Das aufklärerische Ideal des freien und selbstbestimmten Menschen bildet einen Eckpfeiler des deutschen Privatrechts. Es
284 91 12MB
German Pages 1084 [1085] Year 2014
Table of contents :
Cover
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Erster Teil: Einleitung
§ 1 Einführung in das Thema
I. Das Paternalismusparadox
II. Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsziel
III. Untersuchungsmethode – Der verwendete Forschungsansatz
IV. Einordnung in die Debatte um Funktion und Grenzen der Privatautonomie
V. Gang der Untersuchung
Zweiter Teil: Grundlegung
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
I. Einführung
II. Der Paternalismusbegriff – Definition und Abgrenzung
1. Konstitutive Begriffselemente – Definitionsvorschläge des Schrifttums
2. Zu den Begriffsmerkmalen im Einzelnen
2.1 Beschränkung der Freiheit oder Selbstbestimmung
2.2 Sicherung des Wohls des von der Freiheitsbeschränkung Betroffenen als Endzweck
2.2.1 Theoretische Abgrenzung
2.2.2 Praktische Vermischung – Motivbündel und unreiner Paternalismus
III. Selbstbestimmung und Paternalismus – Zur Rechtfertigungsbedürftigkeit paternalistischer Intervention
1. Die deontologische Begründung des Rechts auf Selbstbestimmung bei Kant
2. Die utilitaristische Begründung des Paternalismusverbots bei Mill
3. Begründungsansätze der modernen angelsächsischen politischen Philosophie
IV. Voraussetzungen autonomen Entscheidens und weicher Paternalismus
1. Die Voraussetzungen selbstbestimmten Entscheidens bei Mill
2. Weicher und harter Paternalismus – Die Konzeption Feinbergs
3. Selbstbestimmungsdefizite als Rechtfertigung weichen Paternalismus – Der Meinungs- und Erkenntnisstand in der philosophischen Debatte
4. Insbesondere: Selbstbestimmung und die Maßgeblichkeit der eigenen Präferenzen
5. Zur Rechtfertigungsbedürftigkeit weich paternalistischer Maßnahmen
6. Weicher Paternalismus und Erwerb individueller Entscheidungskompetenz
V. Grenzen der Selbstbestimmung und Zulässigkeit harten Paternalismus
1. Vermutung der mangelnden „Freiwilligkeit“ der Entscheidung bei besonders nachteiligen Entscheidungsfolgen
2. Freiheitsmaximierung als Legitimation harten Paternalismus
3. Schutz von Langzeitpräferenzen, insbesondere Integritätsschutz nach Kleinig
4. Der Mensch als Gemeinschaftswesen, Aufspaltung des Selbst und Einwilligungsfiktion
VI. Das Verhältnismäßigkeitsgebot als Grenze zulässigen Paternalismus
1. Vorrang des Lernens aus Fehlern
2. Vorrang der am wenigsten beschränkenden Intervention
3. Asymmetrischer Paternalismus insbesondere
VII. Der Schutz von Drittinteressen als Rechtfertigungsalternative
1. Selbstbezüglichkeit und soziale Bedeutung menschlichen Verhaltens
2. Primär eigene Angelegenheiten als Reservat gegenüber drittschützenden Freiheitseingriffen
VIII. Vertragliche Selbstbindung und Paternalismus im Besonderen
1. Vertragliche Bindung und Selbstschädigung
2. Ethische Legitimität der paternalistischen Einschränkung vertraglicher Selbstbindung
2.1 Weicher Paternalismus
2.2 Harter Paternalismus
2.2.1 Mill zur Freiheitsbeschränkung durch Vertrag
2.2.2 Selbstbestimmte Entscheidung und selbstbestimmtes Leben
3. Rechtfertigungsalternativen für den Eingriff in die Vertragsfreiheit
IX.Zusammenfassung
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
I. Überblick über die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung
1. Die Rspr. des BVerfG zur Einschränkbarkeit selbstgefährdenden und selbstschädigenden Verhaltens
1.1 Eingriffsrechtfertigung durch Dritt- und Gemeinwohlinteressen
1.2 Fehlen der subjektiven Voraussetzungen einer autonomen Entscheidung
1.3 Eingriffsbefugnis wegen sonst drohenden größeren persönlichen Schadens?
2. Die Rspr. des BVerfG zur Einschränkung der Vertragsfreiheit zum Schutze einer Vertragspartei
II. Grundrechtsdogmatische Verankerung der Paternalismusdebatte
1.Befund
2. Zum Verhältnis von Grundrechtsverzicht, Eingriff und Schutzpflicht
III. Rechtspaternalismus und Grundrechtsverzicht
1.Begriffliche Klärung
2. Grundrechtstheoretisches Vorverständnis – liberale vs. objektiv-rechtliche Grundrechtsinterpretation
3. Stand der Diskussion zur Zulässigkeit des Grundrechtsverzichts
4. Schranken des Grundrechtsverzichts bei privatvertraglicher Selbstbindung
IV. Rechtspaternalismus als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht – Grundrechtsschutz gegen Paternalismus
1. Betroffene Grundrechte
2. Eingriff
3. Grundrechtsschranken – Verfassungsrechtliche Rechtfertigung paternalistischer Intervention
3.1 Standpunkt der h.L. – Prinzipielles Verbot von Eingriffen zum Schutz des autonomen Entscheiders
3.2 Menschenwürde?
3.2.1 Meinungsstand
3.2.2 Stellungnahme
3.3 Freiheitsmaximierung und „Integritätsschutz“ als Legitimation paternalistischer Intervention?
3.3.1 Untauglichkeit der Freiheitsmaximierung als Eingriffsrechtfertigung
3.3.2 Eingriffsrechtfertigung durch „Integritätsschutz“?
3.3.3 Zeitinkonsistentes Verhalten aufgrund von Defiziten des Entscheidungsprozesses
3.4 Zur Voraussetzung freier Willensentscheidung – Verfassungsrechtliche Zulässigkeit weichen Paternalismus
3.4.1 Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe bei Defiziten der Selbstbestimmung
3.4.2 Anforderungen an die selbstbestimmte Entscheidung – Die Diskussion in der Literatur
3.4.3 Anforderungen an die selbstbestimmte Entscheidung – Aussagen in der Rspr. des BVerfG
3.4.4 Fazit
3.5 Die Berufung auf Dritt- und Gemeinwohlinteressen
3.5.1 Problembeschreibung
3.5.2 Die finanzielle Belastung der sozialen Sicherungssysteme
3.5.3 Aggregierung von Individualinteressen
4. Gebot der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs – Das Prinzip des „schonendsten Paternalismus“
V. Die Schutzpflichtdimension der Grundrechte – Grundrechtsschutz durch Paternalismus
1. Die Schutzpflichtdimension der Grundrechte
1.1 Umfang verfassungsgerichtlicher Kontrolle der Schutzpflichterfüllung
1.2 Grundrechtliche Ambivalenz der Schutzmaßnahme im Hinblick auf verschiedene Grundrechtsträger
2. Grundrechtliche Ambivalenz der paternalistischen Intervention für den Schutzadressaten
VI. Synthese: Paternalistische Intervention bei vertraglicher Selbstbindung und Grundrechtsschutz
1. Grundrechtsschutz und vertragliche Selbstbindung – Der Grundsatz
1.1 Vertragliche Selbstbindung als Ausübung grundrechtlicher (Vertrags-)Freiheit
1.2 (Paternalistische) Vertragsabschluss- und -inhaltsregulierung als Grundrechtseingriff
1.3 Gewährleistung effektiver Vertragsdurchsetzung als grundrechtliches Schutzgebot
1.4 Gewährleistung effektiver Vertragsdurchsetzung als gerechtfertigter Grundrechtseingriff
2. Grundrechtsschutz und weicher Paternalismus im Rahmen vertraglicher Selbstbindung
2.1 Selbstbestimmungsdefizite als Eingriffsrechtfertigung
2.2 Selbstbestimmungsdefizite als Auslöser staatlicher Schutzpflichten
2.3 Funktionsvoraussetzungen autonomer vertraglicher Selbstbindung – Konkretisierungsansätze in der Rspr. des BVerfG und der Literatur
2.3.1 Die verfassungsgerichtliche Rspr. zur staatlichen Schutzpflicht bei Fremdbestimmung aufgrund „struktureller Unterlegenheit“
2.3.2 Bewertung der Rspr. des BVerfG durch das Schrifttum
2.3.3 Weitere Konkretisierungsleitlinien aus dem Schrifttum
2.3.3.1 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der §§ 104 ff., 119 ff., 138 Abs. 2 BGB
2.3.3.2 „Außergesetzliche Willensmängel“ – Ansätze für eine Fallgruppenbildung
2.4 Konkretisierungsaufgabe und -vorrang des (einfachen) Zivilrechts
2.4.1 Gesetzgeberischer Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum
2.4.2 Verhältnis von Zivilrecht und Verfassungsrecht bei der richterlichen Wahrnehmung des staatlichen Schutzauftrages
2.4.3 Fazit
3. Grundrechtsschutz und harter Paternalismus im Rahmen vertraglicher Selbstbindung
3.1 Meinungsbild im staats- und zivilrechtlichen Schrifttum
3.2 Stellungnahme
VII. Zwischenergebnis
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
1. Das ökonomische Effizienzziel
1.1 Effizienz als normatives Ziel der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik
1.1.1 Wohlfahrtsmaximierung durch effiziente Verteilung knapper Mittel als normatives Hauptziel
1.1.2 Normativer Individualismus und soziale Wohlfahrtsfunktion
1.1.3 Folgenbewertungen von Sozialwahlentscheidungen – Effizienzkriterien
1.1.3.1 Pareto-Kriterium
1.1.3.2 Kaldor-Hicks-Kriterium und abgeleitete Entscheidungsregeln
1.1.4 Das Kardinalproblem des interpersonellen Nutzenvergleichs
1.1.4.1 Die utilitaristischen Wurzeln des Effizienzziels
1.1.4.2 Die Kritik von Robbins am klassischen Utilitarismus
1.1.4.3 Die Entwicklung des Kaldor-Hicks-Kriteriums als Reaktion auf Robbins
1.1.4.4 Soziale Wohlfahrtsfunktion und das Unmöglichkeitstheorem von Arrow
1.1.4.5 Subjektivismus und Kritik des herkömmlichen Effizienzbegriffs
1.1.5 Jenseits des Effizienzkriteriums – Überindividuelle Gerechtigkeitskriterien und Abwägungsverbote
1.1.5.1 Überindividuelle Gerechtigkeitskriterien und Kritik
1.1.5.2 Liberale Rechte und unveräußerliche Rechte als Abwägungsverbote
1.1.5.3 Präferenzautonomie und einmischende Präferenzen
1.2 Effizienz als normatives Ziel der ökonomischen Analyse des Vertragsrechts
2. Ökonomisches Verhaltensmodell herkömmlicher Prägung
2.1 Die REMM-Hypothese – Begriff und Komponenten
2.1.1 Definition
2.1.2 REMM-Hypothese als Ausprägung zweckrationalen Verhaltens (rational choice)
2.2 Handlungsziele – interessegeleitetes, eigennütziges Verhalten
2.2.1 Eigennutz als Präferenzinhalt und Handlungsziel
2.2.2 Zur Aussagekraft der Eigennutzannahme
2.2.2.1 Eigennutz und urteilsbestimmtes Verhalten
2.2.2.2 Eigennutz und Theory of Revealed Preferences
2.2.2.3 Eigennutz und Beachtlichkeit sog. „Einmischender Präferenzen“
2.3 Rationale Präferenzordnung – Maximierungs-komponente I
2.3.1 Axiome rationaler Präferenzordnung nach von Neumann und Morgenstern
2.3.2 Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit
2.3.2.1 Riskante Entscheidungen – Erwartungsnutzentheorie
2.3.2.2 Unsicherheit im engeren Sinne und Bayesian Updating
2.3.3 Präferenzordnung bei intertemporalen Entscheidungen
2.3.3.1 Dominantes Modell – Discounted Utility Theory (DUT)
2.3.3.2 Die Annahmen des Diskontierungsmodells
2.3.3.3 Fazit
2.4 Optimale Inputberücksichtigung – Maximierungskomponente II
2.4.1 Die Annahme optimaler Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazität
2.4.2 Beschränkte Rationalität – „Satisficing“ nach Simon
2.5 Methodologischer Stellenwert des REMM
II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen
1. Das (präsumptive) ökonomische Argument für die Vertragsfreiheit
1.1 Erstes Wohlfahrtstheorem als Argument für die Vertragsfreiheit
1.2 Coase-Theorem als Argument für die Vertragsfreiheit
2. „Marktversagen“ als Argument gegen die unbeschränkte Vertragsfreiheit
2.1 Vorweg: Negative externe Effekte
2.2 Informationsasymmetrien als Kardinalproblem effizienter Vertragsschlüsse
2.2.1 Das Problem adverser Selektion als gedanklicher Ausgangspunkt
2.2.2 Parameterabhängige Effizienz von Eingriffen in die Vertragsfreiheit
2.2.3 Aufschlüsselung in Signalling- und Screening-Szenarien
2.2.3.1 Effizienzsteigernder Eingriff in die Vertragsfreiheit im Signalling-Szenario
2.2.3.2 Wohlfahrtsimplikationen rechtlicher Intervention im Screening-Szenario
2.2.4 Informationsasymmetrien bei Verhandlungsungleichgewicht
2.3 Rationalitätsdefizite als Form des Verhandlungsversagens im Besonderen
2.3.1 Wohlfahrtsverluste bei beschränkter Rationalität einer Vertragspartei
2.3.2 Wohlfahrtsverluste bei systematischen Entscheidungsfehlern
3. Zwischenfazit – Effizienzziel und Funktion des Vertragsrechts
3.1 Zulassung von Markttransaktionen
3.2 Erleichterung von Markttransaktionen
3.3 Simulation des Marktmechanismus
4. Eingriffe in die Vertragsfreiheit: Effizienz versus Verteilungsgerechtigkeit
4.1 Das Verhältnis von Effizienz und Umverteilung
4.2 Umverteilung zwischen den Vertragsparteien
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
1. Vorweg: Negative Externalitäten als untaugliche Begründung für Rechtspaternalismus
2. Ausgewählte Konzepte eines effizienzsteigernden Paternalismus
2.1 Vorarbeiten: Vereinbarkeit von Paternalismus und Effizienzziel (Kennedy)
2.2 Effizienz als bloße Teilerklärung von Paternalismus im Vertragsrecht (Kronman)
2.2.1 Unabdingbarkeit bestimmter Gewährleistungsrechte und Produktstandards
2.2.2 (Übermäßiger) Verzicht auf persönliche Freiheit
2.2.3 Zwingende Widerrufsmöglichkeiten
2.3 Präferenzformung durch Recht (Sunstein)
2.4 Präferenzinkonsistenzen im Zeitverlauf und effizienter Paternalismus (Burrows)
2.5 Ein Modell zur Effizienzmessung paternalistischer Maßnahmen (Zamir)
2.5.1 Zur Vereinbarkeit von Effizienzziel und Paternalismus
2.5.2 Das Modell zur Effizienzmessung paternalistischer Intervention
2.6 Zwischenergebnis und weiteres Vorgehen
2.6.1 Maßgeblichkeit der Entscheiderpräferenzen für effizienten Paternalismus
2.6.2 Marktversagen als Rechtfertigung der paternalistischen Intervention
2.6.3 Kosten-Nutzen-Kalkül des effizienten Paternalismus – Maßgeblichkeit des Aggregats
2.6.4 Das Verhältnis zu freiheits- und autonomiebasierten Paternalismuskonzepten
2.6.5 Weiteres Vorgehen
3. Kosten- und Nutzenpositionen eines effizienten Paternalismus im Vertragsrecht
3.1 Nutzen – Marktversagen als Voraussetzung effizienten Paternalismus
3.1.1 Marktversagen wegen einer Dysfunktion im Verhältnis der Kontrahenten zueinander
3.1.1.1 Informationsasymmetrien
3.1.1.2 Ungleiche Verhandlungsmacht und Manipulation des Vertragspartners
3.1.2 Rationalitätsdefizite als maßgeblicher Ansatzpunkt
3.1.2.1 Informationsaufnahme- und -verarbeitungsdefizite
3.1.2.2 Systematische Entscheidungsfehler
3.1.2.3 Akute Impulse und motivatorische Verzerrungen
3.1.2.4 Mangelnde teleskopische Fähigkeiten – Begrenztes Vorstellungsvermögen
3.1.2.5 Fehlende Reflexion
3.2 Kosten der rechtspaternalistischen Intervention
3.2.1 Kosten für den Intervenienten – Rechtsetzungs- und -anwendungskosten
3.2.2 Verteuerung der Transaktion für die Rechtsunterworfenen
3.2.3 Intrinsischer Nutzen der Entscheidungsfreiheit und Frustrationskosten
3.2.4 Lerneffekte und Langzeitnutzen – Kosten ihrer Vereitelung
3.2.5 Frustrationskosten bei fehlerhafter oder sachwidrig motivierter Entscheidung des Intervenienten
3.2.5.1 Das Wissensproblem des Intervenienten
3.2.5.2 Beschränkte Rationalität des Intervenienten
3.2.5.3 Verfolgung effizienzfremder Motive (Missbrauch)
3.2.5.4 Fehlerhafte Intervention versus irrtümliche Untätigkeit
3.2.6 Heterogenität des Adressatenkreises – Über- und Unterinklusion
3.2.7 Die Idee des asymmetrischen Paternalismus
3.3 Theoretische Konvergenz von Intervention und Präferenz des Entscheiders
3.4 Summe – Das Kosten-Nutzen-Kalkül effizienten Paternalismus
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
I. Einführung
1. Bedeutung der Verhaltensökonomik für den Untersuchungsgegenstand
2. Fortgang der Untersuchung
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell
1. Fehler bei der Informationsaufnahme und -verarbeitung – Heuristiken und Wahrnehmungsverzerrungen
1.1 Vorbemerkungen zur Klärung der Begriffe
1.2 Komplexität und Unsicherheit der Entscheidung als Auslöser und Verstärker systematischer Entscheidungsfehler
1.2.1 Komplexität der Entscheidung und information overload
1.2.2 Entscheidungen unter Unsicherheit
1.3 Heuristiken und Wahrnehmungsverzerrungen
1.3.1 Verfügbarkeitsheuristik und Rückschaufehler
1.3.2 Verzerrung durch kognitive Anker
1.3.3 Ähnlichkeitsheuristik und verwandte Phänomene
1.3.4 Fortschreibung gegenwärtiger Präferenzen und Projektionsfehler
1.3.5 Überoptimismus und Selbstüberschätzung
1.3.6 Außerachtlassung kleiner Wahrscheinlichkeiten
2. Begrenzter Eigennutz – Fairness und soziale Präferenzen
3. Abweichungen von den Axiomen rationaler Präferenzordnung
3.1 Referenzpunktabhängigkeit von Präferenzen und Verlustaversion
3.2 Präferenzen bei Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit
3.2.1 Allais-Paradoxon und Sicherheitseffekte
3.2.2 Ellsberg-Paradoxon und Ambiguitätsaversion
3.3 Vergleichende Bewertung von Entscheidungs-alternativen und Menüeffekte
4. Zeitinkonsistentes Verhalten und Probleme der Selbstkontrolle
4.1 Die Darstellung quasi-hyperboler Diskontierung im β-δ-Modell
4.2 Selbsteinschätzung der Entscheider und Wohlfahrtsimplikationen
III. Deskriptive Präferenztheorien
1. Prospect-Theorie
2. Kumulative Prospect-Theorie
3. Regret- und Disappointment-Theorie
3.1 Regret-Theorie
3.2 Disappointment-Theorie
4. Support-Theorie
IV. Verhaltensökonomik und Standardmodell
1. Relevanz der Verhaltensanomalien im Aggregat
2. Beharrlichkeit der Verhaltensanomalien in der realen Welt
3. Alternativerklärungen auf der Grundlage des Standardmodells
4. Konsequenzen für die ökonomische Theorie
V. Verhaltensökonomik als juristisches Forschungsinstrument
1. Die besonderen Herausforderungen der verhaltensökonomischen Rechtsanalyse
2. Verbleibende Vorzüge der verhaltensökonomischen Rechtsanalyse
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
1. Verhaltensökonomik und „Neuer Paternalismus“
2. Verhaltensökonomisch fundierte Paternalismuskonzepte in der Diskussion
2.1 „Libertärer Paternalismus“ – Die Konzeption von Sunstein und Thaler
2.2 Das Konzept des „asymmetrischen Paternalismus“
2.3 Einbeziehung von Lernkosten und Kosten für externe Entscheidungshilfe in die verhaltensökonomische Rechtfertigung von Rechtspaternalismus (Rachlinski I)
2.4 Die Kosten des Rechtspaternalismus – Berücksichtigung der Heterogenität des Adressatenkreises (Rachlinski II)
2.5 Das Prinzip des schonendsten Paternalismus (van Aaken)
2.6 „Debiasing through Law“ (Jolls/Sunstein)
2.7 Rechtspaternalistisches Effizienzkalkül bei irrationalem Optimismus (Williams)
3. Kritik am verhaltensökonomisch begründeten „Neuen Paternalismus“
3.1 Zum Verhältnis von Libertarismus und Paternalismus (Mitchell)
3.1.1 Zur Vermeidbarkeit eines paternalistischen Regelungsrahmens
3.1.2 Paternalismusziele: Selbstbestimmung versus Wohlfahrt
3.1.3 Die redistributiven Konsequenzen des „libertären Paternalismus“
3.1.4 Folgerung
3.2 Zu den Kosten des „Neuen Paternalismus“
3.2.1 Nachteilige Auswirkungen auf das Lernverhalten und die Entwicklung von Entscheidungskompetenz (Klick/Mitchell)
3.2.2 Das Wissensproblem des „Neuen Paternalismus“ (Rizzo/Whitman)
3.2.3 Rationalitätsdefizite des paternalistischen Intervenienten
3.2.4 Public Choice und „Neuer Paternalismus“
3.2.5 Negative Dynamik des „Neuen Paternalismus“
4. Bewertung der Kritik am „Neuen Paternalismus“
4.1 Individuelle Wohlfahrt, Selbstbestimmung und Paternalismus im Vertragsrecht – Zur Kritik von Mitchell
4.2 Einflussnahme auf die Präferenzformung und „Neuer Paternalismus“
4.3 Zu den Kosten des verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus
4.3.1 Kosten ausbleibender Lernerfolge
4.3.2 Noch einmal: Zum Wissensproblem des Intervenienten
4.3.3 Sachfremde Regulierungsmotive und „Slippery Slope“
4.4 „Neuer Paternalismus“ als Mittel der Disziplinierung staatlicher Gewalt
5. Integration der verhaltensökonomischen Erkenntnisse in das Konzept des effizienten Paternalismus im Vertragsrecht
5.1 Ziel: präferenzkonforme reflektierte Entscheidung des Schutzadressaten
5.2 Anknüpfungspunkt: Defizite der Präferenzformung und -betätigung
5.3 Wahrscheinlichkeitsbewertung auf verhaltensökonomischer Grundlage
5.4 Konkretisierung der Tatbestandsseite
5.4.1 Das Problem der Heterogenität: Differenzierung und Typisierung
5.4.2 Zeitinkonsistentes Verhalten und Probleme der Selbstdisziplin
5.4.3 Zur Bedeutung „struktureller Unterlegenheit“ eines Vertragsteils
5.5 Das rechtspaternalistische Interventionsinstrumentarium
5.5.1 Die eingesetzten Mittel: Wahlhilfen und Wahlbeschränkungen
5.5.2 Zum Verhältnis von Wahlhilfen und Wahlbeschränkungen
5.5.3 Zum Einsatz von Wahlhilfen
5.5.3.1 Abstimmung von Verhaltensanomalie und Wahlhilfe
5.5.3.2 Insbesondere: Zur Rolle des Informationsmodells
5.5.4 Zum Einsatz von Wahlbeschränkungen
5.5.4.1 Postventive Vertragsinhaltskontrolle anhand von Generalklauseln
5.5.4.2 Abstrakt-generelle Vertragsinhaltsbeschränkung
§ 6 Zwischenfazit – Verfassungsrechtliche Einordnung und Anliegen der Arbeit
I. Effizienter Paternalismus als Ausfüllung verfassungsrechtlicher Vorgaben
1. Rechtfertigungsbedürftigkeit des Grundrechtseingriffs und Marktversagen
2. Grundrechtlicher Schutz vor Paternalismus und Maßgeblichkeit der Entscheiderpräferenzen
3. Grundrechtlicher Schutz durch Paternalismus
4. Verhaltensökonomisch fundierter effizienter Paternalismus als Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgebots
II. Das Anliegen der Arbeit: Freiheitsschutz durch effizienten Paternalismus
1. Effizienter Paternalismus als Analyse- und Rationalisierungsinstrument
2. Effizienter Paternalismus als Schutz vor übermäßigem Rechtspaternalismus
Dritter Teil: Anwendung auf Referenzgebiete
§ 7 Ehevertragsrecht
I. Gegenstand und Fortgang der weiteren Untersuchung
1. Untersuchungsgegenstand und Begriffsbestimmung
2. Gang der weiteren Untersuchung
II. Die gesetzlichen Grundlagen des Ehevertragsrechts
1. Güterrechtliche Vereinbarungen, § 1408 Abs. 1 BGB
1.1 Grundsatz der Vertragsfreiheit, §§ 1363 Abs. 1, 1408 Abs. 1 BGB
1.2 Formale Wirksamkeitsvoraussetzungen, § 1410 BGB
1.3 Inhaltsbeschränkungen
2. Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich, §§ 1408 Abs. 2 BGB, 6 ff. VersAusglG
2.1 Grundsatz der Vertragsfreiheit
2.2 Formale Wirksamkeitsvoraussetzungen, §§ 7 VersAusglG, 1410 BGB
2.3 Inhaltsbeschränkungen
2.3.1 § 8 Abs. 2 VersAusglG – Kein Vertrag zulasten Dritter
2.3.2 § 8 Abs. 1 VersAusglG – Bestätigung der Rspr. zur Vertragsinhaltskontrolle
2.4 Wegfall der Fristenregelung des § 1408 Abs. 2 S. 2 BGB a.F
3. Vereinbarungen über den nachehelichen Unterhalt
3.1 Überblick über das Recht des nachehelichen Unterhalts
3.2 Grundsatz der Vertragsfreiheit
3.3 Formale Wirksamkeitsvoraussetzungen, § 1585c S. 2 und 3 BGB
3.4 Inhaltsbeschränkungen
III. Die gerichtliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen – Stand der Erkenntnis
1. Die Rspr. des BGH vor der Entscheidung BVerfGE 103, 89
1.1 Grundsatz der „vollen Vertragsfreiheit“
1.2 Gesetzliches Verbot nach § 134 BGB
1.3 Sittenwidrigkeit des Ehevertrags nach § 138 BGB
1.3.1 Sittenwidriges Zusammenwirken zum Nachteil Dritter
1.3.2 Ausnutzung einer Zwangslage oder der Unerfahrenheit des Partners
1.4 Verstoß gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB)
1.5 Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB)
2. Das Echo im wissenschaftlichen Schrifttum
2.1 Die These von der generellen „strukturellen Unterlegenheit“ der Frau (Schwenzer)
2.2 Die These von der „strukturellen Unterlegenheit“ der nicht verheirateten, schwangeren Frau (Dethloff)
2.3 „Strukturelle Unterlegenheit“ und gemeinsame Elternverantwortung (Büttner)
2.4 Neubestimmung der Sittenwidrigkeitsschranke bei grundsätzlicher Ehevertragsfreiheit (Coester-Waltjen)
3. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen
3.1 Das Urteil vom 6.2.2001 zur Freistellung vom Kindesunterhalt
3.1.1 Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG vor unangemessener Benachteiligung durch Ehevertrag
3.1.1.1 Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG
3.1.1.2 Anspruch auf Schutz der werdenden Mutter nach Art. 6 Abs. 4 GG
3.1.2 Schutz des Kindeswohles aus Art. 6 Abs. 2 GG
3.2 Bestätigung in BVerfG NJW 2001, 2248 = FamRZ 2001, 985
3.3 Exkurs: Ausstrahlung von Art. 6 Abs. 1 i.V.m. 3 Abs. 2 GG auf den Vermögensausgleich nach Scheidung
4. Echo in der Literatur
4.1 Bewertung und Tragweite der BVerfG-Rechtsprechung
4.2 Interpretation der Entscheidungen und Folgefragen
4.2.1 Vorliegen einer einseitigen Lastenverteilung
4.2.2 Bedeutung der „strukturell ungleichen Verhandlungsstärke“
4.2.3 Instrumente der Inhaltskontrolle (Rechtsfolgenseite)
5. Die Reaktion des BGH auf das BVerfG in BGHZ 158, 81
5.1 Kernbereichslehre
5.1.1 Grundsatz der Disponibilität
5.1.2 Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen als Inhaltsschranke
5.1.3 Rangfolge der Scheidungsfolgen
5.2 Mittel und Maßstab der Inhaltskontrolle
5.2.1 Keine Entbehrlichkeit richterlicher Überprüfung bei notarieller Belehrung
5.2.2 Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB
5.2.3 Ausübungskontrolle nach § 242 BGB
6. Die weitere Entwicklung der BGH-Rspr. im Lichte der Reformgesetze
6.1 Wirkrichtung der Reformgesetze und Inhaltskontrolle von Eheverträgen
6.1.1 Inhaltskontrolle von Eheverträgen und Unterhaltsrechtsreform
6.1.1.1 Reformziel: Stärkung der Eigenverantwortung geschiedener Ehegatten
6.1.1.2 Die Neufassung des § 1570 BGB
6.1.1.3 Die Beurkundungspflicht nach § 1585c S. 2 BGB n.F
6.1.1.4 Ableitungen und Erwartungen
6.1.2 Auswirkungen des VAStrRefG auf Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich
6.1.2.1 Erweiterter Gestaltungsspielraum der Eheleute durch die Reform
6.1.2.2 Beurkundungserfordernis nach § 7 Abs. 1 VersAusglG
6.1.2.3 Verankerung der richterlichen Inhaltskontrolle in § 8 Abs. 1 VersAusglG
6.2 Die Rspr. des BGH seit BGHZ 158, 81
6.2.1 Kein unverzichtbarer Mindeststandard an Scheidungsfolgen
6.2.2 Kernbereichslehre und Ausgleich ehebedingter Nachteile
6.2.2.1 Zentrale Bedeutung der „Ehebedingtheit“ der (voraussichtlichen) Nachteile
6.2.2.2 Kernbereich und Rang von Versorgungs- und Zugewinnausgleich
6.2.3 Wirksamkeitskontrolle (§ 138 Abs. 1 BGB)
6.2.3.1 Zur Bedeutung subjektiver Vertragsdisparität für die Sittenwidrigkeit
6.2.3.2 Einzel- und Gesamtwürdigung der ehevertraglichen Regelungen
6.2.3.3 Zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt
6.2.3.4 Spruchpraxis: Sittenwidrigkeit nur in klaren Ausnahmefällen
6.2.3.5 Zur Frage der Gesamt- oder Teilnichtigkeit
6.2.4 Ausübungskontrolle nach §§ 242, 313 BGB
6.2.4.1 Dogmatische Einordnung: Rechtsmissbrauch und Wegfall der Geschäftsgrundlage
6.2.4.2 Rechtsfolge: Vertragsanpassung zum Ausgleich ehebedingter Nachteile
6.2.5 Modifizierte Scheidungsfolgen und Kompensationszahlungen
6.2.6 Richterliche Kontrolle überhöhter Leistungen
6.2.7 Sittenwidrigkeit wegen Belastung des Sozialhilfeträgers und Verhältnis zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen
6.3 Die Kritik des Schrifttums an der Kernbereichslehre des BGH
IV. Zwischenbefund und Fortgang der Untersuchung
1. Der rechtspaternalistische Kern der richterlichen Ehevertragskontrolle
1.1 Drittschützende Dimension der richterlichen Ehevertragskontrolle
1.1.1 Eheverträge zu Lasten gemeinsamer Kinder
1.1.2 Verträge zu Lasten anderer Unterhaltsberechtigter
1.1.3 Verträge zu Lasten der Sozialkassen und Versorgungsträger
1.1.3.1 Unterhaltsverzicht
1.1.3.2 Unterhaltsverstärkung
1.1.3.3 Versorgungsausgleich – Verzicht und Modifikation
1.1.3.4 Verzicht auf Zugewinnausgleich
1.2 Paternalistischer Kern der Inhaltskontrolle
1.2.1 Weich paternalistisches Interventionskonzept des BVerfG
1.2.2 Paternalistische Doppelkontrolle des Ehevertrages durch den BGH
1.2.2.1 Weich paternalistische Begründung der Wirksamkeitskontrolle
1.2.2.2 Weich paternalistischer Begründungskern der Ausübungskontrolle
2. Unklarheiten und offene Fragen
2.1 Unterschiedliche Modelle der Rspr. und Abstimmungsbedarf
2.2 Begründungsdefizite beider Modelle
2.2.1 Das BVerfG-Modell: Gestörte Vertragsparität und Fremdbestimmung
2.2.1.1 Fremdbestimmung aufgrund „struktureller Unterlegenheit“
2.2.1.2 Verhältnis von Fremdbestimmung und Vertragsinhalt
2.2.2 Das BGH-Modell: Schutz vor unzumutbaren Vertragsfolgen
2.3 Klärungsbedarf bei der dogmatischen Umsetzung
2.4 Angemessenheit der richterlichen Intervention?
2.5 Dynamik und Vorhersagbarkeit der Entwicklung
3. Fortgang der Untersuchung
V. Ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts
1. Vorbemerkung: Ökonomische Analyse und Eherecht
2. Ehe als Vertragsbeziehung
2.1 Wandel des Eheverständnisses vom Status zum Vertrag
2.2 Pareto-Effizienz der Ehe als Grund für Eheschließung und -fortdauer
2.3 Modellerweiterungen
2.3.1 Peters – Scheidungsrecht und Informationsverteilung
2.3.2 Wax – Verhandlungsmodell und Gleichheitsziel
3. Das Problem: Opportunistisches Verhalten in der Ehe
3.1 Asymmetrische ehespezifische Investition und Ex Post- Opportunismus
3.2 Antizipation des Ex post-Opportunismus und Moral Hazard
4. Verhaltenssteuerung durch Scheidungs(folgen)recht
4.1 Effizienter Investitionsschutz durch Kompensation bei Scheidung
4.1.1 Versicherung ehespezifischer Investitionen
4.1.2 Vermeidung von Fehlanreizen für den Versicherten
4.1.3 Die verschiedenen Vermögensausgleichsmodelle im Vergleich
4.1.3.1 Ersatz des positiven Interesses
4.1.3.2 Ersatz des Vertrauensschadens (negatives Interesse)
4.1.3.3 Gewinnabschöpfung
4.1.3.4 Halbteilungsgrundsatz
4.1.3.5 Bedürftigkeitsabhängige Zahlungsansprüche
4.1.4 Zwischenergebnis
4.2 Annex: Scheidungsfolgenrecht und die Entscheidung zur Eheschließung
4.3 Gewollt unvollkommener Investitionsschutz nach der lex lata
4.3.1 Indisponibles Zerrüttungsprinzip
4.3.2 Das Recht des nachehelichen Vermögensausgleichs
4.3.2.1 Nachehelicher Ehegattenunterhalt
4.3.2.2 Zugewinn- und Versorgungsausgleich
4.4 Investitionsschutz als Argument für Vertragsfreiheit?
5. Die Ehe als sog. „relationaler Vertrag“ – Bedeutung für den Untersuchungsgegenstand
5.1 Die Theorie vom relationalen Vertrag
5.1.1 Kernelemente der Relational Contract Theory
5.1.2 Unschärfe der Definition relationaler Verträge
5.1.3 Relational Contract Theory und ökonomische Transaktionskostenanalyse
5.2 Ehe als relationaler Vertrag
5.3 Normative Ableitungen für die gerichtliche Ex post-Kontrolle relationaler Verträge
5.3.1 Das Meinungsspektrum innerhalb der Relational Contract-Bewegung
5.3.2 Schlussfolgerungen
5.4 Insbesondere: relationaler Vertrag und nachehelicher Vermögensausgleich
5.5 Fazit
6. Ehevertragsfreiheit und effizienter Paternalismus – Vertragstheoretische Einordnung
6.1 Erneut: Grundsätzliche Effizienz der Vertragsfreiheit
6.1.1 Pareto-Effizienz von Eheverträgen
6.1.1.1 Ehevertragsfreiheit als Voraussetzung Pareto-superiorer Eheschließung
6.1.1.2 Antizipation von Ex post-Opportunismus durch rationale Akteure
6.1.2 Nacheheliche Eigenverantwortung und soziale Bedürftigkeit als Externalität
6.1.3 Kosten der richterlichen Ehevertragskontrolle
6.1.3.1 Das „Wissensproblem“ des paternalistisch motivierten Intervenienten
6.1.3.2 Weitere Kosten richterlicher Ehevertragskontrolle
6.2 Keine Pareto-Optimalität aufgrund von Marktversagen
6.2.1 Der „Schatten“ des dispositiven Rechts
6.2.1.1 Das Phänomen
6.2.1.2 Ableitungen für den hiesigen Untersuchungsgegenstand
6.2.2 Transaktionsspezifische Hemmnisse effizienten Vertragsschlusses
6.2.2.1 Probleme der Transaktionskompetenz – Rationalitätsdefizite
6.2.2.2 Informationsasymmetrie I – strategische Fehlinformation des Partners
6.2.2.3 Informationsasymmetrie II – Adverse Signalling der Vertragsverhandlung
6.2.2.4 Druck, ungleiche Verhandlungsmacht und opportunistisches Verhalten
6.2.2.5 Geschlechtsspezifisches Verhandlungsungleichgewicht?
6.2.3 Unvorhergesehene Ereignisse nach Vertragsschluss
6.3 Zur Kostenminimierung des Eingriffs in die Ehevertragsfreiheit
6.4 Zwischenergebnis
VI. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht
1. Verhaltensanomalien bei Ehevertragsschluss
1.1 Überoptimismus, Überdurchschnittlichkeitseffekt und selbstdienliche Wahrnehmung
1.2 Verfügbarkeitsheuristik, Projektionsfehler und affektive Prognosen
1.3 Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten
1.4 Übermäßige Diskontierung künftigen Nutzens
1.5 Verlustaversion und resultierende Risikoneigung (Prospect Theory)?
1.6 Allgemeine Grenzen der Vorhersehbarkeit künftiger Entwicklungen
1.7 Verzicht auf spätere Vertragsänderung zwecks Vermeidung kognitiver Dissonanz?
1.8 Eingeschränkter Eigenschutz durch Eigennutz
1.9 Summe
2. Folgerungen: „Libertärer Paternalismus“ im Ehevertragsrecht
2.1 Begründung paternalistischer Intervention
2.1.1 Unterversicherung aufgrund spezifischer Risikofehleinschätzung
2.1.2 Anfälligkeit für unlautere Beeinflussung durch den Vertragspartner?
2.1.3 Unterlassene Vertragsänderung und nachvertragliche Verhandlungsdisparität
2.2 Folgerungen für ein Paternalismusmodell im Ehevertragsrecht
2.2.1 Personale Differenzierung
2.2.1.1 Art und Weise der Betroffenheit vom Vertragsinhalt – Der Ehetyp
2.2.1.2 Bedeutung der Initiative zum Vertragsschluss?
2.2.1.3 Persönliche Eigenschaften
2.2.2 Differenzierung der Vertragsschlusssituation
2.2.2.1 Vertragsschluss vor der Eheschließung
2.2.2.2 Vertragsschluss in der intakten Ehe
2.2.2.3 Vertragsschluss in der Ehekrise
2.2.2.4 Vertragsschluss nach Scheitern der Ehe, Scheidungsvereinbarung
2.2.2.5 Vereinbarungen nach rechtskräftiger Scheidung
2.2.2.6 Differenzierung nach der Zeitspanne zwischen Ehevertragsschluss und Scheidung?
2.3 Das Interventionsinstrumentarium im Ehevertragsrecht
2.3.1 Das Anliegen: Hinreichender Schutz bei möglichst schonender Intervention – Debiasing versus Insulating im Ehevertragsrecht
2.3.2 Folgerungen für den formal-prozeduralen Kontrahentenschutz im Ehevertragsrecht (Debiasing)
2.3.2.1 Die notarielle Beurkundung als Wahlhilfe de lege lata
2.3.2.2 Antizipierte Inhaltskontrolle als beschränkte Nebenfunktion
2.3.2.3 Wirksamkeitsgrenzen und Korrekturbedarf
2.3.2.4 Keine formlose Bevollmächtigung des Ehepartners de lege lata
2.3.2.5 Erfordernis der persönlichen Anwesenheit vor dem Notar de lege ferenda
2.3.2.6 Zwingende Überlegungs- und Abkühlfrist
2.3.2.7 Unabhängige Rechtsberatung statt notarielle Beurkundung?
2.3.2.8 Entscheidungspsychologische Schulung des beratenden Notars
2.3.2.9 Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Vereinbarung
2.3.2.10 Zwingende Befristung der Vertragsregelung – „Sunset“-Klausel
2.3.3 Richterliche Inhaltskontrolle zur Eindämmung schädlicher Entscheidungswirkungen (Insulating)
2.3.3.1 Kein Ausschluss durch Erfüllung formalprozeduraler Anforderungen
2.3.3.2 Der Prüfmaßstab des BGH – Erklärung, Fundierung, Ableitungen
2.3.3.3 Die Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB
2.3.3.4 Die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB als Herzstück der Inhaltsprüfung
VII. Verfassungsrechtliche Kontrollüberlegungen
VIII. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
§ 8 Gesellschaftsrecht
I. Gegenstand und Fortgang der weiteren Untersuchung
1. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands
2. Gang der weiteren Untersuchung
II. Reichweite und Grenzen der Gesellschaftsvertragsfreiheit – Ein Überblick
1. Der ursprüngliche Gesellschaftsvertragsschluss bei Gesellschaftsgründung
1.1 Formale Voraussetzungen des Vertragsschlusses
1.2 Inhalt des Gesellschaftsvertrags
1.2.1 Vertragsfreiheit als Ausgangspunkt
1.2.2 Unverzichtbare Mitgliedschaftsrechte
2. Änderung des Gesellschaftsvertrags und Grenzen der Mehrheitsmacht
2.1 (Relativ) Unentziehbare Mitgliedschaftsrechte
2.2 Bestimmtheitsgrundsatz
2.3 Kernbereichslehre und Belastungsverbot
2.4 Ausübungskontrolle
III. Paternalistisches Gesellschaftsrecht – Drei Beispiele
1. Zur Gültigkeit sog. Hinauskündigungsklauseln im Personengesellschafts- und GmbH-Recht
1.1 Ausschließung des Gesellschafters – Gesetzlicher Befund
1.2 Vertragliche Ausschlusserleichterungen und freie Hinauskündigung
1.3 Gründe für eine Erleichterung der Ausschließung durch Vereinbarung
1.4 Die Rechtsprechung des BGH zu sog. Hinauskündigungsklauseln
1.4.1 Frühere Rspr. – Grundsätzliche Zulässigkeit freier Hinauskündigung
1.4.2 Nunmehr – Grundsätzliche Nichtigkeit sog. Hinauskündigungsklauseln
1.4.3 Ausnahmsweise Gültigkeit einer Hinauskündigungsklausel
1.4.4 Ausübungskontrolle wirksamer Hinauskündigungsklauseln
1.5 Der Meinungs- und Diskussionsstand im Schrifttum
1.5.1 Die Kritik an der Rspr. zur Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln
1.5.1.1 Inkonsistenz der Rspr
1.5.1.2 Keine Sittenwidrigkeit aus Gründen des Gesellschafterschutzes
1.5.1.3 Keine Sittenwidrigkeit wegen Dysfunktionalität der Gesellschaft
1.5.1.4 „Damoklesschwert“-Argument und angemessene Abfindung
1.5.1.5 Überschießende Wirkung des Nichtigkeitsverdikts
1.5.1.6 Bewertung freier Hinauskündigungsklauseln im internationalen Vergleich
1.5.2 Alternative Konzepte des Schrifttums
1.5.2.1 Die Lehre vom Gesellschafter minderen Rechts
1.5.2.2 Geltungserhaltende Reduktion und Ausschließung aus sachlichem Grund
1.5.2.3 Die Bedeutung einer angemessenen Abfindung
1.5.2.4 Rückkehr zur bloßen Ausübungskontrolle
1.5.3 Besondere Rechtfertigungsgründe für eine Hinauskündigungsklausel
1.5.4 Übertragung der Grundsätze auf Rechtstransplantate der Kautelarpraxis
1.5.4.1 Drag along-Klauseln
1.5.4.2 Call option-Klauseln
1.5.4.3 Russian Roulette- und Texas Shoot Out-Klauseln
1.5.4.4 Leaver-Klauseln
2. Zur Gültigkeit von Abfindungsklauseln im Recht der Personengesellschaften und der GmbH
2.1 Die gesetzliche Regelung
2.2 Abfindungsvereinbarungen und deren Gründe
2.2.1 Abfindungsklauseln – Vorkommen und Arten
2.2.2 Die Gründe für Abfindungsklauseln in der juristischen und ökonomischen Diskussion
2.2.2.1 Bestandsschutz der Gesellschaft als Investitionsschutz
2.2.2.2 Senkung der Abwicklungskosten?
2.3 Die Entwicklungslinien der Rspr. und ihre Begleitung durch das Schrifttum
2.3.1 Die Rechtsprechung von 1978 bis 1993
2.3.2 Die Kritik der Literatur
2.3.3 Die „Wende“ der Rspr. im Jahre 1993
2.3.4 Die Reaktion des Schrifttums
2.3.5 Die Folgerechtsprechung bis heute
2.3.5.1 Besondere Rechtfertigungsgründe für Abfindungsbeschränkungen
2.3.5.2 Unwirksamkeit von Abfindungsklauseln nach § 723 Abs. 3 BGB
2.3.5.3 Verhältnis von Klauselunwirksamkeit und Auslegung
2.4 Summe – Der aktuelle Erkenntnisstand zur Zulässigkeit von Abfindungsklauseln
2.4.1 Wirksamkeitsschranken vereinbarter Abfindungsbeschränkungen
2.4.1.1 Gleichbehandlungsgrundsatz
2.4.1.2 Sittenwidrige Knebelung gem. § 138 Abs. 1 BGB
2.4.1.3 Unzulässige Kündigungserschwerung gem. § 723 Abs. 3 BGB, § 133 Abs. 3 HGB (analog)
2.4.2 Durchsetzungsschranken wirksamer Abfindungsbeschränkungen
2.4.2.1 Vorweg: Primat der ergänzenden Vertragsauslegung
2.4.2.2 Dogmatische Anknüpfung der Ausübungskontrolle
2.4.2.3 Materielle Abwägungskriterien
2.4.2.4 Rechtsfolge: Vertragsanpassung
3. Abdingbarkeit der mitgliedschaftlichen Treuepflicht
3.1 Die gesellschafterliche Treuepflicht – Schutzrichtung, Inhalt, Umfang
3.2 Rechtsökonomische Funktion der Treuepflicht
3.3 Gründe für die Abbedingung von Treuepflichten
3.4 Die Diskussion im Schrifttum
3.4.1 Dogmatische Determinanten
3.4.1.1 Herleitung der Treuepflicht – Grundlinien
3.4.1.2 Implikationen für die Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht
3.4.2 Der Meinungsstand im In- und Ausland
IV. Institutionenökonomische Grundlagen
1. Die Ex ante-Sicht – Gesellschaftsverträge als unvollständige Langzeitverträge
2. Die Gefahr des Ex post-Opportunismus
2.1 Ex post-Opportunismus bei Langzeitverträgen im Allgemeinen
2.2 Ex post-Opportunismus bei personalistischen Gesellschaften im Besonderen
2.3 Konsequenz: Zielkonflikt der Kostenminimierung ex ante und ex post
3. Die Rolle des dispositiven Gesellschaftsbinnenrechts
4. Nutzen und Kosten richterlicher Rechtsdurchsetzung im relationalen Vertragsverhältnis
4.1 Zur Zweischneidigkeit rechtlicher Sanktionen
4.2 Normative Implikationen – Meinungsstand
4.3 Insbesondere: Die „New Formalism“-Bewegung
4.4 Gesellschaftsrechtliche Anwendung – Zum Schutz berechtigter Erwartungen im Rahmen der Treuepflicht
4.4.1 Der Meinungsstand
4.4.2 Das Für und Wider des rechtlichen Schutzes legitimer Erwartungen
5. Autonomer Vertragsschluss und zwingender Gesellschafterschutz
5.1 Der Einwand der Contractarians gegen zwingenden Gesellschafterschutz
5.2 Die Prämisse (beschränkt) rationaler Wahl
V. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Gesellschaftsrecht
1. Verhaltensanomalien bei Gesellschaftsgründung
1.1 Aufschlüsselung der erheblichen Verhaltensanomalien
1.2 Verstärkende Faktoren bei Gründung personalistischer Gesellschaften
1.3 Annex: Ergebniswirksame Verhaltensanomalien nach Vertragsschluss
1.4 Rechtsvergleichender Befund als rechtstatsächliches Indiz für Selbstschutzdefizite der Gesellschafter
1.5 Zu möglichen Einwänden gegen die Relevanz von Rationalitätsdefiziten
2. Folgerungen für Paternalismus im Gesellschaftsvertragsrecht
2.1 Begründung paternalistischer Intervention
2.1.1 Unterversicherung aufgrund von Risikofehleinschätzung und Konfliktvermeidungsverhalten
2.1.2 Anfälligkeit für unlautere Beeinflussung durch den Vertragspartner?
2.1.3 Unterlassene Vertragsänderung und nachvertragliche Verhandlungsdisparität?
2.2 Differenzierungsbedarf
2.2.1 Personale Differenzierung (Heterogenität des Adressatenkreises)
2.2.2 Situative Differenzierung
2.3 Die Rechtsfolgenseite: Das Eingriffinstrumentarium
2.3.1 Allgemeine Vorüberlegungen zum Interventionskalkül
2.3.2 Formal-prozeduraler Kontrahentenschutz im Gesellschaftsrecht (Debiasing)
2.3.2.1 Formalisierte Warnhinweise
2.3.2.2 Anstoß zum aktiven Selbstschutz
2.3.2.3 Die notarielle Beurkundung und Belehrung de lege lata
2.3.2.4 Überlegungen zur notariellen Beurkundung und Belehrung de lege ferenda
2.3.2.5 Unabhängige Rechtsberatung statt notarielle Beurkundung?
2.3.2.6 Formale Anforderungen an die Abbedingung von Dispositivnormen – Zum sog. Bestimmtheitsgrundsatz
2.3.2.7 Zwingende Überlegungs- und Abkühlfrist?
2.3.2.8 Zwingende Befristung der Vertragsregelungen – „Sunset“-Klauseln
2.3.2.9 Zum Einsatz von Wahlhilfen bei Vertrags- und Satzungsänderungen
2.3.3 Verhaltenssteuerung durch dispositives Recht („Soft Insulating“)?
2.3.4 Gesellschafterschützende Wahlbeschränkungen (Insulating)
2.3.4.1 Kosten des Insulating und Grenzen des Debiasing
2.3.4.2 Übergeordnete Zweckerwägungen des gesetzlichen Gesellschafterschutzes
2.3.4.3 Rationalitätsdefizite als Legitimation eingeschränkter Disponibilität des gesetzlichen Gesellschafterschutzes
2.3.4.4 Ableitungen für die Inhaltskontrolle abweichender Vereinbarungen
2.3.4.5 Insbesondere zur Wirksamkeitskontrolle gem. § 138 Abs. 1 BGB
2.3.4.6 Insbesondere zur Ausübungskontrolle gem. § 242 BGB
2.3.4.7 Schlechthin unverzichtbare Gesellschafterrechte
2.4 Anwendung auf die ausgewählten Beispiele
2.4.1 Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht
2.4.2 Hinauskündigungsklauseln
2.4.2.1 Überschießende Beschränkung der Vertragsfreiheit durch die BGH-Rspr.
