teilen davon der Fall ist, dürfte die Möglichkeit zu öffentlichen Stellungnahmen deutlich eingeschränkt sein. Wie bereits für allgemeine Befangenheitsanträge dargestellt, sind auch bei öffentlichen, schuldpräsumtiven Äußerungen die Besonderheiten von Verwaltungssanktionsverfahren zu berücksichtigen. So können schuldpräsumtive Äußerungen vor Verfahrensabschluss im europäischen Kartellrecht nur dann den Anschein der Berfangenheit erwecken und somit negative Auswirkungen auf den Inhalt und die Legitimation einer Entscheidung haben, wenn dem Beamten, der sich entsprechend geäußert hat, auch tatsächlich eine eigenständige Entscheidungskompetenz zukommt. Äußerungen, die nach Abschluss des Verfahrens innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Union vorgenommen werden, können aus diesem Grund in der Regel nicht einen solchen Anschein erwecken. Hierunter fiele die oben zitierte Äußerung von Kommissar Almunia. Äußerungen von Mitgliedern der Generaldirektion Wettbewerb in einem früheren Verfahrensstadium dürften hingegen in der Regel einen relevanten Verstoß darstellen. Bei einer Trennung der anklagenden und der entscheidenden Entität innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb würde die Gefahr von Verstößen hingegen deutlich reduziert. Die anklagenden Beamten könnten eine gewisse informatorische Öffentlichkeitsarbeit leisten, ohne dadurch den Anschein der Voreingenommenheit zu kreieren. Die entscheidenden Beamten hingegen sähen sich in ihrer Rolle als neutrales Entscheidungsorgan gar nicht dem Druck ausgesetzt, die Öffentlichkeit zu informieren. Eine organisatorische Trennung dieser beiden Kompetenzen verhilft somit auch dieser Garantie zu einer besseren Wirksamkeit.

150

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

3. Teleologische Unvereinbarkeit des Fehlens eines Rechtsmittels gegen schuldpräsumtive öffentliche Äußerungen Derzeit fehlt im europäischen Kartellrecht eine Regelung, um Befangenheitsanträge stellen zu können. Verstöße gegen das Verbot schuldpräsumtiver Äußerungen vor Verfahrensabschluss können nur nachträglich gerichtlich gerügt werden, und sie müssen für die Entscheidung erheblich gewesen sein, was zum gänzlichen Leerlauf der Garantie führt, wie das Unternehmen Volkswagen vor dem EuGH vorgebracht hat: „Wenn man es zuließe, dass Unregelmäßigkeiten […] die Wirksamkeit der angefochtenen Entscheidung nicht in Frage stellten, blieben solche Unregelmäßigkeiten regelmäßig ohne Sanktion, da ein Unternehmen niemals, und zwar auch nicht bei voller Kenntnis der Kommissionsakten, in der Lage sei, nachzuweisen, dass die Entscheidung bei ordnungsgemäßem Handeln der Kommission anders ausgefallen wäre.“230

Dass der EuGH im gleichen Urteil dagegen anführt, es bestehe immerhin die Möglichkeit, Ersatz für den entstandenen Schaden zu verlangen,231 kann nicht überzeugen, da es sich um eine völlig andere Argumentationsebene handelt. Denn der in Frage stehende Schaden ist nicht der eines möglichen finanziellen Nachteils, sondern der eines möglicherweise falschen Urteils. Zudem ist die Entscheidungserheblichkeit so gut wie nie nachweisbar. De facto führt die Ansicht der Unionsgerichte somit zu einem nur geringen Schutz. Dass der EGMR in vergleichbaren Fällen Geschädigten einen Ersatz in Geld zugesprochen hat, liegt im konkreten Einzelfall begründet.232 Vor allem zu beachten ist aber, dass der Schutzzweck des Verbotes schuldpräsumtiver Äußerungen vor Verfahrensabschluss nicht nur darin liegt, eine materiell richtige Entscheidung sicherzustellen, sondern vor allem die Legitimation der so ergangenen Entscheidung zu erhöhen. Während eines laufenden Verfahrens kann dieser nur gewahrt werden, indem der jeweilige Beamte bei einem entsprechenden Verstoß ausgeschlossen wird. Begründen lässt sich dies anhand eines Vergleichs mit den Gründen, wieso ein Richter bei Voreingenommenheit abberufen wird. Das Gebot der Unvoreingenommenheit wird aus der Unschuldsvermutung hergeleitet. Sobald der Staat sein Strafmonopol ausübt, unterliegt er einer besonderen Begründungspflicht, deren Kehrseite die Vermutung der Unschuld ist. Diese Vermutung wird oftmals nicht durch eine simple Subsumtion durchbrochen, sondern beinhaltet komplexere Wertenentscheidungen, die nicht immer leicht nachzuvollziehen sind. Richter, die derartige Entscheidungen treffen, bekleiden dieses Amt, weil davon ausgegangen wurde, ihre Person sei derart integer, dass sie in der Lage sind, unvoreingenommen Entscheidungen zu treffen. Erschüttern sie durch eigenes 230

EuGH, Urt. v. 18.09.2003 – Rs. C-338/00 P, Volkswagen/KOM, Slg. 2000, I­-9219, Rn. 156. EuGH, Urt. v. 18.09.2003 – Rs. C-338/00 P, Volkswagen/KOM, Slg. 2000, I­-9219, Rn. 165. 232 EGMR, Urt. v. 10.02.1995 – No. 15175/89, Allenet de Ribemont/Frankreich, Series A vol. 308, §§ 59 ff. 231

E. Unschuldsvermutung

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Verhalten dieses Vertrauen, so wird damit die Annahme widerlegt, sie eigneten sich zur Ausübung einer solchen Vertrauensposition. Damit einher geht auch, dass diese Person nicht mehr geeignet ist, durch eine Entscheidung zulasten des Angeklagten die Vermutung der Unschuld zu widerlegen. Es kommt also gerade nicht auf eine konkrete Fehlentscheidung an, sondern auf die Zerstörung alleine des Vertrauens in die Unvoreingenommenheit. Wiederhergestellt werden kann dieses Vertrauen nur durch den Austausch des jeweiligen Richters. Was so für das Gebot der Unvoreingenommenheit gilt, kann genauso auf das Verbot öffentlicher, schuldpräsumtiver Äußerungen übertragen werden und muss auch für Beamte gelten, die Sanktionen in Verwaltungsverfahren verhängen. Zwar verhängen sie keine kernstrafrechtlichen Sanktionen. Gleichwohl ist auch ihr Tätigwerden auf das staatliche Strafmonopol zurückzuführen. Somit sind die obigen Ausführungen übertragbar und der Schutzzweck des Verbots schuldpräsumtiver Äußerungen kann nur gewahrt werden, wenn Beamte während eines laufenden Verfahrens abberufen werden können. Mangels einer entsprechenden Regelung Verstöße zu rügen und auf eine Abberufung hinzuwirken, ist die derzeitige Rechtslage mit diesen Forderungen nicht vereinbar. Wird erst nach dem Abschluss eines Verfahrens klar, dass sich Beamte in schuldpräsumtiver Weise geäußert haben, so kommt als durchgreifende Rechtsfolge nur die Nichtigkeit so ergangener Verwaltungssanktionsentscheidungen in Betracht. Ob eine so drastische Rechtsfolge jedoch geboten ist, erscheint zweifelhaft. Zwar kann nur so das Vertrauen in die Richtigkeit und damit die Legitimation der Entscheidung umfassend gewahrt werden. Gleichwohl hätte eine gänzliche Wiederaufnahme eine enorme Verfahrensverlängerung zur Folge. Gerade Wirtschaftsverfahren wie das europäische Kartellbußgeldverfahren dauern oftmals schon auf administrativer Ebene mehrere Jahre und sind mit erheblichen Belastungen für die Unternehmen verbunden.233 Eine denkbare Alternativlösung, die dem Beschleunigungsgebot Rechnung trägt, könnte jedoch auch mit einer Heilung des Legitimationsdefizits durch eine umfassende gerichtliche Nachprüfung erreicht werden. Vorausgesetzt das Gericht übt eine uneingeschränkte inhaltliche Kontrolle aus, legitimiert das Urteil die Verwaltungssanktionsentscheidung nachträglich. Ändert das Gericht die Verwaltungssanktionsentscheidung ab und setzt somit an deren Stelle ein eigenes Urteil, so ist die Rechtsfolge der Bußgeldverhängung durch das Urteil bzw. das zum Urteil führende Verfahren legitimiert. Der dritte mögliche Verfahrensausgang wäre, dass das Gericht die Entscheidung für nichtig erklärt. Eine gänzliche Nichtigerklärung dürfte aber nur bei gravierenden Mängeln des Sanktionsverfahrens mit unmittelbarer Auswirkung auf die Sanktionsentscheidung in Frage kommen und insbesondere aufgrund der gerichtlichen Kompetenz zur Abänderung der Sanktions­entscheidung den Ausnahmefall darstellen. Vorausgesetzt das EuG übt 233

Ausführlich siehe hierzu die Ausführungen unter Teil 3: H. II, S. 248 ff.

152

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

seine Kontrolle vollumfänglich aus, so ist die derzeitige Rechtslage im europäischen Kartellrecht mit diesen Vorgaben vereinbar. 4. Fazit: Notwendige Einführung einer Regelung zur Stellung von Befangenheitsanträgen Ob öffentliche schuldpräsumtive Äußerungen in Verwaltungssanktionsverfahren gegen das Gebot der Unvoreingenommenheit verstoßen, hängt maßgeblich davon ab, wer sich entsprechend geäußert hat und zu welchem Zeitpunkt des Verfahrens dies erfolgt ist. Berechtigt die Äußerung zur Annahme des Eindrucks der Voreingenommenheit, so ist es notwendig, einen Befangenheitsantrag gegen den jeweiligen Beamten stellen zu können. Berufen könnten sich Unternehmen dabei auf die – derzeit noch fehlende – Befangenheitsregelung, mit der sie sich allgemein gegen die mögliche Voreingenommenheit von Beamten wenden können sollten. Auf die Entscheidungserheblichkeit darf es nicht ankommen. Wird die Befangenheit erst nach Beendigung des Verwaltungssanktionsverfahrens bekannt, so ist anstatt eines neuen Verfahrens ein gerichtliches Verfahren als Heilung vorzugswürdig.

IV. Verbot der Beweislastverschiebung Nach aktueller Rechtslage obliegt es der Europäischen Kommission, Verstöße gegen das europäische Wettbewerbsrecht gem. Art. 101 Abs. 1 AEUV zu beweisen. Hingegen obliegt es den verdächtigten Unternehmen ihrerseits, das Vorliegen möglicher Rechtfertigungsgründe nach Art. 101 Abs. 3 AEUV darzulegen. Diese Beweislastverteilung ergibt sich aus Art. 2 S. 2 VO (EG) 1/2003: „Die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen des Artikels 81 Absatz 3 des Vertrags [nunmehr Art. 101 Abs. 3 AEUV, Anm. d. Verf.] vorliegen, obliegt den Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen, die sich auf diese Bestimmung berufen.“

Angesichts der aus der Unschuldsvermutung grundsätzlich abgeleiteten staatlichen Beweislast ist das derzeitige System hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit den strafrechtlichen Verfahrensgarantien berechtigten Zweifeln ausgesetzt. 1. Unzulässigkeit von Beweislastverschiebungen nach der EMRK Die Last zu beweisen, dass eine angeklagte natürliche Person schuldig ist, liegt nach Ansicht des EGMR grundsätzlich bei den Anklagebehörden.234 Wäre der An 234

EGMR, Urt. v. 06.12.1988  – No. 10590/83, Barberà [u. a.]/Spanien, Series A vol. 146, § 77; EGMR, Urt. v. 20.03.2001 – No. 33501/96 – Telfner/Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 15.

E. Unschuldsvermutung

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geklagte verpflichtet, seine Unschuld nachzuweisen, so würde dies eine unzulässige Verschiebung der Beweislast darstellen, die mit der Unschuldsvermutung nicht zu vereinbaren wäre.235 Diese Beweislast des Staates bezieht sich sowohl auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen, als auch auf das Nichtvorliegen möglicher Rechtfertigungsgründe.236 Diese umfassende staatliche Beweispflicht spiegelt die fundamental rechtsstaatliche Bedeutung der Unschuldsvermutung wider und ist somit ein Element der Kehrseite des staatlichen Strafmonopols.237 2. Billigung der Aufteilung der Beweislast durch die Unionsgerichte unter Außerachtlassung der EU-GRCh Die in der VO  (EG)  1/2003 festgelegte Beweislast, wonach die Europäische Kommission den Nachweis einer Zuwiderhandlung erbringen muss, das betroffene Unternehmen hingegen das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen darlegen muss, wird durch die Rechtsprechung der Unionsgerichte nicht beanstandet: Schon im Jahr 2006 hat das EuG im Urteil Peróxidos Orgánicos ausgeführt, es handele sich bei dieser Rechtsauffassung um eine ständige Rechtsprechung: „[Es ist] zunächst an die ständige Rechtsprechung zu erinnern, wonach zum einen es der Partei oder Behörde, die den Vorwurf einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln erhebt, obliegt, die Beweismittel beizubringen, die das Vorliegen der eine Zuwiderhandlung darstellenden Tatsachen rechtlich hinreichend beweisen, und wonach zum anderen das Unternehmen, das sich gegenüber der Feststellung einer Zuwiderhandlung auf eine Rechtfertigung berufen möchte, den Nachweis zu erbringen hat, dass die Voraussetzungen für diese Rechtfertigung erfüllt sind […].“238

Genauso wenig, wie der Grundsatz der Unschuldsvermutung in den zitierten Urteilen Erwähnung findet,239 ist den Urteilen eine Begründung für die praktizierte Beweislastverteilung zu entnehmen.240

235

Vgl. EGMR, Urt. v. 08.02.1996 – No. 18731/91 – John Murray/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I, § 54. 236 Frenz, Handbuch Europarecht, Band 2, Rn. 1183; eine presserechtliche Ausnahme – und dies auch in der Entscheidung explizit so anführend – stellt eine Entscheidung der EKMR dar: EKMR, Entscheidung v. 11.12.1981 – No. 8803/79, Lingens u. Leitgeb/Österreich, D. R. 26, 171, § 3. 237 Vgl. EGMR, Urt. v. 07.10.1988 – No. 10519/83, Salabiaku/Frankreich, Series A vol. 141A, § 28. 238 EuG, Urt. v. 16.11.2006 – Rs. T-120/04, Peróxidos Orgánicos/KOM, Slg. 2006, II-4446, Rn.  50 – mit Verweis auf: EuGH, Urt. v. 17.12.1998  – Rs. C-185/95 P, Baustahlgewebe/ KOM, Slg. 1998, I-8485, Rn. 58; EuGH, Urt. v. 07.01.2004 – verb. Rs. C-204/00 P [u. a.], Aalborg Portland [u. a.]/KOM, Slg. 2004, I-403, Rn. 78; später im Wortlaut fast identisch bestätigt: EuG, Urt. v. 03.03.2011  – verb. Rs. T-122/07, Siemens [u. a.]/KOM, Slg. 2011, II-793, Rn. 52. 239 Vilsmeier, S. 125. 240 Vilsmeier, S. 124.

154

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Zum Teil wird die alte Rechtslage, wonach ein Freistellungssystem und nicht wie heute ein System der Legalausnahme bestand,241 als Grund für die heutige Beweislastverteilung zwischen der Europäischen Kommission und den verdächtigten Unternehmen gesehen.242 Es ist denkbar, dass es mit der Unschuldsvermutung vereinbar war, Unternehmen die Beweislast für das Vorliegen von Freistellungsgründen aufzuerlegen.243 Dies kann jedoch nicht als Rechtfertigung für eine heute verschobene Beweislastverteilung gesehen werden, sondern allenfalls als historische Entwicklung. Eine weitergehende Begründung für die Beweislastverteilung ist der Rechtsprechung nicht zu entnehmen. Insgesamt steht die Einschätzung der Unionsgerichte, dass die Unschuldsvermutung auf Unternehmen in Verwaltungsverfahren grundsätzlich anwendbar ist, in Widerspruch zur tatsächlichen Rechtsanwendung der Gerichte. Ein Fazit, welcher Garantiestandard in der Rechtsprechung der Unionsgerichte in Hinblick auf die Beweislastverteilung gilt, kann somit nicht gezogen werden. 3. Stellungnahme zur Einhaltung der gebotenen Beweislastverteilung im europäischen Kartellrecht Da sich die Ansicht des EGMR von der Ansicht der Unionsgerichte erheblich unterscheidet, bedarf es einer Untersuchung, ob die Unschuldsvermutung auch als grundlegende Beweislastregelung für Unternehmen in Verwaltungssanktionsverfahren gilt. a) Uneingeschränkte Anwendbarkeit auf Unternehmen Während für die EU-GRCh die Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung auch auf Unternehmen geklärt ist,244 ist diese Frage für die EMRK noch nicht abschließend entschieden. Jedoch wurde vorstehend unter Bezugnahme auf das Urteil Salabiaku erläutert, dass das Recht als unschuldig zu gelten darauf abzielt, das

241

Eilmansberger, JZ 2001, 365 ff. Vilsmeier, S. 124. 243 Zumindest haben EuG und EuGH dieses System immer wieder in ihren Urteilen bestätigt, obgleich eine Prüfung an der Unschuldsvermutung nicht stattgefunden hat: EuGH, Urt. v. 17.01.1984 – verb. Rs. 43/82 [u. a.], VBVB u. VBBB/KOM, Slg. 1984, 19, Rn. 52; EuGH, Urt. v. 11.07.1985 – Rs. 42/84, Remia [u. a.]/KOM, Slg. 1985, 2566, Rn. 45; EuG, Urt. v. 09.07.1992 – Rs. T-66/89, Publishers Association/KOM, Slg. 1992, II-1998, Rn. 69; EuG, Urt. v. 21.02.1995 – Rs. T-29/92, Vereniging van Samenwerkende Prijsregelende Organisaties in de Bouwnijverheid/KOM, Slg. 1995, II-295, Rn.  262; EuG, Urt. v. 28.02.2002  – Rs. T-86/95, Compagnie générale maritime/KOM, Slg. 2002, II-1022, Rn. 381; EuG, Urt. v. 13.01.2004 – Rs. T-67/01, JCB Service/KOM, Slg. 2004, II-56, Rn. 162. 244 Siehe hierzu die Ausführungen unter Teil 3: E. I. 1., S. 141. 242

E. Unschuldsvermutung

155

fundamentale Prinzip der „rule of law“ zu verwirklichen.245 Dahingestellt, was unter der „rule of law“ exakt zu verstehen ist, so geht aus der – wenn auch knappen – Ausführung des EGMR, wie ebenfalls erörtert, zumindest hervor, dass der Schutzzweck der Unschuldsvermutung ganz überwiegend objektiv-rechtsstaatliche Dimension hat.246 Dies überzeugt auch für die Unschuldsvermutung als Beweislastregel, da sie als Gegenstück zum staatlichen Strafmonopol fungiert. Übt dieser sein Monopol aus, so ist er – im Sinne der Beweislast – auch beweispflichtig.247 Unterschiede hinsichtlich des Schutzzweckes zwischen Unternehmen und natürlichen Personen sind somit nicht ersichtlich. Die Unschuldsvermutung als Beweislastregel muss deshalb auch für Unternehmen uneingeschränkt gelten. b) Uneingeschränkte Anwendbarkeit auch in Verwaltungssanktionsverfahren Die bereits erläuterte historische Begründung für das praktizierte System der Aufteilung der Beweislast zwischen der Europäischen Kommission und Unternehmen kann als Rechtfertigung für einen niedrigeren Garantiestandrad in der EU-GRCh jedoch heute nicht mehr durchgreifen, insbesondere weil in den aktuellen Urteilen hierfür jegliche Argumente oder auch nur Anhaltspunkte fehlen.248 Sowohl für die EMRK, als auch für die EU-GRCh ist nicht ersichtlich, wieso der Umstand einer administrativen Sanktionierung per se für eine Verschiebung der Beweislast sprechen sollte: Denn angesichts der Engel-Kriterien sind Strafverfahrensgarantien auch in Verwaltungsverfahren anwendbar. Und dies ist unter anderem auch deswegen der Fall, weil der Staat auch bei lediglich strafrechtsähnlichen Sanktionen sein Strafmonopol ausübt. Tut er dies, so spricht alleine dieser Umstand dafür, dass er sich für die Ausübung dieses Monopols rechtfertigen muss, indem er die Beweislast für das Vorliegen der Gründe für die Sanktionierung trägt. Deshalb sollte der Staat auch in Verwaltungssanktionsverfahren die umfassende staatliche Beweislast tragen und zwar unabhängig davon, wie hoch die jeweilige Sanktion ausfällt.249 Würde man dennoch eine Aufteilung der Beweislast für zulässig erachten, so würde diese schon für sich erhebliche Gefahren bergen. Hierzu wird angeführt, die für die Tatbestandsmäßigkeit erforderliche Wettbewerbsbeeinträchtigung habe eine erhebliche Nähe zur Frage, die für die Rechtfertigung relevant ist, ob eine 245 EGMR, Urt. v. 07.10.1988 – No. 10519/83, Salabiaku/Frankreich, Series A vol. 141-A, § 28. 246 So auch: Vilsmeier, S. 134 f. 247 Vgl. Henn, AJP 2016, 257, 259. 248 Feststellend, dass trotz eines grundlegenden Systemwechsels durch die VO (EG) 1/2003 am alten System der Beweislastverteilung festgehalten wird: Klees, § 5, Rn. 20; Montag/Rosenfeld, ZWeR 2003, 107, 118; vgl. auch de Bronett, Art. 2 VO (EG) 1/2003, Rn. 13. 249 Ohne weitere Begründung so auch: Vilsmeier, S. 135.

156

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Wettbewerbsbeeinträchtigung unerlässlich ist.250 Eine klare Abgrenzung ist somit nicht immer zu garantieren. Vielmehr könnte die Zulässigkeit, Unternehmen die Beweislast für das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen aufzuerlegen, dazu führen, dass der Gesetzgeber seine Ermittlungsbehörden von ihrer Beweispflicht befreit, indem er die Voraussetzungen für den Beweis der Tatbestandsmäßigkeit niedrig ansetzt und somit die Beweislast unter dem Deckmantel der Rechtfertigung auf die betroffenen Unternehmen verlagert. Schon aus diesem Grund ist eine Aufteilung der Beweispflicht erheblichen Bedenken ausgesetzt. Und auch Argumente aus der Verfahrenspraxis vermögen nicht durchzugreifen. Sicherlich bedeutet es einen Mehraufwand für die Ermittlungsbehörden, aus den vorhandenen Beweismitteln nicht nur Nachweise für die Tatbestandsmäßigkeit eines Vergehens zu ermitteln, sondern auch für dessen mögliche Rechtfertigung.251 Gleichwohl stellt dies kein unüberwindbares Hindernis dar.252 Dass reine Effizienzüberlegungen die Beweislast für das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen grundsätzlich auf das betroffene Unternehmen verlagern sollten, erscheint aufgrund der Eindimensionalität des Arguments nicht durchgreifend.253 Allenfalls wenn die Ermittlungsbehörde keine Anhaltspunkte für das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen hat, erscheint es plausibel, das Unternehmen zu verpflichten, diese Anhaltspunkte  – sollten sie tatsächlich vorliegen  – der Behörde mitzuteilen.254 Diese hätte in der Folge ihre Ermittlungsmaßnahmen in diese Richtung erneut zu beginnen.255 Ohnehin dürften Unternehmen diese neuerlichen Ermittlungsmaßnahmen oftmals freiwillig unterstützten, um so einer Verurteilung zu entgehen, vorausgesetzt diese unterstützenden Maßnahmen fördern keine neuen belastenden Umstände zu Tage. Die Ansicht der Unionsgerichte, beschuldigten Unternehmen die Beweislast für das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen aufzuerlegen, ist somit nicht mit der Unschuldsvermutung vereinbar.

250

Frenz, Handbuch Europarecht, Band 2, Rn. 1182, zum Teil unter Zitierung von Kommentarliteratur in der a. F. des EG-Vertrages. 251 Anführend Unternehmen seien besser dazu in der Lage darzulegen, wieso bestimmte Rechtfertigungsgründe vorliegen, als dies eine Ermittlung der Europäischen Kommission ergeben könnte: Bardong, MK, Kartellrecht, Band 1, Art. 2 VO (EG) 1/2003, Rn. 14. 252 de Bronett, Art. 2 VO (EG) 1/2003, Rn. 12. 253 König, S. 161. 254 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 2 VO (EG) 1/2003, Rn. 24; Frenz, Handbuch Europarecht, Band 2, Rn. 1186; König, S. 160 f.; Montag/Rosenfeld, ZWeR 2003, 107, 120; Puffer-Mariette, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 2 VO (EG) 1/2003, Rn. 15; Schmidt, in: Immenga/ Mestmäcker, Band I, Teil 2, Art. 2 VO (EG) 1/2003, Rn. 39; Vilsmeier, S. 122; Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 08.12.2005 – Rs. C-105/04 P, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/KOM, Slg. 2005, I-8730, Rn. 73, die anführt: „Bevor aber überhaupt ein Rückgriff auf die Beweislastverteilung erforderlich ist, obliegt jeder Seite für ihre jeweiligen Behauptungen die Darlegungslast.“ 255 Vgl. de Bronett, Art. 2 VO (EG) 1/2003, Rn. 11.

E. Unschuldsvermutung

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c) Fazit: Unzulässigkeit der derzeitigen Beweislastverschiebung im europäischen Kartellrecht Da die staatliche Beweislast nicht abgestuft werden kann, kommt nur eine Aufteilung zwischen der Europäischen Kommission und dem betroffenen Unternehmen hinsichtlich verschiedener Aspekte in Betracht. Dies aber birgt die Gefahr einer gesetzgeberischen Ausgestaltung, im Rahmen derer das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen leicht, das der  – vom Unternehmen darzulegenden  – Rechtfertigungsgründe hingegen schwierig nachzuweisen ist. Und selbst wenn man diese Einschätzung nicht teilt, so macht der Staat weiterhin von seinem Strafmonopol Gebrauch und ist dafür in der Rechenschaftspflicht. Aus diesen Gründen muss die Unschuldsvermutung als Beweislastregel auch in Verwaltungssanktionsverfahren gegen Unternehmen uneingeschränkt zur Anwendung kommen, was angesichts der Regelung von Art. 2 S. 2 VO (EG) 1/2003 im Moment nicht gewährleistet ist.256 Dies hat auch bereits die deutsche Delegation im Rahmen der Verhandlungen über die VO (EG) 1/2003 kritisiert und eine entsprechende Protokollerklärung abgegeben.257 4. Keine Einschränkungen des Verbotes von Beweislastverschiebungen bei Kronzeugenanträgen Da Kronzeugenanträge in der Regel nicht nur eine Schuldbekundung des sich offenbarenden Unternehmens sind, sondern damit die Beschuldigung anderer Kartellteilnehmer einhergeht, wird zum Teil  angemerkt, dies führe dazu, dass die mitbeschuldigten Unternehmen in eine Verteidigungsposition gebracht würden.258 Dies liege daran, so wird zum Teil angeführt, dass Kronzeugen dazu neigten, den Sachverhalt zu ihren Gunsten darzustellen und so den anderen Unternehmen womöglich überzogene Vorwürfe zu machen, die materiell nicht richtig seien.259 Darin aber eine faktische Umkehr der Beweislast zu sehen impliziert, dass die Europäische Kommission keine eigenen Ermittlungen durchführt, um den Kronzeugenantrag zu verifizieren, sondern dass die Europäische Kommission diesen als richtig ansieht und nicht hinterfragt bzw. aktiv durch weitere Beweismittel zu bestätigen versucht. Dagegen ist zum einen jedoch anzuführen, dass 256 Im Ergebnis so auch: Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 2 VO (EG) 1/2003, Rn. 24; Dannecker, in: FS Immenga, S. 66; Frenz, Handbuch Europarecht, Band 2, Rn. 1185; Hirsch, ZWeR 2003, 233, 242; Klees, § 5, Rn. 23; König, S. 159 f.; Montag/Rosenfeld, ZWeR 2003, 107, 120; Puffer-Mariette, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 2 VO (EG) 1/2003, Rn. 15; Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil 2, Art. 2 VO (EG) 1/2003, Rn. 39; Sura, in: Langen/Bunte, Band 2, Art. 2 VO (EG) 1/2003, Rn. 7; Thanos, S. 358 ff.; Weiß, EuZW 2006, 263, 264; Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 2 VO (EG) 1/2003, Rn. 5. 257 Erklärung der deutschen Delegation zu Artikel 2 der Verordnung, abgedruckt bei Schwarze/ Weitbrecht, S. 269. 258 Schwarze, EuR 2009, 151, 189; Schwarze, WuW 2009, 6, 10; Thanos, S. 363. 259 Hetzel, S. 236; Schwarze, WuW 2009, 6, 10; Thanos, S. 363.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

ein Kronzeuge einen entsprechenden Antrag nicht aufgrund reiner Behauptungen stellen kann, sondern er seinerseits vielmehr entsprechende Beweise erbringen muss.260 Diese Ansicht scheinen auch die Unionsgerichte zu teilen, wonach es der Untermauerung durch weitere Beweismittel durch die Europäische Kommission bedarf, wenn ein Unternehmen den Vorwurf eines Kronzeugen bestreitet.261 Es ist somit nicht der Fall, dass die beschuldigten Unternehmen den Gegenbeweis erbringen müssen, sondern es genügt, wenn diese plausibel machen, dass die erhobenen Vorwürfe nicht stimmen. Eine gänzliche Verschiebung der Beweislast ist somit nicht zu erkennen. In Frage steht somit nur, inwieweit aus der Unschuldsvermutung abgeleitet werden kann, dass die Europäische Kommission dazu verpflichtet ist, ausgehend von den Beweisen aus einem Kronzeugenantrag, noch eigene Ermittlungen durzuführen, bevor sie dritte Unternehmen mit dem Vorwurf konfrontiert. Hier wird es auf den Einzelfall ankommen und auf den Umfang an Beweismaterial, das der Kronzeuge vorlegt. Angesichts des Umstandes, dass der Kronzeuge Beweismaterial in eigennütziger Art und Weise auswählen und vorlegen wird, ist jedoch davon auszugehen, dass in aller Regel weitere Beweisermittlungen notwendig sind.

V. Erforderliches Beweismaß Anschließend an die Frage der Beweislast ist zu klären, in welchem Maß die Europäische Kommission diejenigen Umstände beweisen muss, für die sie beweispflichtig ist. Die VO  (EG)  1/2003 enthält hierzu keine Vorgaben. Stattdessen ist die allgemeine Verfahrenspraxis an den noch zu erarbeitenden Maßstäben der EU-GRCh bzw. der EMRK zu messen. Anhand dieser verfahrensgarantierechtlichen Vorgaben ist auch zu beurteilen, inwieweit Beweisvermutungen zulässig sein können und ob im Fall von Kronzeugenanträgen das gleiche Beweismaß durch die Europäische Kommission angelegt werden muss wie in allen sonstigen kartellrechtlichen Fällen. 1. Fehlende Aussage über das gebotene Beweismaß in der Rechtsprechung des EGMR Die Unschuldsvermutung gilt nach der Rechtsprechung des EGMR bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld.262 Diese Ausführung mag zunächst implizie 260

Hetzel, S. 236. EuG, Urt. v. 14.05.1998 – Rs. T-337/94, Enso-Gutzeit Oy/KOM, Slg. 1998, II-1572, Rn. 91; Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil 2, Art. 23 VO (EG) 1/2003, Rn. 253, mit zum Teil nicht auffindbaren Nachweisen zur Rechtsprechung der Unionsgerichte in Fn. 675. 262 EGMR, Urt. v. 25.03.1983 – No. 8660/79 – Minelli/Schweiz, Series A vol. 62, § 37; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 160. 261

E. Unschuldsvermutung

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ren, dass es hinsichtlich des Beweismaßes weniger auf das Maß des Beweises ankommt, als vielmehr auf den Umstand, dass dieser gesetzlich, also entsprechend der nationalen Vorgaben erbracht wird.263 Dies birgt jedoch die Gefahr, dass die Unschuldsvermutung als strafrechtliche Verfahrensgarantie leer laufen kann, was der EGMR im Urteil Salabiaku auch anerkennt: „Above all, the national legislature would be free to strip the trial court of any genuine power of assessment and deprive the presumption of innocence of its substance, if the words ‚according to law‘ were construed exclusively with reference to domestic law.“264

Würde die Festlegung des Beweismaßes alleine dem nationalen Gesetzgeber überlassen, so führt der EGMR im Urteil Salabiaku weiter aus, könnten der Grundsatz eines fairen Verfahrens, die Unschuldsvermutung als Verbot von Beweisvermutungen und übergeordnet der Grundsatz der „rule of law“ verletzt werden.265 Weitere als diese pauschalen Vorgaben sind dem Urteil jedoch nicht zu entnehmen. Die angeführten Teloi überzeugen aber insofern als Maßstab, als dass sich daraus ableiten lässt, dass zumindest eine gewisse Beweisdichte vorliegen muss, die eine Überzeugungsbildung frei von Mutmaßungen und begründungslos konstatierenden Vermutungen erlaubt. Ein konkreter Schutzstandard lässt sich jedoch nicht ableiten. Vereinzelt wird in der Literatur und in nationaler Rechtsprechung zur EMRK angeführt, dass aus dem Grundsatz des in dubio pro reo Schlüsse für das notwendige Beweismaß gezogen werden können. Denn wenn dem Angeklagten Zweifel zugute kommen sollen, so muss im Umkehrschluss der Nachweis der Tat zweifelsfrei erfolgen.266 Unter welchen Umständen Zweifel gegeben sind, wird indes nicht erläutert, was damit zusammenhängen dürfte, dass es auf die Überzeugung des einzelnen Richters ankommt, wann – im Rahmen seiner Kompetenz zur unabhängigen Beweiswürdigung – ein Beweis zweifelsfrei erbracht ist.267 Einzig eine Entscheidung der EKMR aus dem Jahr 2002 scheint etwas präziser. Danach kann auch ein Indizienbeweis zulässig sein:268 „In those circumstances there is no reason to doubt that in the instant case the applicant was convicted on the basis of a series of circumstances, indications and inferences which together constituted presumptions capable of being regarded as evidence by the law.“269 263

Esser, S. 742; Vilsmeier, S. 234. EGMR, Urt. v. 07.10.1988 – No. 10519/83, Salabiaku/Frankreich, Series A vol. 141-A, § 28, auf Deutsch: „Würde man den Begriff „gesetzmäßig“ allein nach nationalen Maßstäben bestimmen, so könnte der nationale Gesetzgeber den Strafgerichten ihre Kompetenz entziehen, einen Fall grundlegend zu prüfen. Dies hätte ein weitgehendes Leerlaufen der Unschuldsvermutung zur Folge.“ 265 EGMR, Urt. v. 07.10.1988 – No. 10519/83, Salabiaku/Frankreich, Series A vol. 141-A, § 28. 266 Vilsmeier, S. 235; so auch mit Bezug zur EMRK für das Schweizer Recht: BVGer, Urt. v. 17.12.2015 – B-5685/2012, Altimum/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 4.5.2. 267 Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 416. 268 Vilsmeier, S. 234 f. 269 EKMR, Entscheidung v. 10.01.2002 – No. 67128/07, Hudson/Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien, nicht in der amtlichen Sammlung, auf Deutsch: „Aufgrund dieser Um 264

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Der EGMR hat zur Zulässigkeit von Indizienbeweisen soweit ersichtlich noch keine Stellung genommen. Insgesamt ist festzustellen, dass der EGMR in seinen Urteilen kaum ausführt, wie der Beweis über die Schuld des Angeklagten zu erbringen ist.270 Ein Grund, wieso der EGMR generell vom gesetzlichen Nachweis der Schuld spricht, dürfte darin liegen, dass er selbst für weniger komplexe Verfahren die Besonderheiten des Einzelfalls in so hohem Maße berücksichtigen müsste, dass eine Auseinandersetzung mit der Unschuldsvermutung letztlich auf eine Prüfung einfachrechtlicher und tatsächlicher Fragestellungen hinausliefe. Da der EGMR aber keine Superrevisionsinstanz ist, würde eine detaillierte einzelfallabhängige Auseinandersetzung mit der Frage, ob ein Beweis jeweils im notwendigen Maß erbracht wurde, seiner Rolle, als Organ über die Einhaltung verfahrensrechtlicher Mindeststandards zu wachen, nicht gerecht.271 2. Maßgeblichkeit des „beyond reasonable doubt“-Standards in der Rechtsprechung der Unionsgerichte Zur Frage des erforderlichen Beweismaßes äußern sich die Unionsgerichte nicht gänzlich einheitlich,272 und vor allem erfolgt dies für das Kartellrecht ohne Bezug zu strafrechtlichen Verfahrensgarantien und inhaltlich nicht immer eindeutig.273 So betonen die Gerichte beispielsweise immer wieder, es komme darauf an, dass die Beweise „rechtlich hinreichend“274 sein müssen.275 Dies mutet wie die Formulierung des EGMR an, es komme auf den „gesetzlichen“ Nachweis der Schuld an. Anders als der EGMR bewegen sich die Unionsgerichte jedoch nicht auf einer übergeordneten Ebene der Verfahrensgarantien, sondern auf genau der Ebene, die sich mit der Frage auseinandersetzen sollte, wie ein rechtlich hinreichender oder gesetzlicher Nachweis der Schuld beschaffen sein muss. Andere, die Anforderungen stände bestehen im vorliegenden Fall keine Zweifel, dass der Angeklagte aufgrund einer Reihe von Vorkommnissen, Indizien und Schlussfolgerungen verurteilt wurde, die zusammengenommen solche Vermutungen darstellen, die als gesetzlicher Beweis angesehen werden können.“ 270 Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 161. 271 Trechsel, S. 162. 272 Vgl. Hellström, in: ECLA 2009, S. 151; vgl. Vilsmeier, S. 229 ff. 273 Vgl. Castillo de la Torre, in: ECLA 2009, S. 341; vgl. Vilsmeier, S. 229. 274 EuGH, Urt. v. 17.12.1998 – Rs. C-185/95 P, Baustahlgewebe/KOM, Slg.  1998, I-8485, Rn. 58; EuGH, Urt. v. 08.07.1999 – Rs. C-199/92 P, Hüls/KOM, Slg. 1999-I, 4336, Rn. 154; EuGH, Urt. v. 08.07.1999 – Rs. C-49/92, KOM/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4162, Rn. 86; EuG, Urt. v. 07.07.1994  – Rs. T-43/92, Dunlop Slazenger/KOM, Slg. 1994, II-447, Rn.  79; EuG, Urt. v. 27.09.2006  – verb. Rs. T-44/02 [u. a.], Dresdner Bank [u. a.]/KOM, Slg. 2006, II-3572, Rn.  59; EuG, Urt. v. 26.04.2007  – verb. Rs. T-109/02 [u. a.], Bolloré [u. a.]/KOM, Slg. 2007, II-965, Rn. 256; EuG, Urt. v. 12.07.2011 – Rs. T-112/07, Hitachi/KOM, Slg. 2011, II-3871, Rn. 57; EuG, Urt. v. 12.12.2014 – Rs. T-550/08, Tudapetrol/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 86. 275 Vilsmeier, S. 229.

E. Unschuldsvermutung

161

vermeintlich präziser definierende Begriffe276 wie bspw. das Erfordernis, dass „hinreichend eindeutige und übereinstimmende Beweise“277 vorgelegt werden müssen, sind jedoch im Ergebnis genauso wenig geeignet, ein klares und abstraktes Beweismaß zu definieren.278 Einzig aus dem Grundsatz des in dubio pro reo scheinen die Unionsgerichte nachvollziehbarere Anforderungen an das Beweismaß ableiten zu können.279 So hat der Generalanwalt Vesterdorf bereits im Jahr 1991 in seinen Schlussanträgen zum Urteil Rhône-Poulenc unter der Überschrift „Die freie Beweiswürdigung“ angeführt: „Es muss eine ausreichende Grundlage für die Entscheidung vorhanden sein, und ernsthafte Zweifel müssen nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ den Klägerinnen zugute kommen.“280

Zwar bezieht sich der Generalanwalt auf das in den Verfahren vor den Unionsgerichten geltende Beweismaß und nicht auf das Beweismaß, welches die Euro­ päische Kommission einzuhalten hat. Da in einem einheitlichen Verfahren aber in allen Instanzen das gleiche Beweismaß gelten muss, ist dieser Umstand unerheblich, was auch in der Literatur sowohl für die zitierten Schlussanträge, als auch für sonstige Urteile der Unionsgerichte impliziert wird.281 Das so etablierte Beweismaß, das auch als „beyond reasonable doubt“-Standard bezeichnet wird,282 haben die Unionsgerichte in späteren Urteilen bestätigt und zum Teil ausdrücklich die Unschuldsvermutung als maßgeblich für diese Einschätzung angeführt.283 Wann Zweifel berechtigt sind, ist gleichwohl offen.

276

Eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Definitionsansätze von EuG und EuGH findet sich: Castillo de la Torre, in: ECLA 2009, S. 341 f.; Vilsmeier, S. 229. 277 EuGH, Urt. v. 28.03.1984 – verb. Rs. 29/83, CRAM u. Rheinzink/KOM, Slg. 1984, 1679, Rn. 20. 278 Vgl. Hellström, in: ECLA 2009, S. 151; vgl. Vilsmeier, S. 230. 279 Vgl. Vilsmeier, S. 230 ff. 280 Generalanwalt Vesterdorf, Schlussanträge v. 10.07.1991  – Rs. T-1/89, Rhône-Poulenc/ KOM, Slg. 1991, II-869, 954. 281 So führt Vilsmeier in ihrer umfassenden Untersuchung zum Beweismaß in Kommissionsverfahren diverse Urteile von EuG und EuGH an, die sich mit der Frage auseinandersetzten, ob der „beyond reasonable doubt“-Standard für das Beweismaß aus der Geltung des Grundsatzes in dubio pro reo hergeleitet werden kann: Vilsmeier, S. 230 ff.; ebenso: Castillo de la Torre, in: ECLA 2009, S. 341 ff. 282 Vilsmeier, S. 230 f. 283 EuGH, Urt. v. 25.01.2007  – Rs.  C-403/04, Sumito Metal Industries und Nippon Steel/ KOM, Slg. 2007, I-785, Rn. 52; EuG, Urt. v. 08.07.2004 – verb. Rs. T-67/00 [u. a.], JFE Engineering [u. a.]/KOM, Slg. 2004, II-2514, Rn. 177 f.; EuG, Urt. v. 27.09.2006 – verb. Rs. T-44/02 [u. a.], Dresdner Bank [u. a.]/KOM, Slg. 2006, II-3572, Rn.  60 f.; EuG, Urt. v. 12.07.2011  – Rs. T-112/07, Hitachi/KOM, Slg. 2011, II-3871, Rn. 58 f.; Vilsmeier, S. 231, in Fn. 981, auch mit Nachweisen zu früheren Urteilen der Unionsgerichte, die jedoch keinen expliziten Bezug zur Unschuldsvermutung herstellen.

162

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Beachtenswert ist außerdem das Urteil Aalborg Portland aus dem Jahr 2004, in dem der EuGH die Zulässigkeit von Indizienbeweisen im Rahmen von Verfahren vor der Europäischen Kommission feststellt, ohne sich jedoch in diesem Rahmen mit strafrechtlichen Verfahrensgarantien auseinanderzusetzen: „In den meisten Fällen muss das Vorliegen einer wettbewerbswidrigen Verhaltensweise oder Vereinbarung aus einer Reihe von Koinzidenzen und Indizien abgeleitet werden, die bei einer Gesamtbetrachtung mangels einer anderen schlüssigen Erklärung den Beweis für eine Verletzung der Wettbewerbsregeln darstellen können.“284

Diese Ansicht haben die Unionsgerichte auch in späteren Urteilen wiederholt285 und entsprechen somit auch der Ansicht der EKMR. Vier Jahre nach dem Urteil Aalborg Portland hat das EuG im Verfahren BPB die Zulässigkeit von Indizienbeweisen mit anderweitig auftretenden Beweisschwierigkeiten begründet: „Im Rahmen wettbewerbswidriger Verhaltensweisen und Vereinbarungen ist es aber üblich, dass die Tätigkeiten insgeheim ablaufen, dass die Zusammenkünfte heimlich stattfinden und dass die Unterlagen darüber auf ein Minimum reduziert werden. Selbst wenn die Kommission Schriftstücke findet, die eine unzulässige Kontaktaufnahme zwischen Wirtschafts­ teilnehmern explizit bestätigen, handelt es sich daher normalerweise nur um lückenhafte und vereinzelte Belege, so dass es häufig erforderlich ist, bestimmte Einzelheiten durch Schlussfolgerungen zu rekonstruieren.“286

In diesem Zusammenhang betont das EuG erstaunlicherweise jedoch auch, dass die Forderung nach einem Beweismaß des „beyond reasonable doubt“ nicht ge­ boten erscheint,287 und widerspricht damit der ständigen Rechtsprechung. Diese Einschätzung stellt jedoch einen Einzelfall dar.288 Ohnehin, so wird zumindest in der Literatur angeführt, könne ein Indizienbeweis auch durchaus mit dem „beyond reasonable doubt“-Standard vereinbar sein.289 Im Ergebnis kann der Rechtsprechung der europäischen Gerichte somit entnommen werden, dass die Beweise „rechtlich hinreichend“ sein müssen bzw. dass synonyme Standards eingehalten werden müssen. Als maßgeblich scheinen die Unionsgerichte das Fehlen vernünftiger Zweifel anzusehen, um das notwendige Beweismaß zu erfüllen. Unter diesen Umständen scheinen auch Indizienbeweise zulässig. Eine Bezugnahme auf allgemeine Verfahrensgarantien oder gar auf die EU-GRCh ist jedoch in keinem Zusammenhang auszumachen.

284 EuGH, Urt. v. 07.01.2004, verb. Rs. C-204/00 [u. a.], Aalborg Portland [u. a.]/KOM, Slg. 2004, I-403, Rn. 55 ff. 285 EuG, Urt. v. 27.09.2006  – verb. Rs. T-44/02 [u. a.], Dresdner Bank [u. a.]/KOM, Slg. 2006, II-3572, Rn. 64 f.; EuG, Urt. v. 08.07.2008 – Rs. T-53/03, BPB/KOM, Slg. 2008, II-1333, Rn. 63; EuG, Urt. v. 03.03.2011 – Rs. T-110/07, Siemens/KOM, Slg. 2011, II-477, Rn. 48; de Bronett, Art. 2 VO (EG) 1/2003, Rn. 26. 286 EuG, Urt. v. 08.07.2008 – Rs. T-53/03, BPB/KOM, Slg. 2008, II-1333, Rn. 63. 287 EuG, Urt. v. 08.07.2008 – Rs. T-53/03, BPB/KOM, Slg. 2008, II-1333, Rn. 64. 288 Castillo de la Torre, in: ECLA 2009, S. 344 f.; Vilsmeier, S. 231. 289 Vilsmeier, S. 231 f.

E. Unschuldsvermutung

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3. Stellungnahme zum gebotenen Beweismaß im europäischen Kartellrecht Während die Unionsgerichte den „beyond reasonable doubt“-Standard für das im Kartellrecht maßgebliche Beweismaß halten, fehlen in der Rechtsprechung des EGMR solche allgemeinen Aussagen. Im Folgenden soll untersucht werden, welche Beweismaßstäbe sich aus Art. 6 EMRK bzw. Art. 48 EU-GRCh ergeben. Dabei ist insbesondere auf die oftmals bestehende Beweisproblematik im europäischen Kartellrecht, sowie auf dessen ökonomischen Charakter einzugehen. a) Herleitung des notwendigen Beweismaßes aus dem Grundsatz in dubio pro reo Der zumindest in der Rechtsprechung der Unionsgerichte verwendete „beyond reasonable doubt“-Standard steht, wie schon die Formulierung nahelegt, in engem Zusammenhang mit der Zweifelsregelung des in dubio pro reo.290 Danach müssen Zweifel bei der Sachverhaltsermittlung zugunsten des Angeklagten gewertet werden.291 Während sich diese Urteile ausschließlich auf natürliche Personen beziehen, muss aufgrund des objektiv-rechtlichen Schutzzweckes gleiches auch für Unternehmen in Verwaltungssanktionsverfahren gelten.292 Aus denselben Gründen sind auch für die EU-GRCh die gleichen Schlüsse zu ziehen. In Übereinstimmung mit dem „beyond reasonable doubt“-Standard lässt sich aus dem Grundsatz in dubio pro reo allgemein schließen, dass ein Beweis dann erbracht ist, wenn keine Zweifel mehr hinsichtlich des Vorliegens der entsprechenden tatbestandlichen Voraussetzungen bestehen.293 Denn unter diesen Umständen ist auch die allgemeine Vermutung der Unschuld positiv widerlegt.294 Lediglich bei Vorliegen von Zweifeln wäre das notwendige Beweismaß nicht erfüllt.295 Beim Fehlen von Nachweisen für sehr grundlegende Tatsachenfragen ist in jedem Fall vom Vorhandensein berechtigter Zweifel auszugehen. Ausgeschlossen dürften solche Zweifel dann sein, wenn sich der Nachweis aus einer Kette logischer, nicht widerlegbarer und lückenloser Argumente und Beweise zusammensetzt. Ob Zweifel jedoch auch beim Fehlen von Nachweisen für einzelne, nur partikular relevante Details berechtigt sind, hängt in so hohem Maße vom Einzelfall ab, dass hier kein

290

Vgl. Vilsmeier, S. 230 f. EGMR, Urt. v. 06.12.1988  – No. 10590/83, Barberà [u. a.]/Spanien, Series A vol. 146, § 77; EGMR, Urt. v. 20.03.2001 – No. 33501/96 – Telfner/Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 15; EGMR, Urt. v. 23.07.2002  – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, § 97. 292 Ohne weitere Begründung: Wils, CDE 1996, 329, 349. 293 Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 416. 294 Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 416. 295 Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 416. 291

164

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

verallgemeinerungsfähiger Maßstab gebildet werden kann. Maßgeblich kann nur die subjektive, mit objektiven Umständen begründete Einschätzung desjenigen sein, der sich damit befasst, ob der Beweis in ausreichemden Maße erbracht worden ist.296 Dieser Aspekt kann deshalb im Folgenden nicht weiter vertieft werden. b) Lösungsmöglichkeiten für die allgemeine Beweisproblematik im Kartellrecht Im Europäischen Kartellrecht sind jedoch keineswegs alle Umstände durch eine gänzlich lückenlose Beweiskette nachweisbar,297 die nicht gewisse Vermutungen und verallgemeinernde Schlussfolgerungen enthält. Vielmehr besteht eine allgemeine Beweisproblematik, welche das EuG in der bereits zitierten Passage aus dem Verfahren BPB plastisch exemplifiziert hat: „Im Rahmen wettbewerbswidriger Verhaltensweisen und Vereinbarungen ist es aber üblich, dass die Tätigkeiten insgeheim ablaufen, dass die Zusammenkünfte heimlich stattfinden und dass die Unterlagen darüber auf ein Minimum reduziert werden. Selbst wenn die Kommission Schriftstücke findet, die eine unzulässige Kontaktaufnahme zwischen Wirtschaftsteilnehmern explizit bestätigen, handelt es sich daher normalerweise nur um lückenhafte und vereinzelte Belege […].“298

Würde man für die angeführten Fragestellungen einen lückenlosen Beweis fordern und die erwähnten Schlussfolgerungen nicht zulassen, so wäre die Aufklärung und anschließende Bebußung vieler Kartellabsprachen unmöglich.299 aa) Etablierung eines fallgruppenbezogenen Beweismaßes durch die Anwendung von Beweisvermutungen Aus Gründen der Effizienz, vor allem aber als Lösung für die bestehende Beweisproblematik, bedient sich die Europäische Kommission in der Praxis diverser Beweisvermutungen.300 Ist eine solche Vermutung im europäischen Kartellrecht anerkannt, so braucht die Europäische Kommission für das Vorliegen eines solchen Umstandes in verfahrensrechtlicher Sicht keinen umfassenden, lückenlosen

296 Vgl. allgemein und bezogen auf die Perspektive des Unionsrichters zur Subjektivität der Einschätzung, ob Zweifel berechtigt sind: Vilsmeier, S. 230 f.: „Verbleibe dem Richter ein Zweifel an dem Vorliegen einer Zuwiderhandlung, so könne er nicht davon ausgehen, dass die Kommission diese Zuwiderhandlung rechtlich hinreichend nachgewiesen habe.“ 297 Vgl. de Bronett, Art. 2 VO (EG) 1/2003, Rn. 23 ff., mit einer Übersicht zu den unterschiedlichen (und jeweils maximal möglichen) Beweismaßen hinsichtlich unterschiedlicher Aspekte eines Kartellverfahrens. 298 EuG, Urt. v. 08.07.2008 – Rs. T-53/03, BPB/KOM, Slg. 2008, II-1333, Rn. 63. 299 Vgl. de Bronett, Art. 2 VO (EG) 1/2003, Rn. 26. 300 Vilsmeier, S. 114 ff.

E. Unschuldsvermutung

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Nachweis zu erbringen.301 Vielmehr genügt es, dann das Vorliegen der Voraussetzungen einer Vermutungsregelung nachzuweisen.302 Prominentes Beispiel ist die Haftung von Muttergesellschaften für Tochtergesellschaften bei hundertprozentigem Kapitalbesitz.303 Während es wenig problematisch ist, die Grenzen der Zulässigkeit von Vermutungsregeln aus der EU-GRCh und der EMRK herzuleiten, kann nur eine jeweils umfassende materiell-rechtliche Prüfung verifizieren, ob die diversen Vermutungsregeln des europäischen Kartellrechts diesen Grenzen entsprechen. Dies würde jedoch nicht dem Ansatz der vorliegenden Arbeit entsprechen. Die nachfolgende Darstellung beschränkt sich deshalb auf die Festlegung der Grenzen für Vermutungsregeln. (1) Grenzen der Zulässigkeit von Beweisvermutungen nach der Rechtsprechung des EGMR Der EGMR hält unter bestimmten Voraussetzungen sowohl tatsächliche, als auch rechtliche Beweisvermutungen mit der EMRK für vereinbar.304 Sie müssen sich dafür in vernünftigen Grenzen bewegen und sie müssen die Folgen für den Angeklagten aus einem möglichen negativen Verfahrensausgang berücksichtigen.305 Insgesamt darf das Recht des Angeklagten zur Verteidigung durch Beweisvermutungen nicht unmöglich gemacht werden.306 Allen Voraussetzungen ist gemein, dass sie einen nicht unerheblichen Interpretationsspielraum bieten. Da die Frage der Zulässigkeit von Beweisvermutungen anders als die bisher erörterten Verfahrensgarantien jedoch nicht auf eine Auseinandersetzung mit verfahrensunmittelbaren Fragestellungen beschränkt ist, sondern in hohem Maße eine materiell-rechtliche Auseinandersetzung verlangt, sind die zu berücksichtigenden Fallvariationen deutlich umfangreicher. Dem kann nur 301

Vgl. uneingeschränkt übertragbar zum Anscheinsbeweis im deutschen Zivilrecht: Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting, Kapitel 17, Rn. 3 f. 302 Vgl. identisch übertragbar zum Anscheinsbeweis im deutschen Zivilrecht: Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting, Kapitel 17, Rn. 3 f. 303 Grundlegend: EuGH, Urt. v. 10.09.2009 – Rs. C-97/08 P, Akzo Nobel/KOM, Slg. 2009, I-8237, Rn. 60; Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil 2, Vor. Art. 23 f. VO (EG) 1/2003, Rn. 88 ff., insbes. Rn. 95 ff. 304 EGMR, Urt. v. 07.10.1988 – No. 10519/83, Salabiaku/Frankreich, Series A vol. 141-A, § 28. 305 EGMR, Urt. v. 07.10.1988  – No. 10519/83, Salabiaku/Frankreich, Series A vol. 141A, § 28; EGMR, Urt. v. 05.07.2001 – No. 41087/98, Philipps/Vereinigtes Königreich, ECHR 2001-VII, § 40; EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002VII, § 101; EGMR, Urt. v. 18.03.2010 – No. 13201/05, Krumpholz/Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 34. 306 EGMR, Urt. v. 07.10.1988 – No. 10519/83, Salabiaku/Frankreich, Series A vol. 141-A, § 28.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

mit entsprechend flexibleren Vorgaben begegnet werden, sodass die weit gefassten Tatbestandsvoraussetzungen plausibel erscheinen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Frage, unter welchen Voraussetzungen Gerichte, im Fall des europäischen Kartellrechts also die Unionsgerichte, eine Vermutung als widerlegt ansehen. Dies dürfte in der Praxis Anlass für nicht unerhebliche Meinungsverschiedenheiten geben, insbesondere wenn eine Widerlegung selten gelingt. Denn dann stellt sich die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Widerlegung zu hoch sind oder ob sich die beanstandete Vermutung in einer hohen Zahl von Fällen bewahrheiten kann. (2) Grenzen der Zulässigkeit von Beweisvermutungen nach der Rechtsprechung der Unionsgerichte Dass sich die Unionsgerichte, anders als der EGMR, oftmals wenig abstrakt mit Vermutungsregeln und deren Widerlegbarkeit auseinandersetzen, sondern vielmehr eine Betrachtung des Einzelfalls bzw. der verallgemeinerungsfähigen Situation vornehmen,307 überrascht nicht. Denn sie müssen einerseits die EU-GRCh auslegen und anwenden, andererseits auf einfachrechtlicher Ebene mögliche Anfechtungsklagen von betroffenen Unternehmen gegen die Anwendung von Vermutungsregelungen durch die Europäische Kommission prüfen. Dabei sind in jüngerer Zeit Ansätze zu erkennen, die Maßstäbe der EU-GRCh in diese Überlegungen einzubeziehen.308 Und sogar die Rechtsauffassung des EGMR wird zunehmend übernommen. So führt der EuGH im Urteil Elf Aquitaine aus dem Jahr 2011 diesbezüglich aus: „Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass sich eine Vermutung – selbst wenn sie schwer zu widerlegen ist – innerhalb akzeptabler Grenzen hält, wenn sie im Hinblick auf das verfolgte legitime Ziel angemessen ist, wenn die Möglichkeit besteht, den Beweis des Gegenteils zu erbringen, und wenn die Verteidigungsrechte gewahrt sind“.309

307 EuGH, Urt. v. 16.11.2000  – Rs. C-286/98 P, Stora Kopparbergs Bergslags/KOM, Slg. 2000, I-9945, Rn. 28 f.; EuG, Urt. v. 15.09.2005 – Rs. T-325/01, DaimlerChrysler/KOM, Slg. 2005, II-3326, Rn. 219; Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 23.04.2009 – Rs. C-97/08 P, Akzo Nobel/KOM, Slg. 2009, I-8241, Rn. 62 ff. und insbes. Rn. 70 ff., wo Generalanwältin Kokott abstrakt feststellt, dass es „möglich sein muss, aufgrund von Erfahrungssätzen aus typischen Geschehensabläufen bestimmte Schlussfolgerungen zu ziehen“ (Rn. 72), sich dann jedoch vor allem gesellschaftsrechtlichen und tatsächlichen Argumenten widmet, um zu begründen, wieso bei einer hundertprozentigen Beteiligung der Muttergesellschaft an einer Tochtergesellschaft von deren herrschenden Einfluss auszugehen ist. 308 Generalanwalt Mazák, Schlussanträge v. 14.09.2010  – Rs. C-90/09 P, General Química [u. a.]/KOM, Slg.  2011, I-1, Rn.  34, mit ausdrücklichem Verweis auf Art.  47 EMRK und Art.  6  EMRK in Fn.  16; diesen Ausführungen nicht widersprechend: EuGH, Urt. v. 20.01.2011 – Rs. C-90/09 P, General Química [u. a.]/KOM, Slg. 2011, I-1, Rn. 50 ff. 309 EuGH, Urt. v. 29.09.2011  – Rs. C-521/09 P, Elf Aquitaine/KOM, Slg.  2011, I-8947, Rn. 62.

E. Unschuldsvermutung

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Diese Formulierung ist den vom EGMR entwickelten Maßstäben sehr ähnlich, was vermutlich daran liegt, dass sich der EuGH unter anderem auf das oben zitierte EGMR-Urteil Janosevic bezieht. Da diese Ansicht im EuGH-Urteil Schindler im Jahr 2011 erneut bestätigt wurde,310 kann inzwischen von einer Übernahme der Maßstäbe des EGMR gesprochen werden.311 Der Schutzstandard durch EMRK und EU-GRCh scheint im Rahmen des europäischen Kartellrechts somit gleichwertig zu sein. (3) Zulässige Beweisvermutungen als mit dem Grundsatz in dubio pro reo zu vereinbarendes Beweismaß Im Ergebnis entspricht die Anwendung einer Vermutungsregel, wie auch Generalanwältin Kokott vertritt, somit der Festlegung eines bestimmten Beweismaßes für einen konkreten Fall.312 Am bereits vorstehend erwähnten Beispiel der Haftung von Muttergesellschaften für Tochtergesellschaften bei einhundertprozentigem Kapitalbesitz exemplifiziert Generalanwältin Kokott ihre Ansicht: „Der Rückgriff auf eine Vermutungsregel wie die hier diskutierte führt nicht zu einer – mit der Unschuldsvermutung unvereinbaren – Umkehr der Beweislast. Vielmehr wird lediglich das Beweismaß festgelegt, dem bei der Zurechnung der kartellrechtlichen Verantwortlichkeit zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft zu genügen ist. Da die 100 %ige Beteiligung der Muttergesellschaft an ihrer Tochtergesellschaft prima facie die Schlussfolgerung zulässt, dass bestimmender Einfluss tatsächlich ausgeübt wird, obliegt es der Muttergesellschaft, eben dieser Schlussfolgerung unter Vorlage stichhaltiger Gegenbeweise zu widersprechen; andernfalls genügt diese Schlussfolgerung den Anforderungen an die Beweislast. Es kommt, mit anderen Worten, zu einem Wechselspiel der Darlegungslasten, das der Frage der objektiven Beweislast vorgelagert ist.“313

Da in der überwiegenden Zahl der Fälle das Vorliegen bestimmter Umstände eine konkrete Folge nach sich zieht, verbleiben im Regelfall somit keine Zweifel, dass aus diesen Umständen die regelmäßig gefolgerten Schlüsse zu ziehen sind. Es handelt sich bei der Anwendung von Beweisvermutungen somit nicht um eine Ausnahme vom Grundsatz, dass ein Beweis erst dann erbracht ist, wenn er zweifelsfrei erfolgt.314 Vielmehr kann ein Beweis auch für den Fall, dass Beweisvermutungen angestrengt werden, durchaus zweifelsfrei erfolgen.

310 EuGH, Urt. v. 18.07.2013  – Rs. C-501/11 P, Schindler/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 107. 311 So schon vor dem Urteil Schindler: Vilsmeier, S. 131 f. 312 Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 23.04.2009 – Rs. C-97/08 P, Akzo Nobel/KOM, Slg. 2009, I-8241, Rn. 74. 313 Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 23.04.2009 – Rs. C-97/08 P, Akzo Nobel/KOM, Slg. 2009, I-8241, Rn. 74. 314 Vilsmeier, S. 120.

168

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Für ein möglichst hohes Maß an Rechtssicherheit erscheint die Bildung von Fallgruppen sinnvoll. Halten diese den Vorgaben über die Zulässigkeit von Beweisvermutungen im Regelfall stand, so kann der so etablierte Beweisstandard als neues – auf die Fallgruppe bezogenes – Beweismaß angesehen werden. bb) Indizienbeweise als Unterfall von Beweisvermutungen Zumindest teilweise Indizienbeweise zuzulassen, erscheint schließlich als Unterfall von Beweisvermutungen: Beweislücken werden durch solche Schlussfolgerungen geschlossen, aufgrund derer vermutet wird, dass die vorliegenden, lückenhaften Beweise die Erfüllung eines bestimmten Tatbestandsmerkmals in ihrer sich einander bedingenden Gesamtschau begründen.315 Wie bei Beweisvermutungen bedarf es auch bei Indizienbeweisen handhabbarer Kriterien, um festzulegen, in welchen Fällen ein zweifelsfreier Beweis erbracht ist, der sich jedenfalls zum Teil nur auf Indizien stützt. Es erscheint aufgrund der fast identischen Ausgangslage naheliegend, die gleichen Kriterien heranzuziehen, wie sie für die Zulässigkeit von Beweisvermutungen gelten. Überzeugenderweise wird, wie bereits erläutert, in der Literatur angeführt, Indizienbeweise seien im Ergebnis durchaus mit dem „beyond reasonable doubt“-Standard vereinbar.316 c) Notwendigkeit weiterer Beweiserleichterungen aufgrund des Charakters des Kartellverbots als Wirtschaftsdelikt und als abstraktes Gefährdungsdelikt Die Prüfung kartellrechtlicher Sachverhalte erfordert die Auseinandersetzung mit wirtschaftlich komplexen Fragestellungen.317 Deshalb kann der Nachweis, dass ein bestimmtes Verhalten tatbestandlich relevante wirtschaftliche Folgen nach sich gezogen hat oder nach sich zu ziehen geeignet ist – anders als bei reinen Tatsachenfeststellungen –, fast nie gänzlich zweifelsfrei gelingen. Vielmehr basieren die notwendigen ökonomischen Analysen zumindest teilweise auf unsicheren Annahmen und sind außerdem davon geprägt, dass diesbezüglich verschiedene wissenschaftliche Ansichten vertretbar sein können. Ein eindeutig lückenloser Beweis ist daher de facto unmöglich. Noch deutlicher zeigt sich die Problematik ökonomisch geprägter Beweise in dem Umstand, dass das Kartellverbot nach Art. 101 Abs. 1 AEUV ein abstraktes

315 Vgl. uneingeschränkt übertragbar zum Indizienbeweis im deutschen Zivilrecht Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting, Kapitel 18, Rn. 2. 316 Vilsmeier, S. 231 f. 317 Bronckers/Vallery, ECJ 2012, 283, 290; mit diversen Beispielen aus der Rechtsprechung der Unionsgerichte zu wirtschaftlich komplexen Fragestellungen: Guski, ZWeR 2012, 243, 252.

E. Unschuldsvermutung

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Gefährdungsdelikt ist, es also gerade nicht auf den Eintritt einer bestimmten Rechtsfolge ankommt, wie sich aus dem Wortlaut ergibt: „Mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten sind alle Vereinbarungen […], welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind […].“

Eine abstrakte Prüfung, ob ein tatsächlich vorliegendes Verhalten hypothetisch geeignet ist, eine bestimmte Folge nach sich zu ziehen, kann aber schon aufgrund der prognostischen Natur nie einem lückenlosen Beweis zugänglich sein. Während sich die Unionsgerichte soweit ersichtlich nicht in detaillierter Art und Weise damit auseinandergesetzt haben, welches Beweismaß in den beiden beschriebenen Fällen gilt, hat das Schweizer Bundesgericht im Jahr 2012 dazu überzeugend und in verallgemeinerungsfähiger Art und Weise ausgeführt: „Es ist indessen nicht zu übersehen, dass die Analyse der Marktverhältnisse komplex und die Datenlage oft unvollständig und die Erhebung ergänzender Daten schwierig ist. So ist etwa bei der Marktabgrenzung die Substituierbarkeit aus der Sicht der Marktgegenseite mit zu berücksichtigen. Die Bestimmung der maßgeblichen Güter, sowie die Einschätzung des Ausmaßes der Substituierbarkeit ist kaum je exakt möglich, sondern beruht zwangsläufig auf gewissen ökonomischen Annahmen. Die Anforderungen an den Nachweis solcher Zusammenhänge dürfen mit Blick auf die Zielsetzung des Kartellgesetzes, volkswirtschaftlich oder sozial schädliche Auswirkungen von Kartellen und anderen Wettbewerbsbeschränkungen zu verhindern und damit den Wettbewerb im Interesse einer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung zu fördern, nicht übertrieben werden. In diesem Sinne erscheint eine strikte Beweisführung bei diesen Zusammenhängen kaum möglich. Eine gewisse Logik der wirtschaftlichen Analyse und Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit müssen aber überzeugend und nachvollziehbar erscheinen. Der vorliegende Sanktionstatbestand unterscheidet sich insoweit nicht von komplexen Wirtschaftsdelikten des ordentlichen Strafrechts.“318

Die Ausführungen zeigen somit, dass ein Beweis, der mehr als eine überwiegende Wahrscheinlichkeit nachzuweisen versucht, nicht zu erbringen ist. Dies hat jedoch zur Folge, dass nicht jegliche Zweifel an der Richtigkeit einer Schlussfolgerung ausgeräumt werden können. Um dennoch die Vertretbarkeit einer Schlussfolgerung oder einer wirtschaftswissenschaftlichen Ansicht zu überprüfen, bedarf es eines praxistauglichen Prüfmaßstabes. In Frage kommt eine analoge Anwendung der Kriterien, anhand derer die Zulässigkeit von Beweisvermutungen geprüft wird. Denn auch im Rahmen der beschriebenen wirtschaftswissenschaftlichen Fragestellungen wird aus dem Vorliegen gewisser Umstände auf eine bestimmte Folge geschlossen. Ob deren Grenzen im jeweiligen Einzelfall eingehalten wurden, ist anhand der erläuterten Maßstäbe zu prüfen.

318 BGer, Urt. v. 29.06.2012 – 2C_484/2010, Publigroupe/WEKO, BGE 139 I 72, E. 8.3.2, S. 91 f.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

d) Keine weitergehenden Vorgaben für das notwendige Beweismaß aus dem Grundsatz eines fairen Verfahrens Zum Teil wird vertreten, das Beweismaß müsse auch mit dem Gebot eines fairen Verfahrens in Einklang stehen.319 Da der Begriff fair jedoch äußerst unbestimmt ist, können aus ihm direkt keine Anforderungen an das Beweismaß abgeleitet werden. Vielmehr muss es auf eine Gesamtschau der Verfahrenswirklichkeit ankommen, um herauszufinden, ob die Europäische Kommission alle möglichen Anstrengungen unternommen hat, um den notwendigen Beweis zu erbringen, und ob diese Anstrengungen ausgereicht haben.320 Dafür ist in hohem Maße eine Einzelfallbetrachtung notwendig,321 und es können allenfalls gewisse Fallgruppen gebildet werden, die in engem Zusammenhang mit der Frage zulässiger Vermutungsregeln stehen. Da sich das Gebot eines fairen Verfahrens jedoch stets auf die Gesamtheit der Verfahrensumstände bezieht,322 wäre es eine Überstrapazierung des Grundsatzes, würde man aus ihm klarere Vorgaben hinsichtlich des Beweismaßes ableiten wollen. e) Fazit: Herleitung eines praxistauglichen Beweismaßes für das europäische Kartellrecht aus dem Grundsatz in dubio pro reo Grundsätzlich ist auch im europäischen Kartellrecht ein Beweis dann erbracht, wenn keine begründeten Zweifel mehr hinsichtlich der Umstände bestehen, die nachgewiesen werden sollten. Dies ist bei lückenlosen Nachweisen stets der Fall. Doch auch wenn ein lückenloser Nachweis nicht möglich ist, kann ein Beweis durch die Anwendung von Beweisvermutungen und Indizienbeweisen zweifelsfrei erbracht werden. Ob dies der Fall ist, hängt maßgeblich vom Einzelfall ab. Eine grundlegende Unvereinbarkeit des europäischen Kartellrechts mit den vorstehend gebildeten Beweismaßstäben ist nicht ersichtlich. Kann die europäische Kommission keinen lückenlosen Beweis erbringen und greifen Beweisvermutungen durch oder gelingen Indizienbeweise nicht, muss der Nachweis des wettbewerbsrechtlichen Verstoßes als nicht erbracht angesehen werden. Der Bußgeldbescheid wäre aus diesem Grund unbegründet und wäre vor den Unionsgerichten, sofern er dennoch erlassen wird, anfechtbar. 319

Andeutungsweise ohne nähere Ausführungen: Parret, ECJ 2008, 169, 177. Ebenfalls auf eine Gesamtbetrachtung abstellend: EuGH, Urt. v. 07.01.2004, verb. Rs. C-204/00 [u. a.], Aalborg Portland [u. a.]/KOM, Slg. 2004, I-403, Rn.  57; EuGH, Urt. v. 21.06.2006  – Rs. C-105/04 P, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/KOM, Slg. 2006, I-8766, Rn. 94. 321 Vgl. Breitenmoser, Jusletter 20.04.2015, Rz. 25. 322 Ebenfalls auf eine Gesamtbetrachtung abstellend: EuGH, Urt. v. 07.01.2004, verb. Rs. C-204/00 [u. a.], Aalborg Portland [u. a.]/KOM, Slg. 2004, I-403, Rn.  57; EuGH, Urt. v. 21.06.2006  – Rs. C-105/04 P, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/KOM, Slg. 2006, I-8766, Rn. 94. 320

E. Unschuldsvermutung

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4. Keine Einschränkung des Beweismaßes bei Kronzeugenanträgen Damit ein Kronzeugenantrag Aussicht auf einen gänzlichen Bußgelderlass hat, muss er nicht nur zu einem Zeitpunkt gestellt werden, zu dem die Europäischen Kommission noch keine Kenntnis vom so offengelegten Kartell hat, sondern er muss auch durch Beweise belegt werden.323 Aus diesem Grund hat sich bereits im Rahmen der Beweislastverteilung die Frage gestellt, in welchem Umfang die Europäische Kommission weitere Ermittlungen durchführen muss, oder ob der erforderliche Beweis allein durch die von dem Kronzeugen vorgelegten Beweise erbracht sein kann, was abgelehnt wurde. Bei der Frage des erforderlichen Beweismaßes sind abermals die mit Kronzeugenanträgen verbundenen Besonderheiten zu berücksichtigen. Denn Kronzeugen könnten dazu neigen, die Umstände eines Kartells zu ihren Gunsten darzustellen und dadurch andere Kartellanten zu belasten.324 Dies kann unter Umständen dergestalt erfolgen, dass der Kronzeuge Beweise selektiv darlegt und auf für ihn günstige Art und Weise erläutert. Dieser Umstand aber zeigt, dass weitere Beweisermittlungen notwendig sind, um die von dem Kronzeugen vorgebrachten Beweise zu verifizieren. Daraus folgt, dass eine Reduktion des Beweismaßes in Kronzeugenfällen nicht in Betracht kommen kann.325 Wenn der Kronzeuge einen zweifelsfreien Beweis erbringt, muss dies außerdem erst recht gelten, um zu verifizieren, ob der Beweis womöglich nur vermeintlich zweifelsfrei ist.

VI. Gesamtfazit: Mehrfache Unvereinbarkeit des europäischen Kartellrechts mit der Unschuldsvermutung Die Regelungen der VO (EG) 1/2003 sind in dreierlei Hinsicht nicht mit der Unschuldsvermutung zu vereinbaren. Zum einen verunmöglicht der Umstand, dass innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb anklagende und entscheidende Funktionen durch dieselben Beamten wahrgenommen werden, eine unvoreingenommene Entscheidung. Sodann fehlt eine Regelung, um Befangenheitsanträge stellen zu können. Und zuletzt verstößt die Beweislastverschiebung für Rechtfertigungsgründe gegen die staatliche Beweispflicht. Das im Regelfall erbrachte Beweismaß und die praktizierten Grenzen zur Zulässigkeit von Beweisvermutungen scheinen mit den Vorgaben aus der EMRK und

323 Hetzel, S. 236; Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, Ziff. 8 ff. 324 Hetzel, S. 236; Parret, ECJ 2008, 169, 179; Schwarze, WuW 2009, 6, 10; Thanos, S. 363. 325 Unter Berufung auf die Unschuldsvermutung für das sehr ähnliche Schweizer Kartellrecht, im Ergebnis so auch: BVGer, Urt. v. 23.09.2014 – B-8399/2010, Siegenia-Aubi/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 4.4.28; vgl. im Ergebnis so auch: Breitenmoser, Jusletter 20.04.2015, Rz. 15.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

der EU-GRCh durchaus vereinbar zu sein. Entscheidend ist jedoch die korrekte Einhaltung im Einzelfall.

F. Nemo-tenetur-Grundsatz Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit gilt im europäischen Kartellrecht nur sehr eingeschränkt, was zu Recht erheblichen Bedenken ausgesetzt ist. So sind Unternehmen derzeit gem. Art. 18 Abs. 1, 3 S. 1 VO (EG) 1/2003 zur „Erteilung von Auskünften“ verpflichtet und haben ausweislich des Erwägungsgrundes  23 nur ein sehr eingeschränktes Aussageverweigerungsrecht: „Unternehmen, die einer Entscheidung der Kommission nachkommen, können nicht gezwungen werden, eine Zuwiderhandlung einzugestehen; sie sind auf jeden Fall aber verpflichtet, Fragen nach Tatsachen zu beantworten und Unterlagen vorzulegen, auch wenn die betreffenden Auskünfte dazu verwendet werden können, den Beweis einer Zuwiderhandlung durch die betreffenden oder andere Unternehmen zu erbringen.“

Um Unternehmen eine solche Auskunftspflicht aufzuerlegen, genügt ein Anfangsverdacht.326 Ob diese Praxis mit den Vorgaben aus der EMRK bzw. der EUGRCh vereinbar ist, ist hoch umstritten. Kommt die folgende Untersuchung zu dem Ergebnis, dass in der Ermittlungsphase ein Aussageverweigerungsrecht besteht, so kann die Europäischen Kommission ihre spätere Entscheidung nicht auf Aussagen stützen, die sie unter Missachtung des nemo-tenetur-Grundsatzes erlangt hat.

I. Rechtsprechung des EGMR zum Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit Der EGMR leitet den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit überwiegend aus dem Grundsatz eines fairen Verfahrens gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK her,327 zum Teil wird jedoch auch die Unschuldsvermutung gem. Art.  6  Abs.  2  EMRK als (zu 326

Anstatt aller: Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil  2, Art.  18 VO (EG) 1/2003, Rn. 9. 327 EGMR, Urt. v. 25.02.1993 – No. 10828/84, Funke/Frankreich, Series A vol. 256-A, § 41; EGMR, Urt. v. 08.02.1996 – No. 18731/91, John Murray/Vereinigtes Königreich, Reports 1996I, §§ 41, 45; EGMR, Urt. v. 17.12.1996 – No. 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 68; EGMR, Urt. v. 21.12.2000 – No. 34720/97, Heaney and McGuinness/Irland, ECHR 2000-VII, § 40; EGMR, Urt. v. 03.05.2001 – No. 31827/96, J. B./Schweiz, ECHR 2001-III, § 64; EGMR, Urt. v. 05.11.2002 – No. 48539/99, Allan/Vereinigtes Königreich, ECHR 2002-IX, § 44; EGMR, Urt. v. 08.04.2004 – No. 38544/97, Weh/Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 39; EGMR, Urt. v. 04.10.2005 – No. 6563/03, Shannon/Vereinigtes Königreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 32; EGMR, Urt. v. 11.07.2006 – No. 54810/00, Jalloh/Deutschland, ECHR 2006-IX, §§ 100, 123; EGMR, Urt. v. 29.06.2007 – No. 15809/02 [u. a.], O’Halloran and Francis/Vereinigtes Königreich, ECHR 2007-III, § 63; EGMR, Urt. v. 21.04.2009 – No. 19235/03, Marttinen/Finnland, nicht in der amtlichen Sammlung, § 60; Gra-

F. Nemo-tenetur-Grundsatz 

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sätzliche) Grundlage erachtet.328 Welchen Schutz die Selbstbelastungsfreiheit umfasst, ist zumindest für natürliche Personen von der vertretenen Rechtsgrundlage unabhängig. Die folgenden Ausführungen zum Schutz natürlicher Personen beschränken sich auf solche Aspekte des nemo-tenetur-Grundsatzes, deren Über­ tragung auch auf Unternehmen denkbar erscheint. 1. Umfang der Selbstbelastungsfreiheit für natürliche Personen Nach der Rechtsprechung des EGMR haben natürliche Personen angesichts des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit das Recht zu schweigen und sich nicht selbst durch eine Aussage belasten zu müssen.329 Die ermittelnden staatlichen Stellen dürfen deshalb keinen Zwang anwenden, um eine Aussage zu erlangen.330 Somit muss der Beweis, dass die Voraussetzungen einer Verbotsnorm erfüllt wurden, vollumfänglich von der Ermittlungsbehörde erbracht werden.331 Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ist dabei nicht nur in gerichtlichen, sondern auch in administrativen Verfahren anwendbar.332 Wie Zwang, der zu einer selbstbelastenden Aussage führt, allgemein zu definieren ist, geht aus der Rechtsprechung des EGMR nicht hervor. Allerdings werden bestimmte Formen und Grade des Zwangs als zulässig angesehen,333 da die Selbstbenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 14, Rn. 164; Meyer, in: Karpenstein/ Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 127; vgl. Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 130. 328 EGMR, Urt. v. 17.12.1996  – No. 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 68; EGMR, Urt. v. 21.12.2000 – No. 34720/97, Heaney and McGuinness/Irland, ECHR 2000-VII, § 40; EGMR, Urt. v. 08.04.2004 – No. 38544/97, Weh/Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 39; EGMR, Urt. v. 21.04.2009 – No. 19235/03, Marttinen/Finnland, nicht in der amtlichen Sammlung, § 60; Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 14, Rn. 164; vgl. Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 447. 329 EGMR, Urt. v. 08.02.1996 – No. 18731/91, John Murray/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I, § 41; EGMR, Urt. v. 17.12.1996 – No. 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 69; EGMR, Urt. v. 21.12.2000  – No. 34720/97, Heaney and McGuinness/ Irland, ECHR 2000-VII, § 40; das Urteil Jalloh sieht die Hauptausprägung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit im Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen: EGMR, Urt. v. 11.07.2006 – No. 54810/00, Jalloh/Deutschland, ECHR 2006-IX, § 102; Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 14, Rn. 164; Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 447; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 128; Peukert, in: Frowein/ Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 130. 330 EGMR, Urt. v. 21.12.2000  – No. 34720/97, Heaney and McGuinness/Irland, ECHR 2000-VII, § 40; Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel  14, Rn.  164; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 129. 331 EGMR, Urt. v. 08.02.1996 – No. 18731/91, John Murray/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I, § 41; vgl. EGMR, Urt. v. 21.12.2000 – No. 34720/97, Heaney and McGuinness/Irland, ECHR 2000-VII, § 40; Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 14, Rn. 164. 332 EGMR, Urt. v. 25.02.1993 – No. 10828/84, Funke/Frankreich, Series A vol. 256-A, §§ 41 ff. 333 EGMR, Urt. v. 29.06.2007  – No. 15809/02 [u. a.], O’Halloran and Francis/Vereinigtes Königreich, ECHR 2007-III, § 53; vgl. Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 14, Rn. 165; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 130.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

belastungsfreiheit nicht als absolutes Recht angesehen wird, sondern „im Rahmen der Verhältnismäßigkeit beschränkbar ist, solange sein Wesensgehalt in Takt bleibt.“334 Der EGMR hat dafür drei entsprechende Kriterien entwickelt, um festzustellen, ob die Anwendung von Zwang so bedeutend war, dass der Wesensgehalt des Rechts der Selbstbelastungsfreiheit beeinträchtigt wurde.335 Danach kommt es auf „die Natur und den Grad des Zwanges“336 an, darauf, ob „relevante verfahrensrechtliche Sicherungsmittel bestehen“337 und auf „die Nutzung der so erlangten Erkenntnisse“338. Außerdem führt er als weitere Abwägungsfaktoren das „öffentliche Interesses an der Verfolgung der Tat“339 an, sowie die „Strafe der in Rede stehenden Tat.“340 Während in Bezug auf natürliche Personen unter dem Einsatz von Zwangsmitteln vor allem (angedrohte) Folter oder unmenschliche Behandlung verstanden wird,341 kommen gegenüber Unternehmen nur (angedrohte) Bußgelder als Zwangsmittel in Betracht. Eine gewisser indirekter Zwang zur Antwort folgt aus dem Umstand, dass der EGMR es für zulässig erachtet, aus dem Schweigen des Beschuldigten nachteilige Schlüsse zu ziehen.342 Die Voraussetzung dafür ist jedoch, dass das Schweigen nicht als das einzige Beweismittel dient.343

334

Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art.  6 EMRK, Rn.  130; sinngemäß auch: EGMR, Urt. v. 08.02.1996  – No. 18731/91, John Murray/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I, § 47; EGMR, Urt. v. 21.12.2000 – No. 34720/97, Heaney and McGuinness/Irland, ECHR 2000-VII, § 47; EGMR, Urt. v. 04.10.2005 – No. 6563/03, Shannon/Vereinigtes Königreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 27; EGMR, Urt. v. 18.02.2010 – No. 39660/02, Zaichenko/Russland, nicht in der amtlichen Sammlung, § 39. 335 EGMR, Urt. v. 05.11.2002 – No. 48539/99, Allan/Vereinigtes Königreich, ECHR 2002-IX, § 44; EGMR, Urt. v. 11.07.2006 – No. 54810/00, Jalloh/Deutschland, ECHR 2006-IX, § 101. 336 EGMR, Urt. v. 05.11.2002 – No. 48539/99, Allan/Vereinigtes Königreich, ECHR 2002-IX, § 44; EGMR, Urt. v. 11.07.2006 – No. 54810/00, Jalloh/Deutschland, ECHR 2006-IX, §§ 101, 117: „the nature and degree of compulsion“. 337 EGMR, Urt. v. 05.11.2002 – No. 48539/99, Allan/Vereinigtes Königreich, ECHR 2002IX, § 44; EGMR, Urt. v. 11.07.2006  – No. 54810/00, Jalloh/Deutschland, ECHR 2006-IX, §§ 101, 117: „the existence of any relevant safeguards in the procedures“. 338 EGMR, Urt. v. 05.11.2002 – No. 48539/99, Allan/Vereinigtes Königreich, ECHR 2002IX, § 44; GMR, Urt. v. 11.07.2006  – No. 54810/00, Jalloh/Deutschland, ECHR 2006-IX, §§ 101, 117: „the use to which any material so obtained is put“. 339 EGMR, Urt. v. 11.07.2006 – No. 54810/00, Jalloh/Deutschland, ECHR 2006-IX, § 117: „the weight of the public interest in the investigation“. 340 EGMR, Urt. v. 11.07.2006 – No. 54810/00, Jalloh/Deutschland, ECHR 2006-IX, § 117: „the punishment of the offence in issue“. 341 Ausführlich mit diversen Nachweisen aus der Rechtsprechung des EGMR: Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 131 f. 342 EGMR, Urt. v. 08.02.1996 – No. 18731/91, John Murray/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I, § 50. 343 EGMR, Urt. v. 08.02.1996 – No. 18731/91, John Murray/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I, § 47; vgl. Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 14, Rn. 165; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 130.

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Eingeschränkt werden kann der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit weder durch die Komplexität der Sachverhaltsermittlung, noch durch das öffentliche Aufklärungsinteresse.344 Zulässig kann eine Pflicht zur Selbstbelastung jedoch sein, wenn die Ausübung einer Tätigkeit mit gewissen regulatorischen Einschränkungen einhergeht, aufgrund derer eine Aussagepflicht besteht.345 Geht es um die Herausgabe von Beweisen, so besteht keine entsprechende allgemeine Pflicht zur Herausgabe346 oder zur Mitwirkung bei deren Beschaffung.347 Jedoch besteht eine allgemeine Duldungspflicht bezüglich der Beschlagnahme von Dokumenten.348 Als Begründung führt der EGMR an, dass der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit vor allem den Willen des Angeklagten zu schweigen schützen solle.349 Daraus lässt sich schließen, dass der EGMR diesen Schutzzweck bei der Beschlagnahme von Dokumenten nicht verletzt sieht. Der Einsatz verdeckter Ermittler ist im europäischen Kartellrecht nicht vorgesehen und scheint gegenüber Unternehmen auch eher unwahrscheinlich, weswegen eine diesbezügliche Darstellung der Rechtsprechung des EGMR dahin­ stehen kann.

344

EGMR, Urt. v. 17.12.1996  – No. 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 74. 345 EGMR, Urt. v. 29.06.2007  – No. 15809/02 [u. a.], O’Halloran and Francis/Vereinigtes Königreich, ECHR 2007-III, § 57; er führt dazu aus: „Wer sich entscheidet ein Fahrzeug zu halten und zu führen muss gewisse Pflichten […] hinnehmen, die beinhalten, dass er im Falle von Straßenverkehrsrechtsverletzungen die Behörden über den Fahrer seines Fahrzeuges informieren muss [Anm. d. Verf.: auch wenn er selbst der Fahrer war].“; im Englischen Original: „Those who choose to keep and drive motor cars can be taken to have accepted certain responsibilities and obligations as part of the regulatory regime relating to motor vehicles, and in the legal framework of the United Kingdom these responsibilities include the obligation, in the event of suspected commission of road-traffic offences, to inform the authorities of the identity of the driver on that occasion.“ Begründet wird dies mit dem Umstand, durch Autos könnten schwere Verletzungen verursacht werden. 346 EGMR, Urt. v. 25.02.1993 – No. 10828/84, Funke/Frankreich, Series A vol. 256-A, § 44; EGMR, Urt. v. 03.05.2001 – No. 31827/96, J. B./Schweiz, ECHR 2001-III, §§ 66, 68, 71; Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 14, Rn. 164; bzgl. der Herausgabe von Unterlagen: Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 129. 347 EGMR, Urt. v. 25.02.1993 – No. 10828/84, Funke/Frankreich, Series A vol. 256-A, § 44; Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, Band I, Kapitel 14, Rn. 164; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 129. 348 Vgl. EGMR, Urt. v. 17.12.1996  – No. 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 69; EGMR, Urt. v. 11.07.2006 – No. 54810/00, Jalloh/Deutschland, ECHR 2006-IX, § 102. 349 EGMR, Urt. v. 17.12.1996  – No. 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 69; EGMR, Urt. v. 11.07.2006 – No. 54810/00, Jalloh/Deutschland, ECHR 2006-IX, § 102.

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2. Keine Aussage über die Selbstbelastungsfreiheit für Unternehmen Ob und vor allem in welchem Umfang der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit auch für Unternehmen gilt, ist höchst unklar und zum Teil umstritten. Dies liegt im Umstand begründet, dass sich der EGMR, soweit ersichtlich, noch nicht zur Anwendbarkeit des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit auf Unternehmen geäußert hat,350 weshalb auch die Frage einer möglichen Einschränkung offen bleibt. Das Schweizer Bundesgericht scheint im Rahmen der Auslegung der EMRK von einer Anwendbarkeit auszugehen ohne diese jedoch ausführlich zu begründen.351 Potentiell von Relevanz wäre das Verfahren Delta Pekárny vor dem EGMR gewesen.352 Im Rahmen eines Kartellermittlungsverfahren wurde gegenüber dem klagenden Unternehmen von den tschechischen Behörden eine Geldbuße wegen mangelnder Kooperation bei der Aufklärung verhängt.353 Die Pflicht zur Kooperation bezog sich vor allem darauf, die Durchsuchung elektronischer Speichermedien zu ermöglichen, was das betroffene Unternehmen als Akt der Selbstbelastung ansah.354 Mit der Frage, ob Art. 6 EMRK anwendbar ist und im konkreten Fall durch die Verhängung des Bußgeldes verletzt wurde, musste sich der EGMR in seiner Prüfung nicht auseinandersetzen, weil die Klägerin den innerstaatlichen Rechtsweg entgegen Art. 35 Abs. 1 und 4 EMRK diesbezüglich nicht ausgeschöpft hatte.355

II. Auslegung der EMRK Da die Anwendbarkeit des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit auf Unternehmen in Verwaltungsverfahren demnach bis jetzt ungeklärt ist, bedarf es einer ausführlichen Auslegung insbesondere der Schutzzwecke von Art. 6 EMRK. Auch wenn die gängigen Teloi der Selbstbelastungsfreiheit auf Unternehmen nicht anwendbar sind, scheint ein Schutz von Unternehmen vor selbstbelastenden Aussagen, wie noch darzulegen, dennoch geboten. Dabei erscheinen entgegenstehende Praxisargumente nicht gewichtig genug, um den Schutz einzuschränken. Und auch 350

Vgl. BVGer, Urt. v. 14.09.2015 – B-7633/2009, Swisscom/WEKO, E. 95. BGer, Urt. v. 27.05.2004 – 2C_776/2013, Sanktion Spielbankengesetz, BGE 140 II 384, E. 3.3.4 ff., S. 392 ff.; ausführlich zu den vertretenen Ansichten zur Selbstbelastungsfreiheit im Schweizer Kartellrecht: Reimann, S. 43 ff. 352 EGMR, Urt. v. 02.10.2014 – No. 97/11, Delta Pekárny/Tschechische Republik, nicht in der amtlichen Sammlung. 353 EGMR, Urt. v. 02.10.2014 – No. 97/11, Delta Pekárny/Tschechische Republik, nicht in der amtlichen Sammlung, § 12. 354 EGMR, Urt. v. 02.10.2014 – No. 97/11, Delta Pekárny/Tschechische Republik, nicht in der amtlichen Sammlung, §§ 12, 104. 355 EGMR, Urt. v. 02.10.2014 – No. 97/11, Delta Pekárny/Tschechische Republik, nicht in der amtlichen Sammlung, §§ 109 ff., 114. 351

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die Tatsache, dass Kartellbußgelder nicht gerichtlich, sondern administrativ verhängt werden, dürfte einem umfassenden Schutz kaum entgegenstehen. 1. Uneingeschränkte Geltung der Selbstbelastungsfreiheit für Unternehmen Neben der Frage, ob der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit Unternehmen zugute kommen soll, ist zu untersuchen, ob die praktizierte teilweise Einschränkung mit dem Schutzzweck vereinbar ist, und ob zumindest ein geringes Maß an Zwang zur Aussage zulässig sein kann. Außerdem soll geklärt werden, welche Auswirkung unterschiedlich schwere Sanktionen für das vorgeworfene Verhalten auf das Bestehen und den Umfang eines Aussageverweigerungsrechts haben, und wie sich die unterschiedlichen Rechtsformen von Unternehmensträgern auf die Schutzbedürftigkeit auswirken. a) Telos der Selbstbelastungsfreiheit nach Ansicht des EGMR Der EGMR äußert sich in seinen Urteilen nur sporadisch zum Schutzzweck des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit. Dennoch sind zwei verschiedene ­Teloi auszumachen: Der Schutz vor Fehlurteilen und der Schutz der Willensfreiheit. aa) Gefahr von Fehlurteilen durch Zwang zu selbstbelastenden Aussagen Zur Gefahr von Fehlurteilen führt der EGMR im Urteil J. B. unter Bezugnahme auf mehrere frühere Urteile prägnant aus: „The right not to incriminate oneself in particular presupposes that the authorities seek to prove their case without resorting to evidence obtained through methods of coercion or oppression in defiance of the will of the ‚person charged‘. By providing the accused with protection against improper compulsion by the authorities these immunities contribute to avoiding miscarriages of justice and securing the aims of Article 6.“356 356 EGMR, Urt. v. 03.05.2001  – No. 31827/96, J. B./Schweiz, ECHR 2001-III, § 64, auf Deutsch: „Das Recht sich nicht selbst belasten zu müssen setzt voraus, dass die Behörden den erhobenen Vorwurf begründen, ohne auf Beweise zurückzugreifen, die durch Zwang oder Unterdrückung unter Missachtung des Willens des Angeklagten erlangt wurden. Indem der Angeklagte vor unzulässigem Zwang seitens der Behörden geschützt wird, helfen diese Garantien, Fehlurteile zu vermeiden und die Ziele von Art. 6 EMRK zu verwirklichen.“; wörtlich oder sinngemäß so auch: EGMR, Urt. v. 08.02.1996 – No. 18731/91, John Murray/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I, § 45; EGMR, Urt. v. 17.12.1996 – No. 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 68; EGMR, Urt. v. 20.10.1997 – No. 82/1996/671/893, Serves/ Frankreich, Reports 1997-VI, § 46; EGMR, Urt. v. 21.12.2000 – No. 34720/97, Heaney and McGuinness/Irland, ECHR 2000-VII, § 40; EGMR, Urt. v. 08.04.2004 – No. 38544/97, Weh/ Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 39.

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Während der Zwang zur Selbstbelastung für sich genommen schon problematisch sein kann, macht das zitierte Urteil deutlich, dass daneben auch die Tatsache problematisch sein kann, dass eine Aussage unter und aufgrund von Zwang abgegeben wurde. Aufgrund dieses Umstandes dürfte der zur Aussage Gezwungene nämlich versuchen, möglichst wenig selbstbelastende Informationen preiszugeben, oder die Umstände auf möglichst wenig selbstbelastende Art und Weise darzustellen, was zur Folge hat, dass er Gefahr läuft, unvollständige oder falsche Angaben zu machen.357 Aus diesem Umstand folgert der EGMR die Gefahr von Fehlurteilen und macht dies zum Schutzzweck des nemo-tenetur-Grundsatzes.358 bb) Schutz der Willensfreiheit Der Schutzzweck, die Willensfreiheit eines Verdächtigten zu bewahren, knüpft anders als der Schutz vor Fehlurteilen nicht an der Folge einer erzwungenen Aussage an, sondern an der Tatsache seiner Erzwingung. Der EGMR führt im Urteil Heaney and McGuinness dazu aus: „The right not to incriminate oneself is primarily concerned, however, with respecting the will of an accused person to remain silent.“359

Dies hat der EGMR auch in späteren Urteilen360 bestätigt und bereits in früheren Urteilen361 angedeutet. Wieso die Willensfreiheit zu schweigen, mithin also nicht gegen sich selbst aussagen zu müssen, geschützt werden muss, geht aus der Rechtsprechung des EGMR nicht eindeutig hervor. Eine Antwort scheinen inhaltlich ähnliche, in der Formulierung jedoch unterschiedliche Ansichten in der Literatur oder Urteile einzelner nationaler Rechtsprechungsorgane zu geben. Als Gründe für den Schutz vor selbstbelastenden Aussagen werden dort anderenfalls auftretende Gewissenskonflikte362 oder die Menschenwürde363 genannt. Nur wenn der Wille nicht auszusagen nicht durch Zwang gebrochen wird, können diese Schutzgründe gewahrt werden. Das deutsche Bundesverfassungsgericht führt zu der Frage, wieso natürlichen Personen ein Aussageverweigerungsrecht zustehen

357

Günther, GA 1978, 193, 202; Vocke, S. 139; Weiß, S. 366. Vocke, S. 139, jedoch nur Bezug nehmend auf: EGMR, Urt. v. 21.12.2000 – No. 34720/97, Heaney and McGuinness/Irland, ECHR 2000-VII, § 40. 359 EGMR, Urt. v. 21.12.2000  – No. 34720/97, Heaney and McGuinness/Irland, ECHR 2000-VII, § 40, auf Deutsch: „Das Aussageverweigerungsrecht zielt vor allem auf den Schutz des Willens des Angeklagten ab zu schwiegen.“ 360 EGMR, Urt. v. 05.11.2002 – No. 48539/99, Allan/Vereinigtes Königreich, ECHR 2002IX, § 50; EGMR, Urt. v. 08.04.2004 – No. 38544/97, Weh/Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 40. 361 EGMR, Urt. v. 17.12.1996  – No. 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 69. 362 Dannecker, ZStW 1999, 256, 284; Vocke, S. 137 ff. 363 BVerfG, Beschluss v. 26.02.1997 – 1 BvR 2172/96, BVerfGE 95, 220, 242. 358

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muss, in einer überzeugenden und für die EMRK verallgemeinerungsfähigen Art und Weise aus: „Der Einzelne soll vom Staat grundsätzlich nicht in eine Konfliktlage gebracht werden, in der er sich selbst strafbarerer Handlungen oder ähnlicher Verfehlungen bezichtigen muss oder in Versuchung gerät, durch Falschaussagen ein neues Delikt zu begehen, oder wegen seines Schweigens in Gefahr kommt, Zwangsmitteln unterworfen zu werden.“364

Die beschriebene Konfliktlage entstünde dabei durch die Kollision einer hypothetischen zwangsmäßigen Pflicht zur Aussage und die in der Konsequenz drohende Sanktionierung einerseits, sowie andererseits durch den Umstand, dass der jedem Menschen innewohnende Selbsterhaltungstrieb in unzumutbarer Weise überwunden werden müsste.365 Zum Teil  wird aus diesem Grund ein enger Bezug zur Menschenwürde gesehen.366 Diese Ansicht vertritt auch Richter Martens in einem abweichenden Votum zum Urteil Saunders des EGMR, gefolgt von Richter Kuris: „Its formulations vary, but they all essentially boil down to the proposition that respect for human dignity and autonomy requires that every suspect should be completely free to decide which attitude he will adopt with respect to the criminal charges against him.“367

Was nun die eigentliche Rechtsquelle des Schutzes der Willensfreiheit ist, kann dahinstehen, da es auf den vorstehend erörterten eigentlichen Schutzzweck ankommt, nämlich nicht in eine Zwangslage zu geraten, einerseits einer Rechtspflicht zur selbstbelastenden Aussage nachkommen zu müssen und andererseits seinem Selbsterhaltungstrieb folgen zu wollen. b) Weitgehende Unübertragbarkeit der vom EGMR formulierten Schutzzwecke auf Unternehmen Ob die vorgenannten Schutzzwecke auf Unternehmen übertragbar sind, ist jedoch in mehrfacher Hinsicht Zweifeln ausgesetzt. So sind die unter dem Begriff der Willensfreiheit zusammengefassten Schutzzwecke sämtlich nicht auf Unternehmen übertragbar. Und eine Verletzung der Menschenwürde als mögliche Rechtsgrundlage erscheint schon aufgrund des Wortlauts völlig ausgeschlossen.368 364

BVerfG, Beschluss v. 26.02.1997 – 1 BvR 2172/96, BVerfGE 95, 220, 241. Vgl. BVerfG, Beschluss v. 13.01.1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37, 41 f.; Günther, GA 1978, 193, 194; Rogall, S. 146; Vocke, S. 137 f. 366 BVerfG, Beschluss v. 13.01.1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37, 42. 367 Abweichende Meinung des Richters Martens, gefolgt von Richter Kuris, EGMR, Urt. v. 17.12.1996 – No. 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, S. 38, § 9, auf Deutsch: „Mögen die Formulierungen auch unterschiedlich sein, so haben alle Ansichten gemeinsam, dass jeder Angeklagter aufgrund seiner Menschenwürde und seiner Selbstbestimmung frei darüber entscheiden können muss, wie er sich in Hinblick auf die gegen ihn erhobene strafrechtliche Anklage verhalten will.“ 368 BVerfG, Beschluss vom 26.02.1997 – 1 BvR 2172/96, BVerfGE 95, 220, 242. 365

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Auch die Gefahr von Gewissenskonflikten scheint bei Unternehmen ausgeschlossen, da diese vielmehr ein rechtliches Konstrukt, als eine mit einem Gewissen handelnde natürliche Person sind.369 Der Gewissenskonflikt kann allenfalls bei den handelnden Organen auftreten,370 die als Vertreter des Unternehmens einer Aussagepflicht nachzukommen hätten. Da diese jedoch keiner strafrechtlichen Anklage ausgesetzt sind, finden die Verfahrensgarantien aus Art. 6 EMRK auf sie keine unmittelbare Anwendung. Ein möglicher auftretender Gewissenskonflikt fällt deshalb nicht in den Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit. Die zum Teil vertretene Ansicht, Unternehmen und deren Organe müssten als eine Einheit angesehen werden, scheint die Regeln der Zurechnung zu weit auszudehnen.371 Aus diesem Grund ist eine Schutzbegründung für Unternehmen wegen der Gefahr von Gewissenskonflikten abzulehnen.372 Bezüglich des zweiten Aspekts, dem Schutz vor Fehlurteilen durch falsche Aussagen aufgrund von Zwang oder Druck, ist zu beachten, dass Auskunftsverlagen an ein Unternehmen als Entität gestellt werden, die Beantwortung aber durch eine natürliche Person erfolgt. Zwischen der Fragestellung und der Beantwortung liegt somit der Vorgang, die für die Antwort zuständige Person zu identifizieren und das unter Umständen bei dieser Person nicht vorhandene Wissen überhaupt erst aus Akten oder durch die Hinzuziehung von weiteren Mitarbeitern zu beschaffen. Somit ist die Gefahr einer Falschaussage geringer, da zwischen der Fragestellung durch das staatliche Ermittlungsorgan und deren Beantwortung genug Zeit liegt, um Antworten auf die gestellten Fragen zu finden und diese bedacht zu formulieren. Darüber hinaus haben viele Unternehmen eine Rechtsabteilung oder dürften sich in der ganz überwiegenden Anzahl der Fälle anwaltlichen Beistandes bedienen,373 sollten sie eines Vergehens verdächtigt werden. Auch deshalb ist die Gefahr einer Falschaussage gering. Der Schutzzweck, eine verdächtigte Person durch den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit vor Falschaussagen zu bewahren, ist somit nur in geringem Maß auf Unternehmen übertragbar.374 Im Ergebnis sind somit die vom EGMR formulierten Schutzzwecke der Selbstbelastungsfreiheit auf Unternehmen nicht übertragbar.

369 Arzt, JZ 2003, 456, 457; Dannecker, ZStW 1999, 256, 284 f.; sehr ausführlich: Vocke, S. 140 ff.; Weiß, S. 374. 370 BVerfG, Beschluss vom 26.02.1997 – 1 BvR 2172/96, BVerfGE 95, 220, 242. 371 Ausführlich: Vocke, S.  141 ff., m. w. N.; eine Zurechnung befürwortend, damals noch: Weiß, JZ 1998, 289, 296. 372 Arzt, JZ 2003, 456, 457; Dannecker, ZStW 1999, 256, 284 f.; Vocke, S. 140 ff.; Weiß, S. 374. 373 So in anderem Kontext, jedoch auch zu Art. 6 EMRK und in Bezug auf den stets anwaltlichen Beistand: BVGer, Urt. v. 14.09.2015 – B-7633/2009, Swisscom/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 134. 374 Gänzlich anderer Ansicht: Göttlinger, S. 395; ebenso: Niggli/Riedo, in: Häner/Waldmann, S. 62.

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c) Schutzbegründung für Unternehmen aufgrund der staatlichen Beweispflicht aufgrund der Unschuldsvermutung Bei den vorstehend erwähnten Schutzzwecken bleibt jedoch unberücksichtigt, dass nach Ansicht des EGMR eine enge Verbindung zwischen der Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK und dem Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit besteht.375 Maßgeblich für die Frage, ob die Unschuldsvermutung die Anwendbarkeit des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit auf Unternehmen begründen oder zumindest beeinflussen kann, ist daher das Ergebnis der Untersuchung, welche verfahrensrechtlichen Konsequenzen die Unschuldsvermutung hat. Diesbezüglich ist zunächst festzustellen, dass den Staat grundsätzlich die umfassende Beweislast triff.376 Wenn der Staat ein verdächtigtes Unternehmen aber zwingt, gegen sich selbst auszusagen, so scheint er sich im Umfang der Aussagepflicht gleichzeitig seiner Beweispflicht zu entledigen. In diesem Fall würde ein Anfangsverdacht genügen, um ein Unternehmen zu einer Aussage zwingen zu können. Die Beweislastregel als ein wichtiger Bestandteil der Unschuldsvermutung scheint somit leerzulaufen. Diese Argumentation setzt aber voraus, dass die Unschuldsvermutung als Beweislastregel den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit tatsächlich bedingt. Zum Teil wird hierzu angeführt, dass die Notwendigkeit, bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld als unschuldig zu gelten, nicht dagegen spreche, diesen gesetzlichen Nachweis der Schuld durch eine selbstbelastende Aussage dieses Unternehmens zu erbringen.377 Es scheint mithin, dass diese Ansichten davon ausgehen, der Staat käme durchaus seiner Beweispflicht nach, nämlich indem er den Angeklagten in die Beweiserhebung einbezieht, wobei dieser Gedankengang sowohl auf natürliche Personen, als auch auf Unternehmen übertragbar ist. Außerdem, wird angeführt, schütze die Unschuldsvermutung nur dann vor ungesetzlichen Eingriffen, wenn das durch sie zu schützende Recht (im konkreten Fall also die Unschuldsvermutung) auch bestehe.378 Eine zwingende Abhängigkeit von Unschuldsvermutung und Aussageverweigerungsrecht bestehe nicht.379 Würde dem verdächtigten Unternehmen jedoch kein Recht zur Aussageverweigerung eingeräumt, so fände die Unschuldsvermutung nur als reine prozesslei 375 Den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit zumindest auch aus Art. 6 Abs. 2 EMRK herleitend: EGMR, Urt. v. 17.12.1996 – No. 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 68; EGMR, Urt. v. 21.12.2000 – No. 34720/97, Heaney and McGuinness/Irland, ECHR 2000-VII, § 40; EGMR, Urt. v. 08.04.2004 – No. 38544/97, Weh/Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 39; EGMR, Urt. v. 21.04.2009 – No. 19235/03, Marttinen/Finnland, nicht in der amtlichen Sammlung, § 60. 376 Siehe hierzu die Ausführungen unter Teil 3: E. IV., S. 152 ff., sowie insbesondere Teil 3: E. IV. 3., S. 154 ff. 377 Böse, GA 2003, 98, 124; Drope, S. 182; Nothhelfer, S. 40; Weiß, S. 371. 378 Weiß, S. 371. 379 Rogall, S. 109 ff.; Weiß, S. 371.