2.4.2.2 Stattdessen: Beschränkung auf eine Ausübungskontrolle nach § 242 BGB
2.4.2.3 Konkretisierung des Prüfungsmaßstabs
2.4.2.4 Ableitungen für private Rechtstransplantate mit Kündigungswirkung
2.4.3 Abfindungsbeschränkungen
2.4.3.1 Gleichbehandlungsgrundsatz und Wucherverbot
2.4.3.2 § 723 Abs. 3 BGB (analog) und Abfindungsbeschränkungen
2.4.3.3 Sittenwidrige Abfindungsbeschränkungen (§ 138 Abs. 1 BGB)
2.4.3.4 Vertragsauslegung und Ausübungskontrolle – Abgrenzung
2.4.3.5 Ausübungskontrolle nach § 242 BGB – Konkretisierung des Prüfungsmaßstabs
2.4.3.6 Rechtsfolge: Vertragsanpassung
VI. Verfassungsrechtliche Kontrollüberlegungen
VII. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
§ 9 Verbraucherkreditrecht
I. Gang der weiteren Untersuchung
II. Die gesetzlichen Grundlagen des Verbraucherkreditrechts – Der Schutz des Verbraucher-Kreditnehmers im BGB
1. Unionsrechtliche Vorgaben – Die Verbraucherkreditrichtlinie II
1.1 Genese der Richtlinie
1.2 Leitgedanken der Verbraucherkreditrichtlinie und Verbraucherschutz
1.3 Vollharmonisierung als Regelungskonzept
1.4 Anwendungsbereich (Harmonisierungsbereich)
1.4.1 Persönlicher Anwendungsbereich
1.4.2 Sachlicher Anwendungsbereich (Kreditverträge)
1.5 Die Schutzinstrumente der VerbrKrRL
1.5.1 Kreditwerbung, Art. 4 VerbrKrRL
1.5.2 Vorvertragliche Pflichten des Kreditgebers
1.5.2.1 Vorvertragliche Informationspflichten, Art. 5 VerbrKrRL
1.5.2.2 Vorvertragliche Erläuterungspflichten, Art. 5 Abs. 6 VerbrKrRL
1.5.2.3 Verpflichtung zur Bewertung der Kreditwürdigkeit, Art. 8 f. VerbrKrRL
1.5.3 Vertragsform und -inhalt, Art. 10 VerbrKrRL
1.5.4 Rechte zur vorzeitigen Vertragsauflösung
1.5.4.1 Kündigung unbefristeter Kreditverträge, Art. 13 VerbrKrRL
1.5.4.2 Widerruf, Art. 14 VerbrKrRL
1.5.4.3 Verbraucherrecht zur vorzeitigen Kreditrückzahlung, Art. 16 VerbrKrRL
1.5.5 „Durchgriff“ bei verbundenen Kreditverträgen, Art. 15 VerbrKrRL
1.5.6 Sonderregeln für Überziehungsmöglichkeiten und Überschreitung
1.5.7 Kreditvermittler, Art. 21 VerbrKrRL
1.5.8 Unabdingbarkeit von Verbraucherrechten, Art. 22 Abs. 2 und 4 VerbrKrRL
1.5.9 Sanktionen bei Pflichtverstößen, Art. 23 VerbrKrRL
2. Die Umsetzung des Unionsrechts im BGB
2.1 Überblick über Verlauf und Inhalt der Richtlinienumsetzung
2.2 Anwendungsbereich des Verbraucherkreditrechts
2.2.1 Personaler Anwendungsbereich
2.2.1.1 Der Verbraucher als Kreditnehmer (Darlehensnehmer)
2.2.1.2 Der Unternehmer als Kreditgeber (Darlehensgeber)
2.2.1.3 Darlegungs- und Beweislast
2.2.2 Sachlicher Anwendungsbereich – Kreditvertrag
2.2.2.1 Verbraucherdarlehensvertrag
2.2.2.2 Entgeltlicher Zahlungsaufschub und sonstige Finanzierungshilfe
2.2.2.3 Vollausnahmen nach § 491 Abs. 2 BGB
2.2.2.4 Teilausnahmen nach § 491 Abs. 3 BGB
2.2.3 Generalisierend-typisierendes Schutzkonzept
2.3 Vorvertragliche Informationspflichten, §§ 491a BGB, 6a PAngV
2.3.1 Unterrichtungspflicht nach § 491a Abs. 1 BGB
2.3.2 Anspruch auf Kopie eines Vertragsentwurfs, § 491a Abs. 2 BGB
2.3.3 Erläuterungspflicht nach § 491a Abs. 3 BGB
2.3.4 Werbung, § 6a PAngV
2.3.5 Rechtsfolgen bei schuldhafter Pflichtverletzung
2.4 Formvorschriften, §§ 492, 494 BGB
2.5 Fürsorgepflichten des Kreditgebers? (§§ 18 Abs. 2 KWG, 2 Abs. 3 ZAG, 509 BGB)
2.5.1 Die Regelung
2.5.2 Die Diskussion
2.6 Unwirksamkeit des Einwendungsverzichts, § 496 BGB
2.7 Informationspflichten während des Vertragsverhältnisses, § 493 BGB
2.8 Widerrufsrecht, § 495 BGB
2.9 Besondere Kündigungsregeln des Verbraucherkreditvertrages
2.9.1 Vorweg: Überblick über das allgemeine Darlehenskündigungsrecht
2.9.1.1 Ordentliche Kündigung – Grundsatz, § 488 Abs. 3 BGB
2.9.1.2 Ordentliche Kündigung des Schuldners bei verzinslichem Darlehen, § 489 BGB
2.9.1.3 Außerordentliches Kündigungsrecht, § 490 BGB
2.9.2 Kündigung durch den Darlehensgeber bei Verzug, § 498 BGB
2.9.3 Ordentliche Kündigung des Darlehensgebers, § 499 Abs. 1 BGB
2.9.4 Leistungsverweigerungsrecht des Darlehensgebers, § 499 Abs. 2 BGB
2.9.5 Ordentliches Kündigungsrecht des Verbrauchers, § 500 Abs. 1 BGB
2.9.6 Vorzeitige Vertragserfüllung des Verbrauchers, § 500 Abs. 2 BGB
2.9.7 Gesamtkostenermäßigung, § 501 BGB
2.10 Eingeschränkte Anwendung der Schutzvorschriften auf bestimmte Darlehen, §§ 503 ff. BGB
2.10.1 Immobiliardarlehensverträge, § 503 BGB
2.10.2 Eingeräumte Überziehungsmöglichkeit, § 504 BGB
2.10.3 Geduldete Überziehung, § 505 BGB
2.11 Zur Abdingbarkeit des verbraucherkreditrechtlichen Schutzregimes
2.11.1 Die Regelung des § 511 – Überblick
2.11.2 Fragen zu Telos und Reichweite des Abdingbarkeitsverbots
2.11.3 Einseitiger Verzicht versus Vereinbarung
2.11.4 Verzichtbarkeit des bereits entstandenen Widerrufsrechts?
2.11.5 Entbehrlichkeit der Nachfristsetzung und §§ 498, 511 BGB
2.11.6 Vereinbarung wichtiger Kündigungsgründe und §§ 499 Abs. 1, 511 BGB
2.11.7 Auftritt als Scheinunternehmer
2.11.8 Verwirkung des Widerrufsrechts nach § 495 BGB?
2.12 Einzelfallabhängige Inhaltsschranken des Verbraucherkreditrechts
2.12.1 Zum Verhältnis von Verbraucherkreditrecht und §§ 138, 242 BGB
2.12.2 Grundzüge der Sittenwidrigkeit von Konsumentenkreditverträgen
2.12.2.1 Sittenwidrige Ausbeutung des Verbraucherkreditnehmers
2.12.2.2 Sittenwidrige finanzielle Überforderung des Verbraucherkreditnehmers
2.12.2.3 Sittenwidrige Knebelung des Verbraucherkreditnehmers
2.12.2.4 Rechtsfolgen der Sittenwidrigkeit des Kreditvertrages
2.12.3 Unzulässige Rechtausübung im Konsumentenkreditvertragsrecht
3. Verbraucherkreditrecht und Vertragsfreiheit – Allgemeine Bewertung im Schrifttum und Zwischenfazit
III. Ökonomische Grundlagen des Verbraucherkredits
1. Die ökonomische Funktion des Kredits
2. Nachfrage und Angebot auf dem Verbraucherkreditmarkt
2.1 Zur Nachfrage von Verbraucherkrediten – Das Life cycle-permanent income-Modell
2.2 Zur Beschränkung des Angebots von Verbraucherkrediten
2.2.1 Informationsasymmetrien – Adverse Selektion und Moral Hazard
2.2.2 Unwirtschaftlichkeit des einzelfallbezogenen Kreditnehmer-Screening
3. Die kreditvertragliche Risikostruktur
4. Die Effekte der gesetzlichen Vorgaben für den Verbraucherkreditmarkt
4.1 Kosten-Nutzen-Analyse der gesetzlichen Verbraucherkreditregeln
4.1.1 Vorvertragliche Informations-, Erläuterungs- und Prüfungspflichten
4.1.1.1 Bessere Kreditentscheidung durch besser informierte Verbraucher?
4.1.1.2 Verbrauchernutzen durch Kreditwürdigkeitsprüfung?
4.1.1.3 Die Kosten
4.1.2 Insbesondere: Eindämmung verbreiteter Verbraucherüberschuldung?
4.1.3 Vertragsbeendigungsregeln
4.2 Makroökonomische Vorteile?
4.2.1 … durch Erhöhung der Markttransparenz
4.2.2 … durch Schaffung eines gemeinsamen Kreditmarktes
4.2.3 … und mögliche Nachteile
5. Zwischenfazit
IV. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht
1. Kenntnisse und Verhalten von Verbrauchern als Kreditnehmer – Der empirische Befund
1.1 Wissensdefizite der Verbraucher in Finanzangelegenheiten – Financial Illiteracy
1.2 Nichtrationales Verbraucherverhalten in Kreditmärkten
1.2.1 Kreditkartennutzung
1.2.2 Hypothekarkredite
1.2.3 Kurzfristige Überbrückungskredite (Payday Loans)
1.2.4 Fehlerhaftes Verhalten auf Kreditmärkten und Verbraucheralter
1.2.5 Untersuchungen zur Effektstärke – Leicht vermeidbare Kredit- und Kontoführungskosten
1.2.6 Annex: Zur begrenzten Aussagekraft hoher Überschuldungsquoten
2. Erklärungsansätze aus verhaltensökonomischer Perspektive
2.1 Wirksamkeitsgrenzen von Verbraucherinformation
2.1.1 Hohe Informationssuchkosten
2.1.2 Defizitäres Finanzwissen – Financial Illiteracy
2.1.3 Beschränkte Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazitäten
2.2 Zeitinkonsistentes und naives Verbraucherverhalten
2.2.1 Übermäßige Kreditaufnahme aufgrund zeitinkonsistenter Präferenzen und übermäßiger Diskontierung künftigen Nutzens
2.2.2 Naivität in Bezug auf eigenes künftiges Verhalten (Überoptimismus)
2.3 Fehlerhafte Einschätzung kreditrelevanter Wahrscheinlichkeiten
2.3.1 Selbstüberschätzung und Überoptimismus
2.3.2 Verfügbarkeitsheuristik
2.3.3 Extrapolation gegenwärtiger Präferenzen und Projektionsfehler
2.3.4 Vernachlässigung (subjektiv) kleiner Wahrscheinlichkeiten
2.4 Zwischenergebnis
3. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht
3.1 Zur Rechtfertigung regulatorischer Intervention im Allgemeinen
3.1.1 Beharrlichkeit der Entscheidungsfehler auf Verbraucherkreditmärkten
3.1.1.1 Fehlermindernde Lerneffekte
3.1.1.2 Aufklärung oder Ausnutzung der Verbraucher durch die Kreditgeber?
3.1.1.3 Zwischenergebnis
3.1.2 Konsequenz: Wohlfahrtsverluste
3.1.3 Potentielle Wohlfahrtsgewinne durch Intervention – Das Kalkül
3.1.4 Einordnung in die aktuelle verbraucherpolitische Entwicklung
3.1.4.1 Internationale Entwicklungen in der Verbraucherpolitik
3.1.4.2 Verhaltensökonomik als Beitrag zu einem „Smarter Government“
3.2 Ableitungen für das sog. Verbraucherleitbild
3.2.1 Zur Erinnerung: Empirisch belegtes Verbraucherverhalten
3.2.2 Normatives Verbraucherleitbild
3.2.3 Synthese – Rechtliches Leitbild auf empirischer Grundlage
3.3 Die Typisierung der §§ 13 f., 512 BGB
3.4 Wahlhilfen (Debiasing) für den Verbraucherkreditnehmer
3.4.1 Menge und Formatierung der Verbraucherinformation
3.4.1.1 Kritik am europäischen Informationsmodell – Financial Illiteracy
3.4.1.2 Kritik am europäischen Informationsmodell – Information Overload
3.4.1.3 Kritik an fehlender Information über die Nutzung eines Kreditrahmens
3.4.1.4 Die Grundsatzkritik am Informationsmodell bei Ben-Shahar und Schneider
3.4.1.5 Bewertung des Informationsmodells der §§ 491a, 492 BGB, 6a PAngV
3.4.1.6 Konkrete Anregungen zur Reform des Informationsregimes
3.4.1.7 Verbleibende Wirkungsgrenzen des Informationsmodells
3.4.2 Beratung – Zur Erläuterungspflicht des § 491a Abs. 3 BGB
3.4.2.1 Verbesserung der Verbraucherentscheidung durch Beratung
3.4.2.2 Die Kosten und Gefahren der Beratung
3.4.2.3 Beratungspflichten der kreditvergebenden Bank – Überblick
3.4.2.4 Leistungsgrenzen der Erläuterungspflicht nach § 491a Abs. 3 BGB
3.4.2.5 Reformbedarf?
3.4.3 Abkühl- und Überlegungsfrist – Das Widerrufsrecht nach § 495 BGB
3.4.3.1 Das Widerrufsrecht als Instrument des Verbraucherschutzes
3.4.3.2 Rechtfertigung des Widerrufsrechts im Verbraucherkreditrecht
3.4.3.3 Ableitung I: Zum zwingenden Charakter des Widerrufsrechts
3.4.3.4 Ableitung II: Zu den gesetzlichen Ausnahmen
3.4.3.5 Verbesserung des Cooling off-Mechanismus de lege ferenda
3.5 Soft Insulating durch Default Rules versus Optionsmenü
3.5.1 Soft Insulating im Verbraucherkreditrecht und Formularverträge
3.5.2 Optionsmenü als Alternative?
3.5.3 Verbleibende Wirksamkeitsgrenzen
3.5.4 Fazit und Vergleich mit zwingendem Vertragsinhalt
3.6 Wahlbeschränkungen – Zwingendes Recht und Vertragskontrolle
3.6.1 Zur zwingenden Natur des Verbraucherkreditrechts, § 511 S. 1 BGB
3.6.1.1 Zwingende Regelung als Funktionsvoraussetzung von Wahlhilfen
3.6.1.2 Zur Rechtfertigung zwingender kreditrechtlicher Vertragsinhalte
3.6.1.3 Zur Legitimität einzelner zwingender Regelungen – Drei Beispiele
3.6.2 Richterliche Inhaltskontrolle von Verbraucherkreditverträgen
3.6.2.1 Komplementarität von Vertragsinhaltskontrolle und zwingendem Recht
3.6.2.2 Rückbindung an die verhaltensökonomische Legitimationsbasis rechtspaternalistischer Intervention
3.6.3 Zwischenergebnis
V. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
Vierter Teil: Zusammenfassung der Ergebnisse
§ 10 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
I. Paternalismus in der philosophischen Diskussion
II. Rechtspaternalismus und Verfassungsrecht
III. Effizienter Paternalismus im Vertragsrecht
IV. Die verhaltensökonomische Fundierung paternalistischer Intervention
V. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht
VI. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Gesellschaftsrecht
VII. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht
Literaturverzeichnis
Sachregister
JUS PRIVATUM Beiträge zum Privatrecht Band 179
Klaus Ulrich Schmolke
Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht Rechtspaternalismus und Verhaltensökonomik im Familien-, Gesellschafts- und Verbraucherrecht
Mohr Siebeck
Klaus Ulrich Schmolke, geboren 1975; Studium der Rechtswissenschaften in Trier und Lausanne; 2003 Promotion; 2006 LL.M. an der New York University School of Law; 2012 Habilitation; nach Lehrstuhlvertretung in Marburg seit April 2013 Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. e-ISBN PDF 978-3-16-152304-5 ISBN 978-3-16-151971-0 ISSN 0940-9610 (Jus Privatum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2014 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Textservice Zink in Schwarzach gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Das Thema Rechtspaternalismus, gerade auch im Zivilrecht, ist aktueller denn je. Ein Beispiel aus dem auch hier behandelten Verbraucherkreditrecht bietet der Koalitionsvertrag der Großen Koalition für die 18. Legislaturperiode auf S. 64, wo es heißt: „Die Inanspruchnahme des Dispositionskredits soll nicht zu einer übermäßigen Belastung eines Bankkunden führen. Daher sollen die Banken verpflichtet werden, beim Übertritt in den Dispositionskredit einen Warnhinweis zu geben; bei dauerhafter und erheblicher Inanspruchnahme sollen sie dem Kunden eine Beratung über mögliche kostengünstigere Alternativen zum Dispositionskredit anbieten müssen.“ Andere Beispiele für diesen von den einen als fürsorgend, von den anderen als bevormundend empfundenen Interventionismus lassen sich schnell finden. Die vorliegende Arbeit unternimmt es, der Legitimität solcher paternalistischen Regelungen im geltenden Privatrecht nachzuspüren und damit einen Beitrag zur allgemeineren Debatte um Grund und Grenzen der Privatautonomie, in Sonderheit der Vertragsfreiheit, zu leisten. Sie wurde im Herbsttrimester 2012 von der Bucerius Law School als Habilitationsschrift angenommen. Seitdem ist die Rechtsentwicklung vor allem in den untersuchten Bereichen des Ehevertragsrechts und des Verbraucherprivatrechts (gewohnt) dynamisch vorangeschritten. Dies hat nicht ganz unbedeutende Aktualisierungen nötig gemacht. So wurde die Arbeit soweit erforderlich an die mit Inkrafttreten des Verbraucherrechterichtlinie-Umsetzungsgesetzes zum 13. 6. 2014 geltende Rechtslage angepasst. Auch die am 4. 2. 2014 erlassene Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge wirft ihren Schatten voraus. Rechtsprechung und Literatur sind im Wesentlichen auf dem Stand von Ende 2013. Mein herzlicher Dank gilt an erster Stelle meinem akademischen Lehrer Herrn Prof. Dr. Holger Fleischer, der mich in meiner Zeit an der Universität Bonn und später am MPI für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg auf vielfältige Weise unterstützt und gefördert hat. Herrn Prof. Dr. Rüdiger Veil danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Mein besonderer Dank gebührt zudem Herrn Prof. Dr. Gerald Spindler, der in seinem externen Drittgutachten in eindrucksvoller Art und Weise in einen Dialog mit meiner Arbeit getreten ist. Für die Durchsicht einer früheren Version dieser Arbeit danke ich Stephan Schneider. Ferner möchte ich meinen Mitarbeitern am Erlanger Lehrstuhl für ihre Unterstützung bei den Korrektur- und Aktualisierungsarbeiten sowie der Erstellung des Sachregisters danken. Der VG Wort bin ich für ihre finanzielle Hilfe beim Druck dieser Arbeit dankbar.
VI
Vorwort
Schließlich danke ich meiner Gefährtin Andrea und meiner Familie ganz herzlich dafür, dass sie mich während der Entstehung der vorliegenden Schrift in jeder Hinsicht unterstützt und jederzeit ermutigt haben. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Berlin/Erlangen, im März 2014
Klaus Ulrich Schmolke
Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V XI XLV
Erster Teil
Einleitung 1
§ 1 Einführung in das Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Paternalismusparadox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsziel . . . . . . III. Untersuchungsmethode – Der verwendete Forschungsansatz IV. Einordnung in die Debatte um Funktion und Grenzen der Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
. . .
1 3 3
. .
5 6
. . . . . . .
9
Zweiter Teil
Grundlegung 9
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Paternalismusbegriff – Definition und Abgrenzung . . . III. Selbstbestimmung und Paternalismus – Zur Rechtfertigungsbedürftigkeit paternalistischer Intervention . . . . . . . . . . IV. Voraussetzungen autonomen Entscheidens und weicher Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Grenzen der Selbstbestimmung und Zulässigkeit harten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Das Verhältnismäßigkeitsgebot als Grenze zulässigen Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Der Schutz von Drittinteressen als Rechtfertigungsalternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. .
9 10
.
14
.
19
.
25
.
30
.
32
VIII
Inhaltsübersicht
VIII. Vertragliche Selbstbindung und Paternalismus im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34 40
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
I. Überblick über die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung . II. Grundrechtsdogmatische Verankerung der Paternalismusdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtspaternalismus und Grundrechtsverzicht . . . . . . . . . IV. Rechtspaternalismus als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht – Grundrechtsschutz gegen Paternalismus . . . . . . . . V. Die Schutzpflichtdimension der Grundrechte – Grundrechtsschutz durch Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Synthese: Paternalistische Intervention bei vertraglicher Selbstbindung und Grundrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . VII. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42 47 49 55 70 73 87 89
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik . . . . . . . II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus . .
120 138
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
174
I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Deskriptive Präferenztheorien . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verhaltensökonomik und Standardmodell . . . . . . . . . V. Verhaltensökonomik als juristisches Forschungsinstrument VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
. .
174
. . . . . . .
178 198 205 212
. .
215
§ 6 Zwischenfazit – Verfassungsrechtliche Einordnung und Anliegen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
266
I. Effizienter Paternalismus als Ausfüllung verfassungsrechtlicher Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Anliegen der Arbeit: Freiheitsschutz durch effizienten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
266 269
IX
Inhaltsübersicht
Dritter Teil
Anwendung auf Referenzgebiete 271
§ 7 Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gegenstand und Fortgang der weiteren Untersuchung . . . . II. Die gesetzlichen Grundlagen des Ehevertragsrechts . . . . . III. Die gerichtliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen – Stand der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenbefund und Fortgang der Untersuchung . . . . . . V. Ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Verfassungsrechtliche Kontrollüberlegungen . . . . . . . . . VIII. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . .
.
271
. .
271 273
. .
282 349
.
369
. . .
438 511 513
. .
523
. .
524
. . . . . .
526 534 605
. . . . . .
626 693 694
. .
705
. .
707
. . . .
707 779
. . . .
800 899
§ 10 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . . I. Paternalismus in der philosophischen Diskussion . . . . . . .
911
§ 8 Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gegenstand und Fortgang der weiteren Untersuchung . . . II. Reichweite und Grenzen der Gesellschaftsvertragsfreiheit – Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Paternalistisches Gesellschaftsrecht – Drei Beispiele . . . . IV. Institutionenökonomische Grundlagen . . . . . . . . . . . V. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verfassungsrechtliche Kontrollüberlegungen . . . . . . . . VII. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . § 9 Verbraucherkreditrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gang der weiteren Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . II. Die gesetzlichen Grundlagen des Verbraucherkreditrechts – Der Schutz des Verbraucher-Kreditnehmers im BGB . . . III. Ökonomische Grundlagen des Verbraucherkredits . . . . . IV. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . Vierter Teil
Zusammenfassung der Ergebnisse 911 911
X
Inhaltsübersicht
II. Rechtspaternalismus und Verfassungsrecht . . . . . III. Effizienter Paternalismus im Vertragsrecht . . . . . IV. Die verhaltensökonomische Fundierung paternalistischer Intervention . . . . . . . . . . . . . V. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
913 915
. . . . . .
921
. . . . . .
929
. . . . . .
938
. . . . . .
949
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 957 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1009
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLV Erster Teil
Einleitung 1
§ 1 Einführung in das Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Paternalismusparadox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsziel . . . . . . III. Untersuchungsmethode – Der verwendete Forschungsansatz IV. Einordnung in die Debatte um Funktion und Grenzen der Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
. . .
1 3 3
. .
5 6
. . . . . . .
9
I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Paternalismusbegriff – Definition und Abgrenzung . . . . 1. Konstitutive Begriffselemente – Definitionsvorschläge des Schrifttums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zu den Begriffsmerkmalen im Einzelnen . . . . . . . . . . . 2.1 Beschränkung der Freiheit oder Selbstbestimmung . . . 2.2 Sicherung des Wohls des von der Freiheitsbeschränkung Betroffenen als Endzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Theoretische Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Praktische Vermischung – Motivbündel und unreiner Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 10
Zweiter Teil
Grundlegung 9
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
10 11 11 12 12 13
XII
Inhaltsverzeichnis
III. Selbstbestimmung und Paternalismus – Zur Rechtfertigungsbedürftigkeit paternalistischer Intervention . . . . . . . . . . . 1. Die deontologische Begründung des Rechts auf Selbstbestimmung bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die utilitaristische Begründung des Paternalismusverbots bei Mill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Begründungsansätze der modernen angelsächsischen politischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Voraussetzungen autonomen Entscheidens und weicher Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Voraussetzungen selbstbestimmten Entscheidens bei Mill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weicher und harter Paternalismus – Die Konzeption Feinbergs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Selbstbestimmungsdefizite als Rechtfertigung weichen Paternalismus – Der Meinungs- und Erkenntnisstand in der philosophischen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Insbesondere: Selbstbestimmung und die Maßgeblichkeit der eigenen Präferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zur Rechtfertigungsbedürftigkeit weich paternalistischer Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Weicher Paternalismus und Erwerb individueller Entscheidungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Grenzen der Selbstbestimmung und Zulässigkeit harten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vermutung der mangelnden „Freiwilligkeit“ der Entscheidung bei besonders nachteiligen Entscheidungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheitsmaximierung als Legitimation harten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schutz von Langzeitpräferenzen, insbesondere Integritätsschutz nach Kleinig . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Mensch als Gemeinschaftswesen, Aufspaltung des Selbst und Einwilligungsfiktion . . . . . . . . . . . . . . VI. Das Verhältnismäßigkeitsgebot als Grenze zulässigen Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorrang des Lernens aus Fehlern . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorrang der am wenigsten beschränkenden Intervention . . 3. Asymmetrischer Paternalismus insbesondere . . . . . . . . VII. Der Schutz von Drittinteressen als Rechtfertigungsalternative 1. Selbstbezüglichkeit und soziale Bedeutung menschlichen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Primär eigene Angelegenheiten als Reservat gegenüber drittschützenden Freiheitseingriffen . . . . . . . . . . . . .
14 14 16 18 19 20 20
21 23 24 24 25
26 27 28 30 30 31 31 32 32 33 33
Inhaltsverzeichnis
VIII. Vertragliche Selbstbindung und Paternalismus im Besonderen 1. Vertragliche Bindung und Selbstschädigung . . . . . . . . . 2. Ethische Legitimität der paternalistischen Einschränkung vertraglicher Selbstbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Weicher Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Harter Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Mill zur Freiheitsbeschränkung durch Vertrag . . . . 2.2.2 Selbstbestimmte Entscheidung und selbstbestimmtes Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigungsalternativen für den Eingriff in die Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick über die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung . . 1. Die Rspr. des BVerfG zur Einschränkbarkeit selbstgefährdenden und selbstschädigenden Verhaltens . . . 1.1 Eingriffsrechtfertigung durch Dritt- und Gemeinwohlinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Fehlen der subjektiven Voraussetzungen einer autonomen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Eingriffsbefugnis wegen sonst drohenden größeren persönlichen Schadens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rspr. des BVerfG zur Einschränkung der Vertragsfreiheit zum Schutze einer Vertragspartei . . . . . . . . . . . II. Grundrechtsdogmatische Verankerung der Paternalismusdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Verhältnis von Grundrechtsverzicht, Eingriff und Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtspaternalismus und Grundrechtsverzicht . . . . . . . . . 1. Begriffliche Klärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundrechtstheoretisches Vorverständnis – liberale vs. objektiv-rechtliche Grundrechtsinterpretation . . . . . . . . 3. Stand der Diskussion zur Zulässigkeit des Grundrechtsverzichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schranken des Grundrechtsverzichts bei privatvertraglicher Selbstbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtspaternalismus als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht – Grundrechtsschutz gegen Paternalismus . . . . . . . . 1. Betroffene Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIII 34 35 36 36 36 37 37 39 40 42 42 42 43 43 44 45 47 47 47 49 49 50 51 53 55 55 56
XIV
Inhaltsverzeichnis
3. Grundrechtsschranken – Verfassungsrechtliche Rechtfertigung paternalistischer Intervention . . . . . . . . 3.1 Standpunkt der h.L. – Prinzipielles Verbot von Eingriffen zum Schutz des autonomen Entscheiders . . 3.2 Menschenwürde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Freiheitsmaximierung und „Integritätsschutz“ als Legitimation paternalistischer Intervention? . . . . . . . 3.3.1 Untauglichkeit der Freiheitsmaximierung als Eingriffsrechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Eingriffsrechtfertigung durch „Integritätsschutz“? . 3.3.3 Zeitinkonsistentes Verhalten aufgrund von Defiziten des Entscheidungsprozesses . . . . . . . . 3.4 Zur Voraussetzung freier Willensentscheidung – Verfassungsrechtliche Zulässigkeit weichen Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe bei Defiziten der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Anforderungen an die selbstbestimmte Entscheidung – Die Diskussion in der Literatur . . 3.4.3 Anforderungen an die selbstbestimmte Entscheidung – Aussagen in der Rspr. des BVerfG . . . . . 3.4.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Die Berufung auf Dritt- und Gemeinwohlinteressen . . 3.5.1 Problembeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Die finanzielle Belastung der sozialen Sicherungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Aggregierung von Individualinteressen . . . . . . . 4. Gebot der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs – Das Prinzip des „schonendsten Paternalismus“ . . . . . . . . . . . . . . V. Die Schutzpflichtdimension der Grundrechte – Grundrechtsschutz durch Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Schutzpflichtdimension der Grundrechte . . . . . . . . 1.1 Umfang verfassungsgerichtlicher Kontrolle der Schutzpflichterfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Grundrechtliche Ambivalenz der Schutzmaßnahme im Hinblick auf verschiedene Grundrechtsträger . . . . 2. Grundrechtliche Ambivalenz der paternalistischen Intervention für den Schutzadressaten . . . . . . . . . . . . VI. Synthese: Paternalistische Intervention bei vertraglicher Selbstbindung und Grundrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechtsschutz und vertragliche Selbstbindung – Der Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 57 58 58 59 61 61 62 63
63 63 64 65 66 66 66 68 69 69 70 70 71 71 72 73 74
Inhaltsverzeichnis
1.1 Vertragliche Selbstbindung als Ausübung grundrechtlicher (Vertrags-)Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 (Paternalistische) Vertragsabschluss- und -inhaltsregulierung als Grundrechtseingriff . . . . . . . . . . . . 1.3 Gewährleistung effektiver Vertragsdurchsetzung als grundrechtliches Schutzgebot . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Gewährleistung effektiver Vertragsdurchsetzung als gerechtfertigter Grundrechtseingriff . . . . . . . . . . . 2. Grundrechtsschutz und weicher Paternalismus im Rahmen vertraglicher Selbstbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Selbstbestimmungsdefizite als Eingriffsrechtfertigung . . 2.2 Selbstbestimmungsdefizite als Auslöser staatlicher Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Funktionsvoraussetzungen autonomer vertraglicher Selbstbindung – Konkretisierungsansätze in der Rspr. des BVerfG und der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die verfassungsgerichtliche Rspr. zur staatlichen Schutzpflicht bei Fremdbestimmung aufgrund „struktureller Unterlegenheit“ . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Bewertung der Rspr. des BVerfG durch das Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Weitere Konkretisierungsleitlinien aus dem Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.1 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der §§ 104 ff., 119 ff., 138 Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.2 „Außergesetzliche Willensmängel“ – Ansätze für eine Fallgruppenbildung . . . . . . . . . . . . 2.4 Konkretisierungsaufgabe und -vorrang des (einfachen) Zivilrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Gesetzgeberischer Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Verhältnis von Zivilrecht und Verfassungsrecht bei der richterlichen Wahrnehmung des staatlichen Schutzauftrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundrechtsschutz und harter Paternalismus im Rahmen vertraglicher Selbstbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Meinungsbild im staats- und zivilrechtlichen Schrifttum 3.2 Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik . . . . . . . .
XV 74 75 75 76 76 76 77
77
78 79 81 81 82 82 82
83 84 84 84 86 87 89 90
XVI
Inhaltsverzeichnis
1. Das ökonomische Effizienzziel . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Effizienz als normatives Ziel der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Wohlfahrtsmaximierung durch effiziente Verteilung knapper Mittel als normatives Hauptziel . . . . . . 1.1.2 Normativer Individualismus und soziale Wohlfahrtsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Folgenbewertungen von Sozialwahlentscheidungen – Effizienzkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.1 Pareto-Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.2 Kaldor-Hicks-Kriterium und abgeleitete Entscheidungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Das Kardinalproblem des interpersonellen Nutzenvergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4.1 Die utilitaristischen Wurzeln des Effizienzziels . 1.1.4.2 Die Kritik von Robbins am klassischen Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4.3 Die Entwicklung des Kaldor-Hicks-Kriteriums als Reaktion auf Robbins . . . . . . . . . . . . . 1.1.4.4 Soziale Wohlfahrtsfunktion und das Unmöglichkeitstheorem von Arrow . . . . . . . 1.1.4.5 Subjektivismus und Kritik des herkömmlichen Effizienzbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5 Jenseits des Effizienzkriteriums – Überindividuelle Gerechtigkeitskriterien und Abwägungsverbote . . 1.1.5.1 Überindividuelle Gerechtigkeitskriterien und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5.2 Liberale Rechte und unveräußerliche Rechte als Abwägungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5.3 Präferenzautonomie und einmischende Präferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Effizienz als normatives Ziel der ökonomischen Analyse des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ökonomisches Verhaltensmodell herkömmlicher Prägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die REMM-Hypothese – Begriff und Komponenten . 2.1.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 REMM-Hypothese als Ausprägung zweckrationalen Verhaltens (rational choice) . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Handlungsziele – interessegeleitetes, eigennütziges Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Eigennutz als Präferenzinhalt und Handlungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Zur Aussagekraft der Eigennutzannahme . . . . . .
90 90 90 91 92 92 93 96 96 97 98 98 99 100 101 103 105 106 106 107 107 107 108 108 109
Inhaltsverzeichnis
2.2.2.1 Eigennutz und urteilsbestimmtes Verhalten . . . 2.2.2.2 Eigennutz und Theory of Revealed Preferences . 2.2.2.3 Eigennutz und Beachtlichkeit sog. „Einmischender Präferenzen“ . . . . . . . . . . . 2.3 Rationale Präferenzordnung – Maximierungskomponente I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Axiome rationaler Präferenzordnung nach von Neumann und Morgenstern . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit . . . 2.3.2.1 Riskante Entscheidungen – Erwartungsnutzentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.2 Unsicherheit im engeren Sinne und Bayesian Updating . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Präferenzordnung bei intertemporalen Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.1 Dominantes Modell – Discounted Utility Theory (DUT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.2 Die Annahmen des Diskontierungsmodells . . . 2.3.3.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Optimale Inputberücksichtigung – Maximierungskomponente II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Die Annahme optimaler Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazität . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Beschränkte Rationalität – „Satisficing“ nach Simon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Methodologischer Stellenwert des REMM . . . . . . . . II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das (präsumptive) ökonomische Argument für die Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Erstes Wohlfahrtstheorem als Argument für die Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Coase-Theorem als Argument für die Vertragsfreiheit . 2. „Marktversagen“ als Argument gegen die unbeschränkte Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vorweg: Negative externe Effekte . . . . . . . . . . . . 2.2 Informationsasymmetrien als Kardinalproblem effizienter Vertragsschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Das Problem adverser Selektion als gedanklicher Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Parameterabhängige Effizienz von Eingriffen in die Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Aufschlüsselung in Signalling- und ScreeningSzenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XVII 109 109 110 111 111 112 112 113 113 114 115 115 116 116 116 118 120 121 121 122 124 125 126 127 127 128
XVIII
Inhaltsverzeichnis
2.2.3.1 Effizienzsteigernder Eingriff in die Vertragsfreiheit im Signalling-Szenario . . . . . . . . . . 2.2.3.2 Wohlfahrtsimplikationen rechtlicher Intervention im Screening-Szenario . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Informationsasymmetrien bei Verhandlungsungleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Rationalitätsdefizite als Form des Verhandlungsversagens im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Wohlfahrtsverluste bei beschränkter Rationalität einer Vertragspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Wohlfahrtsverluste bei systematischen Entscheidungsfehlern . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenfazit – Effizienzziel und Funktion des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zulassung von Markttransaktionen . . . . . . . . . . . . 3.2 Erleichterung von Markttransaktionen . . . . . . . . . . 3.3 Simulation des Marktmechanismus . . . . . . . . . . . . 4. Eingriffe in die Vertragsfreiheit: Effizienz versus Verteilungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Das Verhältnis von Effizienz und Umverteilung . . . . 4.2 Umverteilung zwischen den Vertragsparteien . . . . . . III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus . . 1. Vorweg: Negative Externalitäten als untaugliche Begründung für Rechtspaternalismus . . . . . . . . . . . . . 2. Ausgewählte Konzepte eines effizienzsteigernden Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vorarbeiten: Vereinbarkeit von Paternalismus und Effizienzziel (Kennedy) . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Effizienz als bloße Teilerklärung von Paternalismus im Vertragsrecht (Kronman) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Unabdingbarkeit bestimmter Gewährleistungsrechte und Produktstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 (Übermäßiger) Verzicht auf persönliche Freiheit . . 2.2.3 Zwingende Widerrufsmöglichkeiten . . . . . . . . . 2.3 Präferenzformung durch Recht (Sunstein) . . . . . . . . 2.4 Präferenzinkonsistenzen im Zeitverlauf und effizienter Paternalismus (Burrows) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Ein Modell zur Effizienzmessung paternalistischer Maßnahmen (Zamir) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Zur Vereinbarkeit von Effizienzziel und Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Das Modell zur Effizienzmessung paternalistischer Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Zwischenergebnis und weiteres Vorgehen . . . . . . . .
129 129 130 131 132 133 133 134 134 135 135 136 137 138 139 139 139 140 141 141 142 142 143 145 145 147 148
Inhaltsverzeichnis
2.6.1 Maßgeblichkeit der Entscheiderpräferenzen für effizienten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2 Marktversagen als Rechtfertigung der paternalistischen Intervention . . . . . . . . . . . . . 2.6.3 Kosten-Nutzen-Kalkül des effizienten Paternalismus – Maßgeblichkeit des Aggregats . . . . . . . . 2.6.4 Das Verhältnis zu freiheits- und autonomiebasierten Paternalismuskonzepten . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.5 Weiteres Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kosten- und Nutzenpositionen eines effizienten Paternalismus im Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Nutzen – Marktversagen als Voraussetzung effizienten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Marktversagen wegen einer Dysfunktion im Verhältnis der Kontrahenten zueinander . . . . . . . 3.1.1.1 Informationsasymmetrien . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.2 Ungleiche Verhandlungsmacht und Manipulation des Vertragspartners . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Rationalitätsdefizite als maßgeblicher Ansatzpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1 Informationsaufnahme- und -verarbeitungsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.2 Systematische Entscheidungsfehler . . . . . . . . 3.1.2.3 Akute Impulse und motivatorische Verzerrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.4 Mangelnde teleskopische Fähigkeiten – Begrenztes Vorstellungsvermögen . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.5 Fehlende Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Kosten der rechtspaternalistischen Intervention . . . . . 3.2.1 Kosten für den Intervenienten – Rechtsetzungs- und -anwendungskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Verteuerung der Transaktion für die Rechtsunterworfenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Intrinsischer Nutzen der Entscheidungsfreiheit und Frustrationskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Lerneffekte und Langzeitnutzen – Kosten ihrer Vereitelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Frustrationskosten bei fehlerhafter oder sachwidrig motivierter Entscheidung des Intervenienten . . . . 3.2.5.1 Das Wissensproblem des Intervenienten . . . . . 3.2.5.2 Beschränkte Rationalität des Intervenienten . . . 3.2.5.3 Verfolgung effizienzfremder Motive (Missbrauch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIX 148 149 150 151 152 153 154 155 155 156 159 160 160 161 161 162 162 162 163 163 164 165 165 166 166
XX
Inhaltsverzeichnis
3.2.5.4 Fehlerhafte Intervention versus irrtümliche Untätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Heterogenität des Adressatenkreises – Über- und Unterinklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.7 Die Idee des asymmetrischen Paternalismus . . . 3.3 Theoretische Konvergenz von Intervention und Präferenz des Entscheiders . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Summe – Das Kosten-Nutzen-Kalkül effizienten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. .
167
. . . .
167 168
. .
168
. .
170
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung der Verhaltensökonomik für den Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fortgang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fehler bei der Informationsaufnahme und -verarbeitung – Heuristiken und Wahrnehmungsverzerrungen . . . . . . 1.1 Vorbemerkungen zur Klärung der Begriffe . . . . . . 1.2 Komplexität und Unsicherheit der Entscheidung als Auslöser und Verstärker systematischer Entscheidungsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Komplexität der Entscheidung und information overload . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Entscheidungen unter Unsicherheit . . . . . . . . 1.3 Heuristiken und Wahrnehmungsverzerrungen . . . . 1.3.1 Verfügbarkeitsheuristik und Rückschaufehler . . . 1.3.2 Verzerrung durch kognitive Anker . . . . . . . . . 1.3.3 Ähnlichkeitsheuristik und verwandte Phänomene 1.3.4 Fortschreibung gegenwärtiger Präferenzen und Projektionsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.5 Überoptimismus und Selbstüberschätzung . . . . 1.3.6 Außerachtlassung kleiner Wahrscheinlichkeiten . 2. Begrenzter Eigennutz – Fairness und soziale Präferenzen 3. Abweichungen von den Axiomen rationaler Präferenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Referenzpunktabhängigkeit von Präferenzen und Verlustaversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Präferenzen bei Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Allais-Paradoxon und Sicherheitseffekte . . . . . . 3.2.2 Ellsberg-Paradoxon und Ambiguitätsaversion . . .
.
174
.
174
. .
176 177
.
178
. .
179 179
.
180
. . . . . .
180 181 182 182 183 183
. . . .
185 185 187 188
.
189
.
190
. . .
192 192 193
Inhaltsverzeichnis
3.3 Vergleichende Bewertung von Entscheidungsalternativen und Menüeffekte . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zeitinkonsistentes Verhalten und Probleme der Selbstkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Darstellung quasi-hyperboler Diskontierung im --Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Selbsteinschätzung der Entscheider und Wohlfahrtsimplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Deskriptive Präferenztheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Prospect-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kumulative Prospect-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Regret- und Disappointment-Theorie . . . . . . . . . . . . . 3.1 Regret-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Disappointment-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Support-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verhaltensökonomik und Standardmodell . . . . . . . . . . . . 1. Relevanz der Verhaltensanomalien im Aggregat . . . . . . . 2. Beharrlichkeit der Verhaltensanomalien in der realen Welt . 3. Alternativerklärungen auf der Grundlage des Standardmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Konsequenzen für die ökonomische Theorie . . . . . . . . . V. Verhaltensökonomik als juristisches Forschungsinstrument . . 1. Die besonderen Herausforderungen der verhaltensökonomischen Rechtsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbleibende Vorzüge der verhaltensökonomischen Rechtsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhaltensökonomik und „Neuer Paternalismus“ . . . . . . 2. Verhaltensökonomisch fundierte Paternalismuskonzepte in der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 „Libertärer Paternalismus“ – Die Konzeption von Sunstein und Thaler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Konzept des „asymmetrischen Paternalismus“ . . . 2.3 Einbeziehung von Lernkosten und Kosten für externe Entscheidungshilfe in die verhaltensökonomische Rechtfertigung von Rechtspaternalismus (Rachlinski I) . . . . 2.4 Die Kosten des Rechtspaternalismus – Berücksichtigung der Heterogenität des Adressatenkreises (Rachlinski II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Das Prinzip des schonendsten Paternalismus (van Aaken) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 „Debiasing through Law“ (Jolls/Sunstein) . . . . . . . .
XXI 194 195 196 197 198 199 201 202 202 203 204 205 205 206 208 210 212 213 215 215 216 218 219 221
224
225 226 228
XXII
Inhaltsverzeichnis
2.7 Rechtspaternalistisches Effizienzkalkül bei irrationalem Optimismus (Williams) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kritik am verhaltensökonomisch begründeten „Neuen Paternalismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zum Verhältnis von Libertarismus und Paternalismus (Mitchell) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Zur Vermeidbarkeit eines paternalistischen Regelungsrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Paternalismusziele: Selbstbestimmung versus Wohlfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Die redistributiven Konsequenzen des „libertären Paternalismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Folgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Zu den Kosten des „Neuen Paternalismus“ . . . . . . . 3.2.1 Nachteilige Auswirkungen auf das Lernverhalten und die Entwicklung von Entscheidungskompetenz (Klick/Mitchell) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Das Wissensproblem des „Neuen Paternalismus“ (Rizzo/Whitman) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Rationalitätsdefizite des paternalistischen Intervenienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Public Choice und „Neuer Paternalismus“ . . . . . 3.2.5 Negative Dynamik des „Neuen Paternalismus“ . . . 4. Bewertung der Kritik am „Neuen Paternalismus“ . . . . . 4.1 Individuelle Wohlfahrt, Selbstbestimmung und Paternalismus im Vertragsrecht – Zur Kritik von Mitchell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Einflussnahme auf die Präferenzformung und „Neuer Paternalismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Zu den Kosten des verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Kosten ausbleibender Lernerfolge . . . . . . . . . . 4.3.2 Noch einmal: Zum Wissensproblem des Intervenienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Sachfremde Regulierungsmotive und „Slippery Slope“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 „Neuer Paternalismus“ als Mittel der Disziplinierung staatlicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Integration der verhaltensökonomischen Erkenntnisse in das Konzept des effizienten Paternalismus im Vertragsrecht . . 5.1 Ziel: präferenzkonforme reflektierte Entscheidung des Schutzadressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Anknüpfungspunkt: Defizite der Präferenzformung und -betätigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
229 232 232 232 233 234 235 235
235 237 239 240 240 241
241 242 243 244 245 246 246 248 248 248
XXIII
Inhaltsverzeichnis
5.3 Wahrscheinlichkeitsbewertung auf verhaltensökonomischer Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Konkretisierung der Tatbestandsseite . . . . . . . . . . . 5.4.1 Das Problem der Heterogenität: Differenzierung und Typisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Zeitinkonsistentes Verhalten und Probleme der Selbstdisziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Zur Bedeutung „struktureller Unterlegenheit“ eines Vertragsteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Das rechtspaternalistische Interventionsinstrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Die eingesetzten Mittel: Wahlhilfen und Wahlbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Zum Verhältnis von Wahlhilfen und Wahlbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.3 Zum Einsatz von Wahlhilfen . . . . . . . . . . . . . 5.5.3.1 Abstimmung von Verhaltensanomalie und Wahlhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.3.2 Insbesondere: Zur Rolle des Informationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.4 Zum Einsatz von Wahlbeschränkungen . . . . . . . 5.5.4.1 Postventive Vertragsinhaltskontrolle anhand von Generalklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.4.2 Abstrakt-generelle Vertragsinhaltsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 6 Zwischenfazit – Verfassungsrechtliche Einordnung und Anliegen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Effizienter Paternalismus als Ausfüllung verfassungsrechtlicher Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtfertigungsbedürftigkeit des Grundrechtseingriffs und Marktversagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundrechtlicher Schutz vor Paternalismus und Maßgeblichkeit der Entscheiderpräferenzen . . . . . . . . 3. Grundrechtlicher Schutz durch Paternalismus . . . . . . . 4. Verhaltensökonomisch fundierter effizienter Paternalismus als Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgebots . . . . II. Das Anliegen der Arbeit: Freiheitsschutz durch effizienten Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Effizienter Paternalismus als Analyse- und Rationalisierungsinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Effizienter Paternalismus als Schutz vor übermäßigem Rechtspaternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249 250 250 253 255 256 256 258 260 260 261 263 263 265 266
.
266
.
266
. .
267 268
.
268
.
269
.
269
.
270
XXIV
Inhaltsverzeichnis
Dritter Teil
Anwendung auf Referenzgebiete 271
§ 7 Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gegenstand und Fortgang der weiteren Untersuchung . . . 1. Untersuchungsgegenstand und Begriffsbestimmung . . . 2. Gang der weiteren Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . II. Die gesetzlichen Grundlagen des Ehevertragsrechts . . . . . 1. Güterrechtliche Vereinbarungen, § 1408 Abs. 1 BGB . . . 1.1 Grundsatz der Vertragsfreiheit, §§ 1363 Abs. 1, 1408 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Formale Wirksamkeitsvoraussetzungen, § 1410 BGB 1.3 Inhaltsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich, §§ 1408 Abs. 2 BGB, 6 ff. VersAusglG . . . . . . . . . . . 2.1 Grundsatz der Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . 2.2 Formale Wirksamkeitsvoraussetzungen, §§ 7 VersAusglG, 1410 BGB . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Inhaltsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 § 8 Abs. 2 VersAusglG – Kein Vertrag zulasten Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 § 8 Abs. 1 VersAusglG – Bestätigung der Rspr. zur Vertragsinhaltskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Wegfall der Fristenregelung des § 1408 Abs. 2 S. 2 BGB a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vereinbarungen über den nachehelichen Unterhalt . . . . 3.1 Überblick über das Recht des nachehelichen Unterhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Grundsatz der Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . 3.3 Formale Wirksamkeitsvoraussetzungen, § 1585c S. 2 und 3 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Inhaltsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die gerichtliche Inhaltskontrolle von Eheverträgen – Stand der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rspr. des BGH vor der Entscheidung BVerfGE 103, 89 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Grundsatz der „vollen Vertragsfreiheit“ . . . . . . . . 1.2 Gesetzliches Verbot nach § 134 BGB . . . . . . . . . 1.3 Sittenwidrigkeit des Ehevertrags nach § 138 BGB . . 1.3.1 Sittenwidriges Zusammenwirken zum Nachteil Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
271
. . . . .
271 271 273 273 274
. . .
274 275 276
. .
277 277
. .
278 278
.
279
.
279
. .
279 280
. .
280 280
. .
281 282
.
282
. . . .
283 283 283 284
.
284
Inhaltsverzeichnis
1.3.2 Ausnutzung einer Zwangslage oder der Unerfahrenheit des Partners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Verstoß gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) . . . . . 1.5 Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) . . . . . . 2. Das Echo im wissenschaftlichen Schrifttum . . . . . . . . . 2.1 Die These von der generellen „strukturellen Unterlegenheit“ der Frau (Schwenzer) . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die These von der „strukturellen Unterlegenheit“ der nicht verheirateten, schwangeren Frau (Dethloff) . . . . 2.3 „Strukturelle Unterlegenheit“ und gemeinsame Elternverantwortung (Büttner) . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Neubestimmung der Sittenwidrigkeitsschranke bei grundsätzlicher Ehevertragsfreiheit (Coester-Waltjen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das Urteil vom 6.2.2001 zur Freistellung vom Kindesunterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG vor unangemessener Benachteiligung durch Ehevertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.1 Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . 3.1.1.2 Anspruch auf Schutz der werdenden Mutter nach Art. 6 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Schutz des Kindeswohles aus Art. 6 Abs. 2 GG . . . 3.2 Bestätigung in BVerfG NJW 2001, 2248 = FamRZ 2001, 985 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Exkurs: Ausstrahlung von Art. 6 Abs. 1 i.V.m. 3 Abs. 2 GG auf den Vermögensausgleich nach Scheidung 4. Echo in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Bewertung und Tragweite der BVerfGRechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Interpretation der Entscheidungen und Folgefragen . . 4.2.1 Vorliegen einer einseitigen Lastenverteilung . . . . . 4.2.2 Bedeutung der „strukturell ungleichen Verhandlungsstärke“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Instrumente der Inhaltskontrolle (Rechtsfolgenseite) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Reaktion des BGH auf das BVerfG in BGHZ 158, 81 . 5.1 Kernbereichslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Grundsatz der Disponibilität . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen als Inhaltsschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Rangfolge der Scheidungsfolgen . . . . . . . . . . . .
XXV 285 286 287 288 288 289 289
291 292 292
292 293 294 296 297 298 299 299 300 300 301 302 303 304 304 305 305
XXVI
Inhaltsverzeichnis
5.2 Mittel und Maßstab der Inhaltskontrolle . . . . . . . . 5.2.1 Keine Entbehrlichkeit richterlicher Überprüfung bei notarieller Belehrung . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB . . . 5.2.3 Ausübungskontrolle nach § 242 BGB . . . . . . . . 6. Die weitere Entwicklung der BGH-Rspr. im Lichte der Reformgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Wirkrichtung der Reformgesetze und Inhaltskontrolle von Eheverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Inhaltskontrolle von Eheverträgen und Unterhaltsrechtsreform . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1.1 Reformziel: Stärkung der Eigenverantwortung geschiedener Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1.2 Die Neufassung des § 1570 BGB . . . . . . . . . 6.1.1.3 Die Beurkundungspflicht nach § 1585c S. 2 BGB n.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1.4 Ableitungen und Erwartungen . . . . . . . . . . 6.1.2 Auswirkungen des VAStrRefG auf Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich . . . . . . . . . . . . 6.1.2.1 Erweiterter Gestaltungsspielraum der Eheleute durch die Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2.2 Beurkundungserfordernis nach § 7 Abs. 1 VersAusglG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2.3 Verankerung der richterlichen Inhaltskontrolle in § 8 Abs. 1 VersAusglG . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Rspr. des BGH seit BGHZ 158, 81 . . . . . . . . . 6.2.1 Kein unverzichtbarer Mindeststandard an Scheidungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Kernbereichslehre und Ausgleich ehebedingter Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.1 Zentrale Bedeutung der „Ehebedingtheit“ der (voraussichtlichen) Nachteile . . . . . . . . . . . 6.2.2.2 Kernbereich und Rang von Versorgungs- und Zugewinnausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Wirksamkeitskontrolle (§ 138 Abs. 1 BGB) . . . . . 6.2.3.1 Zur Bedeutung subjektiver Vertragsdisparität für die Sittenwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.2 Einzel- und Gesamtwürdigung der ehevertraglichen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.3 Zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt . . . . 6.2.3.4 Spruchpraxis: Sittenwidrigkeit nur in klaren Ausnahmefällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.5 Zur Frage der Gesamt- oder Teilnichtigkeit . . . 6.2.4 Ausübungskontrolle nach §§ 242, 313 BGB . . . . .
307 308 308 309 309 310 311 312 313 315 315 322 323 324 325 326 327 327 328 330 332 332 335 335 337 337 339
Inhaltsverzeichnis
XXVII
6.2.4.1 Dogmatische Einordnung: Rechtsmissbrauch und Wegfall der Geschäftsgrundlage . . . . . . . . . . 6.2.4.2 Rechtsfolge: Vertragsanpassung zum Ausgleich ehebedingter Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.5 Modifizierte Scheidungsfolgen und Kompensationszahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.6 Richterliche Kontrolle überhöhter Leistungen . . . . 6.2.7 Sittenwidrigkeit wegen Belastung des Sozialhilfeträgers und Verhältnis zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Kritik des Schrifttums an der Kernbereichslehre des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenbefund und Fortgang der Untersuchung . . . . . . . 1. Der rechtspaternalistische Kern der richterlichen Ehevertragskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Drittschützende Dimension der richterlichen Ehevertragskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Eheverträge zu Lasten gemeinsamer Kinder . . . . . 1.1.2 Verträge zu Lasten anderer Unterhaltsberechtigter . 1.1.3 Verträge zu Lasten der Sozialkassen und Versorgungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.1 Unterhaltsverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.2 Unterhaltsverstärkung . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.3 Versorgungsausgleich – Verzicht und Modifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.4 Verzicht auf Zugewinnausgleich . . . . . . . . . . 1.2 Paternalistischer Kern der Inhaltskontrolle . . . . . . . 1.2.1 Weich paternalistisches Interventionskonzept des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Paternalistische Doppelkontrolle des Ehevertrages durch den BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.1 Weich paternalistische Begründung der Wirksamkeitskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.2 Weich paternalistischer Begründungskern der Ausübungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unklarheiten und offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Unterschiedliche Modelle der Rspr. und Abstimmungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Begründungsdefizite beider Modelle . . . . . . . . . . . 2.2.1 Das BVerfG-Modell: Gestörte Vertragsparität und Fremdbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.1 Fremdbestimmung aufgrund „struktureller Unterlegenheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
339 341 343 345
346 348 349 350 350 350 351 352 352 353 354 355 356 357 359 359 360 361 361 362 362 362
XXVIII
Inhaltsverzeichnis
2.2.1.2 Verhältnis von Fremdbestimmung und Vertragsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Das BGH-Modell: Schutz vor unzumutbaren Vertragsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Klärungsbedarf bei der dogmatischen Umsetzung . . . 2.4 Angemessenheit der richterlichen Intervention? . . . . 2.5 Dynamik und Vorhersagbarkeit der Entwicklung . . . 3. Fortgang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ökonomische Analyse des Scheidungsfolgen- und Ehevertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung: Ökonomische Analyse und Eherecht . . . 2. Ehe als Vertragsbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Wandel des Eheverständnisses vom Status zum Vertrag 2.2 Pareto-Effizienz der Ehe als Grund für Eheschließung und -fortdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Modellerweiterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Peters – Scheidungsrecht und Informationsverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Wax – Verhandlungsmodell und Gleichheitsziel . . 3. Das Problem: Opportunistisches Verhalten in der Ehe . . . 3.1 Asymmetrische ehespezifische Investition und Ex PostOpportunismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Antizipation des Ex post-Opportunismus und Moral Hazard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verhaltenssteuerung durch Scheidungs(folgen)recht . . . . 4.1 Effizienter Investitionsschutz durch Kompensation bei Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Versicherung ehespezifischer Investitionen . . . . . 4.1.2 Vermeidung von Fehlanreizen für den Versicherten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Die verschiedenen Vermögensausgleichsmodelle im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.1 Ersatz des positiven Interesses . . . . . . . . . . 4.1.3.2 Ersatz des Vertrauensschadens (negatives Interesse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.3 Gewinnabschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.4 Halbteilungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.5 Bedürftigkeitsabhängige Zahlungsansprüche . . . 4.1.4 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Annex: Scheidungsfolgenrecht und die Entscheidung zur Eheschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Gewollt unvollkommener Investitionsschutz nach der lex lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Indisponibles Zerrüttungsprinzip . . . . . . . . . . .
363 363 367 367 368 369 369 369 371 371 373 374 374 376 378 378 380 380 381 381 382 382 382 385 386 387 388 388 389 389 390
Inhaltsverzeichnis
4.3.2 Das Recht des nachehelichen Vermögensausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.1 Nachehelicher Ehegattenunterhalt . . . . . . . . . 4.3.2.2 Zugewinn- und Versorgungsausgleich . . . . . . 4.4 Investitionsschutz als Argument für Vertragsfreiheit? . 5. Die Ehe als sog. „relationaler Vertrag“ – Bedeutung für den Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Theorie vom relationalen Vertrag . . . . . . . . . . 5.1.1 Kernelemente der Relational Contract Theory . . . 5.1.2 Unschärfe der Definition relationaler Verträge . . . 5.1.3 Relational Contract Theory und ökonomische Transaktionskostenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Ehe als relationaler Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Normative Ableitungen für die gerichtliche Ex postKontrolle relationaler Verträge . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Das Meinungsspektrum innerhalb der Relational Contract-Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Insbesondere: relationaler Vertrag und nachehelicher Vermögensausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ehevertragsfreiheit und effizienter Paternalismus – Vertragstheoretische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Erneut: Grundsätzliche Effizienz der Vertragsfreiheit . 6.1.1 Pareto-Effizienz von Eheverträgen . . . . . . . . . . 6.1.1.1 Ehevertragsfreiheit als Voraussetzung Paretosuperiorer Eheschließung . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1.2 Antizipation von Ex post-Opportunismus durch rationale Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Nacheheliche Eigenverantwortung und soziale Bedürftigkeit als Externalität . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Kosten der richterlichen Ehevertragskontrolle . . . . 6.1.3.1 Das „Wissensproblem“ des paternalistisch motivierten Intervenienten . . . . . . . . . . . . . 6.1.3.2 Weitere Kosten richterlicher Ehevertragskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Keine Pareto-Optimalität aufgrund von Marktversagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Der „Schatten“ des dispositiven Rechts . . . . . . . 6.2.1.1 Das Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1.2 Ableitungen für den hiesigen Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Transaktionsspezifische Hemmnisse effizienten Vertragsschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XXIX 392 392 395 397 397 399 399 400 402 403 405 405 406 407 408 408 409 409 409 411 412 413 413 414 414 415 415 416 417
XXX
Inhaltsverzeichnis
6.2.2.1 Probleme der Transaktionskompetenz – Rationalitätsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.2 Informationsasymmetrie I – strategische Fehlinformation des Partners . . . . . . . . . . . 6.2.2.3 Informationsasymmetrie II – Adverse Signalling der Vertragsverhandlung . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.4 Druck, ungleiche Verhandlungsmacht und opportunistisches Verhalten . . . . . . . . . . . . 6.2.2.5 Geschlechtsspezifisches Verhandlungsungleichgewicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Unvorhergesehene Ereignisse nach Vertragsschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Zur Kostenminimierung des Eingriffs in die Ehevertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhaltensanomalien bei Ehevertragsschluss . . . . . . . . . 1.1 Überoptimismus, Überdurchschnittlichkeitseffekt und selbstdienliche Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Verfügbarkeitsheuristik, Projektionsfehler und affektive Prognosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten . . . . . 1.4 Übermäßige Diskontierung künftigen Nutzens . . . . . 1.5 Verlustaversion und resultierende Risikoneigung (Prospect Theory)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Allgemeine Grenzen der Vorhersehbarkeit künftiger Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Verzicht auf spätere Vertragsänderung zwecks Vermeidung kognitiver Dissonanz? . . . . . . . . . . . 1.8 Eingeschränkter Eigenschutz durch Eigennutz . . . . . 1.9 Summe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Folgerungen: „Libertärer Paternalismus“ im Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Begründung paternalistischer Intervention . . . . . . . 2.1.1 Unterversicherung aufgrund spezifischer Risikofehleinschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Anfälligkeit für unlautere Beeinflussung durch den Vertragspartner? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Unterlassene Vertragsänderung und nachvertragliche Verhandlungsdisparität . . . . . . . . . . . 2.2 Folgerungen für ein Paternalismusmodell im Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Personale Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . .
418 419 420 422 425 428 429 432 438 438 439 441 442 442 443 443 444 445 445 447 447 447 449 450 451 452
XXXI
Inhaltsverzeichnis
2.2.1.1 Art und Weise der Betroffenheit vom Vertragsinhalt – Der Ehetyp . . . . . . . . . . . 2.2.1.2 Bedeutung der Initiative zum Vertragsschluss? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.3 Persönliche Eigenschaften . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Differenzierung der Vertragsschlusssituation . . . 2.2.2.1 Vertragsschluss vor der Eheschließung . . . . . 2.2.2.2 Vertragsschluss in der intakten Ehe . . . . . . . 2.2.2.3 Vertragsschluss in der Ehekrise . . . . . . . . . 2.2.2.4 Vertragsschluss nach Scheitern der Ehe, Scheidungsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.5 Vereinbarungen nach rechtskräftiger Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.6 Differenzierung nach der Zeitspanne zwischen Ehevertragsschluss und Scheidung? . . . . . . . 2.3 Das Interventionsinstrumentarium im Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Das Anliegen: Hinreichender Schutz bei möglichst schonender Intervention – Debiasing versus Insulating im Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Folgerungen für den formal-prozeduralen Kontrahentenschutz im Ehevertragsrecht (Debiasing) . . . 2.3.2.1 Die notarielle Beurkundung als Wahlhilfe de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.2 Antizipierte Inhaltskontrolle als beschränkte Nebenfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.3 Wirksamkeitsgrenzen und Korrekturbedarf . . 2.3.2.4 Keine formlose Bevollmächtigung des Ehepartners de lege lata . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.5 Erfordernis der persönlichen Anwesenheit vor dem Notar de lege ferenda . . . . . . . . . . . . 2.3.2.6 Zwingende Überlegungs- und Abkühlfrist . . . 2.3.2.7 Unabhängige Rechtsberatung statt notarielle Beurkundung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.8 Entscheidungspsychologische Schulung des beratenden Notars . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.9 Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.10 Zwingende Befristung der Vertragsregelung – „Sunset“-Klausel . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Richterliche Inhaltskontrolle zur Eindämmung schädlicher Entscheidungswirkungen (Insulating) . 2.3.3.1 Kein Ausschluss durch Erfüllung formalprozeduraler Anforderungen . . . . . . . . . . .