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tende Maxime Anwendung, die ihre Funktion als Regel der Beweislastverteilung nicht mehr erfüllen könnte.380 Selbstbelastende Aussagen von Unternehmen als zulässiges Beweismittel anzusehen, würde somit den Sinn und Zweck der staatlichen Beweislast ad absurdum führen.381 Einige Autoren halten die Verbindung von nemo-tenetur-Grundsatz und Unschuldsvermutung deshalb für derart symbiotisch, dass nur eine gemeinsame Anwendung der Unschuldsvermutung und des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit in Frage kommt.382 Dies überzeugt zunächst insofern, als dass es widersprüchlich erscheint, den Staat für beweispflichtig zu halten, aber hinzunehmen, dass er das Unternehmen zur Aussage gegen sich selbst zwingt und schließlich diesen selbstbelastenden Beweis verwendet, um seiner Beweispflicht nachzukommen. Eine Versagung des Auskunftsverweigerungsrechts scheint somit zu einem Leerlaufen der Beweislastverteilung zu führen. Selbstbelastende Aussagen für mit der Unschuldsvermutung vereinbar zu halten, ist somit nur denkbar, wenn die Beweislastregel zumindest in Hinblick auf den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit keine Wirkung entfaltet. Hierzu wird ausgeführt, ein unschuldiges Unternehmen zu einer Aussage zu verpflichten, könne zulässig sein, da sich ein solches Unternehmen logischerweise nicht selbst belasten könne.383 Ein solcher Schluss lässt sich jedoch nur ex post, also nach einer (möglicherweise selbstbelastenden) Aussage, ziehen. Betrachtet man die Situation hingegen ex ante, so kann die Aussagepflicht angesichts der besonderen Eigenschaften von Unternehmen zwar keinen Gewissenskonflikt hervorrufen und auch nicht die Gefahr einer Falschaussage provozieren. Und solange die untersuchenden Behörden durch die Art und Weise der Fragestellung, deren Beantwortung durch ein schuldiges Unternehmen zur Selbstbelastung führt, keine präsumtive Haltung darstellt, wird auch kein Verstoß gegen eine unvoreingenommene Beweisaufnahme begründet.384 Gleichwohl würde die Unschuldsvermutung, sähe man sie nicht untrennbar mit dem Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit verbunden, auf den Schutz vor einer unvoreingenommenen Verhandlungsführung und Beweisaufnahme reduziert. Die Unschuldsvermutung beinhaltet aber nicht nur, dass der Beweis der Schuld gesetzeskonform erfolgen muss, sondern dass er überhaupt erfolgen muss. Von einem Beweis kann aber nicht gesprochen werden, wenn es eine Pflicht zur Informationspreisgabe für Unternehmen gibt, die eine Beweisführung im Grunde 380

Vgl. Dannecker, ZStW 2015, 370, 391. Dannecker, ZStW 2015, 370, 391, insbes. Fn. 87. 382 Bauer, S.  51; Bosch, S.  93 ff. mit Einschränkungen für das Vorermittlungsverfahren; Dannecker, ZStW 2015, 370, 389 ff.; Dingeldey, JA 1984, 407, 409; Rüping, JR 1974, 135, 138; Vocke, S. 157; Schlüter, S. 87; vgl. Trechsel, S. 348; im Ergebnis so auch, ohne weitere Begründung: Guradze, FS Loewenstein, S. 164. 383 Puppe, GA 1978, 289, 299, in Fn. 42; Weiß, S. 371. 384 Drope, S. 182. 381

F. Nemo-tenetur-Grundsatz 

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obsolet macht. Es ist daher nicht ersichtlich, wie es möglich sein soll, den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit erheblich einzuschränken oder überhaupt nicht zur Anwendung kommen zu lassen, gleichzeitig aber davon auszugehen, dass die Unschuldsvermutung uneingeschränkt gilt und dennoch durch eine solche Einschränkung des Aussageverweigerungsrechts nicht tangiert würde.385 Somit ist der Ansicht zuzustimmen, dass die Unschuldsvermutung und der nemo-teneturGrundsatz derart symbiotisch sind, dass Unternehmen ein Recht zur Aussageverweigerung alleine deshalb zustehen muss, damit ein Leerlaufen der Unschuldsvermutung als Beweislastregelung vermieden wird. d) Unmöglichkeit einer Beschränkung der Selbstbelastungsfreiheit auf das Eingeständnis einer Zuwiderhandlung Geht man nunmehr von der Geltung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit für Unternehmen aus – die Anwendbarkeit in Verwaltungssanktionsverfahren noch dahingestellt –, so ist zu untersuchen, ob eine Beschränkung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit auf sog. Eingeständnisse einer Zuwiderhandlung, wie in der VO (EG) 1/2003 vorgesehen, zulässig sein kann. Auch in anderen Staaten wie der Schweiz wird eine Beschränkung des Aussageverweigerungsrechts, beispielsweise auf Angaben rein tatsächlicher Art, praktiziert.386 Entscheidend für die Frage, ob eine Aussagepflicht für Angaben rein tatsächlicher Art bzw. für alle Tatsachen zulässig ist, die nicht einem Eingeständnis einer Zuwiderhandlung gleichkommen, ist die Frage, ob es sich dabei überhaupt um eine Einschränkung des nemo-tenetur-Grundsatzes handelt, oder ob solche Aussagen gar nicht in dessen Schutzbereich fallen. Grundsätzlich erscheint es denkbar, Angaben rein tatsächlicher Art als nicht vom Schutz erfasst anzusehen. Dies könnten solche allgemeinen Informationen sein, die auch von nichtbeteiligten Dritten eingeholt werden könnten.387 Sobald diese jedoch einen stärkeren Bezug zur vorgeworfenen Tat aufweisen, dürfte die Einstufung als neutral und damit als nicht selbstbelastend schwierig sein: Es wird dazu angeführt, ob eine Aussage einem Eingeständnis einer Zuwiderhandlung gleich kommt, hänge vom „Formulierungsgeschick“388 der Kommission ab.389 Schon die einzelne Aussage kann somit genügen, um die Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Verbots- und Sanktionsnorm zu erfüllen 385

In Ansätzen so: Nothhelfer, S. 40. So erwägt das Schweizer Bundesverwaltungsgericht bspw., ob eine Aussagepflicht für Angaben rein tatsächlicher Art zulässig sein kann und setzt sich mit verschiedenen Ansichten, auch aus der Literatur, auseinander: BVGer, Urt. v. 14.09.2015 – B-7633/2009, Swisscom/ WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 105 ff. 387 Henn, AJP 2016, 257, 259. 388 Scholz, WuW 1990, 99, 104; Schwarze/Weitbrecht, § 5, Rn. 35; Vocke, S. 119. 389 Scholz, WuW 1990, 99, 104; Schütz, in: GK GWB und Europäisches Kartellrecht, Art. 17, Rn. 5; Voet van Vormizeele, in: Schwarze, Rechtsschutz und Wettbewerb, S. 29; Weiß, S. 360. 386

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und das verdächtigte Unternehmen der Tat zu überführen, ohne ein Eingeständnis einer Zuwiderhandlung darzustellen, oder etwas anderes als eine reine Tatsachenangabe zu sein.390 Eine solche Beschränkung birgt somit die erhebliche Gefahr, den Schutz des nemo-tenetur-Grundsatzes zu unterlaufen.391 Schon aus diesem Grund ist ein uneingeschränktes Recht zur Aussageverweigerung auch für Unternehmen vorzugswürdig. Beschränkt man die Selbstbelastungsfreiheit außerdem auf Aussagen, die dem Eingeständnis einer Zuwiderhandlung gleichkommen, so bleibt ein Praxisproblem bestehen: Es ist nämlich äußerst schwierig zu bestimmen, ob eine bestimmte Aussage einem sowieso schwer zu definierenden Eingeständnis einer Zuwiderhandlung gleichkommt.392 Damit ein Unternehmen aber weiß, ob es sein Auskunftsverweigerungsrecht ausüben kann, muss es die eigenen möglichen Aussagen an diesem Maßstab messen. Dies aber dürfte vor allem aus ex-ante-Sicht kaum möglich sein.393 Ein wirklich praxistauglicher Schutz kann aus einem partiellen Aussageverweigerungsrecht daher nicht gefolgert werden.394 Und selbst wenn es für die Europäische Kommission nicht möglich sein sollte, Fragen so zu formulieren, dass sie nicht selbstbelastend wirken, so wäre es stattdessen denkbar, die Frage in einzelne Tatsachenfragen aufzuteilen und diese noch dazu mit zeitlichem Abstand so zu stellen, dass keine Frage und auch kein Fragenkatalog dem Eingeständnis einer Zuwiderhandlung gleichkommt.395 Setzt man diese Fragmente zusammen, so können die gesammelten Ergebnisse genügen, die verdächtigten Unternehmen der untersuchten Tat zu überführen. Auch dies zeigt, dass eine Beschränkung der Selbstbelastungsfreiheit auf das Eingeständnis einer Zuwiderhandlung oder auf alle Angaben, die nicht rein tatsächlicher Art sind, zu einem lückenhaften Schutz führt. Die gleiche Gefahr, Unternehmen mittels fragmentarischer Beweisstücke überführen zu können, besteht, wenn an einer Tat mehrere Unternehmen beteiligt sind. Dann kann die Europäische Kommission diesen Unternehmen einzeln und unabhängig voneinander Fragen stellen, die – geht man von einem beschränkten Anwendungsbereich der Selbstbelastungsfreiheit aus – nicht in deren Anwendungsbereich fallen.396 Gleichzeitig kann die Europäische Kommission dann aber die Antworten auf diese Fragen benutzen, um sich ein Gesamtbild der Geschehnisse zu machen.397 Auch dieser Umstand zeigt, dass ein eingeschränkter Anwendungs 390 Vgl. Schütz, in: GK GWB und Europäisches Kartellrecht, Art. 17, Rn. 5; Voet van Vormizeele, in: Schwarze, Rechtsschutz und Wettbewerb, S. 29; Schwarze/Weitbrecht, § 5, Rn. 35. 391 Scholz, WuW 1990, 99, 104; vgl. Schwarze/Weitbrecht, § 5, Rn. 35 f.; Weiß, S. 359 f. 392 Hilf/Hörmann, NJW 2003, 1, 7; vgl. Schubert, S. 502; Thanos, S. 138. 393 Vgl. Hilf/Hörmann, NJW 2003, 1, 7; Vocke, S. 120. 394 Vocke, S. 120. 395 Gumbel, S. 129, m. w. N. zur alten, aber weitgehend identischen Rechtslage nach der VO (EWG) 17/62; Schubert, S. 502. 396 Henn, AJP 2016, 257, 258. 397 Henn, AJP 2016, 257, 258.

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bereich des nemo-tenetur-Grundsatzes die Gefahr birgt, dessen Schutz zu unterlaufen. Hält man den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit für auf Unternehmen anwendbar, so erscheint es deshalb nicht möglich, diesen inhaltlich zu beschränken. e) Keine Abwägung mit dem öffentlichen Aufklärungsinteresse Auch wenn eine Staffelung des Aussageverweigerungsrechts kaum mit einer umfassenden Geltung des nemo-tenetur-Grundsatzes zu vereinbaren ist, plädiert der EGMR dafür, dieses für natürliche Personen nach der Schwere der angedrohten Sanktion zu staffeln.398 Begründen ließe sich dies mit einem höheren öffentlichen Interesse an der Aufklärung der Tat, dem nur durch eine Lockerung des Aussageverweigerungsrechts entsprochen werden könne.399 Überzeugender scheint es jedoch, den genau gegenteiligen Schluss zu ziehen: Ein erhöhtes Aufklärungsinteresse dürfte in aller Regel bestehen, wenn es sich um eine schwerwiegende Tat handelt. Eine solche Tat wird ebenfalls in aller Regel mit einer schweren Sanktion geahndet.400 Wechselt man nun die Perspektive zugunsten des verdächtigten Unternehmens, so erscheint es plausibel, dieses als umso schutzwürdiger anzusehen, je höher die ihm drohende Sanktion ausfällt.401 Unterstellt, der Schutz durch den nemo-tenetur-Grundsatz wäre mit dem öffentlichen Aufklärungsinteresse abzuwägen, so könnte die Forderung, für schwerwiegende Taten den nemo-tenetur-Grundsatz zu beschränken, deshalb in aller Regel nicht durchgreifen. Und Gleiches gilt für niedrige Sanktionen: Denkbar wäre, aus der geringeren Beeinträchtigung durch die Sanktion zu schließen, der Sanktionsadressat sei deshalb weniger schutzwürdig.402 Jedoch verhält sich auch hier, genauso wie bei besonders schweren Sanktionen, das Aufklärungsinteresse proportional und ist damit entsprechend geringer.403 In der Folge kann auch eine niedrige Sanktion eine Einschränkung der Aussagefreiheit von Unternehmen nicht rechtfertigen. Für natürliche Personen hat der EGMR festgestellt, dass die Komplexität der Sachverhaltsermittlung eine Einschränkung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit nicht rechtfertigen kann.404 Eine weitere Begründung ist dem Urteil 398 EGMR, Urt. v. 11.07.2006 – No. 54810/00, Jalloh/Deutschland, ECHR 2006-IX, § 117, der es für geboten hält, „the punishment of the offence in issue“ zu berücksichtigen; vgl. Arzt, JZ 2003, 456, 458. 399 Als Argument anführend, jedoch beide im Ergebnis ablehnend: Günther, GA 1978, 193, 204 f.; Schlüter, S. 126. 400 Schlüter, S. 127. 401 In Bezug auf natürliche Personen: Günther, GA 1978, 193, 204; Schlüter, S. 127. 402 Schlüter, S. 127. 403 Schlüter, S. 127 f. 404 EGMR, Urt. v. 17.12.1996  – No. 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 74.

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nicht zu entnehmen, doch das Ergebnis vermag zu überzeugen. Denn strafrechtliche Verfahrensgarantien würden leerlaufen, wenn ihr Schutz das Funktionieren des einfachrechtlichen Rechtssystems unmöglich machen würde. Aber genau hier darf auch erst die Grenze liegen. Anderenfalls könnte eine unzureichende einfachrechtliche Ausgestaltung des Rechtssystems, sowie ein Mangel an finanziellen und personellen Mitteln dazu führen, die normenhierarchisch oftmals höher stehenden strafrechtlichen Verfahrensgarantien zu umgehen. Dies aber darf nicht der Fall sein, würde ihr Geltungsanspruch sonst doch unkontrollierbar unterlaufen,405 was so auch für Unternehmen gelten muss. Somit kann im Ergebnis auch ein hohes öffentliches Aufklärungsinteresse kein Grund für eine Einschränkung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit sein. f) Keine anderweitigen unüberwindbaren Aufklärungshindernisse Wendet man den nemo-tenetur-Grundsatz für Unternehmen uneingeschränkt an, so wird ein für die Europäische Kommission bis jetzt wichtiges Ermittlungsinstrument erheblich eingeschränkt. Gerade weil Taten von Unternehmen oftmals sehr schwierig aufzudecken sind, ließe sich anführen, die Einhaltung der angeführten menschenrechtlichen Argumente sei nicht praxistauglich, da so die Aufdeckung von Kartellen verunmöglicht werde. Andererseits ließe sich jedoch auch einwenden, dass die Europäische Kommission durch Nachprüfungen, wie sie im europäischen Kartellrecht in Art. 20 VO (EG)  1/2003 vorgesehen sind, an die gleichen Informationen gelangen könnte und damit eine uneingeschränkte Geltung des nemo-tenetur-Grundsatzes nicht zu einem höheren verfahrensrechtlichen Schutz von Unternehmen führe.406 Denn zum einen besteht für Unternehmen bezüglich diverser Belange ohnehin eine Pflicht zur Aktenaufbewahrung, zum anderen führt der rein praktische Bedarf der Wissenskonservierung in Unternehmen dazu, dass Informationen dokumentiert und zentral aufbewahrt werden. Und zuletzt stellen Nachprüfungen auch keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit dar.407 Aus diesem Grund könnte angenommen werden, die Berufung auf ein Aussageverweigerungsrecht würde nur eine Erschwerung der Sachverhaltsermittlung bewirken, Unternehmen jedoch keinen effektiveren Schutz gewähren und eine Berufung auf das Aussageverweigerungsrecht sei aus diesem Grund zu versagen.408 Die verfah-

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Im Ergebnis so auch: Kühlhorn, WuW 1986, 7, 12; Soyez, EWS 2006, 389, 394. Thanos, S. 140, sieht dieses Argument durch die Rechtsprechung des EuGH bestätigt und verweist auf das Urteil SGL Carbon (EuGH, Urt. v. 29.06.2006 – Rs. C-301/04 P, SGL Carbon/ KOM, Slg. 2006, I-5943, Rn. 41), wobei der exakte Verweis dort nicht zu finden ist. In der Sache überzeugt die Argumentation jedoch. 407 Vgl. hierzu bereits die Ausführungen auf S. 175 . 408 Arzt, JZ 2003, 456, 458. 406

F. Nemo-tenetur-Grundsatz 

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rensgarantierechtliche Zulässigkeit von Nachprüfungen könnte somit für eine Einschränkbarkeit des nemo-tenetur-Grundsatzes sprechen. Doch die Möglichkeit der Informationsbeschaffung durch eine Nachprüfung kann genauso dagegen angeführt werden, den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit einzuschränken.409 So kann die Europäische Kommission Unternehmen durch eine Nachprüfungsentscheidung im Fall des Kartellrechts gem. Art.  20  Abs.  4 VO (EG) 1/2003 zu einer Duldung derselben verpflichten, was – wie bereits mehrfach erwähnt – keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit darstellt. Im Rahmen einer solchen Nachprüfung wird den Beamten der Euro­ päischen Kommission gem. Art. 20 Abs. 2 VO (EG) 1/2003 unter anderem ein Betretungsrecht eingeräumt und sie gewährt das uneingeschränkte Recht, Bücher und sonstige Unterlagen zu prüfen und diese zu kopieren. Somit unterliegen sämtliche Schriftstücke und Dokumente sowohl physischer, als auch elektronischer Form dem Zugriff der Europäischen Kommission.410 Die Ermittlungsbefugnisse der Europäischen Kommission sind in dieser Hinsicht somit sehr weitgehend.411 Insbesondere aus der Duldungspflicht lässt sich somit schließen, dass die Euro­ päische Kommission durchaus an Informationen gelangen kann, über die das Unternehmen nicht auszusagen bereit ist.412 Dies zeigt, dass eine uneingeschränkte Anwendung des nemo-tenetur-Grundsatzes kein unüberwindbares Hindernis für die Sachverhaltsermittlung in der Praxis darstellt.413 Erst recht sind keine menschenrechtlichen Gründe ersichtlich, wieso die Möglichkeit zu einer anderweitigen Informationsbeschaffung für eine Einschränkung des nemo-tenetur-Grundsatzes sprechen sollte. In diesem Zusammenhang wird zum Teil  der Vergleich mit den Rechtsordnungen anderer Länder gezogen, in denen der Grundsatz der uneingeschränkten Selbstbelastungsfreiheit auch für Unternehmen gilt und Taten von Unternehmen dennoch aufgeklärt werden. Auch wenn in anderen Rechtsordnungen für Unternehmen ein Aussageverweigerungsrecht besteht, so sind dort die weiteren Ermittlungsbefugnisse oftmals weitreichender und der vorgeschlagene Vergleich mit der Europäischen Union daher nicht sinnvoll.414 Doch die Europäische Kommission kann nicht nur durch Nachprüfungen an Informationen gelangen, die für die Sachverhaltsermittlung wichtig sind, sondern auch durch Kronzeugenprogramme. Der EGMR hat sich noch nicht ausdrücklich dazu geäußert, ob die Aussicht auf einen Nachlass im Sanktionsmaß ein zulässiges 409

Thanos, S. 141; von Winterfeld, RIW 1992, 524, 528; Weiß, S. 366. Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil  2, Art.  20 VO  (EG)  1/2003, Rn. 48. 411 Thanos, S. 141. 412 von Winterfeld, RIW 1992, 524, 528; Weiß, S. 366. 413 Thanos, S. 141; vgl. von Winterfeld, RIW 1992, 524, 528; Weiß, S. 366 f. 414 Weiß, S. 366 f., Fn. 1008; vgl. auch zu anderen Melde- und Kooperationspflichten für (leitende) Angestellte in den USA trotz bestehen eines Auskunftsverweigerungsrechts für das Unternehmen: Arzt, JZ 2003, 456, 460. 410

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Maß an Zwang zur selbstbelastenden Aussage darstellt. Da aber auch der EGMR den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit für kein absolutes Recht hält, dürfte er zu dem Ergebnis kommen, dass kooperatives Verhalten im Rahmen der Ermittlungen bei der Bußgeldbemessung berücksichtigt werden darf.415 Die Europäische Kommission nutzt diesen Umstand und hat mit der „Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen“416 ein wichtiges Instrumentarium geschaffen, das es ihr oftmals überhaupt erst ermöglicht, vom Bestehen einer Kartellabsprache Kenntnis zu erlangen.417 Dadurch eröffnet sich für die Europäische Kommission nicht nur die Möglichkeit, Zugriff auf Unterlagen zu erlangen, der auch im Rahmen einer Nachprüfung möglich wäre. Vielmehr kann ein Unternehmen im Rahmen eines Kronzeugenantrages auch solche Aussagen machen, die sich nicht in eigenen Akten befinden, sondern sich nur aus der Erinnerung von Mitarbeitern ergeben.418 Als Argument gegen ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht könnte deshalb angeführt werden, dass Nachprüfungen eben doch nicht ausreichend sind, um Sachverhalte in allen Details aufzuklären. Gleichwohl stellen Kronzeugenanträge inzwischen ein wichtiges Instrumentarium der Europäischen Kommission dar,419 das diesen Umstand zumindest in Teilen zu kompensieren vermag. Zwar hat die Unternehmensführung gerade in Kartellrechtsfällen oftmals nur die vage Vermutung, dass das von ihr geführte Unternehmen an einer Kartellabsprache beteiligt ist. In solchen Fällen werden aber in aller Regel externe Anwaltskanzleien beauftragt, den Sachverhalt weiter zu ermitteln. Befragungen von Mitarbeitern sind in diesem Zusammenhang, auch wenn ihnen eine arbeitsrechtliche Amnestie zugesichert wird, meist nicht aufschlussreich. Erst die Überprüfung von Dokumenten, Kalendereinträgen und des E-Mailverkehrs mittels hochspezialisierter Suchprogramme im Rahmen eines durch die externe Anwaltskanzlei durchgeführten „document review“ kann Aufschlüsse über das Vorliegen eines Kartells liefern und Material für einen Kronzeugenantrag liefern. Dieser Umstand aber zeigt, dass es nicht zwangsläufig selbstbelastender Aussagen bedarf, um erfolgreiche Ermittlungen durchzuführen. Sollten angesichts der geforderten Geltung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit dennoch gewisse einzelne Informationen nicht zu erlangen sein, so 415 EuG, Urt. v. 14.05.1998 – Rs. T-347/94, Mayr-Meinhof Kartongesellschaft/KOM, Slg. 1998, II-1759, Rn. 299; a. A. Hemetsberger, ÖZW 2004, 8 ff.; ebenfalls a. A. Schwarze, EuR 2009, 171, 192 f. 416 Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, S. 17 ff. 417 Ausführlich: Wils, World Comp. 2007, 25, 38 ff. 418 Vgl. Wils, World Comp. 2007, 25, 41. 419 Ausführlich zur gestiegenen Bedeutung der Kronzeugenregelung der Europäischen Union und der Tatsache, dass trotz gleichgebliebener Ressourcen die Anzahl der aufgedeckten Kartellverstöße nach der Einführung der Kronzeugenregelung merklich gestiegen ist: Thanos, S. 142 f.; Wils, World Comp. 2007, 25, 38 ff.

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widerspricht dies nicht den vorstehenden Ausführungen. Denn das Ziel braucht nicht zu sein, dass die Ermittlung eines sanktionsrechtlich relevanten Sachverhalts trotz der uneingeschränkten Geltung des nemo-tenetur-Grundsatzes identische Ergebnisse liefert, nur eben auf anderem Weg. Es kann angesichts der dargelegten notwendigen Geltung des Grundsatzes ein hinzunehmendes Übel sein, dass einzelne Informationen für die Ermittlungsorgane nicht zu erlangen sind. Dies mag für diese zwar ein unbefriedigendes Ergebnis darstellen, ist jedoch verfahrensgarantierechtlich geboten.420 Im Ergebnis gibt es somit EMRK-konforme und praxistaugliche Möglichkeiten, auch komplexe Delikte aufzuklären, ohne dass es alternativlos ist, das Aussageverweigerungsrecht für Unternehmen auf bedenkliche Art und Weise einzuschränken. Aus diesem Grund stellt eine umfassende Geltung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit kein unüberwindbares Verfahrenshindernis dar.421 g) Bedürfnis einer einheitlichen Anwendung auf sämtliche Unternehmensformen Als weiteres Argument für die uneingeschränkte Geltung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit auch für Unternehmen ist der Umstand anzuführen, dass unter den gängigen funktionalen Unternehmensbegriff eine Vielzahl von Unternehmensformen fallen:422 Nicht nur juristische Personen werden als mögliche Unternehmensträger erfasst, sondern auch natürliche Personen.423 Gerade Einzelkaufleuten, aber auch Personengesellschaften fehlt die Eigenschaft, eine juristische Person zu sein, also erst durch den Abschluss eines Gesellschaftsvertrages Rechtspersönlichkeit erlangt zu haben.424 Die hat zur Folge, dass strafrechtliche Verfahrensgarantien auf sie auch in ihrer Unternehmereigenschaft wie auf natürliche Personen angewendet werden.425 Eine Lösung dieses Problems wäre es, hinsichtlich des verfahrensgarantierechtlichen Schutzstandards und damit auch hinsichtlich der Geltung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit zwischen juristischen Personen und nicht-juristischen Personen als Unternehmensträgern zu differenzieren. Die hätte jedoch zur Folge, dass allein die Rechtsformwahl über 420 Vgl. Niggli/Riedo, in: Häner/Waldmann, S. 62, die anführen, es sei die logische Konse­ quenz der Gewährung von Verfahrensgarantien, die Macht von Strafbehörden zu begrenzen. 421 Thanos, S. 143 f. 422 Kühlhorn, WuW 1986, 7, 14; Weiß, S. 377. 423 Exemplarisch für das europäische Kartellrecht: Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, Band 1, Teil 1, Art. 101 AEUV, Rn. 12; Weiß, S. 377. 424 Beispielhaft § 13 Abs. 1 GmbHG: „Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung hat als solche selbständig ihre Rechte und Pflichten; sie kann Eigentum und andere dingliche Rechte an Grundstücken erwerben, vor Gericht klagen und verklagt werden.“; zur unterschiedlichen Erlangung der Rechtspresönlichkeit von natürlichen und juristischen Personen, siehe die Ausführungen unter Teil 2: D. I. 2), S. 84 f. 425 Kühlhorn, WuW 1986, 7, 14; vgl. Weiß, S. 377.

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den Schutzstandard entscheiden würde.426 Zwar mag dies auf den ersten Blick nicht unüberzeugend wirken, handelt es sich doch um grundsätzlich wesensverschiedene Unternehmensträger.427 Gleichwohl gibt es in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union höchst unterschiedliche Rechtsformen. Dies hätte zur Folge, dass Verfahrensgarantien in Sanktionsverfahren der Europäischen Union nicht nur je nach Art des Unternehmensträgers, sondern auch noch zusätzlich unterschiedlich je nach Gründungsland des Unternehmensträgers zur Anwendung kämen.428 Aus diesem Grund ist es vorzugswürdig, den nemo-tenetur-Grundsatz auf sämtliche Unternehmensträger gleichermaßen anzuwenden,429 und zwar uneingeschränkt. h) Zwischenfazit: Uneingeschränkte Geltung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit für Unternehmen Im Ergebnis muss der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit wie für natürliche Personen auch für Unternehmen uneingeschränkt gelten. Dabei handelt es sich um eine Verfahrensgarantie, die in der EMRK nicht explizit geregelt ist und deren Rechtsquelle deshalb auch nicht eindeutig ist. Der EGMR sieht sie hauptsächlich im Grundsatz eines fairen Verfahrens in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankert. Ihre Schutzzwecke beschreibt er für natürliche Personen als Schutz der Willensfreiheit und als Schutz vor Fehlurteilen durch Falschaussagen, die aufgrund einer persönlichen Drucksituation entstehen können. Beide Aspekte sind nicht auf Unternehmen übertragbar. Die in Art. 6 Abs. 2 EMRK geregelte Vermutung der Unschuld hingegen gilt uneingeschränkt auch für Unternehmen. Aus ihr folgt eine umfassende staatliche Beweispflicht, die verletzt wird, wenn Unternehmen kein umfassendes Aussageverweigerungsrecht für selbstbelastende Aussagen zuerkannt würde. Aus diesem Grund muss der nemo-tenetur-Grundsatz auch für Unternehmen gelten. Praktische Gründe machen es unmöglich, die Selbstbelastungsfreiheit – wie in der Europäischen Union derzeit gängig – auf das Eingeständnis einer Zuwiderhandlung zu reduzieren, da dadurch der Schutz durch den nemo-teneturGrundsatz unterlaufen zu werden droht. Zwar steigt mit steigender Schwere das Aufklärungsinteresse an der Tat, aber in der Regel fällt die angedrohte Sanktion auch entsprechend schwerer aus, weshalb das Interesse des verdächtigten Unternehmens, nicht gegen sich selbst aussagen zu müssen, entsprechend höher ist. Und auch der Umstand, dass die Europäische Kommission bei uneingeschränkter Geltung des nemo-tenetur-Grundsatzes in der Aufklärung von Taten dann ein bisher bedeutendes Ermittlungsinstrument weniger zur Verfügung hat, spricht nicht ge-

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Henn, AJP 2016, 257, 260. Anderer Ansicht: Kühlhorn, WuW 1986, 7, 14, wonach dies einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot darstelle. 428 Weiß, S. 377. 429 Kühlhorn, WuW 1986, 7, 14; Weiß, S. 377 f.; im Ergebnis so auch: Henn, AJP 2016, 257, 260; von Winterfeld, RIW 1981, 801, 805. 427

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gen eine uneingeschränkte Geltung. Zum einen hat die Europäische Kommission die Möglichkeit Nachprüfungen vorzunehmen, zum anderen werden Kronzeugenanträge inzwischen derart häufig genutzt, dass nicht von einer Verunmöglichung der Ermittlungstätigkeit gesprochen werden kann. Abschließend ist anzumerken, dass für Unternehmen allein die Tatsache einer Aussagepflicht genügt, um das Maß des zulässigen Zwanges zu übersteigen und den Schutz des nemo-teneturGrundsatzes zur Anwendung kommen zu lassen. Ausgenommen vom Schutz sind lediglich solche Informationen, die ein Unternehmen gegenüber Behörden auch außerhalb von Ermittlungsverfahren preiszugeben hätte. 2. Uneingeschränkte Geltung der Selbstbelastungsfreiheit in Verwaltungssanktionsverfahren Getrennt von der Frage, ob der nemo-tenetur-Grundsatz auch für Unternehmen gilt, ist zu untersuchen, ob der Umstand, dass eine Sanktion in einem Verwaltungssanktionsverfahren und nicht in einem gerichtlichen Verfahren verhängt wird, die Geltung bzw. den Umfang der Geltung der Selbstbelastungsfreiheit beeinflusst. Für natürliche Personen hat der EGMR eine uneingeschränkte Geltung gefordert.430 Zu untersuchen ist außerdem, ob die Möglichkeit, zu selbstbelastenden Antworten noch nachträglich Stellung nehmen zu können, eine Einschränkung des nemo-tenetur-Grundsatzes zu rechtfertigen vermag. Außerdem ist ausnahmsweise zu berücksichtigen, ob und ggf. wie sich ein in administrativen Verfahren in der Regel niedrigeres Sanktionsmaß auswirken kann. a) Keine Einschränkung aufgrund eines in Verwaltungssanktionsverfahren in der Regel niedrigeren Sanktionsmaßes Bei der Untersuchung, ob der nemo-tenetur-Grundsatz auf Unternehmen anwendbar ist, wurde festgestellt, dass sowohl das Interesse, sich nicht selbst belasten zu müssen, als auch das öffentliche Aufklärungsinteresse zur Sanktionshöhe proportional sind. Daraus wurde geschlossen, dass die angedrohte Sanktionshöhe keinen Einfluss auf das Bestehen und den Umfang eines Aussageverweigerungsrechts für selbstbelastende Aussagen hat. Jedoch entspricht es der Verfahrenswirklichkeit zumindest für natürliche Personen, dass in Verwaltungssanktionsverfahren oftmals besonders geringe Sanktionen verhängt werden. Denkbar wäre deshalb, entgegen der vorherigen Ausführungen, das Interesse, sich nicht selbst belasten zu müssen, als geringer als das öffentliche Aufklärungsinteresse einzustu-

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EGMR, Urt. v. 25.02.1993 – No.  10828/84, Funke/Frankreich, Series A vol. 256-A, §§ 41 ff.; EGMR, Urt. v. 17.12.1996 – No. 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, §§ 67 ff.; EGMR, Urt. v. 03.05.2001 – No. 31827/96, J. B./Schweiz, ECHR 2001-III, §§ 63 ff.

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fen, und deshalb den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit nicht oder weniger streng zur Anwendung kommen zu lassen.431 Neben der bereits allgemeinen Feststellung, dass es sich bei Kartellbußgeldern ohnehin nicht um leichte Sanktionen handelt, spricht auch der Umstand, dass der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit nicht skalierbar ist, gegen eine solche Berücksichtigung. Außerdem birgt ein solcher Ansatz die erhebliche Gefahr eines Dammbruchs: eine Grenze, wann der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit noch in voller Strenge angewendet werden sollte und wann dies nicht mehr notwendig ist, kann kaum präzise bestimmt werden. Zudem kann mit einer solchen Einschränkung die Gefahr einer beginnenden Verwässerung einhergehen. Im Ergebnis können daher Argumente für eine Einschränkung anhand der Sanktionshöhe nicht überzeugen. b) Keine Unvereinbarkeit der Selbstbelastungsfreiheit mit den Charakteristika eines administrativen Sanktionierungsverfahrens Und auch allein die Tatsache, dass eine Sanktionierung in einem lediglich administrativen Verfahren erfolgt, vermag keine Einschränkung des nemo-teneturGrundsatzes zu begründen. Zwar ließe sich anführen, dass durch die Gewährung eines Aussageverweigerungsrechts die ermittelnde Behörde auf andere Ermittlungsmethoden zurückgreifen muss und das Verfahren dadurch formalistischer wird und weniger effizient abläuft. Es erscheint aber nicht mit den Charakteristika eines Verwaltungsverfahrens unvereinbar zu sein, auch Unternehmen die Berufung auf den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit zu ermöglichen.432 Ohnehin erscheint es kein überzeugendes Argument zu sein, eine Einschränkung alleine mit der Wahl eines Verfahrens zu begründen. Vielmehr müsste positiv begründet werden können, wieso es EMRK-rechtlich nicht notwendig sein soll, gleichen Schutz wie in gerichtlichen Verfahren zu gewähren. Es darf nämlich keinesfalls mit der Verfahrensart zuungunsten der Verfahrensgarantien argumentiert werden, sondern allenfalls andersherum. Wenn aber schon – wie vorstehend erläutert – die Sanktionshöhe kein Kriterium für die Anwendbarkeit des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit ist, dann kann die Verfahrensart dies erst recht nicht sein. Würde man einer solchen Ansicht dennoch folgen, könnten sich all diejenigen, die in einem gerichtlichen Verfahren sanktioniert werden, auf den Grundsatz der 431

Günther, GA 1978, 193, 205 f. Vgl. EGMR, Urt. v. 25.02.1993 – No. 10828/84, Funke/Frankreich, Series A vol. 256-A, § 44; im Urteil Funke bspw. stellt der EGMR fest, dass die Besonderheiten des Zollrechts, mithin also eines Rechtsgebiets, für das Sanktionen administrativ verhängt werden, keine selbstbelastenden Aussagen oder Handlungen rechtfertigen können. Daraus lässt sich schließen, dass der EGMR eine Anwendung des nemo-tenetur-Grundsatzes auch in Verwaltungssanktionsverfahren mit letzterem jedenfalls nicht für grundsätzlich unvereinbar hält.

432

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Selbstbelastungsfreiheit berufen. Für alle in einem Verwaltungssanktionsverfahren Sanktionierten wäre dies hingegen nicht möglich. Dies aber würde eine ungerechtfertigte Privilegierung derjenigen darstellen, die unter Umständen sogar das schwerere Delikt begangen haben.433 c) Keine Wahrung der Verteidigungsrechte durch Möglichkeit zur nachträglichen Stellungnahme Das EuG sieht jedoch in der Möglichkeit, zu selbstbelastenden Antworten noch nachträglich Stellung nehmen zu können, einen Grund, wieso auch bei nur eingeschränkter Geltung des nemo-tenetur-Grundsatzes die Verteidigungsrechte und der Anspruch auf einen fairen Prozess dennoch gewahrt würden:434 „Denn nichts hindert den Adressaten daran, später im Verwaltungsverfahren oder in einem Verfahren vor dem Gemeinschaftsrichter seine Verteidigungsrechte auszuüben und zu beweisen, dass die in den Antworten mitgeteilten Tatsachen oder die übermittelten Unterlagen eine andere als die ihnen von der Kommission beigemessene Bedeutung haben.“435

Und auch der EGMR hält die Frage, ob „relevante verfahrensrechtliche Sicherungsmittel bestehen“436, für einen zu beachtenden Faktor bei der Bestimmung, ob ein gewisser Grad an Zwang zulässig ist. Schon die Formulierung des EuG zeigt jedoch, dass durch die Möglichkeit zur nachträglichen Stellungnahme allenfalls Verteidigungsrechte, nicht aber der nemo-tenetur-Grundsatz per se gewahrt werden können.437 Denn bestimmte Informationen zu interpretieren stellt einen gänzlich anderen Vorgang dar, als überhaupt an sie zu gelangen. Es handelt sich mithin um zwei verschiedene Verfahrensgarantien, wobei die Anwendung der einen nicht die Nichtgeltung der anderen zu kompensieren vermag.438 Einschränkungen des nemo-tenetur-Grundsatzes können nicht durch eine nachträgliche Möglichkeit zur Stellungnahme gerechtfertigt werden.439 Die Wahl eines administrativen Sanktionsverfahrens kann somit eine Einschränkung des nemo-tenetur-Grundsatzes nicht rechtfertigen.

433

Kühlhorn, WuW 1986, 7, 15. EuG, Urt. v. 20.02.2001 – Rs. T-112/98, Mannesmannröhren-Werke/KOM, Slg. 2001, II-732, Rn. 78; EuG, Urt. v. 29.04.2004 – verb. Rs. T-236/01 [u. a.], Tokai Carbon [u. a.]/KOM, Slg. 2004, II-1200, Rn. 406. 435 EuG, Urt. v. 20.02.2001 – Rs. T-112/98, Mannesmannröhren-Werke/KOM, Slg. 2001, II-732, Rn. 78; EuG, Urt. v. 29.04.2004 – verb. Rs. T-236/01 [u. a.], Tokai Carbon [u. a.]/KOM, Slg. 2004, II-1200, Rn. 406. 436 EGMR, Urt. v. 05.11.2002 – No. 48539/99, Allan/Vereinigtes Königreich, ECHR 2002-IX, § 44; EGMR, Urt. v. 11.07.2006 – No. 54810/00, Jalloh/Deutschland, ECHR 2006-IX, §§ 101, 117, im Englischen Original: „the existence of any relevant safeguards in the procedures“. 437 Soyez, EWS 2006, 389, 393. 438 Soyez, EWS 2006, 389, 393; Thanos, S. 139 f. 439 Thanos, S. 139 f. 434

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3. Unverhältnismäßigkeit jeder Aussagepflicht unabhängig von den angedrohten Zwangsmaßnahmen Der EGMR erkennt an, dass der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit nicht absolut gilt, sondern gewissen Einschränkungen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit unterliegt.440 So hält er eine Differenzierung unter anderem nach „Natur und Grad des Zwanges“ für möglich,441 bezieht dies aber vermutlich nur auf Fälle des Schweigens. Neben der Pflicht zur Aussage, die ihrerseits schon Zwang bedeuten kann, kommen als Zwangsmittel gegen Unternehmen vor allem Zwangsgelder in Betracht. Denkbar wäre es, davon auszugehen, dass Unternehmen imstande sind, zumindest im Vergleich zum Umsatz oder Gewinn des Unternehmens geringen Zwangsgeldern standhalten zu können und diesen Zwang als verhältnismäßig anzusehen. Dies hätte zur Folge, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit abzulehnen wäre, was jedoch einen entscheidenden Punkt außer Acht lässt: Unterstellt man den für die Aussageerbringung zuständigen Mitarbeitern, mithin also der Geschäftsführung, zumindest nunmehr rechtskonformes Verhalten, so ist das Maß des Zwanges, also die Höhe des Zwangsmittels unerheblich.442 Allein die Tatsache, dass eine Auskunftspflicht besteht, stellt einen Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz dar, sofern deren Beantwortung selbstbelastend ist.443 Das Maß des mit der Auskunftspflicht verbundenen Zwanges ist somit unerheblich, da die Auskunftspflicht schon für sich das im Rahmen der Verhältnismäßigkeit Zulässige übersteigt.444 Lediglich mittelbarer Zwang durch das Inaussichtstellen einer Bußgeldreduktion bei Kooperationsbereitschaft dürfte im Rahmen der EMRK auch für Unternehmen ein zulässiges Maß an Zwang darstellen.445 4. Umfang der Selbstbelastungsfreiheit Ein Aussageverweigerungsrecht umfasst selbstverständlich alle Aussagen des Unternehmens. Inwiefern Mitarbeiter sich auf das Aussageverweigerungsrecht des Unternehmens berufen können und ob darüberhinaus auch Dokumente herausge 440 EGMR, Urt. v. 08.02.1996 – No. 18731/91, John Murray/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I, § 47; EGMR, Urt. v. 21.12.2000  – No. 34720/97, Heaney and McGuinness/Irland, ECHR 2000-VII, § 47; EGMR, Urt. v. 04.10.2005 – No. 6563/03, Shannon/Vereinigtes Königreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 27; EGMR, Urt. v. 18.02.2010 – No. 39660/02, Zaichenko/Russland, nicht in der amtlichen Sammlung, § 39. 441 EGMR, Urt. v. 11.07.2006 – No. 54810/00, Jalloh/Deutschland, ECHR 2006-IX, §§ 101, 117, wonach „the nature and degree of compulsion“ zu berücksichtigen seien. 442 Henn, AJP 2016, 257, 260. 443 Henn, AJP 2016, 257, 260. 444 Henn, AJP 2016, 257, 260. 445 EuG, Urt. v. 14.05.1998 – Rs. T-347/94, Mayr-Meinhof Kartongesellschaft/KOM, Slg. 1998, II-1759, Rn. 299; EuGH, Urt. v. 14.07.2005 – Rs. C-65/02 P, ThyssenKrupp/KOM, Slg. 2005, I-6778, Rn. 50 ff.

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geben, oder aber zumindest deren Beschlagnahmung geduldet werden muss, bedarf eines Vergleichs mit der Rechtslage für natürliche Personen. a) Berufung von Mitarbeitern auf das Aussagverweigerungsrecht des Unternehmens Sieht sich ein Mitarbeiter eines Unternehmens selbst dem Vorwurf einer strafrechtlichen Anklage ausgesetzt, so kann er sich selbstverständlich auf sein Aussageverweigerungsrecht berufen. Wird er im Rahmen einer lediglich informatorischen Befragung durch die Ermittlungsbehörden zu einer Aussage verpflichtet und droht die Gefahr, dass seine Aussage in einem späteren strafrechtlichen Prozess gegen ihn verwendet wird, so kann er sich ebenfalls auf ein Aussageverweigerungsrecht berufen. So hat der EGMR im Urteil Saunders aus dem Jahr 1996 der EGMR festgestellt, dass das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, nicht nur auf unmittelbar selbstbelastende Aussagen angewandt werden darf: „Testimony obtained under compulsion which appears on its face to be of a non-incriminating nature – such as exculpatory remarks or mere information on questions of fact – may later be deployed in criminal proceedings in support of the prosecution case, for example to contradict or cast doubt upon other statements of the accused or evidence given by him during the trial or to otherwise undermine his credibility.“446

Und auch wenn dem Mitarbeiter, der sich einer behördlichen Befragung ausgesetzt sieht, kein individualstrafrechtliches Verfahren droht, sollte er sich auf das Aussageverweigerungsrecht des Unternehmens berufen können.447 Anderenfalls können Ermittlungsbehörden Mitarbeitern eine strafrechtliche Amnestie in Aussicht stellen und sie so unter Umgehung des Aussageverweigerungsrechts des Unternehmens zu einer Aussage bewegen, durch die das Unternehmen belastet wird. Nach derzeitiger Rechtslage besteht eine Antwortpflicht für befragte Mitarbeiter nur dann, wenn im Rahmen einer Nachprüfungsentscheidung gem. Art.  20 Abs. 1 lit. e VO (EG) 1/2003 Erläuterungen zu Tatsachen oder beschlagnahmten Unterlagen verlangt werden;448 dies gilt nicht für einfache Nachprüfungen. Und die

446 EGMR, Urt. v. 17.12.1996  – No. 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 71, auf Deutsch: „Zeugenaussagen, die unter Zwang erlangt wurden und die zunächst nicht selbstbelastend wirken – wie zum Beispiel angeführte rechtfertigende Umstände oder Informationen zu Tatsachenfragen –, können später in strafrechtlichen Verfahren zur Untermauerung der Anklage genutzt werden. Dies gilt zum Beispiel für Aussagen des Angeklagten oder für von ihm vorgebrachte Beweise, die sich später als widersprüchlich erweisen, oder andere Zweifel aufkommen lassen, oder auf sonstige Art und Weise seine Glaubwürdigkeit in Frage stellen.“; vgl. Thomi/Wohlmann, Jusletter v. 13.06.2016, Rz. 14. 447 In Bezug auf das deutsche Strafrecht, ein vom Unternehmen abgeleitetes Aussageverweigerungsrecht jedoch nur für organschaftliche Vertreter anerkennend: Schlüter, S. 217 ff. 448 Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker, Band I, Teil  2, Art.  20 VO  (EG)  1/2003, Rn. 77.

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allgemeine Befugnis zur Befragung nach Art. 19 VO (EG) 1/2003 schließt ohnehin keine Antwortpflicht ein. b) Kein Schutz vor Beschlagnahmungen Der nemo-tenetur-Grundsatz schützt natürliche Personen davor, wie bereits ausführlich erörtert, sich selbst belasten zu müssen.449 Demzufolge wurde festgestellt, dass die Beschlagnahme von Dokumenten und sonstigen, unabhängig vom Willen des Beschuldigten bestehenden Beweismitteln nicht geschützt ist, sondern geduldet werden muss.450 Auch wenn ein Aussageverweigerungsrecht für Unternehmen auf die Unschuldsvermutung gestützt wird, sind Gründe, Unternehmen weitergehenden Schutz zu gewähren, nicht ersichtlich. c) Keine Pflicht zur aktiven Herausgabe von belastenden Dokumenten Sollen natürliche Personen verpflichtet werden, aktiv an der Herausgabe oder gar Erstellung oder Beschaffung belastender Dokumente mitzuwirken, so hat der EGMR Schutz durch den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit hingegen anerkannt.451 Dies muss erst recht für Unternehmen gelten. Denn das für die Aufklärung einer Tat maßgebliche Wissen dürfte in den allermeisten Fällen in Akten oder durch E-Mailverkehr dokumentiert sein. Nicht umsonst beauftragen Unternehmen oftmals externe Anwaltskanzleien damit, sog. „internal investigations“ und „docu­ment reviews“ vorzunehmen, um Kronzeugenanträge vorzubereiten oder die Erfolgsaussichten einer Kooperation zu bestimmen. Würde man Unternehmen verpflichten, Herausgabeverlangen bezüglich bestimmter selbstbelastenden Dokumenten nachkommen zu müssen, so würde deren Herausgabe nur eine andere Form einer selbstbelastenden Aussage darstellen und im Ergebnis den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit erheblich einschränken.452 Um dennoch an diese Informationen zu gelangen, kann die ermittelnde Behörde Nachprüfungen vornehmen und Beschlagnahmungen durchführen.

449

EGMR, Urt. v. 17.12.1996  – No. 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 69; EGMR, Urt. v. 11.07.2006 – No. 54810/00, Jalloh/Deutschland, ECHR 2006-IX, § 102. 450 Vgl. EGMR, Urt. v. 17.12.1996  – No. 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, § 69; EGMR, Urt. v. 11.07.2006 – No. 54810/00, Jalloh/Deutschland, ECHR 2006-IX, § 102. 451 EGMR, Urt. v. 25.02.1993 – No. 10828/84, Funke/Frankreich, Series A vol. 256-A, § 44; EGMR, Urt. v. 03.05.2001 – No. 31827/96, J. B./Schweiz, ECHR 2001-III, §§ 66, 68, 71. 452 Vgl. Soyez, EWS 2006, 389, 393.

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d) Keine Selbstbelastungsfreiheit für ohnehin preiszugebende Informationen Unternehmen sind jedoch oftmals unabhängig von Ermittlungsmaßnahmen verpflichtet, Behörden gewisse Auskünfte zu erteilen. Würde ein Unternehmen die Erteilung solcher Auskünfte in einem Ermittlungsverfahren unter Berufung auf sein Aussageverweigerungsrecht verweigern, würde dies ein widersprüchliches Verhalten darstellen.453 5. Unerheblichkeit eines Hinweises auf das Schweigerecht als Verwertbarkeitsvoraussetzung Um von einem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen zu können, müssen natürliche Personen über das Bestehen eines solchen belehrt werden.454 Es soll so vermieden werden, dass natürliche Personen in Unkenntnis ihrer Rechte selbstbelastende Aussagen tätigen, was durch die Ungewohntheit einer solchen Vernehmungssituation und durch zu vermutende fehlende rechtliche Vorkenntnisse begründet wird.455 Unterbleibt eine solche Belehrung und macht eine natürliche Person dennoch selbstbelastende Aussagen, so kann hierin in aller Regel kein wirksamer Verzicht auf das Aussageverweigerungsrecht für selbstbelastende Aussagen gesehen werden; die Aussage darf nicht verwertet werden.456 Bestünde gegenüber Unternehmen ebenfalls eine Belehrungspflicht, so wären auch ihre Aussagen bei Ausbleiben eines solchen Hinweises unverwertbar. Jedoch unterscheiden sich natürliche Personen und Unternehmen in dieser Hinsicht deutlich. Denn Unternehmen werden, sehen sie sich eines solchen Vorwurfs ausgesetzt, in aller Regel eine vorhandene Rechtsabteilung hinzuziehen oder anwaltlichen Beistand suchen.457 Außerdem sind Unternehmen im Rechtsverkehr erfahrener als natürliche Personen.458 Auch dies führt dazu, dass eine Konfrontation mit einem solchen zumindest strafrechtsähnlichen Vorwurf nicht derart unge 453

Einen guten und im Detail ausführlich begründeten Überblick hierzu liefert das Urteil Swisscom II des Schweizer Bundesverwaltungsgerichts, wonach bestimmte Daten nicht vom Schutz der Selbstbelastungsfreiheit erfasst sind, BVGer, Urt. v. 14.09.2015  – B-7633/2009, Swisscom/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn.  111 ff., 118 ff., 121 ff.: „Daten aus einer vorgängigen Rechtssache“, „Daten aufgrund von Informationspflichten einer ordnungsgemässen Geschäftsführung“, „Daten aufgrund von Dokumentationspflichten in konzessionierten Bereichen“. 454 Grundlegend: Bosch, S. 128 ff. 455 Vgl. Bosch, S. 128 f.; in Anwendung der EMRK so zumindest für die Schweiz: BVGer, Urt. v. 14.09.2015 – B-7633/2009, Swisscom/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 132. 456 Bauer, S. 151 ff.; zum Umfang des Verwertungsverbotes ebenfalls: Bauer, S. 195 ff. 457 Dies jedenfalls für zumutbar haltend: BVGer, Urt. v. 14.09.2015 – B-7633/2009, Swisscom/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 134. 458 Siehe hierzu die Ausführungen unter Teil 2: D. I. 4., S. 85.

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wohnt ist, dass sie kaum wissen, wie sie sich verhalten sollten. Aus diesem Grund erscheint es nicht notwendig, dass ein Unternehmen über sein Aussageverweigerungsrecht für selbstbelastende Aussagen belehrt wird.459 Allenfalls wenn einzelne Mitarbeiter unangekündigt und ohne das Unternehmen als solches im Vorhinein einzuschalten einer Befragung ausgesetzt werden, greifen die in Bezug auf natürliche Personen formulierten Schutzgründe wieder durch und es bedarf einer Belehrung.460

III. Rechtsprechung der Unionsgerichte zum Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit Während für die EMRK der Schwerpunkt auf der Frage der Anwendbarkeit des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit auf Unternehmen lag, so steht vor den Unionsgerichten vor allem der Umfang des Schutzes in Frage. Dieser ist derzeit erheblich eingeschränkt. 1. Keine unionsgerichtliche Herleitung des nemo-tenetur-Grundsatzes aus der EU-GRCh Damit das EuG oder der EuGH prüfen können, ob die Bestimmungen der EUGRCh in Verfahren vor der Europäischen Kommission eingehalten wurden, muss diese bereits in dem Zeitpunkt in Kraft gewesen sein, zu dem die Europäische Kommission das behördliche Ermittlungs- und Sanktionsverfahren durchgeführt hat. Die EU-GRCh ist jedoch erst seit Ende des Jahres 2009 in Kraft. Aus diesem Grund sind erst äußerst wenige Urteile der Unionsgerichte zur Selbstbelastungsfreiheit ergangen, welche die Anfechtung eines Kartellbußgeldbescheids zum Gegenstand haben, der nach Inkrafttreten der EU-GRCh erlassen wurde.461 Und auch in diesen Urteilen fand, soweit ersichtlich, diesbezüglich keine Auseinandersetzung mit den Bestimmungen der EU-GRCh statt, sondern es wurde vielmehr auf die bisherige Rechtsprechung und damit auf sog. allgemeine Grundsätze verwiesen.462 Ohnehin führt auch die EU-GRCh wie die EMRK den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit nicht explizit als eigenes Recht an.463 Eine Analyse zum 459 In Anwendung der EMRK so für die Schweiz: BVGer, Urt. v. 14.09.2015 – B-7633/2009, Swisscom/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 135. 460 Wiederum in Anwendung der EMRK so für die Schweiz: BVGer, Urt. v. 14.09.2015 – B-7633/2009, Swisscom/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, E. 136. 461 Bspw.: EuG, Urt. v. 20.05.2015 – verb. Rs. T-456/10, Timab Industries [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 120. 462 Siehe wiederum: EuG, Urt. v. 20.05.2015 – verb. Rs. T-456/10, Timab Industries [u. a.]/ KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 120. 463 Eser, in: Meyer, Art. 48 EU-GRCh, Rn. 10a; Pabel, in: Enzyklopädie Europarecht, Band 2, Europäischer Grundrechteschutz, § 19, Rn. 92.