.
453
. . . . . .
454 454 454 455 456 457
.
458
.
460
.
461
.
462
.
463
.
466
.
466
. .
470 471
.
473
. .
475 475
.
478
.
480
.
480
.
485
.
486
.
487
XXXII
Inhaltsverzeichnis
2.3.3.2 Der Prüfmaßstab des BGH – Erklärung, Fundierung, Ableitungen . . . . . . . . . 2.3.3.3 Die Wirksamkeitskontrolle nach § 138 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.4 Die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB als Herzstück der Inhaltsprüfung . . . . . VII. Verfassungsrechtliche Kontrollüberlegungen . . . . . . VIII. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . .
. . . .
488
. . . .
498
. . . . . . . . . . . .
502 511 513
§ 8 Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gegenstand und Fortgang der weiteren Untersuchung . . . . 1. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands . . . . . . . . 2. Gang der weiteren Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . II. Reichweite und Grenzen der Gesellschaftsvertragsfreiheit – Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der ursprüngliche Gesellschaftsvertragsschluss bei Gesellschaftsgründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Formale Voraussetzungen des Vertragsschlusses . . . . 1.2 Inhalt des Gesellschaftsvertrags . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Vertragsfreiheit als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . 1.2.2 Unverzichtbare Mitgliedschaftsrechte . . . . . . . . 2. Änderung des Gesellschaftsvertrags und Grenzen der Mehrheitsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 (Relativ) Unentziehbare Mitgliedschaftsrechte . . . . . 2.2 Bestimmtheitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Kernbereichslehre und Belastungsverbot . . . . . . . . 2.4 Ausübungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Paternalistisches Gesellschaftsrecht – Drei Beispiele . . . . . . 1. Zur Gültigkeit sog. Hinauskündigungsklauseln im Personengesellschafts- und GmbH-Recht . . . . . . . . . . 1.1 Ausschließung des Gesellschafters – Gesetzlicher Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Vertragliche Ausschlusserleichterungen und freie Hinauskündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Gründe für eine Erleichterung der Ausschließung durch Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die Rechtsprechung des BGH zu sog. Hinauskündigungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Frühere Rspr. – Grundsätzliche Zulässigkeit freier Hinauskündigung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Nunmehr – Grundsätzliche Nichtigkeit sog. Hinauskündigungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Ausnahmsweise Gültigkeit einer Hinauskündigungsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
523 524 524 526 526 526 526 527 527 528 530 530 531 532 533 534 534 534 536 536 537 537 538 540
Inhaltsverzeichnis
XXXIII
1.4.4 Ausübungskontrolle wirksamer Hinauskündigungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Der Meinungs- und Diskussionsstand im Schrifttum . . 1.5.1 Die Kritik an der Rspr. zur Sittenwidrigkeit freier Hinauskündigungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.1 Inkonsistenz der Rspr. . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.2 Keine Sittenwidrigkeit aus Gründen des Gesellschafterschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.3 Keine Sittenwidrigkeit wegen Dysfunktionalität der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.4 „Damoklesschwert“-Argument und angemessene Abfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.5 Überschießende Wirkung des Nichtigkeitsverdikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.6 Bewertung freier Hinauskündigungsklauseln im internationalen Vergleich . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Alternative Konzepte des Schrifttums . . . . . . . . 1.5.2.1 Die Lehre vom Gesellschafter minderen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2.2 Geltungserhaltende Reduktion und Ausschließung aus sachlichem Grund . . . . . . . 1.5.2.3 Die Bedeutung einer angemessenen Abfindung . 1.5.2.4 Rückkehr zur bloßen Ausübungskontrolle . . . . 1.5.3 Besondere Rechtfertigungsgründe für eine Hinauskündigungsklausel . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4 Übertragung der Grundsätze auf Rechtstransplantate der Kautelarpraxis . . . . . . . . . . . . 1.5.4.1 Drag along-Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.2 Call option-Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.3 Russian Roulette- und Texas Shoot Out-Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.4 Leaver-Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Gültigkeit von Abfindungsklauseln im Recht der Personengesellschaften und der GmbH . . . . . . . . . . . . 2.1 Die gesetzliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Abfindungsvereinbarungen und deren Gründe . . . . . 2.2.1 Abfindungsklauseln – Vorkommen und Arten . . . 2.2.2 Die Gründe für Abfindungsklauseln in der juristischen und ökonomischen Diskussion . . . . . 2.2.2.1 Bestandsschutz der Gesellschaft als Investitionsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Senkung der Abwicklungskosten? . . . . . . . . . 2.3 Die Entwicklungslinien der Rspr. und ihre Begleitung durch das Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
543 543 543 544 545 546 547 547 547 549 549 550 551 551 553 554 554 555 556 557 557 558 560 560 561 562 563 563
XXXIV
Inhaltsverzeichnis
2.3.1 Die Rechtsprechung von 1978 bis 1993 . . . . . . 2.3.2 Die Kritik der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Die „Wende“ der Rspr. im Jahre 1993 . . . . . . . 2.3.4 Die Reaktion des Schrifttums . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Die Folgerechtsprechung bis heute . . . . . . . . . 2.3.5.1 Besondere Rechtfertigungsgründe für Abfindungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . 2.3.5.2 Unwirksamkeit von Abfindungsklauseln nach § 723 Abs. 3 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5.3 Verhältnis von Klauselunwirksamkeit und Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Summe – Der aktuelle Erkenntnisstand zur Zulässigkeit von Abfindungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Wirksamkeitsschranken vereinbarter Abfindungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.1 Gleichbehandlungsgrundsatz . . . . . . . . . . 2.4.1.2 Sittenwidrige Knebelung gem. § 138 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.3 Unzulässige Kündigungserschwerung gem. § 723 Abs. 3 BGB, § 133 Abs. 3 HGB (analog) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Durchsetzungsschranken wirksamer Abfindungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.1 Vorweg: Primat der ergänzenden Vertragsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.2 Dogmatische Anknüpfung der Ausübungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.3 Materielle Abwägungskriterien . . . . . . . . . 2.4.2.4 Rechtsfolge: Vertragsanpassung . . . . . . . . . 3. Abdingbarkeit der mitgliedschaftlichen Treuepflicht . . . 3.1 Die gesellschafterliche Treuepflicht – Schutzrichtung, Inhalt, Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Rechtsökonomische Funktion der Treuepflicht . . . . 3.3 Gründe für die Abbedingung von Treuepflichten . . 3.4 Die Diskussion im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Dogmatische Determinanten . . . . . . . . . . . . 3.4.1.1 Herleitung der Treuepflicht – Grundlinien . . 3.4.1.2 Implikationen für die Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht . . . . . . . . 3.4.2 Der Meinungsstand im In- und Ausland . . . . . . IV. Institutionenökonomische Grundlagen . . . . . . . . . . . . 1. Die Ex ante-Sicht – Gesellschaftsverträge als unvollständige Langzeitverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Gefahr des Ex post-Opportunismus . . . . . . . . . .
. . . . .
564 565 568 571 572
.
572
.
574
.
576
.
577
. .
577 577
.
578
.
581
.
582
.
583
. . . .
586 588 593 593
. . . . . .
594 595 597 598 599 599
. . .
600 601 605
. .
605 607
Inhaltsverzeichnis
2.1 Ex post-Opportunismus bei Langzeitverträgen im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Ex post-Opportunismus bei personalistischen Gesellschaften im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Konsequenz: Zielkonflikt der Kostenminimierung ex ante und ex post . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rolle des dispositiven Gesellschaftsbinnenrechts . . . 4. Nutzen und Kosten richterlicher Rechtsdurchsetzung im relationalen Vertragsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Zur Zweischneidigkeit rechtlicher Sanktionen . . . . . 4.2 Normative Implikationen – Meinungsstand . . . . . . 4.3 Insbesondere: Die „New Formalism“-Bewegung . . . 4.4 Gesellschaftsrechtliche Anwendung – Zum Schutz berechtigter Erwartungen im Rahmen der Treuepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Der Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Das Für und Wider des rechtlichen Schutzes legitimer Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Autonomer Vertragsschluss und zwingender Gesellschafterschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der Einwand der Contractarians gegen zwingenden Gesellschafterschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Prämisse (beschränkt) rationaler Wahl . . . . . . . V. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhaltensanomalien bei Gesellschaftsgründung . . . . . . 1.1 Aufschlüsselung der erheblichen Verhaltensanomalien 1.2 Verstärkende Faktoren bei Gründung personalistischer Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Annex: Ergebniswirksame Verhaltensanomalien nach Vertragsschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Rechtsvergleichender Befund als rechtstatsächliches Indiz für Selbstschutzdefizite der Gesellschafter . . . 1.5 Zu möglichen Einwänden gegen die Relevanz von Rationalitätsdefiziten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Folgerungen für Paternalismus im Gesellschaftsvertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Begründung paternalistischer Intervention . . . . . . . 2.1.1 Unterversicherung aufgrund von Risikofehleinschätzung und Konfliktvermeidungsverhalten . . . 2.1.2 Anfälligkeit für unlautere Beeinflussung durch den Vertragspartner? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Unterlassene Vertragsänderung und nachvertragliche Verhandlungsdisparität? . . . . . . . . . . . .
XXXV .
608
.
610
. .
612 612
. . . .
615 615 617 618
. .
619 619
.
620
.
622
. .
622 625
. . .
626 626 626
.
628
.
630
.
631
.
632
. .
633 634
.
634
.
635
.
636
XXXVI
Inhaltsverzeichnis
2.2 Differenzierungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Personale Differenzierung (Heterogenität des Adressatenkreises) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Situative Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Rechtsfolgenseite: Das Eingriffinstrumentarium . . 2.3.1 Allgemeine Vorüberlegungen zum Interventionskalkül . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Formal-prozeduraler Kontrahentenschutz im Gesellschaftsrecht (Debiasing) . . . . . . . . . . . . 2.3.2.1 Formalisierte Warnhinweise . . . . . . . . . . . . 2.3.2.2 Anstoß zum aktiven Selbstschutz . . . . . . . . . 2.3.2.3 Die notarielle Beurkundung und Belehrung de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.4 Überlegungen zur notariellen Beurkundung und Belehrung de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.5 Unabhängige Rechtsberatung statt notarielle Beurkundung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.6 Formale Anforderungen an die Abbedingung von Dispositivnormen – Zum sog. Bestimmtheitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.7 Zwingende Überlegungs- und Abkühlfrist? . . . 2.3.2.8 Zwingende Befristung der Vertragsregelungen – „Sunset“-Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.9 Zum Einsatz von Wahlhilfen bei Vertrags- und Satzungsänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Verhaltenssteuerung durch dispositives Recht („Soft Insulating“)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Gesellschafterschützende Wahlbeschränkungen (Insulating) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.1 Kosten des Insulating und Grenzen des Debiasing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.2 Übergeordnete Zweckerwägungen des gesetzlichen Gesellschafterschutzes . . . . . . . . 2.3.4.3 Rationalitätsdefizite als Legitimation eingeschränkter Disponibilität des gesetzlichen Gesellschafterschutzes . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.4 Ableitungen für die Inhaltskontrolle abweichender Vereinbarungen . . . . . . . . . . 2.3.4.5 Insbesondere zur Wirksamkeitskontrolle gem. § 138 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.6 Insbesondere zur Ausübungskontrolle gem. § 242 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.7 Schlechthin unverzichtbare Gesellschafterrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
637 637 638 639 639 641 641 642 645 647 648
649 650 651 651 653 655 656 658
658 659 661 664 665
Inhaltsverzeichnis
XXXVII
2.4 Anwendung auf die ausgewählten Beispiele . . . . . . 2.4.1 Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Hinauskündigungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.1 Überschießende Beschränkung der Vertragsfreiheit durch die BGH-Rspr. . . . . . . . . . . 2.4.2.2 Stattdessen: Beschränkung auf eine Ausübungskontrolle nach § 242 BGB . . . . . . . . . . . . 2.4.2.3 Konkretisierung des Prüfungsmaßstabs . . . . . 2.4.2.4 Ableitungen für private Rechtstransplantate mit Kündigungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Abfindungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.1 Gleichbehandlungsgrundsatz und Wucherverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.2 § 723 Abs. 3 BGB (analog) und Abfindungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.3 Sittenwidrige Abfindungsbeschränkungen (§ 138 Abs. 1 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.4 Vertragsauslegung und Ausübungskontrolle – Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.5 Ausübungskontrolle nach § 242 BGB – Konkretisierung des Prüfungsmaßstabs . . . . . 2.4.3.6 Rechtsfolge: Vertragsanpassung . . . . . . . . . VI. Verfassungsrechtliche Kontrollüberlegungen . . . . . . . . . VII. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . .
§ 9 Verbraucherkreditrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gang der weiteren Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . II. Die gesetzlichen Grundlagen des Verbraucherkreditrechts – Der Schutz des Verbraucher-Kreditnehmers im BGB . . . 1. Unionsrechtliche Vorgaben – Die Verbraucherkreditrichtlinie II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Genese der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Leitgedanken der Verbraucherkreditrichtlinie und Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Vollharmonisierung als Regelungskonzept . . . . . . 1.4 Anwendungsbereich (Harmonisierungsbereich) . . . 1.4.1 Persönlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . 1.4.2 Sachlicher Anwendungsbereich (Kreditverträge) . 1.5 Die Schutzinstrumente der VerbrKrRL . . . . . . . 1.5.1 Kreditwerbung, Art. 4 VerbrKrRL . . . . . . . . 1.5.2 Vorvertragliche Pflichten des Kreditgebers . . . . 1.5.2.1 Vorvertragliche Informationspflichten, Art. 5 VerbrKrRL . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
667
. .
667 671
.
671
. .
673 674
. .
678 679
.
680
.
681
.
683
.
686
. . . .
689 692 693 694
. .
705
. .
707
. .
707
. . . .
708 708
. . . . . . . .
. . . . . . . .
710 711 712 712 712 713 713 714
. .
714
XXXVIII
Inhaltsverzeichnis
1.5.2.2 Vorvertragliche Erläuterungspflichten, Art. 5 Abs. 6 VerbrKrRL . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2.3 Verpflichtung zur Bewertung der Kreditwürdigkeit, Art. 8 f. VerbrKrRL . . . . . . . . . 1.5.3 Vertragsform und -inhalt, Art. 10 VerbrKrRL . . . 1.5.4 Rechte zur vorzeitigen Vertragsauflösung . . . . . . 1.5.4.1 Kündigung unbefristeter Kreditverträge, Art. 13 VerbrKrRL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.2 Widerruf, Art. 14 VerbrKrRL . . . . . . . . . . . 1.5.4.3 Verbraucherrecht zur vorzeitigen Kreditrückzahlung, Art. 16 VerbrKrRL . . . . . . . . . . . 1.5.5 „Durchgriff“ bei verbundenen Kreditverträgen, Art. 15 VerbrKrRL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.6 Sonderregeln für Überziehungsmöglichkeiten und Überschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.7 Kreditvermittler, Art. 21 VerbrKrRL . . . . . . . . 1.5.8 Unabdingbarkeit von Verbraucherrechten, Art. 22 Abs. 2 und 4 VerbrKrRL . . . . . . . . . . . 1.5.9 Sanktionen bei Pflichtverstößen, Art. 23 VerbrKrRL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Umsetzung des Unionsrechts im BGB . . . . . . . . . 2.1 Überblick über Verlauf und Inhalt der Richtlinienumsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Anwendungsbereich des Verbraucherkreditrechts . . . 2.2.1 Personaler Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . 2.2.1.1 Der Verbraucher als Kreditnehmer (Darlehensnehmer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.2 Der Unternehmer als Kreditgeber (Darlehensgeber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.3 Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Sachlicher Anwendungsbereich – Kreditvertrag . . . 2.2.2.1 Verbraucherdarlehensvertrag . . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Entgeltlicher Zahlungsaufschub und sonstige Finanzierungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.3 Vollausnahmen nach § 491 Abs. 2 BGB . . . . . 2.2.2.4 Teilausnahmen nach § 491 Abs. 3 BGB . . . . . 2.2.3 Generalisierend-typisierendes Schutzkonzept . . . . 2.3 Vorvertragliche Informationspflichten, §§ 491a BGB, 6a PAngV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Unterrichtungspflicht nach § 491a Abs. 1 BGB . . . 2.3.2 Anspruch auf Kopie eines Vertragsentwurfs, § 491a Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Erläuterungspflicht nach § 491a Abs. 3 BGB . . . . 2.3.4 Werbung, § 6a PAngV . . . . . . . . . . . . . . . . .
715 716 719 720 720 721 722 723 724 725 725 726 726 726 727 727 727 728 729 730 730 732 733 735 735 736 736 738 738 739
Inhaltsverzeichnis
XXXIX
2.3.5 Rechtsfolgen bei schuldhafter Pflichtverletzung . . . 2.4 Formvorschriften, §§ 492, 494 BGB . . . . . . . . . . . 2.5 Fürsorgepflichten des Kreditgebers? (§§ 18 Abs. 2 KWG, 2 Abs. 3 ZAG, 509 BGB) . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Die Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Die Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Unwirksamkeit des Einwendungsverzichts, § 496 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Informationspflichten während des Vertragsverhältnisses, § 493 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Widerrufsrecht, § 495 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9 Besondere Kündigungsregeln des Verbraucherkreditvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.1 Vorweg: Überblick über das allgemeine Darlehenskündigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.1.1 Ordentliche Kündigung – Grundsatz, § 488 Abs. 3 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.1.2 Ordentliche Kündigung des Schuldners bei verzinslichem Darlehen, § 489 BGB . . . . . . . . 2.9.1.3 Außerordentliches Kündigungsrecht, § 490 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.2 Kündigung durch den Darlehensgeber bei Verzug, § 498 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.3 Ordentliche Kündigung des Darlehensgebers, § 499 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.4 Leistungsverweigerungsrecht des Darlehensgebers, § 499 Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.5 Ordentliches Kündigungsrecht des Verbrauchers, § 500 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.6 Vorzeitige Vertragserfüllung des Verbrauchers, § 500 Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.7 Gesamtkostenermäßigung, § 501 BGB . . . . . . . . 2.10 Eingeschränkte Anwendung der Schutzvorschriften auf bestimmte Darlehen, §§ 503 ff. BGB . . . . . . . . . . . 2.10.1 Immobiliardarlehensverträge, § 503 BGB . . . . . . 2.10.2 Eingeräumte Überziehungsmöglichkeit, § 504 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.10.3 Geduldete Überziehung, § 505 BGB . . . . . . . . . 2.11 Zur Abdingbarkeit des verbraucherkreditrechtlichen Schutzregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.11.1 Die Regelung des § 511 – Überblick . . . . . . . . . 2.11.2 Fragen zu Telos und Reichweite des Abdingbarkeitsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.11.3 Einseitiger Verzicht versus Vereinbarung . . . . . .
739 740 741 741 742 744 746 746 748 748 748 749 750 751 752 752 753 754 755 756 756 756 757 758 758 760 761
XL
Inhaltsverzeichnis
2.11.4 Verzichtbarkeit des bereits entstandenen Widerrufsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.11.5 Entbehrlichkeit der Nachfristsetzung und §§ 498, 511 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.11.6 Vereinbarung wichtiger Kündigungsgründe und §§ 499 Abs. 1, 511 BGB . . . . . . . . . . . . . . . 2.11.7 Auftritt als Scheinunternehmer . . . . . . . . . . . 2.11.8 Verwirkung des Widerrufsrechts nach § 495 BGB? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.12 Einzelfallabhängige Inhaltsschranken des Verbraucherkreditrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.12.1 Zum Verhältnis von Verbraucherkreditrecht und §§ 138, 242 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.12.2 Grundzüge der Sittenwidrigkeit von Konsumentenkreditverträgen . . . . . . . . . . . . 2.12.2.1 Sittenwidrige Ausbeutung des Verbraucherkreditnehmers . . . . . . . . . . . . 2.12.2.2 Sittenwidrige finanzielle Überforderung des Verbraucherkreditnehmers . . . . . . . . . . 2.12.2.3 Sittenwidrige Knebelung des Verbraucherkreditnehmers . . . . . . . . . . . . 2.12.2.4 Rechtsfolgen der Sittenwidrigkeit des Kreditvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.12.3 Unzulässige Rechtausübung im Konsumentenkreditvertragsrecht . . . . . . . . . . 3. Verbraucherkreditrecht und Vertragsfreiheit – Allgemeine Bewertung im Schrifttum und Zwischenfazit . . . . . . . . III. Ökonomische Grundlagen des Verbraucherkredits . . . . . . 1. Die ökonomische Funktion des Kredits . . . . . . . . . . . 2. Nachfrage und Angebot auf dem Verbraucherkreditmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zur Nachfrage von Verbraucherkrediten – Das Life cycle-permanent income-Modell . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zur Beschränkung des Angebots von Verbraucherkrediten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Informationsasymmetrien – Adverse Selektion und Moral Hazard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Unwirtschaftlichkeit des einzelfallbezogenen Kreditnehmer-Screening . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die kreditvertragliche Risikostruktur . . . . . . . . . . . . . 4. Die Effekte der gesetzlichen Vorgaben für den Verbraucherkreditmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Kosten-Nutzen-Analyse der gesetzlichen Verbraucherkreditregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
763 763 765 765 767 768 768 769 770 773 775 776 776 777 779 780 781 781 783 784 785 785 787 788
XLI
Inhaltsverzeichnis
4.1.1 Vorvertragliche Informations-, Erläuterungs- und Prüfungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.1 Bessere Kreditentscheidung durch besser informierte Verbraucher? . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.2 Verbrauchernutzen durch Kreditwürdigkeitsprüfung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.3 Die Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Insbesondere: Eindämmung verbreiteter Verbraucherüberschuldung? . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Vertragsbeendigungsregeln . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Makroökonomische Vorteile? . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 … durch Erhöhung der Markttransparenz . . . . . 4.2.2 … durch Schaffung eines gemeinsamen Kreditmarktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 … und mögliche Nachteile . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kenntnisse und Verhalten von Verbrauchern als Kreditnehmer – Der empirische Befund . . . . . . . . . . 1.1 Wissensdefizite der Verbraucher in Finanzangelegenheiten – Financial Illiteracy . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Nichtrationales Verbraucherverhalten in Kreditmärkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Kreditkartennutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Hypothekarkredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Kurzfristige Überbrückungskredite (Payday Loans) 1.2.4 Fehlerhaftes Verhalten auf Kreditmärkten und Verbraucheralter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.5 Untersuchungen zur Effektstärke – Leicht vermeidbare Kredit- und Kontoführungskosten . . 1.2.6 Annex: Zur begrenzten Aussagekraft hoher Überschuldungsquoten . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erklärungsansätze aus verhaltensökonomischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Wirksamkeitsgrenzen von Verbraucherinformation . . 2.1.1 Hohe Informationssuchkosten . . . . . . . . . . . 2.1.2 Defizitäres Finanzwissen – Financial Illiteracy . . 2.1.3 Beschränkte Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazitäten . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zeitinkonsistentes und naives Verbraucherverhalten . 2.2.1 Übermäßige Kreditaufnahme aufgrund zeitinkonsistenter Präferenzen und übermäßiger Diskontierung künftigen Nutzens . . . . . . . . . .
.
788
.
789
. .
790 791
. . . .
793 795 797 797
. . .
798 799 799
.
800
.
801
.
801
. . .
804 804 807 809
.
809
.
810
.
810
. . . .
811 812 812 813
. .
813 815
.
815
XLII
Inhaltsverzeichnis
2.2.2 Naivität in Bezug auf eigenes künftiges Verhalten (Überoptimismus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Fehlerhafte Einschätzung kreditrelevanter Wahrscheinlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Selbstüberschätzung und Überoptimismus . . . . 2.3.2 Verfügbarkeitsheuristik . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Extrapolation gegenwärtiger Präferenzen und Projektionsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Vernachlässigung (subjektiv) kleiner Wahrscheinlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zur Rechtfertigung regulatorischer Intervention im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Beharrlichkeit der Entscheidungsfehler auf Verbraucherkreditmärkten . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.1 Fehlermindernde Lerneffekte . . . . . . . . . . 3.1.1.2 Aufklärung oder Ausnutzung der Verbraucher durch die Kreditgeber? . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.3 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Konsequenz: Wohlfahrtsverluste . . . . . . . . . . 3.1.3 Potentielle Wohlfahrtsgewinne durch Intervention – Das Kalkül . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Einordnung in die aktuelle verbraucherpolitische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4.1 Internationale Entwicklungen in der Verbraucherpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4.2 Verhaltensökonomik als Beitrag zu einem „Smarter Government“ . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ableitungen für das sog. Verbraucherleitbild . . . . . 3.2.1 Zur Erinnerung: Empirisch belegtes Verbraucherverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Normatives Verbraucherleitbild . . . . . . . . . . 3.2.3 Synthese – Rechtliches Leitbild auf empirischer Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Typisierung der §§ 13 f., 512 BGB . . . . . . . . 3.4 Wahlhilfen (Debiasing) für den Verbraucherkreditnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Menge und Formatierung der Verbraucherinformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.1 Kritik am europäischen Informationsmodell – Financial Illiteracy . . . . . . . . . . . . . . . .
.
816
. . .
818 818 819
.
820
. .
820 820
.
821
.
822
. .
822 822
. . .
825 828 828
.
829
.
831
.
831
. .
833 833
. .
834 834
. .
837 838
.
839
.
840
.
841
Inhaltsverzeichnis
3.4.1.2 Kritik am europäischen Informationsmodell – Information Overload . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.3 Kritik an fehlender Information über die Nutzung eines Kreditrahmens . . . . . . . . . . . 3.4.1.4 Die Grundsatzkritik am Informationsmodell bei Ben-Shahar und Schneider . . . . . . . . . . . 3.4.1.5 Bewertung des Informationsmodells der §§ 491a, 492 BGB, 6a PAngV . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.6 Konkrete Anregungen zur Reform des Informationsregimes . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.7 Verbleibende Wirkungsgrenzen des Informationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Beratung – Zur Erläuterungspflicht des § 491a Abs. 3 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.1 Verbesserung der Verbraucherentscheidung durch Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.2 Die Kosten und Gefahren der Beratung . . . . . 3.4.2.3 Beratungspflichten der kreditvergebenden Bank – Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.4 Leistungsgrenzen der Erläuterungspflicht nach § 491a Abs. 3 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.5 Reformbedarf? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Abkühl- und Überlegungsfrist – Das Widerrufsrecht nach § 495 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.1 Das Widerrufsrecht als Instrument des Verbraucherschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.2 Rechtfertigung des Widerrufsrechts im Verbraucherkreditrecht . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.3 Ableitung I: Zum zwingenden Charakter des Widerrufsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.4 Ableitung II: Zu den gesetzlichen Ausnahmen . . 3.4.3.5 Verbesserung des Cooling off-Mechanismus de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Soft Insulating durch Default Rules versus Optionsmenü . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Soft Insulating im Verbraucherkreditrecht und Formularverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Optionsmenü als Alternative? . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Verbleibende Wirksamkeitsgrenzen . . . . . . . . . . 3.5.4 Fazit und Vergleich mit zwingendem Vertragsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Wahlbeschränkungen – Zwingendes Recht und Vertragskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XLIII 842 843 844 845 849 855 856 856 857 858 859 860 861 862 863 864 865 866 868 868 869 870 870 871
XLIV
Inhaltsverzeichnis
3.6.1 Zur zwingenden Natur des Verbraucherkreditrechts, § 511 S. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1.1 Zwingende Regelung als Funktionsvoraussetzung von Wahlhilfen . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1.2 Zur Rechtfertigung zwingender kreditrechtlicher Vertragsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1.3 Zur Legitimität einzelner zwingender Regelungen – Drei Beispiele . . . . . . . . . . . . 3.6.2 Richterliche Inhaltskontrolle von Verbraucherkreditverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2.1 Komplementarität von Vertragsinhaltskontrolle und zwingendem Recht . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2.2 Rückbindung an die verhaltensökonomische Legitimationsbasis rechtspaternalistischer Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . .
872 873 877 884 893 893
895 899 899
Vierter Teil
Zusammenfassung der Ergebnisse 911
§ 10 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . I. Paternalismus in der philosophischen Diskussion . II. Rechtspaternalismus und Verfassungsrecht . . . . . III. Effizienter Paternalismus im Vertragsrecht . . . . . IV. Die verhaltensökonomische Fundierung paternalistischer Intervention . . . . . . . . . . . . . V. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Ehevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Verhaltensökonomisch fundierter Paternalismus im Verbraucherkreditrecht . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
911
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
911 913 915
. . . . . .
921
. . . . . .
929
. . . . . .
938
. . . . . .
949
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 957 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1009
Abkürzungsverzeichnis 1. EheRG
Erstes Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts
A a.A. a.a.O AARP ABl.EG ABl.EU Abs. AbzG AcP a.E. AEJ a.F. AG AGB AGBG
Erstauflage (bei Werken Kants) am Anfang/andere(r) Ansicht am angegebenen Ort American Association of Retired Persons Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Amtsblatt der Europäischen Union Absatz Abzahlungsgesetz Archiv für die civilistische Praxis am Ende American Economic Journal alte Fassung Aktiengesellschaft/Amtsgericht Allgemeine Geschäftsbedingungen Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Aktiengesetz American Law Institute allgemeine Meinung American Behavioral Scientist American Economic Review American Law and Economics Review Anmerkung Annual Review of Law and Social Science
AGG AktG ALI allg. M. Am. Behav. Sci. Am. Econ. Rev. Am. L. & Econ. Rev. Anm. Annu. Rev. Law Soc. Sci. Annu. Rev. Psychol. AöR Appl. Cogn. Psychol. APR APSR Ariz. L. Rev Art. Aufl.
Annual Review of Psychology Archiv des öffentlichen Rechts Applied Cognitive Psychology annual percentage rate American Political Science Review Arizona Law Review Artikel Auflage
BA BAG
Erst- und Zweitauflage (bei Werken Kants) Bundesarbeitsgericht
XLVI
Abkürzungsverzeichnis
BAGE BayObLG BayVBl. BB B.C. L. Rev. Bd. Begr. Behav. Brain Sci. Bell J. Econ. Berkeley Bus. L.J. BERR Beschl. BeurkG BFuP BGB BGBl. BGH BGHZ BKR BMFSFJ BNotO BRE BSK-OR BT-Drs. Buff. L. R. BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE BYU L. Rev. bzw.
Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bayerisches Oberstes Landesgericht Bayerische Verwaltungsblätter Betriebs-Berater Boston College Law Review Band Begründung Behavioral and Brain Sciences Bell Journal of Economics Berkeley Business Law Journal Department for Business Enterprise & Regulatory Reform Beschluss Beurkundungsgesetz Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bundesnotarordnung Better Regulation Executive Basler Kommentar Obligationenrecht Drucksachen des Deutschen Bundestags Buffalo Law Review Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Brigham Young University Law Review beziehungsweise
CA Cal. App. Cal. Ct. App. Cal. Fam. Code Cal. L. Rev. Cal. Rptr. CCLSR C.F.R. ch. Chap. L. Rev. CEUT c.i.c. Clev. St. L. Rev. CML Rev. cmt.
Companies Act California Appellate Reports California Court of Appeals California Family Code California Law Review California Reporter Centre for Corporate Law and Securities Regulation Code of Federal Regulations chapter Chapman Law Review Choquet expected utility theory culpa in contrahendo Cleveland State Law Review Common Market Law Review comment
Abkürzungsverzeichnis
Cogn. Psychol. Colum. L. Rev. Cornell J. L. & Pub. Pol’y Cornell L. Rev. CPT CR Current Directions in Psych. Sci.
Cognitive Psychology Columbia Law Review Cornell Journal of Law and Public Policy Cornell Law Review kumulative Prospect-Theorie Computer und Recht Current Directions in Psychological Science
DB DCFR Del. J. Corp. L. dens. ders. d.h. d.i. dies. diesbzgl. Diss. DJT DNotZ DÖV DStR Duke L.J. DUT DVBl. DZWir
Der Betrieb Draft Common Frame of Reference Delaware Journal of Corporate Law denselben derselbe das heißt das ist dieselbe/dieselben diesbezüglich/diesbezügliche/diesbezüglichen Dissertation Deutscher Juristentag Deutsche Notar-Zeitschrift Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Steuerrecht Duke Law Journal discounted utility theory Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
ebd. EBOR ECJ ERCL Econ. J. Econ. Letters ed./eds. EGBGB EheG Erasmus L. Rev. ErbbauVO ERCL ERPL et al. EuGH Eur. Econ. Rev. Eur. J. Law Econ. EuZW e.V.
ebenda European Business Organization Law Review European Court of Justice European Review of Contract Law The Economic Journal Economic Letters edition/editor/editors Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Ehegesetz Erasmus Law Review Erbbaurechtsverordnung European Review of Contract Law European Review of Private Law et alii Europäischer Gerichtshof European Economic Review European Journal of Law and Economics Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht eingetragener Verein
XLVII
XLVIII
Abkürzungsverzeichnis
EWHC EWiR
High Court of England and Wales (Entscheidungssammlung) Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht
FamFG
Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Die Praxis des Familienrechts/La pratique du droit de la famille/ La prassi del diritto di famiglia Zeitschrift für das gesamte Familienrecht folgende(r) folgende Forum Familienrecht Festgabe Praxis der Freiwilligen Gerichtsbarkeit Federal Housing Administration Florida State University Law Review Fußnote Fordham Law Review Fordham Journal of Corporate and Financial Law
FamPra.ch FamRZ f. ff. FF FG FGPrax FHA Fla. St. U. L. Rev. Fn. Fordham L. Rev. Fordham J. Corp. L. & Fin. FPR FrakE FRB of Boston FRM FS FTC FuR Games & Econ. Behav GAO GbR Geo L.J. GesAusG GewSchG GesRZ GFA GG GmbH GmbH & Co. KG
Familie, Partnerschaft, Recht Fraktionsentwurf Federal Reserve Bank of Boston fixed rate mortgage Festschrift Federal Trade Commission Familie und Recht
GmbHG GmbHR GPR GroßKommAktG GS GWR
Games and Economic Behavior U.S. Government Accountability Office Gesellschaft bürgerlichen Rechts Georgetown Law Journal Gesellschafter-Ausschlussgesetz Gewaltschutzgesetz Der Gesellschafter Gesetzesfolgenabschätzung Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesellschaft mit beschränkter Haftung & Compagnie Kommanditgesellschaft Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung GmbH-Rundschau Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht Großkommentar zum Aktiengesetz Gedächtnisschrift Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht
HausratsV Hare
Hausratsverordnung Hare’s Chancery Reports
Abkürzungsverzeichnis
Harv. C.R.-C.L. L. Rev. Harv. Econ. Stud. Harv. J. on Legis. Harv. L. Rev. Hdb. d. StaatsR HdSW HdWW Herv. HGB HGR h.L. h.M. Hofstra L. Rev. Hrsg./hrsg. HUD
Harvard Civil Rights-Civil Liberties Law Review Harvard Economic Studies Harvard Journal on Legislation Harvard Law Review Handbuch des Staatsrechts Handwörterbuch der Sozialwissenschaften Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft Hervorhebung Handelsgesetzbuch Handbuch der Grundrechte herrschende Lehre herrschende Meinung Hofstra Law Review Herausgeber/herausgegeben U.S. Department for Housing and Urban Development
i.E. i.Erg. Ill.App. Ill. App. Ct. insb. InsO Int. J. Law, Pol. & Family Int. Rev. Law Econ. Iowa L. Rev. i.S.d. i.V.m.
im Einzelnen im Ergebnis Illinois Appellate Court Reports Illinois Appellate Court insbesondere Insolvenzordnung International Journal of Law, Policy and the Family
J. Accounting Res. J. Appl. Soc. Psychol. JbJZivRWiss J. Behav. Dec. Making J. Bus. JCL J. Consum. Policy J. Consumer Psychol. J. Consumer Res. J. Corp. L. J. Econ. Behav. Organ. J. Econ. Issues J. Econ. Lit. J. Econ. Persp. J. Econ. Surveys JELS jew. m. N.
Journal of Accounting Research Journal of Applied Social Psychology Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler Journal of Behavioral Decision Making Journal of Business Journal of Corporation Law Journal of Consumer Policy Journal of Consumer Psychology Journal of Consumer Research Journal of Corporation Law Journal of Economic Behavior and Organization Journal of Economic Issues Journal of Economic Literature Journal of Economic Perspectives Journal of Economic Surveys Journal of Empirical Legal Studies jeweils mit Nachweisen
International Review of Law and Economics Iowa Law Review im Sinne der/des in Verbindung mit
XLIX
L J. Exp. Psychol.: Applied J. Exp. Psychol.: Hum. Perc. & Perf. J. Fin. Jhg. JITE J. L. & Econ. J. Law & Soc’ty JLEO J. Legal Prof. J. Legal Stud. J. Market. Res. J. Philos. J. Personality & Soc. Psychol. J. Pol. Econ. J. Pub. Pol’y & Marketing JR J. Risk & Uncertainty JURA JuS JW JZ Kap. KG KindRG KölnKommAktG KostO KritV
Abkürzungsverzeichnis
Journal of Experimental Psychology: Applied Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance Journal of Finance Jahrgang Journal of Institutional and Theoretical Economics Journal of Law and Economics Journal of Law and Society Journal of Law, Economics and Organization Journal of the Legal Profession Journal of Legal Studies Journal of Marketing Research Journal of Philosophy Journal of Personality and Social Psychology Journal of Political Economy Journal of Public Policy and Marketing Juristische Rundschau Journal of Risk and Uncertainty Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung
KWG Ky. L.J.
Kapitel Kammergericht/Kommanditgesellschaft Kindschaftsrechtsreformgesetz Kölner Kommentar zum Aktiengesetz Kostenordnung Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Gesetz über das Kreditwesen Kentucky Law Journal
LG li.Sp. Lit. L. & Hum. Behav. LLC Loy. L.A. L. Rev. LPartG
Landgericht linke Spalte Literatur Law and Human Behavior Limited Liability Company Loyola of Los Angeles Law Review Lebenspartnerschaftsgesetz
Management Sci. m.a.W. Md. L. Rev.
Management Science mit anderen Worten Maryland Law Review
Abkürzungsverzeichnis
Melb. U. L. Rev. Mich. L. Rev. MiFID Minn. L. Rev. MittBayNot
LI
MünchKomm m.w.N. m.zahlr.N.
Melbourne University Law Review Michigan Law Review Markets in Financial Instruments Directive Minnesota Law Review Mitteilungen des Bayerischen Notarvereins, der Notarkasse und der Landesnotarkammer Bayern Modern Law Review Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen Münchener Kommentar mit weiteren Nachweisen mit zahlreichen Nachweisen
NBER NCC NCCUSL N.C. L. Rev. Neubearb. n.F. NJOZ NJW NJW-RR NotBZ Notre Dame L. Rev. Nr. NVwZ Nw. U. L. Rev. N.Y.Supr.Ct. N.Y.U. J.L. & Liberty N.Y.U. L. Rev. NZG NZI
National Bureau of Economic Research National Consumer Council National Conference of Commissioners on Uniform State Laws North Carolina Law Review Neubearbeitung neue Fassung Neue Juristische Online Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift NJW- Rechtsprechungs – Report Zivilrecht Zeitschrift für die notarielle Beratungs- und Beurkundungspraxis Notre Dame Law Review Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Northwestern University Law Review New York Supreme Court New York University Journal of Law and Liberty New York University Law Review Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Neue Zeitschrift für das Recht der Insolvenz und Sanierung
M.L.R. MoMiG
ÖBA Österreichisches Bankarchiv OECD Organisation for Economic Co-Operation and Development OGAW Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren OHG Offene Handelsgesellschaft ÖJZ Österreichische Juristen-Zeitung OLG Oberlandesgericht Oper. Res. Operations Research Or. Ct. App. Oregan Court of Appeals Organ. Behav. & Hum. Organizational Behavior and Human Decision Processes Decision Processes Oxford Econ. Papers Oxford Economic Papers PAngV PEF
Preisangabenverordnung Journal of Pension Economics and Finance
LII
Abkürzungsverzeichnis
Personality & Soc. Psychol. Bull. PfandleiherVO Phil. & Pub. Aff. PIH PNAS pr. ProstG Psychol. Psychol. Psychol. Psychol.
Personality and Social Psychology Bulletin
Pfandleiherverordnung Philosophy and Public Affairs permanent income hypothesis Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America principium Prostitutionsgesetz Bull. Psychological Bulletin & Marketing Psychology and Marketing Rev. Psychological Review Sci. Pub. Int. Psychological Science in the Public Interest
Quart. J. Econ. QLR
Quarterly Journal of Economics. Queensland Law Reporter
RabelsZ RAND J. Econ. RCT RegE REMM Rev. Econ. Stud. rev. ed. re. Sp. RG RGBl. RGZ Rn. RNotZ Rspr. RULLCA RULPA RUPA RWI
Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht RAND Journal of Economics rational choice theory Regierungsentwurf resourceful, evaluating, maximizing man Review of Economic Studies revised edition rechte Spalte Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Randnummer Rheinische Notar-Zeitschrift Rechtsprechung Revised Uniform Limited Liability Company Act Revised Uniform Limited Partnership Act Revised Uniform Partnership Act Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung
S./s. S. Cal. Interdisc. L.J. S. C. L. Rev. S. Cal. L. Rev. Scottish J. Pol. Econ. Sec. S. Econ. J. SMG s.o. Soc. Indicators Res.
Satz/Seite/siehe Southern California Interdisciplinary Law Journal South Carolina Law Review Southern California Law Review Scottish Journal of Political Economy Section Southern Economic Journal Schuldrechtsmodernisierungsgesetz siehe oben Social Indicators Research
Abkürzungsverzeichnis
LIII
Soc. and Econ. Scis. Research Ctr. sog. Stan. L. Rev. StGB st. Rspr. Suffolk U. L. Rev.
Social and Economic Sciences Research Center so genannt/so genannte/so genannter Stanford Law Review Strafgesetzbuch ständige Rechtsprechung Suffolk University Law Review
Tex.Supr.Ct. TILA Tulane L. Rev. Tz.
Texas Supreme Court Truth in Lending Act Tulane Law Review Textziffer
u.a. UÄndG U. Chi. L. Rev. UCITS UCLA L. Rev. U. Colo. L. Rev. UKlaG UPAA U. Pa. L. Rev. Urt. U.S.C. usw. Utah L. Rev. U.T. Fac. L. Rev. U. Toronto L.J. UWG
und andere/unter anderem Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts University of Chicago Law Review Undertakings for Collective Investment in Transferable Securities University of Los Angeles Law Review University of Colorado Law Review Unterlassungsklagengesetz Uniform Premarital Agreement Act University of Pennsylvania Law Review Urteil United States Code und so weiter Utah Law Review University of Toronto Faculty of Law Review University of Toronto Law Journal Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb
v. vom/von Va. L. Rev. Virginia Law Review Vand. L. Rev. Vanderbilt Law Review VAStrRefG Gesetz zur Strukturreform des Versorgungsausgleichs VerbrKrG Verbraucherkreditgesetz VerbrKrRL Verbraucherkreditrichtlinie VerbrKrRL-UG Verbraucherkreditrichtlinie-Umsetzungsgesetz VerbrKrRL-UG-ÄndG Gesetz zur Einführung einer Musterwiderrufsinformation für Verbraucherdarlehensverträge, zur Änderung der Vorschriften über das Widerrufsrecht bei Verbraucherdarlehensverträgen und zur Änderung des Darlehensvermittlungsrechts VersAusglG Versorgungsausgleichsgesetz VAHRG Versorgungsausgleichs-Härteregelungsgesetz VAÜG Versorgungsausgleichs-Überleitungsgesetz vgl. vergleiche vol. volume vs. versus
LIV
Abkürzungsverzeichnis
VuR vzbv
Verbraucher und Recht Verbraucherzentrale Bundesverband
Wake Forest L. Rev. Wall St. J. Wash. App. Wash. L. Rev. Wash. & Lee L. Rev. Wash. U. L. Q. WEG Wis. L. Rev. WM Wm. & Mary L. Rev. W. New Eng. L. Rev. WohnimmKrRL WohnimmKrRL-E
WpHG
Wake Forest Law Review Wall Street Journal Washington Court of Appeals Washington Law Review Washington and Lee Law Review Washington University Law Quarterly Wohnungseigentumsgesetz Wisconsin Law Review Wertpapier-Mitteilungen William and Mary Law Review Western New England Law Review Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge Vorschlag für eine Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge Working Paper Wertpapierdienstleistungs-,Verhaltens- und Organisationsverordnung Wertpapierhandelsgesetz
Yale L.J. YJLF
Yale Law Journal Yale Journal of Law and Feminism
ZAG z.B. ZBB ZEuP ZEV ZFR ZfRSoz ZGR ZGS ZHR ZInsO ZIP zit. ZNotP ZRP ZSR zust. zutr. ZZP
Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz zum Beispiel Zeitschrift für Bank- und Börsenrecht Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge Zeitschrift für Finanzmarktrecht Zeitschrift für Rechtssoziologie Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für Vertragsgestaltung, Schuld- und Haftungsrecht Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht zitiert Zeitschrift für die Notarpraxis Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Schweizerisches Recht zustimmend zutreffend Zeitschrift für Zivilprozess
WP WpDVerOV
Erster Teil
Einleitung § 1 Einführung in das Thema I. Das Paternalismusparadox „Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, (d.i. diesem Rechte des anderen) nicht Abbruch tut. – Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d.i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaft nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts, und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt).“1 Dieses Wort Immanuel Kants in seinem in der Berlinischen Monatsschrift erschienen Aufsatz „Über den Gemeinspruch“ von 1793 beschreibt einen wesentlichen Aspekt seines Verständnisses von den Grundlagen einer bürgerlichen Verfassung und richtet sich gegen die Ausführungen zum Gesellschaftsvertrag bei Thomas Hobbes. Kants antipaternalistische Position ist bis heute für das Rechtsverständnis in Deutschland und darüber hinaus wirkungsmächtig. Dies gilt nicht nur für das Menschenbild des Grundgesetzes2, sondern ganz allgemein für das Ideal des frei und selbstbestimmten Menschen als Urheber rechtlich bedeutsamen Verhaltens. Im Privatrecht findet dieses Denken seinen Ausdruck im Grundsatz der Privatautonomie als dem „Prinzip der Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch den einzelnen nach seinem Willen.“3 Die Privatautono1
Kant, Über den Gemeinspruch, A 236 (S. 145 f.). S. nur Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Mai 2009, Art. 1 Abs. 1 Rn. 12, dort Rn. 7 ff. auch allgemein zum geistesgeschichtlichen Hintergrund des Art. 1 Abs. 1 GG. 3 Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, 3. Aufl. 1979, S. 1; s. aber auch Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 8, wonach die Privatautonomie lediglich ein Recht auf eigenverantwortliche Interessenwahrnehmung gewährt. 2
2
§ 1 Einführung in das Thema
mie findet ihre wichtigste Ausprägung wiederum in der Vertragsfreiheit.4 Vor diesem Hintergrund gilt vielen die paternalistische Freiheitsbeschränkung als die bête noire der liberalen Gesellschaft.5 Sowohl die Politik als auch die Rechtswissenschaft vermeiden daher tunlichst die paternalistische Begründung von Rechtsregeln.6 Gerade in der privatrechtlichen Diskussion verwenden viele Paternalismus gar als Synonym für die unberechtigte Beschränkung der Privatautonomie.7 Diesen antipaternalistischen Bekenntnissen zum Trotz sind die freiheitlich-demokratischen Rechtsordnungen in Deutschland und in anderen Staaten der westlichen Welt von zahlreichen paternalistischen Regelungen durchsetzt.8 In jüngerer Zeit wird gar eine nicht unerhebliche Zunahme solcher Regelungen beobachtet.9 Jedenfalls diesseits des Atlantiks wird dieses von Anthony Ogus als „Paternalismusparadox“ beschriebene Phänomen zumeist schamhaft beschwiegen, obwohl eine zunehmend freiere und mit zusätzlichen Wahlmöglichkeiten ausgestattete Lebenswirklichkeit einerseits und wichtige Erkenntnisse der psychologischen und verhaltensökonomischen Forschung andererseits zu einer Diskussion um Grund und Grenzen des Einsatzes paternalistischer Regelungsinstrumente Anlass geben.10
4 S. nur Zöllner, FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 85 ff.; vgl. auch Rittner, JZ 2011, 269, 274: „Der Vertrag […] stellt in den kontinentalen Rechten[…] den Regelfall der Privatautonomie dar.“ 5 So Kleinig, Paternalism, 1984, S. xi und S. 1. 6 Vgl. den Befund bei Ogus, Legal Studies 30 (2010), 61, 63 f. 7 S. statt vieler etwa Dauner-Lieb, AcP 210 (2010), 580, 595, wenn sie ausführt, dass „die Entscheidungen des BVerfG zur Inhaltskontrolle eines Ausschlusses einer Karenzentschädigung für Handelsvertreter sowie von Familienbürgschaften und Eheverträgen unter den Generalverdacht eines paternalistischen Schutzes des Schwächeren, auch vor sich selbst, gestellt“ würden; Mülbert/ Zahn, FS Maier-Reimer, 2010, S. 457, 463 f.: „Mit dem Leitbild des mündigen Bürgers ist es […] nicht vereinbar, Verbraucherschutzvorschriften zu paternalistischen Schutzinstrumenten zu erheben, die auch gegen den erklärten freien Willen des Verbrauchers eingreifen.“; allgemein zur Paternalismuskritik im privatrechtlichen Schrifttum Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1193 m.w.N.; vgl. hierzu schließlich Möslein, Dispositives Recht, 2011, S. 132 f. 8 Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 285: „Contrary to the prevailing rhetoric of policymakers (and much of the legal literature), the legal systems of all western liberal democracies contain innumerable paternalistic rules and doctrines.“; vgl. auch Burrows, Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 502: „It is apparent that the courts and legislatures of many industrialized countries do not adhere strictly to the classical proposition that all contracts between private parties that are nonfraudulent and have no adverse effects on third parties should be enforced by the state.“ 9 So der Befund bei Ogus, Legal Studies 30 (2010), 61, 63 f.; jüngst auch Zimmer, Weniger Politik!, 2013, sowie Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2012; vgl. ferner Kirste, JZ 2011, 805; für das Gesellschafts(vertrags)recht bereits Zöllner, FS GmbHG, 1992, S. 85 ff. 10 S. wiederum Ogus, Legal Studies 30 (2010), 61, 63; s. für entsprechende Diskussionsbeiträge jüngst Eidenmüller, JZ 2011, 814 ff.; Kirste, JZ 2011, 805 ff.; knapp auch Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, 2012, S. 260 ff.; monographisch Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2012; aus schweizerischer Perspektive M. Müller, ZSR 131 (2012) I, 63 ff.
II. Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsziel
3
II. Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsziel Die vorliegende Untersuchung setzt an diesem Befund an. Sie unternimmt es, die Voraussetzungen und Grenzen rechtspaternalistischer Intervention in die Freiheit zur vertraglichen Selbstbindung im Privatrecht auszuloten. Auf diese Weise will sie einen Beitrag zu einer allgemeinen Theorie legitimen Rechtspaternalismus als Teil der umfassenderen Diskussion um die Grenzen der Privatautonomie leisten. Eine gewinnbringende Analyse des Rechtspaternalismus im Vertragsrecht setzt einen unvoreingenommenen Blick auf den Untersuchungsgegenstand voraus. Der Begriff des Paternalismus wird daher ohne jede negative Konnotation rein deskriptiv verwendet.11 Er beschreibt nach hiesigem, an die Erkenntnisse der philosophischen Paternalismusdiskussion angelehnten Verständnis die nicht konsentierte Beeinträchtigung der (Handlungs-)Freiheit oder Selbstbestimmung eines Individuums durch den Staat (oder eine andere Person) zu dem Zweck, das Wohl des betroffenen Individuums zu steigern (oder dessen Verringerung zu verhindern) oder auf irgendeine Weise dessen Interessen, Werte oder Wohlergehen zu fördern.12 Die Arbeit zielt auf die Entwicklung einer Konzeption der Zulässigkeitsbedingungen von Rechtspaternalismus im vertraglichen Privatrechtsverkehr. Mit ihr soll ein handhabbares Analyse- und Rationalisierungsinstrument bereitstehen, das die Berechtigung und Zulässigkeit rechtspaternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit de lege lata sowie de lege ferenda für den konkreten Fall (besser) ermitteln kann. Die Bestimmung klarer, operabler Voraussetzungen für den rechtspaternalistischen Eingriff dient dabei dem Ziel, sowohl die Gesetzgebung als auch die Rechtsprechung beim Einsatz rechtspaternalistisch motivierten Vertragsrechts zu disziplinieren und so die Vertragsfreiheit der Rechtsunterworfenen gegen übermäßigen Rechtspaternalismus zu schützen.
III. Untersuchungsmethode – Der verwendete Forschungsansatz Für die Entwicklung dieses rechtswissenschaftlichen Paternalismuskonzepts bedient sich die Arbeit im Wesentlichen der rechtsökonomischen Methode. Zur Ausfüllung des verfassungsrechtlichen Rahmens rechtspaternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit erscheint die ökonomische Analyse des Rechts be11 Die Bedeutung dieser wertfreien Betrachtung betonen etwa Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159 ff., 1166: „The thrust of our argument is that the term ‘paternalistic’ should not be considered pejorative, just descriptive.“; in der Sache ferner dies., Nudge, 2008, S. 4 ff. 12 So die Definition von Paternalismus bei G. Dworkin, Paternalism, 2010, in: Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy; s. noch ausführlich unten unter § 2 II; eine ganz ähnliche Definition findet sich bei Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 8; anders hingegen Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2012, S. 30 f., 62 ff., 101 ff. und öfter, der entgegen der üblichen Sprachregelung auch regulatorische Freiheitsbeschränkungen zum Schutz Dritter bzw. zur Verhinderung oder Reduzierung von Externalitäten unter den Paternalismusbegriff subsumiert.
4
§ 1 Einführung in das Thema
sonders geeignet, da hier Verfassungsrecht und ökonomische Vertragstheorie in den grundlegenden Positionen und Wertungen übereinstimmen: Vertragsfreiheit stellt in beiden Systemen den Grundzustand dar. Abweichungen hiervon sind rechtfertigungsbedürftig. Der Begründung mit dem verfassungsrechtlichen Bild vom freien und selbstbestimmten Menschen entspricht die ökonomische Vorstellung, dass sich die Wohlfahrt der Vertragsparteien an ihren eigenen Präferenzen bemisst.13 Für die hier unternommene rechtsökonomische Konzeption eines legitimen Rechtspaternalismus wird allerdings das rigide und gelegentlich wirklichkeitsfremde Verhaltensmodell des homo oeconomicus durch die Erkenntnisse der verhaltensökonomischen, d.h. psychologischen und experimentalökonomischen Forschung modifiziert. Zu den Kerneinsichten der Verhaltensökonomik gehört es nämlich, dass menschliche Entscheider nicht stets rational handeln, sondern unter kognitiven Beschränkungen und Wahrnehmungsverzerrungen leiden, die zu systematischen Entscheidungsfehlern führen. Die hieran anknüpfende verhaltensökonomische Analyse des Rechts (Behavioral Law and Economics) ist in den Vereinigten Staaten inzwischen fest etabliert14 und gewinnt auch hierzulande rasch an Zuspruch.15 Gerade für die hier interessierende Frage nach der Legitimation rechtspaternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit kann die Bedeutung der verhaltensökonomischen Erkenntnisse kaum überschätzt werden, liefern diese doch die empirischen Grundlagen für die Annahme, dass eine Vertragsschlussentscheidung in bestimmten Fällen nicht den tatsächlichen Präferenzen des Entscheiders entspricht. Es nimmt daher auch nicht wunder, dass die Anhänger der Behavioral Law & Economics aus den empirisch belegten Entscheidungsfehlern von Beginn an rechtspaternalistische Handlungsempfehlungen abgeleitet haben. Sie treten der überkommenen Skepsis gegenüber derart motivierten legislativen oder judiziellen Eingriffen in die Privatautonomie mit dem Hinweis auf allfällige Verhaltensanomalien entgegen („Anti-Antipaternalismus“). Diese verbreitete rechtspolitische Strömung begreift einen derart begründeten Rechtspaternalismus als libertäre Intervention, da sie der „eigentlich“ gewollten, „guten“ 13 S. beispielhaft für ihr Konzept eines „libertären Paternalismus“ Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1201: „Our only qualification is that when third party effects are not present, the general presumption should be in favor of freedom of choice, and that presumption should be rebutted only when individual choice is demonstrably inconsistent with individual welfare.“; vgl. ferner Ott, FS Kübler, 1997, S. 21 ff. 14 Grundlegend Sunstein, U. Chi. L. Rev. 64 (1997), 1175 ff.; Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471 ff.; Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051 ff.; sowie die Beiträge in Sunstein (ed.), Behavioral Law and Economics, 2000. 15 S. etwa die Beiträge in den Sammelbänden Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007; Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011; ferner bereits Fleischer, FS Immenga, 2004, S. 575 ff.; Eidenmüller, JZ 2005, 216 ff.; ders., JZ 2011, 814 ff.; Wagner, ZZP 121 (2008), 5 ff.; monographisch Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006; ferner van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S. 82 ff.; Bechtold, Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 22 ff.