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Geltungsumfang des nemo-tenetur-Grundsatzes anhand der jüngsten Rechtsprechung zur EU-GRCh ist somit nicht möglich. 2. Anerkennung eines sehr eingeschränkten Aussageverweigerungsrechts durch die Unionsgerichte als allgemeiner Grundsatz Schon vor der Geltung der EU-GRCh haben die europäischen Gerichte aber den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit als allgemeinen, wenn auch erheblich eingeschränkt geltenden Grundsatz anerkannt. Durch spätere Urteile der Unionsgerichte wurde er in Maßen weiter konturiert und ausdifferenziert. Grundlage dieser Rechtsprechung ist das EuGH-Urteil Orkem. Die Tatsache, dass die Unionsgerichte den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit für Unternehmen nur erheblich eingeschränkt zur Geltung kommen lassen, macht eine Auseinandersetzung mit den von den Gerichten vorgebrachten Argumenten nötig. Nur so kann eine kritische und fundierte Auseinandersetzung mit der geltenden Rechtslage, die sich auch in der VO (EG) 1/2003 niedergeschlagen hat, gelingen. a) Schutz vor Eingeständnissen einer Zuwiderhandlung: Orkem – EuGH 1989 Mit dem wegeweisenden Urteil Orkem aus dem Jahr 1989 hat der EuGH eine ständige Rechtsprechung begründet.464 Darin konstatiert der Gerichtshof, der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit könne weder aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, noch aus der EMRK, deren Geltungsgrund und -rang der EuGH offen gelassen hat, noch aus dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte hergeleitet werden,465 und hat sich damit der Ansicht von Generalanwalt Darmon angeschlossen.466 Erstaunlich ist, dass dieser vertreten hat, Art. 6 EMRK käme als mögliche Rechtsgrundlage des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit schon deswegen nicht in Betracht, weil es sich um ein Verwaltungsverfahren handele und nicht – wie es die Vorschrift verlange – um ein Gerichtsverfahren.467 Zu den Absätzen 2 und 3 führt Generalanwalt Darmon aus, dass der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit nicht zwingend aus diesen beiden Absätzen herzuleiten sei, schon weil die Klassifikation von Kartellbußen als straf-

464 Eine sehr ausführliche Darstellung über die Rechtsprechungspraxis des EuG und des EuGH liefert Schubert, S. 443 ff. 465 EuGH, Urt. v. 18.10.1989 – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3343, Rn. 29 ff. 466 Generalanwalt Darmon, Schlussanträge v. 18.05.1989  – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3301, Rn. 95 ff. 467 Generalanwalt Darmon, Schlussanträge v. 18.05.1989  – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3301, Rn. 134 ff.

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rechtlich nicht zwingend sei und im Voruntersuchungsverfahren noch keine Anklage vorliege.468 Hierzu führt das Gericht lediglich aus: „Jedoch ergibt sich weder aus deren Wortlaut [gemeint ist die Garantie des Art. 6 EMRK, Anm. d. Verf.] noch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, daß damit ein Recht anerkannt wird, nicht gegen sich selbst als Zeuge aussagen zu müssen.“469

Ausführlich geht der EuGH auf den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte als mögliche Rechtsquelle für den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ein, der schon damals ein „fundamentaler Grundsatz der Gemeinschaftsrechtsordnung“470 gewesen sei.471 Danach muss der „Anspruch auf rechtliches Gehör in Verwaltungsverfahren, die zu Sanktionen führen können, beachtet werden“472 und es muss verhindert werden, dass „dieser Anspruch in nicht wiedergutzumachender Weise in Voruntersuchungsverfahren beeinträchtigt wird“473. Der EuGH differenziert also zwischen dem Voruntersuchungsverfahren und dem eigentlichen Verwaltungssanktionsverfahren, hält den Anspruch auf rechtliches Gehör jedoch für gleichermaßen anwendbar. Offensichtlich um eine Abwägung bemüht führt der EuGH anschließend an, dass die Erhaltung der praktischen Wirksamkeit der damaligen Kartellverordnung ein valider Grund für die partielle Einschränkung des Aussageverweigerungsrechts für Unternehmen durch die Europäische Kommission ist: „Daher ist die Kommission zwar um der Erhaltung der praktischen Wirksamkeit des Artikels 11 Absätze 2 und 5 der Verordnung Nr. 17 willen berechtigt, das Unternehmen zu verpflichten, ihr alle erforderlichen Auskünfte über ihm eventuell bekannte Tatsachen zu erteilen und ihr erforderlichenfalls die in seinem Besitz befindlichen Schriftstücke, die sich hierauf beziehen, zu übermitteln, selbst wenn sie dazu verwendet werden können, den Beweis für ein wettbewerbswidriges Verhalten des betreffenden oder eines anderen Unternehmens zu erbringen. Jedoch darf die Kommission durch eine Entscheidung, mit der Auskünfte angefordert werden, nicht die Verteidigungsrechte des Unternehmens beeinträchtigen.“474

Als Fazit draus zieht der EuGH den entscheidenden und heute selbst in Erwägungsgrund 23 zur VO (EG) 1/2003 erwähnten Schluss:475 „Daher darf die Kommission dem Unternehmen nicht die Verpflichtung auferlegen, Antworten zu erteilen, durch die es das Vorliegen einer Zuwiderhandlung eingestehen müsste, für die die Kommission den Beweis zu erbringen hat“476. 468 Generalanwalt Darmon, Schlussanträge v. 18.05.1989  – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3301, Rn. 138, 146 ff. 469 EuGH, Urt. v. 18.10.1989 – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3343, Rn. 30. 470 EuGH, Urt. v. 18.10.1989 – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3343, Rn. 32. 471 EuGH, Urt. v. 18.10.1989 – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3343, Rn. 32 f. 472 EuGH, Urt. v. 18.10.1989 – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3343, Rn. 33. 473 EuGH, Urt. v. 18.10.1989 – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3343, Rn. 33. 474 EuGH, Urt. v. 18.10.1989 – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3343, Rn. 34. 475 Erwägungsgrund 23 VO (EG) 1/2003; Schubert, S. 443. 476 EuGH, Urt. v. 18.10.1989 – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3343, Rn. 35.

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Was unter dem Eingeständnis einer Zuwiderhandlung genau zu verstehen ist, wird im Urteil Orkem nicht genauer präzisiert und kann auch den Ausführungen des Generalanwalts Darmon nicht entnommen werden.477 b) Ungerechtfertigte Behinderung durch ein über den Schutz vor Eingeständnissen einer Zuwiderhandlung hinausgehendes Aussageverweigerungsrecht: PVC EuG – 1999 Im Urteil des EuG aus dem Jahr 1999 zum PVC-Kartell wegen angeblicher Nichtbeachtung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit durch die Euro­ päische Kommission hat das EuG die Orkem-Rechtsprechung bestätigt,478 und darüber hinaus erstmals Gründe angeführt, wieso der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit für Unternehmen in Verwaltungssanktionsverfahren seiner Meinung nach nur beschränkt gilt: „Die Anerkennung eines Rechts auf uneingeschränkte Aussageverweigerung, das die Klägerinnen geltend machen, ginge tatsächlich über das hinaus, was für die Wahrung der Rechte der Verteidigung der Unternehmen erforderlich ist und wäre eine nicht gerechtfertigte Behinderung der Kommission […], über die Einhaltung der Wettbewerbsregeln im Gemeinsamen Markt zu wachen. Die Unternehmen haben sowohl bei ihren Antworten auf die Auskunftsverlangen als auch anschließend im Verwaltungsverfahren, wenn die Kommission die Eröffnung eines solchen gegebenenfalls beschließt, in jeder Hinsicht Gelegenheit, sich insbesondere zu den Schriftstücken, die sie vorlegen mussten, oder zu ihren Antworten auf Auskunftsverlangen der Kommission zu äußern.“479

Wie und warum die Rechte der Klägerinnen tatsächlich gewahrt werden, bleibt mangels weiterer Ausführungen offen.480 c) Schutz vor der Pflicht zu einer dem Eingeständnis einer Zuwiderhandlung gleichkommenden Aussage: Mannesmannröhren-Werke – EuG 2001 Im zwei Jahre später ergangenen Urteil Mannesmannröhren-Werke des EuG aus dem Jahr 2001 tritt die Problematik deutlich zu Tage, dass das Eingeständnis einer Zuwiderhandlung kein eindeutiger Begriff ist.481 Diesbezüglich stellt das Ge 477 Auch das Parallelverfahren Solvay, ohnehin nur abgekürzt veröffentlicht, enthält keine weitergehenden Anhaltspunkte: EuGH, Urt. v. 18.10.1989  – Rs. 27/88, Solvay/KOM, Slg. 1989, 3355. 478 EuG, Urt. v. 20.04.1999 – verb. Rs. T-305/94 [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/ KOM, Slg. 1999, II-945, Rn. 444. 479 EuG, Urt. v. 20.04.1999 – verb. Rs. T-305/94 [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/ KOM, Slg. 1999, II-945, Rn. 448. 480 Schubert, S. 484. 481 EuG, Urt. v. 20.02.2001 – Rs. T-112/98, Mannesmannröhren-Werke/KOM, Slg. 2001, II732, Rn. 68 ff.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

richt fest, dass Unternehmen zu Aussagen verpflichtet werden können, die zwar kein Eingeständnis darstellen, aber selbstbelastend wirken: „Nach ständiger Rechtsprechung ist die Kommission jedoch […] berechtigt, das Unternehmen zu verpflichten, ihr alle erforderlichen Auskünfte über ihm eventuell bekannte Tatsachen zu erteilen […], selbst wenn sie dazu verwendet werden können, den Beweis für ein wettbewerbswidriges Verhalten des betreffenden oder eines anderen Unternehmens zu erbringen.“482

Unter einem Eingeständnis wird somit offensichtlich bereits die Äußerung von Tatsachen gefasst, die, werden sie unter das Kartellverbot subsumiert, die Feststellung ermöglichen, dass dieses verletzt wurde.483 d) Beschränkung des Schutzes auf Auskunftsentscheidungen: PVC – EuGH 2002 Wichtige Präzisierungen und Klarstellungen der seinerzeitigen Rechtsprechung enthält schließlich das Urteil des EuGH aus dem Jahr 2002 zum PVC-Kartell, das bereits erstinstanzlich vom EuG entschieden worden war.484 Während im Urteil Orkem für die Frage der Zulässigkeit einer Selbstbelastungspflicht noch als entscheidendes Merkmal herangezogen wurde, ob die Aussage ein Eingeständnis einer Zuwiderhandlung sei,485 stellt der EuGH im vorliegenden Urteil darauf ab, ob „eine Antwort des Adressaten tatsächlich dem Eingeständnis einer Zuwiderhandlung gleichkäme.“486 Was aus dem Urteil Mannesmannröhren-Werke des EuG implizit hervorgeht, wird nun explizit bestätigt: Auch die Übermittlung solcher Tatsachen, die das Kartellverbot sofort erfüllen, wenn sie unter dieses subsumiert werden, soll vom Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit erfasst sein, und nicht nur das tatsächliche Eingeständnis der Zuwiderhandlung, also der Tatbestandsmäßigkeit. Bemerkenswert ist, dass der EuGH auf die Tatsache eingeht, dass mit dem „[EGMR-]Urteil Funke sowie den Urteilen Saunders/Vereinigtes Königreich […] neue Entwicklungen eingetreten sind“487, er daraus aber keine relevanten Schlüsse für die Orkem-Rechtsprechung zieht.488 Erstaunlich ist die Bezugnahme auf die EGMR-Rechtsprechung auch insofern, als dass der EuGH damit anerkennt, 482 EuG, Urt. v. 20.02.2001 – Rs. T-112/98, Mannesmannröhren-Werke/KOM, Slg. 2001, II-732, Rn. 65. 483 Vgl. Schubert, S. 480 f. 484 EuGH, Urt. v. 15.10.2002 – verb. Rs. C-238/99 P [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/KOM, Slg. 2002, I-8618. 485 EuGH, Urt. v. 18.10.1989 – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3343, Rn. 35. 486 EuGH, Urt. v. 15.10.2002 – verb. Rs. C-238/99 P [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/KOM, Slg. 2002, I-8618, Rn. 273. 487 EuGH, Urt. v. 15.10.2002 – verb. Rs. C-238/99 P [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/KOM, Slg. 2002, I-8618, Rn. 274. 488 Vgl. Schubert, S. 493 f.

F. Nemo-tenetur-Grundsatz 

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dass Art.  6  EMRK den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit enthält, dass Art. 6 EMRK in Verwaltungssanktionsverfahren und insbesondere auch in Vorermittlungsverfahren anwendbar ist, und dass die Rechtsprechung des EGMR bei der Bildung allgemeiner Grundsätze eine gewisse Maßgeblichkeit hat.489 Auswirkungen auf den bisherigen Schutzstandard scheint die überraschende Bezugnahme auf die EMRK nicht zu haben. Dass die EGMR-Rechtsprechung in Bezug auf natürliche Personen erging und nicht in Bezug auf Unternehmen, thematisiert der EuGH nicht. Prägnanter sind die Aussagen, wie eine Frage der Europäischen Kommission beschaffen sein muss, um zur grundsätzlichen Anwendbarkeit des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit zu führen. Einfache Auskunftsverlangen, für die sowohl nach der damaligen VO (EWG) 17/62, als auch nach der VO (EG) 1/2003 keine Rechtspflicht zur Beantwortung bestand, üben nach Ansicht des EuGH keinen Zwang aus.490 Und auch die Möglichkeit, Zwangsgelder bei unrichtiger Beantwortung von Fragen zu verhängen, stehe dem nicht entgegen, da sich diese nicht auf die Pflicht zur Beantwortung von Fragen beziehe.491 Folglich kommt bei Auskunftsverlangen, die grundsätzlich nicht zur Antwort verpflichten, der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit nach Ansicht des EuGH nicht zur Anwendung.492 Das gleiche Ergebnis hat bereits die einleitende Untersuchung ergeben, ab welchem Verfahrensstadium strafrechtliche Verfahrensgarantien zur Anwendung kommen.493 Ob Auskunftsentscheidungen, früher in Art. 11 Abs. 5 VO (EWG) 17/62 und nunmehr in Art.  18  Abs.  1  VO  (EG)  1/2003 geregelt, immer die Anwendbarkeit des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit auslösen, entscheidet der EuGH nicht. Dies ist im vorliegenden Urteil nämlich deswegen nicht notwendig, weil die Klägerinnen nicht dargelegt haben, ob ihre Äußerungen aufgrund eines einfachen Auskunftsverlangens oder aufgrund einer Auskunftsentscheidung ergangen sind: „Sie geben nicht an, ob diese Antworten im Anschluss an Auskunftsverlangen, d. h. ohne Zwang, oder im Anschluss an Entscheidungen über die Anforderung von Auskünften, d. h. unter der Einwirkung rechtlichen Zwangs, gegeben wurden.“494

489

Schubert, S. 493. Vgl. EuGH, Urt. v. 15.10.2002 – verb. Rs. C-238/99 P [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/KOM, Slg. 2002, I-8618, Rn. 279. 491 EuGH, Urt. v. 15.10.2002 – verb. Rs. C-238/99 P [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/KOM, Slg. 2002, I-8618, Rn. 279. 492 EuGH, Urt. v. 15.10.2002  – verb. Rs. C-238/99 P [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/KOM, Slg. 2002, I-8618, Rn. 279 f.; so auch bereits das Europäische Gericht: EuG, Urt. v. 15.03.2000 – verb. Rs. T-25/95 [u. a.], Cimenteries CBR [u. a.]/KOM, Slg. 2000, II-508, Rn. 732 ff. 493 Siehe hierzu die Ausführungen unter Teil 1: B. I. 2. a), S. 38 ff. 494 EuGH, Urt. v. 15.10.2002 – verb. Rs. C-238/99 P [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/KOM, Slg. 2002, I-8618, Rn. 287. 490

204

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Ob daraus abgeleitet werden kann, dass der Erlass einer Auskunftsentscheidung ausreichend ist, um den nötigen Zwang aufzubauen, der erforderlich ist, um die Anwendbarkeit des Grundsatzes der Selbstbelastungspflicht zu begründen, ist nicht eindeutig, obgleich die dezidierte Unterscheidung im vorliegenden Fall diesen Schluss nahelegt.495 Im Ergebnis wirft das Urteil viele wichtige Fragen auf, liefert jedoch nur wenig neue Erkenntnisse, inwieweit sich Unternehmen in kartellrechtlichen Verwaltungssanktionsverfahren vor der Europäischen Kommission auf den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit berufen können. e) Festhalten an der Orkem-Rechtsprechung als weiterhin ständige Rechtsprechung Zusammengefasst sehen die Unionsgerichte den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit als fundamentalen Grundsatz der Achtung der Verteidigungsrechte an. Auch wenn Art. 6 EMRK in mehreren Urteilen von EuG und EuGH Erwähnung gefunden hat, halten die europäischen Gerichte offensichtlich weiterhin an einer Interpretation fest, wonach auf Ebene der Europäischen Union der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit als allgemeiner Grundsatz gelte. Daraus leiten EuG und EuGH aber lediglich ab, dass in der Europäischen Union Unternehmen geschützt werden, soweit sie zu einer Aussage verpflichtet werden, die ein Eingeständnis einer Zuwiderhandlung darstellt oder diesem gleichkommt. Angesichts dieses engen Verständnisses ist die Äußerung von belastenden Tatsachen nicht geschützt. Die grundlegende Orkem-Rechtsprechung haben das EuG und der EuGH nicht nur in den dargestellten Urteilen aufgegriffen, sondern auch in diversen anderen Urteilen bestätigt und diese so als ständige Rechtsprechung etabliert.496 Weiter­ 495 Vermutend, dass alleine der rechtliche Zwang zur Beantwortung einer Auskunftsentscheidung ausreicht: Schubert, S. 494. 496 EuG, Urt. v. 15.03.2000 – verb. Rs. T-25/95 [u. a.], Cimenteries CBR [u. a.]/KOM, Slg. 2000, II-508, Rn.  732; EuGH, Urt. v. 07.01.2004, verb. Rs. C-204/00 [u. a.], Aalborg Portland [u. a.]/KOM, Slg. 2004, I-403, Rn. 65; EuG, Urt. v. 14.03.2004 – Rs. T-302/11, HeidelbergCement/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn.  117; EuG, Urt. v. 14.03.2004  – Rs. T-297/11, Buzzi Unicem/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn.  59; EuG, Urt. v. 29.04.2004 – verb. Rs. T-236/01 [u. a.], Tokai Carbon [u. a.]/KOM, Slg. 2004, II-1200, Rn. 405; EuG, Urt. v. 08.07.2004 – Rs. T-50/00, Dalmine/KOM, Slg. 2004, II-2405, Rn. 45 ff.; EuGH, Urt. v. 14.07.2005 – Rs. C-57/02 P, Acerinox/KOM, Slg. 2005, I-6741, Rn. 86 ff.; EuGH, Urt. v. 14.07.2005 – Rs. C-65/02 P, ThyssenKrupp/KOM, Slg. 2005, I-6778, Rn. 49 ff.; EuG, Urt. v. 27.09.2006 – Rs. T-59/02, Archer Daniels Midland/KOM, Slg. 2006, II-3627, Rn. 262; EuG, Urt. v. 14.12.2006 – Rs. T-259/02 [u. a.], Raiffeisen Zentralbank [u. a.]/KOM, Slg. 2006, II-5169, Rn.  539; EuGH, Urt. v. 25.01.2007  – Rs. C-407/04 P, Dalmine/KOM, Slg. 2007, I-901, Rn. 34 f.; EuG, Urt. v. 28.04.2010 – Rs. T-446/05, Amann & Söhne [u. a.]/KOM, Slg. 2010, II-1255, Rn. 325; EuG, Urt. v. 22.03.2011 – verb. Rs. T-458/09 [u. a.], Slovak Telekom/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 41; EuG, Urt. v. 27.09.2012 – Rs. T-343/06, Shell Petroleum [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 118; EuG, Urt. v. 14.03.2013 –

F. Nemo-tenetur-Grundsatz 

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gehende Erkenntnisse, unter welchen Voraussetzungen die Aussage eines Unternehmens ein Eingeständnis einer Zuwiderhandlung darstellt, können jedoch auch diesen Urteilen nicht entnommen werden.

IV. Herleitung eines umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts für Unternehmen aus der EU-GRCh Ob die derzeitige, erheblich eingeschränkte Geltung des nemo-tenetur-Grundsatzes, hergeleitet aus der EU-GRCh, vor den Unionsgerichten jedoch weiterhin haltbar ist, erscheint erheblichen Zweifeln ausgesetzt. 1. Uneingeschränkte Geltung der Selbstbelastungsfreiheit für Unternehmen Anders als für die EMRK muss für die EU-GRCh nicht begründet werden, dass der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit grundsätzlich auch auf Unternehmen anwendbar ist. Denn im Rahmen der Orkem-Rechtsprechung wurde dieser gerade für Unternehmen entwickelt. Umstritten ist jedoch der Umfang seiner Geltung. Aktuell ist er auf alle Aussagen beschränkt, die ein Eingeständnis einer Zuwiderhandlung sind oder diesem gleich kommen. Beachtenswert ist dabei der Umstand, dass der EuGH nicht davon ausgeht, der nemo-tenetur-Grundsatz werde eingeschränkt, sondern sein Schutz umfasse überhaupt nur das Eingeständnis einer Zuwiderhandlung. Ob dieser fast schon marginalisierte Schutz terminologisch überhaupt noch als nemo-tenetur-Grundsatz bezeichnet werden kann, oder es sich vielmehr um ein aliud handelt, ist unklar. Entscheidend für die weitere Untersuchung ist, ob grundsätzlich auch in der Europäischen Union der umfassend schützende nemo-tentur-Grundsatz aus der EU-GRCh bzw. aus allgemeinen Grundsätzen hergeleitet werden kann. Nur in diesem Fall kann die voranstehende Argumentation zur EMRK, die sich gegen eine partielle Einschränkung der Selbstbelastungsfreiheit richtet, übernommen werden und gefolgert werden, dass jegliche Einschränkung des nemo-tenetur-Grundsatzes dessen Schutz unterlaufen würde. Zwar führt der EuGH im Urteil Orkem sicherlich zu Recht aus, dass ein Recht für Unternehmen, sich nicht selbst belasten müssen, der Gesamtheit der Rechts-

Rs. T-587/08, Fresh Del Monte Produce/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn.  836; EuG, Urt. v. 06.09.2013 – verb. Rs. T-289/11 [u. a.], Deutsche Bahn [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 82; EuG, Urt. v. 27.02.2014 – Rs. T-91/11, InnoLux/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 167; EuG, Urt. v. 20.05.2015 – verb. Rs. T-456/10, Timab Industries [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 120.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

ordnungen der Mitgliedstaaten nicht zu entnehmen gewesen sei.497 Gleichwohl bestand schon damals,498 bzw. besteht auch heute zumindest in einigen Mitgliedstaaten für Unternehmen ein Recht zur Aussageverweigerung für selbstbelastende Aussagen.499 Da aber auch heute keine einheitliche mitgliedstaatliche Rechtsauffassung auszumachen ist, kann die damalige diesbezügliche Einschätzung des EuGH im Ergebnis weiterhin Bestand haben. Die anderweitige rechtliche Einschätzung der Unionsgerichte kann von Anbeginn der Orkem-Rechtsprechung bis heute jedoch in mehrfacher Hinsicht kritisiert werden. So hat der EuGH im Urteil Orkem die EMRK als mögliche Rechtsquelle für ein Aussageverweigerungsrecht für selbstbelastende Aussagen geprüft, jedoch abgelehnt, dass sich aus dieser ein solches ableiten lasse.500 Diese Einschätzung ist heute nicht mehr zu halten.501 Richtig ist zwar, dass mangels einschlägiger Urteile des EGMR immer noch nicht gerichtlich geklärt ist, ob sich Unternehmen auf ein Aussageverweigerungsrecht berufen können. Und alleine die Tatsache, dass die EMRK für natürliche Personen ein uneingeschränktes Recht zur Aussageverweigerung vorsieht, führt noch nicht zwangsläufig dazu, dass dies auch für Unternehmen angenommen werden muss. Folgt man jedoch den oben dargelegten Einschätzungen zur vorzugswürdigen Auslegung der EMRK, so müssten EuG und EuGH bei der Untersuchung dieser Rechtsquelle mittlerweile zu einem anderen Ergebnis kommen und auch für Unternehmen im Rahmen der EMRK ein uneingeschränktes Recht zur Aussageverweigerung bei selbstbelastenden Aussagen anerkennen. Doch ein umfassender Schutz von Unternehmen durch ein Aussageverweigerungsrecht für selbstbelastende Aussagen kann auch aus der EU-GRCh selbst begründet werden. Von besonderer Bedeutung ist dabei der Umstand, dass weder das EuG, noch der EuGH bisher zur Geltung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit für natürliche Personen umfassend Stellung nehmen mussten.502 Würde sich die Frage der Anwendbarkeit und des Umfangs der Selbstbelastungsfreiheit für natürliche Personen vor den europäischen Gerichten stellen, so wäre

497

EuGH, Urt. v. 18.10.1989 – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3343, Rn. 29. Sehr ausführlich: Kühlhorn, WuW 1986, 7, 10 ff., 14; die Uneinheitlichkeit in den 1970er Jahren erwähnend: Ehlermann/Oldekop, in: FIDE, S. 11.4 f.; allein auf die deutsche Kartellrechtsordnung Bezug nehmend: Schuhmacher, WuW 1986, 475. 499 Allein auf die deutsche Kartellrechtsordnung und nicht auf die verfassungsrechtliche Lage Bezug nehmend: von Winterfeld, RIW 1992, 524, 528. 500 EuGH, Urt. v. 18.10.1989 – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3343, Rn. 30. 501 Ausführlich: Schubert, S. 492 ff.; Schwarze/Weitbrecht, § 5, Rn. 33. 502 In Bezug auf natürliche Personen soweit ersichtlich als Einzelbeispiel den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit äußerst knapp erwähnend: Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 01.07.2010 – Rs. C-205/09, Szombathelyi Városi Ügyészség/Emil Eredics und Mária Vassné Sápi, Slg. 2010, I-10231, Rn. 57 ff. 498

F. Nemo-tenetur-Grundsatz 

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jedoch von dessen uneingeschränkter Geltung auszugehen. Unerheblich ist dabei, ob ein solches Recht aus der Wahrung der Verteidigungsrechte aus Art. 48 Abs. 2 EU-GRCh, der Unschuldsvermutung aus Art. 48 Abs. 1 EU-GRCh oder aus allgemeinen Grundsätzen herzuleiten ist. In einem Gutachten zu einem natürliche Personen betreffenden Fall rekurriert die Generalanwältin Kokott sogar auf die EMRK und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem die EU-GRCh bereits in Kraft getreten war.503 Hinsichtlich der allgemeinen Geltung des nemo-tenetur-Grundsatzes in der Europäischen Union zumindest für natürliche Personen kann somit kein Zweifel bestehen.504 Dass die europäischen Gerichte den nemo-tenetur-Grundsatz für Unternehmen nur eingeschränkt zur Anwendung kommen lassen, kann seinen Grund somit heute nur noch im Unterschied zwischen natürlichen Personen und Unternehmen haben und nicht in einem per se nur partiellen Schutz. Die Argumentation, wieso auch nach der EU-GRCh Unternehmen gleichermaßen vom Schutz durch die Selbstbelastungsfreiheit profitieren sollten wie natürliche Personen, verläuft genauso wie für die EMRK. Und dies ist nicht der Fall, weil die Argumentation gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 EU-GRCh übernommen wird, sondern weil die Ausgangsvoraussetzungen identisch sind. Zu den Schutzzwecken der Selbstbelastungsfreiheit für natürliche Personen stellt Generalanwältin Kokott auf die gleichen Gründe wie der EGMR ab und nimmt auf diesen sogar Bezug.505 Die vom EGMR genannten Zwecke, Schutz der Willensfreiheit und Schutz vor Fehlurteilen, sind jedoch ohnehin keine EMRK-Spezifika, sondern allgemein anerkannt.506 Sie können somit auch genauso auf die EU-GRCh übertragen werden. Eine eingehende Untersuchung für die EMRK hat zwar gezeigt, dass diese Schutzzwecke auf Unternehmen nicht übertragbar sind. Gleichwohl ist auch in der EU-GRCh in Art. 48 Abs. 1 die Unschuldsvermutung geregelt. Weil diese auch für Unternehmen gilt und bei Nichtgewährung eines Aussageverweigerungsrechts unterlaufen würde, muss der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit für Unternehmen auch in der EU-GRCh uneingeschränkt gelten. Und in Bezug auf die EMRK wurde festgestellt, dass eine Beschränkung des nemo-tenetur-Grundsatzes aus praktischen Gründen erheblichen Bedenken ausgesetzt ist: So wurde dargelegt, dass nicht rechtssicher bestimmbar ist, was unter einem Eingeständnis einer Zuwiderhandlung zu verstehen ist. Diese Schwierigkeit sieht auch Generalanwalt Bot, obgleich er seine Bedenken im konkreten Verfah-

503

Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 01.07.2010  – Rs. C-205/09, Szombathelyi Városi Ügyészség/Emil Eredics und Mária Vassné Sápi, Slg. 2010, I-10231, Rn. 60. 504 Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 01.07.2010  – Rs. C-205/09, Szombathelyi Városi Ügyészség/Emil Eredics und Mária Vassné Sápi, Slg. 2010, I-10231, Rn. 60. 505 Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 01.07.2010  – Rs. C-205/09, Szombathelyi Városi Ügyészség/Emil Eredics und Mária Vassné Sápi, Slg. 2010, I-10231, Rn. 60. 506 So argumentiert bspw. das deutsche Bundesverfassungsgericht mit den gleichen Schutzzwecken wie der EMRK: BVerfG, Beschluss vom 26.02.1997 – 1 BvR 2172/96, BVerfGE 95, 220, 241.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

ren dahinstehen lassen kann, da sich die von ihm adressierten Probleme im konkreten Verfahren offensichtlich nicht manifestiert haben.507 „Diese Rechtsprechung, die mir in gewisser Hinsicht widersprüchlich zu sein scheint, lässt die Schwierigkeiten erkennen, auf die der Gemeinschaftsrichter stoßen kann, wenn er nachprüft, ob die Verteidigungsrechte der Unternehmen in derartigen Verfahren gewahrt sind.“508

Angesichts der ebenfalls im Rahmen der EMRK angeführten faktischen Argumente gegen eine inhaltliche Begrenzung des nemo-tenetur-Grundsatzes ist somit im Ergebnis auch aus der EU-GRCh ein uneingeschränktes Recht zur Aussageverweigerung für Unternehmen herzuleiten. Hinzu kommt, dass es, wie bereits im Rahmen der EMRK dargestellt, für die Europäische Kommission problemlos möglich wäre, einzelne Fragen zu stellen, die sich jeweils ausschließlich auf Tatsachen beziehen und somit nicht vom derzeitigen Schutz der Selbstbelastungsfreiheit erfasst sind. Zusammengenommen könnten die Antworten auf diese zulässigen Fragen den nötigen Beweis erbringen, um einem Unternehmen eine vorgeworfene Tat nachzuweisen. Diese Gefahr besteht erst recht, wenn mehrere Unternehmen an einer Tat beteiligt sind. Dann kann die Europäische Kommission an einzelne Unternehmen reine Tatsachenfragen stellen, die Gesamtheit der Antworten jedoch eine erdrückende Beweislage liefern. Daraus wurde gefolgert, dass eine Beschränkung des nemo-tenetur-Grundsatzes auf das Eingeständnis einer Zuwiderhandlung dessen Schutz fundamental zu unterlaufen droht. Auch aus der EU-GRCh ist deshalb wie für die EMRK zugunsten von Unternehmen ein Recht zur Aussageverweigerung für selbstbelastende Aussagen herzuleiten. 2. Uneingeschränkte Geltung der Selbstbelastungsfreiheit in Verwaltungssanktionsverfahren Nach Ansicht der Unionsgerichte ist der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit nicht nur auf Unternehmen anwendbar, sondern ist auch in Verwaltungssanktionsverfahren zu berücksichtigen, wie aus der ständigen Rechtsprechung seit dem Orkem-Urteil zum europäischen Kartellrecht hervorgeht, die ausführlich dargestellt wurde. Erkennt man, wie vorstehend gefordert, eine uneingeschränkte Anwendbarkeit nunmehr auch im Rahmen der EU-GRCh an, so können Unterschiede zwischen Verwaltungsverfahren und gerichtlichen Verfahren eine abgestufte Geltung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit nicht rechtfertigen. Die Argumentation ist dabei für die EU-GRCh identisch mit der Begründung für die EMRK, und dies abermals nicht wegen Art. 52 Abs. 3 S. 1 EU-GRCh, sondern weil die 507

Generalanwalt Bot, Schlussanträge v. 26.03.2009  – verb.  Rs.  C-125/07 P [u. a.], Erste Bank [u. a.]/KOM, Slg. 2009, I-8681, Rn. 464. 508 Generalanwalt Bot, Schlussanträge v. 26.03.2009  – verb.  Rs.  C-125/07 P [u. a.], Erste Bank [u. a.]/KOM, Slg. 2009, I-8681, Rn. 462.

F. Nemo-tenetur-Grundsatz 

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Argumente unabhängig vom Vertragswerk durchgreifen: Wenn Aufklärungshindernisse schon keine abgestufte Anwendung für Unternehmen rechtfertigen können, so muss gleiches für Verwaltungsverfahren gelten. Weder die in solchen Verfahren unter Umständen geringere Sanktionshöhe, noch die Charakteristika eines Verwaltungsverfahrens können eine Schutzreduktion rechtfertigen. Auch dass aufgrund der Möglichkeit zur gerichtlichen Kontrolle nachträglicher Rechtsschutz möglich ist, beeinflusst nicht die uneingeschränkte Geltung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit. Ebenso ist keine Unterscheidung zwischen Vorermittlungsverfahren und dem eigentlichen Sanktionsverfahren zu machen. Nicht nur in gerichtlichen, sondern auch in administrativen Sanktionsverfahren ist der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit für Unternehmen daher uneingeschränkt anwendbar. 3. Aussicht auf Bußgeldreduktion als zulässiges Maß an Zwang Nicht auf den Umfang des Aussageverweigerungsrechts, sondern auf den Grad des zulässigen Zwangs ist die Frage bezogen, ob die Aussicht auf eine Bußgeldreduktion für den Fall der Kooperation ein zulässiges Maß an Zwang darstellt. Sowohl das EuG,509 als auch der EuGH haben dies in der Vergangenheit als zulässig erachtet.510 In dieser Hinsicht entspricht die Rechtsprechung der Unionsgerichte somit der Ansicht des EGMR. Als Begründung führt der EuGH im Urteil ThyssenKrupp aus dem Jahr 2005 aus: „Somit stellt es keine Beeinträchtigung der Rechte der Verteidigung dar, wenn die Kommission für eine Ermäßigung der Geldbuße den Umfang der Zusammenarbeit des betreffenden Unternehmens mit ihr und auch das Eingeständnis der Zuwiderhandlung berücksichtigt.“511 „Das Eingeständnis der zur Last gelegten Zuwiderhandlung beruht […] auf einer rein freiwilligen Entscheidung des betroffenen Unternehmens. Dieses ist keineswegs gezwungen, das Bestehen des Kartells einzuräumen.“512

Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit wird durch die bußgeldreduzierende Möglichkeit zur Kooperation, das Eingeständnis einer Zuwiderhandlung eingeschlossen, somit nach Ansicht des EuGH nicht verletzt. In späteren Urteilen ist diese Rechtsfrage offensichtlich nicht erneut vor europäische Gerichte gebracht worden. Dies ist auch nicht verwunderlich, haben Unternehmen doch ein veritables Interesse an einer Bußgeldreduktion aufgrund ihrer eigenen Kooperationsbereitschaft und dürften kein Interesse daran haben, dass diese Praxis als nicht mit dem Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit beurteilt wird. 509 EuG, Urt. v. 14.05.1998 – Rs. T-347/94, Mayr-Meinhof Kartongesellschaft/KOM, Slg. 1998, II-1759, Rn. 314 f. 510 EuGH, Urt. v. 14.07.2005  – Rs. C-65/02 P, ThyssenKrupp/KOM, Slg. 2005, I-6778, Rn. 50 ff. 511 EuGH, Urt. v. 14.07.2005 – Rs. C-65/02 P, ThyssenKrupp/KOM, Slg. 2005, I-6778, Rn. 53. 512 EuGH, Urt. v. 14.07.2005 – Rs. C-65/02 P, ThyssenKrupp/KOM, Slg. 2005, I-6778, Rn. 52.

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4. Umfang der Selbstbelastungsfreiheit Unternehmen gewährt der nemo-tenetur-Grundsatz nach der EU-GRCh das Recht, sich nicht schriftlich oder mündlich selbst belasten zu müssen. Und Gründe, Unternehmen vor Beschlagnahmungen aufgrund des nemo-tenetur-Grundsatzes zu schützen, sind weder in der Rechtsprechung der Unionsgerichte bisher angeführt worden, noch stellt sich die Lage anders als im Rahmen der EMRK dar. Ebenso müssen auch Mitarbeiter, soll ihnen kein eigenes Aussageverweigerungsrecht zukommen, sich auf das Aussageverweigerungsrecht des Unternehmens berufen können, da dieses anderenfalls unterlaufen würde. Zur Frage, ob Unternehmen jedoch gegebenenfalls zur Herausgabe von belastenden Unterlagen verpflichtet werden können, mithin also eine Pflicht zur aktiven Mitwirkung besteht, ist die Rechtsprechung von EuG und EuGH nicht einheitlich. Im Urteil Tokai Carbon hat das EuG im Jahr 2004 ausgeführt, dass Unternehmen die Herausgabe von selbstbelastenden Schriftstücken verweigern können sollen, wenn solche von der Europäischen Kommission gefordert werden.513 Das EuG hat diese Rechtsprechung nicht fortgesetzt und auch der EuGH hat sich zu keinem Zeitpunkt dieser Ansicht angeschlossen, sondern vielmehr im zwei Jahre später ergangenen Urteil SGL Carbon genau dies abgelehnt.514 In Anbetracht der seit dem Orkem-Urteil ständigen Rechtsprechung, wonach ein Aussageverweigerungsrecht nur für solche Aussagen besteht, die dem Eingeständnis einer Zuwiderhandlung gleichkommen, mag dies überzeugen. Folgt man hingegen der hier vertretenen Ansicht, dass auch die EU-GRCh für Unternehmen ein uneingeschränktes Recht zur Aussageverweigerung für selbstbelastende Aussagen gewährt, so scheint eine Pflicht zur Herausgabe von belastenden Dokumenten mit diesem Verständnis nicht vereinbar. Aus den gleichen Gründen wie im Rahmen der EMRK besteht somit nur eine Duldungspflicht, jedoch keine Mitwirkungspflicht.515 5. Unerheblichkeit eines Hinweises auf das Schweigerecht als Verwertbarkeitsvoraussetzung Auch im Rahmen der EU-GRCh müssen Unternehmen über ein bestehendes Schweigerecht genauso wie im Rahmen der EMRK nicht belehrt werden. Eine Ausnahme besteht ebenfalls nur für die unangekündigte Befragung von einzelnen Mitarbeitern ohne vorherige Hinzuziehung des Unternehmens selbst.

513 EuG, Urt. v. 29.04.2004 – verb. Rs. T-236/01 [u. a.], Tokai Carbon [u. a.]/KOM, Slg. 2004, II-1200, Rn. 408 und implizit durch die Gleichsetzung mit der Pflicht zur Auskunftserteilung auch bereits in Rn. 403. 514 EuGH, Urt. v. 29.06.2006 – Rs. C-301/04 P, SGL Carbon/KOM, Slg. 2006, I-5943, Rn. 44. 515 Im Ergebnis so auch: Thanos, S. 145.

F. Nemo-tenetur-Grundsatz 

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6. Zulässigkeit der fehlenden aufschiebenden Wirkung von Klagen gegen Auskunftsverlangen Schwierigkeiten dürften jedoch entstehen, wenn die Europäische Kommission Antworten auf von ihr gestellte Fragen anders als das betroffene Unternehmen nicht für selbstbelastend hält. Dann muss das die Aussage verweigernde Unternehmen darlegen, wieso es sich seiner Meinung nach um Informationen handelt, die selbstbelastend wirken würden, würde es diese äußern. Dabei muss es die Informationen selbstverständlich nur hinsichtlich ihrer Art beschreiben, nicht aber ihren Inhalt benennen.516 Besteht dennoch weiter Uneinigkeit und ist das Unternehmen aufgrund einer Auskunftsentscheidung weiterhin zur Vorlage verpflichtet, so kann das betroffene Unternehmen hiergegen Klage erheben.517 Solche Klagen haben jedoch keine aufschiebende Wirkung, weswegen die Auskunftsentscheidung vollziehbar bleibt und das Unternehmen zur Aussage verpflichtet bleibt.518 Würde die Klageerhebung aufschiebende Wirkung entfalten, so könnten Unternehmen das Ermittlungsverfahren der Europäischen Kommission gänzlich torpedieren, indem sie gegen sämtliche Auskunftsentscheidungen Klage erheben könnten.519 Es erscheint deshalb notwendig, das Fehlen einer aufschiebenden Wirkung von solchen Anfechtungsklagen zu akzeptieren.520 Ergibt das anschließende Urteil jedoch, dass das Unternehmen sich zurecht auf sein Aussageverweigerungsrecht berufen hat und hat es diese Frage dennoch beantwortet, so dürfte es notwendig sein, diese Aussage als unverwertbar zu deklarieren, da anderenfalls der Schutz durch den nemo-tenetur-Grundsatz leerliefe. Aus diesem Grund erscheint es für Unternehmen hinnehmbar, die fehlende aufschiebende Wirkung von Klagen gegen Auskunftsentscheidung beizubehalten.521 Eine Hinzuziehung des Anhörungsbeauftragten ist bei den hier relevanten Auskunftsentscheidungen im Rahmen seines derzeitigen Mandats nicht denkbar. Denn er ist gem. Art. 4 Abs. 2 lit. b des Mandats des Anhörungsbeauftragten nur in Bezug auf einfache Auskunftsverlangen befugt, „eine mit Gründen versehene Empfehlung zu der Frage aus[zu] sprechen, ob das Auskunftsverweigerungsrecht zur Vermeidung der Selbstbelastung anwendbar ist.“ Für Auskunftsentscheidungen kommt ihm keine entsprechende Funktion zu. Ohnehin dürften aber bei Einhaltung des geforderten höheren Schutzes Meinungsverschiedenheiten in Zukunft deutlich seltener auftreten, da die Abgrenzung zwischen zulässigen und unzulässigen Fragen nicht mehr derart problematisch 516

Vgl. EuGH, Urt. v. 18.05.1982 – Rs. 155/79, AM & S/KOM, Slg. 1982, 1575, Rn. 32. Vgl. EuGH, Urt. v. 18.05.1982 – Rs. 155/79, AM & S/KOM, Slg. 1982, 1575, Rn. 30. 518 EuGH, Urt. v. 18.05.1982 – Rs. 155/79, AM & S/KOM, Slg. 1982, 1575, Rn. 32; Bechtold, EuR 1992, 41, 50. 519 Bechtold, EuR 1992, 41, 50. 520 Bechtold, EuR 1992, 41, 50. 521 Im Ergebnis so auch: EuGH, Urt. v. 18.05.1982 – Rs. 155/79, AM & S/KOM, Slg. 1982, 1575, Rn. 32. 517

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

sein dürfte. Die Europäische Kommission kann dann nur noch allgemeine Fragen stellen, die sie auch an unbeteiligte dritte Unternehmen stellen würde, bspw. zu Marktdaten, Preisentwicklungen und Ähnlichem.

V. Gesamtfazit: Unzulässigkeit jeglicher Aussagepflicht im europäischen Kartellverfahren Die derzeitige Rechtsauffassung der Unionsgerichte zur nur eingeschränkten Geltung des nemo-tenetur-Grundsatzes für Unternehmen im europäischen Kartellrecht kann angesichts der Unschuldsvermutung, aus der sich notwendigerweise ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht ergibt, nicht überzeugen. Stellt die Europäische Kommission im Rahmen einer Auskunftsentscheidung nach Art. 18 Abs. 3 S. 1 VO (EG) 1/2003 Fragen, die selbstbelastende Antworten zur Folge haben, so darf das betroffene Unternehmen nach der hier vertretenen Ansicht nicht verpflichtet werden, diese Fragen zu beantworten. Der Beschränkung des Aussageverweigerungsrecht in Erwägungsgrund 23 der VO (EG) 1/2003 kann keine Wirkung zukommen. Antwortet ein Unternehmen dennoch auf eine solche Frage, so führt dies nicht zur Unverwertbarkeit der Aussage. Denn angesichts der stets anzunehmenden anwaltlichen Beratung in solchen Fällen und angesichts der höheren Versiertheit von Unternehmen im Rechts- und Geschäftsverkehr, bedarf es keiner Belehrung über das Schweigerecht. Somit ist davon auszugehen, dass eine solche, selbstbelastende Aussage Ausdruck der Kooperationsbereitschaft des Unternehmens ist und freiwillig gegeben wurde.

G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle Während die meisten verfahrensgarantierechtlichen Defizite im europäischen Kartellrecht durch einen höheren Garantiestandard schon während des Verwaltungssanktionsverfahrens behoben werden können, kann dem Anspruch auf gerichtliche Entscheidung erst nachgelagert entsprochen werden. Neben der zum Teil eingeschränkten Kontrolldichte sind die Anwendung der Dispositionsmaxime, sowie die fehlende aufschiebende Wirkung von Anfechtungsklagen Bedenken ausgesetzt.

G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle

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I. Anforderungen an den Umfang der nachgelagerten gerichtlichen Kontrolle Gem. Art.  31  VO  (EG)  1/2003 sind die Unionsgerichte522 bei Klagen gegen Bußgeldentscheidungen der Europäischen Kommission zu „unbeschränkter Nachprüfung“ befugt und können die Geldbuße „aufheben, herabsetzen oder erhöhen“. Die Ermächtigung für diese verordnungsrechtliche Bestimmung ist Art. 261 AEUV,523 der selbst von einer „unbeschränkten Ermessensnachprüfung“ spricht. Dadurch werden die Unionsgerichte zu einer deutlich umfassenderen Kontrolle ermächtigt, als dies für normale Nichtigkeitsklagen der Fall ist. Denn gem. Art. 263 Abs. 2 AEUV wäre die Ermessensüberprüfung auf eine Missbrauchskontrolle beschränkt. Aus der Feststellung, was überprüft werden kann, leitet sich die Folgefrage ab, in welcher Tiefe diese gerichtliche Prüfung stattfinden kann bzw. in der Praxis stattfindet und ob dies mit den noch zu bestimmenden Anforderungen aus der EMRK und der EU-GRCh vereinbar ist. Zumindest in der Vergangenheit war die Praxis der Unionsgerichte wegen einer zum Teil eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle nicht unerheblicher Kritik ausgesetzt. 1. Anforderungen zum Prüfungsumfang aus der EMRK Zwar kann aus dem Wortlaut der Gerichtsgarantie von Art. 6 Abs. 1 EMRK kein direkter Schluss hinsichtlich der Kontrolldichte gezogen werden. Zu untersuchen ist jedoch, wie sehr die Kontrolldichte reduziert sein darf, damit es sich noch um eine gerichtliche Entscheidung und nicht um eine gerichtliche Zueigenmachung der vorangegangenen Verwaltungsentscheidung ohne weitere Prüfung handelt. Denn dann würde dem Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht nicht mehr genügt werden. a) Fehlender Maßstab in der Rechtsprechung des EGMR zu Sanktionen gegen natürliche Personen Als Folge der Engel-Rechtsprechung und der daraus resultierenden Zulässigkeit administrativer Sanktionierungen hat der EGMR zum notwendigen Umfang der nachgelagerten gerichtlichen Kontrolle in Verwaltungssanktionsverfahren gegen natürliche Personen wiederholt, jedoch eher rudimentär Stellung genommen. 522 Sowohl Art.  261  AEUV, als auch Art.  31  VO  (EG)  1/2003 verwenden den Terminus „Gerichtshof“, wovon sowohl das EuG und der EuGH umfasst sind: Bechtold/Bosch/Brinker, Art.  31 VO  (EG)  1/2003, Rn.  2; de Bronett, Art.  31 VO  (EG)  1/2003, Rn.  12; Ehricke, in: Streinz, Art. 261 AEUV, Rn. 1; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 261 AEUV, Rn. 2. 523 Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 261 AEUV, Rn. 1.

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Diese Urteile setzen sich damit in der Regel nicht besonders umfangreich aus­ einander, sondern stellen vielmehr fest, dass eine umfassende Überprüfungskompetenz nötig ist, um die Gerichtsgarantie aus Art. 6 Abs. 1 EMRK zu wahren.524 Dafür komme es auf die Befähigung zur Überprüfung sowohl von Tatsachen-, als auch von Rechtsfragen an.525 Tatsächlich ist die Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf natürliche Personen zu einzelfallbezogen und in der Folge nicht einheitlich genug, um eine diesbezüglich klare Aussage treffen zu können.526 b) Etablierung und Konturierung des Erfordernisses einer umfassenden Kontrolle durch das Urteil Menarini In Bezug auf Unternehmen wegweisend für die Frage, welche Anforderungen an die gerichtliche Kontrolle von Verwaltungssanktionsentscheidungen zu stellen sind, ist das Urteil Menarini aus dem Jahr 2011, das sich gegen einen italienischen Kartellbußgeldbescheid und dessen unzureichende Kontrolle durch das zuständige italienische Gericht wendet. Der EGMR hat diesbezüglich festgelegt, wie die gerichtliche Kontrolle beschaffen sein muss, damit die Anforderungen aus Art. 6 EMRK eingehalten sind: „Parmi les caractéristiques d’un organe judiciaire de pleine juridiction figure le pouvoir de réformer en tous points, en fait comme en droit, la décision entreprise, rendue par l’organe inférieur. Il doit notamment avoir compétence pour se pencher sur toutes les questions de fait et de droit pertinentes pour le litige […].“527

Diese Rechtsprechung hat der EGMR im Jahr 2012 mit dem Urteil Seagame bestätigt.528 Da die Formulierungen der Urteile jedoch weiterhin Interpretationsspielraum belassen, ist eine weitere Auseinandersetzung notwendig, getrennt nach der Untersuchung, in welchem Umfang das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Sanktionsnorm überprüft werden muss und anschließend, in welchem 524 EGMR, Urt. v. 10.02.1982 – No. 7299/75 [u. a.], Albert et le Compte/Belgien, Series A vol. 58, § 29; EGMR, Urt. v. 20.05.1998 – No. 21257/93 [u. a.], Gautrain/Frankreich, Reports 1998-III, § 57; EGMR, Urt. v. 22.11.1995 – No. 19178/91, Bryan/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 353-A, § 40; EGMR, Urt. v. 23.07.2002  – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, § 82; Vilsmeier, S. 65 ff.; Wildhaber, Jusletter v. 04.07.2011, Rz. 48 f. 525 EGMR, Urt. v. 23.06.1981 – No. 6878/75 [u. a.], Le Compte, Van Leuven und De Meyere/ Belgien, Series A vol. 43, § 51; EGMR, Urt. v. 23.10.1995 – No. 15523/89, Schmautzer/Österreich, Series A vol. 328-A, § 36; Vilsmeier, S. 66. 526 Waelbroeck/Fosselard, YEL 1994, 111, 131. 527 EGMR, Urt. v. 27.09.2011  – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, § 59, auf Deutsch: „Zu den Eigenschaften eines Gerichts mit umfassender gerichtlicher Kontrollkompetenz gehört die Fähigkeit, die vom zuvor zuständigen Organ getroffene Entscheidungen hinsichtlich aller tatsächlichen und rechtlichen Punkte abändern zu können. Insbesondere muss es die Kompetenz haben, sich mit sämtlichen relevanten Rechts- und Tatsachenfragen auseinanderzusetzen.“ 528 EGMR, Urt. v. 07.06.2012  – No. 4837/06, Segame/Frankreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 55; EGMR, § 139.

G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle

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Umfang überprüft werden muss, ob das als Rechtsfolge angeordnete Ermessen richtig ausgeübt wurde. aa) Verbleiben eines tatbestandlichen Beurteilungsspielraumes trotz Forderung nach „pleine juridiction“ Der EGMR fordert mit den Formulierungen „pleine juridiction“529 und „compétence pour se pencher sur toutes les questions de fait et de droit“530, dass das Gericht in umfassender Art und Weise sowohl Sachfragen, als auch Rechtsfragen prüfen können muss. Diese Formulierung mag nahelegen, dass Beurteilungsspielräume der Verwaltung nicht verbleiben dürfen. Der EGMR stellt in dieser Hinsicht fest, das italienische Gericht habe die sachgerechte Anwendung der Kompetenzen der Wettbewerbsbehörde (un usage approprié de ses pouvoirs) überprüfen können.531 Ebenfalls hätten seiner Kontrolle die technischen Bewertungen (évaluations d’ordre technique) unterlegen.532 Der EGMR schließt daraus, das nationale Gericht habe die Verwaltungsentscheidung mit voller Kognition überprüft und eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK liege daher nicht vor.533 Gleichwohl führt der Richter Albuquerque in seinem abweichendem Votum an, die italienischen Gerichte hätten gar keine Überprüfung mit voller Kognition vornehmen können, weil die damals geltende Gesetzeslage sie dazu nicht befähigt habe.534 Tatsächlich habe deshalb lediglich eine Überprüfung erfolgt, die sich auf das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen bestimmter Fehlerkategorien beschränkt hat: „Dans son arrêt, le TAR affirma que, lorsque ‚un excès de pouvoir est constaté, le juge administratif peut seulement vérifier s’il ressort que la décision attaquée est logique, appropriée, raisonnable, correctement motivée et instruite (logico, congruo, ragionevole, correttamente motivato e istruito), mais ne peut cependant substituer ses propres évaluations sur le fond à celles développées par l’AGCM, seule à pouvoir procéder à de telles évaluations‘.“535

Der Richter Albuquerque legt somit dar, dass seiner Meinung nach die Richtermehrheit die Forderung nach „pleine juridiction“ auch dann für erfüllt hält, wenn 529

Auf Deutsch: „umfassende gerichtlicher Kontrolle“. Auf Deutsch: „die Kompetenz, sich mit sämtlichen relevanten Rechts- und Tatsachenfragen auseinanderzusetzen“. 531 EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, § 63. 532 EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, § 64. 533 EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, § 67. 534 Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, S. 19 ff., §§ 3 ff., insbes. § 5. 535 Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, S.  19 ff., § 6, auf Deutsch: „In seinem Urteil bestätigt der TAR, dass der Verwaltungsrichter – falls eine Kompetenzüberschreitung gerügt wird – nur prüfen kann, ob die angegriffene Entscheidung logisch, angemessen und vernünftig ist, ein legitimes Ziel verfolgt und regelkonform erging. Er kann die Entscheidung der AGRCM aber nicht durch seine eigene Einschätzung ersetzen.“ 530

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

der kontrollierten Behörde weiterhin ein Beurteilungsspielraum verbleibt.536 Diese Einschätzung des Richters Albuquerque wird dadurch bestätigt, dass der italienische Gesetzgeber nach Abschluss des italienischen Gerichtsverfahrens, aber vor Abschluss des Verfahrens vor dem EGMR eine Änderung des Verwaltungsverfahrensrechts vorgenommen hat, wonach nunmehr tatsächlich eine allumfassende Kontrolle von Verwaltungssanktionsentscheidungen möglich ist.537 Offen bleibt gleichwohl, wie umfangreich der Beurteilungsspielraum nach Ansicht der Richtermehrheit sein darf, um keinen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK darzustellen. bb) Zulässigkeit einer deutlich eingeschränkten Ermessensüberprüfung auf Rechtsfolgenseite trotz der Forderung nach „pleine juridiction“ Da im italienischen Kartellrecht als Rechtsfolge auch eine Bußgeldverhängung vorgesehen ist, setzt sich der EGMR neben der Überprüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen auch mit der Frage auseinander, in welchem Maße ein Gericht zur Überprüfung der entsprechenden Ermessensausübung in der Lage sein muss. Hierzu führt der EGMR an, das italienische Gericht habe die Stichhaltigkeit (le bien-fondé), die Verhältnismäßigkeit (proportionnalité) der Verwaltungsentscheidung und die zugrundeliegenden technischen Beurteilungen (évaluations d’ordre technique)  überprüfen können.538 Mit der Überprüfung der Stichhaltigkeit und der zugrundeliegenden technischen Beurteilungen dürfte der EGMR einfordern, dass das Gericht kontrolliert, ob die von der Verwaltung angeführten Ermessensgesichtspunkte tatsächlich vorliegen.539 Dass das Gericht zusätzlich die Kompetenz hatte, die Verhältnismäßigkeit und die Angemessenheit der Sanktion zu überprüfen540 und die Sanktion im konkreten Fall sogar ersetzen konnte,541 erhöht zwar den Schutz, lässt aber außer Acht, dass Ermessensentscheidungen wesentlich von Zweckmäßigkeitsüberlegungen geleitet werden, die sich einer gerichtlichen Kontrolle offensichtlich entziehen.

536

Bueren, EWS 2012, 363, 370. Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, S. 19 ff., § 12. 538 EGMR, Urt. v. 27.09.2011  – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, § 64; Während die Stichhaltigkeit und die Verhältnismäßigkeit auf die Sanktion bezogen sind (des choix de l’AGCM), ist der Hinweis auf die technischen Beurteilungen lediglich mit einem „et“ angeschlossen. Ein zwingender Bezug zur Ermessensüberprüfung besteht nicht. Diese Formulierung befindet sich in einem allgemein formulierten Abschnitt zur Frage, ob das italienische Gericht eine umfassende Kontrolle ausgeübt hat. Dieser Abschnitt unterscheidet jedoch nicht explizit zwischen der Kontrolle von wirtschaftlich komplexen Fragestellungen auf Tatbestandseite und der Überprüfung von Ermessenspielräumen. Es ist daher davon auszugehen, dass sich die Formulierung auf beide Aspekte bezieht. 539 So wohl: Vilsmeier, S. 68 f. 540 EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, § 65. 541 EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, § 65. 537

G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle

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Abermals hält der Richter Albuquerque die Mehrheitsmeinung wohl auch aus diesem Grund mit seiner Vorstellung von „pleine juridiction“ nicht für vereinbar.542 Eine Kontrolle scheitere zwar nicht an der Kontrollbefugnis, jedoch habe das kontrollierende Gericht in weiten Teilen die Argumente der Verwaltungsbehörde, welche die Sanktion verhängt hat, wiederholt.543 Das Gericht habe keine eigenständige neue Prüfung (réexamen) durchgeführt.544 Abermals scheint die vom EGMR als „pleine juridiction“ bezeichnete vorgenommene Prüfung des italienischen Gerichts somit nicht einer tatsächlich gänzlich uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle zu entsprechen. cc) Notwendige Kompetenz zur Abänderung der angeordneten Rechtsfolge Neben „pleine juridiction“ fordert der EGMR auch „le pouvoir de réformer en tous points“545. Zunächst mag unter „réformer“ eine notwendige Kompetenz zur gerichtlichen Abänderung von Verwaltungssanktionsentscheidungen verstanden werden.546 Jedoch übersetzt der EGMR in Urteilen, die auf mehreren Sprachen veröffentlicht sind, das französischen Verb „réformer“, mit dem englischen Verb „to quash“,547 was „für nichtig erklären“ bedeutet, und zitiert dabei das Urteil Menarini.548 Diese Unklarheit zum richtigen Verständnis von „réformer“ bestand sogar schon vor dem Urteil Menarini, da sich der EGMR in Urteilen zur Kontrolle von Verwaltungssanktionen gegen natürliche Personen bereits ebenso mehrdeutig geäußert hat, was zu einer uneinheitlichen Bewertung in der Literatur geführt hat.549 Generalanwalt Bot hat in seinen Schlussanträgen zum Verfahren E.ON das Urteil Menarini dahingehend ausgelegt, dass es auf eine tatsächliche Kompetenz zur Abänderung der zugrunde liegenden Verwaltungssanktionsentscheidung an 542 Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, § 8. 543 Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, § 7, letzter Absatz. 544 Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, § 8. 545 EGMR, Urt. v. 27.09.2011  – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, § 59, auf Deutsch: „hinsichtlich aller tatsächlichen und rechtlichen Punkte abändern“. 546 Bueren, EWS 2012, 363, 368. 547 EGMR, Urt. v. 04.07.2014 – No. 18640/10 [u. a.], Grande Stevens [u. a.]/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 139. 548 EGMR, Urt. v. 04.07.2014 – No. 18640/10 [u. a.], Grande Stevens [u. a.]/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 139. 549 Den unklaren Wortlaut als Problem benennend: Castillo de la Torre, in: ECLA 2009, S. 399; die Notwendigkeit einer neuen, eigenen Entscheidung eher ablehnend: Vilsmeier, S. 67, m. w. N. zur Diskussion in Fn. 297, eine Abänderungskompetenz jedoch später angesichts des Menarini Urteils auf S. 70 für notwendig erachtend.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

komme, ohne dies jedoch weiter zu begründen.550 Die genaue Intention des EGMR ist unklar. 2. Forderungen aus der EU-GRCh Den Forderungen des EGMR an die nachgelagerte gerichtliche Kontrolle von Verwaltungssanktionen hat sich der EuGH mittlerweile angeschlossen. So hat er in den grundlegenden Urteilen Schindler bzw. Telefónica aus dem Jahr 2013 bzw. 2014 deutlich gemacht, dass der Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes „nunmehr in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zum Ausdruck kommt und […] im Unionsrecht Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht“.551 Welche Schlüsse daraus zu ziehen sind, führt der EuGH in den beiden Urteilen aus, indem er das Urteil Menarini fast wortgleich zitiert, dieses als Referenz anführt und es somit offensichtlich für unmittelbar und vor allem uneingeschränkt maßgeblich hält:552 „Weiter gehört nach der Rechtsprechung des EGMR zu den Merkmalen eines solchen Organs die Befugnis, die Entscheidung in allen Punkten, tatsächlichen wie rechtlichen, abzuändern. Das Rechtsprechungsorgan müsse insbesondere befugt sein, sich mit allen für den bei ihm anhängigen Rechtsstreit relevanten Sach- und Rechtsfragen zu befassen.“553

Aufgrund dieser identischen Rechtsprechungsübernahme kommt es jedoch zu der gleichen Inkongruenz zwischen der Forderung nach uneingeschränkter Kontrolle und dem Verbleiben eines Beurteilungsspielraumes und einer nur eingeschränkten Ermessenskontrolle. 3. Stellungnahme zur Menarini Rechtsprechung und Überprüfung des europäischen Kartellrechts Der EGMR hat mit dem Urteil Menarini zur Frage Stellung genommen, wie umfangreich die gerichtliche Kontrolle einer Verwaltungssanktionsentscheidung sein muss und hat das Verbleiben von Beurteilungsspielräumen auf Tatbestandsseite, sowie eine eingeschränkte Ermessensüberprüfung auf Rechtsfolgenseite als

550 Generalanwalt Bot, Schlussanträge v. 21.06.2012 – Rs. C-89/11, E.ON/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 104. 551 So wörtlich: EuGH, Urt. v. 18.07.2013 – Rs. C-501/11 P, Schindler/KOM, Rn. 36; EuGH, Urt. v. 10.07.2014  – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, Rn.  40; sinngemäß auch: EuGH, Urt.  v.  08.12.2011  – Rs. C-386/10 P, Chalkor/KOM, Slg. 2011, I-13085, Rn.  51 f.; EuGH, Urt. v. 08.12.2011 – Rs. C-272/09 P, KME/KOM, Slg. 2011, I-12789, Rn. 92; EuGH, Urt. v. 06.11.2012 – Rs. C-199/11, Otis [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 47. 552 EuGH, Urt. v. 10.07.2014 – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, Rn. 51 ff. 553 Wortgleich: EuGH, Urt. v. 10.07.2014 – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, Rn. 52; nahezu wortgleich: EuGH, Urt. v. 18.07.2013 – Rs. C-501/11 P, Schindler/KOM, Rn. 35.

G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle

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mit der Forderung nach einer gerichtlichen Entscheidung vereinbar angesehen. Gerade die Zulässigkeit von administrativen Beurteilungsspielräumen auf Tatbestandsseite ist jedoch erheblichen Bedenken ausgesetzt. Aufgrund des inhaltlichen Gleichlaufs von EMRK und EU-GRCh kann die nachfolgende Betrachtung einheitlich erfolgen. a) Notwendige Prüfungsdichte hinsichtlich des Vorliegens von Tatbestandsvoraussetzungen Während die Kontrolle durch den EuGH gem. Art. 256 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV i. V. m. Art. 58 Abs. 1 Satzung EuGH alleine auf die Überprüfung von Rechtsfragen beschränkt ist, überprüft nur das EuG sowohl Tatsachenfragen, als auch Rechtsfragen.554 Da das EuG zweifellos ein Gericht im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. Art 47 Abs. 1 EU-GRCh ist, erscheint die oben aufgestellte Forderung nach Kontrolle durch ein Gericht erfüllt zu sein.555 Die maßgeblichen Prüfkriterien für das EuG sind in Art. 263 Abs. 2 AEUV niedergelegt, wonach es unter anderem die Verletzung „wesentlicher Formvorschriften“ und die „Verletzung der Verträge einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm“ überprüft. Bedenken ist die Gerichtspraxis nur hinsichtlich des zweiten Aspekts ausgesetzt, weil es der Europäischen Kommission einen gewissen Beurteilungsspielraum zubilligt bzw. zugebilligt hat, wenn es um die Prüfung geht, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Kartellverstoßes nach Art. 101 Abs. 1 AEUV vorliegen. aa) Unvereinbarkeit eines Beurteilungsspielraums für wirtschaftlich komplexe Fragestellungen mit dem Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht Wird einer normalen Verwaltungsbehörde für die Begründung, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Verwaltungsnorm vorliegen, ein Beurteilungsspielraum eingeräumt, so geschieht dies aufgrund der besonderen fachlichen Expertise der Verwaltung. Gerichte entbehren einer solchen Expertise jedoch oftmals, was auch Ausdruck der Gewaltenteilung zugunsten der Verwaltung ist.556 Auch Verwaltungssanktionsnormen können solche Tatbestandsvoraussetzungen aufweisen. Jedoch könnte es geboten erscheinen, in diesem Fall Beurteilungsspielräume nicht zu gewähren.

554 Vgl. exemplarisch: EuGH, Urt. v. 10.07.2014 – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 84. 555 Darauf hinweisend, dass es ausreicht, dass lediglich das EuG sowohl Tatsachen-, als auch Rechtsfragen prüft: Seitz, EuZW 2014, 774, 776. 556 Bronckers/Vallery, MLex Magazine, 2012, 44, 46; Maurer, § 7, Rn. 31 f.; grundlegend: Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 70 ff.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Zum einen spricht das staatliche Strafmonopol gegen eine nur eingeschränkte gerichtliche Kontrolle. Denn Sanktionsnormen sind in aller Regel nach dem Tatbestand-Rechtsfolge-Modell aufgebaut, wobei die tatbestandliche Feststellung die notwendige Voraussetzung ist, damit die Verwaltungsbehörde ihr als Rechtsfolge zugebilligtes Ermessen und damit ihr Strafmonopol ausüben kann. Um dieses Monopol wahrnehmen zu können, muss die Verwaltungsbehörde – begründet auch aufgrund der Geltung der Unschuldsvermutung – das Vorliegen der entsprechenden tatbestandlichen Voraussetzungen nachweisen.557 Könnte ein Gericht das Vorliegen dieser Voraussetzung nicht allumfassend prüfen, so verbliebe der Verwaltung ein Restspielraum, um über die Tatsache zu entscheiden, dass eine Sanktion im Sinne von Art.  6  EMRK angeordnet wird. Da aber die administrative Sanktionierung der Ausnahmefall ist und die gerichtliche Sanktionierung der Regelfall, muss dieser Ausnahmefall zumindest hinsichtlich der Frage umfassend kontrolliert werden, ob die Behörde sich zurecht entschlossen hat, ihr Rechtsfolgeermessen auszuüben und eine Sanktion zu verhängen. Denn die Entscheidung, eine Sanktion administrativ und nicht gerichtlich zu verhängen, stellt eine Durchbrechung der Gewaltenteilung dar, die der Richter Albuquerque in seinem abweichenden Votum sehr kritisch sieht.558 Zwar widerspricht er nicht der Entkriminalisierung bestimmter Delikte und der daraus folgenden administrativen Sanktionierung.559 Daraus dürfe aber nicht folgen, dass Verwaltungsbehörden das letzte Wort über bestimmte Aspekte von Veraltungsentscheidungen haben.560 Anderenfalls bestehe die immense Gefahr, dass Verwaltungsbehörden die Rolle von Gerichten übernähmen, Strafen zu verhängen und in der Konsequenz individuelle Freiheiten einer allmächtigen Verwaltung unterlägen.561 Dies sei mit dem hehren Grundsatz der Gewaltenteilung nicht zu vereinbaren.562 Aus diesem Grund bedürfe es der Möglichkeit, eine Verwaltungsentscheidung durch ein Gericht – ohne jegliche Einschränkung der Kontrolldichte – überprüfen zu lassen.563 Auch wenn 557

Siehe hierzu die Ausführungen unter Teil 3: E. IV., S. 152 ff. Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, S. 26 f., § 9. 559 Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, S. 26 f., § 9. 560 Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, S. 26 f., § 9. 561 Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, S. 26 f., § 9, im Französischen Original: „L’acceptation d’un ‚pseudo-droit pénal‘ […] aurait deux conséquences inévitables: l’usurpation par les autorités administratives de la prérogative juridictionnelle du pouvoir de punir et la capitulation des libertés individuelles devant une administration publique toute-puissante.“ 562 Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, S. 26 f., § 9. 563 Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, S. 26 f., § 9, im Französischen Original: „Il faut que, à la fin de la procédure de sanction administrative, il y ait un juge envers qui les administrés puissent se tourner pour demander justice, et ce sans aucune limite.“; in Anlehnung an Richter Albuquerque so auch: Bronckers/Vallery, MLex Magazine, 2012, 44, 46. 558

G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle

221

Albuquerque seine Ausführungen nicht nur auf Beurteilungsspielräume bezieht, sondern auch auf die Überprüfung des ausgeübten Sanktionsermessens, können die Ausführungen auch allein in Bezug auf die Frage der Zulässigkeit von Beurteilungsspielräumen in hohem Maße überzeugen. Erachtet man das kontrollierende Gericht aufgrund einer reduzierten Kontrolldichte für nicht zu einer umfassenden Prüfung befugt, so handelt es sich nicht mehr um eine gerichtliche Entscheidung, sondern lediglich um eine gerichtliche Teilentscheidung bzw. gem. Art. 47 EUGRCh um eine Teilkontrolle. Besonders gravierend tritt diese Problematik bei kartellrechtlichen Fragestellungen zutage. Denn zentrale Tatbestandsmerkmale für die Feststellung, ob ein Kartellrechtsverstoß vorliegt, sind Merkmale, die eine besondere wirtschaftliche Expertise benötigen, um ihr Vorliegen zu überprüfen.564 Würde aber der Sanktionsbehörde für derart fundamentale Aspekte ein Beurteilungsermessen eingeräumt, so würde die gerichtliche Kontrolle in nicht unbedeutendem Maße wirkungslos.565 Im Wettbewerbsrecht unterfallen diesem Bereich beispielsweise die Abgrenzung des relevanten Marktes oder die Frage, ob Abreden wettbewerbsbeschränkend wirken, also den zentralen Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 1 AEUV.566 Dazu gehören die korrekte Marktdefinition567 oder auch, ob eine Vereinbarung bzw. eine Verhaltensweise die „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs“ „bezweckt“ oder „bewirkt“. Dies aber scheint mit dem Anspruch auf eine effektive gerichtliche Kontrolle in Übereinstimmung mit Art. 6 Abs. 1 EMRK kaum vereinbar, weshalb im europäischen Kartellrecht ein besonders strenger Maßstab für die Überprüfung gelten muss, ob Tatbestandsvoraussetzungen tatsächlich vorliegen. Die Forderungen aus dem Urteil Menarini sind nach der hier vertretenen Ansicht für die Wahrung der Gerichtsgarantie somit nicht ausreichend. bb) Unvereinbarkeit der derzeitigen Prüfdichte im europäischen Kartellrecht mit dem Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht Beurteilt man die Praxis des europäischen Kartellrechts am oben gebildeten Maßstab, so fällt auf, dass die Unionsgerichte in der Vergangenheit für die Überprü-

564 Bronckers/Vallery, ECJ 2012, 283, 290; mit diversen Beispielen aus der Rechtsprechung der Unionsgerichte zu wirtschaftlich komplexen Fragestellungen: Guski, ZWeR 2012, 243, 252; Stoffel, in: Festgabe 50 Jahre Assistententagung, S. 252, mit Beispielen aus dem Schweizerischen Wettbewerbsrecht, S. 252 f. 565 Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, S. 25, § 8. 566 Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, S. 25, § 8. 567 Vgl. EuG, Urt. v. 17.09.2007 – Rs. T-201/04, Microsoft/KOM, Slg. 2007 II-3601, Rn. 482; Bronckers/Vallery, ECJ 2012, 283, 290.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

fung, ob ein konkreter Sachverhalt die Tatbestandsmerkmale des Art. 101 AEUV erfüllt, eine nur eingeschränkte gerichtliche Kontrolle durchgeführt haben: „Nach ständiger Rechtsprechung nimmt der Gemeinschaftsrichter zwar grundsätzlich eine umfassende Prüfung der Frage vor, ob die Tatbestandsmerkmale der Wettbewerbsregeln erfüllt sind; jedoch muss sich seine Überprüfung der Beurteilung komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten durch die Kommission darauf beschränken, ob die Verfahrensregeln und die Vorschriften über die Begründung eingehalten wurden, ob der Sachverhalt zutreffend festgestellt wurde und ob kein offensichtlicher Beurteilungsfehler […] vorlieg[t].“568

Die gerichtliche Kontrolle der Unionsgerichte kann somit erst dann Wirkung entfalten, wenn ein offensichtlicher Beurteilungsfehler vorliegt: „Ein offenkundiger Beurteilungsfehler liegt erst dann vor, wenn die von der Kommission gezogenen Schlussfolgerungen angesichts der Tatsachen- und Beweislage nicht mehr vertretbar sind, d. h., wenn für sie keine vernünftige Grundlage erkennbar ist.“569

Im Urteil Alrosa geht der EuGH sogar soweit, eine Entscheidung des EuG aufzuheben, weil es „seine eigene Bewertung der komplexen wirtschaftlichen Umstände dargelegt und an die Stelle der Bewertung der Kommission gesetzt“ hat,570 obwohl anscheinend kein offensichtlicher Beurteilungsfehler vorlag. Richtig wäre nach Ansicht des EuGH gewesen, wenn das EuG lediglich die „Rechtmäßigkeit der Bewertung der Kommission“ geprüft hätte.571 Während Gerichte im normalen Verwaltungsrecht in solchen Fällen der Exekutive einen Beurteilungsspielraum zuerkennen und die Korrektur allein offensichtlicher Beurteilungsfehler zulassen, kann dies für das Verwaltungssanktionsrecht, insbesondere für das europäische Kartellrecht angesichts der vorstehenden Ausführungen nicht gelten.572

568 EuG, Urt. v. 17.09.2007 – Rs. T-201/04, Microsoft/KOM, Slg. 2007, II-3601, Rn. 87; so auch bereits: EuGH, Urt. v. 11.07.1985, Rs. 42/84, Remia [u. a.]/KOM, Slg. 1985, 2566, Rn. 34; EuGH, Urt. v. 17.11.1987, verb. Rs. 142/84 [u. a.], BAT u. Reynolds/KOM, Slg. 1987, 4566, Rn. 62; EuG, Urt. v. 30.03.2000, Rs. T-65/96, Kish Glass/KOM, Slg. 2000, II-1888, Rn. 64; EuGH, Urt. v. 07.01.2004 – verb. Rs. C-204/00 P [u. a.], Aalborg Portland [u. a.]/KOM, Slg. 2004, I-403, Rn. 279; EuGH, Urt. v. 06.10.2009 – verb. Rs. C-501/06 P [u. a.], GlaxoSmithKline/KOM, Slg. 2009, I-9291, Rn. 85, 146; EuGH, Urt. v. 29.06.2010, Rs. C-441/07 P, KOM/ Alrosa, Slg. 2010, I-5949, Rn. 67; EuG, Urt. v. 01.07.2010, Rs. T-321/05, AstraZeneca/KOM, Slg. 2010, II-2805, Rn. 32; EuG, Urt. v. 15.12.2010, Rs. T-427/08, CEAHR/KOM, Slg. 2010, II-5865, Rn.  66; EuG, Urt. v. 22.03.2011, Rs. T-419/03, Altstoff Recycling Austria/KOM, Slg. 2011, II-975, Rn. 63, 80. 569 Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 17.09.2009  – Rs. C-441/07  P, KOM/Alrosa, Slg. 2009, I-5953, Rn. 84, m. w. N. 570 EuGH, Urt. v. 29.06.2010, Rs. C-441/07 P, KOM/Alrosa, Slg. 2010, I-5949, Rn. 67. 571 EuGH, Urt. v. 29.06.2010, Rs. C-441/07 P, KOM/Alrosa, Slg. 2010, I-5949, Rn. 67. 572 Andreangeli, S. 185; Bronckers/Vallery, ECJ 2012, 283, 290; Forrester, in: ECLA 2009, S.  451; vgl. Soltész, WuW 2012, 141, 145; Vilsmeier, S.  78; anderer Ansicht: Wils, World Comp. 2010, 5, 28.

G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle

223

In den EuGH-Urteilen KME und Chalkor aus dem Jahr 2011 wird zum Teil eine Rechtsprechungsänderung gesehen, weil die bisherige Prüfungstiefe als nicht ausreichend angesehen wurde und um weitere zu berücksichtigende Aspekte ergänzt wurde.573 So führt der EuGH in beiden Urteilen aus: „Zur Rechtmäßigkeitskontrolle hat der Gerichtshof entschieden, dass, auch wenn der Kommission in Bereichen, in denen komplexe wirtschaftliche Beurteilungen erforderlich sind, in Wirtschaftsfragen ein Beurteilungsspielraum zusteht, dies nicht bedeutet, dass der Unionsrichter eine Kontrolle der Auslegung von Wirtschaftsdaten durch die Kommission unterlassen muss. Der Unionsrichter muss nämlich nicht nur die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz prüfen, sondern auch kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen.“574

Zwar ist die Kontrolle nicht mehr auf offensichtliche Beurteilungsfehler beschränkt, eine echte Änderung der Rechtsprechung stellt dies gleichwohl nicht dar.575 Vielmehr wird in den Urteilen KME und Chalkor der Versuch gesehen, einen  – wenn auch nicht expliziten  – Bezug zur Menarini Rechtsprechung des EGMR herzustellen, ohne jedoch eine echte volle Kontrolldichte anzulegen.576 Denn ausweislich des Urteils wird nunmehr nur zusätzlich kontrolliert, ob „diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen“. Dies stellt jedoch mehr eine Kontrolle dar, ob das notwendige Beweismaß eingehalten wurde, als eine echte tiefergehende materielle Überprüfung der Einschätzung des Gerichts.577 Vermutlich aus diesem Grund wird auch davon gesprochen, die Kontrolldichte sei lediglich „stellenweise verbal strenger“, der EuGH habe aber „Urteile [so auch das KME-Urteil, Anm. d. Verf.] auf Grundlage des herkömmlichen Standards aufrechterhalten“.578 Im Jahr 2014 hat sich der EuGH im Urteil Telefónica erneut grundlegend zur gerichtlichen Kontrolldichte geäußert. Generalanwalt Wathelet hat diesbezüglich ausgeführt, es handele sich um „grundsätzliche, mitunter noch nicht behandelte Fragen […], die insbesondere die Pflicht des Gerichts zu wirklich unbeschränkter 573

Vilsmeier, S. 71 f. EuGH, Urt.  v.  08.12.2011  – Rs. C-272/09 P, KME/KOM, Slg. 2011, I-12789, Rn.  94; EuGH, Urt. v. 08.12.2011 – Rs. C-386/10 P, Chalkor/KOM, Slg. 2011, I-13085, Rn. 54. 575 de Bronett, ZWeR 2012, 157, 188. 576 Bronckers/Vallery, ECJ 2012, 283, 291 f.; anderer Ansicht, jedoch eher feststellend: Nehl, in: Immenga/Körber, Kontrolle kartellrechtlicher Sanktionsentscheidungen, S. 134 f., 138. 577 Anderer Ansicht: Bischke/Schirra, in: MK, Kartellrecht, Band 1, Art. 31 VO (EG) 1/2003, Rn. 5, die in dieser Praxis eine Erfüllung der Vorgaben aus Art. 6 EMRK bzw. Art. 47 EUGRCh sehen. 578 Bueren, EWS 2012, 363, 364, mit Verweis auf das KME Urteil in Fn. 19; vgl. auch allgemeiner: Guski, ZWeR 2012, 243, 253; anderer Ansicht Wils, der vertritt, der Wortlaut der Gerichtsentscheidungen suggeriere fälschlicherweise einen geringeren Prüfstandard, als er tatsächlich ausgeübt werde: Wils, World. Comp. 2014, 5, 16 f. 574

224

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Nachprüfung betreffen.“579 In dieser Hinsicht nimmt der EuGH nunmehr auch explizit auf das Urteil Menarini des EGMR Bezug und stellt fest, dass aufgrund von Art. 6 Abs. 1 EMRK eine unbeschränkte Nachprüfung erforderlich sei.580 Gleichwohl führt er im direkt folgenden Absatz aus, was er unter einer unbeschränkten Nachprüfung versteht, indem er unmittelbar auf das Chalkor Urteil aus dem Jahr 2011 verweist, dessen Prüfstandard dem KME Urteil entspricht.581 Somit stellt auch das Urteil Telefónica keine Rechtsprechungsänderung dar und führt zu keiner höheren Kontrolldichte. Gleichwohl sind die Unionsgerichte durchaus zur Durchführung einer umfassenderen Kontrolle in der Lage.582 Dagegen mag zwar angeführt werden, dass es Bereiche gibt, die ein so hoch spezialisiertes Fachwissen benötigen, dass eine inhaltliche Kontrolle durch Gerichte, besetzt mit juristisch ausgebildeten Richtern, kaum möglich ist.583 Jedoch werden auch in kernstrafrechtlichen Wirtschaftsverfahren gegen Einzelpersonen entsprechende Fragestellungen behandelt. Zudem ist die Einholung von Fachgutachten zu entsprechenden Fragestellungen denkbar,584 wie sie auch in Art. 70 der Verfahrensordnung des Gerichts festgelegt ist. In den 1990er Jahren hatte der EuGH sogar einen Ökonomen zur Überprüfung genau solcher Fragestellungen eingestellt.585 Da eine gerichtliche Kontrolle somit nicht an der zu prüfenden Materie scheitern wird, darf eine Einschränkung der Kontrolldichte nicht aufgrund der Komplexität der Materie erfolgen.586 Um die notwendige uneingeschränkte Prüfung vorzunehmen, hat sich der EuGH im Urteil Ahlström Osakeyhtiö aus dem Jahr 1993 ökonomischer Fachgutachten bedient,587 was selten der Fall ist und in der Literatur bisweilen als positives Beispiel für eine uneingeschränkte Kontrolle hervorgehoben wird.588 Im Urteil stellt der EuGH die Ansicht der Europäische Kommission und die Ansicht der Klägerin gegenüber und vergleicht sie sehr detailliert mit den zwei Fachgutachten, wobei er auch immer wieder auf ergänzende mündliche Aussagen der Fachgutachter verweist.589 Der EuGH kommt so zu dem Schluss, dass bestimmte ökonomische Einschätzungen der Europäischen Kommission nicht richtig sind und

579

Generalanwalt Wathelet, Schlussanträge v. 26.09.2013 – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, Rn. 8; so auch: Seitz, EuZW 2014, 774. 580 EuGH, Urt. v. 10.07.2014 – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, Rn. 51 f. 581 EuGH, Urt. v. 10.07.2014 – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, Rn. 54. 582 Forrester, in: ECLA 2009, S. 425, 433 ff. 583 Vgl. Castillo de la Torre, in: ECLA 2009, S. 402. 584 Jaeger, JECLAP 2011, 295, 311. 585 Jaeger, JECLAP 2011, 295, 311. 586 Bronckers/Vallery, ECJ 2012, 283, 295. 587 EuGH, Urt. v. 31.03.1993 – verb. Rs. C-89/85 [u. a.], Ahlström Osakeyhtiö [u. a.]/KOM, Slg. 1993, I-1575, Rn. 31 f. 588 Forrester, in: ECLA 2009, S. 433 ff.; Jaeger, JECLAP 2011, 295, 311, insbes. Fn. 137. 589 EuGH, Urt. v. 31.03.1993 – verb. Rs. C-89/85 [u. a.], Ahlström Osakeyhtiö [u. a.]/KOM, Slg. 1993, I-1575, Rn. 75 ff.

G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle

225

hebt die Entscheidung deshalb zum Teil auf.590 Eine uneingeschränkte Kontrolle der tatbestandlichen Voraussetzungen von Sanktionsentscheidungen scheitert somit auch nicht an der praktischen Umsetzbarkeit.591 Gleichwohl wird dieser Forderung derzeit in der Praxis nicht uneingeschränkt entsprochen. b) Notwendiger Kontrollumfang von Ermessensentscheidungen auf Rechtsfolgenseite Darüberhinaus ist die Praxis der Unionsgerichte angesichts einer deutlich eingeschränkten Ermessenskontrolle auf Rechtsfolgenseite Bedenken ausgesetzt. Zwar hat das EuG über eine reine Ermessensfehlerkontrolle gem. Art. 263 Abs. 2 AEUV hinaus die Kompetenz, gem. Art. 31 VO (EG) 1/2003 i. V. m. Art. 261 AEUV eine „unbeschränkte Ermessensnachprüfung“ vorzunehmen. Ob die Unionsgerichte jedoch auch tatsächlich von dieser Befugnis Gebrauch machen, ist Zweifeln ausgesetzt. Zunächst ist jedoch zu untersuchen, ob eine unbeschränkte Ermessensprüfung verfahrensgarantierechtlich überhaupt geboten ist. aa) Vereinbarkeit einer reinen Ermessensfehlerkontrolle mit dem Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht Der Prüfumfang, den der EGMR im Urteil Menarini fordert, unterscheidet sich von einer gerichtlichen Kontrolle normaler Verwaltungsentscheidungen nicht, was Richter Albuquerque umfassend kritisiert. Gleichwohl kann seine Forderung, Verwaltungssanktionsentscheidungen umfassend, also auch in Bezug auf Zweckmäßigkeitsüberlegungen zu überprüfen, im Ergebnis nicht gänzlich überzeugen. Einig scheinen sich Albuquerque und die Richtermehrheit zu sein, dass die von der Verwaltungssanktionsbehörde angeführten Gründe für eine bestimmte Ermessensausübung hinsichtlich ihres tatsächlichen Vorliegens überprüfbar sein müssen.592 Vermutlich hält die Richtermehrheit auch hier bei besonders komplexen Fragen einen Beurteilungsspielraum der Behörde für zulässig, was jedoch angesichts der vorstehenden Ausführungen nicht überzeugen kann.593 Denn die Höhe eines Bußgeldes bemisst sich insbesondere im Kartellrecht anhand diverser wirt-

590 EuGH, Urt. v. 31.03.1993 – verb. Rs. C-89/85 [u. a.], Ahlström Osakeyhtiö [u. a.]/KOM, Slg. 1993, I-1575, Rn. 126 f. 591 Bronckers/Vallery, ECJ 2012, 283, 294 ff. 592 EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, §§ 14, 64; Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011  – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, § 8. 593 Vgl. hierzu die Ausführungen zur Unzulässigkeit von administrativen Beurteilungsspielräumen unter Teil 3: G. I. 3. a) aa), S. 219 ff.

226

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

schaftlich sehr komplexer Faktoren.594 Somit würde sich eine Reduktion der gerichtlichen Kontrolldichte nicht nur auf einzelne wenige Abwägungsfaktoren auswirken, sondern große Teile der ermessensleitenden Faktoren betreffen. Da diese Faktoren keine zwangsläufige Rechtsfolge im Sinne eines Konditionalprogramms nach sich ziehen, sondern vielmehr lediglich im Rahmen einer Gesamtabwägung zu berücksichtigen sind, können sich Unzulänglichkeiten noch gravierender auswirken. Somit müssen die für die Sanktionsbestimmung herangezogenen Ermessensfaktoren hinsichtlich ihres tatsächlichen Vorliegens gerichtlich voll überprüfbar sein. Ein solch strenger Maßstab kann aber für den Großteil der weiteren Kontrolle nicht gelten. Würde man der Verwaltungsbehörde nämlich keinen Spielraum bei der Entscheidung belassen, welche der voll überprüfbaren Faktoren in welchem Maße zu berücksichtigen sind, so würde einer der Gründe einer administrativen anstatt einer gerichtlichen Sanktionierung zunichte gemacht werden, nämlich der Behörde in einem klar begrenzten Rahmen die letztverbindliche Möglichkeit zur Steuerung des Wettbewerbs durch Sanktionen zu geben. Zudem würde eine umfassende gerichtliche Kontrolle kein höheres Schutzniveau im Sinne der EMRK bzw. der EU-GRCh ermöglichen. Denn bei der nunmehr in Rede stehenden Prüfung geht es ausdrücklich nicht darum zu prüfen, ob bestimmte Abwägungsfaktoren vorliegen, sondern ob die Verwaltungssanktionsbehörde diese heranziehen durfte, und ob ihnen das richtige Gewicht zugekommen ist. Dies bestimmt sich aber vor allem danach, welchen Zweck eine Sanktion verfolgen soll. Je nach Zwecksetzung sind diverse Sanktionshöhen rechtlich vertretbar. Die Zwecksetzung ist somit weniger eine rechtliche Bewertung, als die Formulierung einer allgemeinen wirtschaftspolitischen Meinung. Bei einer Meinung kann sich eine Kontrolle aber lediglich auf ihre Vertretbarkeit beziehen, wobei die für eine Vertretbarkeitskontrolle maßgeblichen Faktoren noch zu bestimmen sind. Etwas anderes gilt nur, wenn man die Meinung vertritt, aus der Gewaltenteilung sowie aus Art. 6 EMRK und Art. 47 EU-GRCh ergebe sich, ein kontrollierender Richter müsse die Meinung der Verwaltung durch eine eigene Meinung auch dann ersetzen können, wenn er die betreffende Meinung lediglich nicht teilt. Eine solche Kompetenz würde aber nicht zu höherer Rechtssicherheit führen. Denn um eine solche Zwecksetzung zu verfolgen, müsste ein Richter grundlegende Richtungsentscheidungen treffen. Und dies würde eine wirtschaftspolitische Willensbildung beim zuständigen Richter erfordern, zu der er mangels entsprechender Expertise nicht uneingeschränkt in der Lage sein dürfte. Die Einholung eines Gutachtens

594 Etwas anderes gilt für die Faktoren der Bußgeldleitlinien der Europäischen Kommission. Diese sind derart ausdifferenziert, dass die einzelnen Faktoren für sich genommen keine komplexen Wertungen erfordern. Der Vorgang der Ausdifferenzierung hingegen ist wirtschaftlich äußerst komplex. Vgl. zur geringen Komplexität: Generalanwalt Wathelet, Schlussanträge v. 26.09.2013 – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 123.

G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle

227

hingegen kann in diesem Fall Vorschläge machen, welche Zwecke verfolgt werden sollten. Ob aber ein unabhängiger Gutachter oder die Europäische Kommission eine letztverbindliche Entscheidung treffen, dürfte bezogen auf die Rechtssicherheit somit keinen Unterschied machen. Es erscheint somit durchaus überzeugend, die Entscheidung der Europäischen Kommission in Kartellverfahren für Zweckmäßigkeitsfragen wie ein Sachverständigengutachten heranzuziehen.595 Zudem ist zu bedenken, dass auch ein Berufungsgericht in einem kernstrafrechtlichen Verfahren nicht jegliche Aspekte einer Strafe kontrollieren könnte. Seine Kontrolle würde sich darauf beschränken, ob die vorherige Instanz aus dem Sachverhalt rechtsfehlerhafte Schlüsse für die Art und das Maß der Sanktion gezogen hat. Die Situation unterscheidet sich somit von Verwaltungssanktionsverfahren kaum. Allenfalls kann angeführt werden, dass eine Verwaltungsbehörde weniger Garant für eine ausgewogene Entscheidung ist, weil sie sowohl eine bestimmte Bußgeldpolitik verfolgt, als auch gleichzeitig über die Bußgeldverhängung entscheidet. In Teilen kann dem jedoch durch die vorstehend geforderte Trennung von untersuchender und anklagender Entität einerseits und entscheidender Entität andererseits abgeholfen werden. Billigt man der Verwaltungssanktionsbehörde also einen gerichtlich nur eingeschränkt kontrollierbaren Entscheidungsspielraum zu, so wären die von der Verwaltung für ihre Begründung herangezogenen Faktoren  – in Anlehnung an die deutsche Ermessensfehlerlehre –596 nur dann gerichtlich zu beanstanden, wenn es sich um sachfremde Argumente handelt, die für die Verwirklichung des Telos der Sanktionsnorm nicht relevant sind.597 Daneben wäre gerichtlich kontrollierbar, ob die Behörde zwingend zu berücksichtigende Abwägungsfaktoren, insbesondere entlastende Umstände, in ihre Argumentation einbezogen hat. Zuletzt wäre zu untersuchen, ob eine unvertretbare Fehlgewichtung der Faktoren zueinander stattgefunden hat, was wieder stark am Telos der Sanktionsnorm orientiert erfolgen muss. Hinzu kommt, dass schon aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit sämtliche Sanktionen einer umfassenden Verhältnismäßigkeitskontrolle unterliegen müssen, wie der EGMR auch im Urteil Menarini fordert.598 Dies schließt die Verhängung unverhältnismäßiger Sanktionen aus, was zur Folge hat, dass sich Sanktionen nur noch in einem begrenzten Korridor bewegen können, innerhalb dessen die vorgebrachten Argumente hinsichtlich ihres tatsächlichen Vorliegens uneingeschränkt und hinsichtlich ihrer Validität eingeschränkt kontrollierbar sind.

595

Castillo de la Torre, in: ECLA 2009, S. 402. In der Terminologie des deutschen Verwaltungsrechts wären der Nichtgebrauch, der Fehlgebrauch, sowie die Überschreitung des Ermessens zu überprüfen: Hoffmann-Riem, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, § 10, Rn. 88; Maurer, § 7, Rn. 19 ff.; grundlegend und mit Bezügen zum französischen Verwaltungsrecht: Schmidt, Unbeschränkte Ermessensnachprüfung. 597 Allgemein zur teleologischen Orientierung der Ermessensausübung: Schoch, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band III, § 50, Rn. 269. 598 EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, § 64. 596

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Eine Durchbrechung der Gewaltenteilung kann auch angesichts der vorstehenden Ausführungen zwar nicht gänzlich abgelehnt werden. Gleichwohl ist eine Heilung dieses Verfahrensdefizits durch eine nachgelagerte gerichtliche Kontrolle ausgeschlossen, da die eigentlich zuständige Gewalt zur Wahrnehmung ihrer Kompetenz nicht uneingeschränkt in der Lage ist. Außerdem wird der Forderung nach uneingeschränkter gerichtlicher Kontrolle durch die volle Kontrolle, ob die von der Behörde angeführten Abwägungsfaktoren tatsächlich tatbestandlich vorliegen und die zweckorientierte Argumentation vertretbar ist, bereits in höherem Maße entsprochen, als dies aufgrund des Urteils Menarini eigentlich notwendig ist. Im Ergebnis erscheint es somit nicht geboten, dass Gerichte auch Fragen der Zweckmäßigkeit umfassend kontrollieren können müssen.599 bb) Vereinbarkeit der derzeitigen Ermessenskontrolle gem. Art. 261 AEUV i. V. m. Art. 31 VO (EG) 1/2003 Die für die Ermessensnachprüfung maßgeblichen Vorschriften Art. 261 AEUV und Art. 31 VO (EG) 1/2003 ermöglichen eine so umfassende gerichtliche Kontrolle, dass sie sogar die Forderungen von Richter Albuquerque aus seinem Sondervotum zum Urteil Menarini erfüllen.600 Sie stellen somit eine überschießende Umsetzung der vorstehenden Forderungen dar, wonach eine Ermessensfehler­ kontrolle ausreichend ist. Ob die Unionsgerichte jedoch überhaupt die geforderte Ermessensfehlerkontrolle vornehmen, bedarf einer eingehenden Untersuchung. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Bußgeldleitlinien der Europäischen Kommission, wie der EuGH im Urteil Chalkor aus dem Jahr 2011 festgestellt hat: „Um für Transparenz zu sorgen, hat die Kommission die Leitlinien erlassen, in denen sie darlegt, inwieweit sie die einzelnen Umstände der Zuwiderhandlung berücksichtigt und welche Konsequenzen sich daraus für die Höhe der Geldbuße ergeben. Die Leitlinien – nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Verhaltensnorm, die einen Hinweis auf die zu befolgende Verwaltungspraxis enthält und von der die Verwaltung im Einzelfall nicht ohne Angabe von Gründen, die mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbar sind, abweichen kann – beschreiben lediglich die Vorgehensweise der Kommission bei der Prüfung der Zuwiderhandlung und die Kriterien, zu deren Berücksichtigung sie sich verpflichtet, wenn sie die Höhe der Geldbuße festsetzt.“601

Diese Bindung der Europäischen Kommission an die Bußgeldleitlinien haben die Unionsgerichte in früheren sowie nachfolgenden Urteilen bestätigt und mit

599 Anderer Ansicht: Bronckers/Vallery, ECJ 2012, 283, 295; Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 61. 600 Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, § 8, letzter Absatz; Bueren, EWS 2012, 363, 370. 601 EuGH, Urt. v. 08.12.2011 – Rs. C-386/10 P, Chalkor/KOM, Slg. 2011, I-13085, Rn. 59 f.

G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle

229

dem Gleichbehandlungsgrundsatz begründet.602 Bei der Überprüfung, ob die derart begründete Sanktion rechtmäßig ist, sind die Unionsgerichte zwar nicht an die von der Europäischen Kommission aufgestellten Bußgeldleitlinien gebunden.603 Gleichwohl prüfen die Unionsgerichte in der Regel lediglich, ob die Europäische Kommission ihre Sanktion in Übereinstimmung mit den Bußgeldleitlinien erlassen hat.604 In diesem Umstand wird oftmals eine nicht ausreichende gerichtliche Kontrolle gesehen,605 was nicht gänzlich überzeugen kann.606 Denn bei einer reinen Ermessensfehlerüberprüfung brauchen die Leitlinien, die im Sinne einer Selbstbindung der Verwaltung ein vorweggenommenes Ermessen darstellen, nur auf Fehler hin überprüft zu werden, und ob im konkreten Fall die angeführten Ermessensfaktoren auch tatsächlich vorliegen. Maßgeblich für die Kontrolle anhand der Leitlinien ist somit, dass diese sämtliche zwingend zu berücksichtigende Faktoren abbilden, die berücksichtigten Faktoren nicht sachfremd sind und schließlich nicht in unvertretbarer Weise gewichtet werden. Um zu bestimmen, ob die Bußgeldleitlinien alle zu berücksichtigenden Faktoren beinhalten, kann der Maßstab herangezogen werden, den die Unionsgerichte selbst gebildet haben und den der EuGH im Urteil Chalkor, das bereits grundlegende Ausführungen zur Zulässigkeit von Beurteilungsspielräumen enthält, im Jahr 2011 bestätigt hat: „Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Festsetzung der Höhe der Geldbußen die Dauer der Zuwiderhandlungen sowie sämtliche Faktoren zu berücksichtigen, die für die Beurteilung der Schwere dieser Zuwiderhandlungen eine Rolle spielen, wie das Verhalten jedes einzelnen Unternehmens, die Rolle, die jedes Unternehmen bei der Abstimmung der Verhaltensweisen gespielt hat, der Gewinn, den die Unternehmen aus diesen Verhaltens-

602

EuGH, Urt. v. 28.06.2005 – verb. Rs. 189/02 P [u. a.], Dansk Rørindustri [u. a.]/KOM, Slg. 2005, I-5425, Rn. 209 f.; EuGH, Urt. v. 18.05.2006, Rs. C-397/03 P, Archer Daniels Midland/ KOM, Slg. 2006, I-4475, Rn. 91; EuG, Urt. v. 14.05.2014 – Rs. T-406/09, Donau Chemie/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 74. 603 EuGH, Urt. v. 18.09.2003 – Rs. C-338/00 P, Volkswagen/KOM, Slg. 2003, I-9219, Rn.147; EuG, Urt. v. 21.10.2003 – Rs. T-368/00, General Motors und Opel/KOM, Slg. 2003, II-4495, Rn. 188; EuG, Urt. v. 27.07.2005 – verb. Rs. T-49/02 [u. a.], Brasserie Nationale [u. a.]/KOM, Slg. 2005, II-3038, Rn. 169; EuG, Urt. v. 12.12.2007 – verb. Rs. T-101/05 [u. a.], BASF u. UCB/ KOM, Slg.  2007, II-4959, Rn.  213; Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge v. 15.12.2005  – Rs. C-167/04  P, JCB Service/KOM, Slg.  2006, I-8939, Rn.  141; Generalanwalt Mengozzi, Schlussanträge v. 06.11.2008  – Rs. C-511/06  P, Archer Daniels Midland/KOM, Slg.  2009, I-5843, Rn.  175; Kerse/Khan, EC Antitrust Procedure, Rn.  8–072, Fn.  161; Schwarze/Weitbrecht, § 10, Rn. 12; Wils, World Comp. 2010, 5, 24. 604 EuG, Urt. v. 12.07.2001 – verb. Rs. T-202/98 [u.a], Tate & Lyle [u. a.]/KOM, Slg. 2001, II2035, Rn. 157–165; EuG, Urt. v. 08.07.2004 – Rs. T-48/00, Corus/KOM, Slg. 2004, II-2331, Rn. 220; Bechtold, in: Schwarze, Rechtsschutz und Wettbewerb, S. 103; Bueren, EWS 2012, 363, 364, in Fn. 15; de Bronett, ZWeR 2012, 157, 190; Kerse/Khan, EC Antitrust Procedure, Rn. 8–072; vgl. Schwarze, WuW 2009, 6, 10. 605 Vgl. Bechtold, in: Schwarze, Rechtsschutz und Wettbewerb, S.  103; de Bronett, ZWeR 2012, 157, 190 ff. 606 Vgl. Wils, World Comp. 2010, 5, 26.

230

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

weisen ziehen konnten, ihre Größe und der Wert der betroffenen Waren sowie die Gefahr, die derartige Zuwiderhandlungen für die Ziele der Europäischen Gemeinschaft bedeuten. Ferner sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs objektive Gesichtspunkte wie Inhalt und Dauer der wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen, deren Zahl und Intensität, der Umfang des betroffenen Marktes und die Schädigung der öffentlichen Wirtschaftsordnung einzubeziehen. Bei der Analyse sind auch die relative Bedeutung und der Marktanteil der verantwortlichen Unternehmen sowie ein etwaiger Wiederholungsfall zu berücksichtigen.“607

Mit dem Urteil greift der EuGH eine ständige Rechtsprechung auf.608 Diese Kriterien wurden jedoch dahingehend kritisiert, dass sie derart uferlos seien, dass die Europäische Kommission innerhalb des so vorgegebenen gerichtlichen Rahmens jegliche Sanktion vertretbar begründen könne,609 was zwar stimmt, jedoch nicht im Rahmen des Anspruchs auf gerichtliche Kontrolle kritisiert werden kann. Denn die Vielzahl an Kriterien liegt im Umstand begründet, dass die Sanktionsvorschrift Art. 23 Abs. 2 lit. a VO (EG) 1/2003 mit einem Bußgeldrahmen von 10 % des Vorjahresgesamtumsatzes einen sehr weiten Sanktionsrahmen darstellt und deshalb die Berücksichtigung einer Vielzahl an Faktoren erforderlich ist, um eine gerechte Sanktion bilden zu können. Doch dies ist allenfalls als Frage des Bestimmtheitsgebots gem. Art. 7 Abs. 1 EMRK oder Art. 49 Abs. 1 EU-GRCh zu prüfen. Die Bußgeldleitlinien scheinen keine Faktoren unbeachtet gelassen zu haben, welche die Unionsgerichte für wesentlich erachten. Würde sich die Europäische Kommission außerdem keine Leitlinien auferlegen, sondern in jedem Fall neue Kriterien heranziehen, so sähe sie sich schnell dem Grundsatz der Ungleichbehandlung ausgesetzt.610 Und dann müssten Gerichte auch bei Nichtexistenz von Leitlinien auf eine homogene Bewertung der verschiedenen Sachverhalte achten. Tatsächlich schaffen die Leitlinien aus diesem Grund für Unternehmen ein höheres Maß an Rechtssicherheit. Sie stellen eine Selbstbindung der Verwaltung im Sinne eines vorweggenommenen Ermessens dar. Hinsichtlich der Frage, ob die berücksichtigten Faktoren zu Recht herangezogen wurden und die in den Bußgeldleitlinien angelegte Gewichtung dieser Faktoren rechtmäßig war, haben die Unionsgerichte in der Vergangenheit deren Vereinbarkeit zumindest implizit bezüglich einzelner Aspekte gebilligt und sich dabei zum Teil ausführlich mit einzelnen Kriterien der Bußgeldleitlinien auseinander­

607

EuGH, Urt. v. 08.12.2011 – Rs. C-386/10 P, Chalkor/KOM, Slg. 2011, I-13085, Rn. 56 f. EuGH, Urt. v. 07.06.1983 – verb. Rs. 100/80 [u. a.], Musique Diffusion Française [u. a.]/ KOM, Slg. 1983, 1831, Rn. 129 f.; EuG, Urt. v. 21.10.2003 – Rs. T-368/00, General Motors und Opel/KOM, Slg. 2003, II-4495, Rn. 189 f.; EuGH, Urt. v. 07.01.2004 – verb. Rs. C-204/00 P [u. a.], Aalborg Portland [u. a.]/KOM, Slg. 2004, I-403, Rn. 91; EuGH, Urt. v. 28.06.2005 – verb. Rs. 189/02 P [u. a.], Dansk Rørindustri [u. a.]/KOM, Slg. 2005, I-5425, Rn. 242 f.; EuG, Urt. v. 27.07.2005 – verb. Rs. T-49/02 [u. a.], Brasserie Nationale [u. a.]/KOM, Slg. 2005, II-3038, Rn. 170; EuGH, Urt. v. 03.09.2005 – Rs. C-534/07 P, Prym/KOM, Slg. 2009, I-7415, Rn. 96. 609 de Bronett, ZWeR 2012, 157, 192. 610 Schwarze/Weitbrecht, § 10, Rn. 12, in Fn. 712. 608

G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle

231

gesetzt.611 Aufgrund der Vielzahl an Faktoren, die auch aufgrund der unionsgerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich berücksichtigungsfähig sind, ist eine detaillierte Überprüfung der Bußgeldleitlinien jedoch kaum möglich und angesichts des der Europäischen Kommission zugebilligten Ermessens auch nicht notwendig. Dass sich ermessensfehlerhafte Faktoren in den Bußgeldleitlinien befänden oder den Faktoren ein unvertretbares Gewicht zuerkannt wird, wird auch in der Literatur nicht angeführt. Es ist daher von einer allgemeinen Rechtmäßigkeit der Bußgeldleitlinien auszugehen.612 Im Urteil Chalkor aus dem Jahr 2011 scheint der EuGH einen nunmehr höheren Prüfstandard zu etablieren, bzw. festzustellen, dass ein solcher nunmehr gilt: „Im Übrigen ist es Sache des Unionsrichters, die ihm obliegende Rechtmäßigkeitskontrolle auf der Grundlage der vom Kläger zur Stützung seiner Klagegründe vorgelegten Beweise vorzunehmen. Bei dieser Kontrolle kann der Richter weder hinsichtlich der Wahl der Gesichtspunkte, die bei der Anwendung der in den Leitlinien genannten Kriterien berücksichtigt wurden, noch hinsichtlich ihrer Bewertung auf den Ermessensspielraum der Kommission verweisen, um auf eine gründliche rechtliche wie tatsächliche Kontrolle zu verzichten.“613

Zwar hat der EuGH diese Einschätzung in späteren Urteilen bestätigt.614 Wie im Rahmen der Frage, ob der Europäischen Kommission ein Beurteilungsermessen zusteht, muss jedoch auch bezüglich der Kontrolle des ausgeübten Ermessens festgestellt werden, dass der Prüfmaßstab lediglich verbal strenger zu sein scheint.615 Denn auch wenn sich der EuGH mit verschiedenen Rügen von Chalkor im gleichnamigen Urteil tiefergehend auseinandersetzt,616 so verweist er im selben Zusammenhang auf den weiter bestehenden Ermessenspielraum der Europäischen Kommission, der durch die Bußgeldleitlinien Konkretisierung erfahren hat: „Die Vielzahl der zu berücksichtigenden Faktoren lässt der Kommission zwangsläufig verschiedene Möglichkeiten bei der Beurteilung, Gewichtung und Bewertung dieser Faktoren, um die Zuwiderhandlung angemessen zu ahnden. Sie hat jedoch weiterhin bestimmte Verpflichtungen. Wie bereits […] ausgeführt, wird die Dauer einer Zuwiderhandlung als solche vom Unionsgesetzgeber als bei der Festsetzung des Betrags der Geldbußen zu berücksichtigender Faktor erwähnt und kann der Einfluss dieses Faktors bei der Berechnung der Geldbuße in Ermangelung eines vom Gesetzgeber vorgegebenen Kriteriums durch die Leitlinien konkretisiert 611 Sich mit der Methode der Umsatzberechnung und der Gewichtung dieses Faktors auseinandersetzend: EuG, Urt. v. 09.07.2003  – Rs. T-224/00, Archer Daniels Midland/KOM, Slg. 2003, II-2611, Rn. 58 ff.; sich ausführlich mit der Methode zur Berechnung des Grundbetrages nach den Bußgeldleitlinien auseinandersetzend: EuG, Urt. v. 30.09.2003  – verb. Rs. T-191/98 [u. a.], Atlantic Container Line [u. a.]/KOM, Slg. 2003, II-3298, Rn. 1515 ff. 612 Schwarze/Weitbrecht, § 10, Rn. 12. 613 EuGH, Urt. v. 08.12.2011 – Rs. C-386/10 P, Chalkor/KOM, Slg. 2011, I-13085, Rn. 62. 614 EuGH, Urt. v. 18.07.2013  – Rs. C-501/11 P, Schindler/KOM, Rn.  37; EuGH, Urt. v. 10.07.2014 – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, Rn. 56. 615 Anderer Ansicht: Wils, World Comp. 2010, 5, 25. 616 EuGH, Urt. v. 08.12.2011 – Rs. C-386/10 P, Chalkor/KOM, Slg. 2011, I-13085, Rn. 69 ff.