IV. Einordnung in die Debatte um Funktion und Grenzen der Privatautonomie
5
Entscheidung zum Durchbruch verhelfe und so nicht nur die Gesamtwohlfahrt steigere, sondern auch die individuelle Entscheidungsfreiheit vor ihrer fehlerbefangenen Ausübung schütze („libertärer Paternalismus“).16 Sie ist inzwischen auch außerhalb der rechtswissenschaftlichen Diskussion auf großes Interesse gestoßen.17 Die Arbeit nimmt diese Debatte auf und lotet das Potential der verhaltensökonomischen Erkenntnisgewinne zur Begründung rechtspaternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit der Rechtsunterworfenen theoretisch aus und überprüft sie praktisch anhand der Referenzgebiete des Familien-, Gesellschaftsund Verbraucherrechts. Sie versteht sich damit auch als Teil eines Forschungsprogramms zur Erprobung der Leistungsfähigkeit der verhaltensökonomischen Analyse des Rechts. Zudem wird die Untersuchung um rechtsvergleichende Seitenblicke ergänzt. Diese eröffnen nicht nur eine andere Perspektive auf das konkrete Regelungsproblem, sondern dienen auch der Vergewisserung über bereits gewonnene Ergebnisse.
IV. Einordnung in die Debatte um Funktion und Grenzen der Privatautonomie Die hier vorgelegte Untersuchung ist ein Beitrag zur allgemeineren Diskussion um Funktion und Grenzen der Privatautonomie in einer freiheitlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Dieser Debatte wird zurzeit eine Hochkonjunktur in nahezu allen Bereichen des Privatrechts bescheinigt.18 Zum Beleg verweist man unter anderem auf die Diskussion um die Grenzen der Ehevertragsfreiheit, die Debatte um die Privatautonomie bei letztwilligen Verfügungen, Überlegungen zur Auflockerung der Satzungsstrenge im Aktienrecht oder über die richterliche Kontrolle und Korrektur von Gesellschaftsverträgen im Personengesellschaftsrecht sowie die Sicherung der Privatautonomie im gemeinschaftsrechtlich präformierten Verbrauchervertragsrecht. Prominente Stimmen 16
Programmatisch Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159: „Libertarian Paternalism is not an Oxymoron.“; zuvor bereits Sunstein, U. Chi. L. Rev. 64 (1997), 1175, 1178; Jolls/Sunstein/ Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471, 1541 ff.; zur Rezeption für das deutsche Recht etwa Eidenmüller, JZ 2011, 814 ff.; vgl. auch das Konzept des „Asymmetrischen Paternalismus“ von Camerer/Issacharoff/Loewenstein/O’Donoghue/Rabin, U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211 ff.; aus verfassungsrechtlicher Perspektive ferner van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff. 17 So ist das populärwissenschaftliche Buch „Nudge – Improving Decisions, About Health, Wealth, and Happiness“ von Thaler und Sunstein in seiner deutschen Übersetzung im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt worden. 18 S. dazu wie zum Folgenden Dauner-Lieb, AcP 210 (2010), 580, 581 f.; vgl. insofern auch die neueren regulierungstheoretischen Arbeiten von Möslein, Dispositives Recht, 2011, und Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, 2012; sowie die Beiträge in Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012. Dieser Befund steht letztlich nicht im Widerspruch zu der Beobachtung, dass die gegenwärtige Debatte nur der bislang letzte Akt einer Jahrzehnte währenden Grundsatzdebatte ist, vgl. insofern die Ausführungen bei Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191 ff.; Zöllner, FS GmbHG, 1992, S. 85 ff. m.zahlr.N.
6
§ 1 Einführung in das Thema
im zivilrechtlichen Schrifttum machen hier Reflexions- und Begründungsdefizite im Grundsätzlichen aus. Dies betrifft etwa das Verhältnis von materiell zwingendem Recht und dem sog. Informationsmodell, verstanden als eine durch Information angeleitete Vertragsfreiheit19, aber auch die Frage, warum die Gerichte den Vertragsschluss in bestimmten Fällen daraufhin überprüfen, ob er Ausdruck einer „materialen“ Vertragsfreiheit ist, während es in anderen Fällen allein auf die „formale“ Vertragsfreiheit ankommen soll20. Vor allem die rechtsökonomisch geprägte Zivil- und Vertragsrechtsforschung schickt sich an, diesen Fragen auf den Grund zu gehen, und kann hier auch schon einige Fortschritte verzeichnen.21 Die vorliegende Arbeit knüpft an diese Forschungslinie an und unternimmt es, auf alle diese Fragen nach Funktion und Grenzen der Privatautonomie für das hier untersuchte Thema der Zulässigkeitsbedingungen rechtspaternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit eine Antwort zu finden. Hierbei wird sich zeigen, dass die zu beobachtende „Materialisierung“ des Vertragsrechts dort begründet werden kann, wo sie den beschränkten Fähigkeiten menschlicher Entscheider in angemessener Weise Rechnung trägt.
V. Gang der Untersuchung Die Untersuchung beginnt mit einer Vergewisserung über die grundlegenden Einsichten der philosophischen Paternalismusdebatte (§ 2). Hierbei wird der Paternalismusbegriff geschärft und gegenüber anderen Regelungsmotiven abgegrenzt. So trifft bereits die philosophische Diskussion um die Zulässigkeit von Paternalismus die für die weitere Untersuchung ganz maßgebliche Unterscheidung zwischen weichem und hartem Paternalismus. Diese Unterscheidung betrifft die grundsätzliche Frage, ob für das „Ob“ und „Wie“ der Intervention an den eigenen Präferenzen des Schutzadressaten Maß genommen wird oder nicht. Der folgende Abschnitt würdigt die rechtspaternalistische Intervention in die Vertragsfreiheit aus verfassungsrechtlicher Perspektive, spannt mithin den grundgesetzlichen Rahmen auf, innerhalb dessen ein Konzept zulässigen Rechtspater19 S. Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1195: „Was in Deutschland bislang fehlt, ist eine Grundsatzdiskussion, in welcher der Paradigmenwechsel der Gesetzgebung – weg vom sachlich zwingenden Recht und hin zu einer durch Information angeleiteten Vertragsfreiheit – rechtspolitisch bewertet wird. Auch die rechtsökonomische Forschung beginnt erst seit kurzem, das ,Informationsmodell‘ auf seine Tauglichkeit zu durchleuchten.“; dazu auch Stürner, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1489 ff. 20 Vgl. N. Jansen, in: R. Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 125, 160: „Plausible Erklärungen, warum es bisweilen auf die ,materielle‘ Privatautonomie ankomme, obwohl normalerweise die ,formale‘ genüge, sind aber schwer zu finden“. 21 S. bspw. Wagner, ZEuP 2010, 243 ff.; Eidenmüller, JZ 2011, 814 ff.; die Beiträge in Wagner (ed.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics, 2009; und in Eidenmüller et al. (Hrsg.), Revision des Verbraucher-acquis, 2011; monographisch ferner Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010.
V. Gang der Untersuchung
7
nalismus im Vertragsrecht zu entwickeln ist (§ 3). Die rechtspaternalistische Intervention erweist sich dabei als grundrechtsrelevante Maßnahme, die mit Grundrechtsverzicht, Eingriff und Schutzpflicht verschiedene grundrechtsdogmatische Anknüpfungspunkte bietet. In der Sache ist dabei zwischen Schutz vor Paternalismus und Schutz durch Paternalismus zu unterscheiden. Der noch recht abstrakte verfassungsrechtliche Rahmen rechtspaternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit wird im Folgenden durch die Entwicklung eines verhaltensökonomisch fundierten Konzepts effizienten Rechtspaternalismus ausgefüllt und präzisiert. Die Arbeit geht hierfür in zwei Schritten vor: In einem ersten Schritt entwickelt sie auf dem Boden hergebrachter wohlfahrtsökonomischer und vertragstheoretischer Erkenntnisse ein Konzept effizienten Rechtspaternalismus (§ 4). Effizienz als normativer Maßstab bedeutet hierbei die (Gesamt-)Wohlfahrtsmaximierung der Vertragsparteien, die sich nach den individuellen Präferenzen der Kontrahenten bestimmt. Als bedeutsamster Anknüpfungspunkt für eine effiziente rechtspaternalistische Intervention stellen sich danach Rationalitätsdefizite dar, die verhindern, dass die Vertragsparteien durch den Vertragsschluss eine tatsächlich ihren Präferenzen entsprechende Entscheidung treffen. Im anschließenden zweiten Schritt wird dieses Konzept um die Erkenntnisse der verhaltensökonomischen Forschung angereichert und mit ihrer Hilfe fortentwickelt (§ 5). Diese Erkenntnisse liefern durch ihre Belege systematischer Entscheidungsfehler die empirische Grundlage zur Rechtfertigung einer rechtspaternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit. Nach der Entfaltung des verhaltensökonomisch fundierten Konzepts eines effizienten Rechtspaternalismus schließt der grundlegende Teil der Arbeit mit einem Zwischenfazit (§ 6). Im Anschluss an diese Grundlegung wird das hier entwickelte Paternalismuskonzept im folgenden Teil der Arbeit praktisch überprüft, indem es auf die Referenzgebiete des Ehevertrags-, Gesellschafts- und Verbraucherkreditrechts angewendet wird. Den Anfang macht dabei die Untersuchung der paternalistischen Intervention des Gesetzgebers sowie der Gerichte im Ehevertragsrecht (§ 7). Auf diesem Gebiet haben sich in den letzten Jahren grundstürzende Entwicklungen zugetragen. Diese sind ganz wesentlich durch die berühmte Entscheidung des BVerfG vom 6.2.200122 angestoßen worden, die den Globalverzicht einer hochschwangeren Frau auf einen nachehelichen Vermögensausgleich zum Gegenstand hatte. Hieran anschließend wendet sich die Arbeit dem Gesellschaftsrecht zu, genauer: dem gesellschafterschützenden Binnenrecht der Personengesellschaften und der personalistischen GmbH (§ 8). Die Analyse paternalistisch motivierter Schranken gesellschafterlicher Vertragsfreiheit nimmt dabei drei prominente Streitthemen näher in den Blick: (1) die rechtliche Anerkennung sog. (freier) Hinauskündigungsklauseln, (2) die Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit von Abfindungsbeschränkungen sowie (3) die Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht. Als letztes Referenzgebiet nimmt sich die Arbeit 22
BVerfGE 103, 89 ff.
8
§ 1 Einführung in das Thema
das Verbraucherkreditrecht als Ausschnitt des immer stärker anwachsenden Verbrauchervertragsrechts vor (§ 9). Diese Rechtsmaterie wird aufgrund der ausgreifenden Tätigkeit des Unionsgesetzgebers stark durch europäisches Richtlinienrecht präformiert. Für die Behebung von Verhandlungsasymmetrien zwischen Verbraucher und Unternehmer galt bislang das sog. Informationsmodell als regulatorische Antwort der Wahl. Zunehmend gewinnt aber auch hier die Erkenntnis an Boden, dass eine verbraucherschützende Regulierung nur dann Erfolg verspricht, wenn sie die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik über das tatsächliche Verbraucherverhalten wesentlich stärker als bisher berücksichtigt. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung ihrer wesentlichen Ergebnisse (§ 10).
Zweiter Teil
Grundlegung § 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion I. Einführung Die Frage nach Rechtfertigung und Grenzen (rechts-)paternalistischer Intervention wird in der Philosophie bereits seit langer Zeit diskutiert. Die im Rahmen dieser Debatte gewonnenen Einsichten ermöglichen eine von der (zivil-)rechtlichen Systematik unabhängige rechtsethische Analyse, die in verschiedener Hinsicht für das hiesige Thema der paternalistisch motivierten Begrenzung privatrechtlicher Selbstbindung erkenntnisstiftend sein kann. So deckt die philosophische Diskussion die Prämissen bestimmter Argumente und Folgerungen für das hier interessierende Thema auf, die in der rechtswissenschaftlichen Diskussion häufig allenfalls implizit vorausgesetzt werden, und hilft verschiedene Begründungsmuster und Argumentationstopoi ins Verhältnis zu setzen. Die ethische Analyse der Paternalismusfrage liefert damit nicht nur die Maßstäbe für eine kritische Kontrolle der mithilfe der Rechtsdogmatik gewonnenen Ergebnisse1, sondern kann für die Gewinnung dieser Ergebnisse auch positive Anregung sein2. Dementsprechend geht es im Folgenden weder darum, in der philosophischen Debatte Stellung zu beziehen, noch um eine Antwort auf die grundlegende Frage, inwieweit das Recht ethischen Grundsätzen genügen muss.3 Vielmehr soll der Vorrat an (rechts-)philosophischen Einsichten und Argumenten gesichtet werden, um den Blick für die entscheidenden Fragen des Paternalismusproblems zu schärfen und die eigenen (juristischen) Erkenntnisse zu prüfen. Weil die ideengeschichtliche Einordnung der einzelnen philosophischen Positionen hierzu nichts beiträgt, wird weitestgehend auf sie verzichtet. Da die vorliegende Arbeit keine rechtsphilosophische ist, kann es bei den folgenden Ausführungen nur um eine überblicksartige Darstellung der philosophi1 Vgl. Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 63 in Bezug auf die Einwilligung und die Parömie „volenti non fit iniuria“; gleichsinnig Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 25: „Zum zweiten kann die Philosophie dabei helfen, Widersprüche einer bestehenden grundrechtsdogmatischen Konzeption aufzudecken.“ 2 Vgl. Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 25 und passim für die Grundrechtsdogmatik. 3 Vgl. wiederum Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 63 in Bezug auf die Einwilligung und die Parömie „volenti non fit iniuria“.
10
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
schen Paternalismusdebatte gehen. Diese tour d’horizon muss sich notwendigerweise auf eine Auswahl der einschlägigen philosophischen Einzelfragen und Positionen beschränken. In Konsequenz dieser notwendigen Auswahl konzentrieren sich die folgenden Ausführungen weitgehend auf die Paternalismusdiskussion in der angelsächsischen politischen Philosophie, die in John Stuart Mills Essay über die Freiheit („On Liberty“)4, der wohl berühmtesten und einflussreichsten Schrift zum Paternalismus, ihren Ausgang nahm und in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts neuerlich an Momentum gewann. Zu den Impulsgebern dieser neueren Entwicklung gehören Philosophen wie Feinberg, Kleinig oder Gerald Dworkin. Demgegenüber bleibt eine andere philosophische Traditionslinie, nämlich die Diskussion des Paternalismus in der politischen Theorie der Aufklärung, weitgehend ausgeklammert. Die Früchte dieser Denktradition sind anderorts im Detail nachzulesen.5 Größeres Augenmerk wird allerdings auf die Beiträge von Kant und Wilhelm von Humboldt gelegt, deren wirkmächtige Ideen in die angelsächsische Diskussion eingeflossen sind6.
II. Der Paternalismusbegriff – Definition und Abgrenzung In der philosophischen Paternalismusdebatte ist – wenig überraschend – bereits der Paternalismusbegriff selbst Gegenstand der Diskussion7. Für die hiesigen Zwecke genügt es, die – zumindest ganz mehrheitlich – anerkannten Kernelemente einer Paternalismusdefinition herauszustreichen und die paternalistischen von anders motivierten Freiheitsbeschränkungen abzugrenzen.
1. Konstitutive Begriffselemente – Definitionsvorschläge des Schrifttums Das philosophische Schrifttum hält zwar zahlreiche, sich im Detail durchaus voneinander unterscheidende8 Paternalismusdefinitionen bereit. Die Vielzahl der Begriffsbeschreibungen lässt sich aber auf gemeinsame oder doch zumindest weitgehend anerkannte Kernelemente zurückführen. Einen ersten Anhaltspunkt hierfür bietet Mill in seinem Essay über die Freiheit. In seiner Ablehnung 4
Mill, On Liberty, 1859. S. etwa Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 5 ff. und jüngst Grunert, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 9 ff. 6 Ein eindrucksvolles Beispiel einer solchen Rezeption ist etwa die Verarbeitung von Wilhelm v. Humboldts Werk „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ in Mills „On Liberty“. Vgl. diesbzgl. etwa die Verweise auf v. Humboldt bei der Mill-Analyse von J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Recht und Paternalismus, 2006, S. 55 ff. 7 S. für einen neueren Beitrag zur Debatte um den Paternalismusbegriff Grill, Res Publica 13 (2007), 441 ff. 8 Vgl. Grill, Res Publica 13 (2007), 441 ff. m.w.N.; ferner die Einschätzung bei G. Dworkin, Paternalism, 2010, in: Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, sub 2. und van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 122. 5
II. Der Paternalismusbegriff – Definition und Abgrenzung
11
von Paternalismus beschreibt er das Phänomen: „He [scil. any member of a civilized community] cannot rightfully be compelled to do or forbear because it will be better for him to do“9. Ganz ähnlich fasst ein aktueller Beitrag Paternalismus als „Zwang zur Verhütung von Selbstschädigung“ zusammen.10 Gerald Dworkin präzisiert in seinem Eintrag in der Stanford Encyclopedia of Philosophy: „Paternalism is the interference of a state or an individual with another person, against their will, and defended or motivated by a claim that the person interfered with will be better off or protected from harm.“11 Er schlüsselt diese Definition in drei konstitutive Elemente für ein paternalistisches Verhalten Z von X gegenüber Y auf: Z (oder sein Unterlassen) beeinträchtigt die (Handlungs-)Freiheit oder Selbstbestimmung von Y (1). X tut dies ohne Y’s Zustimmung (2). X tut dies (allein) deshalb, weil Z das Wohl von Y steigert (und sei es, indem es eine Verringerung von Y’s Wohl verhindert) oder auf irgendeine Weise Y’s Interessen, Werte oder Wohlergehen fördert (3).12 Von anderen Freiheitsbeschränkungen unterscheidet sich Paternalismus folglich durch sein Motiv (Bedingung 3), das (vermeintliche) Wohl des Adressaten der paternalistischen Intervention zu fördern. Angesichts der Tatsache, dass Handlungen (und Unterlassungen) häufig ein Motivbündel zugrunde liegt13, formuliert Kleinig: „X acts paternalistically in regard to Y to the extent that X, in order to secure Y’s good, as an end, imposes upon Y.“14
2. Zu den Begriffsmerkmalen im Einzelnen 2.1 Beschränkung der Freiheit oder Selbstbestimmung Die vorstehende Auflistung von Definitionsvorschlägen aus der philosophischen Literatur weist bereits auf eine Ausweitung der Verhaltenskomponente des Paternalismusbegriffs von der Ausübung von Zwang (coercion) zur umfassenderen Beschränkung oder Beeinträchtigung (interference) der Handlungsfreiheit oder Autonomie hin, die auch in einem Unterlassen bestehen kann.15 Der Begriff des Zwanges hat sich gerade auch im Hinblick auf Rechtspaternalismus als zu eng erwiesen. Er trägt zwar bereits recht weit, wenn man eine staatliche Maßnahme, die ein Verhalten zwar nicht verbietet, aber doch verteuert, als „zwingend“ ansieht, 9
Mill, On Liberty, 1859, S. 22. J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55. 11 G. Dworkin, Paternalism, 2010, in: Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy. Etwas anders noch ders., in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 20; dazu Kleinig, Paternalism, 1984, S. 5 ff. 12 G. Dworkin, Paternalism, 2010, in: Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, sub 2. 13 Hierauf eindringlich hinweisend Grill, Res Publica 13 (2007), 441 ff. 14 S. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 13 (Hervorhebung nur hier). 15 Vgl. beispielhaft die Neudefinition von G. Dworkin, Paternalism, 2010, Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, gegenüber seiner Begriffsbestimmung in Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 20. 10
12
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
da sie eine Art Strafzahlung anordnet oder gar ein De facto-Verbot darstellt, wenn und weil sie das Verhalten unerschwinglich oder jedenfalls gänzlich unattraktiv macht.16 Vom Begriff des Zwanges nicht erfasst wären hingegen bloße Unterlassungen17, wie beispielweise die staatliche Nichtanerkennung eines Vertrages, die gleichwohl freiheitsbeschränkend wirkt, etwa weil sie einer Partei die Möglichkeit der Kreditaufnahme – wenn auch nur zu einem sehr hohen Zinssatz – aus der Hand schlägt.18 Der Ausschluss solchen Verhaltens aus dem Paternalismusbegriff ließe sich jedoch nach wohl einhelliger Ansicht nicht überzeugend begründen.19 2.2 Sicherung des Wohls des von der Freiheitsbeschränkung Betroffenen als Endzweck Von anderen Freiheitsbeschränkungen unterscheidet sich Paternalismus durch sein Motiv: Paternalismus hat die Förderung oder Erhaltung des Wohls des Adressaten der Freiheitsbeschränkung zum Ziel. 2.2.1 Theoretische Abgrenzung Theoretisch lässt sich die paternalistische Freiheitsbeschränkung aufgrund ihres Motivs von der drittschützenden sowie von der „moralistisch“ motivierten Intervention abgrenzen.20 Der paternalistischen Intervention wird in der ethischen Debatte üblicherweise die Freiheitsbeschränkung zum Schutz anderer vor Schaden gegenübergestellt.21 Diese auf den ersten Blick einfache Unterscheidung kann jedoch dort schwierig werden, wo eine Freiheitsbetätigung beschränkt wird, welche die Interaktion mehrerer voraussetzt. Wird hier die Freiheit des einen Beteiligten beschränkt, um das Wohl des anderen Beteiligten zu schützen, sprechen einige von indirektem Paternalismus. Ein Beispiel hierfür ist das Verbot des Drogenverkaufs.22 16
So bereits Mill, On Liberty, 1859, S. 180; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Paternalismusdefinition bei Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 62 f.; ferner van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 138 f. zu den Kosten von bloßen Wahlhilfen. 17 Gegen einen völligen Ausschluss bloßer Unterlassungen aus der Paternalismusdefinition etwa auch Shiffrin, Phil. & Pub. Aff. 29 (2000), 205, 225. 18 S. zu diesem Beispiel Kleinig, Paternalism, 1984, S. 5 f.; vgl. ferner Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 130. 19 Vgl. etwa Kleinig, Paternalism, 1984, S. 5 f.; ferner – jedenfalls im Ausgangspunkt – Shiffrin, Phil. & Pub. Aff. 29 (2000), 205, 225 ff.; schließlich bereits Mill, On Liberty, 1859, S. 183 ff.; in der Sache auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 21. 20 Vgl. etwa J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55. 21 Das bekannteste Beispiel hierfür ist sicher Mill, On Liberty, 1859, S. 22, der sein „harm principle“ mit dem Paternalismusverbot verschränkt. S. dazu nur G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19; anders jüngst aus ökonomischer Perspektive Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 30 f., 101 ff. 22 S. hierzu nur Kleinig, Paternalism, 1984, S. 11.
II. Der Paternalismusbegriff – Definition und Abgrenzung
13
Paternalismus lässt sich des Weiteren von der „moralistisch“ motivierten Freiheitsbeschränkung abgrenzen. Entsprechend unterscheidet man Rechtspaternalismus von Rechtsmoralismus (legal moralism).23 Anders als beim Paternalismus gründet die „moralistisch“ motivierte Intervention alleine in der Unsittlichkeit des Verhaltens; eines (drohenden) Schadens für irgendwelche Individualinteressen (harm) bedarf es nicht.24 Nicht wenige U.S.-amerikanische Rechtsphilosophen verstehen jedenfalls einige Fallgruppen der Lehre von der Unwirksamkeit übervorteilender oder ausbeutender Verträge (sog. unconscionability doctrine) eher als „rechtsmoralistisch“ denn als paternalistisch. Das Nichtigkeitsverdikt beruhe in diesen Fällen auf der Immoralität des Vertragsinhalts an sich oder der Überlegung, dass eine Vertragspartei die Schwächen der anderen nicht ausbeuten solle.25 2.2.2 Praktische Vermischung – Motivbündel und unreiner Paternalismus Die theoretisch zumeist relativ einfache Abgrenzbarkeit von paternalistischer Intervention auf der einen Seite und drittschützender oder moralistischer Maßnahme auf der anderen Seite darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme in der Praxis häufig ein Motivbündel zugrunde liegt.26 Dies gilt auch für rechtliche Maßnahmen, wie freiheitsbeschränkende Gesetzesbestimmungen.27 Solche Maßnahmen, die nicht allein auf paternalistischen Motiven beruhen werden als „unrein“ (impure) oder „gemischt“ (mixed) paternalistisch bezeichnet.28 Sofern und soweit sie nicht bereits durch ihre nichtpaternalistischen Ziele legitimiert werden29, stellen sich für ihre ethische Rechtfertigung dieselben Fragen wie für die rein paternalistische Intervention.30
23 Vgl. etwa Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 13; G. Dworkin, Law and Philosophy 24 (2005), 305 ff., 307. 24 S. etwa G. Dworkin, Law and Philosophy 24 (2005), 305 ff., 307; Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 201, 226. 25 S. etwa Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 13; Shiffrin, Phil. & Pub. Aff. 29 (2000), 205 ff. m.w.N. zur herrschenden Gegenansicht in Fn. 10, 11 und 12. 26 Vgl. etwa G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 20; Grill, Res Publica 13 (2007), 441, 442; Kleinig, Paternalism, 1984, S. 12. 27 Deutlich G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 20: „Almost any piece of legislation is justified by several different reasons, and even if historically a piece of legislation can be shown to have been introduced for purely paternalistic motives, it may be that advocates of the legislation with an anti-paternalistic outlook can find sufficient reasons justifying the legislation without appealing to the reasons that were originally adduced to support it.“ 28 S. nur G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 20; Kleinig, Paternalism, 1984, S. 12. 29 S. insbesondere zur Legitimierung durch den Schutz von Drittinteressen noch unten unter § 2 VII. 30 Vgl. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 178.
14
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
III. Selbstbestimmung und Paternalismus – Zur Rechtfertigungsbedürftigkeit paternalistischer Intervention In der liberalen Tradition, in der jedenfalls die westlichen Rechtsordnungen stehen, ist die individuelle Selbstbestimmung gleichsam der „natürliche“ Zustand. Paternalismus, insbesondere auch und gerade Rechtspaternalismus, als Einschränkung der Selbstbestimmung in eigenen Angelegenheiten ist als Abweichung von diesem Ausgangspunkt ethisch rechtfertigungsbedürftig.31 Warum aber verdient die Selbstbestimmung des Einzelnen Achtung? Über die Antwort auf diese Frage besteht in der philosophischen Diskussion keine Einigkeit. Lässt man alle Einzelheiten und zahlreiche Zwischenformen32 außer Acht, kann man zwei grundlegende Begründungsmuster unterscheiden, nämlich zum einen deontologische und zum anderen konsequentialistische, insbesondere utilitaristische Ansätze.33 Beispielhaft für diese beiden Lager stehen die Lehren von Kant und Mill.34 Diese weisen trotz ihrer Gegensätzlichkeit freilich auch bedeutsame Gemeinsamkeiten auf. Insbesondere ist mit Kleinig noch einmal zu betonen: „The form of justification is different, but the conclusion so far as the status of individual freedom is concerned is much the same.“35
1. Die deontologische Begründung des Rechts auf Selbstbestimmung bei Kant Kant vertritt eine deontologische Pflichtethik, zu deren theoretischen Grundannahmen der freie Wille des Menschen gehört, „nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, […] als gut erkennt.“36 Da der Mensch also als autonomes Wesen unabhängig von sinnlichen Einflüssen nach der Ver31 Vgl. nur Kleinig, Paternalism, 1984, S. xi und S. 1; Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 764 f.; aus dem deutschen Schrifttum jüngst Kirste, JZ 2011, 805 f.; s. auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 105, 107: „It is because of the violation of the autonomy of others that normative questions about the justification of paternalism arise.“; s. andererseits ders., Paternalism, 2010, in: Zalta (ed.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy. 32 S. zu diesen noch später im Text. 33 S. zu diesem Gegensatz allgemein Alexander/Moore, Deontological Ethics, 2007, in: Zalta (ed.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy; im Zusammenhang mit der Paternalismusdebatte etwa Sartorius, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. ix, xi; vgl. auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 66 ff. 34 S. dazu und zum Folgenden auch den instruktiven Überblick bei Kleinig, Paternalism, 1984, S. 24 ff. 35 Kleinig, Paternalism, 1984, S. 25; in der Sache ebenso Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 69 f.; weitergehend noch Hockett, Cornell J. L. & Pub. Pol’y 18 (2009), 391, 465: „So-called ‘deontology’and ‘consequentialism,’ […] vary in respect of ‘focus’ or ‘emphasis,’ but not in respect of prescriptively relevant constitutive elements.“ 36 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 36 f. (S. 41). Genau heißt es dort: „[D]er Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d.i. als gut erkennt.“
III. Selbstbestimmung und Paternalismus
15
nunft handeln und entscheiden kann, ist er in der Lage sich selbst ein moralisches Gesetz zu geben und hieraus Maximen des praktischen Handelns abzuleiten.37 Aus dieser Fähigkeit folgert er die Pflicht zur sittlich guten Handlung.38 Oberstes moralisches Gesetz ist nach Kant der kategorische Imperativ: „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“39 Die Fähigkeit zur moralischen Selbstgesetzgebung begründet aber nicht nur die Pflicht sittlich guten Handelns, sondern ist auch der „Grund der Würde der menschlichen […] Natur“.40 Der Würde des autonomen Menschen entspricht der Achtungsanspruch aller anderen, niemals bloß als Mittel behandelt zu werden.41/42 Macht aber die Fähigkeit zur autonomen Entscheidung die Würde des Menschen aus und besteht ein Gebot diese Würde zu achten, so folgt daraus das ethische Postulat, die Selbstbestimmung des Individuums in eigenen Angelegenheiten zu respektieren.43 Umgekehrt erscheint die paternalistische Usurpation der Entscheidungsmacht des Einzelnen als eine Verletzung des aus der Menschenwürde fließenden Achtungsanspruchs.44 Das Verbot paternalistischer Intervention gilt für Kant nicht nur als Aussage der Ethik, sondern auch als Vorgabe für die Rechtsordnung. Dies ergibt sich aus der Bedeutung der Selbstbestimmung für seinen Rechtsbegriff. Danach ist „Recht […] der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigt werden kann“.45 Hieraus wiederum leitet Kant das jedem Menschen zustehende Recht auf freie Entfaltung gemäß seiner willkürlichen Selbstbestimmung ab. „Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben,
37
Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 36 ff., 63 f., 73 ff. (S. 40 ff., 59, 65 ff.). Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 76 (S. 67). 39 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 52 (S. 51). 40 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 79 (S. 69). 41 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 76 f. (S. 67). 42 S. auch die konzise Zusammenfassung bei Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 67. 43 Treffend Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 69. S. auch die ähnlichen Gedanken bei Rawls, Theory of Justice, 1972, S. 544 ff. zur essentiellen Bedeutung der „priority of [equal] liberty“ für die Sicherung des „self-respect“ des Einzelnen. 44 Vgl. auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 105, 107: „The denial of autonomy is inconsistent with having others share the ends of one’s actions – for if they would share the end, it would not be necessary to usurp their decision-making powers. At one level, therefore, paternalism seems to treat others as means[.]“; noch deutlicher ders., Paternalism, 2010, in: Zalta (ed.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy; implizit auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 69. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 28 nennt dies “the Argument from Disrespect for Persons” und rückt es in die Nähe des Mill’schen „Argument from Oppression of Individuality“ [s. auch ders., ebenda, S. 31]. 45 Kant, Metaphysik der Sitten. Erster Teil. Einleitung in die Rechtslehre, § B, A 33 (S. 337). S. auch Ellscheid, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 182 ff. zur Bedeutung der Unterscheidung von Recht und Ethik für die antipaternalistische Lehre Kants. 38
16
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
[…] nicht Abbruch tut“.46 Daher ist für Kant eine „väterliche Regierung […], wo […] die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, [sondern] sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, […] wie sie [nach dem Urteil des Staatsoberhaupts] glücklich sein sollen“, „der größte denkbare Despotismus“.47
2. Die utilitaristische Begründung des Paternalismusverbots bei Mill Die Argumentation mit der John Stuart Mill in seinem überaus einflussreichen Essay „On Liberty“48 das antipaternalistische harm principle verteidigt, gilt weithin als utilitaristisch.49 Dieses Prinzip besagt, dass der einzige Zweck, zu dem die Menschen als Einzelne oder im Kollektiv berechtigt sind, in die Handlungsfreiheit des Einzelnen (durch Zwang) einzugreifen, die Abwendung von Schaden für andere (harm to others) ist. Der physische oder moralische Nutzen für den Handelnden selbst sei hingegen keine taugliche Eingriffsrechtfertigung.50 In den eigenen Angelegenheiten (self-concerning conduct51), die Drittinteressen nicht (hinreichend bedeutsam) berühren, ist der Akteur mithin frei, zu tun und zu lassen, was er will. Er ist niemandem Rechenschaft für sein Verhalten schuldig.52 Er kann nicht rechtmäßigerweise gezwungen werden, etwas zu tun oder zu unterlassen, weil es besser für ihn wäre.53 Dritten bleiben nach Mill in diesen Fällen lediglich die Mittel der Beratung, Überredung oder aber Meidung des Akteurs. Begründet wird dieses Paternalismusverbot damit, dass der gesamtgesellschaftliche Nutzen größer sei, wenn jeder so leben könne, wie es ihm selbst gut dünke, als wenn jeder gezwungen würde, so zu leben, wie es den anderen („the rest“) gut erscheine.54 46
Kant, Über den Gemeinspruch, A 235 f. (S. 145). Kant, Über den Gemeinspruch, A 236 (S. 145 f.), dazu bereits eingangs unter § 1 I. S. zur Ableitung des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen in eigenen Angelegenheiten gegenüber dem Staat aus dem kantischen Rechtsbegriff auch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 20 ff. 48 Mill, On Liberty, 1859. 49 Vgl. etwa R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 276; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 32; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 69. Freilich ist die Einordnung der Mill’schen Argumentation streitig. Dies beruht insbesondere auf dem konsequentialistischem Denken fremden Absolutheitsanspruch, den er für das Prinzip des Antipaternalismus erhebt [vgl. G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 26 ff. sowie Sartorius, in: Sartorius (Hrsg.), Paternalism, 1983, S. 95, 98 f. jew. mit Verweis auf die frühe Kritik von Fitzjames Stephen an Mills Essay]. Sartorius, a.a.O., S. 99 sieht die Lösung für diesen (vermeintlichen) Widerspruch in einem regelutilitaristischen Verständnis der Mill’schen Argumentation [s. zu dieser Einordnung auch Hooker, Rule Consequentialism, 2008 in: Zalta (ed.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, m.w.N., dort auch zum Begriff des Regelutilitarismus]. 50 Mill, On Liberty, 1859, S. 21 f. 51 S. dazu bereits oben unter § 2 III pr. 52 Mill, On Liberty, 1859, S. 168. 53 Mill, On Liberty, 1859, S. 22. 54 Mill, On Liberty, 1859, S. 27: „Mankind are greater gainers by suffering each other to live as seems good to themselves, than by compelling each to live as seems good to the rest.“ 47
III. Selbstbestimmung und Paternalismus
17
„Nutzen“ wird dabei in einem sehr weiten Sinne verstanden, der auf den Interessen des Menschen als „progressive being“ gründet.55 Eine Hauptquelle des menschlichen Wohlbefindens und Glücks sei die freie Entwicklung der eigenen Individualität, die wiederum Voraussetzung für individuellen und sozialen Fortschritt sei.56 Als Gründe für den größeren Nutzen der Selbstbestimmung in eigenen Angelegenheiten als einer (paternalistischen) Fremdbestimmung durch die „Gesellschaft“ (v. Humboldt spricht demgegenüber vom „Staat“57) nennt Mill im Wesentlichen die Folgenden: In einer ersten Argumentationslinie hebt Mill auf die Überlegenheit des Individuums in der Beurteilung des eigenen Wohles gegenüber der Beurteilung durch Dritte ab: „[W]ith respect to his own feelings and circumstances, the most ordinary man or woman has means of knowledge immeasurably surpassing those that can be possessed by any one else“.58 Zu dieser epistemischen Überlegenheit des Individuums tritt die motivatorische: Das Individuum ist selbst am meisten an seinem (eigenen) Wohl interessiert.59 Aus beidem folgert er: Die Maßnahmen der Gesellschaft zur Ersetzung der individuellen Beurteilung dessen, was nur den Einzelnen selbst angeht, muss auf allgemeinen Vermutungen beruhen. Diese seien entweder falsch oder würden doch im konkreten Einzelfall häufig falsch angewendet werden.60 Das gerade auch Rechtspaternalismus für diese Gefahren besonders anfällig ist, liegt auf der Hand.61 Mill kommt daher zu dem Schluss, dass „[a]ll errors which the individual is likely to commit against advice and warning are far outweighed by the evil of allowing others to constrain him to what they deem his good.“62 Den gesamtgesellschaftlichen Nutzen hat Mill wiederum im Blick63, wenn er weiter die Bedeutung selbständigen Entscheidens für die geistige und moralische Entwicklung des Individuums64 und als Gegenkraft zu Konformismus und kollektiver Mediokrität65 herausstreicht. Vor diesem argumentativen Hintergrund erscheint Mills utilitaristische Grundhaltung nicht unbedingt im Widerspruch zu seiner Aussage, dass „[i]f a person 55
Mill, On Liberty, 1859, S. 24. Mill, On Liberty, 1859, S. 100 ff., insb. 102; ganz ähnlich bereits v. Humboldt, Ideen, S. 9 ff., der von „Originalität“ spricht. Hierauf ausdrücklich Bezug nehmend Mill, a.a.O., S. 103. 57 S. v. Humboldt, Ideen, passim. 58 Mill, On Liberty, 1859, S. 137. 59 Mill, On Liberty, 1859, S. 136 f. 60 S. Mill, On Liberty, 1859, S. 136 f. und 149 f.; ganz ähnlich bereits v. Humboldt, Ideen, S. 30. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 28 ff. nennt diese Argumentationslinie treffend „the Argument from Paternalistic Distance“. 61 Vgl. J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 65; v. Humboldt, Ideen, S. 30. 62 Mill, On Liberty, 1859, S. 137 f. 63 Deutlich Mill, On Liberty, 1859, S. 113: „In proportion to the development of his individuality, each person becomes more valuable to himself, and is therefore capable of being more valuable to others.“ 64 S. Mill, On Liberty, 1859, S. 105. Dieser Gedanke ist ebenfalls bereits zu finden bei v. Humboldt, Ideen, S. 20. 65 Mill, ebenda, S. 114 ff., 118 f. 56
18
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
possesses any tolerable amount of common sense and experience, his own mode of laying out his existence is the best, not because it is the best in itself, but because it is his own mode.“66
3. Begründungsansätze der modernen angelsächsischen politischen Philosophie Die Beiträge der modernen angelsächsischen politischen Philosophie zur Paternalismusdebatte nehmen die Ausführungen von Mill in seinem Essay „On Liberty“ gewöhnlich zum Ausgangspunkt ihrer eigenen Überlegungen, ohne dass freilich die Ideen Kants gänzlich ignoriert würden. Dies gilt auch für die zu Beginn aller Überlegungen zu stellende Frage nach der Begründung für Notwendigkeit und Reichweite der Achtung individueller Selbstbestimmung.67 Dabei scheinen rein (akt-)utilitaristische Erklärungen ebensowenig mehr vertreten zu werden wie rein deontologische Konzepte. Die Abkehr von aktutilitaristischen Ansätzen mag nicht zuletzt dem Umstand geschuldet sein, dass im Mittelpunkt der Diskussion die rechtspaternalistische Intervention steht68. In der Konsequenz aktutilitaristischer Theorien liegt es nämlich, in jedem Einzelfall anhand der konkreten Umstände zu prüfen, ob die selbstbestimmte Entscheidung größeren Nutzen zeitigt als der paternalistische Eingriff.69 Ein solcher Ansatz müsste demnach jedwede typisierende Rechtsregel, die paternalistisch motiviert ist, als überschießend verwerfen; ein Ergebnis, das jedenfalls in der angelsächsischen politischen Philosophie weitgehend als unangemessen und unpraktikabel angesehen wird. So ist denn auch neben dem Vorwurf der unzulänglichen Berücksichtigung des Eigenwerts freier Entscheidung70 einer der Haupteinwände der inzwischen wohl mehrheitlich vertretenen rechtebasierten71 Ansätze gegen (akt-)utilitaristische (Anti-)Paternalismustheorien, dass ihre Aussagen von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls abhängig sind und daher durch diese auch widerlegt werden können.72 Die Proponenten rechtebasierter Paternalismuskonzepte gründen die Selbstbestimmung des Einzelnen als Ausgangspunkt aller Überlegungen denn auch auf ein von der Nutzenberechnung im Einzelfall unabhängiges Recht 66 Mill, ebenda, S. 121. S. hierzu auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 27, der hierin ein nicht-utilitaristisches Argument für die Selbstbestimmung des Einzelnen erblickt. 67 Vgl. als Beispiel Kleinig, Paternalism, 1984, S. 24 ff. 68 S. Kleinig, Paternalism, 1984, S. xi. 69 S. nur G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 26 f. 70 Vgl. etwa Kleinig, Paternalism, 1984, S. 54 f.; Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113. 71 Diese sind jedenfalls im Ausgangspunkt der deontologischen Ethik zuzuordnen. S. zu den begrifflichen Zusammenhängen nur Alexander/Moore, Deontological Ethics, 2007, in: Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy. Die dortige Unterscheidung zwischen „agent-centered“ und „patient-centered deontological theories“ entspricht weitgehend derjenigen zwischen pflichtbasierten und rechtebasierten Theorien. 72 S. etwa G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 27; auch Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 5: „arguments of merely statistical kind“; für weitere Einwände s. etwa R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 276 f.
IV. Voraussetzungen autonomen Entscheidens und weicher Paternalismus
19
des Einzelnen auf selbstbestimmtes Entscheiden und Handeln in eigenen Angelegenheiten.73 Die Feinjustierung dieser Theorien erfolgt dann weitgehend im Rahmen der Frage nach den Voraussetzungen selbstbestimmten Entscheidens.74 Über diese Voraussetzungen wird eine „Schwelle“ eingezogen, die diesen Ansätzen die Möglichkeit verschafft, „moralische Katastrophen“ zu vermeiden, die absolut-deontologische Theorien aufgrund ihrer Blindheit für die Konsequenzen eines Verhaltens nicht ausschließen können75. Andere stellen diesen im Kern deontologischen Ansätzen ein regelutilitaristisches76 Paternalismuskonzept entgegen, das auf dem Boden utilitaristischer Nutzenmaximierung ein absolutes Paternalismusverbot auf rechtlicher und institutioneller Ebene rechtfertigen soll.77 Schwellendeontologisch eingefärbte rechtebasierte Paternalismuskonzepte einerseits und regelutilitaristische Paternalismuskonzepte andererseits nähern sich damit trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte weitgehend an und kommen regelmäßig zu denselben Ergebnissen. Diese Parallelität findet in der Rechtswissenschaft ihre Entsprechung in dem Gleichlauf „libertärer“ und „effizienter“ Paternalismuskonzepte.78
IV. Voraussetzungen autonomen Entscheidens und weicher Paternalismus Gleich ob man für die Verteidigung der Freiheit zur Selbstbestimmung auf eine utilitaristische Begründung zurückgreift oder den Eigenwert der Autonomie betont, sämtliche freiheitlichen Paternalismustheorien sind sich einig, dass die selbstbestimmte Entscheidung von gewissen Voraussetzungen abhängig ist.79 73 S. etwa Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 5; ferner G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 27, 28 et passim; ders., in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 105, 107; R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 272 ff.; vgl. auch im Rahmen seines umfassenderen Konzeptes der liberalen Gleichheit ders., Sovereign Virtue, 2000, S. 211, 216 ff.; s. ferner Kleinig, Paternalism, S. 67 ff.; s. die vorstehenden N. auch für die an dieser Stelle verzichtbaren Einzelheiten der verschiedenen Ansätze. 74 Dazu sogleich unter § 2 IV. 75 Vgl. dazu instruktiv Alexander/Moore, Deontological Ethics, 2007, in: Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, sub 4. 76 Regelkonsequentialistische Theorien stellen Regeln nach dem alleinigen Maßstab der Vorteilhaftigkeit ihrer Konsequenzen auf, mit deren Hilfe sie dann bestimmen, ob ein konkretes Verhalten moralisch richtig oder falsch ist. S. dazu Hooker, Rule Consequentialism, 2008, in: Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy; zu den theoretischen Problemen dieser Ansätze Alexander/ Moore, Deontological Ethics, 2007, in: Zalta (ed.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, sub 5.2. 77 So Sartorius, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 95, 99 ff. S. zu einem solchen regelutilitaristischen Paternalismuskonzept Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 114: „[I]t leaves the defense of freedom dependent on a contingency. If there is any intrinsic value in freedom, this argument does not give that value its due.“ 78 S. dazu noch unten unter § 4 III.2.6.4; Zweifel am Gleichlauf von „Libertarianism“ und „Rule Utilitarianism“ hegen demgegenüber Alexander/Schwarzschild, QLR 19 (2000), 657 ff.; vgl. auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 365 ff. 79 Auf eine Auseinandersetzung mit deterministischen Anschauungen wird hier verzichtet, obgleich diese durch neuere neurophysiologische Erkenntnisse eine gewisse Stütze zu erhalten schei-
20
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
1. Die Voraussetzungen selbstbestimmten Entscheidens bei Mill Bereits Mill und Kant gingen übereinstimmend davon aus, dass das Verbot paternalistischer Intervention als Konsequenz des Rechts auf freie Selbstbestimmung nicht für Kinder und Geisteskranke gilt.80 Mill erweitert diese Einschränkung des Paternalismusverbots dahingehend, dass eine paternalistische Intervention zugunsten einer Person unzulässig ist, „unless he is a child, or delirious, or in some state of excitement or absorption incompatible with the full use of the reflecting faculty“81. Andernfalls darf ein sich in Gefahr begebender Akteur lediglich vor der ihm drohenden Gefahr gewarnt werden.82 Dies verweist auf Mills berühmtes Brückenbeispiel: Wenn ein Staatsdiener oder sonst jemand sieht, dass eine Person im Begriffe ist, eine baufällige Brücke zu überqueren, so darf er sie von ihrem Unternehmen abhalten, wenn keine Zeit bleibt, sie zu warnen. Denn hierin liege keine echte Freiheitsverletzung, „for liberty consists in doing what one desires, and he does not desire to fall into the river“.83
2. Weicher und harter Paternalismus – Die Konzeption Feinbergs An diese Gedanken Mills anknüpfend hat Joel Feinberg die inzwischen allseits für sinnvoll erachtete Unterscheidung von starkem und schwachem bzw. hartem und weichem (Rechts-)Paternalismus entwickelt. Dem Entscheider zurechenbar seien nur „freiwillige“ Entscheidungen, die nach hinreichender Überlegung in Übereinstimmung mit den eigenen Präferenzen und Wertvorstellungen erfolgen. Hierfür bedürfe er hinreichender Zeit, Information, eines „klaren Kopfes“ und
nen80 [vgl. dazu nur die kurze Übersicht bei Wolff, JZ 2006, 925 f.]. Der Determinismus verneint nämlich die Willensfreiheit des Menschen wie sie unserer Rechtsordnung als Fundamentalparameter zugrunde liegt [vgl. Wolff, JZ 2006, 925, 929 unter Verweis auf Art. 1 Abs. 1 GG; ferner Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 167]. S. zur Bedeutung der Autonomie für die Menschenwürdegarantie noch unten unter § 3 IV.3.2]. Er ist damit für die hiesige Untersuchung nicht verwertbar [s. auch die kurzen und bündigen Ausführungen bei Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 71]. 80 S. Mill, On Liberty, 1859, S. 173; ferner Kant, Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil: Ethische Elementarlehre, § 31, A 125 f. (S. 590 f.): „Kann derjenige, welcher eine ihm durchs Landesgesetz erlaubte Obergewalt über einen übt, dem er die Freiheit raubt, nach seiner eigenen Wahl glücklich zu sein […], kann […] dieser sich als Wohltäter ansehen, wenn er nach seinen eigenen Begriffen von Glückseligkeit für ihn gleichsam väterlich sorgt? […] Ich kann niemand nach meinen Begriffen von Glückseligkeit wohl tun (außer unmündigen Kindern oder Gestörten), sondern nach jenes seinen Begriffen, dem ich eine Wohltat zu erweisen denke, indem ich ihm ein Geschenk aufdringe.“; ausführlich zum paternalistischen Schutz nicht voll Geschäftsfähiger und Minderjähriger Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 41 ff., 173 ff., 189 ff. 81 Mill, On Liberty, 1859, S. 173. 82 S. Mill, On Liberty, 1859, S. 173. So hält er etwa verpflichtende Warnhinweise beim Verkauf von Drogen im Hinblick auf die freie Selbstbestimmung des Einzelnen für unbedenklich. Ganz auf dieser Linie Kirste, JZ 2011, 805, 806 f. 83 Mill, On Liberty, 1859, S. 172 f.
IV. Voraussetzungen autonomen Entscheidens und weicher Paternalismus
21
hinreichend entwickelter intellektueller Fähigkeiten.84 Die von Mill beschriebenen Ausnahmen vom Paternalismusverbot, sei es die Entscheidung aufgrund eines Informationsdefizits wie im Brückenbeispiel, sei es die Entscheidung aufgrund eines anderen Defizits bei der Willensbildung, seien dem Einzelnen als „unfreiwillige“ Entscheidungen (nonvoluntary choices) hingegen ebenso fremd wie die Entscheidungen eines Dritten. Diese Defizite seien daher geeignet, eine paternalistische Intervention zu rechtfertigen. Der Staat dürfe sogar in Fällen, in denen der Inhalt einer Entscheidung eine starke Vermutung begründe, dass der sie treffende Akteur nicht „bei sich“85 sei, diese Vermutung zur Grundlage einer paternalistischen Intervention machen, wenn diese Vermutung nur widerlegbar bleibe. Dabei hätten die „rechtlichen Paraphernalia“, mit Hilfe derer die Übereinstimmung von Vermutung und Wirklichkeit im konkreten Fall überprüft werde, umso anspruchsvoller und elaborierter zu sein, je weittragender die Vermutung sei. Eine solche Form des Paternalismus sei so „schwach und harmlos“, dass dem Staat das Recht zukomme, schädliches Verhalten in eigenen Angelegenheiten immer dann, aber auch nur dann zu verhindern, wenn es „substantiell unfreiwillig“ sei oder eine temporäre Intervention notwendig, um herauszufinden, ob die Entscheidung auf Freiwilligkeit beruhe oder nicht.86
3. Selbstbestimmungsdefizite als Rechtfertigung weichen Paternalismus – Der Meinungs- und Erkenntnisstand in der philosophischen Debatte Die Unterscheidung zwischen „schwachem“ und „starkem“ oder nach anderer Diktion „weichem“ und „hartem“ Paternalismus87 und die Zulässigkeit des ersteren leuchten intuitiv ein und besitzen große Überzeugungskraft. Beide Aussagen haben daher weitgehende Zustimmung erfahren.88 Theoretisch wie praktisch gibt der „Freiwilligkeitsstandard“ jedoch keine Antwort auf die dann entscheidende Frage, welche Wahrnehmungs- und Willensbildungsdefizite zur „Unfreiwilligkeit“ oder Heteronomie der Entscheidung führen. Eine allzu schnelle Be84
Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 7. Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 9 spricht davon, dass der Entscheider „[is not] in his right mind“. 86 Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 9. 87 S. zur Austauschbarkeit der Begriffe etwa Kleinig, Paternalism, 1984, S. 8; auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 105, 107; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 16 f.; anders aber G. Dworkin, Paternalism, 2010, in: Zalta (ed.), The Stanford Ecyclopedia of Philosophy (Online); J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 59 f., wo der Begriff des „schwachen Paternalismus“ allein für die Intervention zur Verbesserung der Informationslage einer Person reserviert wird. 88 Vgl. im Anschluss an Feinberg etwa G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 105, 107 und ff.; ders., Paternalism, 2010, in: Zalta (ed.) The Stanford Ecyclopedia of Philosophy; Kleinig, Paternalism, 1984, S. 14 et passim; vgl. auch Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 16 ff.; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 74 f.; J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 59 ff.; s. aber auch Kirste, JZ 2011, 805, 808 und öfter, der die Kategorie des weichen Paternalismus für überflüssig hält. 85
22
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
ruhigung mit dem bloß „schwach“ paternalistischen Charakter einer (rechtlichen) Intervention muss schon an der Erkenntnis scheitern, dass wir so selten vollständig über die Folgen unseres Verhaltens informiert und so selten frei von psychologischem oder sozialem Druck verschiedenster Art sind, dass eine Intervention praktisch immer als „schwach paternalistisch“ gerechtfertigt werden könnte89, wenn man die Anforderungen an autonomes Entscheiden nur hoch genug setzte.90 Da sich die weitaus meisten menschlichen Entscheidungen irgendwo innerhalb des zwischen den beiden Polen der vollständigen Fremdbestimmung und der vollständigen Selbstbestimmung verlaufenden Kontinuums befinden91, ist es jedenfalls nicht nur eine empirische, sondern auch eine Wertungsfrage, bei welcher „Schwelle“ man die Autonomie einer Entscheidung anerkennt92 mit der Folge, dass paternalistische Eingriffe nicht mehr als „weich“ angesehen werden können. Es vermag daher wenig zu überraschen, dass die philosophische Paternalismusdebatte weit davon entfernt ist, trennscharfe und vor allem allgemein anerkannte Kriterien für eine Abgrenzung von selbstbestimmtem und fremdbestimmtem Verhalten anbieten zu können.93 Dabei wird zwar weitgehend auf dieselben Prüfparameter verwiesen, namentlich die Informationsgrundlage der Entscheidung, die zutreffende Wahrnehmung der für die Entscheidung maßgeblichen Umstände, die Abwesenheit von Zwang, hinreichende Informationsverarbeitungskapazitäten oder analytische sowie emotionale Fähigkeiten.94 Wann aber der Akteur hinreichend informiert ist, um eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen, oder welches Maß an wirtschaftlichem oder psychischem Druck eine autonome Entscheidung noch nicht in Frage stellt, ist damit noch nicht beantwortet. Die in der philosophischen Diskussion unterbreiteten Vorschläge operieren nicht selten mit wertungsoffenen Begriffen und Formeln, denen die Schwäche innewohnt, dass sich die Ergebnisse ihrer konkreten Anwendung häufig nur schwer vorhersagen lassen. So lässt sich etwa Gerald Dworkin bei der Anwendung des von ihm propagierten Maßes der „rationality“ häufig davon leiten, was „plausibel“, „verständlich“ oder „vernünftig“ er-
89 Vgl. auch die hier ansetzende Kritik von Fitzjames Stephen und Hart an Mills rigorosem Paternalismusverbot, referiert bei G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 25. 90 So zutr. Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 115; gleichsinnig Kirste, JZ 2011, 805, 806; eindringlich auch Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, 2012, S. 260 ff.; Gutwald, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 73 ff., die vor einem Autonomie- und Rationalitätsperfektionismus warnen. 91 Zutr. Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 72; in der Sache bereits Kleinig, Paternalism, 1984, S. 9. 92 Vgl. zur Frage, ob es sich hierbei um eine feste oder um eine gleitende Schwelle in Abhängigkeit der Intensität der paternalistischen Intervention handelt bzw. handeln sollte, Kleinig, Paternalism, 1984, S. 9 f. 93 S. für eine Auswahl die Ausführungen bei Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 158 ff. 94 S. bspw. G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 28 ff.; Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 114 ff.
IV. Voraussetzungen autonomen Entscheidens und weicher Paternalismus
23
scheint.95 Es ist freilich schon im Grundsatz fraglich, ob die Philosophie bei der Bestimmung der Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Entscheiden und Handeln mehr zu leisten im Stande ist. Sie kommt wohl nicht umhin, auf die Einsichten der kognitiven Psychologie und der Verhaltensökonomik zurückzugreifen, um die mit den Mitteln der eigenen Disziplin gewonnenen Erkenntnisse weiter zu präzisieren und zu verfeinern. Hierauf wird zurückzukommen sein.96
4. Insbesondere: Selbstbestimmung und die Maßgeblichkeit der eigenen Präferenzen Selbstbestimmtes Entscheiden ist nicht zuletzt durch die Maßgeblichkeit der eigenen Präferenzen des Entscheiders gekennzeichnet.97 Aufgrund dieses Umstandes wird weicher Paternalismus bisweilen auch als den Präferenzen und Wertvorstellungen des Schutzadressaten entsprechender Zwang definiert.98 Dies lässt ihn im Sinne Feinbergs als im Vergleich zum Oktroy fremder Präferenzen mittels harten Paternalismus „harmlos“ erscheinen. Freilich lässt sich die Frage defizitärer Entscheidungsfindung auch auf die Formung von Präferenzen ausdehnen. Wer für die Zulässigkeit paternalistischer Maßnahmen auf die „eigenen Ziele“ der Schutzadressaten abstellen will99, sieht sich zudem der weiteren Schwierigkeit ausgesetzt, dass Entscheider häufig keine wohl ausgearbeiteten Präferenzen haben, sondern diese erst im Laufe des konkreten Entscheidungsprozesses ausbilden. Zudem wird inzwischen weithin akzeptiert, dass die individuellen Präferenzen häufig über die Zeit nicht stabil bleiben.100 Die paternalistisch motivierte Auflösung eines Konflikts von kurzfristigen und langfristigen Wünschen kann dabei nicht einfach durch einen Vorzug der Langzeitpräferenzen geschehen101, sondern muss sich wiederum an den für solche Konfliktlagen bestehenden Präferenzen der betroffenen Person unter Einschluss möglicher Defizite bei der Präferenzformung und -gewichtung orientieren, um als weicher Paternalismus be95 Vgl. G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19 ff. Kritisch hierzu auch Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 158 ff.; s. ferner Kirste, JZ 2011, 805, 813: „Die Autonomie des anderen setzt nur seine Selbstbestimmungsfähigkeit voraus, keine volle rationale Begründbarkeit […]. Nur auf den Willen kommt es an. Daß der Wille nicht vollständig rational ist […], spielt keine Rolle.“ 96 S. unten unter § 5 und in der konkreten Anwendung unter § 7, § 8 und § 9. 97 Vgl. auch Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 7. 98 S. etwa J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 59. 99 So etwa G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 32. 100 Vgl. etwa Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 116; J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 59 f.; auch Kleinig, Paternalism, 1984, S. 58 f. Vgl. in diesem Zusammehang auch die Definition „guten Urteilsvermögens“ bei Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 790 ff.: Danach ist gutes Urteilsvermögen die Fähigkeit zu moralischer Vorstellungskraft als der Befähigung, eine gedankliche Konzeption der moralischen Folgen eines möglichen Verhaltens zu formen und den Effekt auf den eigenen Charakter zu antizipieren. Vorstellungskraft sei nötig, um sich von seinen unmittelbaren Wünschen zu lösen und einen möglichst distanzierten Standpunkt bei der Beurteilung des erwogenen Handelns einzunehmen. 101 S. etwa G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 32.
24
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
zeichnet werden zu können.102 Auch für die Behandlung dieser präferenziellen Zeitinkonsistenzen erscheint es sinnvoll, die einschlägigen Einsichten der kognitiven Psychologie und Verhaltensökonomik fruchtbar zu machen.103
5. Zur Rechtfertigungsbedürftigkeit weich paternalistischer Maßnahmen Auch wenn weicher Paternalismus zum Schutz vor Entscheidungen auf defizitärer Grundlage grundsätzlich für zulässig erachtet wird, bleibt er doch ein Eingriff in die äußere Handlungsfreiheit.104 Zudem ist eine paternalistische Intervention nur insofern „weich“, wie sie im betreffenden Fall zur Behebung bzw. Unschädlichmachung von entscheidungswirksamen Autonomiedefiziten erforderlich ist.105 Bedenkt man schließlich, dass sich „weicher“ und „harter“ Paternalismus umso mehr annähern, je höhere Anforderungen man an die Selbstbestimmung stellt106, wird deutlich, dass eine freiheitliche Ethik (und ebenso eine freiheitliche Rechtsordnung) auch dem bloß weich paternalistischen Intervenienten die Rechtfertigung seiner Intervention trotz ihrer autonomieschützenden Zielrichtung abverlangen muss.
6. Weicher Paternalismus und Erwerb individueller Entscheidungskompetenz Ruft man sich in Erinnerung, dass Mill sein Paternalismusverbot auf der Annahme gründet, dass der Mensch ein der Entwicklung fähiges Wesen ist, und mit der Bedeutung selbständigen Entscheidens für die geistige und moralische Entwicklung des Individuums gegen Paternalismus streitet, so liegt ein gewichtiger Einwand (auch) gegen die weich paternalistische Intervention auf der Hand: Mögen sich die Befürworter einer (weich) paternalistischen Intervention auch auf das Fehlen der Autonomievoraussetzungen in der konkreten Entscheidungssituation berufen können, so ist doch nicht zu verkennen, dass jede derartige Maßnahme dem Entscheider die Gelegenheit nimmt, aus den Konsequenzen einer schlechten Entscheidung zu lernen und so seine Fähigkeiten zu selbstbestimm102
S. etwa J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalimus und Recht, 2006, S. 55, 59 ff. Freilich werden diese Präferenzen zweiter Ordnung regelmäßig zu einem Vorzug der Langzeitpräferenzen führen. 103 S. dazu noch unten unter § 5 II. 104 Vgl. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 58, zum Brückenbeispiel: „An infringement there is: the man wants to step on the bridge and he is prevented from doing so. It will not do to argue that, because a consequence of the man’s stepping on the bridge is that he will fall into the river, and he doesn’t want this, he therefore doesn’t really want to step on the bridge.“ 105 Weitergehend noch Kleinig, Paternalism, 1984, S. 31: „the end of weak paternalism must be autarchy.“ (Hervorhebung nur hier). S. zur Erforderlichkeitsvoraussetzung noch unten unter § 2 VI.2. 106 S. Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 74.
V. Grenzen der Selbstbestimmung und Zulässigkeit harten Paternalismus
25
tem Handeln und Entscheiden (weiter) zu entwickeln.107 Idealiter würde sich so das Bedürfnis des sich derart weiterentwickelnden Entscheiders nach weich paternalistischem Schutz peu à peu reduzieren. Freilich trägt dieser Einwand nur insoweit, als Lerneffekte tatsächlich eintreten würden, die Prämisse der „Entwicklungsfähigkeit“ des Menschen also tatsächlich zutrifft.108 Umgekehrt erfordert unsere Entwicklung und Entwicklungsfähigkeit zum mündigen, selbstbestimmten Akteur sicher nicht, dass uns in eigenen Angelegenheiten sämtliche denkbare Optionen offen stehen.109 Endlich verliert der Einwand dort an Überzeugungskraft, wo einem vergleichsweise geringen Lerneffekt die Gefahr (oder Gewissheit) einer in ihrer Tragweite bedeutenden, gar irreversiblen Selbstschädigung gegenübersteht.110
V. Grenzen der Selbstbestimmung und Zulässigkeit harten Paternalismus Harter Paternalismus, d.h. die Missachtung der freien und selbstbestimmten Entscheidung einer Person zu deren eigenem Besten, wird in der philosophischen Diskussion weitgehend abgelehnt. Deontologisch eingefärbte Ansätze brandmarken diese Form der Intervention als Herabwürdigung des autonomen Entscheiders.111 Dieser mehrheitlich vertretene, harten Paternalismus – jedenfalls grundsätzlich – ablehnende Standpunkt sieht sich vor die Schwierigkeit gestellt, dass zahlreiche gesetzliche, auch im Ergebnis intuitiv einleuchtende Bestimmungen, diesem grundsätzlichen ethischen Verbot harten Paternalismus zu widersprechen scheinen.112 Gerade die Anhänger deontologisch begründeter Antipaternalismuskonzepte sehen sich in der Pflicht, theoretisch überzeugende Begründungen dafür zu finden, dass ihre im Ausgangspunkt für die Folgen des Handelns unempfänglichen Ansätze nicht in einer „moralische Katastrophe“ enden113.114 Diese Problematik findet ihre theoretische Zuspitzung im sog. Freiheitsparadoxon: Kann der Respekt vor der freien und selbstbestimmten Ent107 Vgl. für diese Argumentation bspw. Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, S. 113, 115 f.; Kleinig, Paternalism, 1984, S. 27, 30 f. 108 Vgl. auch Kleinig, Paternalism, 1984, S. 26 f. S. ferner noch aus ökonomischer Perspektive unten unter § 4 III.3.2.4 und öfter. 109 S. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 31: „[T]he exercise of our ‘mental and moral powers’ does not require that every self-regarding possibility remain open to us.“ 110 Kleinig, Paternalism, 1984, S. 31. 111 S. nur R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 263; Shiffrin, Phil. & Pub. Aff. 29 (2000), 205, 207 und ausführlich oben unter § 2 III.1. 112 Vgl. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 55. Als Testfälle werden häufig die Gurt- oder Helmpflicht herangezogen. 113 S. allgemein zu diesem Problem deontologischer Ansätze oben unter § 2 III.3. 114 Leichter haben es da – in der aktuellen Debatte allerdings bedeutungslose – rein utilitaristische Ansätze. Für diese besteht nur eine notwendige und dann auch hinreichende Bedingung für (harten) paternalistischen Zwang, nämlich ein positiver Saldo der Intervention für das Wohlbefinden oder das Glück des Adressaten. S. nur Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113.
26
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
scheidung des Einzelnen gebieten, dessen völlige Aufgabe seiner Freiheit anzuerkennen? Bereits Mill hat diese Frage am Beispiel der vertraglichen Selbstversklavung aufgeworfen. Er selbst hält den Grund, warum derartige Verträge „in den meisten zivilisierten Ländern“ für nichtig erachtet werden, für offensichtlich: „The reason for not interfering, unless for the sake of others, with a person’s voluntary acts is consideration for his liberty. His voluntary choice is evidence that what he so chooses is desirable, or at least endurable, to him, and his good is on the whole best provided for by allowing him to take his own means of pursuing it. But by selling himself for a slave, he abdicates his liberty [and…] defeats […] the very purpose which is the justification of allowing him to dispose of himself. He is no longer free; but is thenceforth in a position which has no longer the presumption in its favour, that would be afforded by his voluntary remaining in it. The principle of freedom cannot require that he should be free not to be free.“115 Diese Argumentation scheint indes mit dem von Mill ansonsten mit Verve verfochtenen absoluten Paternalismusverbot in einem gewissen Widerspruch zu stehen.116 Es fehlt denn auch nicht an Versuchen, dieses intuitiv einleuchtende Ergebnis117 anderweitig zu rechtfertigen. Freilich hat sich bisher keiner dieser Versuche durchsetzen können. Eine dominierende Ansicht ist insofern nicht auszumachen.
1. Vermutung der mangelnden „Freiwilligkeit“ der Entscheidung bei besonders nachteiligen Entscheidungsfolgen Namentlich Feinberg, der sich gegen jedwede Form von hartem Paternalismus ausspricht, will von der Schwere der nachteiligen Konsequenzen einer Entscheidung auf die fehlende „Freiwilligkeit“ derselben schließen. So bestehe eine starke Vermutung, dass derjenige, der sich selbst in die Sklaverei verkaufe, „inkompetent, unfrei oder fehlinformiert“ sei. Entsprechend sollte der Staat hohe Voraussetzungen an den Beleg der Autonomie der Entscheidung stellen, bevor er derartige Verträge sanktioniere.118 Freilich zeigt Feinberg selbst die Grenzen dieser Argumentation auf: Das Autonomiedefizit steht nicht a priori fest, seine Vermutung ist vielmehr widerleglich, so dass jedenfalls theoretisch Fälle verbleiben, in denen die Selbstversklavung aufgrund autonomer Entscheidung rechtlich sanktioniert werden müsste.119 Feinberg zieht sich daher auf das praktische Argument zurück, dass mögliche Testverfahren zur Feststellung der „Freiwilligkeit“ der Entscheidung, so aufwendig sie auch sein mögen, Fehler produzieren können. Angesichts 115
Mill, On Liberty, S. 184. Kritisch etwa G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 27 f.; vgl. ferner Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, S. 3, 11 ff., 17. 117 S. zu dieser Bewertung auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 75. 118 S. Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 12. 119 S. Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 12; vgl. ferner Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 75; auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 105, 111. 116
V. Grenzen der Selbstbestimmung und Zulässigkeit harten Paternalismus
27
der starken Vermutung für das Bestehen eines Selbstbestimmungsdefizits im Selbstversklavungsfall sei der Staat daher wohl gerechtfertigt, den sichersten Weg zu beschreiten, indem er das Autonomiedefizit unwiderleglich vermutet. Es sei nämlich besser, hundert Menschen fälschlicherweise die Selbstversklavung zu versagen als sie einem fälschlicherweise zu erlauben.120 Diese Erklärung der generellen Nichtigkeit von Selbstversklavungsverträgen, die sich unschwer auf andere Fälle selbstbenachteiligender Entscheidungen ausdehnen ließe, ist zwar formal weich paternalistisch. In der Sache unterscheidet sie sich aber kaum mehr von einem hart paternalistischen Ansatz, da es dem Einzelnen im konkreten Fall verwehrt wird, sich auf das Vorhandensein der Selbstbestimmungsvoraussetzungen zu berufen.121
2. Freiheitsmaximierung als Legitimation harten Paternalismus Unter Berufung auf die Ausführungen Mills zu den Gründen für die Nichtigkeit des Selbstversklavungsvertrages sieht Regan eine Rechtfertigung für harten Paternalismus in der Maximierung von Freiheit. Der Konflikt zwischen paternalistischer Intervention und der Freiheit des Schutzadressaten lasse sich nämlich aufheben, wenn man das deontologische Prinzip des Respekts vor der Freiheit des Einzelnen (in einem bestimmten Zeitpunkt) durch das „teleologische“ Prinzip der Maximierung der „Gesamtfreiheit“ (total freedom) über die Zeit ersetze.122 Dabei umfasse „Freiheit“ Fähigkeiten, Eigenschaften und grundsätzlich alles, was Voraussetzung für menschliche Aktivität sei.123 Hierdurch lasse sich nicht nur das Verbot der Selbstversklavung, sondern etwa auch ein paternalistisch motiviertes Rauchverbot rechtfertigen.124 Regans Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass Freiheit quantifizierbar ist. Dabei ist ihm durchaus bewusst, dass diese Quantifizierung in concreto auf umstrittene und letztlich keiner endgültigen Richtigkeitsüberprüfung zugängliche Wertungen angewiesen sein könnte. Regan beruhigt sich aber damit, dass jedenfalls meist „intuitiv akzeptable“ Ergebnisse erzielt werden könnten.125
120
Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 14. An dieser Argumentation aus anderen Gründen zweifelnd Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 777. 122 Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 117. Ähnlich auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 27: „But the main consideration for not allowing such a contract [i.e. den Selbstversklavungsvertrag] is the need to preserve the liberty of the person to make future choices. This gives us a principle – a very narrow one – by which to justify some paternalistic interferences. Paternalism is justified only to preserve a wider range of freedom for the individual in question.“ 123 Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 118. 124 Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 117 f. 125 Vgl. Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 119 f., der zudem darauf verweist, dass ähnliche Probleme bei der Nutzenmaximierung bestünden. 121
28
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
Das Freiheitsmaximierungskonzept von Regan hat aufgrund seiner offensichtlichen Schwächen schon bald Widerspruch erfahren.126 So wird die für das Regan’sche Konzept essentielle Annahme der objektiv nachvollziehbaren Quantifizierbarkeit von Wahlmöglichkeiten jedenfalls jenseits extremer Fälle bezweifelt. Mit der „intuitiven Akzeptabilität“127 eines Quantifizierungsergebnisses bietet Regan einen Bewertungsmaßstab an, der die Quantifizierung letztlich in das Belieben des Intervenienten stellt. Daher trifft auch der weitere Vorwurf gegenüber dem Freiheitsmaximierungsansatz zu, dass die Freiheitsmaximierung autonome (Meta-)Präferenzen durch heteronome Wertungen ersetzt, ohne hierfür eine hinreichende Begründung geben zu können.128
3. Schutz von Langzeitpräferenzen, insbesondere Integritätsschutz nach Kleinig Dem Vorwurf der Herabwürdigung des autonomen Individuums durch paternalistisch motiviertes Unterschieben heteronomer Wertungen versucht eine Reihe von Befürwortern auch harten Paternalismus zu entgehen, indem sie als Maßstab der paternalistischen Intervention auf die eigenen Langzeitpräferenzen des Schutzadressaten abstellt. Diese Ansätze lösen mithin den Konflikt zwischen Kurz- und Langzeitpräferenzen eines Individuums, indem sie – zumindest bei schwer wiegenden Entscheidungen – den Langzeitpräferenzen den Vorzug geben. Dem wiederum liegt die Annahme zugrunde, dass der Kurzzeitpräferenz oder der Metapräferenz, welche zur Entscheidung im Sinne der Kurzzeitpräferenz führt, ein Defekt anhaftet. Beispielhaft sei auf das bekannte Paternalismuskonzept Kleinigs zum Schutz der persönlichen Integrität (personal integrity) verwiesen.129 Nach Kleinig ist auch harter Paternalismus dort gerechtfertigt, wo unser Verhalten oder unsere Entscheidungen die eigenen langfristigen, stabilen und zentralen Lebensprojekte, Ansichten und Werte gefährden würden, weil wir im Moment des Verhaltens oder der Entscheidung aufgrund von Nachlässigkeit, Unreflektiertheit, Dummheit oder einer anderen auf einem Mangel an Selbstdisziplin gründenden Schwäche von diesen uns selbst äußerst wichtigen Langzeitpräferenzen zugunsten niederrangiger Wünsche abweichen würden.130 Der wohlmeinende Eingriff bedeute in solchen Fällen keine Integritätsverletzung. Denn – so Kleinig – keine fremden Werte würden in die Entscheidung zur pater126 Vgl. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 53 ff.; ferner Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 75; vgl. aber auch die Zustimmung bei Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 52 ff., 232 ff. Dazu noch unten unter § 3 IV.3.3.1. 127 S. den Terminus bei Kleinig, Paternalism, 1984, S. 53: „intuitive acceptability“. 128 S. die N. in Fn. 126. S. für weitere Einwände gegen das Freiheitsmaximierungskonzept Kleinig, Paternalism, 1984, S. 53 ff. 129 S. auch zum Folgenden Kleinig, Paternalism, 1984, S. 67 ff. 130 Vgl. auch die Ausführungen zum „guten Urteilsvermögen“ bei Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 764, 790 ff.
V. Grenzen der Selbstbestimmung und Zulässigkeit harten Paternalismus
29
nalistischen Intervention einfließen.131 Dabei möchte Kleinig paternalistische Interventionen auf solche Fälle beschränken, in denen die nachteiligen Folgen der eigenen Entscheidung außer Verhältnis zu den positiven Effekten für die eigene Persönlichkeitsentwicklung stehen, die sich einstellen würden, müsste der Entscheider diese nachteiligen Konsequenzen tragen. Den Befürwortern auch harten Paternalismus zum Schutz der Langzeitpräferenzen des Entscheiders wird entgegengehalten, dass ihr Paternalismuskonzept eben nicht frei von heteronomen Wertungen sei, weil sie die autonome Gewichtung von Kurz- und Langzeitpräferenzen durch einen fremdbestimmten Vorrang der Langzeitpräferenzen ersetzen würden.132 Die Annahme, eine Bevorzugung von Kurzzeitpräferenzen gegenüber konfligierenden Langzeitpräferenzen beruhe auf einem Defekt, ist jedenfalls in ihrer Generalisierung problematisch. So können für eine Diskontierung von Zukunftsinteressen im konkreten Fall gute Gründe sprechen.133 Aber selbst, wo tatsächlich ein solcher Defekt vorliegt, erscheint die paternalistische Intervention zugunsten der eigenen Langzeitpräferenzen den Kritikern dieses Rechtfertigungskonzepts nicht unbedenklich. Denn immerhin werde hier „eine Person gegen ihre Schwäche gezwungen“.134 Die eigentliche theoretische Schwäche dieser Konzepte liegt freilich in der gleichzeitigen Annahme einer autonomen Entscheidung im Sinne der Kurzzeitpräferenzen und eines dieser Entscheidung anhaftenden Defekts im Sinne der eigenen Präferenzordnung des Entscheiders. Denn liegt tatsächlich ein solcher Defekt vor, ist ein Eingriff zum Schutz dieser eigenen Präferenzordnung des Adressaten vor den Folgen dieses Defekts schon kein Fall harten Paternalismus mehr. Für diese Fälle weichen Paternalismus schließen sich dann Probleme der praktischen Anwendung an: Jedenfalls im Hinblick auf die rechtspaternalistische Intervention erscheint eine vorherige Ausleuchtung der individuellen Präferenzordnung des Individuums, die nach diesem Konzept gerade nicht einfach aus seinem nach außen erkennbaren Verhalten ableitbar ist, nur sehr begrenzt leistbar. Man wird sich daher in aller Regel auf allgemeine objektive Plausibilitätserwägungen zurückziehen müssen. Hierfür sind dann sorgfältige Begründungen des rechtspaternalistischen Intervenienten zu fordern, will man in der konkreten Anwendung nicht doch wieder in harten Paternalismus verfallen.135 Liegt hingegen nur aus der Warte des Intervenienten oder eines sonstigen Dritten ein „Defekt“ in der Präferenzformung oder -anwendung des Schutzadressaten vor, nicht aber nach dessen eigener (Meta-)Präferenzordnung, dann verliert das Konzept Kleinigs ihr zentrales Begründungselement.
131
S. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 69: „No alien values are imported.“ Vgl. etwa Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 75. 133 Vgl. J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 60. 134 S. J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 60; vgl. auch die Kritik bei Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 34 f. 135 S. zur Rechtfertigung von Rechtspaternalismus durch „Integritätsschutz“ aus verfassungsrechtlicher Perspektive noch unten unter § 3 IV.3.3.2. 132
30
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
4. Der Mensch als Gemeinschaftswesen, Aufspaltung des Selbst und Einwilligungsfiktion In dem Bemühen, intuitiv als richtig bewertete paternalistische Eingriffe begründen zu können, ohne von der Grundüberzeugung abrücken zu müssen, dass die Nichtachtung einer Entscheidung in eigenen Angelegenheiten zum vermeintlichen Besten des Entscheiders eine Herabwürdigung der autonomen Persönlichkeit bedeutet, sind noch zahlreiche weitere Konzepte entwickelt worden. Hiervon seien drei kurz angerissen, die in der philosophischen Diskussion größere Aufmerksamkeit erfahren haben: So hat man versucht, die Einbettung des Individuums in die Gemeinschaft zur Ausweitung der (auch) andere betreffenden Angelegenheiten zu nutzen und so die Intervention zur Abwehr selbstschädigenden Verhaltens als Maßnahme zum Schutze Dritter zu deklarieren.136 Demselben Ziel dient die Aufspaltung des Selbst in ein gegenwärtiges und zahlreiche künftige (sog. Multiple selves-Modell137): Betrachtet man die künftigen Selbst im Verhältnis zum gegenwärtig entscheidenden Selbst als Dritte, ließe sich eine Intervention als drittschützende Maßnahme rechtfertigen.138 Einen anderen Weg beschreiten die zustimmungsbasierten Rechtfertigungstheorien, welche die paternalistische Intervention über die Zustimmung des Schutzadressaten rechtfertigen.139 Nicht selten wird dabei die Zustimmung allerdings bloß fingiert, was ihren Erklärungsund Rechtfertigungswert wesentlich relativiert. Wenn etwa Gerald Dworkin danach fragt, welche Schutzmaßnahmen eine rationale, vernünftige Person „wie wir“ akzeptieren würde140, dann ist die eigentliche Voraussetzung für die Zulässigkeit einer paternalistischen Maßnahme nicht die Zustimmung, sondern die „Vernünftigkeit“.141
VI. Das Verhältnismäßigkeitsgebot als Grenze zulässigen Paternalismus Bejaht man grundsätzlich die ethische Zulässigkeit paternalistischer Intervention, bestimmt die (jeweilige) ethische Legitimationsbasis zugleich die Grenzen der im Grunde zulässigen, gleichwohl freiheitsbeschränkend wirkenden paternalistischen Maßnahme. Dem Juristen ist dieser Zusammenhang unter dem Begriff 136 S. zu diesen Versuchen und zu ihren Schwächen nur Kleinig, Paternalism, 1984, S. 39 ff.; vgl. hierzu auch Hassemer, Du bist nicht allein, FAZ v. 12.3.2009, S. 10. 137 S. dazu auch R. Posner, Legal Theory 3 (1997), 23 ff. 138 Vgl. bspw. Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 122 ff.; s. zu diesem Standpunkt und seinen Schwächen wiederum Kleinig, Paternalism, 1984, S. 45 ff. m.w.N. 139 S. zum Begriff sowie zu den verschiedenen Ausprägungen des Zustimmungsarguments Kleinig, Paternalism, 1984, S. 55 ff. m.w.N. 140 S. G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 28 ff. 141 S. zur Kritik an dem Modell Dworkins etwa Kleinig, Paternalism, 1984, S. 63 ff. sowie dens., ebenda, S. 65 f. zu allgemeinen Zweifeln am legitimatorischen Eigenwert der Zustimmung im Rahmen der zustimmungsbasierten Theorien.
VI. Das Verhältnismäßigkeitsgebot als Grenze zulässigen Paternalismus
31
des Verhältnismäßigkeitsprinzips wohlbekannt. Auch in der philosophischen Debatte wird es den jeweiligen Legitimationskonzepten zumeist stillschweigend zugrunde gelegt. Einige wenige Autoren buchstabieren die Grenzen an sich zulässigen Paternalismus aber auch explizit aus.142
1. Vorrang des Lernens aus Fehlern Paternalismus als solcher ist als Freiheitsbeschränkung nicht erstrebenswert. Daher wird der Verzicht auf Paternalismus zugunsten der positiven Auswirkungen des Lernens aus Fehlern für die Entwicklung der individuellen Entscheidungskompetenz immer dort propagiert, wo Selbstbestimmungsdefizite oder Charakterschwächen tatsächlich durch Lerneffekte abgemildert oder aufgehoben werden können und die Konsequenzen der fehlerhaften Entscheidung nicht die Anwendung des Gelernten verhindern oder außer Verhältnis zum möglichen positiven Lerneffekt stehen.143
2. Vorrang der am wenigsten beschränkenden Intervention Im philosophischen Diskurs wohl unbestritten ist ferner der Vorrang der am wenigsten freiheitsbeschränkenden Maßnahme. Stehen also mehrere gleich geeignete Maßnahmen zur Verfügung, um das paternalistische Ziel zu erreichen, so ist die weniger freiheitsbeschränkende Maßnahme vorzugswürdig.144 Hieraus folgt auch, dass paternalistische Maßnahmen, die eine Reaktion auf Selbstbestimmungsdefizite oder sonstige Schwächen des Schutzadressaten darstellen, vorrangig auf die Überwindung dieser Defizite gerichtet sein müssen. So hat weicher Paternalismus in erster Linie auf die Herstellung der Voraussetzungen selbstbestimmten Entscheidens abzuzielen.145 Gründet die Schutzbedürftigkeit des Adressaten der paternalistischen Maßnahme etwa auf einem Informationsdefizit, so hat sich die Intervention grundsätzlich146 auf einen entsprechenden Hinweis zu beschränken.147
142
S. nur Kleinig, Paternalism, 1984, S. 74 ff. S. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 74 und bereits oben unter § 2V.3. 144 S. etwa G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 34; Kleinig, Paternalism, 1984, S. 74 m.w.N. 145 S. etwa Kleinig, Paternalism, 1984, S. 31. 146 D.h., sofern keine Informationsverarbeitungsschwierigkeiten hinzutreten. Vgl. zum information overload noch unten unter § 5 II.1.2.1 sowie ausführlich zu den Grenzen des sog. Informationsmodells im Zusammenhang mit dem Schutz des Verbraucherkreditnehmers unten unter § 9 IV.3.4.1. 147 S. etwa Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 114 f.; J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 59; ferner bereits Mill, On Liberty, 1859, S. 172 f. 143
32
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
3. Asymmetrischer Paternalismus insbesondere Wird die Legitimation einer paternalistischen Intervention an bestimmte Voraussetzungen geknüpft, besteht die Gefahr, dass diese Voraussetzungen im konkreten Fall fälschlicherweise bejaht werden, obwohl sie nicht vorliegen.148 Sieht man in diesem potentiellen Anwendungsfehler einer an sich ethisch legitimen paternalistischen Maßnahme auch keinen grundsätzlichen Einwand gegen Paternalismus als solchen149, so ist er doch für die zulässigen Formen an sich legitimen Paternalismus von Bedeutung.150 Gerade Rechtspaternalismus in Form des Gesetzespaternalismus ist für eine überschießende Generalisierung paternalistischer Intervention empfänglich. Bevor man hier in utilitaristischer Manier den Nutzen für die zu Recht erfassten Fälle mit den nachteiligen Wirkungen für die zu Unrecht erfassten Fälle abwägt151, ist als vorzugswürdiges milderes Mittel an Formen asymmetrischen Paternalismus zu denken. Dieser zeichnet sich gerade durch das Bestreben aus, die Beeinträchtigung nicht schutzbedürftiger Akteure in ihrem Entscheidungsverhalten möglichst gering zu halten und so eine „asymmetrische“ Wirkung zu erzielen.152
VII. Der Schutz von Drittinteressen als Rechtfertigungsalternative Anders als die paternalistisch motivierte Freiheitseinschränkung gilt die (rechtliche) Intervention zum Schutz von Drittinteressen als ethisch wesentlich weniger problematisch.153 Berührt ein selbstschädigendes oder -gefährdendes Verhalten auch Interessen der Allgemeinheit oder Individualinteressen Dritter, liegt es für Befürworter einer freiheitsbeschränkenden Intervention zur Verhinderung solchen Verhaltens nahe, sich für die Legitimation eines solchen Eingriffs auf den Schutz der ebenfalls tangierten Drittinteressen zurückzuziehen.154 In der philosophischen Diskussion ist man sich allerdings weitgehend einig, dass nicht jeder noch so entfernte Drittbezug des selbstschädigenden oder -gefährdenden Verhaltens die Möglichkeit einer solchen Rechtfertigungsalternative eröffnet. 148 Dieses Problem wird in der Diskussion nicht selten zwar erkannt, für die eigenen Schlussfolgerungen aber ignoriert, vgl. etwa G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 32; Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 114. 149 S. aber die Argumention Mills oben unter § 2 III; ferner Sartorius, in: Sartorius (ed.), ix, xii für rechtebasierte Paternalismustheorien. 150 Vgl. auch Sartorius, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, ix, xi. 151 Vgl. Sartorius, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, ix, xii; ferner die Begründung der Vermutungsregel bei Feinberg oben unter § 2 V.1. 152 S. zum Konzept des asymmetrischen Paternalismus noch ausführlich unten unter § 5 VI.2.2. 153 Der qualitative ethische Unterschied zwischen beiden Handlungsmotivationen ist Drehund Angelpunkt der Mill’schen Abhandlung über die Freiheit, s. ders., On Liberty, 1859, S. 21 f. et passim. 154 Beispielhaft Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 13. S. zur Anwendung dieser Strategie in der Praxis noch unten unter § 3 IV.3.5.
VII. Der Schutz von Drittinteressen als Rechtfertigungsalternative
33
1. Selbstbezüglichkeit und soziale Bedeutung menschlichen Verhaltens Ausgangspunkt der Debatte ist Mills Unterscheidung zwischen solchem Tun oder Unterlassen, das nur den Akteur betrifft (self-regarding conduct), und solchem Verhalten, das auch andere betrifft (social or other-regarding conduct). Diese Unterscheidung ist für Mill von fundamentaler Bedeutung, weil er nur hinsichtlich des selbstbezüglichen Verhaltens dem Einzelnen ein Selbstbestimmungsrecht zubilligt, das jede paternalistische Einmischung verbietet. Im Hinblick auf das (auch) andere betreffende Verhalten kann sich der Intervenient demgegenüber auf das harm (to others)-principle berufen.155 Der von Mill nachdrücklich betonten Souveränitätssphäre des Individuums in „eigenen Angelegenheiten“ droht jedoch eine weitgehende Entwertung durch die Erkenntnis, dass rein selbstbezügliches Verhalten des Sozialwesens Mensch äußerst selten ist.156 Dieses Problem sieht auch Mill157 und präzisiert: „When I say [conduct which affects] only himself, I mean directly, and in the first instance: for whatever affects him, may affect others through himself“.158 So verstanden wird die Mill’sche Unterscheidung von vielen auch für sinnvoll gehalten. Eine Einmischung in primär selbstbezügliches Verhalten159 lasse sich nicht durch die Berufung auf – nur mittelbare – Drittinteressen rechtfertigen.160
2. Primär eigene Angelegenheiten als Reservat gegenüber drittschützenden Freiheitseingriffen Eine weitere Präzisierung der Unterscheidung zwischen (primär) selbstbezüglichem und (auch) andere betreffendem Verhalten ist auf abstrakter Ebene bisher 155 S. deutlich Mill, On Liberty, S. 21 f.: „The only part of the conduct of any one, for which he is amenable to society, is that which concerns others. In the part which merely concerns himself, his independence is, of right, absolute. Over himself, over his own body and mind, the individual is sovereign.“ 156 Vgl. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 32; J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 62. 157 S. Mill, On Liberty, 1859, S. 143: „How (it may be asked) can any part of the conduct of a member of society be a matter of indifference to the other members? No person is an entirely isolated being; it is impossible for a person to do anything seriously or permanently hurtful to himself, without mischief reaching at least to his near connexions“. 158 Mill, On Liberty, 1859, S. 26 (Hervorhebung im Original). 159 Vgl. zu diesem Begriff etwa Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 5 („primarily self-regarding affairs“); auch J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 63. 160 In diesem Sinne J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 62 f.; wohl auch R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 263; Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 5; vgl. auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 21 (2. Leitlinie); unklar insofern Kleinig, Paternalism, 1984, S. 77. Die Frage, ob eine Form reinen oder unreinen Paternalismus vorliegt, bestimmt sich hingegen nicht nach der objektiven Relevanz für die Interessen Dritter, sondern nach der Motivation des Eingriffs [vgl. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 34 ff.; a.A. J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 62 f.].
34
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
allerdings nicht gelungen. Entsprechende Versuche für eine begriffliche Klärung verstricken sich in Zirkelschlüssen und bleiben daher unergiebig.161 Ungeachtet dieser Schwierigkeiten bei der abstrakten Abgrenzung von (primär) selbstbezüglichem und (auch) andere betreffendem Verhalten findet sich eine Reihe von Stellungnahmen zu ihrer konkreten Abgrenzung, ohne dass sich hieraus freilich allgemeine Grundsätze ableiten ließen. Mill selbst zieht etwa dort eine Grenze, wo das selbstschädigende Verhalten des Individuums dazu führen würde, dass er seine Verpflichtungen gegenüber seinen Gläubigern oder seiner Familie nicht mehr erfüllen könnte; in derlei Fällen handele es sich nicht mehr um bloß selbstbezügliches Verhalten.162 Demgegenüber sollen „Zwangsmassnahmen gegen Lebensstil, Rauch- und Essgewohnheiten“ „offensichtlich paternalistisch“ sein, weil sie sich gegen Entscheidungen und Gewohnheiten richteten, die primär die eigene Person und die Gestaltung eigener Lebenspläne betreffe. Alternativrechtfertigungen für solche Eingriffe seien bloße „Behauptung“.163 Ob die mögliche Belastung der sozialen Sicherungssysteme ein hinreichendes Drittinteresse darstellt, um eine Intervention zur Verhinderung selbstschädigenden oder -gefährdenden Verhaltens zu rechtfertigen, wird unterschiedlich beurteilt.164
VIII. Vertragliche Selbstbindung und Paternalismus im Besonderen Die referierten Erkenntnisse der philosophischen Paternalismusdiskussion gelten auch für die hier interessierende Frage nach der Zulässigkeit paternalistisch motivierter Einschränkungen der Vertragsfreiheit. Viele allgemeine Überlegungen zur ethischen Bewertung von Paternalismus sind sogar an Beispielen der Begrenzung vertraglicher Freiheit entwickelt worden. Dies beruht sicher nicht zuletzt darauf, dass Mill die Nichtanerkennung eines Selbstversklavungsvertrages als einzige Ausnahme eines sonst vehement vertretenen Paternalismusverbots anerkennt.165 Die folgenden Ausführungen können sich daher auf einige wenige, für die weitere Untersuchung bedeutsame Aussagen zu der speziellen Frage nach der Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe in die Vertragsfreiheit166 beschränken. 161 S. etwa R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 263 sowie Kleinig, Paternalism, 1984, S. 32 ff., der wegen dieser Schwierigkeiten die Mill’sche Unterscheidung letztlich eher kritisch betrachtet. 162 S. Mill, On Liberty, 1859, S. 145 f. 163 S. J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 62 f. 164 Offen für eine Heranziehung des sog. „public charge“-Arguments etwa Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 13; auch Kleinig, Paternalism, 1984, S. 77; kritisch hingegen G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 20. 165 S. dazu bereits oben unter § 2 V pr. Zur Qualität der Nichtanerkennung eines Vertrages als Freiheitsbeschränkung s.o. unter § 2 II.2.1. 166 Hiervon zu unterscheiden ist die paternalistische Selbstbindung (sog. Selbstpaternalismus). Dabei geht es um die Frage, ob eine Person entgegen ihrem aktuellen Wunsch, aber gemäß einer zuvor von ihr selbst zum eigenen Schutz gegen Versuchungen und die eigene Schwäche geschlossenen Abmachung, gezwungen werden darf, sich nicht zu gefährden oder zu schaden. Das prominenteste Beispiel für eine solche Abmachung ist die Abrede des Odysseus’ mit seinen Seeleuten,
VIII. Vertragliche Selbstbindung und Paternalismus im Besonderen
35
1. Vertragliche Bindung und Selbstschädigung Der Vertragsschluss setzt per definitionem eine Mehrheit von beteiligten Parteien voraus. Hier stellt sich die Frage, ob die negative Vertragsfolge für Partei X ein selbst zugefügter Schaden oder durch die Gegenpartei Y beigebracht ist. Nimmt man letzteren Standpunkt ein, läge in diesen Fällen also eine Drittschädigung vor, erschiene eine rechtliche Beschränkung solcher nachteiligen Verträge zum Schutz der gefährdeten Individualinteressen167 als drittschützende Maßnahme.168 Nach wohl einhelliger Ansicht in der philosophischen Paternalismusliteratur wäre eine solche Sichtweise hingegen – jedenfalls im Grundsatz – verfehlt. Die nachteilige Vertragsfolge wird nämlich – für den Juristen wenig überraschend – der benachteiligten Vertragspartei zugerechnet, weil sie jener bei Vertragsschluss zugestimmt hat. Anknüpfungspunkt ist also die vertragliche Selbstbindung, aufgrund derer einer Vertragspartei eine nachteilige vertragliche Folge selbst dann als Konsequenz eigenen Verhaltens zugerechnet wird, wenn der Vertrag der anderen Partei lediglich ein Recht zubilligt, dessen Ausübung erst zur Realisierung des Nachteils führt. Kurz: In der philosophischen Paternalismusdebatte werden unmittelbar selbstschädigende Verhaltensweisen und die Zustimmung zur Beibringung eines eigenen Schadens durch Dritte grundsätzlich gleich behandelt.169 Freiheit zur Selbstbestimmung beinhaltet eben auch die Freiheit zur (nachteiligen) Selbstbindung.170 Hieraus erklärt sich auch die Figur des indirekten Paternalismus171. Denn selbst wenn die Intervention auch oder gar vorrangig an das Verhalten der Gegenpartei anknüpft, indem sie etwa den Verkauf von Drogen verbietet, so wird damit zugleich für die (verhinderte) Gegenpartei die Freiheitsbetätigung des Drogenkaufs eingeschränkt. Ein möglicher, auf den Erwerb des Rauschmittels gerichteter Wille des verhinderten Drogenkäufers wird zu dessen Schutz vor nachteiligen Folgen des Drogenkonsums von der Rechtsordnung nicht anerkannt.
ihn167nicht vom Mast zu befreien, wenn er den Sirenengesang hört. S. zu Fragen des Selbstpaternalismus etwa Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 131 ff.; auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 29; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 29 f.; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 76; J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 61. 167 Dieses Motiv fehlt bei rechtsmoralistischer Intervention. 168 S. – in allgemeinerem Kontext – nur Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 201, 225. 169 Vgl. nur Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 4 f. unter Heranziehung des Rechtssatzes „Volenti non fit iniuria“. S. zu diesem monographisch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002. 170 Vgl. auch Mill, On Liberty, 1859, S. 183: „[T]he liberty of the individual, in things wherein the individual is alone concerned, implies a corresponding liberty in any number of individuals to regulate by mutual agreement such things as regard them jointly, and regard no persons but themselves.“ S. zu dieser Erkenntnis aus verfassungsrechtlicher Sicht noch unten unter § 3 VI.1.1. 171 S. dazu oben unter § 2 II.2.2.1.
36
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
2. Ethische Legitimität der paternalistischen Einschränkung vertraglicher Selbstbindung Die allgemeine Unterscheidung zwischen weichem und hartem Paternalismus trägt auch für die paternalistische Beschränkung vertraglicher Selbstbindung. Sie findet sich in den zwei Kardinalfragen der Diskussion um die Voraussetzungen und Grenzen der Vertragfreiheit wieder: Wann ist ein Vertrag durch die Parteien frei und selbstbestimmt geschlossen? Wann, wenn überhaupt, dürfen und sollen die Gerichte frei und selbstbestimmt geschlossenen Verträgen ihre Anerkennung verweigern?172 2.1 Weicher Paternalismus Die prinzipielle Zulässigkeit weich paternalistischer Eingriffe in die vertragliche Selbstbindung steht in der philosophischen Debatte außer Zweifel.173 Die Schwierigkeit – so Kleinig – bestehe vielmehr in ihrem „gerechten und sparsamen“ Einsatz.174 Dabei machen Befürworter vertraglicher Regulierung insbesondere bei Verbraucherverträgen regulierungsbedürftige Selbstbestimmungsdefizite jenseits der klassischen Fälle von Gewalt, Täuschung und Geschäftsunfähigkeit aus. Als Anknüpfungspunkte für weich paternalistische Eingriffe in die Vertragsfreiheit werden vor allem die Grenzen der Informationserlangung und -verarbeitung zur Überwindung von Informationsasymmetrien, die Formbarkeit von Präferenzen durch die Marktgegenseite oder ein Ungleichgewicht in der Verhandlungsstärke175 identifiziert.176 Die (rechts)philosophische Debatte stößt hier weit in genuin ökonomische und juristische Gefilde vor. Die Darstellung von Details ist an dieser Stelle verzichtbar. Auf Einzelheiten wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. 2.2 Harter Paternalismus Wie gesehen sind in Auseinandersetzung mit Mills Ausführungen zum Selbstversklavungsvertrag unterschiedliche Konzepte zur ethischen Legitimation harten Paternalismus entwickelt worden.177 Auf dem Boden dieser oder anderer Konzepte hat sich die (rechts)philosophische Literatur auch zur Legitimität harten 172 Vgl. S. Smith, M.L.R. 59 (1996), 167, 186. Zu möglichen nichtpaternalistischen Motiven zur Begrenzung der Vertragsfreiheit s. noch unten unter § 2 VIII.3. 173 S. bereits v. Humboldt, Ideen, S. 131 sub 3. 174 Kleinig, Paternalism, 1984, S. 187 f. 175 Eingriffe zur Korrektur eines signifikanten Verhandlungsungleichgewichts werden oft auch als Mittel zur Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit begriffen. Deutlich Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 770 ff.; vgl. auch Deakin, ERCL 2006, 317, 328; Kleinig, Paternalism, 1984, S. 187; Kessler, Colum. L. Rev. 43 (1943), 629 ff. Inwieweit daher noch von paternalistischer Intervention gesprochen werden kann, ist streitig. Vgl. insoweit auch unten unter § 2 VIII.3. 176 Vgl. die konzise Darstellung bei Kleinig, Paternalism, 1984, S. 185 ff. 177 S.o. unter § 2 V.
VIII. Vertragliche Selbstbindung und Paternalismus im Besonderen
37
Paternalismus gerade in Bezug auf die vertragliche Selbstbindung geäußert. Auf einige ausgewählte Aussagen und Erkenntnisse soll im Folgenden in geraffter Form hingewiesen werden. 2.2.1 Mill zur Freiheitsbeschränkung durch Vertrag Im Hinblick auf die Legitimität hart paternalistischer Eingriffe in die Freiheit zur vertraglichen Selbstbindung nimmt die philosophische Debatte ihren Ausgangspunkt wiederum bei Mill. Dieser führt im Anschluss an seine Ausführungen zum Selbstversklavungsvertrag178 aus: Die Gründe, die gegen eine Anerkennung der Freiheit zur vertraglichen Selbstversklavung sprächen, „are evidently of far wider application; yet a limit is everywhere set to them by the necessities of life, which continually require […] that we should consent to this and the other limitation of [our freedom]“179. Das Prinzip, wonach dem Einzelnen in eigenen Angelegenheiten die „unkontrollierte Handlungsfreiheit“ zusteht, fordere aber, dass die Vertragsparteien die vertragliche Bindung wieder aufheben können, sofern sie dies wollen. Aber auch die weitreichende Möglichkeit, einseitig von einer vertraglichen Verpflichtung Abstand nehmen zu können, scheint Mill aufgrund nämlichen Prinzips für geboten zu halten: „[T]here are perhaps no contracts or engagements, except those that relate to money or money’s worth, of which one can venture to say that there ought to be no liberty whatever of retractation.“180 Auch lässt er Sympathie für v. Humboldts Ansicht erkennen, dass bei Verträgen, die eine persönliche Pflicht oder persönliche Verhältnisse begründen, also „die persönliche Freiheit eng beschränk[en]“, den Parteien nach einer gewissen Vertragsdauer, deren Länge sich einerseits nach der „Wichtigkeit der Beschränkung“ und andererseits nach der „Natur des Geschäfts“ bestimmt, ein einseitiges Lösungsrecht zustehen sollte.181 2.2.2 Selbstbestimmte Entscheidung und selbstbestimmtes Leben In der Anlehnung an die Thesen von Mill und damit letztlich auch diejenigen von v. Humboldt scheinen im (rechts)philosophischen Schrifttum immer wieder einige – freilich keineswegs unbestrittene182 – Grundgedanken zur ethischen Legitimität hart paternalistischer Eingriffe in die Vertragsfreiheit auf, die letztlich auf das theoretische Fundament des Paternalismusverbots zurückverweisen: Bei der Suche nach dem Grund für die Ausnahme des Selbstversklavungsvertrages vom Mill’schen Paternalismusverbot hebt das Schrifttum zwei inhaltliche Charakteristika einer solchen Vereinbarung hervor: zum einen den besonderen 178
S. dazu oben unter § 2 V pr. Mill, On Liberty, 1859, S. 185. 180 Ebenda. Ganz ähnlich Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 778 f.; s. auch mit Blick auf das aktuelle englische Vertragsrecht Saprai, JCL 26 (2009), 25 ff. 181 S. v. Humboldt, Ideen, S. 120 f., 131, auf den Mill, On Liberty, 1859, S. 185 verweist. 182 S. nur Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 15 sowie oben unter § 2 V.1. 179
38
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
Umfang des Freiheitsverlustes und zum anderen seine Unwiderruflichkeit.183 Welcher der beiden Aspekte stärker zu gewichten ist und welche Fälle vertraglicher Bindung eine hinreichende Ähnlichkeit mit Selbstversklavungsverträgen aufweisen, so dass diese in gleicher Weise der hart paternalistischen Intervention zugänglich sind, wird naturgemäß sehr unterschiedlich beurteilt. Im Hinblick auf den Umfang des Freiheitsverlustes wird ganz ähnlich wie bei v. Humboldt häufig zwischen Güteraustauschverträgen und eine größere Kooperation des Schuldners verlangenden Verträgen, wie etwa Arbeitsverträgen, unterschieden.184 Für viele ist aber entscheidend, dass sich derjenige, der sich selbst in die Sklaverei verkauft, auf unabsehbare Zeit seiner zukünftigen Selbstbestimmung und Entscheidungsmacht begibt.185 Die paternalistische Beschränkung der Vertragsfreiheit sei hier begründbar, weil eine derartige Freiheitsbeschränkung die Voraussetzungen eines selbstbestimmten, autonomen Lebens aufhebe oder ein solches Leben zumindest gefährde.186 Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass „wahre“ Autonomie sich nicht in der Möglichkeit, zu einem bestimmten Zeitpunkt autonom Entscheiden zu können, erschöpft, sondern bedeutet, ein (dauerhaft) autonomes Leben führen zu können.187 Konfligiert aber die eine konkrete Entscheidung betreffende Selbstbestimmung aufgrund der qualifizierten Entscheidungsfolgen mit einem selbstbestimmten Leben, gebührt letzterem der Vorrang. Denn – so wäre der in der Literatur häufig nicht explizierte Gedankengang zu vervollständigen – nur das autonome Leben ermöglicht ein Leben in Glück und Wohlbefinden (so der Konsequentialist) bzw. ein würdiges Leben (so der Deontologe kantianischer Prägung)188. Hier anders zu entscheiden, würde also das dem grundsätzlichen Paternalismusverbot zugrunde liegende Prinzip189 in sein Gegenteil verkehren. Dieser Gedankengang wird schließlich durch die folgende Überlegung ergänzt: Könne sich die verpflichtete Partei nicht mehr von einem solchen weittragenden Vertrag lösen, werden ihr die Möglichkeit der Selbstkorrektur und Selbstverbesserung und damit die ihr von Natur aus zukommende Entwicklungsmöglichkeit190 abgeschnitten. Der dauerhaften Ver183
Vgl. etwa Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 15; Ten, Mill on Liberty, 1980, S. 118 f.; S. Smith, M.L.R. 59 (1996), 167, 169; J.-C. Wolf, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 55, 64; vgl. auch Kleinig, Paternalism, 1984, S. 161 ff. sowie G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 27; s. andererseits Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 778 f. 184 Vgl. etwa Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 784 f. 185 S. etwa Kleinig, Paternalism, 1984, S. 164 f.; auch G. Dworkin, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 19, 27. 186 Vgl. etwa S. Smith, M.L.R. 59 (1996), 167 ff., der von „autonomy-endangering agreements“ spricht. 187 So etwa S. Smith, M.L.R. 59 (1996), 167, 177. 188 S. zur Gegenüberstellung dieser ethischen Grundmodelle oben unter § 2 III. 189 S. dazu oben unter § 2 III; prägnant Kleinig, Paternalism, 1984, S. 31: „Ultimately the weight must rest on the Argument from Opression of Individuality, or its more Kantian version, the Argument from Disrespect for Persons.“ 190 Vgl. zum Menschen als „progressive being“ bei Mill oben unter § 2 III.2; ferner v. Humboldt, Ideen, S. 9 ff. mit 118; diese Ideen in neuerer Zeit aufnehmend etwa Kleinig, Paternalism, 1984, S. 164 f. i.V.m. S. 28.
VIII. Vertragliche Selbstbindung und Paternalismus im Besonderen
39
tragsbindung liege dann auch keine immer wieder aktualisierte und damit fortwährende Zustimmung (als Ausdruck andauernder Autonomie) seitens des Verpflichteten zugrunde.191
3. Rechtfertigungsalternativen für den Eingriff in die Vertragsfreiheit Als ethische Alternativrechtfertigung des Eingriffs in die Vertragsfreiheit kommen zum einen der Schutz von Drittinteressen und zum anderen „moralistische“ Motive in Betracht.192 Betrifft der Vertragsgegenstand allein die Angelegenheiten der Vertragsparteien lässt sich ein Eingriff zum Schutze der Interessen Dritter (harm principle)193 in die Vertragsfreiheit der Kontrahenten nur insofern rechtfertigen, als sich der Vertragsschluss als nichtkonsentierter Übergriff der einen Partei auf die Interessensphäre der anderen darstellt. Die in ihren Interessen betroffene Vertragspartei wäre dann der „Dritte“. Ein solcher Übergriff lässt sich freilich nur annehmen, wenn die Einwilligung der zu schützenden Partei in den Vertrag nicht gänzlich frei und selbstbestimmt war. Denn ansonsten wird der „Übergriff“ in die Interessensphäre dem Betroffenen als Konsequenz eigenen Handelns zugerechnet.194 Der Drittschutz scheidet als Rechtfertigung für den Eingriff in die Vertragsfreiheit der Parteien hingegen aus, wenn (1) sämtliche Parteien den Vertrag völlig frei und selbstbestimmt eingehen oder (2) die Interessen keiner Partei durch den Vertrag negativ berührt werden.195 Jenseits von hartem Paternalismus in der Konstellation (1) bleiben als Rechtfertigung für eine Nichtanerkennung des Vertrages lediglich rechtsmoralistische Gründe. So wird – wie bereits erwähnt – zur Begründung der Nichtigkeit „ausbeuterischer“ Verträge vorgeschlagen, auf die „ungerechtfertigte Bereicherung“ (unjust gain) des Ausbeuters abzustellen oder darauf, dass „Ausbeutung“ per se ein Übel darstellt.196 Manche vermuten, dass die rechtliche Nichtanerkennung solcher vom Betroffenen frei und selbstbestimmt eingegangener „ausbeuterischer“ Verträge häufiger auf rechtsmoralistischen als auf rechtspaternalistischen Erwägungen beruht.197 191 S. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 161, 165 in Auseinandersetzung mit Mill; ferner Ten, Mill on Liberty, 1980, S. 118 f.; vgl. auch Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 781 f., der die Möglichkeit zur Distanzierung eines in der Vergangenheit geschlossenen Vertrages in bestimmten Fällen zur Erhaltung der „moralischen Gesundheit“ für nötig erachtet. Denn die nunmehr als schlecht empfundene Entscheidung könne eine stark demoralisierende Wirkung haben, da sie – aus jetziger Sicht – falsch, aber doch die eigene sei. 192 S. zu den Begriffen bereits oben unter § 2 II.2.2.1. 193 S. dazu oben unter § 2 VII. 194 S. bereits oben unter § 2 VIII.1 sowie Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 201, 225, der insofern harm als set-back of interests und harm als wrong unterscheidet. 195 S. wiederum Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 201, 225; vgl. auch ders., in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 13; ferner Shiffrin, Phil. & Pub. Aff. 29 (2000), 205 ff. und bereits oben unter § 2 II.2.2.1. 196 So Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 201, 225 f. 197 Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 201, 231 f.
40
§ 2 Paternalismus in der philosophischen Diskussion
IX. Zusammenfassung 1. Die philosophische Diskussion definiert Paternalismus als die Beschränkung der (Handlungs-)Freiheit oder Selbstbestimmung durch einen Dritten (1), die ohne die Zustimmung des Betroffenen (2) und mit dem Ziel erfolgt, das Wohl des Betroffenen zu steigern oder ihn vor Schaden (also einer Verringerungen seines Wohls) zu bewahren (3). Von anderen Freiheitsbeschränkungen unterscheidet sich die paternalistische Intervention also durch ihre Zielsetzung: Es geht darum, das Wohl des Adressaten der paternalistischen Intervention zu fördern. 2. In der liberalen Tradition der abendländischen Philosophie ist Paternalismus, zumal Rechtspaternalismus, als Einschränkung der Selbstbestimmung des Einzelnen in eigenen Angelegenheiten rechtfertigungsbedürftig. Konsequentialistische (utilitaristische) und deontologische Lehren unterscheiden sich hier nur in der Begründung, nicht aber im Ergebnis. Dies gilt umso mehr, als sich in der modernen Diskussion diese beiden Grundethiken in Form von schwellendeontologisch eingefärbten rechtebasierten Paternalismuskonzepten einerseits und regelutilitaristischen Paternalismuskonzepten andererseits stark angenähert haben. 3. Sämtliche freiheitlichen Paternalismustheorien, gleich ob sie zur Verteidigung der Selbstbestimmung auf eine deontologische oder utilitaristische Begründung zurückgreifen, sind sich einig, dass die selbstbestimmte Entscheidung von gewissen Voraussetzungen abhängig ist. Diese Überlegung liegt der von Joel Feinberg in Anknüpfung an Mill entwickelten Unterscheidung zwischen weichem und hartem Paternalismus zugrunde: Danach sind dem Entscheider nur „freiwillige“ Entscheidungen als Ausdruck seiner Selbstbestimmung zurechenbar, die nach hinreichender Überlegung in Übereinstimmung mit den eigenen Präferenzen und Wertvorstellungen getroffen werden. Fehle es an der hierfür erforderlichen Zeit, Information, einem „klaren Kopf“ oder hinreichend entwickelten intellektuellen Fähigkeiten, sei dem Einzelnen die daher „unfreiwillige“ Entscheidung ebenso fremd wie die Entscheidung eines Dritten. Die benannten Defizite seien daher geeignet, eine paternalistische Intervention zu rechtfertigen. Diesem „weichen“ Paternalismus steht ein „harter“ Paternalismus gegenüber, der die „Freiwilligkeit“ der Entscheidung unberücksichtigt lässt und das Wohl des Schutzadressaten heteronom, nämlich aus der Warte des Intervenienten bestimmt. 4. Die Unterscheidung zwischen weichem und hartem Paternalismus ist für die Anforderungen an seine Rechtfertigung von maßgeblicher Bedeutung. Weicher Paternalismus, der schädliches Verhalten in eigenen Angelegenheiten immer dann zu verhindern sucht, wenn es „substantiell unfreiwillig“ ist, also Schutz vor Entscheidungen auf defizitärer Grundlage bietet, wird grundsätzlich für zulässig erachtet, wenn er auch als Eingriff in die äußere Handlungsfreiheit rechtfertigungsbedürftig bleibt. Der Staat dürfe dabei in Fällen, in denen der Inhalt einer Entscheidung eine starke Vermutung begründe, dass der sie treffende Akteur nicht „bei sich“ sei, diese Vermutung auch zur Grundlage ei-
IX. Zusammenfassung
41
ner paternalistischen Intervention machen, wenn diese Vermutung nur widerlegbar bleibe. Dabei hätten die „rechtlichen Paraphernalia“, mit Hilfe derer die Übereinstimmung von Vermutung und Wirklichkeit im konkreten Fall überprüft werde, umso anspruchsvoller und elaborierter zu sein, je weittragender die Vermutung sei. 5. Demgegenüber wird harter Paternalismus als Missachtung der freien und selbstbestimmten Entscheidung einer Person zu deren eigenem Besten in der philosophischen Diskussion weitgehend abgelehnt. Dieses ethische Verbot harten Paternalismus findet nach verbreiteter Ansicht jedoch wiederum dort eine Grenze, wo die eigene Freiheit genutzt wird, um die Grundlagen eines freiheitlichen Lebens aufzugeben. So formuliert Mill, dass „[t]he principle of freedom cannot require that [the individual] should be free not to be free“, und veranschaulicht diesen Standpunkt am Beispiel des Selbstversklavungsvertrages. Eine allgemein akzeptierte Begründung für dieses Ergebnis hat sich bislang allerdings noch nicht herausgebildet. 6. Die ethische Legitimationsbasis der paternalistischen Intervention gibt zugleich die Grenzen der im Grunde zulässigen, gleichwohl freiheitsbeschränkend wirkenden paternalistischen Maßnahme vor. Es gilt mit anderen Worten das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das die Anwendung der am wenigsten freiheitsbeschränkenden von mehreren gleich geeigneten Interventionsmitteln gebietet. 7. Die vorstehenden Aussagen gelten auch für die hier untersuchte Frage nach der Zulässigkeit paternalistisch motivierter Einschränkungen der Vertragsfreiheit. Die philosophische Paternalismusliteratur ist sich dabei im Ausgangspunkt einig, dass eine nachteilige Vertragsfolge der betroffenen Vertragspartei als Konsequenz eigenen Verhaltens, der vertraglichen Selbstbindung, zugerechnet wird und nicht als Drittschädigung durch die andere Vertragspartei anzusehen ist, selbst wenn der Vertrag dieser Partei lediglich ein Recht zubilligt, dessen Ausübung erst zur Realisierung des Nachteils führt. Die prinzipielle Zulässigkeit weich paternalistischer Eingriffe in die vertragliche Selbstbindung steht in der philosophischen Debatte außer Zweifel. Als Anküpfungspunkte für solche Maßnahmen werden vor allem die Grenzen der Informationserlangung und -verarbeitung zur Überwindung von Informationsasymmetrien, die Formbarkeit von Präferenzen durch die Marktgegenseite oder ein Ungleichgewicht in der Verhandlungsstärke identifiziert. Die (rechts)philosophische Debatte stößt hier weit in genuin ökonomische und juristische Gefilde vor. Harter Paternalismus ist auch in Bezug auf die vertragliche Selbstbindung grundsätzlich unzulässig. Bei der Suche nach dem Grund für die nach Mill und anderen bestehende Ausnahme für den Selbstversklavungsvertrag hebt das Schrifttum zwei inhaltliche Charakteristika einer solchen Vereinbarung hervor, nämlich den besonderen Umfang des Freiheitsverlustes (1) und seine Unwiderruflichkeit (2). Welcher der beiden Aspekte stärker zu gewichten ist und welche Fälle vertraglicher Bindung eine hinreichende Ähnlichkeit mit Selbstversklavungsverträgen aufweisen, so dass sie in gleicher Weise der hart paternalistischen Intervention zugänglich sind, wird unterschiedlich beurteilt. Für viele ist aber entscheidend, dass sich derjenige, der
42
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
sich selbst in die Sklaverei verkauft, auf unabsehbare Zeit seiner zukünftigen Selbstbestimmung und Entscheidungsmacht begibt, und damit dauerhaft die Möglichkeit verliert, ein autonomes Leben zu führen.