232

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

werden. Das Gericht hat somit bei der Kontrolle der Konformität der von der Kommission vorgenommenen Berechnung mit den Leitlinien keinen Fehler begangen.“617

Es kann somit nicht von einem einheitlich höheren Prüfstandard im Rahmen der Ermessenskontrolle ausgegangen werden.618 Gleichwohl genügt der schon vor dem Urteil Chalkor praktizierte Standard, um die vorstehend geforderte reine Fehlerkontrolle durchzuführen. Daneben ist für die Ermessensfehlerkontrolle die Überprüfung von entscheidender Bedeutung, ob die von der Europäischen Kommission angeführten, ermessensleitenden Faktoren tatsächlich vorliegen. Offensichtlich gewähren die Gerichte der Europäischen Kommission Spielräume nur hinsichtlich der zwecksetzenden Ermessensausübung, nicht aber bei der Frage, ob die einzelnen von der Europäischen Kommission angeführten Faktoren für die Ermessensausübung tatsächlich vorliegen.619 Dies dürfte alleine deswegen der Fall sein, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen der Bußgeldleitlinien einen so geringen Komplexitätsgrad aufweisen, dass es keines besonderen Fachwissens bedarf, um ihr Vorliegen überprüfen zu können.620 Abgerundet wird die gerichtliche Kontrolle in der Praxis durch eine umfangreiche Verhältnismäßigkeits- bzw. Angemessenheitsprüfung, wie sie auch nach der vorstehend vertretenen Ansicht erforderlich ist und bereits in Art. 23 Abs. 3 VO (EG) 1/2003 angelegt ist,621 sofern dieser Umstand von den Unternehmen angefochten wird. Bei dieser Prüfung sind die Unionsgerichte nicht an die zugrunde

617

EuGH, Urt. v. 08.12.2011 – Rs. C-386/10 P, Chalkor/KOM, Slg. 2011, I-13085, Rn. 76 f. Auf den Umstand hinweisend, dass das EuG auch nach Chalkor erneut alleine auf die Bußgeldleitlinien abgestellt hat: Generalanwalt Wathelet, Schlussanträge v. 26.09.2013 – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 142. 619 So setzt sich der EuGH bspw. im Urteil Pilkington aus dem Jahr 2016 ausführlich mit der Frage auseinander, ob die „Auslegung des Begriffs ‚Wert der … verkauften Waren oder Dienstleistungen, die mit dem Verstoß in einem unmittelbaren oder mittelbaren  … Zusammenhang stehen‘ im Sinne von Ziff. 13 der Leitlinien von 2006“ rechtsfehlerhaft war und gewährt der Europäischen Kommission dabei offensichtlich keinen Beurteilungsspielraum, EuGH, Urt. v. 07.09.2016 – Rs. C-101/15 P, Pilkington/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 11 ff.; vgl. auch Schmidt, Unbeschränkte Ermessensnachprüfung, S. 162. 620 Vgl. Generalanwalt Wathelet, Schlussanträge v. 26.09.2013 – Rs. C-295/12 P, Telefónica/ KOM, Rn. 123. 621 Nach Art. 23 Abs. 3 VO (EG) 1/2003 sind „bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen.“; EuG, Urt. v. 12.12.1991  – Rs. T-30/96, Hilti/KOM, Slg.  1991, II-1441, Rn.  134 ff.; EuG, Urt. v. 21.10.1997 – Rs. T-229/94, Deutsche Bahn/KOM, Slg. 1997, II-1695, Rn. 127; EuG, Urt. v. 21.10.2003 – Rs. T-368/00, General Motors und Opel/KOM, Slg. 2003, II-4495, Rn. 189; EuG, Urt. v. 29.03.2012 – Rs. T-336/07, Telefònica/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 422; in Bezug auf den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung, jedoch wegen der gleichen normativen Grundlagen für die Bebußung gänzlich übertragbar: EuG, Urt. v. 27.07.2005 – verb. Rs. T-49/02 [u. a.], Brasserie Nationale [u. a.]/KOM, Slg. 2005, II-3038, Rn. 170; Schmidt, Unbeschränkte Ermessensnachprüfung, S. 158. 618

G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle

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liegende Entscheidung gebunden.622 Defizite sind in der Praxis nicht ersichtlich. Diese Prüfung führt dazu, dass die gerichtliche Ermessenskontrolle somit „nicht auf die Konformität mit den Leitlinien beschränkt ist“, sondern auch die „Angemessenheit der Sanktion selbst geprüft“ wird.623 Die Unionsgerichte erfüllen somit alle Anforderungen einer umfassenden Ermessensfehlerkontrolle und nutzen ihre Befugnisse aus den Art. 261 AEUV und Art. 31 VO (EG) 1/2003 in der vorstehend geforderten Art und Weise. Die derzeitige Kontrollintensität von Ermessensentscheidungen ist mit dem vorstehend aus der EMRK bzw. der EU-GRCh abgeleiteten Maßstab zu vereinbaren. c) Kein Erfordernis einer Kompetenz zur Abänderung von Verwaltungssanktionsentscheidungen Während aus Art. 31 S. 2 VO (EG) 1/2003 eindeutig hervorgeht, dass die Unionsgerichte Geldbußen „aufheben, herabsetzen oder erhöhen“ können müssen, geht dies – wie dargestellt – aus dem Mehrheitsvotum zum Urteil Menarini nicht hervor. Die Forderung, Verwaltungsentscheidungen durch eine eigene Einschätzung abändern können zu müssen, erscheint nicht überzeugend. Wenn ein Gericht das ausgeübte Ermessen nämlich lediglich auf Fehler und die allgemeine Angemessenheit einer Sanktion hin kontrolliert, erscheint es widersprüchlich, ihm gleichzeitig die Kompetenz zuzusprechen, das ausgeübte Ermessen – durch eine eigene Ermessensentscheidung  – abändern zu können.624 Dies gilt insbesondere dann, wenn Gerichte keine Prüfung von Amts wegen durchführen, sondern nur einzelne beanstandete Punkte überprüfen,625 wie dies im europäischen Kartellrecht der Fall ist.626 Außerdem fehlt Gerichten, wie dargestellt, die Kompetenz im Rahmen der Ermessensausübung die notwendige Zwecksetzung vorzunehmen. Etwas anderes kann im europäischen Kartellrecht nur für den Fall gelten, dass die Europäische Kommission die Bußgeldleitlinien rechtsfehlerhaft angewendet hat. In einem solchen Fall ist es denkbar, dass die Unionsgerichte das Ermessen neu ausüben und die ursprüngliche Sanktion abändern. Dass die Unionsgerichte in der Praxis jedoch auch in anderen Fällen Kartellbußgelder abändern,627 erscheint somit keiner konsequenten Logik zu folgen.

622

Schwarze/Weitbrecht, § 10, Rn. 12. EuGH, Urt. v. 08.12.2011 – Rs. C-386/10 P, Chalkor/KOM, Slg. 2011, I-13085, Rn. 78. 624 Nehl, in: Immenga/Körber, Kontrolle kartellrechtlicher Sanktionsentscheidungen, S. 145 f. 625 In solchen Fällen sogar eine erneute Anhörung fordernd, um dem Anspruch auf rechtliches Gehör zu genügen: Nehl, in: Immenga/Körber, Kontrolle kartellrechtlicher Sanktionsentscheidungen, S. 145 f. 626 Siehe hierzu die Ausführungen unter Teil 3: G. II., S. 234 ff. 627 Übersichtlich zu jüngsten Klageerfolgen vor dem EuG: Braun/Galle, CCZ 2013, 109, 110. 623

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Wenn Richter Albuquerque in seinem Sondervotum mit Verweis auf Art. 31 VO (EG) 1/2003 fordert, Gerichte müssten auch bei Nichtvorliegen von Ermessensfehlern das Ermessen neu ausüben können,628 so ist dies eine konsequente Forderung, da er gleichzeitig eine allumfassende Ermessensprüfung für notwendig hält. Angesichts der hier vertretenen Auffassung kann dieser Ansicht jedoch nicht gefolgt werden. 4. Fazit: Weitgehende Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts mit den verfahrensgarantierechtlichen Vorgaben zur notwendigen gerichtlichen Kotrolldichte Die Kompetenzen der Unionsgerichte zu einer gerichtlichen Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen aufgrund von Art.  263  AEUV sowie Art.  261  AEUV i. V. m. Art. 31 VO (EG) 1/2003 sind weitgehender als dies notwendig ist. Während tatbestandliche Beurteilungen der Verwaltung auch bei technisch und wirtschaftlich komplexen Fragestellungen voller gerichtlicher Kontrolle unterliegen müssen, um die Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 47 Abs. 2 EUGRCh zu erfüllen, genügt hinsichtlich der Ermessensüberprüfung eine Fehlerkontrolle in Verbindung mit einer allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprüfung. Bis auf die Überprüfung wirtschaftlich komplexer Beurteilungen der Europäischen Kommission auf Tatbestandseite erfüllt die gerichtliche Kontrolldichte der Unionsgerichte im europäischen Kartellrecht die Anforderungen aus der EMRK und der EU-GRCh. Eine gerichtliche Kompetenz, zur Abänderung von Verwaltungssanktionsentscheidungen ist nicht erforderlich.

II. Zulässigkeit der fehlenden umfassenden Prüfung von Amts wegen durch die Unionsgerichte Fechten Unternehmen einen Bußgeldbescheid vor den europäischen Gerichten an, prüfen die Unionsgerichte die Rechtmäßigkeit des Bescheids gem. Art. 44 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts nur bezüglich der von dem Unternehmen vorgebrachten Punkte. Damit die Gerichtsgarantie aber gewahrt werde, so wurde wiederholt kritisiert, dürfe im Anfechtungsverfahren nicht die Dispositionsmaxime gelten, sondern die Gerichte müssten von Amts wegen die Bußgeldentscheidung als Ganzes überprüfen.629 Begründet wird dies mit dem Umstand, dass sich Unternehmen vor der Europäischen Kommission in einer Verteidigungsposition be-

628

Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, § 8. 629 de Bronett, ZWeR 2012, 157, 196; Schwarze, WuW 2009, 6, 10; Schwarze/Bechtold/ Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 6, 55 ff.

G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle

235

fänden; vor Gericht seien sie der Europäischen Kommission zwar gleichgeordnet, diese sei jedoch besser gestellt, da sie im Verwaltungssanktionsverfahren auch als Anklägerin aufgetreten sei.630 Ob dies wirklich mit Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 47 Abs. 2 EU-GRCh unvereinbar ist, erscheint jedoch zweifelhaft. 1. Vereinbarkeit der geltenden Dispositionsmaxime mit der Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK In Bezug auf natürliche Personen hat der EGMR noch keine Stellung zur Frage genommen, ob es zulässig ist, wenn auch in späteren gerichtlichen Anfechtungsverfahren gegen Verwaltungssanktionen keine Amtsermittlung stattfindet, sondern nur die von den Parteien vorgebrachten Punkte überprüft werden.631 Es ist jedoch auch nicht davon auszugehen, dass er sich hierzu zukünftig äußern wird oder diese Praxis kritisieren wird. Zum einen wird dem Anspruch auf Entscheidung durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht durchaus auch bei Geltung der Dispositionsmaxime entsprochen.632 Denn es ist nicht ersichtlich, wie der Anspruch aus Art.  6  Abs.  1 EMRK allein dadurch eingeschränkt sein soll, dass die betroffene Partei bei der Bestimmung des Verfahrensgegenstandes beteiligt ist. Zudem gilt in kernstrafrechtlichen Verfahren keineswegs in allen Vertragsstaaten der EMRK stets die Offizialmaxime.633 Wieso dann jedoch für Gerichtsverfahren, mit denen Verwaltungssanktionen beanstandet werden, etwas anderes gelten sollte, erscheint nicht plausibel. Die im Urteil Menarini vertretene Ansicht erscheint daher konsequent. Der EGMR impliziert in einer sehr knappen Feststellung, dass er die Dispositionsmaxime für mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar hält: „Il [das Gericht, Anm. d. Verf.] doit notamment avoir compétence pour se pencher sur toutes les questions de fait et de droit pertinentes pour le litige dont il se trouve saisi.“634

630

de Bronett, ZWeR 2012, 157, 196; Schwarze, WuW 2009, 6, 10. Wils, World Comp. 2010, 5, 19. 632 Vgl. Forrester, Concurrences 2010, 13, 16, Rn. 19, der darauf hinweist, dass ein Verfahren auf sehr viele verschiedene Arten und Weisen geführt werden kann, wie ein Rechtsvergleich mit verschiedenen europäischen Ländern zeige. 633 Esser, S. 5, m. w. N. 634 EGMR, Urt. v. 27.09.2011  – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 59, auf Deutsch: „Insbesondere muss es die Kompetenz haben, sich mit sämtlichen relevanten Rechts- und Tatsachenfragen auseinanderzusetzen, denen es sich ausge­ setzt sieht.“ 631

236

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Durch die Formulierung „dont il se trouve saisi“635 unterstreicht der EGMR, dass Gerichte, die eine Verwaltungssanktion kontrollieren, nicht von Amts wegen verpflichtet sind, eine umfassende Prüfung vorzunehmen. 2. Zulässigkeit der geltenden Dispositionsmaxime nach der Rechtsprechung der Unionsgerichte Die gleiche Ansicht wie der EGMR hat der EuGH in den Urteilen KME und Chalkor vertreten, ohne jedoch auf das wenige Monate zuvor ergangene Urteil Menarini Bezug genommen zu haben. So hat der EuGH festgestellt, dass die gesamte angefochtene Entscheidung, nicht von Amts wegen zu prüfen, keinen Verstoß gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes darstellt.636 Argumentativ weiter begründet wird diese Ansicht nicht. Generalanwältin Sharpston, deren Schlussanträge vor dem Urteil Menarini entstanden sein dürften, hat eine nur knappe Begründung angeführt, die sie auf die EMRK stützt: „Weder Art. 6 EMRK noch die Rechtsprechung des EGMR verlangt, dass das „unabhängige und unparteiische Gericht“ von Amts wegen Fragen nachgeht, die im Verfahren nicht angesprochen werden.“637

Auf die EU-GRCh nimmt der EuGH keinen Bezug. Gleichwohl hat der Grundsatz effektiven Rechtsschutzes in Art. 47 Abs. 2 EU-GRCh Niederschlag gefunden und die Unionsgerichte dürften auch bei direkter Anwendung der EU-GRCh kaum zu einem anderen Ergebnis kommen. Im Ergebnis sind die Rechtsprechung der Unionsgerichte und des EGMR identisch. 3. Fazit und Bewertung der Zulässigkeit der Geltung der Dispositionsmaxime im europäischen Kartellrecht Die von den Unionsgerichten und dem EGMR vertretene Ansicht erscheint konsequent.638 Anderenfalls würde die Verwaltungssanktionsentscheidung stets automatisch komplett hinterfragt und wäre in ihrer Funktion als dem Gerichtsprozess vorgeschaltetes Verfahren im Ergebnis nutzlos, da alle Tatsachen- und Rechtsfragen neu geprüft werden müssten. Bei diesem Argument handelt es sich zwar um 635

EGMR, Urt. v. 27.09.2011  – No. 43509/08, Menarini Diagnostics/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 59, auf Deutsch: „denen es sich ausgesetzt sieht“. 636 EuGH, Urt.  v.  08.12.2011  – Rs. C-272/09 P, KME/KOM, Slg. 2011, I-12789, Rn.  104; EuGH, Urt. v. 08.12.2011 – Rs. C-386/10 P, Chalkor/KOM, Slg. 2011, I-13085, Rn. 66. 637 Sharpston, Schlussanträge v. 10.02.2011  – Rs. C-272/09 P, KME/KOM, Slg. 2011, I-12860, Rn. 74. 638 Ackermann, NZKart 2015, 17, 23 f.; Schmidt, Unbeschränkte Ermessensnachprüfung, S. 192; mit Verweis auf die Rechtsprechung der Unionsgerichte, so im Ergebnis auch: de Bronett, Art. 31 VO (EG) 1/2003, Rn. 11.

G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle

237

kein verfahrensgarantierechtliches Argument. Gleichwohl müsste jede anderslautende Forderung als praxisuntauglich bezeichnet werden. Außerdem hängt die Entscheidung, die Untersuchung eines kartellrechtlichen Sachverhalts zunächst einer Behörde zu übertragen mit deren höheren Sachkompetenz zusammen. Es wird daher zu Recht angezweifelt, ob eine erneute, umfassende Prüfung durch ein Gericht überhaupt einen inhaltlichen Mehrwert bieten kann.639 Die Tatsache, dass in gerichtlichen Anfechtungsverfahren von Verwaltungssanktionen nur diejenigen Umstände verhandelt werden, welche die Parteien vorgebringen, ist somit nicht nur mit EU-GRCh und EMRK vereinbar,640 sondern stellt noch dazu kein verfahrensrechtliches Garantiedefizit dar.

III. Unzulässigkeit der fehlenden aufschiebenden Wirkung von Anfechtungsklagen Nach Art. 278 S. 1 AEUV haben Klagen bei den Unionsgerichten keinen Suspensiveffekt. Bezogen auf das europäische Kartellrecht folgt daraus, dass Bußgeldentscheidungen nach Art. 23 Abs. 2 lit. a VO (EG) 1/2003 auch bei Erhebung einer Nichtigkeitsklage vor dem EuG weiterhin sofort vollziehbar sind. Zwar ist es gem. Art. 278 S. 2 i. V. m. Art. 279 AEUV möglich, einen Antrag auf Aussetzung des Sofortvollzuges zu stellen, gleichwohl sind die Hürden hierfür nach ständiger Rechtsprechung der Unionsgerichte sehr hoch.641 Selbst bei einer enormen finanziellen Belastung scheinen die Unionsgerichte das Vollzugsinteresse im Ergebnis als überwiegend anzusehen. So lehnte das EuG im Verfahren Senator Lines bspw. einen Antrag auf Aussetzung des Sofortvollzuges ab, obwohl das betroffene Unternehmen nicht in der Lage war, eine Bankbürgschaft für die zu zahlende Bußgeldsumme zu beschaffen.642 Begründet wird dies neben der anderweitigen Möglichkeit der Geldbeschaffung vor allem mit dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug: „Um zu beurteilen, ob die Antragstellerin eine Bankbürgschaft stellen kann, muß jedoch nach ständiger Rechtsprechung auch die Unternehmensgruppe berücksichtigt werden, der sie unmittelbar oder mittelbar angehört, insbesondere soweit es um die Möglichkeit geht, die Sicherheiten zu stellen, die die Banken verlangen könnten. Dies ist auf das öffentliche Interesse am Vollzug der Entscheidungen der Kommission und der Wahrung der finanziel-

639

Ackermann, NZKart 2015, 17, 24. Schmidt, Unbeschränkte Ermessensnachprüfung, S. 192; vgl. Vilsmeier, S. 80. 641 Mit Verweis auf die ständige Rechtsprechung: EuG, Beschluss v. 21.07.1999  – Rs. T-191/98 R, Senator Lines/KOM, Slg. 1999, II-2533, Rn. 59; vgl. Stoll/Rigod, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Band III, Art. 278 AEUV, Rn. 8, Art. 279 AEUV, Rn. 19 ff., insbes. Rn. 21 ff.; darauf hinweisend, dass es fast nie zur Aussetzung des Sofortvollzuges kommt: Wollmann, in: Schick/Hilf, Kartellstrafrecht, S. 151, insbes. Fn. 11. 642 EuG, Beschluss v. 21.07.1999 – Rs. T-191/98 R, Senator Lines/KOM, Slg. 1999, II-2533, Rn. 63. 640

238

Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

len Interessen der Gemeinschaft einerseits und auf die Vorteile, die sich aus einem etwaigen wettbewerbswidrigen Verhalten einer Gesellschaft für deren Gesellschafter ergeben können, zurückzuführen.“643

Ob diese Rechtsprechungspraxis jedoch mit der EU-GRCh und der EMRK zu vereinbaren ist, muss angezweifelt werden. Erstaunlich ist, dass sich die Unionsgerichte und so auch das EuG im dargestellten Fall zwar mit den Voraussetzungen von Art. 278 S. 2 i. V. m. Art. 279 AEUV auseinandersetzen, eine Prüfung von Grundrechten aber in diesem Zusammenhang offensichtlich auch dann nicht erfolgt, wenn die Klägerin dies in ihrer Klage geltend gemacht hat.644 Da in den Vertragsstaaten der EMRK keine einheitliche Praxis hinsichtlich der aufschiebenden Wirkung von Anfechtungsklagen gegen Verwaltungsentscheidungen besteht,645 bedarf es einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit dem Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht als mögliche Rechtsquelle, wie er sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 47 Abs. 2 EU-GRCh ergibt.646 Der EGMR hat im Urteil Janosevic aus dem Jahr 2002 die Notwendigkeit einer Abwägung zwischen dem Vollzugsinteresse und dem Interesse an der Aussetzung des Sofortvollzugs betont.647 Daneben sei zu beachten, ob im Falle einer Aufhebung der Verwaltungssanktionsentscheidung durch ein kontrollierendes Gericht der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt werden könne.648 Für einen sofortigen Vollzug kann zunächst der Sinn und Zweck des Kartellrechts angeführt werden, nämlich gem. Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV ein funktionierender Binnenmarkt.649 Nur wenn Kartellbußgelder sofort vollzogen werden, entfaltet die Sanktion ihre unmittelbare präventive Wirkung. Daneben werden zum Teil finanzielle Interessen der Europäischen Union angeführt, sowie der Umstand, dass nur so die durch das Kartell erlangten Vorteile entzogen werden können.650 Daneben ließe sich anführen, administrativ verhängte Geldbußen seien wirkungs 643 EuG, Beschluss v. 21.07.1999 – Rs. T-191/98 R, Senator Lines/KOM, Slg. 1999, II-2533, Rn. 64. 644 Hilf/Hörmann, NJW 2003, 1, 3 führen an, dass sich Senator Lines in ihrem Antrag vor dem EuG auf Aussetzung des Sofortvollzuges auf den Anspruch auf rechtliches Gehör, die Achtung der Verteidigungsrechte und auf die Unschuldsvermutung berufen haben. Im zugehörigen Beschluss sind jedoch keine entsprechenden Ausführungen zu finden: vgl. EuG, Beschluss v. 21.07.1999 – Rs. T-191/98 R, Senator Lines/KOM, Slg. 1999, II-2533. 645 Vgl. Stoll/Rigod, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Band III, Art. 278 AEUV, Rn. 1 f. 646 Vgl. Hilf/Hörmann, NJW 2003, 1, 3 mit Bezug zum Antrag von Senator Lines, der sich allerdings gegen die Verweigerung der Anordnung der aufschiebenden Wirkung richtet und nicht den Regelfall des Sofortvollzugs kritisiert. 647 EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, §§ 106 ff. 648 EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, §§ 108; Wils, World Comp. 2010, 5, 21. 649 Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 23.04.2009 – Rs. C-97/08 P, Akzo Nobel/KOM, Slg. 2009, I-8241, Rn. 40. 650 EuG, Beschluss des Präsidenten v. 21.12.1994 – Rs. T-295/94, Buchmann/KOM, Slg. 1994, II-1267, Rn. 26

G. Anspruch auf nachgelagerte gerichtliche Kontrolle

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los, wenn sie nicht trotz Anfechtung vollzogen würden. Anderenfalls käme dem Verwaltungssanktionsverfahren dann fast nur noch die Funktion eines Ermittlungsverfahrens mit abschließender Stellungnahme zu, die einer gerichtlichen Prüfung standzuhalten hätte. Gleichwohl stellen Kartellbußgelder gem. Art. 23 Abs. 2 lit. a VO (EG) 1/2003 aufgrund ihres enormen Sanktionsrahmens in aller Regel eine sehr hohe finanzielle Belastung für Unternehmen dar. Und eine solche Belastung besteht auch bei Aussetzung des Sofortvollzuges. Denn ein Unternehmen muss in diesem Fall Rückstellungen wegen der zumindest drohenden Sanktionszahlung bilden,651 was die Eigenkapitalquote senkt und Möglichkeit der Refinanzierung am Kapitalmarkt verschlechtert. Zudem muss es seine Liquiditätsplanung sowie die allgemeine Geschäftsstrategie anpassen, um sich auf die Fälligkeit der Zahlung einzustellen. Somit hat die Durchführung eines Verwaltungssanktionsverfahrens auch bei nicht sofortigem Vollzug bereits eine erhebliche Appellfunktion. Dadurch wird dem eigentlichen Interesse am Sofortvollzug auch bei aufschiebender Wirkung einer Anfechtungsklage in großen Teilen entsprochen. Und auch die mittelbaren Sanktionsfolgen wie ein Rückgang des Unternehmenswertes oder Umsatzeinbußen treten bereits unabhängig vom Vollzug einer Sanktion ein. Allein auf die finanziellen Interessen der Europäischen Union wird sich der Sofortvollzug wohl kaum stützen lassen. Dies muss erst recht gelten, wenn eine Verwaltungsbehörde eine Sanktion verhängt, die nach Ansicht des Gerichts zur Insolvenz des sanktionierten Unternehmens führen würde, was anders als vorstehend gefordert derzeit zulässig ist. Deren spätere Rücknahme wäre nicht mehr möglich, weswegen angesichts der voran­ stehend gebildeten Definition von Strafrechtsähnlichkeit und in Anlehnung an die Janosevic-Rechtsprechung eine Ermessensreduktion auf Null erfolgen muss.652 Anderenfalls würde der Anspruch auf Entscheidung bzw. Kontrolle durch ein Gericht irreversibel vereitelt. Darüberhinaus lässt sich ein gewichtiges verfahrensgarantierechtliches Argument aus der EMRK nutzbar machen. In Art. 6 Abs. 1 EMRK stellt die unmittelbare gerichtliche Entscheidung den Regelfall dar und eine lediglich nachgelagerte gerichtliche Kontrolle die Ausnahme. Aufgrund des Ausnahmecharakters von Verwaltungssanktionsverfahren, die mit einer Durchbrechung der Gewaltenteilung einhergehen,653 bedarf es einer positiven Begründung, wieso eine Entschei 651

Frenz, Handbuch Europarecht, Band 2, Rn. 2978. Vgl. EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, § 108; andeutungsweise so EuG, Beschluss v. 21.07.1999  – Rs. T-191/98 R, Senator Lines/ KOM, Slg. 1999, II-2533, Rn. 63 ff., jedoch im Ergebnis ablehnend, da mit Hilfe der Gesellschafter eine entsprechende Bankbürgschaft zu beschaffen sei und so keine Insolvenz des bebußten Unternehmens drohe; so auch: Wils, World Comp. 2010, 5, 21. 653 Abweichende Meinung des Richters Albuquerque, EGMR, Urt. v. 27.09.2011 – No. 43509/ 08, Menarini Diagnostics/Italien, § 9. 652

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

dung trotz Anfechtung weiterhin sofort vollziehbar bleiben soll. Denn nur weil ein strafrechtsähnliches Sanktionsverfahren für zulässig erachtet wird, muss daraus noch nicht zwangsläufig folgen, dass sämtliche anderen Aspekte des Anspruchs auf Entscheidung durch ein Gericht keine Schutzwirkung mehr entfalten sollten. Da aber Art.  6  Abs.  1  EMRK erst in Gänze entsprochen wird, wenn die nachgelagerte gerichtliche Kontrolle vorgenommen wurde, sollten auch dann erst die Rechtsfolgen eintreten, für deren Anordnung Art. 6 EMRK die notwendigen verfahrensrechtlichen Mindestanforderungen festlegt. Für Art. 47 Abs. 2 EU-GRCh lässt sich dieses Argument jedoch nicht anführen. Die Regelung fordert keine gerichtliche Entscheidung, sondern nur eine gerichtliche Kontrolle. So ist es mit dem Anspruch auf Kontrolle nicht unvereinbar, den Vollzug einer vorangegangenen Verwaltungssanktionsentscheidung trotz Anfechtung aufrecht zu erhalten. Gleichwohl überwiegen die Gründe für einen Sofortvollzug trotzdem nicht, da die Sanktionsfolgen zumindest bei Unternehmen auch bei aufschiebender Wirkung von Anfechtungsklagen bereits in erheblichem Maße Wirkung zeigen. Deshalb überzeugt es auch nach der EU-GRCh, eine Sanktion erst dann als vollstreckbar anzusehen, wenn die Kontrolle der Verwaltungsentscheidung durch ein Gericht mit voller Kognition erfüllt ist.654 Denkbar ist daneben, auch aus der Unschuldsvermutung eine Unzulässigkeit des regelmäßigen Sofortvollzuges abzuleiten.655 Dies würde voraussetzen, dass eine Entscheidung der Europäischen Kommission keinen gesetzlichen Schuldnachweis darstellt, die Unschuldsvermutung also weiter gilt und erst mit einem gerichtlichen Urteil des EuG der notwendige Nachweis erbracht ist. Während der Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. von Art. 48 Abs. 2 EU-GRCh mangels Eindeutigkeit diesbezüglich keine Anhaltspunkte liefert, steht der Telos der Unschuldsvermutung einer solchen Einschätzung eher entgegen. Denn dieser zielt auf die Regulierung des staatlichen Strafmonopols ab und damit auf den Schutz des Einzelnen durch verfahrensleitende Bestimmungen. Diesen kommt dabei, wie die vorstehenden Erläuterungen zur Unschuldsvermutung zeigen, die Aufgabe zu, das Verfahren so auszugestalten, dass der Staat den umfassenden Beweis der Schuld erbringt und sich vor dem erfolgten Nachweis der Schuld entsprechend unvoreingenommen verhält. Jedoch kann daraus nicht gefolgert werden, durch welches Organ der Schuldnachweis erbracht werden muss. Ein systematischer Vergleich mit dem Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht macht deutlich, dass die Unschuldsvermutung keine institutionelle Garantie ist, sondern ihr lediglich verfah-

654 Im Ergebnis so: Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 44 f.; andeutungsweise: Bronckers/Vallery, MLex Magazine, 2012, 44, 46; Bronckers/Vallery, ECJ 2012, 283, 296. 655 Andeutungsweise: Bronckers/Vallery, MLex Magazine, 2012, 44, 46; Hilf/Hörmann, NJW 2003, 1, 3 mit Verweis auf den Antrag von Senator Lines, entschieden durch: EuG, Beschluss v. 21.07.1999 – Rs. T-191/98 R, Senator Lines/KOM, Slg. 1999, II-2533, jedoch ohne Bezugnahme auf die Unschuldsvermutung im Beschluss des EuG.

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rensausgestaltende Wirkung zukommen soll. Eine andere Interpretation wäre eine Überdehnung der Unschuldsvermutung. Würde man eine Verwaltungsentscheidung nicht als Schuldnachweis genügen lassen, so wäre diese wertlos. Beispielsweise dürfte eine solche Entscheidung nicht veröffentlicht werden, da dies ebenfalls gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verstoßen würde, und könnte für den Fall, dass ein Unternehmen von einer Anfechtung absieht, erst recht keine verfahrensbeendigende Entscheidung darstellen. Dass Richter Casadevall in einem abweichenden Votum im EGMR-Urteil Janosevic aus der Unschuldsvermutung dennoch einen Anspruch auf Aussetzung des Sofortvollzuges ableitet,656 hat mit dem konkreten Fall zu tun. Danach wurde im Verwaltungsverfahren eine Vermutungsregel angewandt, die erst im nachfolgenden gerichtlichen Anfechtungsverfahren widerlegt werden konnte.657 Somit kann aus der Unschuldsvermutung  – anders als aus dem Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht – kein allgemeiner Grundsatz abgeleitet werden, wonach Anfechtungsklagen gegen Verwaltungssanktionsentscheidungen aufschiebende Wirkung haben müssen.

IV. Fazit: Notwendigkeit uneingeschränkter gerichtlicher Kontrolle tatbestandlicher Voraussetzungen bei reiner Ermessensfehlerkontrolle auf Rechtsfolgenseite Es ist mit Art. 6 EMRK bzw. Art. 47 EU-GRCh vereinbar, dass einer Behörde bei der Wahl der Sanktionshöhe ein gerichtlich nicht vollständig kontrollierbares Ermessen zuerkannt wird, und dass Gerichte nur die von den Parteien vorgebrachten Klagegründe prüfen. Notwendig ist hingegen eine uneingeschränkte Kontrolle aller Tatbestandsvoraussetzungen, auch wenn diese wirtschaftlich komplexe Fragestellungen betreffen. Nur bezüglich dieses letzteren Aspekts ist die Praxis der Unionsgerichte zum europäischen Kartellrecht nicht mit den vorstehend etablierten verfahrensgarantierechtlichen Anforderungen zu vereinbaren. Wird dieser Forderung entsprochen, so kann die gerichtliche Kontrolle die aus einer administrativen Sanktionierung unmittelbar resultierenden Defizite heilen. Darüberhinaus ist die derzeit fehlende aufschiebende Wirkung von Anfechtungsklagen vor allem mit der EMRK nicht vereinbar.

656

Abweichende Meinung des Richters Casadevall, EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/ 97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, S. 39 f. 657 Abweichende Meinung des Richters Casadevall, EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/ 97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII, S. 39 f.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

H. Anspruch auf Verhandlung innerhalb angemessener Frist Vertreter aus der anwaltlichen Praxis kritisieren immer wieder die Länge von Kartellrechtsverfahren in der Europäischen Union.658 So dauern die Kartellverfahren vor der Europäischen Kommission von Untersuchungsbeginn bis zur Bußgeldentscheidung durchschnittlich knapp vier Jahre,659 das möglicherweise anschließende Verfahren vor den Unionsgerichten im Schnitt deutlich über vier Jahre.660 In früheren Jahren wurde eine Gesamtverfahrensdauer, also Kommissionsverfahren und Verfahren vor den Unionsgerichten zusammengenommen, von nicht selten über zehn Jahren beklagt,661 was auch damit zusammenhängen dürfte, dass selbst ein Urteil des EuGH nicht notwendigerweise den finalen Verfahrensabschluss darstellen muss. Vielmehr kann dieser eine Entscheidung für nichtig erklären, woraufhin die Europäische Kommission das Verfahren neu beginnen muss. Es zeigt sich somit, dass schon die durchschnittliche Verfahrensdauer sehr lang ist und Verfahren von deutlich über zehn Jahren unter diesen Umständen keineswegs ausgeschlossen sind. Ob mögliche Defizite jedoch tatsächlich struktureller Natur sind und unabhängig vom Einzelfall zu einer unangemessenen Verfahrenslänge führen, erscheint zweifelhaft.

I. Faktoren für die Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrenslänge Der Anspruch auf eine Verhandlung innerhalb angemessener Frist ist in der EMRK und der EU-GRCh in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und Art. 47 Abs. 2 S. 1 EUGRCh im Wortlaut identisch geregelt. Als weitere maßgebliche Bestimmung ist Art. 41 EU-GRCh zu beachten, der eine angemessene Verfahrensdauer speziell für Verwaltungsverfahren fordert. Das Angemessenheitserfordernis angesichts des Wortlautes von Art. 6 EMRK auf Gerichtsverfahren zu beschränken, erscheint nicht überzeugend. Denn das Erfordernis, dass auch Verwaltungsverfahren von angemessener Dauer sein müssen, kann nicht allein deshalb eingeschränkt werden, weil zur Wahrung der Gerichts 658

Anderson/Cuff, Fordham Intl. L. J. 2010–2011, 385, 408 f.; Beninca/Zschocke, S.  131; Montag, ECLR 1996, 428, 429, 433; Montag/Hoseinian, in: Hawk, Fordham Competition Law Institute 2012, S. 83. 659 Den Zeitraum von 2001 bis 2011 untersuchend: Hüschelrath/Laitenberger/Smuda, ZEW Discussion Paper No. 12–071, S. 9; ebenfalls ein Zeitraum von in der Regel über drei Jahren ergibt sich aus: Ascione/Motta, in: ECLA 2008, S. 82, bezogen auf Kartelluntersuchungen, die in den Jahren 1983 bis 2004 begannen, offensichtlich jedoch nicht abschließend. 660 Smuda/Bougette/Hüschelrath, ZEW Discussion Paper No. 14–062, S. 13. 661 Montag, NJW 1998, 2088, 2094.

H. Anspruch auf Verhandlung innerhalb angemessener Frist 

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garantie eine nachgelagerte gerichtliche Kontrolle als Ausnahme vom Regelfall genügen kann. 1. Weitgefasste Kriterien für die Bestimmung der Angemessenheit nach der EMRK Genauso wie für das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzung einer strafrechtlichen Anklage hat der EGMR entschieden, dass der Fristbeginn nicht notwendigerweise an einer bestimmten Verfahrenshandlung festgemacht werden muss, sondern es vielmehr im Sinne einer Anklage im weiteren Sinn auf eine substantielle Beeinträchtigung ankommt.662 Darunter fallen Festnahmen, die offizielle Ankündigung über eine Anklage oder die Einleitung von Ermittlungsmaßnahmen.663 Es ist nicht notwendig, dass diese Beeinträchtigung in einem gerichtlichen Verfahren erfolgt, sondern kann auch bereits in einem Verwaltungsverfahren erfolgen,664 was dazu führt, dass dieses Verfahren bereits im Rahmen der Berechnung der Verfahrensdauer zu berücksichtigen ist. Der Lauf der Frist endet nicht mit dem Urteil, das die Entscheidung über die Anklage im weiteren Sinne darstellt, sondern mit dem letztinstanzlichen Urteil, vorausgesetzt es wurden Rechtsmittel eingelegt.665 Unter einem letztinstanzlichen Urteil kann sowohl ein Urteil eines Verfassungsgerichts verstanden werden,666 als

662

Siehe hierzu die Ausführungen unter Teil 1: B. I. 1., S. 37 f.; EGMR, Urt. v. 27.06.1968 – No. 1936/63, Neumeister/Österreich, Series A vol. 8, § 13; EGMR, Urt. v. 15.07.1982 – No. 8130/ 78, Eckle/Deutschland, Series A vol. 51, § 73; EGMR, Urt. v. 02.10.2003 – No. 41444/98, Henning/Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 32; Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 325; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 75; Peters/Altwicker, § 19, Rn. 55; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 240. 663 EGMR, Urt. v. 27.06.1968 – No. 1936/63, Neumeister/Österreich, Series A vol. 8, § 18; EGMR, Urt. v. 27.06.1969 – No. 2122/64, Wemhoff/Deutschland, Series A vol. 7, § 19; EGMR, Urt. v. 15.07.1982  – No. 8130/78, Eckle/Deutschland, Series A vol. 51, § 73; EGMR, Urt. v. 02.10.2003  – No. 41444/98, Henning/Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 32; EGMR, Urt. v. 10.02.2005 – No. 64387/01, Uhl/Deutschland, nicht in der amtlichen Sammlung, § 26; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 240, m. w. N. 664 EGMR, Urt. v. 28.06.1978 – No. 62327/78, König/Deutschland, Series A vol. 27, § 98; jedoch lässt der EGMR im Urteil explizit offen, ob Art. 6 EMRK in strafrechtlicher oder zivilrechtlicher Hinsicht Anwendung findet. 665 EGMR, Urt. v. 09.10.2001 – No. 35673/97 [u. a.], Schweighofer [u. a.]/Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 30; EGMR, Urt. v. 29.04.2003 – No. 49285/99, Rablat/Frankreich, nicht in der amtlichen Sammlung, § 18; Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 326; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 75; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 242. 666 EGMR, Urt. v. 10.02.2005  – No. 64387/01, Uhl/Deutschland, nicht in der amtlichen Sammlung, § 26; EGMR, Urt. v. 22.01.2009 – No. 45749/06 [u. a.], Kaemena u. Thonebohn/ Deutschland, nicht in der amtlichen Sammlung, § 61; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art.  6 EMRK, Rn. 75; Peters/Altwicker, § 19, Rn. 55.

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auch ein Urteil einer Letztinstanz, die zunächst an die vorherige Instanz zurückverwiesen hat und dann neuerlich mit dem Fall befasst war.667 Ob der so zu berechnende Zeitraum angemessen ist, bestimmt sich entsprechend der Rechtsprechung des EGMR nach vier Faktoren:668 In einem ersten Schritt sind der Umfang und die Komplexität des Falles zu bewerten.669 Anerkannt ist, dass gerade Wirtschaftsverfahren oftmals eine hohe Komplexität aufweisen und der Nachweis der Tat sehr aufwendig ist, weswegen die Verfahren zwangsläufig länger dauern können.670 Dieser Umstand kann dazu führen, dass auch besonders lange Verfahren hinsichtlich ihrer Dauer noch angemessen sein können. Als zweiter Aspekt ist im Rahmen der Angemessenheitsprüfung das Verhalten der Beschwerdeführerin zu berücksichtigen.671 Dadurch sollen Verfahrensverzögerungen, die in ihrem Verantwortungsbereich liegen, im Rahmen der Angemessenheitsprüfung zu ihren Lasten gerechnet werden können.672 Zu berücksichtigen ist aber nur solches Verhalten, das genuin eine Verzögerung darstellt: Nicht erfasst sind Verzögerungen, die durch prozessbezogene Verteidigungshandlungen entstehen.673 Stellt ein Beschwerdeführer viele Anträge oder nutzt er seine 667 Im Rahmen der Entscheidung EKMR, Entscheidung v. 03.05.1974  – No. 4649/70, X./ Deutschland, D. R. 46, 1 hatte die EKMR die Länge eines Verfahrens zu beurteilen, in dem die letztinstanzliche Klage des Angeklagten vor dem Bundesgerichtshof zu einer Aufhebung des vorangegangen Urteils geführt hatte. Daraufhin musste das zuständige vorinstanzliche Gericht neuerlich entscheiden. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte erneut vor dem Bundesgerichtshof geklagt. Erst die Ablehnung dieses Klagebegehrens stellte nach Ansicht der EKMR das für die Fristbeurteilung maßgebliche Ende des Verfahrens dar. So unter Verweis auf das zitierte Urteil auch: Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 242; außerdem: Kühne, in: IntKomm, Ordner 1, Art. 6 EMRK, Rn. 326. 668 EGMR, Urt. v. 31.05.2001 – No. 37591/97, Metzger/Deutschland, nicht in der amtlichen Sammlung, § 36; EGMR, Urt. v. 24.07.2003 – No. 46133/99 [u. a.], Smirnova/Russland, ECHR 2003-IX, § 82; EGMR, Urt. v. 13.07.2004 – No. 37761/97, Lislawska/Polen, nicht in der amtlichen Sammlung, § 30; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 78; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 251. 669 EGMR, Urt. v. 27.06.1968 – No. 1936/63, Neumeister/Österreich, Series A vol. 8, § 21; EGMR, Urt. v. 27.06.1969 – No. 2122/64, Wemhoff/Deutschland, Series A vol. 7, §§ 17, 20; EGMR, Urt. v. 31.05.2001  – No. 37591/97, Metzger/Deutschland, nicht in der amtlichen Sammlung, § 36; EGMR, Urt. v. 24.07.2003 – No. 46133/99 [u. a.], Smirnova/Russland, ECHR 2003-IX, § 82; EGMR, Urt. v. 13.07.2004 – No. 37761/97, Lislawska/Polen, nicht in der amtlichen Sammlung, § 30; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 79; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 252. 670 EGMR, Urt. v. 31.05.2001 – No. 37591/97, Metzger/Deutschland, nicht in der amtlichen Sammlung, § 39. 671 EGMR, Urt. v. 31.05.2001 – No. 37591/97, Metzger/Deutschland, nicht in der amtlichen Sammlung, § 36; EGMR, Urt. v. 24.07.2003 – No. 46133/99 [u. a.], Smirnova/Russland, ECHR 2003-IX, § 82; EGMR, Urt. v. 13.07.2004 – No. 37761/97, Lislawska/Polen, nicht in der amtlichen Sammlung, § 30; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 80; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 259 ff. 672 Vgl. Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 80. 673 EGMR, Urt. v. 14.05.2002  – No. 50516/99, Georgiadis/Zypern, nicht in der amtlichen Sammlung, § 43; EGMR, Urt. v. 27.05.2003 – No. 53112/99, Borderie/Frankreich, nicht in der

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Verteidigungsrechte ausgiebig, so ist der damit verbundene zeitliche Mehraufwand nicht zulasten der Behörde zu werten.674 Betrachtet man den dritten Faktor, das Verhalten der mit dem Fall befassten Behörden,675 so führt vor allem aktives Verhalten der Behörden, beispielsweise eine nicht stringente Bearbeitung des Falles zu einer in dieser Hinsicht unangemessenen Verfahrensverzögerung.676 Abgeleitet wird auch eine Pflicht des Staates, die nötige Gerichtsorganisation zu gewährleisten, aufgrund derer eine zügige Verfahrensbearbeitung möglich ist.677 Der letzte zu berücksichtigen Umstand ist die Bedeutung der Sache für die Beschwerdeführerin.678 Hierbei handelt es sich offensichtlich um einen Abwägungsfaktor, der den drei anderen Kriterien gegenüber gestellt werden soll. Ein mehr als notwendig langes Verfahren ist somit erst dann unangemessen, wenn damit eine Belastung der Beschwerdeführerin einhergeht. Zum Teil wird in diesem Kontext angeführt, mit Bußgeldverfahren gehe eine geringere psychische Belastung einher, was bei der Bewertung der Angemessenheit der Verfahrensdauer zu berücksichtigen sei.679 In diesem Abwägungsfaktor hat auch der Sinn und Zweck des Anspruchs auf eine angemessene Verfahrensdauer Niederschlag gefunden: Die Belastung für den Beklagten gering zu halten, indem möglichst schnell eine Entscheidung über die anhängige Rechtssache getroffen wird.680 Insgesamt orientiert sich der EGMR ganz überwiegend an diesen vier Faktoren und hat bisher davon abgesehen, innerhalb dieser Kategorien Fallgruppen zu bilden. Dies dürfte daran liegen, dass nach der Rechtsprechung des EGMR stets alle Umstände des Einzelfalls in einer Gesamtbetrachtung bewertet werden müssen.681 Jüngere Urteile, wonach in der Regel ein Jahr pro Instanz als angemessene Veramtlichen Sammlung, § 37; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 80; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 260. 674 EGMR, Urt. v. 23.04.1987 – No. 9316/81, Lechner u. Hess/Österreich, Series A vol. 118, §§ 48 f.; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 260. 675 EGMR, Urt. v. 31.05.2001 – No. 37591/97, Metzger/Deutschland, nicht in der amtlichen Sammlung, § 36; EGMR, Urt. v. 24.07.2003 – No. 46133/99 [u. a.], Smirnova/Russland, ECHR 2003-IX, § 82; EGMR, Urt. v. 13.07.2004 – No. 37761/97, Lislawska/Polen, nicht in der amtlichen Sammlung, § 30; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 81; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 253 ff. 676 Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 81. 677 EGMR, Urt. v. 27.06.2000  – No. 30979/96, Frydlender/Frankreich, ECHR 2000-VII, § 45; EGMR, Urt. v. 03.04.2003  – No. 37104/97, Kitov/Bulgarien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 73; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 253. 678 EGMR, Urt. v. 31.05.2001 – No. 37591/97, Metzger/Deutschland, nicht in der amtlichen Sammlung, § 36; EGMR, Urt. v. 13.07.2004  – No. 37761/97, Lislawska/Polen, nicht in der amtlichen Sammlung, § 30; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 78; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 262. 679 Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 83. 680 Gaede, S. 223 f., m. w. N. 681 EGMR, Urt. v. 28.06.1978  – No. 62327/78, König/Deutschland, Series A vol. 27, § 99; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 77.

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fahrensdauer zu veranschlagen ist,682 dürften angesichts der Vielzahl der gegenein­ ander abzuwägenden Faktoren daher zu pauschal sein. Während der EGMR Verletzungen von Verfahrensgarantien in der Regel nur feststellt und daran keine Rechtsfolgen knüpft, hält er bei überlangen Verfahren in der Regel entweder eine Reduktion des Strafmaßes683 oder eine Entschädigung in Geld für erforderlich.684 2. Übernahme der Kriterien des EGMR in der Rechtsprechung zur EU-GRCh Die Kasuistik zur Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrenslänge ist in Bezug auf die EU-GRCh deutlich weniger ausgeprägt als die des EGMR zur EMRK und verweist zum Teil auf dessen Urteile.685 Aus der Rechtsprechung der Unionsgerichte aus dem Zeitraum vor Inkrafttreten der EU-GRCh geht nicht hervor, ob die Prüfung der Verfahrensdauer nur für das gerichtliche Verfahren erfolgt, oder ob auch vorgeschaltete administrative Verfahren wie Kartellbußgeldverfahren einzubeziehen sind. Dies hat sich mit der Einführung der EU-GRCh geändert. Während sich Art. 47 Abs. 2 EU-GRCh explizit auf Gerichtsverfahren bezieht, besteht mit Art. 41 Abs. 1 EU-GRCh nunmehr eine entsprechende Regelung für Verwaltungsverfahren: „Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Angelegenheiten von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union […] innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden“.

Als lex specialis dürfte diese Regelung in Verfahren vor der Europäischen Kommission der Bestimmung von Art. 47 Abs. 2 EU-GRCh vorgehen. Für Verfahren vor den Unionsgerichten beginnt die maßgebliche Frist mit Eingang der Klage der Beschwerdeführerin bei Gericht und endet wie im Rahmen der EMRK mit dem Urteilsspruch.686 Dass die Frist nicht schon früher beginnt, hängt mit den Eigenarten des Unionsrechts zusammen. Denn in aller Regel dürften Fragen 682 EGMR, Urt. v. 08.02.2005 – No. 45100/98, Panchenko/Russland, nicht in der amtlichen Sammlung, § 117; vgl. Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 77. 683 EGMR, Urt. v. 26.06.2001  – No. 26390/95, Beck/Norwegen, nicht in der amtlichen Sammlung, § 28; EGMR, Entscheidung v. 12.06.2008 – No. 32071/04, Menelaou/Zypern, nicht in der amtlichen Sammlung; EGMR, Urt. v. 13.11.2008  – No. 73481/01, Bochev/Bulgarien, nicht in der amtlichen Sammlung, § 83; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 85. 684 EGMR, Entscheidung v. 28.01.2003 – No. 68874/01, Caldas Ramirez de Arrellano/Spanien, ECHR 2003-I; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 85. 685 Vgl. EuGH, Urt. v. 17.12.1998  – Rs. C-185/95 P, Baustahlgewebe/KOM, Slg. 1998 I-8485, Rn. 29. 686 EuGH, Urt. v. 17.12.1998  – Rs. C-185/95 P, Baustahlgewebe/KOM, Slg. 1998 I-8485, Rn. 28; Jarass, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 42.

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der Angemessenheit der Verfahrensdauer in komplexen Fällen auftreten und dies sind vor den Unionsgerichten vor allem Kartellverfahren. In diesen erhebt aber das Unternehmen Klage und nicht, wie in sonstigen strafrechtlichen Verfahren, die zuständige Staatsanwaltschaft. Anders stellt sich die Situation hingegen dar, soll die Frist des vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens nach Art. 41 Abs. 1 EU-GRCh berechnet werden: Diesbezüglich hat der EuGH eine ausdifferenzierte Rechtsprechung etabliert: „Der erste Abschnitt, der sich bis zur Mitteilung der Beschwerdepunkte erstreckt, beginnt dann, wenn die Kommission in Ausübung der ihr durch den Unionsgesetzgeber verliehenen Befugnisse Maßnahmen trifft, die mit dem Vorwurf verbunden sind, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben; er soll es ihr ermöglichen, zum weiteren Verlauf des Verfahrens Stellung zu nehmen. Der zweite Abschnitt erstreckt sich von der Mitteilung der Beschwerdepunkte bis zum Erlass der abschließenden Entscheidung.“687

Die Ansicht des EuGH, wann der erste Verfahrensabschnitt beginnt, stellt somit eine Konkretisierung der schon vom EGMR geschaffenen Kriterien dar.688 Eine Unterteilung des Verfahrens vor der Europäischen Kommission in zwei einzelne Abschnitte ist denkbar, gleichwohl darf dies einer Gesamtbetrachtung nicht entgegenstehen. Ob die nach obigen Vorgaben berechnete Frist auch angemessen ist, wird sowohl für Art. 47 EU-GRCh,689 als auch für Art. 41 EU-GRCh nach den gleichen Maßstäben wie nach der EMRK berechnet.690 In der Literatur wird in Anlehnung an die in Art. 265 Abs. 2 S. 2 AEUV normierte Untätigkeitsklage zum Teil eine Frist von zwei Monaten angeführt, die ein Verwaltungsverfahren maximal dauern dürfe.691 Für komplexere, wirtschaftlich geprägte Verwaltungssanktionsverfahren erscheint ein solcher Zeitraum aber zu kurz.692

687 Jüngst: EuG, Urt. v. 15.07.2015 – verb. Rs. T-389/10 [u. a.], SLM [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 337; grundlegend so bereits: EuGH, Urt. v. 15.10.2002 – verb. Rs. C-238/99 P [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/KOM, Slg. 2002, I-8618, Rn. 182 f. 688 Mit Verweisen auf die Rechtsprechung des EGMR: EuGH, Urt. v. 15.10.2002 – verb. Rs. C-238/99 P [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/KOM, Slg. 2002, I-8618, Rn. 182. 689 Zum Teil  noch nicht auf die EU-GRCh bezogen, sondern auf den entsprechenden allgemeinen Grundsatz gleichen Inhalts: EuGH, Urt. v. 17.12.1998  – Rs. C-185/95 P, Baustahlgewebe/KOM, Slg. 1998 I-8485, Rn.  30; EuG, Urt. v. 20.04.1999  – verb. Rs. T-305/94 [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/KOM, Slg. 1999, II-945, Rn. 126; EuGH, Urt. v. 09.09.2008 – verb. Rs. C-120/06 P [u. a.], FIAMM [u. a.]/KOM, Slg. 2008, I-06513, Rn. 212; EuG, Urt. v. 15.07.2015 – Rs. T-436/10, HIT Groep/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 240; Jarass, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 42. 690 EuG, Urt. v. 15.07.2015 – verb. Rs. T-389/10 [u. a.], SLM [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 336; EuG, Urt. v. 16.09.2013 – verb. Rs. T-373/10 [u. a.], Villeroy & Boch/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 351. 691 Jarass, Art. 41 EU-GRCh, Rn. 29, m. w. N. 692 Art. 265 AEUV nur als Ausgangspunkt für eine weitere Bewertung des Einzelfalls ansehend: vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 41 EU-GRCh, Rn. 12.