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht Die Frage nach den Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht berührt auch das Verfassungsrecht. Das Grundgesetz gibt einen Rahmen für die Zulässigkeitsgrenzen, aber auch die staatliche Pflicht zu rechtspaternalistischer Intervention bei rechtsgeschäftlicher Selbstbindung des Einzelnen vor. Diese Erkenntnis gehört zum juristischen Allgemeinwissen seit das BVerfG in seinen Entscheidungen zum Handelsvertreterrecht1 und zur Angehörigenbürgschaft2 die Frage nach den Voraussetzungen und Grenzen bürgerlich-rechtlicher Vertragsfreiheit aus der Perspektive der grundrechtlichen Verbürgung dieser Freiheit geprüft hat. Der verfassungsrechtliche Rahmen einer rechtspaternalistischen Intervention in die vertragliche Selbstbindung ist im Folgenden auszuloten. Dabei geht es um Grundrechtsschutz sowohl vor als auch durch Rechtspaternalismus. Die Diskussion berührt dabei eine Reihe von Aspekten der allgemeinen Grundrechtsdogmatik, die zueinander ins Verhältnis gesetzt werden müssen. So wirft Rechtspaternalismus Fragen des Grundrechtsverzichts, der Eingriffsrechtfertigung sowie der staatlichen Schutzpflichten auf. Die hierzu gewonnenen Antworten sind schließlich auf die spezifische Situation der rechtsgeschäftlichen Selbstbindung zu übertragen.
I. Überblick über die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung 1. Die Rspr. des BVerfG zur Einschränkbarkeit selbstgefährdenden und selbstschädigenden Verhaltens Das Bundesverfassungsgericht erkennt in ständiger Rechtsprechung den grundrechtlichen Schutz auch selbstgefährdenden oder selbstschädigenden Verhaltens an3, lässt aber Einschränkungen dieser grundrechtlichen Freiheit zu. So hat es etwa die Zwangseinweisung wegen Selbstgefährdung4, die Helmpflicht von Mo1
BVerfGE 81, 242, 254 ff. BVerfGE 89, 214, 229 ff. 3 Vgl. nur BVerfGE 32, 98, 110 zur grundrechtlich durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Ablehnung eines objektiv gebotenen Krankenhausaufenthaltes in eigener und freier Entscheidung, oder BVerfGE 90, 128, 171 zum von Art. 2 Abs. 1 GG erfassten Umgang mit Drogen. 4 BVerfGE 10, 302 ff.; 58, 208 ff.; nicht ausreichend ist hingegen der ausschließliche Zweck, den Betroffenen zu „bessern“, vgl. BVerfGE 22, 180, 219 f. 2
I. Überblick über die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung
43
torradfahrern5, die Gurtpflicht von Autofahrern6, das Verbot von privatem Cannabiskonsum7 oder die Schranken der privaten Organspende8 für verfassungsgemäß erklärt. 1.1 Eingriffsrechtfertigung durch Dritt- und Gemeinwohlinteressen Dabei hat das BVerfG in einigen Fällen freilich (auch) auf die Gefährdung von Drittinteressen abgestellt, so dass die Frage nach der Zulässigkeit paternalistisch motivierter Freiheitsbeschränkungen nicht entscheidungserheblich wurde.9 Zur Verfassungsmäßigkeit der bußgeldbewehrten Helmpflicht hat das Gericht etwa ausgeführt: „Die angegriffene Vorschrift stellt […] keine unzulässige Bevormundung des Bürgers dar. […] Ein Kraftradfahrer, der ohne Schutzhelm fährt und deshalb bei einem Unfall eine schwere Kopfverletzung davonträgt, schadet keineswegs nur sich selbst. Es liegt auf der Hand, daß in vielen Fällen weiterer Schaden abgewendet werden kann, wenn ein Unfallbeteiligter bei Bewußtsein bleibt.“ Auch stehe außer Frage, dass Unfälle mit schweren Kopfverletzungen weitreichende Folgen für die Allgemeinheit hätten (z.B. durch ärztliche Versorgung, Rehabilitationsmaßnahmen, Versorgung von Invaliden).10 Diese Begründung hat sich das BVerfG in seinem Beschluss zur Gurtanlegepflicht erneut zu eigen gemacht.11 Auch akzeptiert das Gericht als Zielsetzungen des Betäubungsmittelgesetzes neben dem Schutz der Gesundheit des Einzelnen, den Schutz der Gesundheit „der Bevölkerung im ganzen“ und die Bewahrung der Bevölkerung, „vor allem Jugendliche[r]“, vor Abhängigkeit von Betäubungsmitteln und verweist zusätzlich auf die Bekämpfung organisierter Kriminalität. Mit dieser Zielsetzung diene das Betäubungsmittelgesetz „Gemeinschaftsbelangen“, die vor der Verfassung Bestand haben.12 1.2 Fehlen der subjektiven Voraussetzungen einer autonomen Entscheidung In anderen Fällen hat das Gericht für die Zulässigkeit freiheitsbeschränkender Schutzmaßnahmen auf das Fehlen der subjektiven Voraussetzungen einer autonomen Entscheidung13 abgestellt. Dabei ging es zum einen um den wenig proble5
BVerfGE 59, 275, 277 ff. BVerfG NJW 1987, 180. 7 BVerfGE 90, 145, 171 ff. 8 BVerfG NJW 1999, 3399 ff. 9 Vgl. auch BVerfGE 30, 47, 53 f. Dort wird die zwangsweise Unterbringung einer Person, die sich beharrlich weigert zu arbeiten, jedenfalls dann für verfassungsmäßig erklärt, sofern aufgrund der Arbeitsverweigerung dieser Person Unterhaltsberechtigte aus öffentlichen Mitteln unterstützt werden müssen. Die Vorschrift diene dann dazu, die Belastung der Allgemeinheit mit vermeidbaren Kosten zu verhindern. Zudem würden durch die Gefährdung des Lebensunterhalts der Unterhaltsberechtigten deren Rechte i.S. von Art. 2 Abs. 1 GG verletzt. 10 BVerfGE 59, 275, 278 f. 11 BVerfG NJW 1987, 180. 12 BVerfGE 90, 145, 174 f. 13 S. dazu noch unten unter § 3IV.3.4. 6
44
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
matischen Schutz psychisch Kranker.14 So führt das BVerfG in einer Entscheidung zur zwangsweisen Anstaltsunterbringung eines Geisteskranken aus, dass eine derartige Maßnahme nicht nur dann zulässig sei, wenn sie der Schutz der Allgemeinheit verlange, sondern sie könne sich auch allein durch den Schutz des Betroffenen rechtfertigen. „Zwar steht es“, so das Gericht, „unter der Herrschaft des Grundgesetzes in der Regel jedermann frei, Hilfe zurückzuweisen, sofern dadurch nicht Rechtsgüter anderer oder der Allgemeinheit in Mitleidenschaft gezogen werden […]. Nur wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls, wie sie mit den Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG bestimmt sind, es zwingend gebieten, muß der Freiheitsanspruch des einzelnen insoweit zurücktreten. Das Gewicht, das dem Freiheitsanspruch gegenüber dem Gemeinwohl zukommt, darf aber nicht losgelöst von den tatsächlichen Möglichkeiten des Fürsorgebedürftigen bestimmt werden, sich frei zu entschließen. Bei psychischer Erkrankung wird die Fähigkeit zur Selbstbestimmung häufig erheblich beeinträchtigt sein. In solchen Fällen ist dem Staat fürsorgerisches Eingreifen auch dort erlaubt, wo beim Gesunden Halt geboten ist.“15 Darüber hinaus hat das Gericht aber auch gesetzgeberische Zweifel an einem wahrhaft freien Willen des Organspenders als legitimen Zweck zur Rechtfertigung eines gesetzlichen Verbots der Organlebendspende an andere als nahe Angehörige oder offenkundig nahe stehende Personen ausreichen lassen.16 1.3 Eingriffsbefugnis wegen sonst drohenden größeren persönlichen Schadens? Auf der anderen Seite spricht das BVerfG sowohl in der zweiten TranssexuellenEntscheidung als auch in seinem Urteil zur Organlebendspende aus, dass der Gesetzgeber befugt sei, in die gemäß Art. 2 Abs. 1 GG verbürgte allgemeine Handlungsfreiheit einzugreifen, wenn dadurch der Betroffene daran gehindert werden solle, „sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen“.17 In der jüngeren Entscheidung zur Organlebendspende führt es zur Legitimität paternalistischer Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht aus: „Zwar bedarf der Schutz des Menschen vor sich selbst als Rechtfertigungsgrund staatlicher Maßnahmen in Ansehung der durch Art. 2 I GG verbürgten allgemeinen Handlungsfreiheit grundsätzlich seinerseits einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Auch selbstgefährdendes Verhalten ist Ausübung grundrechtlicher Freiheit. Das ändert aber nichts daran, daß es ein legitimes Gemeinwohlanliegen ist, Menschen davor zu bewahren, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen“. Auf den ersten Blick erscheint dies als klares Bekenntnis für eine verfassungsrechtliche Zulässigkeit paternalistisch motivierter Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht eines (auch in der konkreten Situation) zur autonomen Entscheidung fähi14
So etwa in den Fällen BVerfGE 10, 302 ff.; 58, 208 ff. BVerfGE 58, 208, 224 f. 16 BVerfG NJW 1999, 3399, 3401 f.; kritisch hierzu Kirste, JZ 2011, 805, 811. 17 S. etwa BVerfGE 60, 123, 132; BVerfG NJW 1999, 3399, 3401. Ablehnend zur erstgenannten Entscheidung etwa Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 76 f. 15
I. Überblick über die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung
45
gen Menschen. Es bleiben freilich gewisse Unsicherheiten, ob die Entscheidung tatsächlich so zu verstehen ist. Denn sowohl in der zweiten Transsexuellen-Entscheidung als auch im Urteil über die Zulässigkeit von Organlebendspenden bezog sich das BVerfG auf die Zulässigkeit einer gesetzlichen Regelung, die im Angesicht von Zweifeln an der endgültigen und freiwilligen Entscheidung des Betroffenen zu einem Verhalten mit irreversiblen und schwerwiegenden physischen Folgen eine solche Entscheidung von einer bestimmten Altersgrenze abhängig macht bzw. ganz verbietet.
2. Die Rspr. des BVerfG zur Einschränkung der Vertragsfreiheit zum Schutze einer Vertragspartei Zur Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung der Vertragsfreiheit zum Schutz einer der Vertragsparteien hat das BVerfG vor allem in vier Judikaten grundlegend Stellung bezogen. In einer ersten Entscheidung aus dem Jahre 1982 stellte es fest, dass der Vorbehalt familiengerichtlicher Genehmigung bei Vereinbarungen der Ehegatten über den Versorgungsausgleich im Zusammenhang mit der Scheidung die gem. Art. 2 Abs. 1 GG verbürgte Vertragsfreiheit der Ehegatten nicht verletzt.18 Danach durfte der Gesetzgeber die mit der Regelung zum Versorgungsausgleich bezweckte eigenständige Alters- und Invaliditätssicherung des Berechtigten als gefährdet ansehen, wenn der Versorgungsausgleich uneingeschränkt der freien Parteivereinbarung überlassen würde. Der Genehmigungsvorbehalt sei ein Mittel, um Benachteiligungen „des sozial schwächeren Ehepartners“ zu verhindern. Der ausgleichsberechtigte Ehegatte „vermöge [… zudem] oftmals nicht zu überblicken, welche wirtschaftlichen Auswirkungen die Vereinbarung für ihn in der Zukunft haben könne.“ Der Gesetzgeber könne daher davon ausgehen, dass es im „wohlverstandenen Interesse des Ausgleichsberechtigten“ liege, wenn dieser durch den Genehmigungsvorbehalt „vor finanziellen Nachteilen geschützt wird, die für ihn nicht ohne weiteres erkennbar sind“. Neben diesem Schutz des Betroffenen wegen vermuteter Informations- und Erkenntnisdefizite trage die Regelung „gleichzeitig den Gemeinwohlbelangen Rechnung […], daß ein sozial schwacher Ehegatte ohne entsprechende Gegenleistung des anderen nicht zu Lasten der Allgemeinheit auf ihm zustehende Versorgungsanrechte verzichtet“. In einer Reihe von Entscheidungen, beginnend mit der Handelsvertreterentscheidung aus dem Jahre 199019 über den berühmten Beschluss zu den Angehörigenbürgschaften aus dem Jahre 199320 bis zum Urteil über die Inhaltskontrolle ehevertraglicher Abreden aus dem Jahre 200121, hat das BVerfG die Legislative und die Judikative nicht nur für berechtigt, sondern sogar für verpflichtet gehal18 19 20 21
BVerfGE 60, 329, 338 ff. BVerfGE 81, 242 ff. BVerfGE 89, 214 ff. BVerfGE 103, 89 ff.
46
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
ten, zum Schutz der schwächeren Vertragspartei die Nichtigkeit vertraglicher Bindungen anzunehmen. Im Handelsvertreterbeschluss hat das Gericht im Ausgangspunkt bekräftig, dass eine rechtsgeschäftliche Selbstbindung Ausübung individueller Freiheit ist. Die im Rahmen der Privatautonomie als einem Strukturelement einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung getroffenen Regelungen habe der Staat grundsätzlich zu respektieren. Allerdings bestehe die Privatautonomie nicht schrankenlos. Diese beruhe vielmehr auf dem Prinzip der Selbstbestimmung und setze also voraus, „daß auch die Bedingungen freier Selbstbestimmung tatsächlich gegeben sind“. Habe aber einer der Vertragsteile ein „so starkes Übergewicht, daß er vertragliche Reglungen faktisch einseitig setzen kann, bewirk[e] dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung.“ Wenn bei einer solchen Sachlage über grundrechtlich – in casu ging es um Art. 12 Abs. 1 GG – verbürgte Positionen verfügt werde –, müssten staatliche Regelungen ausgleichend eingreifen, „um den Grundrechtsschutz zu sichern“. Gesetzliche Vorschriften, die sozialem und wirtschaftlichem Ungleichgewicht entgegenwirken, verwirklichten hier „die objektiven Grundentscheidungen des Grundrechtsabschnitts und damit zugleich das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG)“.22 Im Hinblick auf die Voraussetzungen einer Fremdbestimmung begründenden Vertragsdisparität stellt das BVerfG in der Bürgschaftsentscheidung klar, dass die Rechtsordnung nicht für alle Situationen Vorsorge treffen könne, in denen das Verhandlungsgleichgewicht mehr oder weniger beeinträchtigt sei. Schon aus Gründen der Rechtssicherheit dürfe ein Vertrag nicht bei jeder Störung des Verhandlungsgleichgewichts nachträglich in Frage gestellt werden. Handele es sich jedoch um eine typisierbare Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lasse, und seien die Vertragsfolgen für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend, so geböten die Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) eine korrigierende Reaktion der Zivilrechtsordnung.23 Diese Rechtsprechung hat das BVerfG auf die Inhaltskontrolle von Eheverträgen ausgeweitet und die staatliche Pflicht zum Schutz einer nicht verheirateten schwangeren Frau, die weitgehend auf Unterhaltsansprüche für sich und das Kind im Falle der Scheidung verzichtet bzw. den Kindsvater hiervon freigestellt hatte, aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG wegen „einseitiger Aufbürdung vertraglicher Lasten“ und einer „erheblich ungleichen Verhandlungsposition der Vertragspartner“ abgeleitet.24 Auch im Falle vertraglicher Bindung ist die paternalistische Intervention des Staates also nach Ansicht des BVerfG nicht nur zulässig, sondern unter Umständen sogar geboten, wenn die „tatsächlichen Voraussetzungen der Privatautonomie“ nicht vorliegen. 22
BVerfGE 81, 242, 254 f. BVerfGE 89, 214, 232. 24 BVerfGE 103, 89, 100 f. S. zu dieser Rechtsprechung noch ausführlich in § 7, insbesondere unter § 7 III.3. 23
II. Grundrechtsdogmatische Verankerung der Paternalismusdebatte
47
II. Grundrechtsdogmatische Verankerung der Paternalismusdebatte 1. Befund Sichtet man die Judikate der Rechtsprechung sowie die Beiträge des Schrifttums zur Frage der grundrechtlichen Determinanten rechtspaternalistischer Intervention, so erscheint die Diskussion des Themas auf den ersten Blick ungeordnet und zerklüftet. Dies liegt vor allem an der Wahl unterschiedlicher grundrechtsdogmatischer Ansatzpunkte. So werden Schutz und Grenzen des in Rede stehenden Selbstbestimmungsrechts in eigenen Angelegenheiten zum einen unter der Rubrik „Grundrechtsverzicht“ diskutiert.25 Dabei geht es um die Frage, ob und in welchem Ausmaß der Einzelne bestimmte grundrechtlich gewährleistete Rechtspositionen wirksam aufgeben kann.26 Andere sehen in der rechtspaternalistischen Intervention vorrangig einen Eingriff in das grundrechtlich gewährleistete Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen (Schutz vor Paternalismus) und fragen nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines solchen Eingriffs.27 Wieder andere konzentrieren sich bei ihrer verfassungsrechtlichen Würdigung des Rechtspaternalismus – gerade im hier interessierenden Zivilrecht – auf die Schutzpflichtdimension der Grundrechte (Schutz durch Paternalismus).28 Diese grundrechtsdogmatische Verortung erhebt allerdings zumeist keinen Ausschließlichkeitsanspruch, sondern stellt lediglich eine Schwerpunktsetzung bei der verfassungsrechtlichen Bewertung rechtspaternalistischer Interventionen dar.29
2. Zum Verhältnis von Grundrechtsverzicht, Eingriff und Schutzpflicht Eine gewisse Ordnung dieses Befundes lässt sich gewinnen, wenn man die drei grundrechtlichen Figuren des Verzichts, des Eingriffs und der Schutzpflicht zueinander ins Verhältnis setzt: Die Frage nach der Zulässigkeit des Grundrechtsverzichts verstanden als Disposition über grundrechtlich gewährleistete Rechts25
Vgl. etwa von Münch, FS Ipsen, 1977, S. 112 ff.; Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171 ff. So die wohl mehrheitliche Definition des Begriffs, s. nur Robbers, JuS 1985, 925; Pietzcker, Der Staat 17 (1978), 527, 531 ff. Zur Kontroverse um die Definition des Grundrechtsverzichts s. noch unten unter § 3 III.1. 27 S. insbesondere die einflussreiche Monographie von Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 111 ff., 175; ferner Schwabe, JZ 1998, 66, 67 ff.; aus jüngerer Zeit etwa Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, 31 ff., 107 ff. und passim; vgl. auch van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 133 f., 136 ff. 28 Vgl. etwa Singer, JZ 1995, 1133, 1136 ff. und auch die Rspr. des BVerfG zur gestörten Vertragsparität [s. dazu bereits oben unter § 3 I.2]. 29 Vgl. nur Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 111 ff.; ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165 ff., insb. 175 ff.; Singer, GS Jeand’Heur, 1999, 171 ff.; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 81 ff.; s. aber auch die strikte Trennung bei Schwabe, JZ 1998, 66, 67 f. 26
48
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
positionen betrifft die Reichweite des grundrechtlichen Schutzbereichs.30 Sie ist mithin logisch vorrangig gegenüber der Prüfung eines Eingriffs in diesen Schutzbereich und folglich zuerst zu beantworten.31 Soweit und sofern man den Verzicht auf Grundrechtspositionen für zulässig erachtet, ist der Grundrechtsverzicht aber nichts anderes als eine bestimmte Erscheinungsform des Grundrechtsgebrauchs.32 Eine rechtspaternalistische Beschränkung dieses zulässigen Grundrechtsverzichts stellt dann einen Eingriff in das grundrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen33 dar, der nach einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung verlangt.34 Geht es hierbei um die Frage, wann der Staat im Interesse des Grundrechtsberechtigten selbst schützend eingreifen darf, geht es bei der grundrechtlichen Schutzpflicht darum, wann der Staat eingreifen muss.35 Das Abwehrrecht des Einzelnen vor Rechtspaternalismus als Eingriff in seine Selbstbestimmung und die Schutzpflicht des Staates zugunsten desselben Grundrechtsträgers stehen dabei in einem gewissen Spannungsverhältnis.36 Andererseits gilt: Soweit die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates eingreift, kann ihre Erfüllung keinen verfassungswidrigen Eingriff in die Grundrechte des zu Schützenden darstellen.37 Freilich wird sich in der Folge zeigen, dass die begrifflich klaren Grenzen zwischen Grundrechtsverzicht, Grundrechtseingriff und grundrechtlicher Schutzpflicht in der Anwendung auf die paternalistische Intervention des Staates nicht so eindeutig zu ziehen sind, wie dies die obigen Ausführungen suggerieren mögen.38 In den Ergebnissen schlagen sich diese Unklarheiten aber nur abge30 Deutlich Robbers, JuS 1985, 925, 927 re. Sp.; in der Sache ebenso Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 89 ff. 31 S. nur Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 89. Entsprechend wird auch hier zuerst auf den Grundrechtsverzicht eingegangen, s. unten unter § 3 III. 32 Etwa Robbers, JuS 1985, 925, 927; zust. Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 174; s. ferner Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 566. 33 Zur Frage, in den Schutzbereich welches Grundrechts bzw. welcher Grundrechte eingegriffen wird, s. noch unten unter § 3 IV.1. 34 Vgl. Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 176, 187; ferner Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 89 ff. 35 Zur Unterscheidung der abwehrrechtlichen von der Schutzpflichtendimension im Hinblick auf rechtspaternalistische Interventionen des Staates, s. nur Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 187 f.; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S 31 ff. einerseits und 213 ff. andererseits. 36 Vgl. Ohly, „Volenti non fit inuria“, 2002, S. 85 für die Einwilligung. S. zu diesem Spannungsverhältnis noch unten unter § 3 V.2. 37 Die grundrechtliche Schutzpflicht hat denn auch dort ihren Hauptwirkbereich, wo es an den Funktionsbedingungen für eine autonome Entscheidung des Einzelnen [vgl. zum Begriff der Funktionsbedingungen Singer, JZ 1995, 1133, 1138 ff.; ders., GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 182 f.] fehlt. Vgl. für die paternalistische Beschränkung der Vertragsfreiheit nur Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 107 und ausführlich unten unter § 3 IV.3.4, § 3 V sowie § 3 VI.2. 38 So lässt sich insbesondere die klare Trennung zwischen Schutzbereichsbestimmung und Eingriff nicht durchhalten, wenn man einerseits die „Freiwilligkeit“ als Wirksamkeitsvoraussetzung des zulässigen Grundrechtsverzichts einordnet [vgl. nur Robbers, JuS 1985, 925, 926], andererseits aber die rechtliche Reaktion auf Defizite materialer Entscheidungsfreiheit als Eingriff in die grund-
III. Rechtspaternalismus und Grundrechtsverzicht
49
schwächt nieder, weil sich im Zusammenhang mit der grundrechtlichen Bewertung rechtspaternalistischer Intervention auch bei Unterschieden in der dogmatischen Verortung ganz ähnliche materielle Wertungsfragen stellen.
III. Rechtspaternalismus und Grundrechtsverzicht In der Staatsrechtslehre wird der Schutz eines grundrechtlich geschützten Rechtsgutes gegen die Disposition dessen, der es innehat, zumeist unter dem Begriff des „Grundrechtsverzichts“ diskutiert.39
1. Begriffliche Klärung Das Problem des Grundrechtsverzichts gilt weithin als „nur teilweise ausgelotet“40, vieles sei „dogmatisch noch ungeklärt“41.42 Diese Unsicherheit erstreckt sich auf den Begriff des Grundrechtsverzichts selbst.43 Heute kann freilich als gesichert gelten, dass es hierbei nicht um einen – nach allgemeiner Ansicht unzulässigen – Totalverzicht auf die Grundrechte geht.44 Ganz mehrheitlich diskutiert man unter dieser Chiffre vielmehr die Frage, ob und in welchem Umfang der einzelne Grundrechtsträger über seine grundrechtlich geschützten Rechtspositionen verfügen kann.45 Dieses Verständnis wird auch im Weiteren der Untersuchung zugrunde gelegt.
39 rechtlich gewährleistete Selbstbestimmung ansieht oder zumindest so behandelt, um einer andernfalls drohenden Aushöhlung des Selbstbestimmungsrechts zu begegnen [vgl. nur Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 187]. Im Ergebnis ebenso Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 565 ff., der freilich das damit verbundene konstruktive Problem ausblendet. S. dazu auch noch unten unter § 3 III.4. 39 Vgl. zu dieser Einschätzung Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 565 f.; Ohly, „Volenti non fit inuria“, 2002, S. 89 jew. m.N. 40 S. Bleckmann, JZ 1988, 57. 41 S. Robbers, JuS 1985, 925. 42 Vgl. auch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 135: es herrsche im Schrifttum „größte Verwirrung“. 43 Vgl. Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 89 f.; kritisch zum Begriff auch Pietzker, Der Staat 17 (1978), 527, 531; zust. Stern, Staatsrecht III/2, 1994, § 86 I 1 (S. 887 f.). 44 S. die N. in vorstehender Fn. 45 S. etwa Pietzker, Der Staat 17 (1987), 527, 531; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 146; Robbers, JuS 1985, 925; Stern, Staatsrecht III/2, 1994, § 86 I 1 (S. 887 f.); im Anschluss hieran auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 89 f.; Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171 ff.; in der Sache ferner Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 155. Anders etwa Schwabe, JZ 1998, 66, 68, der unter Grundrechtsverzicht nur den Verzicht auf das Grundrecht selbst, nicht aber den Verzicht auf ein grundrechtliches Schutzgut versteht.
50
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
2. Grundrechtstheoretisches Vorverständnis – liberale vs. objektivrechtliche Grundrechtsinterpretation Sieht man von den seltenen Fällen ab, in denen der Verfassungstext selbst eindeutige Anhaltspunkte liefert46, hängt die Zulässigkeit des Grundrechtsverzichts maßgeblich von der Funktion der Grundrechte und damit vom grundrechtstheoretischen Vorverständnis ab.47 Nach klassisch-liberalem Grundrechtsverständnis sind Grundrechte subjektive Abwehrrechte gegen den Staat. Die Freiheitssphäre des Einzelnen wird hiernach nicht erst durch den Staat begründet, sondern wird von ihm gleichsam vorgefunden. Die durch die Grundrechte gewährleistete Freiheit ist „Freiheit schlechthin [… und] nicht Freiheit zu bestimmten Zielen oder Zwecken“.48 Es liegt danach also in der Entscheidung des Grundrechtsträgers, ob, wie und wozu er seine grundrechtliche Freiheit einsetzt. Umgekehrt ist der Staat aber auch nicht verpflichtet, die tatsächliche Realisierbarkeit der grundrechtlichen Freiheit zu gewährleisten; auch hierfür bleiben die Grundrechtsträger selbst verantwortlich.49 Nach diesem Grundrechtsverständnis ist Grundrechtsverzicht immer Grundrechtsgebrauch.50 Seine Einschränkung ist rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtseingriff. Zentraler Schwachpunkt der liberalen Grundrechtstheorie ist ihre „relative ,Blindheit‘ gegenüber den sozialen Voraussetzungen der Realisierung grundrechtlicher Freiheit“.51 In Reaktion auf dieses grundlegende Defizit der liberalen Grundrechtstheorie hat sich eine Vielzahl objektiv-rechtlicher Grundrechtslehren entwickelt. Als deren wichtigste Vertreter gelten die institutionelle Grundrechtstheorie und die Werttheorie der Grundrechte. Beide sehen die Grundrechte primär als objektive Ordnungsrahmen der von ihnen erfassten Freiheitsbetätigung an. Ihr objektiver Gehalt ergibt sich aus dem rechtlich ausgestalteten grundrechtlichen „Institut“ bzw. aufgrund der Wertentscheidungen des staatlichen Gemeinwesens.52 Nach beiden Theorien ist die Freiheit nicht mehr voraussetzungsfrei geschützt, sondern nur mehr insofern, als sie der Realisierung des objektiv vorgegebenen institutionellen Zwecks 46
So wird ein Grundrechtsverzicht aufgrund des Normtextes in Art. 4 Abs. 3, 6 Abs. 3, 7 Abs. 3 S. 3 und 12 Abs. 2 und 3 sowie Art. 16 Abs. 1 S. 2 GG für die in Rede stehenden grundrechtlichen Verbürgungen für zulässig erachtet, während sich für die Koalitionsfreiheit das Gegenteil aus Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG ergebe. S. nur Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 176 f.; ferner Pieroth/ Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 149. 47 S. nur Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 177 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 150 ff.; ferner Robbers, JuS 1985, 925, 927. 48 Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1530. 49 S. zum Vorstehenden nur Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1530 ff.; s. aus jüngerer Zeit beispielsweise in Bezug auf die Menschenwürdegarantie des GG Schaefer, AöR 135 (2010), 404 ff.; ferner das Plädoyer für eine liberale Grundrechtskonzeption bei Ladeur, Der Staat 50 (2011), 493 ff. 50 So etwa Dürig, AöR 81 (1956), 117, 152; Merten, FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 53, 60. 51 S. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1531; zust. Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 178; vgl. auch Jeand’Heur, JZ 1995, 161 f. 52 S. zur institutionellen sowie zur wertorientierten Grundrechtstheorie ausführlicher Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1532 m.w.N.
III. Rechtspaternalismus und Grundrechtsverzicht
51
der Freiheitsgewährleistung bzw. der in dem betreffenden Grundrecht zum Ausdruck kommenden Wertentscheidungen dient.53 Es geht also um eine „Freiheit um zu“54, deren Umfang und Schutz sich nach Art und Zielrichtung des Freiheitsgebrauchs bestimmt. Grenzen für die Zulässigkeit des Grundrechtsverzichts lassen sich mit diesen Theorien unschwer begründen. Die hiermit verbundene Gefahr der Freiheitsverkürzung „im Namen der Freiheit“ ist insbesondere bei der Werttheorie mit Händen zu greifen. Sie ermöglicht es, bestimmte Arten des Freiheitsgebrauchs mit der Begründung abzuwerten, der konkrete Freiheitsgebrauch sei nicht Ausdruck der objektiven Wertentscheidung, welche dem (an sich) einschlägigen Grundrecht zugrundeliegt.55 Gerade für das Problem der Grundrechtskollision besteht die Gefahr, dass die Berufung auf eine rational nicht begründete Wertordnung und -rangfolge die tatsächlichen Gesichtspunkte der Abwägungsentscheidung verdunkelt.56 Sowohl die liberalen wie die objektivrechtlichen Grundrechtstheorien lassen sich um eine sozialstaatliche Komponente ergänzen, welche die sozialen Voraussetzungen zur realen Betätigung grundrechtlicher Freiheitsgewährleistungen betont und diese tatsächliche Ausübbarkeit grundrechtlicher Freiheit sichern will.57
3. Stand der Diskussion zur Zulässigkeit des Grundrechtsverzichts Dies alles vorausgeschickt lässt sich der Diskussionsstand zum Problem des Grundrechtsverzichts in groben Strichen wie folgt zeichnen: Ungeachtet der freiheitsbeschränkenden Tendenz objektiv-rechtlicher Grundrechtsdeutung wird den Grundrechten heute weithin auch eine objektiv-rechtliche Dimension beigemessen,58 aus der Grenzen des Grundrechtsverzichts abgeleitet werden.59 Die Ansicht in der älteren Lehre, welche die gänzliche Unzulässigkeit des Grundrechtsverzichts unter Berufung auf Art. 1 Abs. 2 GG und die konstitutive Bedeutung der Grundrechte für die demokratische Wertordnung propagierte60, wird heute in ihrer Pauschalität nicht mehr vertreten.61 Auch der Versuch, zwischen dem Verzicht auf das Grundrecht selbst und dem Verzicht auf seine Ausübung zu 53
S. wiederum Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1532 und 1534 m.w.N. S. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1535, dort zur „demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie“. Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 151 ff. spricht insofern von der „Funktionalisierung der Freiheitsrechte“. 55 S. die Kritik bei Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1534; vgl. auch Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 179; Jeand’Heur, JZ 1995, 161, 162; s. auch die deutlichen Worte bei Ladeur, Der Staat 50 (2011), 493, 495 ff., 530 f. und öfter. 56 S. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1534; kritisch zur „Funktionalisierung der Freiheitsrechte“ auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 153 f. 57 S. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1535 f. 58 Vgl. nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012 Rn. 91 ff. m.w.N. 59 Vgl. wiederum nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012 Rn. 150 ff. m.w.N. 60 So etwa Sturm, FS Geiger, 1974, S. 173, 198; Bussfeld, DÖV 1976, 765, 770 f. 61 S. nur die Kritik bei Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 180; ferner Ohly, „Volenti non fit inuria“, 2002, S. 90. 54
52
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
unterscheiden62, wird gemeinhin als untauglich angesehen, da beides untrennbar zusammengehöre.63 Heute herrschend ist vielmehr eine differenzierende Betrachtungsweise, die für die Reichweite der Dispositionsfreiheit auf die jeweilige Funktion des einzelnen Grundrechts abstellt. Häufig wird dabei danach unterschieden, ob das Grundrecht lediglich die Integrität eines individuell-persönlichen Bereichs schützen soll oder ob es auch oder vor allem als Gewährleistung öffentlicher Interessen zu verstehen ist.64 Dabei wird in Übereinstimmung mit einer freilich noch durch kein einheitliches dogmatisches Fundament verklammerten Rechtsprechung der Verzicht auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung65, den grundrechtlichen Schutz der Wohnung66, des Post- oder Fernmeldegeheimnisses67 oder der Berufs- und Eigentumsfreiheit68 „in weitem Umfang“ oder „grundsätzlich“ für zulässig erachtet, während dies weder für die Meinungsfreiheit noch für den Schutz des geheimen Wahlrechts69 gelten soll.70 Darüber hinaus wird auch die Menschenwürde71 selbst sowie der Menschenwürdegehalt eines jeden Grundrechts72 für unverzichtbar gehalten. Dem hat man freilich entgegengehalten, dass der Schutzbereich der Menschenwürde gerade auch durch das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers geprägt wird73 und der im Achtungsanspruch wurzelnde Autonomieanspruch regelmäßig Vorrang hat74 bzw. im selbstbestimmten Handeln zum Ausdruck kommt75. Einigkeit besteht aber wiederum dahingehend, dass der Verzicht „freiwillig“ erfolgen muss, was etwa bei Täuschung oder Drohung nicht der Fall sei.76 62 So etwa Göldner, JZ 1976, 352, 355; von Münch, FS Ipsen, 1977, S. 113, 126 f.; weitere N. bei Stern, Staatsrecht III/2, 1994, § 86 II 2 (S. 903 ff.). 63 Zur Kritik s. etwa Sturm, FS Geiger, 1974, S. 168, 185; Pietzcker, Der Staat 17 (1978), 527, 537 f.; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 90; Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 174 („Taschenspielertricks“). 64 Vgl. Robbers, JuS 1985, 925, 928; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 152 f.; Pietzker, Der Staat 17 (1978), 527, 544 f.; s. auch Amelung, Die Einwilligung in die Beeiträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981, S. 37; referierend ferner Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 566. 65 Vgl. BVerfGE 65, 1, 41 ff. 66 Vgl. BVerfGE 106, 28, 42 ff. 67 Vgl. BVerfGE 106, 28, 42 ff. 68 Vgl. BVerwGE 30, 65 ff.; 42, 331, 342 ff. 69 Vgl. OVG Lüneburg, DÖV 1964, 355 f.; OVG Münster, OVGE 14, 257 ff. 70 S. nur Robbers, JuS 1985, 925, 928; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 152 f. Kritisch Singer, FS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 180. 71 Vgl. die berühmte Entscheidung des BVerwGE 64, 274 – „Peep-Show“. 72 So etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 152; Sturm, FS Geiger, 1974, S. 168, 189; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 106; vgl. auch schon Dürig, AöR 81 (1956), 117, 153. 73 S. Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 177 unter Verweis auf BVerfGE 49, 286, 298; Höfling, NJW 1983, 1582 ff.; Bleckmann, JZ 1988, 57, 60 f.; Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 58 II 6 (S. 30 f. m. Fn. 127). 74 Von Münch/Kunig, GG, 5. Aufl. 2000, Art. 1 Rn. 34. 75 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 136, 176; s. auch ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, S. 165, 166 ff. 76 S. nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 151; Singer, FS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 183 m. zahlreichen w.N. in Fn. 77; ferner Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 2000, S. 143 f.
III. Rechtspaternalismus und Grundrechtsverzicht
53
4. Schranken des Grundrechtsverzichts bei privatvertraglicher Selbstbindung Dies ist nicht der Ort, sämtliche Grundrechte einer eingehenden Prüfung auf ihre Disponibilität zu unterziehen.77 Jedenfalls für die große Mehrheit potentieller Vertragsgegenstände und insbesondere für die Selbstbestimmung in den eigenen Angelegenheiten wirtschaftlicher Natur78 wird man im Ausgangspunkt von einem liberalen Grundrechtsverständnis ausgehen dürfen, das die Disposition über grundrechtlich geschützte Rechtsgüter zulässt und demjenigen, der Gegenteiliges behauptet, die Begründungslast aufbürdet.79 Hierfür spricht auch, dass es bei der (privat-)vertraglichen Bindung des Bürgers gar nicht um die typischen Gefährdungslagen im Verhältnis Staat-Bürger geht, die durch die Unverfügbarkeit über bestimmte Grundrechtspositionen eingefangen werden sollen.80 Manche halten daher die Figur des Grundrechtsverzichts hier auch gar nicht für anwendbar, sondern allein im Verhältnis Staat-Bürger.81 Entscheidend dürfte aber sein, dass ein Vorgehen, das selbstbestimmtes Verhalten unter Berufung auf die Schranken des Grundrechtsverzichts aus dem grundrechtlichen Schutzbereich ausscheidet, Gefahr liefe, die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte gegen ihre subjektiv-rechtliche Abwehrfunktion in Stellung zu bringen und damit einem freiheitsverkürzenden Missbrauch der Grundrechte Vorschub zu leisten.82 Anders gewendet: Könnte man bestimmte Freiheiten a priori aus dem Schutzbereich der Grundrechte ausschließen, so wäre der Umgehung des verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsgebots (Stichworte: legitimer Zweck, Verhältnismäßigkeitsprinzip) für Grundrechtseingriffe Tür und Tor geöffnet.83 Das BVerfG hat diese Gefahr erkannt und im MitbestimmungsUrteil84 klargestellt, dass die Grundrechte in erster Linie individuelle Abwehrrechte sind und sich ihre seit der Lüth-Entscheidung85 anerkannte Funktion als objektive Prinzipien nicht von diesem Bedeutungskern lösen und zu einem Gefüge objektiver Normen verselbständigen lasse, in dem der ursprüngliche und
77
Vgl. aber ansatzweise Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 91 ff. S. aber auch für die Selbstbestimmung in persönlichen Angelegenheiten Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 93 ff. 79 Vgl. auch Pietzker, Der Staat 17 (1978), 527, 544 f. zu den „vertragsnahen“ Grundrechten der Art. 12 und Art. 14 GG. 80 Vgl. auch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 137; ähnlich Schwabe, JZ 1998, 66, 68. 81 S. etwa Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 107; Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 200; anders aber etwa Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171 ff. 82 In diesem Sinne Ohly, „Volenti no fit iniuria“, 2002, S. 94 ff.; Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 179 mit 176 und 183 ff.; vgl. auch Schwabe, JZ 1998, 66, 69 f. 83 S. Ohly, „Volenti no fit iniuria“, 2002, S. 94 f.; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 110, 111 ff. 84 BVerfGE 50, 290, 337 f. 85 BVerfGE 7, 198, 205. 78
54
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
bleibende Sinn der Grundrechte zurücktrete.86 Um eine solche „Verkehrung“ der Grundrechte zu vermeiden, begreifen weite Teile des Schrifttums die Schranken des Grundrechtsverzichts als Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Selbstbestimmung, wobei sie sich auf Art. 2 Abs. 1 GG oder einschlägige Spezialgrundrechte berufen („Grundrechtsverzicht als Grundrechtsgebrauch“).87 Dasselbe muss dann auch für die Festlegung der „Freiwilligkeit“ des Grundrechtsverzichts, also die Funktionsbedingungen der Selbstbestimmung gelten. Denn je höher man die Anforderungen an die selbstbestimmte Entscheidung schraubt, desto geringer wird der Unterschied zur Fremdbestimmung.88 Dass damit die Grenze zwischen Schutzbereichsbestimmung und Grundrechtseingriff verschwimmt89, ist nicht zu leugnen. Ungeachtet dieses konstruktiv-rechtsästhetischen Mankos erscheint diese Vorgehensweise jedoch in der Sache geboten. Sie wird auch insoweit von der Rechtsprechung des BVerfG bestätigt, als dort sowohl selbstgefährdendes Verhalten im Allgemeinen als auch die vertragliche Selbstbindung im Besonderen als Ausübung grundrechtlicher Freiheit begriffen werden.90 Nach alledem kann für die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Grundrechtsverzichtsbeschränkung aus paternalistischen Motiven daher auf die im anschließenden Abschnitt folgenden Ausführungen zur Eingriffsrechtfertigung verwiesen werden. 86 Vgl. ferner BVerfGE 68, 193, 205; 75, 192, 195; BVerfG NJW 1987, 2501 f. Prononciert dazu Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 126 ff., 175 f. Dieser Standpunkt ist auch in der Literatur h.M., s. nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 98; Jeand’Heur, JZ 1995, 161, 165; s. zur Unzulässigkeit der Legitimation paternalistischer Intervention durch die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte auch Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 179 ff., 281; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 108 f. 87 S. Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 176: „Grenzen des Grundrechtsverzichts stellen sich zugleich als Grenzen des Grundrechts selbst dar und müssen deshalb insbesondere dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entsprechen“. Für die Erfassung selbstgefährdender Tätigkeiten durch den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG etwa auch Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 2 Rn. 8; Sachs/Murswiek, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 2 Rn. 211; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 136 ff.; auf der Grundlage spezialgrundrechtlichen Schutzes der Selbstbestimmung ebenso Ohly, „Vonlenti no fit iniuria“, 2002, S. 94 f.; im Ergebnis ebenso ferner Schwabe, JZ 1998, 66, 69 f. 88 Zutreffend Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 74; vgl. auch van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 123 ff.; anders etwa Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 136 f. S. auch bereits oben unter § 2 IV.5. 89 Zur Einordnung des Grundrechtsverzichts als Frage der Schutzbereichsbestimmung s. oben unter § 3 II.2. 90 S. zu ersterem BVerfG NJW 1999, 3399, 3401 [s. dazu bereits oben unter § 3 I.1.3]; zu letzterem die Schutzpflichtenrechtsprechung des BVerfG zu den Grenzen formaler Vertragsfreiheit [dazu oben unter § 3 I.2 und unten unter § 3 VI.1.1]. Diese bejaht nämlich die Berührung des grundrechtlichen Schutzbereiches, obgleich die Voraussetzungen eines gänzlich „freiwilligen“ (vertraglichen) Verzichts auf die in Rede stehenden Rechtsgüter gerade verneint werden (Stichwort: „Fremdbestimmung“). In der Sache auch Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 563 ff., 565, der die Debatte um die Zulässigkeit des Grundrechtsverzichts gegenüber der Einschränkung der formalen Vertragsfreiheit aufgrund grundrechtlicher Schutzpflichten als „anderen Ansatz“ bezeichnet, also keine strenge logische Rangfolge zwischen beiden Problemkreisen annimmt. Ganz ähnlich van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 136 ff.
IV. Rechtspaternalismus als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht
55
IV. Rechtspaternalismus als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht – Grundrechtsschutz gegen Paternalismus Die rechtspaternalistische Intervention wird – vorbehaltlich eines zulässigen Grundrechtsverzichts91 und abgesehen von einer grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates92 – verfassungsrechtlich als Eingriff in das grundrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht begriffen. Ein Großteil der Literatur sieht hier den Schwerpunkt der verfassungsrechtlichen Paternalismusdiskussion.93
1. Betroffene Grundrechte Die Frage nach der grundrechtlichen Anknüpfung des Selbstbestimmungsrechts in eigenen Angelegenheiten hat noch keine einheitliche Antwort gefunden. Die Diskussion offenbart vielmehr eine gewisse Unsicherheit bei ihrer grundrechtsdogmatischen Verortung. Dies gilt nicht zuletzt für die Selbstbestimmung im Privatrecht, also die Privatautonomie94 und ihren Teilaspekt, die Vertragsfreiheit95. Für die Frage der grundrechtlichen Verankerung des Selbstbestimmungsrechts, gerade auch als Schutzgewährleistung gegen paternalistische Eingriffe, lassen sich drei Ansichten unterscheiden: Die einen sehen die Selbstbestimmung durch die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) geschützt96, andere durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)97. Demgegenüber stellt die h.L. auf den Gegenstand der selbstbestimmten Entscheidung oder Betätigung ab und verortet die Schutzgewährleistung im jeweils einschlägigen Spezialgrundrecht.98 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist nicht immer stringent, liegt aber weitgehend auf der Linie der h.L.99 Diese kann auch in der Sache überzeugen. Art. 2 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, selbstbestimmt zu entscheiden und zu handeln, insbesondere Verträge zu schließen und 91
S. dazu soeben unter § 3 III. S. dazu unten unter § 3 V. 93 S. nur Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992; Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005; Schwabe, JZ 1998, 66 ff. 94 Vgl. auch BVerfGE 89, 214, 231; 114, 1, 34: „Privatautonomie als Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben“. 95 Zum Verhältnis von Privatautonomie und Vertragsfreiheit s. nur Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 2 Rn. 4. 96 S. etwa Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 114 ff., 175. 97 S. etwa Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 95 ff. 100: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht als einschlägiges Grundrecht zum Schutz vor paternalistischen Eingriffen. 98 S. etwa Papier, FS Säcker, 2011, S. 1093, 1094; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 91 ff.; ausführlich Isensee, Hdb. d. StaatsR, 3. Aufl. 2009, § 150 Rn. 57 ff.; s. auch die differenzierende Ansicht von Schwabe, JZ 1998, 66, 68 f., der im Hinblick auf einige Spezialgrundrechte selbstschädigendes Verhalten aus deren Schutzbereich ausgrenzt und dann folgerichtig zur Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 1 GG gelangt. 99 Vgl. etwa zur Vertragsfreiheit die Nachweise in den sogleich folgenden Fn. 92
56
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
sich durch sie zu binden.100 Dies gilt aber aufgrund der grundsätzlichen Subsidiarität des Art. 2 Abs. 1 GG101 eben nur, soweit nicht ein anderes (spezielleres) Grundrecht einschlägig ist.102 So kann insbesondere das Recht zur selbstbestimmten Vertragsgestaltung bereits durch spezielle Grundrechte gewährleistet sein.103 Daher wird je nach dem einschlägigen Rechtsgebiet, auf dem ein Vertrag geschlossen wird, der subsidiäre Art. 2 Abs. 1 GG etwa von Art. 6 Abs. 1 GG (ehevertragliche Regelungen), Art. 9 Abs. 1 GG (Gesellschaftsverträge), Art. 9 Abs. 3 GG (Tarifvertragsangelegenheiten), Art. 12 GG (vertragliche Regelung einer beruflichen Beziehung) verdrängt.104 Auch sind Beschränkungen der Freiheit, über ein konkretes eigentumsrechtlich geschütztes Rechtsgut zu disponieren, aus der Sicht des Rechtsinhabers an Art. 14 Abs. 1 GG und nicht an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen.105 Nichts anderes gilt selbstverständlich auch für jede Betätigung der Selbstbestimmung im außervertraglichen Bereich.106 Für Eingriffe aus paternalistischen Motiven anders zu entscheiden und allein auf Art. 2 Abs. 1 GG107 oder Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG108 abzustellen, besteht weder Anlass noch Grund. Freilich darf der Meinungsstreit über die grundrechtliche Verortung der Selbstbestimmung in eigenen Angelegenheiten nicht überbewertet werden. Die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Ansichten sind praktisch erheblicher als ihre Unterschiede.109
2. Eingriff Als paternalistisch motivierte Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht kommen Wahlverbote und Wahlgebote in Betracht. Sie sind das stärkste paternalistische Mittel, da sie rein ergebnisorientiert die Wahlmöglichkeit des Individuums auf 100 S. nur Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 12, 21 ff. m.w.N., 102; Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 2 Rn. 4, auch Rn. 8; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 91 f. 101 S. nur Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 21 und 103. 102 Vgl. nur Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 21 und 103; Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 2 Rn. 4; Isensee, Hdb. d. StaatsR, 3. Aufl. 2009, § 150 Rn. 61. 103 S. nur Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 103; ausführlich Höfling, Vertragsfreiheit, 1999, S. 9 ff. 104 Vgl. nur Höfling, Vertragsfreiheit, 1999, S. 16 ff.; zust. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 103; für die Einschlägigkeit von Art. 12 GG für die eigenverantwortliche Gestaltung von Arbeits- oder ähnlichen Vertragsverhältnissen s. auch BVerfGE 57, 139, 158 ff.; 77, 84, 106 ff., 118; 81, 242, 253 f.; 97, 169, 176 ff.; anders aber BVerfGE 70, 1, 25, wo das Gericht auf Art. 2 Abs. 1 GG abstellt. 105 S. nur Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 103 m.w.N. 106 Vgl. nur Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 93 ff. 107 So aber Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 114 ff., 175. 108 S. aber Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 95 ff. 100, der daneben freilich immer noch das „direkt“ betroffene Grundrecht für einschlägig hält. 109 S. etwa Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 99; vgl. aber auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 96.
IV. Rechtspaternalismus als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht
57
Null reduzieren und damit den schwerstmöglichen Eingriff in die Selbstbestimmung darstellen.110 Wahlverbote bzw. -gebote sind etwa Drogenverbote, die Helmpflicht für Motorradfahrer oder die Gurtpflicht in Kraftfahrzeugen. Zwar kann sich der Einzelne weiterhin für die verbotene bzw. nicht gebotene Wahlmöglichkeit entscheiden, er hat dann aber sehr bis prohibitiv hohe Kosten zu gewärtigen. Paternalistisch motivierte Wahlhilfen, die auf den Entscheidungsprozess einwirken, ohne ein Entscheidungsergebnis zwingend vorzugeben111, können jedoch ebenfalls Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht darstellen, wenn sie sich nicht auf bloße Information beschränken, sondern – wie etwa Beratungspflichten – den Entscheider mit Kosten belasten. Entsprechend sind in der Rechtsprechung nicht nur Vertragsabschlusspflichten112 oder inhaltliche Gestaltungsvorgaben113 als Eingriff in die Vertragsfreiheit qualifiziert worden, sondern etwa auch Genehmigungsvorbehalte114 oder die vertragsschlussbegleitende behördliche Überwachung115.116
3. Grundrechtsschranken – Verfassungsrechtliche Rechtfertigung paternalistischer Intervention 3.1 Standpunkt der h.L. – Prinzipielles Verbot von Eingriffen zum Schutz des autonomen Entscheiders Im neueren verfassungsrechtlichen Schrifttum wird die Eingriffslegitimation durch paternalistische Zwecke von der großen Mehrheit prinzipiell abgelehnt.117 Die grundrechtlich eingeräumte Dispositionsbefugnis über bestimmte Rechtsgüter könne nicht zum Schutz eben dieser Güter eingeschränkt werden, ohne die Grundrechte zu pervertieren.118 Der Verweis auf die Schutzpflichtdimension der Grundrechte führe zu keinem anderen Ergebnis, da es nicht um eine Schutzpflicht, sondern um eine Schutzberechtigung gehe. Diese sei aber der Schutz110
S. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 124 f.,
136. 111 S. ausführlich zu Wahlhilfen unter dem Aspekt begrenzter Rationalität van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 125 ff. Diese werden in der staatsrechtlichen Diskussion häufig vernachlässigt; vgl. etwa Schwabe, JZ 1998, 66, 68. 112 Vgl. BVerfG NJW 2001, 1709 ff. (Pflegepflichtversicherung). 113 Vgl. etwa BVerfGE 8, 274, 328; 70, 1, 25 (gesetzliche Preisvorgaben). 114 Vgl. etwa BVerfGE 21, 87 ff.; 60, 329, 339. 115 Vgl. BVerwGE 3, 303, 304. 116 Vgl. den Überblick bei Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 102. 117 S. nur die einschlägigen Monographien von Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 281 ff. und passim; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 118 ff., 175 ff.; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 244 und passim; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 145 ff., 239 f.; aus der Aufsatzliteratur etwa Schwabe, JZ 1998, 66, 69 f.; ferner wiederum Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 171 f. und öfter. 118 So wörtlich Schwabe, JZ 1998, 66, 70; s. ferner jüngst Kirste, JZ 2011, 805, 815 f.
58
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
pflicht vorgelagert. Eine aus den Grundrechten abzuleitende Befugnis, Rechtsgüter gegen den Willen ihres Trägers zu schützen, also gegen denjenigen, dem diese Grundrechte die Disposition über die Rechtsgüter verbürgen, könne es prinzipiell nicht geben.119 Die Rechtfertigung für eine Beschränkung der Selbstbindung des Einzelnen muss dann – zumindest grundsätzlich120 – in Defiziten des Entscheidungsprozesses121 oder in durch die Entscheidung zugleich betroffenen Dritt- und Gemeinwohlbelangen122 gesucht werden. 3.2 Menschenwürde? 3.2.1 Meinungsstand Nach der überkommenen Auffassung im verfassungsrechtlichen Schrifttum kann niemand auf seine Menschenwürde i.S. des Art. 1 Abs. 1 GG einschließlich des Menschenwürdegehalts anderer Grundrechte verzichten.123 Zur Begründung dieses Ergebnisses wird teilweise ergänzend auf die Kernbereichsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG hingewiesen.124 An die Unverzichtbarkeit der Menschenwürde anknüpfend hatte das BVerwG in seiner berühmten Peepshow-Entscheidung125 eine Verletzung der Menschenwürde der Darstellerinnen angenommen. Hieran – so das Gericht – ändere auch ihre freiwillige Teilnahme an den Darbietungen nichts, da der einzelne Grundrechtsträger in die Verletzung seiner Menschenwürde nicht einwilligen könne. Diese Entscheidung ist durchaus auf Zustimmung gestoßen. Das Prinzip der Menschenwürde stecke einen äußeren Rahmen ab, den zu überschreiten dem Einzelnen nicht gestattet sei. Dem Staat komme insoweit eine Pflicht zu, den Einzelnen vor der Aufgabe seiner Würde zu bewahren.126 Die nunmehr ganz h.L. hält dieser Position jedoch entgegen, dass die Autonomie des Einzelnen für seine Menschenwürde konstitutiv ist. Jemand der freiwillig seine eigenen Rechtsgüter zur Disposition stelle, könne seine eigene Menschenwürde daher gar nicht verletzen.127 Die Menschenwürde einer Person 119 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 147 f.; zust. Schwabe, JZ 1998, 66, 70. 120 Zu möglichen Ausnahmen s. sogleich unter § 3 IV.3.2 und unten unter § 3 VI.3. 121 S. dazu unten unter § 3 IV.3.4. 122 S. dazu unten unter § 3 IV.3.5. 123 Vgl. etwa Isensee, in: Hdb. des StaatsR, 2. Aufl. 2000, § 111 Rn. 115; Stern, Staatsrecht III/2, 1994, § 86 III 3 a (S. 923); Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 152; jüngst Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, 2011, S. 85 m.w.N.; zum Verhältnis von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 1 der Grundrechtecharta der EU Schwarz, Der Staat 50 (2011), 533 ff. 124 So etwa Bleckmann, Staatsrecht II, 4. Aufl. 1997, § 15 Rn. 23; Stern, Staatsrecht III/2, 1994, § 86 III a (S. 925). 125 BVerwGE 64, 274 ff. 126 So etwa Hinrichs, NJW 2000, 2173, 2175; Gern, NJW 1983, 1585, 1589; Redeker, BayVBl. 1985, 73, 78. S. zu diesem Einsatz der Menschenwürde als Eingriffsermächtigung allgemein jüngst Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, 2011, S. 80 ff. 127 So etwa Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 1 Abs. 1 Rn. 36, 114; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Mai 2009, Art. 1 Rn. 32; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, S. 86 ff.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und
IV. Rechtspaternalismus als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht
59
wird daher als Legitimation eines staatlichen Eingriffs zum Schutz gegen die eigene Entscheidung des Grundrechtsträgers überwiegend abgelehnt.128 3.2.2 Stellungnahme Der h.L. ist insofern beizupflichten, als ein pauschaler Hinweis auf die unveräußerliche Menschenwürde und die Pflicht des Staates, diese zu schützen (vgl. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG), eine tatsächlich freiwillig129 erfolgende Disposition über die eigenen Rechtsgüter nicht rechtfertigen kann. Vor dem Hintergrund eines in seinem Ausgangspunkt liberalen Grundrechtsverständnisses des Grundgesetzes130 aktualisiert sich die Würde des Menschen gerade in seiner autonomen Entscheidung.131 Die wertgebundene Ordnung des Grundgesetzes dient gerade dazu, „die Eigenständigkeit, die Selbstverantwortlichkeit und die Würde des Menschen in der staatlichen Gemeinschaft [zu …]sicher[n]“132. Die Menschenwürde ist danach als die Würde der freien menschlichen Persönlichkeit zu verstehen. Denn „[d]as Grundgesetz erkennt dadurch, daß es die freie menschliche Persönlichkeit auf die höchste Stufe der Wertordnung stellt, ihren Eigenwert, 128 Gesundheit, 1987, S. 230 f.; Höfling, NJW 1983, 1582, 1593 f; Huster, NJW 2000, 3477, 3477 f.; v. Olshausen, NJW 1982, 2221, 2222; Schmitt Glaeser, ZRP 2000, 395, 400 (vgl. aber ebd. 401 ff.); von Münch/Kunig, GG, 5. Aufl. 2000, Art. 1 Rn. 34 (der Autonomieanspruch habe regelmäßig Vorrang); in diesem Sinne auch Schaefer, AöR 135 (2010), 404, 408 f. und öfter; i.E. ferner Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 116 ff.; vorsichtiger Singer, FS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 177; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 158 ff.; differenzierend Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, 2011, S. 85 f. Das BVerwG stellt denn mittlerweile auch auf die Sittenwidrigkeit ab, ohne mit Art. 1 GG zu argumentieren, s. u.a. NVwZ 1990, 668, 669 und NJW 1996, 1423 ff. Das VG Neustadt hat in seiner Entscheidung zum Zwergenweitwurf [NVwZ 1993, 98 ff.] neben der Menschwürde auf die Gefahr einer Gefühlsverrohung gegenüber Behinderten abgestellt. 128 So etwa Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 177 ff., 281; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, 138, 176; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 47 f.; Möller, Paternalismus und Persönlichkeit, 2005, S. 116 ff.; v. Münch/v. Münch, GG, 5. Aufl. 2000, Vorb. Art. 1–19 Rn. 63; v. Münch/Kunig, GG. 5. Aufl. 2000, Art. 1 Rn. 36 (Stichwort: Peep-Show); Schwabe, JZ 1998, 66, 70, alle m.w.N.; differenzierend Isensee, in: Hdb. des StaatsR, 2. Aufl. 2000, § 111 Rn. 113, 115; s. auch ders., in: HGR IV, 2011, § 87 Rn. 138 f.; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 104 f.; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 158 ff.; zur PeepshowEntscheidung und ihrer Rezeption unter dem Aspekt eines zwischen Normativität und Faktizität changierenden Sittenwidrigkeitsbegriffs Dreier, GS Mayer-Maly, 2011, S. 141 ff. 129 Zur Frage der Voraussetzungen einer autonomen Entscheidung s. bereits oben unter § 2 IV.3 und unter § 3 IV.3.4. 130 S. zu den verschiedenen Grundrechtstheorien bereits oben unter § 3 III.2. 131 Vgl. auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 104: „Die Autonomie der Person ist geradezu die Essenz der Menschenwürde.“; in diesem Sinne pointiert auch Schaefer, AöR 135 (2010), 404 ff.; klar ferner Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 166 ff. 132 S. BVerfGE 6, 32, 40 unter Bezugnahme auf BVerfGE 2, 1, 12 f.; 5, 85, 204 ff.; zust. referiert bei Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 109; in der Sache auch Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 118 f.: Unter dem Grundgesetz dürfe jeder seine eigenen Werte setzen.
60
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
ihre Eigenständigkeit an. Alle Staatsgewalt hat den Menschen in seinem Eigenwert, in seiner Eigenständigkeit zu achten und zu schützen“133. Demgegenüber läuft die Gegenposition Gefahr, über die zwangsweise Durchsetzung „würdigen“ Verhaltens den Adressaten dieser gutmeinenden Intervention lediglich die eigenen Wertvorstellungen aufzudrängen.134 Nach alledem lässt sich die Garantie der Menschenwürde allenfalls für extreme Fälle der freiwilligen Freiheitsbeschränkung als Legitimation für eine paternalistische Intervention fruchtbar machen, in denen eine derart fundamentale Freiheitsbeschränkung für die Zukunft des sich in der Gegenwart frei und selbstverantwortlich bindenden Individuums vorliegt, dass die faktischen Voraussetzungen eines der eigenen Personenwürde angemessenen Lebens nicht mehr gewahrt scheinen.135 Zu denken ist hier etwa an das Mill’sche Beispiel des Selbstverkaufs in die Sklaverei136 oder sonstwie die eigene Selbstbestimmung unangemessen lange und intensiv beschränkende Entscheidungen137. In diesen Fällen aktualisieren sich die Einflüsse des Sozialstaatsprinzips auf das Verständnis grundrechtlicher Freiheitsgewährleistung.138 Der Staat ist dann nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet139, zur Sicherung eines „würdigen“ Lebens in Eigenständigkeit und Selbstverantwortung des sich selbst bindenden Individuums einzugreifen.140
133 Sondervotum (Geller, v. Schlabrendorff, Rupp), BVerfGE 30, 1, 33 ff., 39 f.; zust. Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 109. Diesen Zwischenschritt übersieht etwa Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 361 ff. 134 Deutlich Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 119; s. auch Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, 2011, S. 85; Schaefer, AöR 135 (2010), 404, 408 ff. 135 S. auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 104 f.; Isensee, HGR IV, 2011, § 150 Rn. 138; Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, 2011, S. 86 (Bewahrung vor Verlust der Selbstachtung); ferner Seelmann, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 206, 215 ff., der insofern von einem Schutz der „Orientierungskompetenz“ des Einzelnen spricht und diese im Grenzbereich von Paternalismus und Moralismus einordnet. 136 S. auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 104 f.; Isensee, HGR IV, 2011, § 150 Rn. 138; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 363 ff. sowie ders., JZ 2011, 814, 815, der die Unzulässigkeit solcher Abreden mit der objektiven Wertordnung des Grundgesetzes begründet. 137 Vgl. auch in anderem Zusammenhang Wagner-von Papp, AcP 205 (2005), 342, 382. 138 Vgl. dazu Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1535 f. und 1537 f. 139 So etwa Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 182 f.; ähnlich Wiedemann, JZ 1994, 411, 412; zur Schutzpflichtdimension der Grundrechte unten unter § 3 V. 140 Diese Wirkung des Sozialstaatsprinzips übersehen etwa Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 257 f. und Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, 131 f. Letzterer behilft sich für die Begründung der Unzulässigkeit der Selbstversklavung mit einem Verweis auf den Schutz der Gesellschaft als Ganzes [s. ders., ebd., S. 124 in Fn. 60]. S. zu diesem Argumentationsmuster noch unten unter § 3 VI.3.1 mit Fn. 309. Ähnlich wie hier Dürig, AöR 81 (1956), 117, 123 f. mit 153; jüngst ferner Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, 2011, S. 86.
IV. Rechtspaternalismus als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht
61
3.3 Freiheitsmaximierung und „Integritätsschutz“ als Legitimation paternalistischer Intervention? 3.3.1 Untauglichkeit der Freiheitsmaximierung als Eingriffsrechtfertigung Noch einen bedeutenden Schritt weiter gehen diejenigen, welche in Anlehnung an Regan141 Paternalismus mit dem Prinzip der Freiheitsmaximierung rechtfertigen wollen.142 Dieser Ansatz betrachtet nicht isoliert den Zeitpunkt einer bestimmten Entscheidung, sondern alle möglichen Handlungsoptionen über die gesamte Lebensdauer und versucht deren „Freiheitswert“ zu maximieren. Diese Ansicht begegnet jedoch Bedenken. Denn sie hat nicht nur mit den offensichtlichen Problemen zu kämpfen, die sich aus der Annahme ergeben, dass Freiheit quantifizierbar sei.143 Das Freiheitsmaximierungsprinzip stößt sich als objektives Konzept auch mit dem Freiheitsbegriff des Grundgesetzes. Geht es dem Grundgesetz gerade darum, „die Eigenständigkeit, die Selbstverantwortlichkeit und die Würde des Menschen in der staatlichen Gemeinschaft [zu …]sicher[n]“, aktualisiert sich die Würde des Menschen also gerade in seiner autonomen Entscheidung,144 so ist damit das Prinzip einer objektiven Bewertung verschiedener Freiheitsbetätigungen nicht vereinbar. Denn dies liefe – wie Möller treffend einwendet – in der Sache auf einen vom Grundgesetz nicht gebilligten Werteoktroy hinaus.145 Das in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Prinzip der Autonomie umfasst eben auch diejenige freie Selbstbindung des Einzelnen, welche eine Vielzahl von künftigen Entscheidungsmöglichkeiten ein für allemal ausschließt.146 Dies ist gerade ein Merkmal wichtiger Lebensentscheidungen.147 Schließlich kann bezweifelt werden, ob das Konzept einer Gesamtfreiheitsmaximierung mit demjenigen von einer Gewährleistung einzelner Grund(freiheits)rechte, wie sie dem
141
S. Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, S. 113, 120 f.; dazu bereits oben unter § 2 V.2. So etwa Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 60 ff. 143 Hierauf weist Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, S. 113, 119 selbst hin. Demgegenüber hält etwa Kleinig, Paternalism, 1984, S. 21 ff. Freiheit für nicht messbar und ihre Quantifizierbarkeit daher für schlicht unmöglich. 144 S. dazu soeben unter § 3 IV.3.2. 145 Die Berechtigung dieses Einwandes wird bei Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 120 offensichtlich. Dort heißt es etwa: „I do not suggest, however, that we would be justified in forbidding all risky activities. Consider mountain-climbing. Although there are substantial risks involved in mountain-climbing, the freedom that would be lost if mountain-climbing were forbidden looms much larger, to my mind, than the freedom that is lost if cigarettes are prohibited or seat-belts required. For one thing, mountain-climbing is likely to be much more important to people who want to climb mountains than cigarettes are to people who want to smoke cigarettes. […] Beyond all of that, I am inclined to think that mountain-climbing is intrinsically a more valuable activity than cigarette-smoking.“ Zu diesem Beispiel auch Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 122. 146 Vgl. aus philosophischer Perspektive Kleinig, Paternalism, 1984, S. 54 f. unter Verweis auf Feinberg. 147 Zutr. Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 123 f. 142
62
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
Grundgesetz – und überdies der liberalen Tradition – zugrunde liegt, friktionslos zu vereinbaren ist.148 Wer diese Argumentation bereits als implizite Einlassung auf den Freiheitsmaximierungsansatz versteht,149 übersieht, dass es dabei gerade nicht um eine objektive Abwägung künftiger mit gegenwärtiger Freiheit zugunsten letzterer geht, sondern darum, die tatsächlich getroffene Entscheidung des Einzelnen ernst zu nehmen und nicht durch eine virtuelle künftige Entscheidung zu relativieren.150 3.3.2 Eingriffsrechtfertigung durch „Integritätsschutz“? Damit soll aber keineswegs geleugnet werden, dass die eigenen Präferenzen des Entscheiders zu zwei verschiedenen Zeitpunkten miteinander in Konflikt geraten können. Auch hier gilt aber der Grundsatz, dass freie Entscheidungen des Einzelnen ernst zu nehmen sind und sich dies auch gegen den Entscheider selbst wenden kann, wenn er nach der einmal getroffenen Entscheidung seine Präferenzen ändert. Will man stattdessen im Rahmen einer Abwägung „intertemporale Konkordanz“ schaffen,151 so ist auch hier der Versuchung zu widerstehen, bei der relativen Bewertung der Präferenzen des Entscheiders in t0 und t1 externe Wertungen über die (relative) „Werthaltigkeit“ oder (relative) „Wertlosigkeit“ eines Entscheidungsergebnisses entscheiden zu lassen. Hierum bemüht sich der Ansatz von Möller, der Eingriffe in die Autonomie des Einzelnen, verstanden als Respekt vor der Entscheidung in eigenen Angelegenheiten, zum Schutz der persönlichen „Integrität“ des Entscheiders zulassen will.152 Der auf Kleinig153 zurückgehende Begriff der Integrität ist eine Umschreibung der individuellen Langzeitpräferenzen des Entscheiders selbst154. Gerät die konkrete Entscheidung mit diesen in Konflikt, sei der „Entscheidungsaspekt“ mit dem „Integritätsaspekt“, also den eigenen Werten des Entscheiders, abzuwägen.155 Dieses Konzept übersieht jedoch, dass der einzelne Entscheider selbst eine Metapräferenz (Präferenz zweiter Ordnung) hat oder doch zumindest haben könnte, die über die Gewichtung von Kurzzeit- und Langzeitpräferenzen entscheidet. Eine Entscheidung in t0 ist daher grundsätzlich als Ausdruck der entsprechenden Metapräferenz anzu148 Vgl. Kleinig, Paternalism, 1984, S. 23 und S. 53 ff. m.w. Argumenten gegen den Freiheitsmaximierungsansatz von Regan. 149 So Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 60 f. 150 Gegen die Argumentation von Enderlein auch Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 123. 151 S. den Ansatz von Wagner-von Papp, AcP 205 (2005), 342, 356 ff., 376 ff. 152 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 179 ff., 222. 153 S. oben unter § 2 V.3. 154 Vgl. Kleinig, Paternalism, 1983, S. 68: „[W]hen our conduct or choices place our more permanent, stable, and central projects in jeopardy, and where what comes to expression in this conduct or these choices manfests aspects of our personality that do not rank highly in our constellation of desires, dispositions, etc., benevolent interference will constitute no violation of integrity. Indeed, if anything, it helps to preserve it.“; zum Paternalismuskonzept von Kleinig s. auch Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 170 ff. 155 Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 222.
IV. Rechtspaternalismus als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht
63
sehen, solange sich keine Anhaltspunkte für einen „Defekt“ bei der Präferenzformung und/oder -betätigung ergeben.156 Nur eine solche Sichtweise trägt der liberalen Grundausrichtung des Grundgesetzes Rechnung. Bei der praktischen Handhabung dieses Konzeptes besteht zudem die Gefahr – dies zeigen die Ausführungen von Möller selbst157 –, dass der Rechtsanwender bei der Bestimmung der Langzeitpräferenzen des Entscheiders mit Unterstellungen arbeitet, die auf seiner eigenen Bewertung beruhen. 3.3.3 Zeitinkonsistentes Verhalten aufgrund von Defiziten des Entscheidungsprozesses Der Gefahr eines Werteoktroy lässt sich nach dem Gesagten wohl begegnen, wenn man in Fällen des intertemporalen Präferenzkonflikts die Qualität des in Rede stehenden Entscheidungsprozesses untersucht und sich hierbei Entscheidungsdefizite identifizieren lassen. Hier können die Einsichten der psychologischen und verhaltensökonomischen Forschung wertvolle und vor allem empirisch valide und damit objektiv nachvollziehbare Einsichten liefern.158 Dann geht es in Wahrheit um die Sicherung der Autonomie des Entscheiders durch weichen Paternalismus und nicht um Heteronomie durch harten Paternalismus.159 3.4 Zur Voraussetzung freier Willensentscheidung – Verfassungsrechtliche Zulässigkeit weichen Paternalismus 3.4.1 Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe bei Defiziten der Selbstbestimmung Der von der herrschenden Meinung im Verfassungsrecht verfochtene Grundsatz, dass Eingriffe nicht (allein) mit dem Schutz des vom Eingriff Betroffenen gerechtfertigt werden können, basiert auf der entscheidenden Voraussetzung, dass eine autonome Bestimmungsmacht über das Grundrechtsschutzgut besteht. Wer hingegen aufgrund von äußerem Druck oder fehlender Einsichtsfähigkeit nicht fähig ist, seine grundrechtlich geschützten Interessen eigenverantwortlich zu verfolgen, der wird nach wohl einhelliger Ansicht durch staatlichen 156
Vgl. zur Kritik des Ansatzes von Kleinig bereits oben unter § 2 V.3. S. Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 194 ff., besonders deutlich wird dies bei seinen Ausführungen zum Raucherschutz auf S. 205: „Es geht nicht darum, zu entscheiden, ob Rauchen ,objektiv‘ vernünftig oder unvernünftig ist, sondern darum, ob die Entscheidung für das Rauchen bei Zugrundelegen der subjektiven Wertvorstellungen der Betroffenen verständlich ist. Jeder hat das Recht, den mit dem Rauchen verbundenen Genuss für sich selbst als so hoch einzuschätzen, dass er die Gesundheitsgefahren in Kauf nimmt. Die Frage ist bloß, ob die Raucher diese Abwägung wirklich so vornehmen, oder ob es nicht die plausiblere Interpretation ist, dass sie wissen, dass das Rauchen ihnen viel mehr schadet als nützt, aber aus den verschiedensten Gründen (Unreife, soziale Zwänge, Abhängigkeit) nicht vom Rauchen loskommen.“ 158 S. dazu noch ausführlich unten unter § 5. 159 S. zu den Begriffen des weichen und harten Paternalismus oben unter § 2 IV.2. 157
64
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
Paternalismus in seiner Freiheit nicht eingeschränkt.160 Daher steht außer Streit, dass paternalistische Eingriffe zum Schutz Minderjähriger, Bewusstloser und Geisteskranker von Verfassungs wegen zulässig sind.161 Als weitgehend konsentiert kann auch gelten, dass bei gravierenden Störungen der Selbstbestimmungsfreiheit wie Drohung, Täuschung oder Zwang, die nach den Wertungen des Bürgerlichen Rechts die Zurechnung rechtsgeschäftlichen Handelns ausschließen, keine autonome Entscheidung vorliegt, die sich auf grundrechtlichen Schutz berufen kann.162 3.4.2 Anforderungen an die selbstbestimmte Entscheidung – Die Diskussion in der Literatur Ob und inwieweit darüber hinaus weitergehende Anforderungen an die Voraussetzungen der Entscheidungsfindung des Einzelnen zu dessen eigenem Schutz gestellt werden dürfen, ist hingegen äußerst umstritten. Einen restriktiven Standpunkt nimmt insoweit etwa Schwabe ein, der paternalistische Eingriffe über die genannten Personengruppen hinaus nur noch zugunsten „psychisch Gestörter“, unter die er auch ansonsten gesunde Menschen in einem psychischen Ausnahmezustand subsumiert, und Suchtkranker für verfassungsrechtlich zulässig hält.163 Deutlich weiter gehen etwa solche Stimmen, die paternalistische Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht ganz allgemein aufgrund von „Funktionsdefiziten formaler Entscheidungsfreiheit“ zulassen wollen und dabei auch auf „vielfältige wirtschaftliche und soziale Zwänge“ verweisen.164 Für die (privat-)vertragliche Selbstbindung wird dies im aktuellen privatrechtlichen Schrifttum dahingehend präzisiert, dass neben dem Schutz nicht voll Geschäftsfähiger und dem gesetzlich in den §§ 119 ff. BGB und § 138 Abs. 2 BGB anerkannten Willensmängeln165 gewisse „außergesetzliche Willensmängel“ (paternalistische) Eingriffe in die Vertragsfreiheit rechtfertigen könnten, worunter etwa psychologischer Druck oder 160 S. nur Schwabe, JZ 1998, 66, 70; Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 172 ff.; vgl. ferner etwa Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 59 ff. zum Grundsatz der Autonomie als „ausgestaltungsdirigierende Vorgabe der Vertragsfreiheit“. 161 S. etwa BVerfGE 58, 208, 225 f.; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 121 ff., 175; ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 172 ff.; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 135, 145 ff.; Schwabe, JZ 1988, 66, 70. 162 Vgl. nur Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 183 m.w.N. für den Grundrechtsverzicht; ferner Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 75; ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 176 ff. Vorbehalte finden sich aber bei Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 140 ff., 144, 153 f. 163 Schwabe, JZ 1988, 66, 70. 164 S. Singer, JZ 1995, 1133, 1140 f.; ders., FS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 183 ff. 165 Vgl. in diesem Zusammenhang BGH WM 2011, 2311, insb. Tz. 27–28, wonach der im Voraus vereinbarte Ausschluss des Anfechtungsrechts aus § 123 Abs. 1 BGB unwirksam ist, weil sich der Erklärende der Willkür des Vertragspartners aussetze und seine freie Selbstbestimmung vollständig aufgebe.
IV. Rechtspaternalismus als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht
65
Wahrnehmungsverzerrungen subsumiert werden.166 Letztere Fallgruppe nimmt Bezug auf systematische Rationalitätsdefizite des Menschen, die durch die psychologische und verhaltensökonomische Forschung aufgespürt worden sind.167 Diese Rationalitätsdefizite auszugleichen, wird auch jenseits privatrechtlicher Fallgestaltungen als verfassungsrechtlich zulässige Rechtfertigung paternalistischer Intervention und überdies als taugliches Instrument zur Identifizierung des mildesten Mittels angesehen.168 Andere begnügen sich hingegen mit einem pauschalen Hinweis auf die mangelnde freie Willensbildung oder „Freiwilligkeit“ einer Entscheidung oder Betätigung, die eine paternalistische Intervention rechtfertigen könnten, ohne dies weiter zu konkretisieren.169 3.4.3 Anforderungen an die selbstbestimmte Entscheidung – Aussagen in der Rspr. des BVerfG Auch das BVerfG hat – wie eingangs dargestellt – im Zusammenhang mit der Zulässigkeit fürsorglicher Intervention des Staates darauf hingewiesen, dass der mit dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen verbundene Freiheitsanspruch „nicht losgelöst von den tatsächlichen Möglichkeiten“ des Betroffenen bestimmt werden kann, „sich frei zu entschließen“.170 Welche Anforderungen an die freie Willensentschließung oder Freiwilligkeit der Entscheidung gestellt werden dürfen, damit ihr Unterschreiten eine paternalistische Intervention von Staatsseite rechtfertigen kann, lässt es jedoch weitgehend offen. In der referierten Entscheidung zum Verbot einer Organlebendspende an andere als nahestehende Personen hat das Gericht allerdings zu verstehen gegeben, dass es jedenfalls bei schwerwiegenden körperlichen Folgen der Entscheidung des Grundrechtsträgers dem Gesetzgeber paternalistische Eingriffe bis zum Verbot des intendierten Verhaltens schon dann zugestehen will, wenn kein anderes Mittel mit Sicherheit die (nicht näher definierte) „Freiwilligkeit“ der Entscheidung gewährleisten kann.171 Dies spricht für einen weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers auch hinsichtlich der Anforderungen an diese „Freiwilligkeit“ selbst.172 Hierzu passt auch die Aussage des BVerfG zur grundrechtlichen Schutzpflicht im Privatrecht, dass sich der Verfassung nicht unmittelbar entnehmen lasse, wann Ungleichgewichtslagen so schwer wiegen, dass die Vertragsfreiheit durch zwingendes Gesetzesrecht be166
So Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1203 f.; ganz ähnlich bereits Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 563 ff.; vgl. auch Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 59 ff. S. aber auch Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 75; ders., Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 149 ff. S. hierzu noch unten unter § 3 VI.2.3.3. 167 Dazu noch ausführlich unten unter § 5. 168 S. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff.; a.A. Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 177 f., der dabei allerdings „Rationalität“ und „Vernünftigkeit“ gleichsetzt. 169 Vgl. etwa Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 244. 170 BVerfGE 58, 208, 225; s. hierzu bereits o. unter § 3 I.1.2. 171 BVerfG NJW 1999, 3399, 3401 f.; s. hierzu bereits oben unter § 3 I.1.3. 172 Auf diesen Gestaltungsspielraum verweist auch das Gericht.
66
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
grenzt oder ergänzt werden muss.173 Für die richterliche Auslegung der §§ 138, 242 BGB konkretisiert das Gericht die Schutzpflicht auslösende Fremdbestimmung bei vertraglicher Bindung allerdings mit der Formel von der „strukturellen Unterlegenheit“, die für den unterlegenen Vertragsteil mit „ungewöhnlich belastenden“ Vertragsfolgen verbunden ist.174 Auch dieser verfassungsrechtlich konkretisierte Rahmen bedarf jedoch noch der Präzisierung auf einfachrechtlicher Ebene175. Mit der Annahme einer Schutzpflicht impliziert das BVerfG jedenfalls auch eine entsprechende Eingriffsberechtigung für diese Fälle.176 3.4.4 Fazit Zusammenfassend kann für die an dieser Stelle allein interessierenden verfassungsrechtlichen Vorgaben für einen paternalistisch motivierten Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht festgehalten werden, dass ein solcher als weicher Paternalismus zulässig ist, wenn die selbstbestimmte Entscheidungsfindung der zu schützenden Person in erheblicher Weise beeinträchtigt ist. Dabei ist freilich zu beachten, dass sich weicher Paternalismus von hartem Paternalismus immer weniger unterscheidet, je höher die Anforderungen an eine autonome Entscheidung geschraubt werden.177 Für die hier besonders interessierende Begrenzung vertraglicher Selbstbindung – soviel kann an dieser Stelle bereits festgehalten werden178 – entspricht es der Rechtsprechung des BVerfG und der überwiegenden Meinung im Schrifttum, dass sich diese Eingriffsrechtfertigung nicht nur auf die Fälle beschränkter oder fehlender Geschäftsfähigkeit und der gesetzlichen Willensmängel gem. §§ 119 ff., 138 Abs. 2 BGB beschränkt. Allerdings ist bisher weitgehend ungeklärt, welche Anforderungen an andere unbenannte Willensmängel bzw. „Freiwilligkeitsdefizite“ zu stellen sind, damit sie zu einem paternalistischen Eingriff berechtigen. Bei der Bestimmung dieser Anforderungen kommt dem Gesetzgeber nach Ansicht des BVerfG allerdings ein weiter Gestaltungsspielraum zu. 3.5 Die Berufung auf Dritt- und Gemeinwohlinteressen 3.5.1 Problembeschreibung Die insbesondere im staatsrechtlichen Schrifttum formulierten Anforderungen an die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von paternalistischen Maßnahmen sind hoch. Die Einordnung einer Maßnahme als paternalistisch wird dabei durch ih173
BVerfGE 81, 242, 255. S. oben unter § 3 I.2; dazu noch unten unter § 3 VI.2.3.1. 175 Dies schließt die richterliche Ausfüllung einfachgesetzlicher Generalklauseln mit ein. Zumindest i. Erg. ähnlich wie hier Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 74. Vgl. zu den Aussagen des BVerfG zur Funktion des einfachen Rechts noch unten unter § 3 VI.2.4. 176 Vgl. zum Verhältnis von grundrechtlicher Eingriffsberechtigung und Schutzpflicht Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 148; ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 176 ff. Dazu noch unten unter § 3 V.2. 177 Hierauf hinweisend Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 74. 178 Hierzu noch ausführlicher unten unter § 3 VI.2. 174
IV. Rechtspaternalismus als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht
67
ren Eingriffszweck bestimmt, den Betroffenen vor selbstschädigendem oder selbstgefährdendem Verhalten zu schützen. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine identische Maßnahme erscheinen hingegen deutlich geringer, wenn sie auf Gemeinwohlzwecke oder den Schutz Dritter gestützt wird.179 Allerdings lassen sich diese Zwecke oftmals nicht genau voneinander trennen.180 Nicht selten liegen einer Regelung neben paternalistischen Motiven auch Gemeinwohl- oder Drittschutzzwecke zugrunde.181 Dann kann die Verfolgung dieser nichtpaternalistischen Zwecke eine solche Regelung rechtfertigen, wo eine ausschließlich paternalistische Zwecksetzung dies nicht könnte.182 Inwieweit eine solche Berufung auf Gemeinwohl- und Drittschutzzwecke einer – zumindest auch – paternalistischen Regelung zulässig ist, wird unterschiedlich beurteilt. Das BVerfG stellt – wie gezeigt183 – in recht großzügiger Weise auf Gemeinwohl- und Drittinteressen ab, um fürsorgende Regelungen zu rechtfertigen.184 Im Schrifttum wird diese Rechtsprechung teilweise heftig kritisiert185, während andere ähnlich großzügig sind wie das BVerfG186. So will etwa Schwabe als ein die Einschränkung selbstgefährdenden oder -schädigenden Verhaltens rechtfertigendes Drittinteresse ausreichen lassen, dass Familienangehörige des Grundrechtsträgers von schwerem familiärem Leid verschont bleiben oder davon, die Selbstschädigung leidend erleben zu müssen.187 Eine solch großzügige Anerkennung rechtfertigender Gemeinwohl- und Drittinteressen, welche bei einer im Kern paternalistisch motivierten Regelung nahezu immer hinzugedacht werden können, begründet freilich die Gefahr, die nach ganz mehrheitlicher Ansicht strengen Anforderungen an den paternalistisch motivierten Eingriff zu entwerten.188 179 S. zu dieser Einschätzung auch van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 137. 180 S. wiederum van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 137. 181 S. zu Beispielen aus der Rspr. oben unter § 3 I.1.1. 182 Beschreibend auch Seelmann, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 206, 217. 183 S.o. unter § 3 I.1.1. 184 So auch die Einschätzung von van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 137 f. unter Verweis auf BVerfGE 59, 275, 278 – Helmpflicht; 90, 145, 184 – Cannabis und BVerfG NJW 1987, 180 – Sitzgurtpflicht. Die Rechtfertigung der gesetzlichen Helm- und Sitzgurtpflicht mit Dritt- und Gemeinwohlinteressen scheint auch in anderen Rechtsordnungen verbreitet, vgl. nur Kleinig, Paternalism, 1984, S. 82; kritisch hierzu Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 563. 185 Vgl. nur Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 95 ff., 160 ff. 186 S. etwa Schwabe, JZ 1998, 66, 70 ff.; gegen eine solche Argumentation Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 563: „The externality argument […] would require regulations to discriminate between the activities undertaken by those with dependants and by those without.“ 187 S. Schwabe, JZ 1998, 66, 71; ferner Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 221 ff., der ein Recht anderer anerkennt, nicht durch selbstschädigende Akte im eigenen Wertgefühl beeinträchtigt und einem „Unlustempfinden“ ausgesetzt zu sein. Dieses Recht auf Achtung der persönlichen Gefühlswelt und Integrität des Seelenlebens soll dann im Einzelfall mit dem Selbstbestimmungsrecht des Selbstschädigers abgewogen werden. 188 Vgl. exemplarisch Schwabe, JZ 1998, 66 ff.; zu Recht kritisch daher Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 139.
68
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
3.5.2 Die finanzielle Belastung der sozialen Sicherungssysteme Eine kontroverse Diskussion hat sich im Schrifttum insbesondere an der Frage entzündet, inwiefern die finanzielle Belastung der sozialen Sicherungssysteme mit den Folgen selbstschädigenden Verhaltens ein hinreichender Gemeinwohlbelang ist, um einen Eingriff in die Autonomie des Selbstschädigers zu rechtfertigen.189 Während die Rspr. dies gelegentlich in Übereinstimmung mit einem Teil der Lehre bejaht hat190, lehnt die Gegenmeinung dies strikt ab. Nicht die Geltung der grundrechtlichen Freiheitsrechte als subjektive Abwehrrechte, sondern umgekehrt der sozialstaatliche Verfassungsauftrag finde seine Begrenzung in der finanziellen Leistungsfähigkeit des Staates. Das Sozialstaatsprinzip bezwecke gerade, durch Gewährung sozialer Sicherheit auch den sozial Schwachen den Freiheitsgebrauch zu ermöglichen. Mit dieser freiheitsermöglichenden Funktion des Sozialstaates sei eine sozialstaatlich begründete Legitimation von Beschränkungen grundrechtlicher Freiheit der sozial Schwachen unvereinbar.191 Zutreffend erscheint eine vermittelnde Ansicht, die darauf hinweist, dass die „kostenrechtliche Argumentation […] nicht unproblematisch [ist], da der für den Bürger eingerichtete Sozialstaat auf diese Weise zum ‚Bumerang‘ für den Bürger werden kann, verlangt er doch letztlich von ihm ein Verhalten, welches den Sozialstaat möglichst nicht in Anspruch zu nehmen braucht. Diese Konstruktion birgt die Gefahr in sich, durch die Hintertür des Sozialstaates eine Rechtspflicht zu ‚vernünftigem‘ Verhalten zu statuieren und dem Recht auf autonome Entscheidungen über das Eingehen von Risiken so den Boden zu entziehen.“192 Daraus wird dann abgeleitet, dass die „kostenrechtliche Betrachtung […] allenfalls in Ausnahmefällen erheblicher und damit gemeinschaftsrelevanter finanzieller Belastungen der Allgemeinheit durch das selbstgefährdende Verhalten des Grundrechtsträgers ein Recht des Staates zum Grundrechtsschutz gegen den Willen des zu Schützenden begründen [kann]“193. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass ein verschwende-
189
S. zum Folgenden auch Schwabe, JZ 1998, 66, 72 f. mit Referat der Rspr. und der Lit. Vgl. aus der Rspr. etwa BVerfGE 59, 275, 279; auch BGHZ 74, 25, 34; aus der Literatur etwa Schwabe, JZ 1998, 66, 72 f. Die Entscheidung BVerfGE 60, 329, 338 ff. liegt insofern anders, als die dort verhandelten Regeln zum Versorgungsausgleich die eigenständige Sicherung des berechtigten Ehegatten gerade zum Ziel haben. 191 So Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 101 f. und 160 f. m.w.N.; vgl. auch Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997, S. 259 ff., 261 f.; krit. Schwabe, JZ 1998, 66, 73: „[W]eshalb aber jemand nicht daran gehindert werden sollte, sein Vermögen zu vergeuden und infolgedessen wenig später dem Steuerzahler auf der Tasche zu liegen, ist nicht einzusehen. Schließlich läuft das im Ergebnis auf einen Transfer von Steuermitteln auf die durch die Verschwendung Begünstigten hinaus. Warum darf dergleichen nicht unterbunden werden?“ 192 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 229. 193 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 229; vermittelnd auch Doehring, FS Zeidler, Bd. 2, 1987, S. 1553, 1557 f.: „Die Auffassung ist daher gut vertretbar, daß regelmäßig das Unterlassen der Selbstgefährdung nur dann staatlich befohlen werden kann, wenn qualitativ und quantitativ die Gefahren für das Allgemeinwohl und die Belastung der Allgemeinheit – etwa wegen der Versorgungskosten für entsprechende Opfer – ein ganz erhebliches 190
IV. Rechtspaternalismus als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht
69
rischer Lebensstil194 die Allgemeinheit nur insoweit belasten kann, wie nicht bereits der sich selbst schädigende Grundrechtsträger durch die vollstreckungsrechtlichen Pfändungsfreigrenzen und das Instrument der Restschuldbefreiung vor einer staatliche Leistungspflichten auslösenden Bedürftigkeit bewahrt wird195. 3.5.3 Aggregierung von Individualinteressen Wenig diskutiert und einstweilen offen ist demgegenüber die Frage, ob und unter welchen Umständen das Aggregat von Individualschutzgütern als rechtfertigender Gemeinwohlbelang herangezogen werden kann. Paradigmatischer Fall ist hier das Gemeingut „Volksgesundheit“, deren Schutz in der Cannabis-Entscheidung des BVerfG als legitimer Eingriffszweck angesehen wurde.196
4. Gebot der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs – Das Prinzip des „schonendsten Paternalismus“ Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines paternalistischen Eingriffs in das Selbstbestimmungsrecht des Grundrechtsträgers steht wie die Zulässigkeit jedes anderen Grundrechtseingriffs auch unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit.197 Im neueren Schrifttum wird dabei vor allem der Aspekt der Erforderlichkeit als Ausschnitt der grundrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung betont.198 194 Maß erreichen.“; deutlich weitergehend Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, S. 192 f.: Die Pflicht, alles Zumutbare zu tun, um den Zustand der Hilfsbedürftigkeit zu vermeiden, dürfe nur (aber immerhin) kraft gesetzlicher Regelung zur Geltung gebracht werden. 194 S. dazu Schwabe, JZ 1998, 66, 73. 195 Ausführlicher zum Vorrang vollstreckungsrechtlicher Mittel zur Vermeidung übermäßiger Härten infolge vertraglicher Selbstbindung Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 182 ff. 196 Vgl. BVerfGE 90, 145, 184 – Cannabis: „Das allgemeine Konzept des Gesetzgebers, den Umgang mit Cannabisprodukten […] umfassend zu verbieten, verstößt für sich nicht gegen das Übermaßverbot. Es wird durch die erstrebten Zwecke gerechtfertigt, die Bevölkerung – zumal die Jugend – vor den von der Droge ausgehenden Gesundheitsgefahren sowie vor der Gefahr einer psychischen Abhängigkeit von der Droge zu schützen […].“ Kritisch insofern van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.) Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 136 f. mit Fn. 93; vgl. dazu aber auch den Hinweis bei Kleinig, Paternalism, 1984, S. 44: „What in isolation may cause barely a ripple on the surface of society, can be disruptive and costly if it occurs with great frequency.“ 197 Vgl. statt aller nur Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 121; allgemein zur Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Grundrechtseingriffen Pieroth/ Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 289 ff.; s. auch die Verteidigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegenüber seinen Kritikern bei Klatt/Meister, Der Staat 51 (2012), 159 ff.; zur „Globalisierung“ des Verhältnismäßigkeitsprinzips s. ferner Saurer, Der Staat 51 (2012), 3 ff. 198 Vgl. etwa Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 449 ff., 543 ff.; van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff., 133 ff., die – wie dies von der hiesigen Abschnittsüberschrift aufgenommen wird – vom Prinzip des „schonendsten Paternalismus“ spricht; ferner Schön, FS Canaris, Bd. I, S. 1191, 1204 ff.; s. aber auch Klatt/Meister, Der Staat 51 (2012), 159 ff., welche die Abwägung auf der letzten Prüfstufe („Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne“) in den Vordergrund der Betrachtung rücken.
70
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
In Sonderheit wird darauf hingewiesen, dass als Mittel zur Sicherung einer wahrhaft autonomen Entscheidung des Grundrechtsträgers nicht vorschnell auf das Mittel des Wahlverbots bzw. -gebots199 zurückgegriffen werden darf. Vielmehr stehen zur Überwindung von Rationalitätsdefiziten und sonstigen Willensmängeln häufig Wahlhilfen als mildere Mittel zur Verfügung, die auf einen verbesserten Entscheidungsprozess hinwirken.200 Zu denken ist hier für das Vertragsrecht etwa an Informationspflichten zum Ausgleich von Informationsasymmetrien201. Hierauf wird an späterer Stelle noch zurückzukommen sein.202
V. Die Schutzpflichtdimension der Grundrechte – Grundrechtsschutz durch Paternalismus 1. Die Schutzpflichtdimension der Grundrechte Heute gehört es zum gesicherten Bestand der Grundrechtsdogmatik, dass Grundrechte über ihre klassische Funktion als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe203 hinaus auch eine Schutzpflichtdimension haben.204 Diese aus den Grundrechten abgeleitete staatliche Schutzpflicht zielt auf den Schutz der Grundrechtsverwirklichung vor Gefahren, die durch Übergriffe anderer Bürger drohen.205 Das BVerfG leitet sie aus den im objektiv-rechtlichen Gehalt des jeweils betroffenen Grundrechts enthaltenen Wertentscheidungen und dem Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ab.206 Dabei steht das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG zwar im Zentrum der verfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis zur grundrechtlichen Schutzpflicht.207 Das Gericht hat staatliche Schutzpflichten aber etwa auch aus
199
S. zu diesen Begriffen oben unter § 3 IV.2. Vgl. hierzu ausführlich vor dem Hintergrund psychologischer und verhaltensökonomischer Forschung van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff., 124 ff., 133 ff. 201 Dazu etwa Schön, FS Canaris, Bd. I, S. 1191, 1204 ff. 202 S. unten unter § 4 III unter dem Gesichtspunkt effizienter Regulierung. 203 Dieser ist selbstverständlich auch der Privatrechtsgesetzgeber ausgesetzt (Art. 1 Abs. 3 GG). Ihm sind folglich verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Eingriffe mittels des Privatrechts verboten. S. nur Kempen, DZWir 1994, 499, 502; ferner Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Abs.1, Stand: Juli 2001, Rn. 106 a.E. 204 Vgl. nur die ausführliche Darstellung bei Calliess, in: HGR II, § 44 sowie Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, 2009, S. 27 ff. jew. m. zahlr. weiteren N. Ständige Rechtsprechung des BVerfG seit BVerfGE 39, 1, 42 ff. 205 Calliess, in: HGR II, § 44 Rn. 4. 206 Mit einem Schwerpunkt auf der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte etwa BVerfGE 39, 1, 42 ff. – Schwangerschaftsabbruch; 46, 160, 164 – Schleyer; 49, 89, 141 – Kalkar I; 53, 30, 57 – Mülheim-Kärlich; zusätzlicher Bezug auf Art. 1 Abs. 1 GG in BVerfGE 88, 203, 251 f. – Schwangerschaftsabbruch II. 207 Vgl. nur Calliess, in: HGR II, § 44 Rn. 5 m.N. aus der Rspr. 200
V. Die Schutzpflichtdimension der Grundrechte
71
Artt. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG hergeleitet und ihre Wirkung im Privatrecht anerkannt208.209 1.1 Umfang verfassungsgerichtlicher Kontrolle der Schutzpflichterfüllung Die Schutzpflicht wendet sich in Übereinstimmung mit Art. 1 Abs. 3 GG an alle drei staatlichen Gewalten. Dem Gesetzgeber kommt bei ihrer Befolgung in aller Regel ein Gestaltungsspielraum zu, im Rahmen dessen er „die unterschiedlichen und unter Umständen kollidierenden Rechtsgüter zu berücksichtigen, verhältnismäßig zu gewichten und gegeneinander abzuwägen“ hat.210 Im Hinblick auf die Frage, wie die Schutzpflichten zu erfüllen sind, prüft das BVerfG in der Regel – zumeist im Zusammenhang mit gesetzgeberischem Unterlassen – im Rahmen einer grobmaschigen Evidenzkontrolle, ob die staatlichen Stellen gänzlich untätig geblieben oder die getroffenen Schutzvorkehrungen offensichtlich ungeeignet sind.211 Gelegentlich zieht das Gericht aber auch den strengeren Maßstab des Untermaßverbots heran, wonach ein unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter angemessener und wirksamer Schutz gewährleistet sein muss, der auf vertretbaren Einschätzungen beruht.212 1.2 Grundrechtliche Ambivalenz der Schutzmaßnahme im Hinblick auf verschiedene Grundrechtsträger Da die in Erfüllung einer grundrechtlichen Schutzpflicht ergriffene staatliche Maßnahme in der Regel einen Grundrechtseingriff in Abwehrrechte Dritter darstellt, aktualisiert sich die grundrechtliche Schutzpflicht typischerweise im „mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis“213: Dem Staat stehen zwei Grundrechtsträger mit gegensätzlichen Interessen gegenüber, nämlich auf der einen Seite die Interessen desjenigen, den der private Übergriff in seiner Freiheit beeinträchtigt, auf der anderen Seite die Interessen des Begünstigten, von dem der Übergriff ausgeht. Der staatlichen Gewalt und zuvörderst dem Gesetzgeber obliegt es in dieser Situation einen Interessenausgleich zwischen den Grundrechts208
Dazu bereits oben unter § 3 I.2. Das Schrifttum ist der Rspr. in der Anerkennung der Schutzpflichtdimension der Grundrechte weitgehend gefolgt, spricht sich aber teilweise für eine andere dogmatische Herleitung aus; s. etwa Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 1 Abs. 3 Rn. 193 ff.; zusammenfassend Calliess, in: HGR II, § 44 Rn. 8 ff. 210 Calliess, in: HGR II, § 44 Rn. 6. 211 S. etwa BVerfGE 77, 170, 215; BVerfG NJW 1996, 651; dazu wiederum Calliess, in: HGR II, § 44 Rn. 6. 212 S. etwa BVerfGE 88, 204, 254. Monographisch Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, 2009 (s. dort insb. S. 73 ff. zur Entwicklung des Prüfungsmaßstabes „Untermaßverbot“ in der Rspr. des BVerfG), der für eine weitgehende Zurückdrängung der bloßen Evidenzkontrolle eintritt (s. S. 230 f.). 213 Der Terminus findet sich bei Calliess, in: HGR II, § 44 Rn. 18 ff.; vgl. auch Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, 2009, S. 41 („typische Dreieckskonstellation“). 209
72
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
positionen zu schaffen. Dabei geben das abwehrrechtliche Übermaßverbot sowie das durch die Schutzpflicht begründete Untermaßverbot den äußeren Rahmen dieses Ausgleichs vor.214/215
2. Grundrechtliche Ambivalenz der paternalistischen Intervention für den Schutzadressaten Im Verhältnis zum oben beschriebenen „mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis“ tritt bei der paternalistisch motivierten Maßnahme in Ausübung einer staatlichen Schutzpflicht noch eine weitere Dimension hinzu. Denn hier ist nicht nur ein Ausgleich zwischen verschiedenen Grundrechtsträgern, nämlich demjenigen, den der private Übergriff in seiner Freiheit beeinträchtigt, und dem Begünstigten, von dem der Übergriff ausgeht, zu schaffen.216 Das der grundrechtlichen Schutzpflicht inhärente Spannungsverhältnis zwischen Freiheitsbegrenzung und Freiheitsgewährung realisiert sich zusätzlich in der Person des Schutzadressaten selbst.217 Denn die Schutzmaßnahme ist für ihren Adressaten zugleich ein Eingriff in sein grundrechtlich geschütztes Selbstbestimmungsrecht.218 Der paternalistisch handelnde Staat hat im Rahmen seiner Schutzpflicht also nicht nur das Untermaßverbot zu beachten. Er hat – und zwar im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht des Schutzadressaten! – vielmehr auch die Erfordernisse einer verfassungsrechtlichen Eingriffsrechtfertigung einzuhalten.219 Die Trennlinie zwischen verfassungsrechtlich zulässiger und unzulässiger Intervention wird sich daher in aller Regel220 danach bemessen, ob der „Übergriff“ von Seiten Dritter auf einer autonomen Entscheidung des Rechtsträgers oder auf einem hetero-
214 Vgl. Calliess, in: HGR II, § 44 Rn. 18 ff.; ferner Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 1 Abs. 3 Rn. 196. 215 Eine starke Literaturströmung macht dabei eine „relative Durchsetzungsschwäche“ der grundrechtlichen Schutzpflichtdimension gegenüber der abwehrrechtlichen Dimension aus und plädiert in der Folge für ein Stärkung der Schutzdimension, um so ein Gleichgewicht zwischen Übermaßverbot und Untermaßverbot herzuzustellen. S. nur Calliess, in: HGR II, § 44 Rn. 10 ff., 18 ff. sowie die ausführliche Darstellung der „Symmetriefrage“ bei Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, 2009, S. 142 ff. 216 S.o. unter § 3 V.1.2. Diese Dimension betont Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 177 f. 217 Vgl. auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 87 zur verfassungsrechtlichen Problematik vertraglicher Selbstbindung: „Im Vordergrund […] steht […] nicht die Abwägung zwischen dem Schutz des Geschädigten und der Freiheit des Handelnden, sondern das Verhältnis zwischen der Selbstbestimmung des Disponierenden und dem Schutz seiner Rechtsgüter vor den nachteiligen Folgen seiner Entscheidung.“ 218 S.o. unter § 3 IV. 219 Jedenfalls im Ergebnis daher zutreffend Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 148: „Es ist daher in diesen Fällen zunächst nach der Schutzberechtigung des Staates zu fragen, welche die angenommene Schutzpflicht zur Voraussetzung hat“ (Hervorhebung im Original). 220 Zu möglichen Ausnahmen s. oben unter § 3 IV.3.2.
VI. Synthese: Intervention bei vertraglicher Selbstbindung und Grundrechtsschutz
73
nomen Eingriff beruht.221 Es geht also in der Regel um die Trennung von weichem und hartem Paternalismus. Diese Trennung hängt – wie gesehen – wiederum davon ab, unter welchen Bedingungen eine autonome Entscheidung möglich ist. Der Staat ist mithin einerseits verpflichtet, die rechtliche Sanktionierung einer (potentiell) nachteiligen Entscheidung des Einzelnen von bestimmten Voraussetzungen abhängig zu machen. Andererseits verbietet ihm die klassische Abwehrfunktion der Grundrechte, die Selbstbestimmung des Einzelnen übermäßig einzuschränken.222 Dem Gesetzgeber kommt innerhalb dieser auf der einen Seite vom Untermaß- und auf der anderen Seite vom Übermaßverbot gesetzten äußeren Grenzen ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu.223
VI. Synthese: Paternalistische Intervention bei vertraglicher Selbstbindung und Grundrechtsschutz Die Frage nach den grundrechtlichen Vorgaben für die paternalistische Intervention des Staates bei privatvertraglicher Selbstbindung ist ein Ausschnitt aus dem allgemeineren Fragenkreis der Grundrechtswirkung im Privatrecht224. Die ganz herrschende Ansicht von der bloß mittelbaren „Drittwirkung“225 der Grundrechte226 beruft sich für dieses Hineinwirken der Grundrechte in das Privatrecht 221 S. Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 87. Vgl. auch Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 177 f., der betont, dass es keinen verfassungsrechtlich legitimen Zweck für einen Intervention in die Vertragsfreiheit darstellt, dem sich von der vertraglichen Bindung übervorteilt oder überfordert fühlenden Einzelnen die in der Entscheidung zum Vertragsschluss betätigte Eigenverantwortung abnehmen zu wollen. 222 S. Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 87 f. für die Einwilligung; eingehend Canaris, JZ 1987, 993, 996 ff. 223 S. nur Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 88 unter Verweis auf die Rspr. des BVerfG, insbesondere BVerfGE 81, 242, 255 und BVerfG NJW 1999, 3399, 3401. S. zu dieser Rspr. bereits oben unter § 3 I.1.3 und § 3 I.2 sowie allgemein zur Gewährung eines erheblichen Gestaltungsspielraums bei Wahrnehmung seiner Schutzpflichten an den Gesetzgeber durch das BVerfG oben unter § 3 V.1.1. Ausführliche Überlegungen zu den abwägungsleitenden Erwägungen Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, 2009, S. 161 ff. 224 Zur historischen Entwicklung der Grundrechte als Referenzsystem des Privatrechts, s. nur Papier, HGR II, § 55 Rn. 2 f.; Neuner, in: Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, 2007, S. 159, 161 ff.; ferner den Überblick zur Rechtsprechung des BVerfG zum Privatrecht bei Ruffert, JZ 2009, 389 ff. S. zur Wirkung der Grundrechte im privaten Vertragsrecht aus europäischer Perspektive die Bestandsaufnahme bei Cherednychenko, ERCL 2006, 489 ff. 225 Vgl. zur Kritik an diesem Begriff und zu alternativen Bezeichnungen nur Papier, HGR II, § 55 Rn. 1 m.w.N. 226 Grundlegend Dürig, FS Nawiasky, S. 157, 176 ff.; st. Rspr. des BVerfG, s. etwa BVerfGE 7, 198, 204 ff.; 7, 230, 233 f.; 42, 143, 148; 73, 261, 269; aus der Literatur etwa Diederichsen, AcP 198 (1998), 171, 224 ff.; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, 2001, S. 201 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 189 ff., 196 ff.; in der Sache auch Medicus, AcP 192 (1992), 35, 43 ff.; grds. auch Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 IV 5 (S. 1572); gegen die unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte auch Canaris, AcP 184 (1984), 201, 203 ff., s. ferner die weiteren Nachweise bei Papier, HGR II, § 55 Fn. 50. Für die inzwischen kaum mehr vertretene unmittel-
74
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
nicht mehr nur auf die „objektive Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte bei Auslegung und Anwendung privatrechtlicher Vorschriften227, sondern inzwischen maßgeblich auf deren Schutzpflichtdimension, die selbstredend auch den Privatrechtsgesetzgeber bindet228. Folgerichtig gilt das Privatrecht als Paradebeispiel eines gesetzesmediatisierten Interessenausgleichs im „mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis“229.230 Dies vorweg geschickt lassen sich die bisher zur grundrechtlichen Bewertung rechtspaternalistischer Intervention gewonnenen Erkenntnisse für die hier zu untersuchende vertragliche Selbstbindung wie folgt bündeln und präzisieren:
1. Grundrechtsschutz und vertragliche Selbstbindung – Der Grundsatz 1.1 Vertragliche Selbstbindung als Ausübung grundrechtlicher (Vertrags-) Freiheit In privatautonom gesetztem Vertragsrecht realisiert sich die grundrechtlich geschützte Freiheit des Einzelnen, seine rechtlichen Beziehungen zu den anderen am Vertrag beteiligten Parteien eigenverantwortlich zu gestalten.231 Die Vertragsfreiheit ist – wie bereits mehrfach erwähnt – mithin von der grundrechtlichen 227 bare Drittwirkung der Grundrechte grundlegend Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, 1961, S. 13 ff. So auch früher das BAG, s. BAGE 1, 185, 193 f.; 2, 221, 224 f.; aber 48, 122, 138 f.; ferner BGHZ 13, 334, 338; Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, passim, zusammenfassend S. 332 ff.; Schwabe, Die sog. Drittwirkung der Grundrechte, 1971, passim; ders., JR 1975, 13 ff.; Bleckmann, DVBl 1988, 938 ff., 942; Hager, JZ 1994, 373 ff. 227 Erstmals BVerfGE 7, 198 ff. – Lüth; s. ferner etwa BVerfGE 73, 261, 269. Die h.L. ist dem BVerfG in der Sache beigetreten, vgl. etwa Badura, FS Molitor, 1988, S. 1, 4 ff.; Pietzker, FS Dürig, 1990, S. 345, 363; Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 4 ff. und 19 ff.; Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 III 3 (S. 1556 ff.); Rüfner, in: Hdb. des StaatsR, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 117 Rn. 60 (S. 552); Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 99; Dreier, JURA 1994, 505, 509 f.; Medicus, AcP 192 (1992), 35, 45 f.; Palandt/Grüneberg, BGB, 73. Aufl. 2014, § 242 Rn. 8 m.w.N. S. zur Kritik an der Figur der „objektiven Ausstrahlungswirkung“ aber etwa Canaris, AcP 184 (1984), 201, 212 („mysteriös“); zustimmend Lerche, FS Steindorff, 1990, S. 897, 905 in Fn. 30 („dubios“); ähnlich Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, 27 f. („unjuristisch“, „diffus“); zust. Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 71; zusammenfassend Singer, JZ 2005, 1133, 1136. 228 Grundlegend Canaris, AcP 184 (1984), 201, 225 ff.; s. ferner etwa ders., JuS 1989, 161, 163; auch Singer, JZ 1995, 1133, 1136 ff. m.w.N. auch zur Gegenansicht in Fn. 52; kürzlich mit Nachdruck Ladeur, FS Teubner, 2009, S. 543 ff.; ferner Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 64 f.; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 171 f.; Kempen, DZWir 1994, 499, 502; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 198; Schmolke, Organwalterhaftung für Eigenschäden von Kapitalgesellschaftern, 2004, S. 82 f.; Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 IV 5. Daher wenig überraschend der Befund zum Verhältnis von Drittwirkung und Schutzpflichten bei Hochhuth, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 207, 210 ff. 229 S. dazu oben unter § 3 V.1.2. 230 S. etwa Calliess, HGR II, § 44 Rn. 20; ferner Rüfner, in: Hdb. des StaatsR, 2. Aufl. 2000, Bd. V, § 117 Rn. 66 (S. 555); s. auch Canaris, JuS 1989, 161, 163; Diederichsen, AcP 198 (1998), 171, 252. 231 Vgl. nur BVerfGE 81, 242, 254, s. dazu bereits oben unter § 3 I.2.
VI. Synthese: Intervention bei vertraglicher Selbstbindung und Grundrechtsschutz
75
Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 1 GG erfasst, soweit nicht bereits speziellere Grundrechte eingreifen.232 1.2 (Paternalistische) Vertragsabschluss- und -inhaltsregulierung als Grundrechtseingriff Die Regulierung des Vertragsabschlusses, seines Inhalts sowie seines (Fort-)Bestandes ist für alle beteiligten Parteien ein Eingriff in ihre grundrechtlich geschützte Vertragsfreiheit,233 und zwar auch dann, wenn diese Regulierung paternalistisch motiviert ist234. Dies gilt auch für denjenigen Vertragsteil, dem zu einem späteren Zeitpunkt die aus solcher Regulierung entspringende Möglichkeit, den Vertrag nicht gegen sich gelten lassen zu müssen, günstig ist.235 Insofern gelten die allgemeinen Voraussetzungen einer verfassungsmäßigen Rechtfertigung236. 1.3 Gewährleistung effektiver Vertragsdurchsetzung als grundrechtliches Schutzgebot Mit Hilfe des Vertrages disponieren die Parteien über ihre grundrechtlich geschützten Rechtsgüter. Sie gewähren der Vertragsgegenseite über die Begründung von Ansprüchen „Zugriff“ auf ihre Rechtsgütersphäre und schränken ihre Freiheit im Wege der Selbstbindung ein.237 Der Vertrag dient mit anderen Worten als Instrument des selbstgesteuerten Interessenausgleichs unter den Parteien. Als solcher ist er auch von der Verfassungsordnung gewollt, denn – so die Formulierung des BVerfG – die selbstverantwortliche Vertragsgestaltung der Parteien ist als Ausdruck der Privatautonomie „Strukturelement einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung“238. Die staatliche Schutzpflicht beschränkt sich dann „auf die effektive Ausgestaltung und Gewährleistung eines gesetzlich geordneten Rahmens“ für diesen Freiheitsraum selbstbestimmter Interessenverfolgung.239 Anders gewendet: Im Bereich der Vertragsfreiheit erfüllt der Staat seine grundrechtliche Schutzpflicht grundsätzlich dadurch, dass er der vertraglichen Vereinbarung zur Geltung verhilft, indem er, wo nötig, Rechtsschutz zur Durchsetzung vertraglich begründeter Ansprüche gewährt.240 Der vom BVerfG grundsätzlich 232 S. nur Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 2 Rn. 4 und bereits oben unter § 3 IV.1. 233 S. nur Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 102 m.w.N. 234 S. zur Eingriffsqualität paternalistischer Intervention des Staates o. unter § 3 IV. 235 Ausführlich Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 149 ff.; zust. Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 136. 236 S. nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 263 ff., insb. 285 ff. 237 S. wiederum nur BVerfGE 81, 242, 254. 238 BVerfGE 81, 242, 254. 239 Calliess, HGR II, § 44 Rn. 20; gleichsinnig Ladeur, FS Teubner, 2009, S. 543, 556 f. unter Betonung der vor allem institutionellen Dimension der Grundrechte im Privatrecht und dem Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum der freien Individuen im Bereich der Grundrechte. 240 S. Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 74.