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Bezüglich der Rechtsfolge eines Verstoßes ist in Hinblick auf Art. 41 EU-GRCh zu differenzieren. Hat die überlange Verfahrensdauer Auswirkungen auf den Ausgang des Verfahrens, so kann dies zur Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses führen.693 Dies ist dann der Fall, wenn die Verteidigungsrechte einer Beschwerdeführerin beeinträchtigt wurden.694 In anderen Fällen kann mit der Herabsetzung der angefochtenen Geldbuße Genüge getan werden.695 Alternativ ist ein Anspruch auf Schadensersatz denkbar.696 Da die in Urteilen zu Art. 41 EU-GRCh zitierten Urteile alle noch auf dem Verständnis basieren, dass der Anspruch auf eine angemessene Verfahrenslänge ein allgemeiner Grundsatz ist und dieser nunmehr in Art.  47  EU-GRCh aufgegangen ist, können diese Maßstäbe für Art. 47 EU-GRCh übernommen werden.697 

II. Beurteilung der Verfahrenslänge im europäischen Kartellverfahren Auch wenn diverse Bedenken bezüglich der Angemessenheit der üblichen Verfahrensdauer von Kartellverfahren vorgebracht werden,698 zeigt die nachfolgende Untersuchung, dass keine grundlegenden strukturellen Defizite auszumachen bzw. nachzuweisen sind. Und dies gilt auch angesichts des äußerst bedeutenden strukturellen Unterschieds zu normalen Strafverfahren, dass im europäischen Kartellrecht dem möglichen gerichtlichen Verfahren ein Verwaltungsverfahren vorgeschaltet ist. 693 EuG, Urt. v. 15.07.2015 – verb. Rs. T-389/10 [u. a.], SLM [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 339, mit (mittelbarem) Verweis auf die folgenden Urteile, die zwar den Grundsatz einer angemessenen Verfahrenslänge behandeln, sich aber nicht auf Art. 41 EU-GRCh beziehen: vgl. EuGH, Urt. v. 17.12.1998  – Rs. C-185/95 P, Baustahlgewebe/KOM, Slg. 1998 I-8485, Rn. 48; EuGH, Urt. v. 21.09.2006 – Rs. C-113/04 P, Technische Unie/KOM, Slg. 2006, I-8873, Rn. 48. 694 EuG, Urt. v. 15.07.2015 – verb. Rs. T-389/10 [u. a.], SLM [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 340. 695 EuG, Urt. v. 15.07.2015 – verb. Rs. T-389/10 [u. a.], SLM [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn.  342, abermals mit Verweis auf die folgenden Urteile, die zwar den Grundsatz einer angemessenen Verfahrenslänge behandeln, sich aber nicht auf Art.  41  EUGRCh beziehen: EuGH, Urt. v. 21.09.2006 – Rs. C-113/04 P, Technische Unie/KOM, Slg. 2006, I-8873, Rn. 202 f.; EuG, Urt. v. 19.12.2012 – Rs. C-452/11 P, Heineken/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn.  100; außerdem bereits: EuGH, Urt. v. 17.12.1998  – Rs. C-185/95 P, Baustahlgewebe/KOM, Slg. 1998 I-8485, Rn. 48; vgl. Jarass, Art. 41 EU-GRCh, Rn. 6. 696 EuGH, Urt. v. 16.07.2009  – Rs. C-385/07 P, Grüner Punkt/KOM, Slg. 2009, I-6155, Rn. 195. 697 Vgl. in Bezug auf das Recht Schadensersatz wegen einer überlangen Verfahrensdauer geltend zu machen: EuGH, Urt. v. 16.07.2009 – Rs. C-385/07 P, Grüner Punkt/KOM, Slg. 2009, I-6155, Rn.  194 f.; vgl. außerdem Jarass, Art.  47  EU-GRCh, Rn.  44; vgl. Eser, in: Meyer, Art. 47 EU-GRCh, Rn. 36. 698 Anderson/Cuff, Fordham Intl. L. J. 2010–2011, 385, 408 f.; Beninca/Zschocke, S.  131; Montag, ECLR 1996, 428, 429, 433; Montag/Hoseinian, in: Hawk, Fordham Competition Law Institute 2012, S. 83.

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Da die vom EGMR entwickelten vier maßgeblichen Faktoren objektiv-rechtsstaatliche und nicht genuin auf natürliche Personen bezogene Schutzzwecke verfolgen und inhaltlich flexibel genug sind, können sie ebenso auf Unternehmen wie auf natürliche Personen angewandt werden. Bestätigt wird dies durch den Umstand, dass die Unionsgerichte auch die Rechtsprechung des EGMR übernommen und auf Unternehmen angewandt haben. 1. Bewertung der Dauer des Verfahrens vor der Europäischen Kommission Da Verwaltungsverfahrens deutlich weniger formal ausgestaltet sind als Gerichtsverfahren und Einblicke angesichts der fehlenden Öffentlichkeit schwierig sind, ist die Beurteilung, ob ein Verfahren eine angemessen Länge hatte, schwieriger als dies für Gerichtsverfahren ohnehin schon der Fall ist. Anhaltspunkte liefern die sehr einzelfallbezogenen Urteile der Unionsgerichte und die äußerst raren Stellungnahmen in der Literatur. a) Hoher Komplexitätsgrad in Kartellverfahren In kartellrechtlichen Sachverhalten steht die ermittelnde Europäische Kommission stets vor einer nicht unerheblichen Beweisproblematik. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass Kartellabsprachen in aller Regel von den Beteiligten geheim gehalten werden und kaum dokumentiert werden.699 Aus diesem Grund ist es in der Praxis für die ermittelnden Behörden oftmals sehr zeitaufwendig, die Umstände weiter zu ergründen, die einen Anfangsverdacht begründen. Die im Rahmen von Nachprüfungen beschlagnahmten Dokumente werden dafür oftmals digitalisiert, sollten sie nicht ohnehin schon in digitaler Form vorliegen, und dann mit Hilfe von speziellen Suchprogrammen auf einschlägige Schlagworte hin durchsucht. Zwar übernehmen diese Tätigkeit Unternehmen, unter Hinzuziehung von Anwaltskanzleien, oftmals selbst, um in den Vorteil eines zumindest teilweisen Bußgelderlasses zu kommen. Gleichwohl ändert dies nichts an der Feststellung, dass die Natur von Kartellabsprachen dazu führt, dass Ermittlungen äußerst kompliziert sind.700 699

EuG, Urt. v. 08.07.2008 – Rs. T-53/03, BPB/KOM, Slg. 2008, II-1333, Rn. 63, wörtlich: „Im Rahmen wettbewerbswidriger Verhaltensweisen und Vereinbarungen ist es aber üblich, dass die Tätigkeiten insgeheim ablaufen, dass die Zusammenkünfte heimlich stattfinden und dass die Unterlagen darüber auf ein Minimum reduziert werden. Selbst wenn die Kommission Schriftstücke findet, die eine unzulässige Kontaktaufnahme zwischen Wirtschaftsteilnehmern explizit bestätigen, handelt es sich daher normalerweise nur um lückenhafte und vereinzelte Belege, so dass es häufig erforderlich ist, bestimmte Einzelheiten durch Schlussfolgerungen zu rekonstruieren.“; Breitenmoser, SZIER 2007, 415, 428. 700 Vgl. Beninca/Zschocke, S. 109.

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Verstärkt wird dies durch den Umstand, dass Verstöße gegen das Kartellverbot nie durch nur einen Täter begangen werden. Es ist vielmehr ein konstitutives Element von Kartelldelikten, dass diese auf Absprachen zwischen zwei oder mehreren Unternehmen beruhen.701 Deshalb müssen die an sich schon komplexen Ermittlungsmaßnahmen nicht nur gegen ein Unternehmen durchgeführt werden, sondern gegen verschiedene Unternehmen. Die Ermittlungen gegen die einzelnen Unternehmen stehen aufgrund der Absprachen, durch die das Kartell erst begründet wurde, noch dazu in einem äußerst engen Abhängigkeitsverhältnis. Die zu ermittelnden Sachverhalte sind dabei zwar zunächst tatsächlicher Natur, müssen aber sehr aufwendigen wirtschaftlichen Wertungen unterzogen werden, die nicht von Juristen vorgenommen werden können, sondern für welche in der zuständigen Generaldirektion Wettbewerb eigene Mitarbeiter wie der „Chief Competition Economist“ und sein Team zuständig sind. Es zeigt sich somit, dass kartellrechtliche Sachverhalte äußerst komplex sind und die damit verbundenen Ermittlungen außerdem aufgrund der Vielzahl an (möglichen) Tätern erschwert werden. Bis sich aus einem Mosaik an Erkenntnissen ein Bild zusammensetzt, das dem notwendigen Beweismaß genügt, ist ein hoher Arbeitsaufwand erforderlich. Werden dabei neue Aspekte aufgedeckt, und seien sie nur partikulärer Natur, so können die in der Folge notwendigen weiteren Ermittlungen abermals mehrere Monate in Anspruch nehmen.702 Ein nur wenige Monate dauerndes Verfahren vor der Europäische Kommission ist in Kartellrechtsfällen deshalb in aller Regel ausgeschlossen. Dies ist insbesondere der Fall, weil Ermittlungen oftmals nur iterativ und nicht parallel erfolgen können. b) Große Belastung der Beschwerdeführerin durch hohen Sanktionsrahmen Während die Komplexität der Sachverhaltsermittlung gleichsam als Rechtfertigungsgrund für lange Verfahren angesehen werden kann, ist die Untersuchung der Bedeutung der Sache für die Beschwerdeführerin das korrespondierende Gegenargument dazu. Je höher die Belastung durch das Ermittlungsverfahren und die 701 Vgl. die Feststellung, dass im Verfahren Baustahlgewebe, aufgrund der Beteiligung von vierzehn Unternehmen ein hoher Komplexitätsgrad bestand: EuGH, Urt. v. 17.12.1998  – Rs. C-185/95 P, Baustahlgewebe/KOM, Slg. 1998 I-8485, Rn. 35; in Bezug auf das Verfahren vor dem EuG, jedoch auch auf Verfahren vor der Europäischen Kommission übertragbar: Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 30.05.2013 – C-58/12 P, Groupe Gascogne/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn.  82, wobei die Generalanwältin ergänzend auf die in europaweiten Verfahren herrschende Sprachenvielfalt und den damit einhergehenden Übersetzungsaufwand hinweist. 702 Vgl. in Bezug auf Verfahren vor dem EuG, auf das administrative Vorverfahren jedoch übertragbar: Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 30.05.2013  – C-58/12  P, Groupe Gascogne/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 83.

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Unsicherheit ist, ob es zu einer Sanktionierung kommt, desto höher sind die Anforderungen an die Rechtfertigung eines langen Verfahrens. Wenn die Ausschöpfung des Sanktionsrahmens im Bußgeldverfahren noch nicht sicher ist, so sind Unternehmen, wie bereits mehrfach dargestellt, dennoch bilanzrechtlich verpflichtet, entsprechende Rückstellungen zu bilden. Darüberhinaus werden sie sich bemühen, ihre Liquiditätsplanung auf einen möglichen Vollzug einzustellen. Ein Teil ihres Kapitals ist somit gebunden und kann im Geschäftsbetrieb nicht anderweitig verwendet werden. Dies stellt eine erhebliche wirtschaftliche Einschränkung für das betroffene Unternehmen dar. Dies wird Investitionsvorhaben nicht selten einschränken und kann zum Teil Auswirkungen auf den laufenden Geschäftsbetrieb haben. Außerdem werden die Ermittlungsmaßnahmen oftmals publik und können abhängig vom konkreten Vorwurf eine große Belastung für die Wahrnehmung des betroffenen Unternehmens in der Öffentlichkeit darstellen, die sich zumindest mittelbar finanziell auswirken kann. Die Belastung von Unternehmen durch kartellrechtliche Ermittlungen kann daher kaum unterschätzt werden und gebietet ein äußerst zügiges Verfahren, um diesen wirtschaftlich belastenden Zustand der Rechtsunsicherheit schnellstmöglich zu beenden. c) Zu erwartende Nutzung diverser Verteidigungsmittel durch die Beschwerdeführerin Untersucht man das Verhalten der Beschwerdeführerin, kann auf abstrakter Ebene nur bezüglich des in der Regel zu erwartenden Verhaltens Stellung genommen werden. Aufgrund der erheblichen Belastung durch die Ermittlungsmaßnahmen und angesichts des sehr hohen Bußgeldrahmens, ist davon auszugehen, dass Unternehmen sämtliche Möglichkeiten nutzen werden, um sich gegen die Vorwürfe der Europäischen Kommission zu verteidigen. Jedes Bestreiten von Vorwürfen aber führt zwangsläufig zu einer Verlängerung des Verfahrens, obgleich es natürlich nicht als unzulässige Verfahrensverzögerung anzusehen ist. Insbesondere wenn man Unternehmen, wie vorstehend gefordert, ein Recht zur Aussageverweigerung zuerkennt, so führt dies dazu, dass die Europäische Kommission, anders als derzeit noch der Fall, Informationen selbst erheben muss, was mit einem deutlichen zeitlichen Mehraufwand verbunden sein kann. Gleichwohl dürfte dieser nicht unermesslich sein, müssen Unternehmen diese nach der geltenden Rechtslage doch selbst erst erheben, was aufgrund der in der Regel nicht vorhandenen Kooperationsbereitschaft involvierter Mitarbeiter ebenfalls einen erheblichen zeitlichen Aufwand bedeutet. Die zudem von der Europäischen Kommission in großem Umfang genutzten Beweisvermutungen, ihre konkrete Zulässigkeit dahingestellt, wird Unternehmen ebenfalls dazu veranlassen zu versuchen, diese zu widerlegen. Ebenfalls wird der

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Interpretationsspielraum, der komplexen Fragestellungen wie dem europäischen Kartellrecht immanent ist, Unternehmen veranlassen, eigene Ansichten vorzubringen, ob bestimmte tatbestandliche Voraussetzungen erfüllt sind. Auch wenn Ermittlungsmaßnahmen und eine Auseinandersetzung nach der Mitteilung der Beschwerdepunkte für Unternehmen umso schwerwiegender sind, je länger sie dauern, steht die von den Unternehmen selbst verursachte, längere Verfahrensdauer dazu dennoch nicht in Widerspruch: Der monetäre Einsatz für anwaltlichen Beistand ist verglichen mit dem Potential einer womöglich auch nur teilweisen Bußgeldreduktion gering. Eine Verfahrensverlängerung durch die Nutzung von Verteidigungsmitteln hinzunehmen scheint sich somit zumindest ex ante zu lohnen. Eine unzulässige Verzögerung zulasten der Unternehmen stellt dies nicht dar. Gleichwohl ist dies ein Umstand, der das Verfahren verlängert, nur eben nicht in unzulässiger Weise. d) Schwierigkeit der Überprüfung des konkreten Verhaltens und struktureller Defizite der Europäischen Kommission Die vorstehend untersuchten drei Faktoren beschäftigen sich mit der Komplexität von Wettbewerbsverfahren, dem Umstand dass das zulässige Verteidigungsverhalten der Unternehmen in aller Regel zu einem längeren, aber nicht verzögerten Verfahren führen wird, und der Tatsache dass ein langes Verfahren für Unternehmen im europäischen Wettbewerbsrecht eine enorme Belastung darstellt. Als vierter Faktor ist das Verhalten der mit dem Fall befassten Behörden zu untersuchen. Entscheidend ist dabei zum einen die Frage, inwiefern es im europäischen Kartellverfahren strukturelle Defizite gibt, die das Potential eines schnelleren Verfahrens bergen und damit einen möglichen Verstoß darstellen. Zum anderen soll dargelegt werden, welche enormen Herausforderungen eine Prüfung des Einzelfalles birgt, insbesondere hinsichtlich des Nachweises, dass es zu einer unangemessenen Verzögerung gekommen ist und dass deshalb der Nachweis, dass ein Verfahren im Einzelfall unangemessen lange gedauert hat, geradezu unmöglich ist. aa) Unbestimmbarkeit struktureller Defizite Während die VO (EG) 1/2003 keine maßgeblichen verfahrensleitenden Bestimmungen enthält, die Aufschluss über das Beschleunigungspotential bieten könnten, gewährt die Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art. 101 und 102 AEUV in dieser Hinsicht tiefere Einblicke.703 Diese enthält viele Details zu den Voraussetzungen und Rahmenbedingungen von Verfahrens 703 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art.  101 und 102 AEUV.

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einleitungen, Auskunftsverlangen, Nachprüfungen und den Verteidigungsrechten der betroffenen Unternehmen. Die Ausführungen zu den einzelnen Handlungsmöglichkeiten für die Europäische Kommission lassen hinsichtlich der Dauer von Kartellverfahren keine Defizite erkennen und sie regeln nur einzelne Verfahrensabschnitte. Sie enthalten weder Ausführungen über die iterative Abfolge dieser Verfahrenshandlungen, noch sind Bestimmungen über die Verknüpfung insbesondere von Ermittlungsmaßnahmen zu erkennen. Aus diesem Grund begründen sie zwar keine Bedenken, gleichwohl können sie auch nicht positiv das Fehlen struktureller Defizite bestätigen. Weitere vergleichbare Regelwerke sind nicht ersichtlich. Einblicke in die Verwaltungspraxis als weiterer, möglicher Anhaltspunkt für strukturelle Defizite sind ebenfalls schwierig. Urteile der Unionsgerichte, die sich mit der Dauer der Verfahren vor der Europäischen Kommission auseinandersetzen, prüfen zwar neben der Komplexität auch andere Kriterien tiefergehend, geben jedoch dennoch keine Einblicke in grundlegende Verfahrensstrukturen und mögliche Defizite.704 bb) Schwierige Beweisbarkeit konkreter Verfahrensverzögerungen durch die Europäische Kommission Zur Beurteilung, ob im Verfahren vor der Europäischen Kommission im Einzelfall Verfahrensverzögerungen vorliegen, kann dieses für die Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer in zwei Abschnitte geteilt werden. So erfolgt zunächst die umfangreiche Ermittlung des Sachverhalts, woran der zweite Verfahrensabschnitt anschließt, der mit der Mitteilung der Beschwerdepunkte beginnt und mit dem Erlass der abschließenden Entscheidung endet.705 Ob es innerhalb dieser Verfahrensteile oder zwischen dem ersten und dem zweiten Teil zu unangemessenen Verfahrensverzögerungen gekommen ist, ist ein äußerst schwierig nachzuweisender Umstand. Nicht umsonst überschreibt die Generalanwältin Sharpston einen Abschnitt ihrer umfangreichen Schlussanträge zu dieser Thematik zum Verfahren Gascogne mit dem Titel „Überlange Dauer von 704 Im Urteil SCK und FNK aus dem Jahr 1997 (EuG, Urt. v. 22.10.1997 – verb. Rs. T-213/95 u. T-18/96, SCK u. FNK/KOM, Slg. 1997, II-1746) setzt sich des EuG erstmals ausschließlich mit der Angemessenheit der Dauer eines Kartellverfahrens vor der Europäischen Kommission auseinander und erachtet dabei die vier vom EGMR aufgestellten Kriterien als maßgeblich. Gleichwohl erfolgt die nachfolgende Prüfung nicht trennscharf und bezüglich der einzelnen Aspekte auch eher oberflächlich. Einblicke in die (damalige) Verwaltungspraxis ergeben sich aus dem Urteil nicht. 705 Diese Unterscheidung ebenso vornehmend: EuG, Urt. v. 15.07.2015 – verb. Rs. T-389/10 [u. a.], SLM [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 337; grundlegend so bereits: EuGH, Urt. v. 15.10.2002 – verb. Rs. C-238/99 P [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/ KOM, Slg. 2002, I-8618, Rn. 182 f.

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

Gerichtsverfahren – eine messbare Größe?“. Sie bezieht sich dabei zwar auf Gerichtsverfahren, ihre Bedenken sind jedoch auf Verwaltungssanktionsverfahren wie das europäische Kartellverfahren vor der Europäischen Kommission übertragbar. Dazu ist hinsichtlich der Ermittlungsphase zum einen der hohe Komplexitätsgrad von Kartellverfahren anzuführen.706 Empfindet ein Unternehmen das Verhalten der Europäischen Kommission als untätig, so mag dies daran liegen, dass sich diese noch in Auseinandersetzungen mit einem anderen Kartellanten befindet und das Ergebnis dieser Auseinandersetzung abwarten muss, bevor sie sich basierend auf den so erworbenen Erkenntnissen wieder dem ersten Unternehmen zuwenden kann. Hinzu kommt, dass die gewonnenen Erkenntnisse aufwendig ausgewertet werden müssen, wiederum ein Prozess ohne Interaktion zwischen der Europäischen Kommission und den Unternehmen. Nachzuweisen, dass die Europäische Kommission in Teilen des Verfahrens untätig oder ineffizient war, erscheint deshalb geradezu unmöglich. Allenfalls wenn die Europäische Kommission mit keinem Unternehmen in Kontakt steht und diese Phase ungewöhnlich lange dauert, kann eine Unangemessenheit der Verfahrensdauer angenommen werden. Ob dies bereits nach wenigen Monaten oder erst nach einem Jahr oder mehr der Fall ist, kann unmöglich pauschal beantwortet werden, da Kartellverfahren sehr unterschiedlich sein können. Nur in äußerst seltenen Ausnahmefällen dürfte daneben von einer bei absoluter Betrachtung unangemessenen Gesamtdauer des Ermittlungsverfahrens zu sprechen sein. In diesen Fällen könnte wegen der Eklatanz der Überlänge angedacht werden, auf den konkreten Nachweis der Verzögerung durch das Verhalten der Europäischen Kommission zu verzichten. Einfacher dürften Nachweise für die Phase zwischen dem ersten und dem zweiten Verfahrensabschnitt sein.707 Nach der letzten Ermittlungsmaßnahme ist der Europäischen Kommission zweifelsohne ein nicht zu kurz zu bemessender Zeitraum für die Auswertung der Erkenntnisse und für das nachfolgende Verfassen der Mitteilung der Beschwerdepunkte zuzuerkennen.708 Gleichwohl bedürfte es einer besonderen Begründung, würde dieser Abschnitt deutlich länger als die Phase der Ermittlung dauern. Ab der Mitteilung der Beschwerdepunkte dürfte das Verfahren in der Regel deutlich schneller ablaufen, da keine weiteren Ermittlungsmaß 706 Siehe hierzu bereits die Ausführungen unter Teil 3: H. II. 1. a), S. 249 ff.; in dem zu Fragen der Verfahrensdauer wegweisenden Urteil Limburgse Vinyl Maatschappij hat der EuGH offensichtlich die Wertung des EuG bestätigt, die ganz überwiegend auf die Komplexität des Verfahrens abstellte: EuGH, Urt. v. 15.10.2002 – verb. Rs. C-238/99 P [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/KOM, Slg. 2002, I-8618, Rn. 188 f., 196. 707 Vgl. ebenfalls auf die Phase der letzten Ermittlungstätigkeit und die Mitteilung der Beschwerdepunkte abstellend: EuGH, Urt. v. 15.10.2002 – verb. Rs. C-238/99 P [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/KOM, Slg. 2002, I-8618, Rn. 191. 708 Vgl. zum Ablauf dieses Verfahrensabschnittes: EU Antitrust Manual of Procedures, Internal DG Competition working documents on procedures for the application of Articles 101 and 102 TFEU, Kapitel 11, Rn. 23 ff.

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nahmen mehr durchgeführt werden. Wiederum wird die Prüfung der angemessenen Verfahrensdauer aber davon dominiert, dass echte Einblicke in die Arbeit der Kommission kaum möglich sind. Anhaltspunkt kann dabei nur die Dauer zwischen einer Stellungnahme eines Unternehmens und deren Beantwortung durch die Europäische Kommission sein, wobei der Umfang der Stellungnahme des Unternehmens maßgeblich ist. Insgesamt dürfte es in der Regel nahezu unmöglich sein, den Nachweis einer unangemessenen Verzögerung des Verfahrens vor der Europäischen Kommission zu erbringen. 2. Bewertung der Dauer des Anfechtungsverfahrens vor den Unionsgerichten Die Verfahrensdauer vor den Unionsgerichten wird an den gleichen, vom EGMR entwickelten Kriterien gemessen wie das Verfahren vor der Europäischen Kommission, immerhin wurden die Kriterien ursprünglich für Gerichtsverfahren entwickelt. Jedoch ergeben sich, auch wenn es sich um die gleiche Sache handelt, Unterschiede hinsichtlich der Bewertung. a) Geringere Komplexität von Anfechtungsverfahren vor den Unionsgerichten Anders als die Europäische Kommission sind die Unionsgerichte nicht mehr mit der grundlegenden Sachverhaltsermittlung befasst, sondern überprüfen nur noch die von den Verfahrensparteien vorgebrachten Aspekte des Kartellverfahrens.709 Der Komplexitätsgrad in gerichtlichen Anfechtungsverfahren ist deshalb erheblich geringer. Zu beachten ist jedoch, dass es sich bei Kartellverfahren vor der Europäischen Kommission in der Regel um multinationale Sachverhalte handelt und die klagenden Unternehmen in Mitgliedstaaten mit verschiedenen Sprachen ansässig sind. Während die oftmals selbst multinational tätigen Verfahrensparteien von sich aus mit der Europäischen Kommission auf Englisch kommunizieren, führt die Sprachenregelung nach § 2 lit. a von Art. 35 der Verfahrensordnung des Gerichts bzw. Art.  29  der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dazu, dass es umfangreicher Übersetzungsarbeiten durch Bedienstete des EuG und des EuGH bedarf, je nachdem aus welchem Mitgliedstaat die klagenden Unternehmen stammen.710 Sämtliche verschiedensprachige Akten müssen „auf eine gemeinsame Arbeitssprache 709

Vilsmeier, S. 83 f. EuGH, Urt. v. 17.12.1998  – Rs. C-185/95 P, Baustahlgewebe/KOM, Slg. 1998 I-8485, Rn. 43.

710

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

reduziert werden“711. Angesichts der vorherrschenden Komplexität von Kartellverfahren bedürfen diese Tätigkeiten eines erheblichen zeitlichen Mehraufwandes, der die Dauer von Kartellverfahren erheblich verlängern kann, ohne dass dies eine unangemessene Verzögerung darstellt. b) Noch höhere Belastung in Gerichtsverfahren bei vorläufiger Vollstreckbarkeit von administrativ verhängten Sanktionen Während Unternehmen während des Verwaltungssanktionsverfahrens nach der hier vertretenen Meinung lediglich bilanzielle Rückstellungen wegen der möglichen Bußgeldzahlung bilden müssen und ihre Liquiditätsplanung an die mögliche Fälligkeit anpassen müssen, ist die Geldbuße mit Abschluss des Verfahrens vor der Europäischen Kommission bei jetziger Rechtslage sofort fällig.712 Für Unternehmen steht in einem Gerichtsverfahren derzeit somit allenfalls eine Bußgeld­ reduktion auf dem Spiel. Die Belastung im anschließenden Gerichtsverfahren könnte deshalb als geringer als im vorangegangenen Verwaltungssanktionsverfahren eingeschätzt werden. Dies ist jedoch nur eine Frage der Betrachtungsweise. Bei sofort vollstreckbaren Bußgeldbescheiden hat sich die Gefahr der Zahlungspflicht zwar schon realisiert. Dadurch ist die Belastung im gerichtlichen Anfechtungsverfahren aber nicht geringer. Denn es besteht nicht die Gefahr einer Buße, sondern es besteht die Gefahr der Nicht-Reduktion der Buße. Das Unternehmen muss in Gerichtsverfahren die Belastung somit zunächst voll tragen und kann sich erst in einem nächsten Schritt eine Teilreduktion erhoffen. Damit steht die Belastung für Unternehmen in Anfechtungsverfahren vor den Unionsgerichten der Belastung im Verfahren vor der Europäischen Kommission in nichts nach und ist angesichts der enormen Bußgeldhöhe von Kartellbußgeldern ebenfalls als extrem hoch einzustufen. Ist ein Bußgeldbescheid nach Abschluss des Verfahrens vor der Europäischen Kommission nicht sofort vollstreckbar, so muss sich das Unternehmen weiterhin auf den Vollzug einstellen. Während dies während des Verfahrens vor der Europäischen Kommission nur wahrscheinlich war, hat sich diese Gefahr mit dem Erlass eines Kartellbußgeldbescheids nunmehr manifestiert. Auch wenn ein gerichtliches Anfechtungsverfahren zur Reduktion des Bußgeldes oder gar zur Aufhebung des Bescheids führen kann, hat sich dennoch die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass das Bußgeld tatsächlich zu zahlen ist. Unter diesen Umständen wäre die Belastung im gerichtlichen Anfechtungsverfahren sogar als noch höher anzusehen als im vorgeschalteten Verwaltungsverfahren. 711

Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 30.05.2013 – C-58/12 P, Groupe Gascogne/ KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 82. 712 Siehe hierzu die Ausführungen unter Teil 3: G. III., S. 237 ff.; EuGH, Urt. v. 17.12.1998 – Rs. C-185/95 P, Baustahlgewebe/KOM, Slg. 1998 I-8485, Rn. 32.

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c) Einzelfallabhängige Bewertung des Verhaltens von Unternehmen und den Unionsgerichten Angesichts dieser Belastung ist davon auszugehen, dass die klagenden Unternehmen gegen den Bußgeldbescheid mit vielen Argumenten vorzugehen versuchen werden. Dies zeigt sich in dem Umstand, dass betroffene Unternehmen in den Jahren 2000 bis 2010 63 Prozent der Entscheidungen der Europäischen Kommission vor dem EuG angefochten haben.713 Diese Zahl hat zwar in den letzten Jahren abgenommen,714 diejenigen Unternehmen, die eine Anfechtungsklage einreichen, werden aber weiterhin in erheblichem Maße von ihren Verteidigungsrechten Gebrauch machen, was das Verfahren nicht auf unangemessene Weise verzögert, zumindest aber zu einer berücksichtigenswerten Verlängerung führt. Zum Verhalten der Gerichte ist zunächst festzustellen, dass wie in Bezug auf die Europäische Kommission kaum Aussagen zu strukturellen Ineffizienzen möglich sind. Allenfalls kann festgestellt werden, dass die Berufung auf eine (chronische)  Überlastung der Gerichte nicht als Rechtfertigung für ein überlanges Verfahren geltend gemacht werden kann.715 Konkretes verfahrensverzögerndes Verhalten ist in aller Regel nur dann nachweisbar, wenn es sich um Abschnitte tatsächlicher Untätigkeit handelt.716 Nachweisbar sind diese ebenso schwierig wie bereits auf der Ebene des europäischen Kartellverfahrens.

III. Fazit: Keine strukturellen Mängel bei Bewertung der Gesamtdauer des behördlichen und gerichtlichen Verfahrens Zunächst scheinen die vier vom EGMR entwickelten Kriterien, anhand derer die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens zu messen ist, gute Anhaltspunkte für diese Bewertung zu sein. Abstrakte Feststellungen sind in diesem Zusammenhang nicht möglich, es muss vielmehr auf eine Bewertung des Einzelfalles ankommen, wie auch die Generalanwältin Sharpston in ihren ausführlichen Schlussanträgen zur Rechtssache Groupe Gascogne feststellt: „Bisher ist die Frage, ob ein Verfahren ungebührlich lange gedauert hat, allerdings wohl eher pragmatisch als grundsätzlich beantwortet worden. Meines Erachtens muss man der Versu 713

Hellwig/Hüschelrath/Laitenberger, ZEW Discussion Paper No. 16–010, S. 9. So sollen nach Hellwig/Hüschelrath/Laitenberger Anfechtungsklagen allgemein gegen Entscheidungen der Europäischen Kommission in Kartellsachen vor allem wegen der verstärkten Wahl von Settlementverfahren zurück gegangen sein. Dies lässt jedoch die Frage unberücksichtigt, in welchem Maße davon Anfechtungen gegen Bußgeldentscheidungen betroffen sind. 715 Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 30.05.2013 – C-58/12 P, Groupe Gascogne/ KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 89 f. 716 Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 30.05.2013 – C-58/12 P, Groupe Gascogne/ KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 91. 714

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

chung widerstehen, den Begriff „übermäßig“ in einer allgemeingültigen Formel ausschließlich anhand der Gesamtdauer des Verfahrens bestimmen zu wollen.“717

Daraus ließe sich der Umkehrschluss ziehen, dass ein Verfahren dann angemessen ist, wenn es keine Verstöße gegen das Gebot eines nicht unangemessen langen Verfahrens gibt. Problematisch, wenn nicht sogar nahezu unmöglich, ist der Nachweis, ob diesbezüglich ein Verstoß stattgefunden hat. Denn es ist Kartellverfahren immanent, dass sie äußerst komplex sind, Unternehmen von diversen Verteidigungsrechten Gebrauch machen und sie deshalb per se lange dauern. Eine Besonderheit von enormer Auswirkung ist der Umstand, dass die Untersuchung und Sanktionierung zunächst aufgrund eines vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens erfolgt. Um die Dimension dieser grundlegenden Entscheidung zu beurteilen, bedarf es einer Gesamtbetrachtung der Verfahren vor der Europäischen Kommission und den Unionsgerichten.718 Die mit einer Anfechtung ver­bundenen Kosten sind im Vergleich zu den Bußgeldern in aller Regel so gering, dass sie kaum ins Gewicht fallen. Trotz der Belastung aufgrund des verhängten und sogar möglicherweise vollzogenen Bußgeldbescheids, dürfte allein die Chance einer auch nur teilweisen Bußgeldreduktion ausreichen, eine Anfechtungsklage einzureichen, solange sie nicht völlig aussichtslos erscheint. Denn nur so kann eine Entscheidung durch ein unabhängiges und unparteiisches Organ erlangt werden. Auch diesen Umstand fasst die Generalanwältin Sharpston in ihren Schlussanträgen zur Rechtssache Groupe Gascogne zusammen: „Das Recht auf ein faires Verfahren innerhalb angemessener Frist umfasst zwei Schlüsselelemente, nicht nur eines. Wenn man jede mögliche Abkürzung nimmt, um zu einer schnelleren Erledigung der Rechtssache zu kommen, stünde dies im Widerspruch zu dem Grundsatz, dass die Fairness des Verfahrens insgesamt gewahrt werden muss. Ganz allgemein entspräche dies nicht einem angemessenen gerichtlichen Geschäftsgang. Die hier zusammenhängenden Klageverfahren sind in dem Kontext zu sehen, dass gegen die betreffenden Unternehmen Geldbußen in erheblicher Höhe wegen von der Kommission als sehr schwerwiegend eingestuften Verstößen gegen die Wettbewerbsregeln festgesetzt wurden. Diese Unternehmen haben ein Recht darauf, ihre Gründe für eine gegen die Entscheidung erhobene Klage vorzubringen und diese Gründe sorgfältig prüfen zu lassen; sie müssen den Eindruck gewinnen, dass das Gericht bei der Prüfung ihrer Sache – sei es mit für die Unternehmen positivem oder negativem Ausgang  – ordnungsgemäß vorgegangen ist. Wie der Gerichtshof hervorgehoben hat, ist zur Wahrung der prozessualen Fairness eine umfassende Nachprüfung durch das Gericht geboten, wenn die Kommission als Ermittlungs-, Verfolgungs- und Sanktionen festsetzende Behörde in Einem fungiert. Die Zeit, die eine solche gründliche Nachprüfung in Anspruch nimmt, ist – wie gesagt – keine „übermäßige“ oder „verschwendete“ Zeit. Gründlichkeit ist das Fundament für die Legitimität der Urteile des Gerichts.“719 717 Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 30.05.2013 – C-58/12 P, Groupe Gascogne/ KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 80. 718 de Bronett, ZWeR 2012, 157, 174. 719 Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 30.05.2013 – C-58/12 P, Groupe Gascogne/ KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 87.

I. Gesamtfazit zur Einhaltung strafrechtsähnlicher Verfahrensgarantien 

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Ein vorgeschaltetes Verwaltungsverfahren führt somit geradezu automatisch zu einer Instanzverlängerung. Hinzu kommt, dass auch eine Entscheidung des EuGH noch keinen Verfahrensabschluss bedeuten muss. Sollte er eine Entscheidung nicht abändern, also die Geldbuße reduzieren, sondern für nichtig erklären, führt dies zu einer Zurückverweisung an die Europäische Kommission.720 Die allein mit der Entscheidung für ein zunächst administratives Verwaltungssanktionsverfahren einhergehende regelmäßige Verlängerung des Gesamtverfahrens, das dann nicht selten über zehn Jahre dauern kann,721 ist somit eine unvermeidbare Konsequenz. Einen Verstoß gegen den Grundsatz einer angemessen Verfahrensdauer stellt dies nicht dar. Als Rechtsfolge eines Verstoßes sehen sowohl der EGMR als auch die Unionsgerichte entweder eine Reduktion der verhängten Sanktion oder eine Entschädigung in Geld vor. Angesichts der weitgehenden Unmöglichkeit, einen solchen Verstoß überhaupt nachweisen zu können, können weitergehende Ausführungen dazu genauso wie Überlegungen zu einem möglichen Amtshaftungsanspruch nach Art. 340 AEUV an dieser Stelle dahinstehen.

I. Gesamtfazit zur Einhaltung strafrechtsähnlicher Verfahrensgarantienim europäischen Kartellrecht Es wurde bereits festgestellt, dass es nicht einerseits strafrechtsähnliche und andererseits kernstrafrechtliche Verfahrensgarantien gibt. Eine Unterscheidung ist vielmehr nur zwischen kernstrafrechtlichen und strafrechtsähnlichen Sanktionsverfahren möglich, wobei in letzteren bestimmte Verfahrensgarantien – zunächst – nicht oder nicht in voller Strenge eingehalten werden müssen. Die Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sie für den Fall eines gerichtlichen Anfechtungsverfahrens gegen die Verwaltungssanktionsentscheidung  – nachträglich  – gewahrt werden können. Im Folgenden soll zunächst das derzeitige Verfahrensgarantieniveau im europäischen Kartellverfahren mit dem in dieser Arbeit geforderten Verfahrensgarantieniveau verglichen werden. Anschließend ist zu untersuchen, ob diejenigen Garantien, die nach der hier vertretenen Ansicht im Verfahren vor der Europäischen Kommission nicht notwendigerweise eingehalten werden müssen, in einem anschließenden gerichtlichen Anfechtungsverfahren vor den Unionsgerichten gewahrt werden können. Sollte dies der Fall sein, so kann ausgehend von der zu Beginn dieser Arbeit aufgestellten Hypothese festgestellt werden, dass allein die Verhängung existenzvernichtender Kartellbußgelder durch die Europäische Kommission ausgeschlossen ist, ansonsten aber keine Grenzen hinsichtlich der Höhe von Bußgeldern bestehen.

720

de Bronett, ZWeR 2012, 157, 185. Montag, NJW 1998, 2088, 2094.

721

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

I. Notwendiges Verfahrensgarantieniveau im europäischen Kartellrecht Kann die Europäische Kommission einen Anfangsverdacht gegen ein Unternehmen begründen, an einer Kartellabsprache beteiligt gewesen zu sein, so leitet sie erste Ermittlungsmaßnahmen ein, zu denen neben den hier nicht thematisierten Nachprüfungen insbesondere Auskunftsverlangen gehören. Ergehen diese gem. Art. 18 Abs. 1, 3 S. 1 VO (EG) 1/2003 als Auskunftsentscheidung, so sind Unternehmen verpflichtet auf diese zu antworten und können sich ausweißlich des Erwägungsgrundes 23 der VO (EG) 1/2003 auf ein Aussageverweigerungsrecht nur berufen, wenn ihre Aussage ein Eingeständnis einer Zuwiderhandlung darstellt. Sonstige selbstbelastende Aussagen sind nicht geschützt. Diese Verfahrenspraxis ist nach der vertretenen Ansicht weder mit der EMRK, noch der EU-GRCh vereinbar. Die Ermittlungsphase schließt mit der Mitteilung der Beschwerdepunkte an die betroffenen Unternehmen ab. Deren Umfang ist maßgeblich dafür, ob in ausreichendem Umfang rechtliches Gehör gewährt werden kann. Denn ein Unternehmen ist nur in der Lage, sich zu denjenigen Punkten zu äußern und sich somit rechtliches Gehör zu verschaffen, über die es im Bilde ist. Die Praxis der Euro­ päischen Kommission ist diesbezüglich keinen Bedenken ausgesetzt. Problematisch ist jedoch die dreifache Rolle der zuständigen Beamten der Generaldirektion Wettbewerb. Denn die Gewährung rechtlichen Gehörs erschöpft sich nicht in einer schriftlichen oder mündlichen Äußerungsmöglichkeit für Unternehmen. Maßgeblich ist vielmehr, dass die Äußerungen auch gewürdigt werden bzw. überhaupt gewürdigt werden können. Bezüglich des zweiten Aspektes bestehen im europäischen Kartellrecht erhebliche Bedenken. Beamte, die bereits ermittelt haben und eine entsprechende Mitteilung der Beschwerdepunkte verfasst haben, sind zwangsläufig voreingenommen, da sie von der Richtigkeit ihrer Anklage überzeugt sein müssen. Dies führt dazu, dass sie nicht zu einer unvoreingenommenen Würdigung der Gegenargumente eines Unternehmens in der Lage sind, die dieses im Rahmen der Gehörsgewährung vorgebracht hat. Neben der Verletzung rechtlichen Gehörs stellt dies auch einen Verstoß gegen das Gebot der Unvoreingenommenheit dar, das sich aus der Unschuldsvermutung ableitet. Nur eine Reorganisation der Generaldirektion Wettbewerb kann dieser Situation Abhilfe schaffen. Eng mit der Gewährung rechtlichen Gehörs verbunden ist das Recht, Belastungszeugen zu befragen und Entlastungszeugen laden zu lassen. Beides ist im europäischen Kartellrecht nicht vorgesehen und stellt einen Verstoß gegen die Vorgaben aus der EMRK und der EU-GRCh dar. Sofern die Parteien im Rahmen des rechtlichen Gehörs eine mündliche Anhörung vor dem Anhörungsbeauftragten beantragen, erfolgt diese unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Auch dies ist mit den Verfahrensgarantien nicht vereinbar. Jedoch erscheint es nicht sinnvoll, in strafrechtsähnlichen Verfahren dem Mündlich-

I. Gesamtfazit zur Einhaltung strafrechtsähnlicher Verfahrensgarantien 

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keitsgrundsatz volle Geltung zuzusprechen, also sämtliche Aspekte mündlich zu verhandeln. Dies würde die Effizienzvorteile eines Verwaltungsverfahrens gänzlich zunichte machen und wäre eine Forderung, die mit den Charakteristika eines Verwaltungssanktionsverfahrens nicht vereinbar wäre. Die nur partielle Öffentlichkeit stellt somit ein Verfahrensdefizit strafrechtsähnlicher Sanktionsverfahren gegenüber kernstrafrechtlichen Verfahren dar. Verhält sich ein Beamter der Generaldirektion Wettbewerb in voreingenommener Weise, erscheint er also als befangen, so besteht für Unternehmen im Moment keine Möglichkeit, diesen Umstand zu rügen. Bei derzeitiger Behördenorganisation mag dies insofern nachvollziehbar sein, da die zuständigen Beamten schon aus strukturellen Gründen voreingenommen sind. Bei einer Reorganisation der Generaldirektion Wettbewerb bedürfte es jedoch einer Rügemöglichkeit, um den Vorgaben aus der Unschuldsvermutung nach der EMRK bzw. der EU-GRCh gerecht zu werden. Gleiches gilt, falls sich ein Beamter vor Verfahrensabschluss schuldpräsumtiv äußert. Das gravierendste verfahrensgarantierechtliche Defizit strafrechtsähnlicher Verfahren ist der Umstand, dass die finale Sanktionsentscheidung nicht von einem Gericht getroffen wird, sondern von einer Verwaltungsbehörde. Dieses Defizit ist strafrechtsähnlichen Sanktionsverfahren jedoch immanent. Geht man von der Zulässigkeit eines strafrechtsähnlichen Sanktionsverfahrens aus, so wird zum Teil bemängelt, dass mit dem Gremium der Kommissare Personen entscheiden, die nie in die Gewährung rechtlichen Gehörs involviert gewesen sind. Rechtliches Gehör wird tatsächlich nur durch die Beamten der Generaldirektion Wettbewerb gewährt, die einen Beschlussvorschlag für das Gremium der Kommissar entwerfen. Faktisch ist es jedoch so, dass die Kommissare ein ihnen zustehendes Ermessen nicht ausüben und somit die Entscheidung der Kommissare in Wirklichkeit eine Entscheidung der Beamten der Generaldirektion Wettbewerb ist. Solange die Kommissare keine eigene Ermessensausübung vornehmen, scheint dieser Umstand mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör vereinbar zu sein. Ob bei solchen Entscheidungen das notwendige Beweismaß und die Grenzen für Beweisvermutungen eingehalten werden, hängt vom Einzelfall ab. Zumindest bezüglich des Beweismaßes bestehen aber keine grundlegenden Bedenken. Der Umstand, dass eine Sanktion in einem lediglich strafrechtsähnlichen Sanktionsverfahren verhängt wird, führt jedenfalls nicht zu einer Einschränkung des verfahrensgarantierechtlichen Schutzes. Unvereinbar ist jedoch, die Beweispflicht der Unternehmen für das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen. Fechten Unternehmen Bußgeldentscheidungen der Europäischen Kommission vor dem EuG und möglicherweise anschließend vor dem EuGH an, so muss der Klage zumindest nach der EMRK eine aufschiebende Wirkung zukommen. Die derzeitige Rechtspraxis entspricht dieser Forderung nicht. Die an eine Anfechtung anschließende gerichtliche Kontrolle ist bis auf die Gewährung administrativer Beurteilungsspielräume für wirtschaftlich komplexe Fragestellungen hingegen

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Teil 3: Vereinbarkeit des europäischen Kartellrechts

ausreichend. Insbesondere braucht die Ermessensentscheidung der Europäischen Kommission ledilgich auf Ermessensfehler überprüft zu werden. Und dass sich die Unionsgerichte nur mit denjenigen Aspekten einer Verwaltungsentscheidung auseinandersetzten, die von den Parteien vorgetragen und angefochten werden, stellt ebenfalls keinen Verstoß gegen die EMRK oder die EU-GRCh dar. Eine umfassende Prüfung von Amts wegen ist nicht erforderlich. Insgesamt dauert ein Sanktionsverfahren, bis es zu einer gerichtlichen Entscheidung kommt länger, wenn es aus einem vorgeschalteten Verwaltungssanktionsverfahren und erst einem nachgelagerten gerichtlichen Verfahren besteht. Dieser Umstand ist jedoch eine zwangsläufige Konsequenz der Entscheidung für ein strafrechtsähnliches anstatt eines kernstrafrechtlichen Verfahrens.

II. Heilung des Anspruchs auf Entscheidung durch ein Gericht und des Öffentlichkeitsgrundsatzes durch Möglichkeit zur gerichtlichen Nachprüfung Wird im europäischen Kartellrecht dem vorstehend geforderten, höheren Verfahrensgarantieniveau entsprochen, so können nur der Öffentlichkeitsgrundsatz und der Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht nicht eingehalten werden. Vorausgesetzt, die gerichtliche Kontrolldichte ist höher als dies bisher der Fall ist, kann der Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht durch eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle der administrativen Sanktionsentscheidung geheilt werden. Dies hat zur Folge, dass die unter einem gewissen Legitimationsdefizit leidende Entscheidung der Europäischen Kommission nunmehr durch ein gänzlich unabhängiges und unparteiisches Organ kontrolliert wird und so nachträglich die im Fall von strafrechtlichen Anklagen notwendige umfassende Entscheidungslegitimation erfährt. Daneben kann dem Öffentlichkeitsgrundsatz mangels umfassender Mündlichkeit im administrativen Kartellverfahren nicht in Gänze genügt werden. Auch dieser Umstand hat zunächst ein Legitimationsdefizit zur Folge, da die Richtigkeit solcher Verfahren nur in geringerem Maße verifiziert werden kann. Denn die Überprüfung, ob ein Verwaltungssanktionsverfahren zu einem richtigen Ergebnis geführt hat, insbesondere ob der Beweis in ausreichendem Maße erbracht und gewürdigt wurde, kann für Außenstehende nur durch die Lektüre der publizierten Entscheidung überprüft werden. Diese ist jedoch zu knapp, als dass sich aus ihr die aufgeworfenen Fragen beantworten ließen. Ein nachträgliches gerichtliches Kontrollverfahren unter umfassender Öffentlichkeitsbeteiligung, das die geforderten Prüfmaßstäbe einhält, kann das verfahrensrechtliche Defizit heilen und der Entscheidung nachträgliche Legitimität verleihen. Bis es jedoch zu einer gerichtlichen Nachprüfung im Rahmen eines öffentlichen Verfahrens kommt und die beiden nicht eingehaltenen Verfahrensgarantien

I. Gesamtfazit zur Einhaltung strafrechtsähnlicher Verfahrensgarantien 

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geheilt werden, vergeht deutlich mehr Zeit, als dies bei einer sofortigen gerichtlichen Sanktionierung der Fall wäre. Dies ist eine unvermeidbare Konsequenz aus der Entscheidung für ein strafrechtsähnliches Sanktionsverfahren. Die voranstehende Untersuchung hat jedoch gezeigt, dass dies keinen Verstoß gegen das Gebot angemessener Verfahrensdauer darstellt.

III. Einzelfallabhängige Vereinbarkeit von Kartellbußgeldern mit dem derzeitigen administrativen Sanktionierungssystem Verfahrensgarantierechtliche Defizite im Kartellverfahren vor der Europäischen Kommission, die auch nach der in dieser Arbeit vertretenen Ansicht zulässig sind, können durch ein gerichtliches Anfechtungsverfahren vor den Unionsgerichten grundsätzlich gewahrt werden. Eine Heilung ist gleichwohl nur möglich, wenn eine Sanktion nicht zur unmittelbaren Existenzvernichtung eines Unternehmens geführt hat. Anderenfalls wäre das betroffene Unternehmen nicht mehr in der Lage, eine Klage vor den Unionsgerichten einzureichen und das Gerichtsverfahren zu durchlaufen. Da in einem solchen Fall nicht sämtliche strafrechtliche Verfahrensgarantien zur Anwendung kommen könnten, sind derart schwerwiegende Sanktionen mit einem zunächst administrativen Sanktionsverfahren unvereinbar. Wann eine Sanktion existenzvernichtend wirkt, hängt vom Einzelfall ab und muss individuell bestimmt werden. Aus unmittelbar verfahrensgarantierechtlicher Sicht sprechen ansonsten keine weiteren Argumente gegen die Verhängung auch sehr schwerwiegender Sanktionen in einem Verwaltungssanktionsverfahren.722

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Keine Einschränkungen aus der Rechtsprechung des EGMR entnehmen könnend, Castillo de la Torre, in: ECLA 2009, S. 397 f.: „Despite arguments to the contrary, nothing in the case law of the ECtHR indicates that a system where fines are imposed by administrative authorities and then subject to judicial review must be limited to cases of minor and frequent offences.“

Teil 4:

Gesamtfazit und Reformvorschläge für das europäische Kartellverfahren Das europäische Kartellrecht hat in den letzten Jahrzenten diverse Reformen erfahren. Jedoch sind noch nicht alle Defizite behoben, wie die vorstehende Untersuchung gezeigt hat. Deshalb sind weitere Verbesserungen notwendig.

A. Reformvorschläge im Rahmen der bestehenden Regelungen der Art. 101 und 103 AEUV Es wäre in der Praxis unrealistisch, Forderungen nach verfahrensrechtlichen Modifikationen des Kartellverfahrens aufzustellen, die eine Veränderung des AEUV erfordern würden. Vielmehr müssen sich diese im Rahmen dessen bewegen, was durch den AEUV gedeckt ist.1 Maßgeblich für das europäische Kartellrecht sind Art. 101 AEUV, der das allgemeine Kartellverbot festlegt, und die Verordnungsermächtigung aus Art. 103 AEUV, auf die sich die derzeit gültige VO (EG) 1/2003 stützt.

I. Unzulässigkeit existenzvernichtender Kartellbußgelder Die Bußgeldvorschrift des Art. 23 Abs. 2 lit. a VO (EG) 1/2003, wonach die Europäische Kommission Geldbußen gegen Unternehmen von bis zu 10 % des Vorjahresgesamtumsatzes des Unternehmens verhängen darf, ist mit einem administrativen Sanktionssystem zu vereinbaren. Entscheidend ist, dass die Europäische Kommission ihr Ermessen so ausübt, dass sie keine Geldbußen verhängt, die existenzvernichtend wirken. Die bisherige Ziff. 35 der Bußgeldleitlinien der europäischen Kommission sollte deshalb so abgeändert werden, dass für existenzvernichtende Bußgelder eine Ermessensreduktion auf Null besteht: „Eine Ermäßigung ist nur möglich hat zu erfolgen, wenn eindeutig nachgewiesen wird, dass die Verhängung einer Geldbuße gemäß dieser Leitlinien die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des Unternehmens unwiderruflich gefährden und ihre Aktiva jeglichen Wertes berauben würde.“

1

Wils, World Comp. 2004, 201, 210 f.

A. Reformvorschläge im Rahmen der bestehenden Regelungen

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Erforderlich ist dafür, dass die Europäische Kommission die Bußgeldleitlinien im Rahmen der Selbstbindung der Verwaltung in Bezug auf diesen Aspekt ausnahmslos berücksichtigt.

II. Umfassendes Aussageverweigerungsrecht für Unternehmen In der Untersuchungsphase verstößt die Pflicht für Unternehmen, auf Auskunftsentscheidungen gem. Art. 18 Abs. 1, 3 S. 1 VO (EG) 1/2003 umfassend zu antworten, gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit. Das in Ziff. 23 der Erwägungsgründe zur VO (EG) 1/2003 normierte Aussageverweigerungsrecht ist nicht ausreichend und bedarf daher einer Modifikation: „Unternehmen, die einer Entscheidung der Kommission nachkommen, können nicht gezwungen werden, eine Zuwiderhandlung einzugestehen; sie sind auf jeden Fall aber nicht verpflichtet, Fragen nach Tatsachen zu beantworten und Unterlagen vorzulegen, insbesondere auch wenn die betreffenden Auskünfte dazu verwendet werden können, den Beweis einer Zuwiderhandlung durch die betreffenden oder andere Unternehmen zu erbringen.“

Anstatt einer Änderung des Erwägungsgrundes 23 der VO (EG) 1/2003 ist auch eine Änderung der Kommissionspraxis denkbar. Bei den Erwägungsgründen handelt es sich zum einen um keine bindenden Vorschriften, zum anderen ist eine Abweichung von ihnen zugunsten von Unternehmen kein Verstoß, da sie nach der hier vertretenen Ansicht ohnehin verfahrensgarantierechtlich geboten ist.

III. Kompetenzaufteilung innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb Um dem Anspruch von Unternehmen auf rechtliches Gehör umfassend zu genügen, bedarf es einer Reorganisation der General Direktion Wettbewerb, mit dem Ziel, eine unabhängige Entscheidungsentität zu schaffen. Da der AEUV keine Vorgaben zur internen Organisation der Europäischen Kommission und dem genaueren Verfahrensablauf macht, kann sich eine Rechtsänderung auf die VO  (EG)  1/2003 beschränken. Hierfür sollte in Art.  27  VO  (EG)  1/2003 ein Abs. 1a eingefügt werden: Die Würdigung der erhobenen Beschwerdepunkte und der schriftlichen Parteivorbringen obliegt einem unabhängigen Entscheidungsgremium innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb. Es ist für die Durchführung einer mündlichen Anhörung zuständig. Nach eingehender Prüfung erarbeitetet es einen finalen Beschlussvorschlag.

Diese Ausführung sollte durch eine Durchführungsverordnung über die Entscheidungsfindung in Bußgeldverfahren ergänzt werden.

266

Teil 4: Gesamtfazit und Reformvorschläge

IV. Rügemöglichkeit bei Verstößen gegen die Unvoreingenommenheit Die Durchführungsverordnung über die Entscheidungsfindung in Kartellbußgeldverfahren sollte auch eine Vorschrift enthalten, mittels derer die mögliche Befangenheit von Beamten, die dem Entscheidungsgremium angehören, gerügt werden kann. Als befangen kann ein Beamte insbesondere auch dann gelten, wenn er sich vor Verfahrensabschluss schuldpräsumtiv äußert. Orientiert an der deutschen Strafprozessordnung sollte eine Regelung lauten: Ein Mitglied des unabhängigen Entscheidungsgremiums kann wegen Besorgnis der Befan­ genheit abgelehnt werden. Dies ist der Fall, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen.

Über die Rüge entscheiden die Beamten des Entscheidungsgremiums unter Ausschluss desjenigen Beamten, dessen Unparteilichkeit gerügt wird.

V. Öffentlichkeit zumindest von mündlichen Anhörungen Um die Verfahrensöffentlichkeit zumindest während der mündlichen Anhörung der Parteien zu gewährleisten, ist der oben angeführte Vorschlag über die Einführung eines Abs. 1a in Art. 27 VO (EG) 1/2003 noch zu ergänzen: Die Würdigung der erhobenen Beschwerdepunkte und der schriftlichen Parteivorbringen obliegt einem unabhängigen Entscheidungsgremium innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb. Es ist für die Durchführung einer mündlichen Anhörung zuständig. Diese findet öffentlich statt. Nach eingehender Prüfung der schriftlichen und mündlichen Vorbringen erarbeitetet es einen finalen Beschlussvorschlag.

Modalitäten der Verfahrensöffentlichkeit sollten in der Durchführungsverordnung über die Entscheidungsfindung in Bußgeldverfahren geregelt werden.

VI. Recht zur Ladung und Befragung von Zeugen Um dem Anspruch von Unternehmen, Entlastungszeugen zu laden und Belastungszeugen zu befragen, zu genügen, sollte Art. 27 Abs. 3 VO (EG) 1/2003 um zwei weitere Sätze ergänzt werden: Soweit die Kommission es für erforderlich hält, kann sie auch andere natürliche oder juristische Personen anhören. Dem Antrag natürlicher oder juristischer Personen, angehört zu werden, ist stattzugeben, wenn sie ein ausreichendes Interesse nachweisen. Außerdem können die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten bei der Kommission die Anhörung anderer natürlicher oder juristischer Personen beantragen. Im Rahmen der mündlichen Anhörung ist sie verpflichtet, Zeugen auf Antrag der Parteien zu laden. Sie hat den Parteien die Möglichkeit zu geben, Zeugen zu befragen.

A. Reformvorschläge im Rahmen der bestehenden Regelungen

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Abermals sollten weitere Modalitäten in der Durchführungsverordnung über die Entscheidungsfindung in Bußgeldverfahren geregelt werden.

VII. Abschaffung der Beweislastverschiebung für Rechtfertigungsgründe zulasten von Unternehmen Der aktuelle Art. 2 S. 2 VO (EG) 1/2003 stellt eine Verstoß gegen das Verbot einer unzulässigen Beweisverlagerung zulasten von Unternehmen dar. Er sollte daher ersatzlos gestrichen werden. In allen einzelstaatlichen und gemeinschaftlichen Verfahren zur Anwendung der Artikel 81 und 82 des Vertrags obliegt die Beweislast für eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 81 Absatz 1 oder Artikel 82 des Vertrags der Partei oder der Behörde, die diesen Vorwurf erhebt. Die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen des Artikels 81 Absatz 3 des Vertrags vorliegen, obliegt den Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen, die sich auf diese Bestimmung berufen.

VIII. Intensivierung der gerichtlichen Kontrolle von Tatbestandsvoraussetzungen Während die Kompetenznormen der VO  (EG)  1/2003 für eine EMRK- bzw. EU-GRCh-konforme, gerichtliche Kontrolle ausreichen, genügt die Praxis dem nicht. Notwendig wäre, dass die Unionsgerichte ihre Kontrolle von Tatbestandsmerkmalen auch bei wirtschaftlich komplexen Fragestellungen nicht einschränken.

IX. Aufschiebende Wirkung von Klagen vor den Unionsgerichten Gem. Art.  278  S.  1  AEUV haben Anfechtungsklagen gegen Kartellbußgeldbescheide derzeit keinen Suspensiveffekt, was einen Verstoß zumindest gegen Art.  6  Abs.  1  EMRK darstellt. Um ihnen dennoch aufschiebende Wirkung zukommen zu lassen, bedürfte es einer Änderung des AEUV. Denn die Einführung einer Rechtsvorschrift in der VO (EG) 1/2003 ist mangels entsprechender Verordnungsermächtigung nicht möglich. Da aber die Änderung des AEUV keine praxistaugliche Lösung ist, kommt als Lösung nur eine Ermessensreduktion auf Null für Anträge auf Aussetzung des Sofortvollzuges gem. Art. 278 S. 2 i. V. m. Art. 279 AEUV in Betracht. Sicherlich stellt dies keine gleichwertige Lösung dar. Wenn das EuG aber ohnehin keine umfangreiche Ermessensprüfung vornehmen muss, so wird ein entsprechender Antrag kaum einer Begründung bedürfen. Deshalb dürfte er derart schnell entschieden sein, dass kein nennenswerter Nachteil aus einer solchen Lösung resultiert, der mit Art. 6 Abs. 1 EMRK unvereinbar wäre.

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Teil 4: Gesamtfazit und Reformvorschläge

B. Gesamtfazit: Vereinbarkeit des europäischen Kartellverfahrens mit Art. 6 EMRK und den korrespondierenden Garantien der EU-GRCh unter der Voraussetzung eines höheren Verfahrensgarantieniveaus Sicherlich würde die Verhängung europäischer Kartellbußgelder in einem gerichtlichen anstatt in einem administrativen Sanktionsverfahren eine höhere Legitimationswirkung entfalten, als dies aktuell der Fall ist. Die derzeitigen Defizite des Verfahrens nach der VO (EG) 1/2003 können jedoch nicht einzig durch eine Kriminalisierung des Kartellsanktionsverfahrens behoben werden. Vielmehr hat die Auseinandersetzung mit Art. 6 EMRK sowie Art. 41, 47 und 48 EU-GRCh gezeigt, dass es möglich ist, im europäischen Kartellverfahren ein Verfahrensgarantieniveau zu etablieren, das Unternehmen hinreichenden Schutz bietet, ohne dabei mit einem Verwaltungssanktionsverfahren unvereinbar zu sein. Der Vorteil der vorgeschlagenen Reformen liegt nicht nur darin, dass sie eine in der Praxis nicht durchführbare Änderung des AEUV entbehrlich machen, sondern außerdem die Vorteile eines Verwaltungsverfahrens trotz einiger Effizienzeinbußen wahren. Dass im derzeitigen Sanktionsverfahren nach der VO (EG) 1/2003 einige Verfahrensgarantien nur eingeschränkt – also nicht im vorstehend geforderten Umfang – gewahrt werden, muss zwar nicht zwangsläufig zur Folge haben, dass die Ermittlungen, die Erhebung des konkreten Vorwurfs und die abschließende Bußgeldentscheidung in höherem Maße fehlerhaft sind, als sie dies bei Einhaltung eines höheren Verfahrensgarantieniveaus wären. Jedoch können sie sich nicht dem Anschein eines höheren Risikos der Fehlerhaftigkeit erwehren. Dies kann nur durch ein höheres Verfahrensgarantieniveau – wie vorstehend gefordert – behoben werden: zum einen, weil die Einhaltung von Verfahrensgarantien tatsächlich die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit eines Verfahrens erhöhen kann, zum anderen, weil ihre Beachtung die Legitimation eines Verfahrens stärkt. Nicht zuletzt vermag eine höher legitimierte Entscheidung auch generalpräventiver zu wirken. Somit streitet schon alleine der Telos von Kartellsanktionen, die „effektive Durchsetzung der Wettbewerbsregeln zum Schutz des Wettbewerbs vor Verfälschungen“ durch Abschreckung,2 für ein höheres Verfahrensgarantieniveau. Das beschriebene Spannungsfeld hat Luhmann 1969 in seiner wegweisenden soziologischen Monographie „Legitimation durch Verfahren“ bereits behandelt: „Je höher die Komplexität eines Systems ist, die durch interne Prozesse abgearbeitet werden muss, desto zwingender wird eine systemimmanente Eigengesetzlichkeit, die in Organisationsformen und Verfahrensweisen Berücksichtigung erheischt. Damit wird es zunehmend schwieriger und eine Belastung für die erreichbare Rationalität, den Verwaltungsverfahren 2 Kokott, Schlussanträge v. 23.04.2009  – Rs. C-97/08 P, Akzo Nobel/KOM, Slg.  2009, I-8241, Rn. 40.

B. Gesamtfazit

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auch noch legitimierende Funktion abzuverlangen. […] Gerade in den Augen des Publikums trennen sich dann Effizienz auf der einen und Befriedigungswert oder Legitimität der Entscheidung auf der anderen Seite.“3

Die dargestellten Reformvorschläge für das europäische Kartellrecht zeigen eine Lösung für dieses Dilemma auf.

3

Luhmann, S. 207.

Zusammenfassende Thesen 1. Die strafrechtlichen Verfahrensgarantien Art.  6  EMRK und Art.  48 EUGRCh sind im europäischen Kartellverfahren grundsätzlich anwendbar. Art. 47 EU-GRCh und Art. 41 EU-GRCh sind ebenso zu berücksichtigen. 2. Dass Kartellbußgelder der europäischen Union in einem administrativen Sanktionsverfahren verhängt werden, ist grundsätzlich zulässig. 3. Die Zulässigkeit eines administrativen Kartellsanktionsverfahrens gegen Unternehmen setzt die Möglichkeit zur nachträglichen, vollumfassenden Einhaltung der Verfahrensgarantien in einem anschließenden gerichtlichen Verfahren voraus. Zum Teil müssen jedoch Verfahrensgarantien bereits im behördlichen Verfahren umfassend angewandt werden. Einen Unterschied zwischen strafrechtlichen und strafrechtsähnlichen Verfahrensgarantien gibt es somit nicht. Unterschieden wird nur nach der Art des initialen Sanktionsverfahrens. 4. Schon im behördlichen Ermittlungsverfahren muss der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit für Unternehmen uneingeschränkt gelten. Unternehmen müssen sich auf ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht berufen können. 5. Um dem Anspruch auf rechtliches Gehör zu genügen, ist eine organisato­ rische Trennung von untersuchender und entscheidender Instanz innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb notwendig. 6. Entlastungszeugen müssen auch schon im administrativen Sanktionsverfahren auf Verlangen der beschuldigten Unternehmen geladen werden können und diese müssen genauso wie Belastungszeugen befragt werden können. 7. Ein umfassend öffentliches Verfahren ist im europäischen Kartellrecht während des behördlichen Verfahrens nicht erforderlich. Es genügt die Verfahrensöffentlichkeit im möglichen, späteren gerichtlichen Anfechtungsverfahren. 8. Die Europäische Kommission ist umfassend beweispflichtig; dies gilt auch für das Nichtvorliegen von Rechtfertigungsgründen. 9. Nachgewiesen durch die Europäische Kommission ist ein Kartellverstoß, wenn ihr keine Zweifel mehr am Vorliegen des Verstoßes verbleiben. Wann dies der Fall ist, hängt vom Einzelfall ab. Möglich ist jedoch die Bildung von Fallgruppen in Form von Beweisvermutungen. Liegen die Voraussetzungen einer solchen Beweisvermutung vor, kann die sanktionierende Stelle vom Vorliegen des vermuteten Umstandes ausgehen. Eine Sonderform hiervon sind Indizienbeweise. 10. Bis zum Nachweis eines Kartellverstoßes durch Entscheidung der Europäischen Kommission dürfen sich deren Beamte nicht schuldpräsumtiv zum Verfah-

Zusammenfassende Thesen

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ren und den Verfahrensbeteiligten äußern. Um Verstöße hiergegen geltend machen zu können, bedarf es eines entsprechenden Rechtsmittels. 11. Die Möglichkeit zur gerichtlichen Nachkontrolle eines Bußgeldbescheids im Rahmen eines Anfechtungsverfahrens ist entscheidend für die Zulässigkeit eines administrativen Sanktionsverfahrens. Nur so kann der Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht gewahrt werden. 12. Kartellbußgeldentscheidungen müssen umfassender kontrolliert werden als dies bisher der Fall ist. Tatbestandsvoraussetzungen eines Kartellverstoßes müssen uneingeschränkt kontrolliert werden; ein verbleibender Beurteilungsspielraum ist unzulässig. Ermessensentscheidungen brauchen nur auf Fehler hin überprüft zu werden. Eine gerichtliche Kompetenz zur Abänderung von behördlichen Ermessensentscheidungen, wie derzeit im europäischen Kartellrecht gegeben, ist nicht erforderlich. 13. Eine umfassende gerichtliche Überprüfung der behördlichen Kartellsanktionsentscheidung von Amts wegen ist nicht erforderlich. 14. Anfechtungsklagen müssen aufschiebende Wirkung haben. 15. Dem Anspruch auf Verhandlung in angemessener Frist steht die längere Verfahrensdauer nicht entgegen, die aus der Kombination von behördlichem Sanktionierungsverfahren und möglichem gerichtlichen Anfechtungsverfahren resultiert. 16. Im Rahmen des gerichtlichen Anfechtungsverfahrens müssen alle Verfahrensgarantien geheilt werden können, die im administrativen Sanktionierungsverfahren nicht eingehalten wurden. Im europäischen Kartellverfahren sind dies der Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht und der Öffentlichkeitsgrundsatz. 17. Ausgeschlossen ist die Möglichkeit zur gerichtlichen Nachkontrolle des administrativen Kartellbußgeldbescheides, wenn die administrative Kartellbußgeldentscheidung bzw. deren Vollzug zur vorzeitigen Insolvenz des Unternehmens führt. Existenzvernichtende Kartellbußgelder dürfen daher nicht in einem administrativen Sanktionsverfahren verhängt werden. Andere Voraussetzungen für die grundsätzliche Zulässigkeit eines strafrechtsähnlichen Sanktionsverfahrens gibt es zumindest für Sanktionen gegen Unternehmen nicht.

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Urteils- und Entscheidungsverzeichnis A. EGMR EGMR, Urt. v. 27.06.1968 – No. 1936/63, Neumeister/Österreich, Series A vol. 8. EGMR, Urt. v. 27.06.1968 – No. 2122/64, Wemhoff/Deutschland, Series A vol. 7. EGMR, Urt. v. 21.02.1975 – No. 4451/70, Golder/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 18. EGMR, Urt. v. 08.06.1976 – No. 5100/71 [u. a.], Engel [u. a.]/Niederlande, Series A vol. 22. EGMR, Urt. v. 07.12.1976 – No. 5493/72, Handyside/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 24. EGMR, Urt. v. 25.04.1978 – No. 5856/72, Tyrer/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 26. EGMR, Urt. v. 28.06.1978 – No. 62327/78, König/Deutschland, Series A vol. 27. EGMR, Urt. v. 27.02.1980 – No. 6903/75, Deweer/Belgien, Series A vol. 35. EGMR, Urt. v. 23.06.1981 – No. 6878/75 [u. a.], Le Compte, Van Leuven und De Meyere/Belgien, Series A vol. 43. EGMR, Urt. v. 10.02.1982 – No. 7299/75 [u. a.], Albert et le Compte/Belgien, Series A vol. 58. EGMR, Urt. v. 26.03.1982 – No. 8269/78, Adolf/Österreich, Series A vol. 49. EGMR, Urt. v. 15.07.1982 – No. 8130/78, Eckle/Deutschland, Series A vol. 51. EGMR, Urt. v. 01.10.1982 – No. 8692/79, Piersack/Belgien, Series A vol. 53. EGMR, Urt. v. 25.03.1983 – No. 8660/79 – Minelli/Schweiz, Series A vol. 62. EGMR, Urt. v. 08.12.1983 – No. 7984/77, Pretto [u. a.]/Italien, Series A vol. 71. EGMR, Urt. v. 08.12.1983 – No. 8273/78, Axen/Deutschland, Series A vol. 72. EGMR, Urt. v. 21.02.1984 – No. 8544/79, Öztürk/Deutschland, Series A vol. 73. EGMR, Urt. v. 28.06.1984 – No.7819/77 [u. a.], Campbell u. Fell/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 233. EGMR, Urt. v. 23.04.1987 – No. 9316/81, Lechner u. Hess/Österreich, Series A vol. 118. EGMR, Urt. v. 25.08.1987 – No. 9912/82, Lutz/Deutschland, Series A vol. 123. EGMR, Urt. v. 29.04.1988 – No. 10328/83, Belilos/Schweiz, Series A vol. 132. EGMR, Urt. v. 07.10.1988 – No. 10519/83, Salabiaku/Frankreich, Series A vol. 141-A. EGMR, Urt. v. 06.12.1988 – No. 10590/83, Barberà [u. a.]/Spanien, Series A vol. 146. EGMR, Urt. v. 19.12.1989 – No. 9783/82, Kamasinski/Österreich, Series A vol. 168. EGMR, Urt. v. 22.05.1990 – No. 11034/84, Weber/Schweiz, Series A vol. 177.

Urteils- und Entscheidungsverzeichnis

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EGMR, Urt. v. 27.08.1991 – No. 13057/87, Demicoli/Malta, Series A vol. 210. EGMR, Urt. v. 22.04.1992 – No. 12351/86, Vidal/Belgien, Series A vol. 235-B. EGMR, Urt. v. 15.06.1992 – No. 12433/96, Lüdi/Schweiz, Series A vol. 238. EGMR, Urt. v. 25.02.1993 – No. 10828/84, Funke/Frankreich, Series A vol. 256-A. EGMR, Urt. v. 27.10.1993 – No. 14448/88, Dombo Beheer/Niederlande, Series A vol. 274. EGMR, Urt. v. 24.02.1994 – No. 12547/86, Bendenoun/Frankreich, Series A vol. 284. EGMR, Urt. v. 10.02.1995 – No. 15175/89, Allenet de Ribemont/Frankreich, Series A vol. 308. EGMR, Urt. v. 23.03.1995 – No.15318/89, Loizidou/Türkei, Series A vol. 310. EGMR, Urt. v. 26.09.1995 – No. 18160/91, Diennet/Frankreich, Series A vol. 325-A. EGMR, Urt. v. 23.10.1995 – No. 15523/89, Schmautzer/Österreich, Series A vol. 328-A. EGMR, Urt. v. 22.11.1995 – No. 19178/91, Bryan/Vereinigtes Königreich, Series A vol. 353-A. EGMR, Urt. v. 08.02.1996  – No. 18731/91, John Murray/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I. EGMR, Urt. v. 17.12.1996 – No. 19187/91, Saunders/Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI. EGMR, Urt. v. 18.03.1997 – No. 21497/93, Mantovanelli/Frankreich, Reports 1997-II. EGMR, Urt. v. 23.04.1997 – No. 21363/93 [u. a.], van Mechelen [u. a.]/Niederlande, Reports 1997-III. EGMR, Urt. v. 24.09.1997 – No. 18996/91, Garryfallou AEBE/Griechenland, Reports 1997-V. EGMR, Urt. v. 20.10.1997 – No. 82/1996/671/893, Serves/Frankreich, Reports 1997-VI. EGMR, Urt. v. 24.11.1997 – No. 21835/93, Werner/Österreich, Reports 1997-VII. EGMR, Urt. v. 20.05.1998 – No. 21257/93 [u. a.], Gautrin [u. a.]/Frankreich, Reports 1998-III. EGMR, Urt. v. 02.09.1998 – No. 4/1998/907/1119, Lauko/Schweiz, Reports 1998-VI. EGMR, Urt. v. 02.09.1998 – No. 5/1998/908/1120, Kadubec/Slowakei, Reports 1998-IV. EGMR, Urt. v. 28.10.1998 – No. 22924/93, Aït-Mouhoub/Frankreich, Reports 1998-VIII. EGMR, Urt. v. 25.03.1999 – No. 25444/94, Pélissier und Sassi/Österreich, ECHR 1999-II. EGMR, Urt. v. 16.02.2000 – No. 27798/95, Amann/Schweiz, ECHR 2002-II. EGMR, Urt. v. 27.06.2000 – No. 30979/96, Frydlender/Frankreich, ECHR 2000-VII. EGMR, Urt. v. 14.11.2000 – No. 35115/97, Riepan/Österreich, ECHR 2000-XII. EGMR, Urt. v. 21.12.2000 – No. 34720/97, Heaney and McGuinness/Irland, ECHR 2000-VII. EGMR, Urt. v. 20.03.2001 – No. 33501/96 – Telfner/Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EGMR, Urt. v. 03.05.2001 – No. 31827/96, J. B./Schweiz, ECHR 2001-III. EGMR, Urt. v. 31.05.2001  – No. 37591/97, Metzger/Deutschland, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017).

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Urteils- und Entscheidungsverzeichnis

EGMR, Urt. v. 26.06.2001 – No. 26390/95, Beck/Norwegen, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EGMR, Urt. v. 05.07.2001 – No. 41087/98, Philipps/Vereinigtes Königreich, ECHR 2001-VII. EGMR, Urt. v. 09.10.2001 – No. 35673/97 [u. a.], Schweighofer [u. a.]/Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EGMR, Urt. v. 10.03.2002 – No. 42095/98, Daktaras/Litauen, ECHR 2000-X. EGMR, Urt. v. 26.03.2002 – No. 48297/99, Butkevičius/Litauen, ECHR 2000-X. EGMR, Urt. v. 14.05.2002 – No. 50516/99, Georgiadis/Zypern, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EGMR, Urt. v. 23.07.2002 – No. 34619/97, Janosevic/Schweden, ECHR 2002-VII. EGMR, Urt. v. 05.11.2002 – No. 48539/99, Allan/Vereinigtes Königreich, ECHR 2002-IX. EGMR, Entscheidung v. 28.01.2003 – No. 68874/01, Caldas Ramirez de Arrellano/Spanien, ECHR 2003-I. EGMR, Urt. v. 03.04.2003 – No. 37104/97, Kitov/Bulgarien, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EGMR, Urt. v. 29.04.2003 – No. 49285/99, Rablat/Frankreich, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EGMR, Urt. v. 27.05.2003  – No. 53112/99, Borderie/Frankreich, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EGMR, Urt. v. 24.07.2003 – No. 46133/99 [u. a.], Smirnova/Russland, ECHR 2003-IX. EGMR, Urt. v. 02.10.2003 – No. 41444/98, Henning/Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EGMR, Urt. v. 09.10.2003 – No. 39665/98 [u. a.], Ezeh u. Connors/Vereinigtes Königreich, ECHR 2003-X. EGMR, Urt. v. 26.02.2004  – No. 74969/01, Görgülü/Deutschland, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EGMR, Urt. v. 08.04.2004 – No. 38544/97, Weh/Österreich, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EGMR, Urt. v. 03.06.2004 – No. 69042/01 [u. a.], OOO Neste St. Petersburg [u. a.]/Russland, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter:  http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EGMR, Urt. v. 29,07.2004 – No. 77562/01, San Leonard Band Club/Malta, ECHR 2004-IX. EGMR, Urt. v. 13.07.2004 – No. 37761/97, Lislawska/Polen, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EGMR, Urt. v. 28.10.2004 – No. 48173/99 [u. a.], Y. B. [u. a.]/Türkei, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017).

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EGMR, Urt. v. 07.06.2012 – No. 4837/06, Segame/Frankreich, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EGMR, Urt. v. 10.10.2013 – No. 51355/10, Topić/Kroatien, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EGMR, Urt. v. 04.07.2014 – No. 18640/10 [u. a.], Grande Stevens [u. a.]/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EGMR, Urt. v. 02.10.2014  – No. 97/11, Delta Pekárny/Tschechische Republik, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017).

B. EKMR EKMR, Entscheidung v. 10.03.1962 – No. 1013/61, X. u. Y./Deutschland, D. R. 8, 106. EKMR, Entscheidung v. 03.05.1974 – No. 4649/70, X./Deutschland, D. R. 46, 1. EKMR, Entscheidung v. 05.05.1981 – No. 9037/80, X./Schweiz, D. R. 24, 224. EKMR, Entscheidung v. 09.12.1981 – No. 9099/80, X. u. Y./Österreich, D. R. 27, 209. EKMR, Entscheidung v. 11.12.1981 – No. 8803/79, Lingens u. Leitgeb/Österreich, D. R. 26, 171. EKMR, Entscheidung v. 30.05.1991  – No. 11598/85, Société Stenuit/Frankreich, Series A vol. 232-A. EKMR, Entscheidung v. 10.01.2002 – No.  67128/07, Hudson/Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017).

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EuG, Urt. v. 14.05.1998 – Rs. T-337/94, Enso-Gutzeit Oy/KOM, Slg. 1998, II-1572. EuG, Urt. v. 14.05.1998 – Rs. T-347/94, Mayr-Meinhof Kartongesellschaft/KOM, Slg. 1998, II-1759. EuG, Urt. v. 20.04.1999  – verb. Rs. T-305/94 [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/ KOM, Slg. 1999, II-945. EuG, Beschluss v. 21.07.1999 – Rs. T-191/98 R, Senator Lines/KOM, Slg. 1999, II-2533. EuG, Urt. v. 15.03.2000 – verb. Rs. T-25/95 [u. a.], Cimenteries CBR [u. a.]/KOM, Slg. 2000, II-508. EuG, Urt. v. 30.03.2000 – Rs. T-65/96, Kish Glass/KOM, Slg. 2000, II-1888. EuG, Urt. v. 06.07.2000 – Rs. T-62/98, Volkswagen/KOM, Slg. 2000, II-2713. EuG, Urt. v. 20.02.2001 – Rs. T-112/98, Mannesmannröhren-Werke/KOM, Slg. 2001, II-732. EuG, Urt. v. 12.07.2001 – verb. Rs. T-202/98 [u. a.], Tate & Lyle [u.a]./KOM, Slg. 2001, II-2035. EuG, Urt. v. 28.02.2002 – Rs. T-86/95, Compagnie générale maritime/KOM, Slg. 2002, II-1022. EuG, Urt. v. 20.03.2002 – Rs. T-9/99, HFB [u. a.]/KOM, Slg. 2002, II-1498. EuG, Urt. v. 09.07.2003 – Rs. T-224/00, Archer Daniels Midland/KOM, Slg. 2003, II-2611. EuG, Urt. v. 30.09.2003  – verb. Rs.  T-191/98 [u. a.], Atlantic Container Line [u. a.]/KOM, Slg. 2003, II-3298. EuG, Urt. v. 21.10.2003 – Rs. T-368/00, General Motors und Opel/KOM, Slg. 2003, II-4495. EuG, Urt. v. 13.01.2004 – Rs. T-67/01, JCB Service/KOM, Slg. 2004, II-56. EuG, Urt. v. 14.03.2004 – Rs. T-297/11, Buzzi Unicem/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 14.03.2004  – Rs. T-302/11, HeidelbergCement/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 29.04.2004 – verb. Rs. T-236/01 [u. a.], Tokai Carbon [u. a.]/KOM, Slg. 2004, II-1200. EuG, Urt. v. 08.07.2004 – Rs. T-44/00, Mannesmannröhren-Werke/KOM, Slg. 2004, II-2223. EuG, Urt. v. 08.07.2004 – Rs. T-50/00, Dalmine/KOM, Slg. 2004, II-2405. EuG, Urt. v. 08.07.2004 – verb. Rs. T-67/00 [u. a.], JFE Engineering [u. a.]/KOM, Slg. 2004, II-2514. EuG, Urt. v. 08.07.2004 – Rs. T-48/00, Corus/KOM, Slg. 2004, II-2331. EuG, Urt. v. 27.07.2005 – verb. Rs. T-49/02 [u. a.], Brasserie Nationale [u. a.]/KOM, Slg. 2005, II-3038. EuG, Urt. v. 15.09.2005 – Rs. T-325/01, DaimlerChrysler/KOM, Slg. 2005, II-3326. EuG, Urt. v. 15.03.2006 – Rs. T-15/02, BASF/KOM, Slg. 2006, II-516. EuG, Urt. v. 05.04.2006 – Rs. T-279/02, Degussa/KOM, Slg. 2006, II-913. EuG, Urt. v. 27.09.2006 – Rs. T-59/02, Archer Daniels Midland/KOM, Slg. 2006, II-3627.

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Urteils- und Entscheidungsverzeichnis

EuG, Urt. v. 27.09.2006 – verb. Rs. T-44/02 [u. a.], Dresdner Bank [u. a.]/KOM, Slg. 2006, II3572. EuG, Urt. v. 16.11.2006 – Rs. T-120/04, Peróxidos Orgánicos/KOM, Slg. 2006, II-4446. EuG, Urt. v. 14.12.2006 – Rs. T-259/02 [u. a.], Raiffeisen Zentralbank [u. a.]/KOM, Slg. 2006, II-5169. EuG, Urt. v. 26.04.2007 – verb. Rs. T-109/02 [u. a.], Bolloré [u. a.]/KOM, Slg. 2007, II-965. EuG, Urt. v. 11.07.2007 – Rs. T-351/03, Schneider Electric/KOM, Slg. 2007, II-2251. EuG, Urt. v. 17.09.2007 – Rs. T-201/04, Microsoft/KOM, Slg. 2007, II-3601. EuG, Urt. v. 12.10.2007 – Rs. T-474/04, Pergan Hilfsstoffe/KOM, Slg. 2007, II-4231. EuG, Urt. v. 12.12.2007 – verb. Rs. T-101/05 [u. a.], BASF u. UCB/KOM, Slg. 2007, II-4959. EuG, Urt. v. 26.06.2008 – Rs. T-442/03, SIC/KOM, Slg. 2008, II-1161. EuG, Urt. v. 08.07.2008 – Rs. T-53/03, BPB/KOM, Slg. 2008, II-1333. EuG, Urt. v. 28.04.2010 – Rs. T-446/05, Amann & Söhne [u. a.]/KOM, Slg. 2010, II-1255. EuG, Urt. v. 01.07.2010, Rs. T-321/05, AstraZeneca/KOM, Slg. 2010, II-2805. EuG, Urt. v. 15.12.2010, Rs. T-427/08, CEAHR/KOM, Slg. 2010, II-5865. EuG, Urt. v. 03.03.2011 – verb. Rs. T-110/07 [u. a.], Siemens [u. a.]/KOM, Slg. 2011, II-477. EuG, Urt. v. 22.03.2011 – verb. Rs. T-458/09 [u. a.], Slovak Telekom/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 22.03.2011, Rs. T-419/03, Altstoff Recycling Austria/KOM, Slg. 2011, II-975. EuG, Urt. v. 12.07.2011 – Rs. T-112/07, Hitachi/KOM, Slg. 2011, II-3871. EuG, Urt. v. 28.02.2012 – Rs. T-282/08, Grazer Wechselseitige Versicherung/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 28.02.2012 – verb. Rs. T-268/08 und T-281/08, Land Burgenland, Republik Österreich/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 29.03.2012 – Rs. T-336/07, Telefònica/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 27.06.2012 – Rs. T-439/07, Coats Holdings/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 27.09.2012 – Rs. T-343/06, Shell Petroleum [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 19.12.2012 – Rs. C-452/11 P, Heineken/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 14.03.2013 – Rs. T-587/08, Fresh Del Monte Produce/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017).

Urteils- und Entscheidungsverzeichnis

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EuG, Urt. v. 06.09.2013  – verb. Rs. T-289/11 [u. a.], Deutsche Bahn [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, 16.09.2013 – verb. Rs. T-373/10 [u. a.], Villeroy & Boch/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 27.02.2014 – Rs. T-91/11, InnoLux/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 27.03.2014 – Rs. T-56/09 u. T-73/09, Saint-Gobain/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 14.05.2014 – Rs. T-406/09, Donau Chemie/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 09.12.2014 – verb. Rs. T-472/09 [u. a.], SP/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 12.12.2014 – Rs. T-550/08, Tudapetrol/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 20.05.2015  – verb. Rs. T-456/10, Timab Industries [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 15.07.2015 – verb. Rs. T-389/10 [u. a.], SLM [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuG, Urt. v. 15.07.2015 – Rs. T-436/10, HIT Groep/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017).

D. EuGH EuGH, Urt. v. 15.07.1970 – Rs. 41/69, ACF Chemiefarma/KOM, Slg. 1970, 661. EuGH, Urt. v. 15.07.1970 – Rs. 44/69, Buchler/KOM, Slg. 1970, 733. EuGH, Urt. v. 15.07.1970 – Rs. 45/69, Boehringer Mannheim/KOM, Slg. 1970, 771. EuGH, Urt. v. 17.12.1970 – Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft/KOM, Slg. 1970, 1125. EuGH, Urt. v. 14.05.1974  – Rs. 4/73, Nold Kohlen- und Baustoffgroßhandlung/KOM, Slg. 1974, 492. EuGH, Urt. v. 16.12.1975 – verb. Rs. 40/73 [u. a.], Suiker Unie [u. a.]/KOM, Slg. 1975, 1668. EuGH, Urt. v. 13.02.1979 – Rs. 85/76, Hoffmann-La Roche/KOM, Slg. 1979, 461. EuGH, Urt. v. 13.12.1979 – Rs. 44/79, Liselotte Hauer/Land Rheinland-Pfalz, Slg. 1979, 3727. EuGH, Urt. v. 26.06.1980 – Rs. 136/79, National Panasonic/KOM, Slg. 1980, 2033. EuGH, Urt. v. 19.10.1980 – Rs. 209/78 [u. a.], van Ladewyck [u. a.]/KOM, Slg. 1980, 3125. EuGH, Urt. v. 18.05.1982 – Rs. 155/79, AM & S/KOM, Slg. 1982, 1575.

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Urteils- und Entscheidungsverzeichnis

EuGH, Urt. v. 07.06.1983 – verb. Rs. 100/80 [u. a.], Musique Diffusion Française [u. a.]/KOM, Slg. 1983, 1831. EuGH, Urt. v. 09.11.1983 – Rs. 322/81, Michelin/KOM, Slg. 1983, 3461. EuGH, Urt. v. 17.01.1984 – verb. Rs. 43/82 [u. a.], VBVB u. VBBB/KOM, Slg. 1984, 19. EuGH, Urt. v. 28.03.1984 – verb. Rs. 29/83 [u. a.], CRAM u. Rheinzink/KOM, Slg. 1984, 1679. EuGH, Urt. v. 11.07.1985 – Rs. 42/84, Remia [u. a.]/KOM, Slg. 1985, 2566. EuGH, Urt. v. 17.11.1987 – verb. Rs. 142/84 [u. a.], BAT u. Reynolds/KOM, Slg. 1987, 4566. EuGH, Urt. v. 18.10.1989 – Rs. 27/88, Solvay/KOM, Slg. 1989, 3355. EuGH, Urt. v. 18.10.1989 – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3343. EuGH, Urt. v. 14.02.1990 – Rs. 301/87, Frankreich/KOM, Slg. 1990, I-351. EuGH, Urt. v. 30.05.1991 – Rs. 361/88, Deutschland/KOM, Slg. 1991, I-2596. EuGH, Urt. v. 27.06.1991 – Rs. 49/88, Al-Jubail [u. a.]/KOM, Slg. 1991, I-3236. EuGH, Urt. v. 17.10.1991 – Rs. 58/89, KOM/Deutschland, Slg. 1991, I-5019. EuGH, Urt. v. 31.03.1993  – verb. Rs. C-89/85 [u. a.], Ahlström Osakeyhtiö [u. a.]/KOM, Slg. 1993, I-1575. EuGH, Urt. v. 11.08.1995 – Rs. C-433/93, KOM/Deutschland, Slg. 1995, I-2311. EuGH, Urt. v. 16.06.1998 – Rs. C-162/96, Racke/Hauptzollamt Mainz, Slg. Slg. 1998, I-3688. EuGH, Urt. v. 17.12.1998 – Rs. C-185/95 P, Baustahlgewebe/KOM, Slg. 1998, I-8485. EuGH, Urt. v. 08.07.1999 – Rs. C-199/92 P, Hüls/KOM, Slg. 1999-I, 4336. EuGH, Urt. v. 08.07.1999 – Rs. C-235/92 P, Montecatini/KOM, Slg. 1999, I-4575. EuGH, Urt. v. 08.07.1999 – Rs. C-49/92, KOM/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4162. EuGH, Urt. v. 16.03.2000  – Rs. C-395/96 P, Compagnie Maritime Belge Transport/KOM, Slg. 2000, I-1365. EuGH, Urt. v. 21.09.2000 – Rs. C-462/98 P, Mediocurso/KOM, Slg. 2000, I-7196. EuGH, Urt. v. 16.11.2000 – Rs. C-286/98 P, Stora Kopparbergs Bergslags/KOM, Slg. 2000, I-9945. EuGH, Urt. v. 05.10.2002 – Rs. C-288/96, Deutschland/KOM, Slg. 2000, I-8285. EuGH, Urt. v. 15.10.2002 – verb. Rs. C-238/99 P [u. a.], Limburgse Vinyl Maatschappij [u. a.]/ KOM, Slg. 2002, I-8618. EuGH, Urt. v. 18.09.2003 – Rs. C-338/00 P, Volkswagen/KOM, Slg. 2000, I-9219. EuGH, Urt. v. 07.01.2004  – verb. Rs. C-204/00 P [u. a.], Aalborg Portland [u. a.]/KOM, Slg. 2004, I-403. EuGH, Urt. v. 09.06.2005 – Rs. C-287/02, Spanien/KOM, Slg. 2005, I-5112. EuGH, Urt. v. 28.06.2005  – verb. Rs. 189/02 P [u. a.], Dansk Rørindustri [u. a.]/KOM, Slg. 2005, I-5425.

Urteils- und Entscheidungsverzeichnis

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EuGH, Urt. v. 14.07.2005 – Rs. C-57/02 P, Acerinox/KOM, Slg. 2005, I-6741. EuGH, Urt. v. 14.07.2005 – Rs. C-65/02 P, ThyssenKrupp/KOM, Slg. 2005, I-6778. EuGH, Urt. v. 03.09.2005 – Rs. C-534/07 P, Prym/KOM, Slg. 2009, I-7415. EuGH, Urt. v. 19.01.2006  – Rs. C-240/03 P, Comunità montana della Valneria/KOM, Slg. 2006, I-757. EuGH, Urt. v. 18.05.2006 – Rs. C-397/03 P, Archer Daniels Midland/KOM, Slg. 2006, I-4475. EuGH, Urt. v. 21.06.2006  – Rs. C-105/04 P, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/KOM, Slg. 2006, I-8766. EuGH, Urt. v. 29.06.2006 – Rs. C-301/04 P, SGL Carbon/KOM, Slg. 2006, I-5943. EuGH, Urt. v. 21.09.2006 – Rs. C-113/04 P, Technische Unie/KOM, Slg. 2006, I-8873. EuGH, Urt. v. 25.01.2007 – Rs. C-403/04, Sumito Metal Industries und Nippon Steel/KOM, Slg. 2007, I-785. EuGH, Urt. v. 25.01.2007 – Rs. C-407/04 P, Dalmine/KOM, Slg. 2007, I-901. EuGH, Urt. v. 11.12.2007 – Rs. C-280/06, Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato/ ETI [u. a.], Slg. 2007, I-10925. EuGH, Urt. v. 09.09.2008  – verb. Rs. C-120/06 P [u. a.], FIAMM [u. a.]/KOM, Slg.  2008, I-06513. EuGH, Urt. v. 09.07.2009 – Rs. C-511/06 P, Archer Daniels Midland/KOM, Slg. 2009, I-5843. EuGH, Urt. v. 16.07.2009 – Rs. C-385/07 P, Grüner Punkt/KOM, Slg. 2009, I-6155. EuGH, Urt. v. 10.09.2009 – Rs. C-97/08 P, Akzo Nobel/KOM, Slg. 2009, I-8237. EuGH, Urt. v. 24.09.2009 – verb. Rs. C-125/07 P [u. a.], Erste Group Bank [u. a.]/KOM, Slg. 2009, I-8681. EuGH, Urt. v. 06.10.2009 – verb. Rs. C-501/06 P [u. a.], GlaxoSmithKline/KOM, Slg. 2009, I-9291. EuGH, Urt. v. 25.02.2010  – Rs. C-386/08, Brita/Hauptzollamt Hafen-Hamburg, Slg. 2010, I-1289. EuGH, Urt. v. 29.06.2010 – Rs. C-441/07 P, KOM/Alrosa, Slg. 2010, I-5949. EuGH, Urt. v. 20.01.2011 – Rs. C-90/09 P, General Química [u. a.]/KOM, Slg. 2011, I-1. EuGH, Urt. v. 29.09.2011 – Rs. C-521/09 P, Elf Aquitaine/KOM, Slg. 2011, I-8947 EuGH, Urt. v. 08.12.2011 – Rs. C-272/09 P, KME/KOM, Slg. 2011, I-12789. EuGH, Urt. v. 08.12.2011 – Rs. C-386/10 P, Chalkor/KOM, Slg. 2011, I-13085. EuGH, Urt. v. 06.11.2012 – Rs. C-199/11, Otis [u. a.]/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuGH, Urt. v. 11.07.2013 – Rs. C-439/11 P, Ziegler/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017).

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Urteils- und Entscheidungsverzeichnis

EuGH, Urt. v. 18.07.2013 – Rs. C-501/11 P, Schindler/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuGH, Urt. v. 10.07.2014 – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuGH, Urt. v. 04.09.2014  – Rs. C-434/13 P, Peter Hannifin Manufacturing/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuGH, Gutachten v. 18.12.2014 – 2/13, Beitritt der Europäischen Union zur EMRK, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). EuGH, Urt. v. 07.09.2016 – Rs. C-101/15 P, Pilkington/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017).

E. Schlussanträge der Generalanwälte am EuGH Generalanwalt Darmon, Schlussanträge v. 18.05.1989 – Rs. 374/87, Orkem/KOM, Slg. 1989, 3301. Generalanwalt Vesterdorf, Schlussanträge v. 10.07.1991 – Rs. T-1/89, Rhône-Poulenc/KOM, Slg. 1991, II-869. Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge v. 03.06.1992  – Rs. C-240/90, Deutschland/KOM, Slg. 1992, I-5404. Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 08.12.2005 – Rs. C-105/04 P, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/KOM, Slg. 2005, I-8730. Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge v. 15.12.2005  – Rs. C-167/04  P, JCB Service/KOM, Slg. 2006, I-8939. Generalanwalt Mengozzi, Schlussanträge v. 06.11.2008 – Rs. C-511/06 P, Archer Daniels Midland/KOM, Slg. 2009, I-5843. Generalanwalt Bot, Schlussanträge v. 26.03.2009 – verb. Rs. C-125/07 P [u. a.], Erste Bank [u. a.]/KOM, Slg. 2009, I-8681. Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 23.04.2009  – Rs. C-97/08 P, Akzo Nobel/KOM, Slg. 2009, I-8241. Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 17.09.2009  – Rs. C-441/07  P, KOM/Alrosa, Slg. 2009, I-5953. Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 01.07.2010 – Rs. C-205/09, Szombathelyi Városi Ügyészség/Emil Eredics und Mária Vassné Sápi, Slg. 2010, I-10231. Generalanwalt Mazák, Schlussanträge v. 14.09.2010 – Rs. C-90/09 P, General Química [u. a.]/ KOM, Slg. 2011, I-1. Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 10.02.2011  – Rs. C-272/09 P, KME/KOM, Slg. 2011, I-12860.

Urteils- und Entscheidungsverzeichnis

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Generalanwältin Trstenjak, Schlussanträge v. 22.09.2011  – Rs. C-411/10, N. S./Secretary of State for the Home Department, Slg. 2011, I-13905. Generalanwältin Kokott, Schlussanträge v. 13.12.2011 – Rs. C-439/11 P, Ziegler/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). Generalanwalt Bot, Schlussanträge v. 21.06.2012 – Rs. C-89/11, E.ON/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 30.05.2013  – C-58/12  P, Groupe Gascogne/ KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). Generalanwalt Wathelet, Schlussanträge v. 26.09.2013  – Rs. C-295/12 P, Telefónica/KOM, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://curia.europa.eu (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017).

F. EFTA-Gerichtshof EFTA-Gerichtshof, Urt. v. 18.04.2012  – Rs. E-15/10, Posten Norge AS/EFTA Surveillance Authority, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://www.eftacourt.int (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017).

G. Deutsche Gerichte BVerfG, Beschluss v. 06.06.1967 – 2 BvR 375/60 [u. a.], BVerfGE 22, 49. BVerfG, Beschluss v. 16.07.1969 – 2 BvL 2/69, BVerfGE 27, 18. BVerfG, Beschluss v. 09.11.1976 – 2 BvL 1/76, BVerfGE 43, 101. BVerfG, Beschluss v. 21.06.1977 – 2 BvR 70/75, 2 BvR 361/75, BVerfGE 45, 272. BVerfG, Beschluss v. 27.03.1979 – 2 BvL 7/78, BVerfGE 51, 60. BVerfG, Beschluss v. 13.01.1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37. BVerfG, Beschluss v. 26.02.1997 – 1 BvR 2172/96, BVerfGE 95, 220. BVerfG, Beschluss v. 19.07.2016 – 2 BvR 2752/11, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://www.bverfg.de (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017).

H. Schweizer Gerichte BVGer, Urt. v. 24.02.2010 – B-2050/2007, Swisscom/WEKO, BVGE 2011/32. BVGer, Urt. v. 27.04.2010 – B-2977/2007, Publigroupe/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://www.bvger.ch (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017).

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Urteils- und Entscheidungsverzeichnis

BVGer, Urt. v. 19.12.2013 – B-506/2010, Gaba/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://www.bvger.ch (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). BVGer, Urt. v. 23.09.2014  – B-8399/2010, Siegenia-Aubi/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://www.bvger.ch (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). BVGer, Urt. v. 14.09.2015 – B-7633/2009, Swisscom/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://www.bvger.ch (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). BVGer, Urt. v. 17.12.2015 – B-5685/2012, Altimum/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://www.bvger.ch (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). BVGer, Urt. v. 16.09.2016 – B-581/2012, Nikon/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://www.bvger.ch (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). BGer, Urt. v. 27.05.2004 – 2C_776/2013, Sanktion Spielbankengesetz, BGE 140 II 384. BGer, Urt. v. 29.06.2012 – 2C_484/2010, Publigroupe/WEKO, BGE 139 I 72. BGer, Urt. v. 04.04.2017 – 2C_172/2014, Gebro/WEKO, nicht in der amtlichen Sammlung, abrufbar unter: http://www.bvger.ch (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017).

I. Neuseeländischer High Court New Zealand High Court, Urt. v. 28.10.2010 – CIV 2007-404-2165, NZ Commerce Commission/Siemens, NZLR 2010, 1.

Materialienverzeichnis Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden, ABl. C 101 v. 27.04.2004, 43. Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Artikel 101 und 102 des AEUV, ABl. C 308 v. 20.10.2011, 6. Delegierte Verordnung (EU) Nr. 1268/2012 der Kommission vom 29. Oktober 2012 über die Anwendungsbestimmungen für die Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union, ABl. L 362 v. 31.12.2012, 1. Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. C 303 v. 14.12.2007, 17. EU Antitrust Manual of Procedures, Internal DG Competition working documents on proce­ dures for the application of Articles 101 and 102 TFEU, März 2012, abrufbar unter: http://ec . europa.eu/competition/antitrust/information_en.html (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). Landtag Nordrhein-Westfalen, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden vom 23.09.2014, Information 16/127, abrufbar unter: https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/ Dokument?Id=MMI16/127 (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. C 298 v. 08.12.2006, 17. OECD Country Studies  – Peer Review of Competition Law and Policy in the European Union 2005, abrufbar unter: http://www.oecd.org/eu/35908641.pdf (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017). Proceedings for the application of Art. 101 and 102 TFEU: Key actors and checks and balances, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/competition/antitrust/key_actors_en.pdf (zuletzt aufgerufen am: 01.11.2017).

Sachverzeichnis Abänderungskompetenz  217 f., 233 f. Abgrenzung –– quantitative  73 f. Abwägungsentscheidung 79 Adressatenkreis –– abstrakt-genereller 48 Alternativverhältnis –– qualitatives 73 Anfechtungsverfahren –– gerichtliches  61 ff., 132, 139 f., 212 ff. Anhörung –– mündliche  101 ff., 109, 135 –– vor dem Gremium der Kommissare  110 ff. Anhörungsbeauftragter  109 ff., 115, 118 ff., 123 ff., 138 f. Anklage –– strafrechtliche  36 ff., 43 ff., 60 –– im materiellen Sinn  37 f. –– im formellen Sinn  37 f. Aufklärungsinteresse –– öffentliches  175, 185 ff. Aufschiebende Wirkung  211 f., 237 ff. Äußerungsmöglichkeit  109 ff. Äußerung –– schuldpräsumtive öffentliche  146 ff. Ausforschung 42 Auskunftsentscheidung 39 f., 52, 202 ff., 212 f. Auskunftsverlangen  38 f. –– einfaches  39 f., 52 –– qualifiziertes  39 f., 201 f. Auslegung –– dynamisch-teleologische  78 f. –– EU-GRCh  31 f. –– autonome  37, 43 –– Methoden  77 ff. Aussageverweigerungsrecht  172 ff., 199 ff. Befangenheit  140 ff. Beitritt –– EMRK 31 Belastungszeugen (siehe: Zeugen)

Beratender Ausschuss  117 f., 138 Beschlussentwurf  111 f. Bestimmtheitsgebot 230 Beurteilungen –– wirtschaftlich-komplexe  222 ff. Beurteilungsfehler  222 f. Beurteilungsspielraum  215 f., 218 ff. Beweiskette –– lückenlose  163 ff. Beweislastverschiebung –– Verbot  152 ff. Beweismaß  158 ff., 171 Beweispflicht –– staatliche  153, 155, 156, 158, 171, 181 f. Beweisvermutungen  114, 164 ff., 251 Beweiswürdigung –– unvoreingenommene  142 ff. Beyond-resonable-doubt-Standard  160 ff. Bias –– prosecutorial 113 –– confirmation 113 Bundesverfassungsgericht  73, 88, 178 Bußgeldleitlinien  70, 228 ff. Bußgeldrahmen  61, 75, 138, 230, 251 Chief Economist  117, 250 Dawn raid (siehe Nachprüfung) Dispositionsmaxime  212 f., 234 ff. Disziplinarmaßnahmen 89 Eigenkapitalquote  71, 239 Eingeständnis einer Zuwiderhandlung  183 ff., 199 ff., 201 f., 207, 209 f. Engel-Kriterien  42 ff., 89 f. Entkriminalisierung  74, 220 Entlastungszeugen (siehe: Zeugen) Entscheidungserheblichkeit  100, 107, 122 f., 147, 150 Ermessenskontrolle  213 ff., 216 f., 225 ff., 238 ff.

Sachverzeichnis Ermittlungsphase  71, 119, 172 ff. Existenzvernichtung  66, 69 ff., 73, 74, 75 f., 77, 92 f., 93 Fehlurteil  98, 132, 177 ff., 207 Fishing expedition (siehe Ausforschung) Formvorschriften –– wesentliche  122, 219 Freiheitsentziehung  66, 74 Freistellungssystem 154 Fristgemäße Verhandlung (siehe Verfahrenslänge) Garantiekern  80 f. Garantieniveau –– Absenkung 59 Gefährdungsdelikt –– abstraktes  168 f. Geheimjustiz  136 f., 138 Gehör –– rechtliches  101 ff., 107 ff., 145, 200 Gemischt qualitativ-quantitative Theorie  73 Gericht –– Anspruch auf Entscheidung  57, 65, 69, 88 ff., 92 f., 95, 99 f., 213, 219 ff., 225 f., 235, 238 ff. Gerichtliche Kontrolle –– nachgelagerte  64, 90 ff., 93 f., 95, 212 ff., 243 –– uneingeschränkte  213 ff. Gerichtsgarantie –– Telos  92 f. Gesetzgeberische Entscheidung  64 f. Gesetzgeberische Einschätzungsprärogative  73 ff. Gewissenskonflikt  178 ff., 182 Glaubwürdigkeit  130 ff., 195 Heilung –– verfahrensgarantierechtlicher Defizite  61 ff., 69 ff. Herausgabepflicht  175 f., 196, 210 In dubio pro reo  159 f., 161 f., 163 ff. Indizienbeweis  114, 159 ff., 168 Informatorische Grundvoraussetzungen  108 ff.

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Juristischer Dienst  117 Kartellbußgelder –– präventive Wirkung  45 ff. Kenstrafrechtlichkeit  32, 34, 56 f., 59, 62 ff., 66 ff., 73 ff., 227 Kriminalisierung  74 ff. Kronzeugenantrag  157 f., 171, 187 f. Konfrontationsrecht  124 f., 126 ff., 128 ff. Kontrolldichte –– gerichtliche  212 ff. Law-making treaties  78 f. Living instrument  78 f. Liquiditätsplanung  71, 239, 251, 256 Margin of appreciation (siehe: Umsetzungsspielraum) Menschenwürde  86, 178 f. Minor offence  65 f., 89 f. Mitteilung der Beschwerdepunkte  36, 42, 52, 108 ff., 144 Nachprüfung  38, 40 ff., 52, 124, 186 ff. –– einfache  41 f. –– qualifizierte  41 f., 195 f. Nemo-Tenetur-Grunsatz (siehe: Selbstbelastungsfreiheit) Nichtigkeitsklage  122 f., 213, 237 Öffentlichkeit –– Grundsatz  80, 135 ff. –– Verhandlung  135 ff., 249 –– Verkündung  135 ff. Ökonomische Analyse  46, 168 f. Ordnungswidrigkeitenverfahren 89 Parteifähigkeit –– EMRK 36 Peer review  115 ff. Präventionswirkung  45 ff., 238 Refinanzierung  71, 239 Rechtsfolgenanordnung –– EGMR  81 f. Rechtsverkehr –– Erfahrenheit 85 Repressiv  44 f.

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Sachverzeichnis

Reversibilität  69 f., 72 Rückstellung  70, 71, 239, 251, 256 Sanktionsart  68 f., 70, 73 Sanktionseffizienz 46 Sanktionsfolgen –– mittelbare  47 f., 71 f. Sanktionshöhe  73, 191 f., 209, 226 Schranken –– implizite 80 Schweigen  173 ff., 194 Schweigerecht –– Hinweis auf  197 f., 210 Selbstbelastungspflicht 172 Selbstbelastungsfreiheit  172 ff., 198 ff. Selbstbindung der Verwaltung  229 f., 265 Sofortvollzug  71, 237 ff. Solange-Rechtsprechung 88 Spill-over-Effekt 59 Staatshaftungsanspruch  72, 259 Strafmonopol –– staatliches  67, 104, 143 f., 150 ff., 155 ff., 220 f., 240 Tatsachenfragen  120, 163 f., 184, 208, 219 Traités-loi (siehe: law-making treaties) Überschuldung 70 Unabhängigkeit  95, 97 f. –– Quasi-, 98 Unbestimmtheit 58 Unparteilichkeit  95 ff., 99 f. –– objektive  96 f. –– Quasi- 98 –– subjektive  96 f. Unschuldsvermutung  104, 140 ff., 172 ff., 207, 220, 240 f. Unvoreingenommenheit  104, 114, 133, 140 ff., 143 ff.

Unwert –– sozial-ethischer  66 ff. Umsetzungsspielraum –– EGMR-Urteile 81 Verfahren –– faires  101 ff., 123, 127, 129, 136 ff., 170, 172 f. Verfahrensart  62, 192 f. Verfahrenseinbeziehung –– frühzeitige  115 f. Verfahrenslänge –– Angemessenheit  242 ff. Vergabeverfahren –– öffentliche 72 Verteidigungsrechte –– Wahrung  100, 127, 160, 193, 200, 204, 248, 252 Vertretung –– gesetzliche 85 Vollstreckbarkeit –– vorläufige 256 Waffengleichheit –– Grundsatz  125, 127, 129, 132 Wahrscheinlichkeit –– überwiegende 169 Willensfreiheit  177 ff., 207 WÜV  77 f. Zeugen –– Befragung  123 ff. –– Belastungszeugen  124 ff. –– Entlastungszeugen  124 ff. –– Ladung  123 ff. –– unterbliebene Ladung  133 f. –– unterbliebene Vernehmung  133 f. –– Vernehmung 124 ff. Zusatzprotokoll 60