76
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
geforderte Respekt des Staates vor den im Rahmen der Privatautonomie getroffenen Regelungen241 findet also in der Sanktionierung des vertraglich Vereinbarten seinen Ausdruck.242 1.4 Gewährleistung effektiver Vertragsdurchsetzung als gerechtfertigter Grundrechtseingriff Die zugunsten des Vertragsgläubigers wirkende Schutzmaßnahme der gerichtlichen Verurteilung des Vertragsschuldners ist zugleich Eingriff in die Freiheit des letzteren. Da – wie eingangs dargelegt – aber die in freier Selbstbestimmung erfolgende vertragliche Bindung Freiheitsausübung ist – stellt dieser Eingriff keine Grundrechtsverletzung auf Seiten des Vertragsschuldners dar.243
2. Grundrechtsschutz und weicher Paternalismus im Rahmen vertraglicher Selbstbindung Wie der verfassungsrechtlich gebotene Respekt vor der autonomen Disposition über grundrechtlich geschützte Rechtsgüter des Bürgers im Allgemeinen setzt auch seine vertragliche Selbstbindung im Besonderen voraus, dass die Funktionsvoraussetzungen freier Selbstbestimmung vorliegen.244 2.1 Selbstbestimmungsdefizite als Eingriffsrechtfertigung Liegen die Voraussetzungen freier Selbstbestimmung hingegen nicht vor, entfällt der Grund, welcher der staatlichen Gewalt den Respekt vor den getroffenen vertraglichen Regelungen abzwingt.245 In den Grenzen der Erforderlichkeit246 darf die staatliche Gewalt dann in die Vertragsfreiheit der betroffenen Vertragsparteien zum Schutze der nicht (völlig) autonom agierenden Partei eingreifen. Die staatliche Gewalt hat in diesem Fall eine den allgemeinen Schranken-Schranken247 unterliegende Eingriffsbefugnis zum Zwecke weichen Paternalismus.248 Für die an241 BVerfGE 81, 242, 254; s. auch Kempen, DZWir 1994, 499, 503: Die Gerichte treffe aus Art. 2 Abs. 1 GG die Schutzpflicht, den vertraglichen Willen der Parteien grundsätzlich zu respektieren. 242 S. Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 74. 243 Zutr. Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 73 f.; vgl. ders., Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 151 ff. 244 S. zur allgemeinen Debatte um die Disposition grundrechtlich geschützter Rechtsgüter o. unter § 3 IV.3.4. Zur vertraglichen Selbstbindung s. aus der Rspr. nur BVerfGE 81, 242, 254 f.; aus der Literatur etwa Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 75; ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 171 und ff.; Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1203 f.; Singer, JZ 1995, 1133, 1137 ff. 245 Vgl. BVerfGE 81, 242, 254 f. S. aber noch unten unter § 3 VI.3. 246 S. dazu oben unter § 3 IV.4. 247 S. dazu nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 285 ff. 248 S. allgemein zu dieser Eingriffsrechtfertigung auch jenseits des Vertragsrechts oben unter § 3 IV.3.4.
VI. Synthese: Intervention bei vertraglicher Selbstbindung und Grundrechtsschutz
77
dere(n) Vertragspartei(en) kann sich die staatliche Regelung wiederum als Eingriff in ihre Vertragsfreiheit zum Schutze Dritter darstellen. 2.2 Selbstbestimmungsdefizite als Auslöser staatlicher Schutzpflichten In Fällen qualifizierter Beeinträchtigung der Selbstbestimmung des sich vertraglich Bindenden schlägt die staatliche Eingriffsbefugnis in eine Schutzpflicht vor dem Übergriff des auf Vertragserfüllung bestehenden und diese einklagenden Gläubigers in die Freiheits- und Rechtsgütersphäre des Schuldners um. Der Staat ist hier aufgerufen, die Selbstbestimmung der Vertragspartei und so ihre Freiheitsausübung zu sichern.249 Da derartige Maßnahmen zugleich freiheitsbeschränkend wirken können, indem sie der eingegangenen Selbstbindung ihre absolute Geltung versagen, sind hier auch die verfassungsrechtlichen Schranken eines Grundrechtseingriffs – allen voran das Übermaßverbot – nicht nur im Hinblick auf die Freiheitssphäre der Gegenpartei250, sondern auch des Schutzadressaten selbst zu beachten.251 Kurz: Der Staat muss den Schutzbedürftigen im erforderlichen Maße schützen (Untermaßverbot!) und gleichzeitig dessen Vertragsfreiheit sowie diejenige der anderen Vertragspartei so weit wie möglich erhalten.252 Letzteres bedeutet konkret – und hierauf wird im Rahmen dieser Arbeit wiederholt zurückzukommen sein –, dass die Sanktion der Vertragsnichtigkeit nur dort in Betracht kommt, wo mildere Mittel nicht zur Verfügung stehen.253 2.3 Funktionsvoraussetzungen autonomer vertraglicher Selbstbindung – Konkretisierungsansätze in der Rspr. des BVerfG und der Literatur Selbstbestimmungsdefizite können also rechtspaternalistische Eingriffe rechtfertigen und in bestimmten Fällen den Staat sogar zu rechtspaternalistischer Intervention verpflichten. Aber welche (Mindest-)Anforderungen autonomer Selbstbindung muss der Kontrahent unterschreiten, um einen Eingriff in seine Vertragsfreiheit zu rechtfertigen? Und wann verpflichten die Autonomiedefizite den Staat zur schützenden Intervention? Sowohl das BVerfG als auch das Schrifttum 249 S. etwa BVerfGE 81, 242, 254 f.; 89, 214, 232 ff.; aus dem Schrifttum nur Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 75 f.; ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 176 ff.; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 87 f. 250 S. insofern BVerfGE 81, 242, 261 sowie Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 76. 251 S. etwa Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 148; Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 87 f.; Singer, FS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 187 und bereits oben unter § 3 V.2. Allein auf die freiheitssichernde Wirkung abstellend hingegen Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 565. 252 Vgl. einerseits Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 76 im Hinblick auf die Vertragsfreiheit der anderen Vertragspartei und andererseits Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 88 f. im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht des Schutzadressaten. 253 S. Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 76 f.; ferner Neuner, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 187, 202; vgl. auch bereits oben unter § 3 IV.4.
78
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
sind bemüht, der Beantwortung dieser Fragen durch die Formulierung von Leitlinien und konkretisierenden Grundaussagen näher zu kommen.254 2.3.1 Die verfassungsgerichtliche Rspr. zur staatlichen Schutzpflicht bei Fremdbestimmung aufgrund „struktureller Unterlegenheit“ Bei aller Zurückhaltung im Hinblick auf den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum255 hat das BVerfG in seinen Judikaten zur Karenzentschädigung für Handelsvertreter256, zu Angehörigenbürgschaften257 sowie zum Ehevertragsrecht258 doch konkretisierende Aussagen darüber getroffen, wann ein Defizit in der Selbstbestimmung den Staat verpflichtet, dem sich auf solcher defizitärer Grundlage vertraglich Bindenden schützend beizutreten.259 In der Handelsvertreterentscheidung bejaht das BVerfG eine staatliche Schutzpflicht für den Fall, dass „einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht [hat], daß er vertragliche Regelungen faktisch allein setzen kann“ und in einer solchen Lage über „grundrechtlich verbürgte Positionen verfügt wird“.260 Da letzteres im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 GG bei einer vertraglichen Bindung in aller Regel der Fall sein wird, ist das beschriebene Kräfteungleichgewicht das maßgebliche Auslösekriterium für eine staatliche Schutzpflicht in dem zugrunde liegenden Fall. In der Bürgschaftsentscheidung wiederholt das Gericht diese Kriterien, weist aber zugleich darauf hin, dass „[s]chon aus Gründen der Rechtssicherheit […] ein Vertrag nicht bei jeder Störung des Verhandlungsgleichgewichts nachträglich in Frage gestellt oder korrigiert werden [darf]“261. Daher präzisiert das BVerfG seine Aussage aus der Handelsvertreterentscheidung dahingehend, dass die Zivilrechtsordnung reagieren und Korrekturen ermöglichen muss, wenn eine „typisierbare Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lässt“, vorliegt und zugleich „die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend“ sind.262 Ganz ähnlich heißt es in der Entscheidung zum Ehevertragsrecht: „Ist jedoch auf Grund einer besonders einseitigen Aufbürdung von vertraglichen Lasten und einer erheblich ungleichen Verhandlungsposition der Vertragspartner ersichtlich, dass in einem Vertragsverhältnis ein Partner ein solches Gewicht hat, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, ist es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung 254
Vgl. auch bereits die Ausführungen unter § 3 IV.3.4. Dazu sogleich unter § 3 VI.2.4. 256 BVerfGE 81, 242 ff. 257 BVerfGE 89, 214 ff. 258 BVerfGE 103, 89 ff. 259 S. zu diesen Entscheidungen bereits oben unter § 3 I.2. 260 BVerfGE 81, 242, 255. 261 BVerfGE 89, 214, 232. 262 BVerfGE 89, 214, 232. Zu den maßgebliche Faktoren für die Bejahung dieser Kriterien gehörten in der Bürgschaftsentscheidung bekanntlich die Angehörigeneigenschaft der Bürgin, ihre geschäftliche Unerfahrenheit, das Fehlen eines eigenen wirtschaftlichen Interesses und die fehlende Haftungsbegrenzung für die Geschäftsverbindlichkeiten des Hauptschuldners, s. BVerfGE 89, 214, 234 f. 255
VI. Synthese: Intervention bei vertraglicher Selbstbindung und Grundrechtsschutz
79
der Grundrechtspositionen beider Vertragspartner hinzuwirken, um zu verhindern, dass sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehrt“.263 In allen drei Fällen handelte es sich um solche besonders belastenden Verträge, die für die Existenz oder das berufliche Fortkommen von grundlegender Bedeutung waren.264 Die „strukturelle Unterlegenheit“ des zu schützenden Vertragsteils leitet das BVerfG dabei ganz weitgehend aus der einseitigen vertraglichen Lastenverteilung – teilweise unter Berücksichtigung des eigenen wirtschaftlichen Interesses am Vertragsschluss – und dem erheblichen Ausmaß dieser Lasten ab.265 Entsprechend hat die zivilgerichtliche Prüfung nach Aussage des BVerfG in zwei Schritten zu erfolgen:266 Haben die Vertragspartner eine an sich zulässige Regelung vereinbart, so erübrigt sich in der Regel eine weitergehende gerichtliche Inhaltskontrolle des Vertrages. Ist der Inhalt des Vertrages jedoch für eine Seite „außergewöhnlich belastend“ und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen, dann müssen die Gerichte in einem zweiten Schritt klären, ob die Regelung das Ergebnis einer strukturell ungleichen Verhandlungsstärke ist und gegebenenfalls korrigierend eingreifen. Dieses Vorgehen begründet eine gewisse Verschränkung der im Zivilrecht üblicherweise voneinander getrennten Vertragsabschluss- und -inhaltskontrolle.267 „[E]ine Situation von Unterlegenheit“ nimmt das Gericht ferner „regelmäßig“ an, „wenn eine nicht verheiratete schwangere Frau sich vor die Alternative gestellt sieht, in Zukunft entweder allein für das erwartete Kind Verantwortung und Sorge zu tragen oder durch Eheschließung den Kindesvater in die Verantwortung einzubinden, wenn auch um den Preis eines mit ihm zu schließenden, sie aber stark belastenden Ehevertrages“.268 2.3.2 Bewertung der Rspr. des BVerfG durch das Schrifttum Diese Rspr. zur „strukturellen Unterlegenheit“ einer Vertragspartei hat in der Literatur ein geteiltes Echo hervorgerufen. Neben zustimmenden Äußerungen269 finden sich insbesondere im privatrechtlichen Schrifttum viele kritische Stimmen270. 263
BVerfGE 103, 89, 100 f. S. Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 188. 265 Vgl. BVerfGE 89, 214, 234 f. und 235 f.; 103, 89, 102 (bei B.I.2.a.). 266 S. zum Folgenden BVerfGE 89, 214, 234. 267 Vgl. auch Wiedemann, JZ 1994, 411, 412. 268 BVerfGE 103, 89, 102. 269 Vgl. etwa Singer, FS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 182 f., 188; Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 563 f.; ferner Hillgruber, AcP 191 (1991), 68, 75 ff. im Hinblick auf BVerfGE 81, 242 ff. 270 S. etwa Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 49 Fn. 147; Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 273 ff.; Isensee, Hdb. d. StaatsR, 3. Aufl. 2009, § 150 Rn. 116: „Die Floskel der ‚strukturellen‘ Unterlegenheit erweist sich als belanglos.“; Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997, S. 251 ff.; Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1204; Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 180 ff.; Neuner, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 187, 202; vgl. auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 141 f.; ferner die durchaus nachdenklichen Äußerungen bei Voßkuhle, FS Stürner, Bd. I, 2013, S. 79, 86 ff. 264
80
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
Die Kritik bezieht sich inzwischen vor allem auf die „unscharfe Redeweise“ des Gerichts, die den „fehlerhaften“ Eindruck erwecken könne, dass unterschiedliche Unternehmensgrößen, abgestufte Marktmacht, verschiedene soziale Klassenzugehörigkeit oder ein Bildungsgefälle zwischen den Vertragsparteien für sich genommen Eingriffe in die Vertragsfreiheit rechtfertigen würden.271 Denn hinsichtlich der Reichweite der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu staatlichen Schutzpflichten bei gestörter Vertragsparität hat sich nach anfänglichen Befürchtungen eines hierdurch sanktionierten uferlosen Billigkeitsrechts272 inzwischen die Ansicht durchgesetzt, dass es hier – schon aus Gründen der Rechtssicherheit – nur um Fälle exzeptionellen Charakters gehen kann, bei denen eine gravierende Paritätsstörung vorliegt und wo die Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit einen besonders hohen Intensitätsgrad erreicht.273 Dabei vollzieht – neben der Rspr. des BGH zur Sittenwidrigkeit von Angehörigenbürgschaften274 – auch ein Teil des Schrifttums den in den verfassungsgerichtlichen Judikaten angelegten Schluss von der besonders gravierenden Belastung durch die vertragliche Bindung auf ein (vermutetes) Defizit in der tatsächlichen Entscheidungsfreiheit und -fähigkeit nach.275 Zugleich wird auf die genuine Aufgabe der Zivilrechtsordnung verwiesen, diesen noch recht vagen verfassungsrechtlichen Rahmen im Einzelnen auszufüllen.276 271 So Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1204; gleichsinnig Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 180 f.; Neuner, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 187, 202; s. auch bereits Rittner, NJW 1994, 3330 f. 272 Vgl. nur Adomeit, NJW 1994, 2467 ff.; Lüke, NJW 1995, 173, 174; aus jüngerer Zeit ferner Ladeur, FS Teubner, 2009, S. 543, 556 f.: „Die Konsequenzen einer so allgemein gefassten ‚public policy‘ wären völlig unberechenbar.“; gleichsinnig Isensee, Hdb. d. StaatsR, 3. Aufl. 2009, § 150 Rn. 118, 124. 273 Singer, Selbstbestimmung und Verkehrssschutz im Recht der Willenserklärungen, 1995, S. 39 ff., 43; ders., JZ 1995, 1133, 1138 sowie in FS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 182 f., 188: Es gehe um die Verhinderung „untragbarer Ergebnisse“; vgl. auch Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997, 258; Wiedemann, JZ 1994, 411 ff.; ferner Ladeur, FS Teubner, 2009, S. 543, 557 („leicht erkennbare Missbrauchsfälle“); Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, 2012, S. 267 f.; s. aus der jüngeren Rspr. auch BGHZ 188, 96, 101 Tz. 18 („[n]ur in eng begrenzten Ausnahmefällen“). Dementsprechend kann etwa nach der die Vorgaben aus BVerfGE 89, 214 ff. konkretisierenden BGH-Rspr. eine Angehörigenbürgschaft trotz krasser Überforderung des Bürgen wirksam sein, wenn er aus dem aufgenommenen Kredit einen unmittelbaren Vorteil erhält, s. nur BGHZ 125, 206, 216; Palandt/Ellenberger, BGB, 73. Aufl. 2014, § 138 Rn. 38c. Zu den Reaktionen von Rechtsprechung und Literatur auf BVerfGE 89, 214 ff. s. auch Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997, 251 ff. und Pape, NJW 1995, 1006 f. 274 S. nur BGH NJW 1999, 2584, 2588; NJW 2001, 815; NJW 2005, 971, 973 und st. Rspr., wo aus der krassen Überforderung des angehörigen Bürgen widerleglich vermutet wird, dass die Mithaftung ohne rationale Einschätzung der Interessenlage und der wirtschaftlichen Risiken aus emotionaler Verbundenheit übernommen worden ist. Vgl. zusammenfassend auch Palandt/Ellenberger, 73. Aufl. 2014, § 138 Rn. 38b. S. zur Rspr. des BGH im Ehevertragsrecht ausführlich unter § 7 III.5. 275 S. etwa Singer, JZ 1995, 1133, 1139. Kritisch hingegen Wiedemann, JZ 1994, 411, 413. Dazu auch noch unten unter § 3 VI.3. 276 S. nur Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997, S. 254 ff. m.w.N.; Wiedemann, JZ 1994, 411, 413. S. auch noch unten unter § 3 VI.2.4.
VI. Synthese: Intervention bei vertraglicher Selbstbindung und Grundrechtsschutz
81
2.3.3 Weitere Konkretisierungsleitlinien aus dem Schrifttum Über die vom Verfassungsgericht benannte staatliche Pflicht, in Fällen (qualifiziert) gestörter Vertragsparität ausgleichend einzugreifen, finden sich im Schrifttum weitere konkretisierende Aussagen zu der Frage, wann eine paternalistische Intervention des Staates bei fremdbestimmter oder nur eingeschränkt selbstbestimmter vertraglicher Selbstbindung erlaubt bzw. sogar geboten ist. Diese Aussagen haben nur den Charakter von Leitlinien. Dies kann freilich deshalb nicht verwundern, weil die Anerkennung und Remedur von Funktionsdefiziten der Selbstbestimmung im Vertragsrecht in erster Linie Aufgabe des einfachen Zivilrechts und nicht des Verfassungsrechts ist.277 Ungeachtet dessen scheint die diesbezügliche Debatte aber auch noch nicht an ihrem Ende. 2.3.3.1 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der §§ 104 ff., 119 ff., 138 Abs. 2 BGB In der Literatur ist man sich weitgehend einig, dass von Verfassungs wegen, nämlich zum Schutz des Selbstbestimmungsrechts, auch gewisse Mindestanforderungen an die Einsichtsfähigkeit und Freiwilligkeit der vertraglichen Selbstbindung gestellt werden müssen.278 Insofern wird einhellig angenommen, dass der Zivilgesetzgeber zum Schutz von Minderjährigen und Volljährigen ohne die notwendige Einsichtsfähigkeit oder Willensfreiheit die Geschäftsfähigkeitsvoraussetzungen der §§ 104 ff. BGB für eine wirksame rechtsgeschäftliche Bindung jedenfalls aufstellen darf, wobei ihm ein – freilich nicht unbegrenzter279 – Typisierungsspielraum zukommt.280 Ebenso wird die Anfechtbarkeit durch Irrtum, Täuschung oder Drohung bedingter Willenserklärungen nach dem Muster der §§ 119 ff. BGB sowie die Regelung des § 138 Abs. 2 BGB als verfassungsrechtlich zulässiger281, von einigen auch als verfassungsrechtlich geforderter Schutz des Selbstbestimmungsrechts angesehen282. 277 S. zum weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum des Zivilgesetzgebers noch unten unter § 3 VI.2.4.1. 278 Vgl. nur Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 87 f. für die Einwilligung. 279 Vgl. insofern Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 60: „Bei der Ausgestaltung der Vertragsfreiheit ist die staatliche Gewalt an den Grundsatz der Autonomie gebunden. Wollte der Gesetzgeber beispielsweise das maßgebliche Alter für die Erlangung der vollen Geschäftsfähigkeit auf dreißig Jahre herauf- oder auf sechs Jahre heruntersetzen, müsste er die fehlende oder bereits ausreichend vorhandene Einsichtsfähigkeit des nunmehr ausgeschlossenen oder einbezogenen Personenkreises aufzeigen – ein Unterfangen, das nicht gelingen kann.“ 280 S. nur Schön, FS Canaris, Bd. I., 2007, S. 1191, 1203; Schwabe, JZ 1998, 66, 70; Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 172 ff.; ausführlich Enderlein, Rechtspaternalismus im Vertragsrecht, 1996, S. 173 ff. und 223 ff. 281 Vgl. nur Schön, FS Canaris, Bd. I., 2007, S. 1191, 1204. Zur allgemeinen Debatte um die Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe in den Fällen von Zwang, Täuschung und Irrtum oben unter § 3 IV.3.4. 282 Deutlich Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 74; ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 176 f.; im Ergebnis wohl ebenso diejenigen, die für einen Grundrechtsverzicht „Freiwilligkeit“ verstanden als Abwesenheit von Täuschung und Zwang fordern. S. dazu oben unter § 3 III.3. Für eine „Neuinterpretion“ des § 138 Abs. 2 BGB vor dem Hintergrund der BVerfG-Rspr. zur gestörten Vertragsparität Papanikolaou/Karampatzos, FS Stürner, Bd. II, 2013, S. 1121, 1129 ff.
82
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
2.3.3.2 „Außergesetzliche Willensmängel“ – Ansätze für eine Fallgruppenbildung Jenseits dieser vom BGB „benannten Willensmängel“ versucht das Schrifttum im Anschluss an die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur gestörten Vertragsparität „unbenannte Willensmängel“ zu identifizieren, die einen rechtspaternalistischen Eingriff jedenfalls erlauben,283 weil hier eine „bloß formale, aber keine materiale, tatsächliche Freiheit“ hinsichtlich der rechtsgeschäftlichen Bindung vorliege.284 Dabei werden als Fallgruppen solcher „außergesetzlicher Willensmängel“ etwa (1) die fehlende „Freiwilligkeit“ der Entscheidung aufgrund psychologischen (Beispiel: Angehörigenfälle) oder wettbewerblichen Drucks (Beispiel: Monopolistenfälle), sowie (2) ein „Informationsgefälle“ zwischen den Parteien genannt, das es der besser informierten Partei erlaubt, der schlechter informierten Partei einen nachteiligen Vertrag aufzudrängen, ferner (3) die fehlerhafte Einschätzung einer Vertragspartei über ihre eigenen Präferenzen, ihre eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die Nützlichkeit von Investitionen oder langfristige Kosten-Nutzen-Verhältnisse.285 Zur weiteren Präzisierung dieser und ähnlicher Fallgruppen werden zunehmend ökonomische und verhaltensökonomische Erkenntnisse fruchtbar gemacht.286 2.4 Konkretisierungsaufgabe und -vorrang des (einfachen) Zivilrechts 2.4.1 Gesetzgeberischer Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum Im Rahmen seiner Rechtsprechung zur gestörten Vertragsparität stellt das BVerfG fest, dass sich der Verfassung „nicht unmittelbar entnehmen“ lasse, wann Ungleichgewichtslagen so schwer wiegen, dass die Vertragsfreiheit durch zwingendes Gesetzesrecht begrenzt oder ergänzt werden muss. Dem Gesetzgeber steht vielmehr ein „besonders weiter Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum“ zur Verfügung.287 Dies bedeutet: Hinsichtlich der Frage, ob eine Schutz283
S. etwa Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1204 und ff.; Thüsing, FS Wiedemann, 2002, 559, 568 und ff. Bei beiden ist allerdings nicht gänzlich klar, ob in den von ihnen herausgearbeiteten Fallgruppen lediglich eine Eingriffsrechtfertigung vorliegt oder sogar eine Schutzpflicht. 284 S. nur Canaris, AcP 200 (2000), 273 ff.; Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 563. 285 S. Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1204; ähnlich Thüsing, FS Wiedemann, 2002, 559, 568 ff. der die Fallgruppen „wirtschaftliches Gefälle“, „Informationsgefälle“, „intellektuelles Gefälle“ und „Begrenzte Rationalität“ unterscheidet; ferner Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 59 ff. Zu Rationalitätsdefiziten s. insbesondere van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff.; zur Fallgruppe des wettbewerblichen Drucks s. etwa auch Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 75 (Diktat aufgrund von Monopolstellung); zur Zwangslage in Angehörigenfällen s. etwa auch Singer, JZ 1995, 1133, 1139. 286 S. wiederum Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1204 ff.; ähnlich Thüsing, FS Wiedemann, 2002, 559, 568 ff.; für eine verhaltensökonomische Analyse s. insbesondere van Aaken, in: Anderheiden et al., Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff. 287 S. z.B. BVerfGE 81, 242, 255; zust. Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 76; vgl. auch Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 74; ferner Starck, FS Stürner, 2013, Bd. I, S. 61, 73 f. unter Hinweis auf den „Rahmencharakter“ der Verfassung.
VI. Synthese: Intervention bei vertraglicher Selbstbindung und Grundrechtsschutz
83
pflicht vorliegt, findet seine Einschätzungsprärogative ihre Grenze erst bei offensichtlichen Schutzdefiziten.288 Dabei ist der Gesetzgeber in den Grenzen der Verfassung insbesondere auch legitimiert, faktische Asymmetrien aufgrund eines privaten, wirtschaftlichen oder sozialen Machtgefälles zwischen verschiedenen Privatrechtssubjekten anzuerkennen oder die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst asymmetrisch auszugestalten.289 Das aus der Schutzfunktion der Grundrechte abzuleitende Untermaßverbot setzt diesem Gestaltungsspielraum nur insofern eine äußerste Grenze, als der Gesetzgeber das unerlässliche Schutzminimum für das Grundrecht zu gewährleisten hat.290 Ebenso besteht für die Art und Weise der Erfüllung einer gegebenen Schutzpflicht – wie stets291 – ein weiter Gestaltungsspielraum, der seine äußeren Schranken im Über- und Untermaßverbot findet.292 2.4.2 Verhältnis von Zivilrecht und Verfassungsrecht bei der richterlichen Wahrnehmung des staatlichen Schutzauftrages Hat der Gesetzgeber bei Anlegung der genannten Maßstäbe293 eine ihn treffende Schutzpflicht offensichtlich nicht oder jedenfalls nicht in ausreichendem Maße erfüllt, bedeutet dies nicht, dass die „Vertragspraxis dem freien Spiel der Kräfte unbegrenzt ausgesetzt wäre“294. Vielmehr richtet sich in diesem Fall der verfassungsrechtliche Schutzauftrag an die Zivilrechtsprechung. Sie hat ihm durch die Inhaltskontrolle des Vertrages mit den Mitteln des Zivilrechts, insbesondere unter Anwendung der Generalklauseln in Konkretisierung der darin verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe Geltung zu verschaffen,295 indem sie verhindert, dass Verträge als Mittel der Fremdbestimmung dienen296.297 Das BVerfG betont aber auch bei der richterlichen Wahrnehmung des grundrechtlichen Schutzauftrages: „Wie [die Gerichte] dabei zu verfahren haben und zu welchem Ergebnis sie gelangen müssen, ist in erster Linie eine Frage des einfachen Rechts, dem die 288
S. die N. in vorstehender Fn. Vgl. nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 198. 290 S. nur Canaris, AcP 184 (1984), 201, 228; ders., JuS 1989, 161, 163; ders., Grundrechte, S. 37 ff., 39, 44 f.; sowie Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, 2009, S. 232: „justiziables Mindestmaß“; vgl. auch Ladeur, FS Teubner, 2009, S. 543, 556: „Gerade wenn der Verfassung ‚nicht unmittelbar (zu) entnehmen (ist), wann Ungleichgewichtslagen so schwer wiegen, dass die Vertragsfreiheit durch zwingendes Gesetzesrecht begrenzt‘ werden muss, sollte in einer liberalen Verfassungspraxis eine Vermutung zugunsten der Freiheit gelten.“ 291 S. dazu oben unter § 3 V.1.1. 292 S. nur Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 76 und bereits oben unter § 3 V.1.2 und § 3 V.2. 293 S. soeben unter § 3 VI.2.4.1. 294 S. BVerfGE 81, 242, 256. 295 BVerfGE 81, 242, 256; gleichsinnig BVerfGE 89, 233 f.; zustimmend Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 76. 296 BVerfGE 89, 214, 234; zust. etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, 28. Aufl. 2012, Rn. 198. 297 Freilich kann man die Verwendung von Generalklauseln und sonstigen auslegungsfähigen und ausfüllungsbedürftigen Begriffen auch als Ausübung des Schutzauftrages durch bewusste Delegation an die Judikative verstehen. Vgl. Röthel, JuS 2001, 424, 427; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 232. 289
84
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
Verfassung einen weiten Spielraum läßt. Ein Verstoß gegen die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie kommt aber dann in Betracht, wenn das Problem gestörter Vertragsparität gar nicht gesehen oder seine Lösung mit untauglichen Mitteln versucht wird.“298 2.4.3 Fazit Die vorstehenden Aussagen zur Wahrnehmung des staatlichen Schutzauftrages zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts der Vertragsparteien sind nicht auf die Fälle „gestörter Vertragsparität“ beschränkt, sondern lassen sich auf sämtliche Funktionsdefizite der Selbstbestimmung im Rahmen vertraglicher Selbstbindung übertragen.299 Gerade angesichts des weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers, der auch auf die Ebene der zivilgerichtlichen Rechtsanwendung fortwirkt300, setzen die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Zulässigkeit und Pflicht paternalistischer Intervention im Vertragsrecht lediglich einen Rahmen, der gewisse Mindestanforderungen an die Selbstbestimmung der Vertragsparteien für die Wirksamkeit ihrer Selbstbindung fordert und unverhältnismäßige Eingriffe in ihr Selbstbestimmungsrecht verbietet. Demgegenüber trifft die Verfassung keine unmittelbaren Aussagen darüber, wann die Mindestvoraussetzungen für eine selbstbestimmte vertragliche Selbstbindung vorliegen. Die genaue Festlegung der Funktionsvoraussetzungen autonomer Selbstbindung fällt vielmehr in die Zuständigkeit von Gesetzgeber und Rechtsanwender. Sie ist eine Frage des einfachen Rechts.301
3. Grundrechtsschutz und harter Paternalismus im Rahmen vertraglicher Selbstbindung 3.1 Meinungsbild im staats- und zivilrechtlichen Schrifttum Folgt man der herrschenden Lehre im staatsrechtlichen Schrifttum, so darf in die Freiheit zur vertraglichen Selbstbindung bei hinreichend freier Selbstbestimmung aus ausschließlich paternalistischen Motiven in keinem Falle eingegriffen werden.302 Dies muss konsequenterweise auch für extrem belastende und – jedenfalls aus Sicht der Mehrheit – schlechthin unerträgliche Vertragsfolgen sowie für Ewigkeitsbindungen gelten.303 Besteht in diesen Fällen in Ansehung des Selbstbe298
BVerfGE 89, 214, 234. Vgl. diesbzgl. auch Singer, JZ 1995, 1133, 1139; ders., GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 187 f. 300 S. zu den diesbezüglichen Aussagen des BVerfG soeben § 3 VI.2.4.1. 301 Vgl. Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 88 f. für die Einwilligung; auch Singer, JZ 1995, 1133, 1139: Das Grundgesetz habe nur die Möglichkeit eröffnet, gewisse äußerste Grenzen der Privatautonomie stärker zu akzentuieren. 302 S. zur allgemeinen Debatte um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit paternalistisch motivierter Eingriffe oben unter § 3 IV. 303 Konsequent daher Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 154: „Der mit der vertraglichen Verpflichtung verbundene Nachteil gilt, weil die beschwerte Vertragspartei es 299
VI. Synthese: Intervention bei vertraglicher Selbstbindung und Grundrechtsschutz
85
stimmungsrechts des Betroffenen keine staatliche Eingriffsbefugnis, fehlt es erst recht an einer staatlichen Schutzpflicht. Zur Legitimation der – im Ergebnis zumeist unstreitigen (!) – Nichtanerkennung solcher Verträge durch das Recht sind die Anhänger dieses Standpunktes dann genötigt, in äußerst großzügiger und nicht immer überzeugender Weise die Selbstbestimmung des Einzelnen zu bezweifeln oder auf entgegenstehende Dritt- und Gemeinwohlinteressen zu rekurrieren.304 In der Zivilrechtslehre besteht demgegenüber weitgehende Einigkeit dahingehend, dass in Extremfällen oder bei andernfalls „untragbaren Ergebnissen“305 ein übermäßig belastender Vertragsschluss zum Schutze der belasteten Partei jedenfalls korrigiert werden darf.306 Exemplarisch kann hier auf die ständige BGHRechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von sog. „Knebelungsverträgen“ verwiesen werden, die die wirtschaftliche Freiheit des einen Teils so sehr beschränken, dass dieser seine freie Selbstbestimmung ganz oder im Wesentlichen einbüßt.307 Auch die uneingeschränkte rechtliche Sanktionierung von Ewigkeitsbindungen wird – zumindest teilweise – als verfassungsrechtlich unhaltbar angesehen.308 Dem strengen Standpunkt der herrschenden staatsrechtlichen Lehre bereits stark angenähert, ist die vermittelnde Ansicht, die einen paternalistischen Eingriff bei extrem belastenden, die Disposition über elementare Rechtsgüter einschließenden Verträgen für zulässig erachtet, weil in diesen Fällen die Sanktionierung des Vertrages angesichts der Vorstellung „unerträglich“ sei, dass „der Rechtsgutsinhaber womöglich [sic!] keine wirklich freie Disposition getroffen [habe].“ Da niemand ohne Not seine höchsten Rechtsgüter preisgebe, bestehe „sogar eine gewisse
304 so will […]. Sie wird schon wissen, weshalb sie die sie belastende Verpflichtung übernommen hat und muß […] die Folgen tragen.“; vgl. auch ders., in: Riesenhuber (Hrsg.), Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 181 f. 304 Vgl. exemplarisch Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 124 in Fn. 60, der das Verbot der Selbstversklavung wie folgt begründen will: „Zum einen ist natürlich die Freiwilligkeit eines solchen Entschlusses in Frage zu stellen. Zum anderen hat der Staat ein legitimes Interesse daran, dass kein soziales Klima entsteht, in dem Einzelne totale Macht über andere haben. Nicht der Schutz des Einzelnen, der sich als Sklave verkaufen möchte, sondern der Schutz Dritter, nämlich der Gesellschaft als Ganzes, steht dann im Vordergrund.“ 305 S. in Bezug auf die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates Singer, JZ 1995, 1133, 1138: Den objektiven Schranken der Privatautonomie komme die Funktion zu, untragbare Ergebnisse zu verhindern. Ganz ähnlich Wiedemann, JZ 1994, 411 ff., der überdies lapidar feststellt: „[D]ie Verfassungsordnung verlangt auch einen […] Schutz der Privatrechtssubjekte vor sich selbst“. 306 Vgl. etwa Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 104 f.; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 363 ff.; wohl auch Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 568: „Der Wille, den Arbeitnehmer vor den Folgen eines unvernünftigen, aber frei gewollten Handelns zu schützen, kann daher grundsätzlich keine Rechtfertigung sein.“ (Hervorhebung durch Verf.). 307 S. dazu etwa BGHZ 19, 12; 44, 158, 161 („Unerträglichkeit“ der in Rede stehenden Bindung „für einen freien Mann“); BGH NJW 1993, 1587; zusammenfassend Palandt/Ellenberger, BGB, 73. Aufl. 2014, § 138 Rn. 39. 308 S. nur Wiedemann, JZ 1994, 411 unter Rekurs auf Art. 2 Abs. 1 GG; im Ergebnis auch Wagner-von Papp, AcP 205 (2005), 342, 382.
86
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
Wahrscheinlichkeit dafür, dass Sachzwänge, soziale oder persönliche Notlagen zu der negativen Entscheidung beigetragen“ haben.309 3.2 Stellungnahme Wenn das Recht dem Selbstverkauf in die Sklaverei, anderen „Knebelungsverträgen“ oder ähnlich belastenden Verträgen die Wirksamkeit versagt, so geht es dabei sicher nicht zuvörderst um dem Schutz der Allgemeinheit, sondern in der Hauptsache um den Schutz der belasteten Vertragspartei, also einen paternalistischen Zweck.310 In derlei Extremfällen spricht durchaus einiges dafür, widerleglich (!) zu vermuten, dass eine tatsächlich freie Selbstbestimmung des belasteten Vertragsteils nicht vorgelegen hat. Dann wird regelmäßig nicht nur die staatliche Berechtigung zum paternalistischen Eingriff, sondern – wie in den Entscheidungen des BVerfG zur gestörten Vertragsparität zu sehen – sogar eine staatliche Schutzpflicht zur Vertragskorrektur bestehen.311 Aber selbst, wenn die freie Selbstbestimmung der belasteten Vertragspartei feststeht, wird man – wie bereits zur allgemeinen Frage der Zulässigkeit paternalistischer Eingriffe dargestellt312 – unter Rückgriff auf die Garantie der Menschenwürde bzw. den Menschenwürdegehalt des betroffenen Grundrechts eine verfassungsrechtlich zulässige objektive Schranke der Vertragsfreiheit dort einziehen dürfen (und sogar müssen), wo die vertragliche Selbstbindung eine solch fundamentale Freiheitsbeschränkung für die Zukunft darstellt, dass die faktischen Voraussetzungen eines der eigenen Personenwürde angemessenen Lebens nicht mehr gewahrt scheinen.313 Bei der Annahme solcher seltenen Extremfälle ist jedoch große Zurückhaltung geboten. Wie das Paradigma des Selbstversklavungsvertrages zeigt, wird es hierbei vor allem um Verträge gehen, in denen sich eine Partei zu höchstpersönlichen Handlungen oder Unterlassungen verpflichtet.314 Demgegenüber werden vertragliche Verpflichtungen finanzieller Natur hier kaum eine Rolle spielen, zumal der „lebenslange Schuldturm“ durch die Möglichkeit der Restschuldbefreiung im Rahmen der Verbraucherinsolvenz (§§ 286 ff. InsO) abgeschafft worden ist.315
309 Singer, GS Jeand’Heur, 1999, S. 171, 185; gleichsinnig ders., JZ 1995, 1133, 1139. Die Nähe dieser Position zur BVerfG-Rspr. zur gestörten Vertragsdisparität [dazu oben unter § 3 I.2 und § 3 VI.2.3.1] ist unverkennbar. 310 Insofern können etwa die Ausführungen von Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 124 mit Fn. 60 nicht überzeugen. 311 So auch das BVerfG im Rahmen seiner Schutzpflichtenrechtsprechung bei gestörter Vertragsparität, s. oben unter § 3 I.2 und § 3 VI.2.3.1. 312 S.o. unter § 3 IV.3.2. 313 Vgl. auch Ohly, „Volenti non fit iniuria“, 2002, S. 104 f. 314 S. aus rechtsphilosophischer Perspektive bereits oben unter § 2 VIII.2.2. 315 Vgl. auch Hillgruber, in: Riesenhuber (Hrsg.) Das Prinzip der Selbstverantwortung, 2012, S. 165, 182 ff.; ferner den Hinweis auf die Pfändungsschutzbestimmmungen in BGH NJW 1989, 1665, 1666. Zur aktuellen Insolvenzrechtsreform, die insbesondere neue Möglichkeiten zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens vorsehen, s. nur Frind, BB 2013, 1674 ff.
VII. Zwischenergebnis
87
VII. Zwischenergebnis 1. Die rechtsgeschäftliche Selbstbindung führt nicht nur zu einer Freiheitsbeschränkung, sondern ist zugleich Ausübung individueller Freiheit, nämlich Betätigung der Selbstbestimmung im Rechtsverkehr. Als „Vertragsfreiheit“ ist sie grundrechtlich geschützt. Das jeweils einschlägige Grundrecht richtet sich dabei nach dem Gegenstand des Vertrages; subsidiär greift Art. 2 Abs. 1 GG. Da auch selbstschädigendes sowie selbstgefährdendes Verhalten Grundrechtsschutz genießen, gilt dies auch für den Abschluss nachteiliger Verträge. Dementsprechend ist die privatrechtliche Vertragsabschluss- und -inhaltsregulierung als Eingriff in das grundrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht der durch den Vertrag benachteiligten Partei anzusehen. Dies gilt auch für die paternalistisch motivierte Intervention und zwar selbst dann, wenn der Adressat der paternalistischen Regelung sich im Nachhinein von dem ihm nachteiligen Vertrag lösen möchte. 2. Dies hat zur Folge, dass auch die paternalistisch motivierte Regulierung der rechtsgeschäftlichen Selbstbindung rechtfertigungsbedürftig ist (Schutz vor Paternalismus). Als legitimer Zweck für einen paternalistischen Eingriff ist der Schutz des Selbstbestimmungsrechts bei Vorliegen von Defiziten der freien und selbstbestimmten Willensbildung und -betätigung anerkannt (sog. weicher Paternalismus). Darüber hinaus wird man harten Paternalismus in solchen Ausnahmefällen für zulässig halten dürfen, in denen eine Partei durch die vertragliche Belastung die freie Selbstbestimmung ganz oder im Wesentlichen einbüßt, so dass die faktischen Voraussetzungen eines der eigenen Personenwürde angemessenen Lebens nicht mehr gewahrt sind (Paradigma: Selbstversklavungsvertrag). Sofern man in diesen Fällen nicht bereits auf ein Selbstbestimmungsdefizit bei Vertragsabschluss schließen kann, wird man einen solchen Eingriff in das Recht zur selbstbestimmten vertraglichen Selbstbindung mit dem Schutzauftrag für die Menschenwürde des Kontrahenten bzw. den Menschenwürdegehalt des betroffenen Grundrechts rechtfertigen können. Die Gegenansicht kommt in derlei Fällen zum gleichen Ergebnis, wenn sie in großzügiger, aber teilweise wenig überzeugender Weise auf Dritt- und Allgemeinwohlbelange rekurriert. Sowohl weicher als auch harter Paternalismus müssen als Grundrechtseingriff das Übermaßverbot beachten. Dabei ist insbesondere zu prüfen, ob mit geeigneten Wahlhilfen gegenüber Wahlge- oder -verboten mildere Mittel zur Verfügung stehen. 3. Die Rechtfertigungserfordernisse für Rechtspaternalismus dürfen nicht dadurch umgangen werden, dass man bestimmte Verfügungen über grundrechtlich geschützte Rechtsgüter über die Figur des Grundrechtsverzichts und seiner Schranken a priori aus dem Schutzbereich der Grundrechte herausdefiniert. Jedenfalls für die privatvertragliche Selbstbindung wird man daher in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung in Praxis und Lehre sagen müssen: Grundrechtsverzicht ist Grundrechtsgebrauch. 4. Rechtspaternalistische Maßnahmen können sich aber nicht nur als Grundrechtseingriff, sondern auch als Erfüllung des aus den Grundrechten abgeleiteten staatlichen Schutzauftrages darstellen (Schutz durch Paternalismus). Da dieser
88
§ 3 Rechtspaternalismus und vertragliche Selbstbindung im Verfassungsrecht
Schutzauftrag auf den Schutz der Grundrechtsverwirklichung gegen Ein- oder Übergriffe anderer Bürger zielt, stellt die Schutzmaßnahme in der Regel einen Grundrechtseingriff zu Lasten des übergreifenden Bürgers dar. Der Staat hat hier einen Ausgleich der konfligierenden Grundrechtspositionen zu schaffen, wobei das abwehrrechtliche Übermaßverbot und das durch die Schutzpflicht begründete Untermaßverbot den äußeren Rahmen dieses Ausgleichs abstecken. Da die paternalistisch motivierte Intervention zugleich Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Schutzadressaten ist, ist dieser Ausgleich auch im Hinblick auf dieses Selbstbestimmungsrecht und das in Rede stehende Schutzgut zu leisten: Jede am Untermaßverbot zu messende Schutzmaßnahme darf die Selbstbestimmung des Schutzadressaten nicht übermäßig einschränken. 5. Der grundrechtliche Schutzauftrag des Staates realisiert sich in Bezug auf die privatvertragliche Bindung der Bürger in der Regel durch die Gewährleistung effektiver Vertragsdurchsetzung zugunsten des Gläubigers. Maßnahmen harten Rechtspaternalismus sind aber nicht nur ausnahmsweise erlaubt (s. 2.), sondern dann auch geboten, wenn eine Partei durch die vertragliche Belastung ihre freie Selbstbestimmung ganz oder im Wesentlichen einbüßt oder sonstwie die faktischen Voraussetzungen eines der eigenen Personenwürde angemessenen Lebens in Gefahr geraten. Das Recht muss hier die Vertragssanktionierung verweigern. Freilich liegt es in derlei Fällen nicht fern, aufgrund der extrem belastenden Vertragsfolgen ein Selbstbestimmungsdefizit der belasteten Partei bei Vertragsschluss zu vermuten. Eine staatliche Pflicht zu weichem Rechtspaternalismus aus Gründen des Grundrechtsschutzes ergibt sich jedenfalls bei besonders schweren Selbstbestimmungsdefiziten eines Vertragsteils, die dazu führen, dass die vertragliche Bindung faktisch einen Akt der Fremdbestimmung darstellt. 6. Das BVerfG hat eine solche Fremdbestimmung für typisierbare Fallgestaltungen bejaht, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lassen und bei denen die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend sind. Dabei leitet das Gericht die strukturelle Unterlegenheit des zu schützenden Vertragsteils ganz weitgehend aus der einseitigen vertraglichen Lastenverteilung und dem erheblichen Ausmaß dieser Lasten ab. 7. Das Schrifttum hat diese Rechtsprechung in der Sache inzwischen weitgehend akzeptiert, kritisiert aber die Unschärfe der Begriffe und bemüht sich daher um die weitere Konkretisierung einschlägiger Fallgruppen „außergesetzlicher Willensmängel“, in denen eine staatliche Intervention jedenfalls erlaubt ist. Als solche haben erste Untersuchungen die fehlende „Freiwilligkeit“ der Entscheidung aufgrund psychologischen oder wettbewerblichen Drucks (1), ein „Informationsgefälle“ zwischen den Parteien, das es der besser informierten Partei erlaubt, der schlechter informierten Partei einen nachteiligen Vertrag aufzudrängen (2) und die fehlerhafte Einschätzung einer Vertragspartei über die eigenen Präferenzen, ihre eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die Nützlichkeit von Investitionen oder langfristige Kosten-Nutzen-Verhältnisse (3) identifiziert. 8. Dem Privatrechtsgesetzgeber kommt bei der Wahrnehmung seiner Schutzpflichten freilich ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum hinsicht-
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
89
lich des „Ob“ und „Wie“ zu. Stellt man in Rechnung, dass der Gesetzgeber im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht des Schutzadressaten auch das Übermaßverbot zu beachten hat, setzen die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Zulässigkeit und Pflicht weichen Paternalismus lediglich einen Rahmen, der gewisse Mindestanforderungen an die Selbstbestimmung der Vertragsparteien für die Wirksamkeit ihrer Selbstbindung fordert und unverhältnismäßige Eingriffe in ihr Selbstbestimmungsrecht verbietet. Demgegenüber trifft die Verfassung keine unmittelbaren Aussagen darüber, wann die Mindestvoraussetzungen für eine selbstbestimmte rechtsgeschäftliche Selbstbindung vorliegen. Der genaue Zuschnitt der Funktionsvoraussetzungen selbstbestimmter Selbstbindung bleibt vielmehr dem Gesetzgeber und dem Rechtsanwender als Frage des einfachen Rechts überlassen. 9. Jenseits der seltenen Extremfälle verfassungsrechtlich erlaubten harten Paternalismus ist damit die entscheidende Frage für die Zulässigkeit paternalistischer Intervention, wann eine freie und selbstbestimmte Entscheidung vorliegt und wann nicht. Für eine Antwort sind vor allem von Seiten der ökonomischen und verhaltensökonomischen Forschung wertvolle Hinweise zu erwarten, haben doch beide Forschungszweige das Verhalten menschlicher Entscheider zum Gegenstand. Ihre Einsichten werden im Folgenden ausführlich gewürdigt.
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus Die bislang mithilfe rechtsphilosophischer Überlegungen und verfassungsrechtlicher Aussagen herausgearbeiteten Zulässigkeitsbedingungen einer rechtspaternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit sind noch recht abstrakt und vage. Für ihre Anwendbarkeit auf konkrete Rechtsfragen erscheint daher eine weitere Präzisierung und Konkretisierung geboten. Die Rechtsökonomik hält hierfür das geeignete Instrumentarium bereit. So hat sich die ökonomische Theorie ausgiebig mit Fragen der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen beschäftigt (II.). Hieran anknüpfend wendet sich die Untersuchung der Frage zu, ob und wie sich rechtspaternalistische Eingriffe in die Vertragsfreiheit durch Effizienzerwägungen rechtfertigen lassen (III.). Die positiven und negativen Wirkungen einer solchen Intervention werden dafür entsprechend der ökonomischen Diktion in Nutzen und Kosten übersetzt. Hieraus ergibt sich schließlich ein ausdifferenziertes Kosten-Nutzen-Kalkül eines effizienten Rechtspaternalismus. Diesen hat der dem – verfassungsrechtlich eingehegten – Effizienzmaßstab verpflichtete Intervenient – sei es der Gesetzgeber, sei es der Richter – bei seiner Entscheidung, ob und mit welchen Mitteln er aus paternalistischen Motiven die Vertragsfreiheit einschränkt, zu beachten. Zunächst sind jedoch einige Grundannahmen der neoklassischen Rechtsökonomik offenzulegen und zu erläutern (I.).
90
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik Vor der Beschäftigung mit der ökonomischen Theorie der Vertragsfreiheit und den Bedingungen eines effizienten Rechtspaternalismus sind zunächst einige klärende Ausführungen zum normativen Maßstab der ökonomischen Analyse des (Vertrags-)Rechts (1.) und dem von ihr zugrunde gelegten Standardmodell menschlichen Verhaltens (2.) angezeigt.
1. Das ökonomische Effizienzziel Die ökonomische Analyse des Rechts bewertet rechtliche Regelungen anhand ihrer Effizienz. Der Effizienzmaßstab setzt bestimmte normative Grundannahmen voraus, die keineswegs unbestritten sind.1 In der rechtsökonomischen Literatur werden sie gleichwohl nur selten offen gelegt.2 Im Folgenden sollen der Begriffsinhalt dieses Kriteriums sowie die (impliziten) Voraussetzungen für seine Anwendung und die damit verbundenen Grundwertungen kurz dargestellt werden. 1.1 Effizienz als normatives Ziel der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik Die normativen Grundlagen der ökonomischen Analyse des Rechts entnehmen seine Proponenten der Wohlfahrtsökonomik bzw. der Sozialwahltheorie (social choice), die sich ganz allgemein mit der Bewertung von Kollektiventscheidungen befassen.3 1.1.1 Wohlfahrtsmaximierung durch effiziente Verteilung knapper Mittel als normatives Hauptziel Das zentrale normative Ziel der Ökonomik ist die weitestgehende Vermeidung von Verschwendung beim Einsatz knapper Ressourcen. Die vorhandenen Mittel sollen möglichst wirksam und nutzbringend eingesetzt werden. Anders gewendet: Es wird der effiziente Mitteleinsatz angestrebt.4 Eine wesentliche Aufgabe der normativen Ökonomik besteht mithin darin, effizienzfördernde Institutio1 Daher sollte man nach Craswell, Yale L.J. 112 (2003), 903, 906 die Aussagen der meisten rechtsökonomischen Aufsätze als normativen Vortrag folgender Art verstehen: „To the extend that you care about efficiency as a value, you should pay attention to the following conclusions.“ 2 Vgl. auch den keineswegs nur an Rechtsökonomen gerichteten Appell von Atkinson, Am. Econ. Rev.: Papers & Proceedings 101 (2011), 157: „Economists should provide justification for the ethical criteria underlying welfare economics[…]. Economists need to be more explicit about the relation beween welfare criteria and the objectives of governments, policymakers and individual citizens.“ 3 S. nur Cooter/Ulen, Law & Economics, 6th ed. 2011, S. 38: „Welfare economics is […] fundamental to the economic analysis of legal rules.“; ferner Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 4; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 11 f. 4 S. zum Effizienzbegriff noch näher unten unter § 4 I.1.1.3 und § 4 I.1.1.4.
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
91
nen und Regelungen zu ermitteln. Die normative ökonomische Analyse des Rechts konzentriert sich dabei auf die Betrachtung rechtlicher Regelungen.5 Wenn und weil die normative Ökonomik die Entscheidungen und Handlungen der Akteure sowie die diese beeinflussenden Regelungen und Institutionen hauptsächlich danach bewertet, welche Folgen sie für die Bedürfnisbefriedigung der Mitglieder der Gesellschaft haben, gehört sie zu den konsequentialistischen Sozialtheorien.6 1.1.2 Normativer Individualismus und soziale Wohlfahrtsfunktion Die ökonomische Wohlfahrtstheorie und die Theorie der Sozialwahl oder Kollektiventscheidung (social choice) legen in ihrer Erklärung von sozialen Zuständen und ihrer Bewertung anhand des Effizienzzieles einen normativen Individualismus zugrunde. Das Wohlergehen eines Gemeinwesens (social welfare) wird hiernach als Aggregation der individuellen Wohlfahrt aller Mitglieder des Gemeinwesens verstanden.7 Eine bestimmte Sozialwahl oder Kollektiventscheidung beurteilt sich also ausschließlich nach dem individuellen Nutzen (utility) für die betroffenen Gesellschaftsmitglieder als Indikator ihres Wohlergehens8 und damit letztlich nach deren individuellen Präferenzen (sog. welfarism oder Wohlfahrtsprinzip)9. Diese individuellen Nutzen werden für die Ermittlung der sozialen Wohlfahrt lediglich aggregiert, nicht aber bewertet (Präferenzautonomie).10 Die
5 S. zum Ganzen nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. XXXIII. Zum Wert der ökonomischen Analyse speziell des Vertragsrechts als normativer Theorie s. etwa Ayres, Yale L.J. 112 (2003), 881 ff.; ferner Craswell, Yale L.J. 112 (2003), 903, 907 ff.; beide gegen E. Posner, Yale L.J. 112 (2003), 829 ff. 6 S. dazu sowie zu darüber hinausweisenden Gerechtigkeitsvorstellungen der normativen ökonomischen Analyse des Rechts Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. XXXIV; auch Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 223: „Normative economics is a consequentialist moral theory.“ Vgl. auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 22: Das normative Effizienzziel habe seine „Wurzeln in der utilitaristischen Philosophie“. 7 S. etwa Pareto, Cours d’economie politique, 1897; Bergson, Quart. J. Econ. 52 (1938), 310 ff.; Arrow, J. Pol. Econ. 58 (1950), 328 ff.; Sen, Econ. J. 89 (1979), 537 ff.; zusammenfassend Schäfer/ Ott, Lehrbuch der ökonomische Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. XXXV, 11 f.; Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 595 ff.; zu den utilitaristischen Wurzeln des normativen Individualismus der Wohlfahrtstheorie s. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 25. 8 Vgl. nur Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 596. In neuerer Zeit wird versucht, den Nutzen (= die Präferenzbefriedigung) als Maßstab für Wohlfahrt durch das subjektive Wohlbefinden bzw. das Glücklichsein („happiness“) zu ersetzen [s. bspw. Bronsteen/ Buccafusco/Masur, Geo. L.J. 98 (2010), 1583 ff.]. Die Unterschiede zum herkömmlichen Nutzenkonzept sind nicht zu leugnen [s. dazu Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 33 f.; Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 56 ff.], werden aber durchaus kritisch gesehen [s. etwa Saint-Paul, ebenda]. 9 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 11 f., 28; Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 597. 10 Ausführlich zur Präferenzautonomie Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 326 ff.
92
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
paternalistisch motivierte Zurückweisung bestimmter Präferenzen (harter Paternalismus) ist daher mit dem Wohlfahrtsprinzip nicht vereinbar. Der praktisch sehr bedeutsamen Unsicherheit über die Zukunft wird dadurch Rechnung getragen, dass der Nutzen einer Entscheidung aus der Summe der Produkte aller möglichen Entscheidungsfolgen und ihrer jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeit zusammengesetzt wird (Erwartungsnutzen, expected utility).11 Andere Faktoren als der individuelle Nutzen für die Betroffenen spielen für die Ermittlung der sozialen Wohlfahrt hingegen keine Rolle. Die Aggregierung der individuellen Nutzen zur sozialen Wohlfahrt erfolgt mit Hilfe einer sozialen Wohlfahrtsfunktion. Die verschiedensten Formen einer solchen Funktion sind denkbar.12 Die wohl bekannteste und gebräuchlichste dieser Funktionen ist die klassisch utilitaristische Wohlfahrtsfunktion. Danach ist die Wohlfahrt die Summe des Nutzens aller betrachteten Akteure, den diese aus der gegebenen Güterallokation ziehen.13 1.1.3 Folgenbewertungen von Sozialwahlentscheidungen – Effizienzkriterien Für die relative Bewertung einer Sozialwahlentscheidung gegenüber dem Ist-Zustand oder dem Zustand infolge einer Entscheidungsalternative werden in der Wohlfahrtsökonomie bzw. in der Theorie der Sozialwahl vor allem zwei (Effizienz-)Kriterien verwendet, die unterschiedliche Anforderungen an die (hypothetische) Zustimmung der durch die Entscheidung betroffenen Gesellschaftsmitglieder stellen. 1.1.3.1 Pareto-Kriterium Das sog. Pareto-Kriterium ist ein schwaches, d.h. weithin zustimmungsfähiges Kriterium zur Bewertung zweier sozialer Zustände oder zweier Güterallokationen in einer bestimmten Gemeinschaft von Akteuren.14 Die Prüffrage lautet hier, ob eine andere als die gegebene Güterallokation existiert, die (1) keinen Akteur – gemessen an dessen eigenen Präferenzen – schlechter stellt als die gegebene und (2) zumindest einen Akteur besser stellt. Besteht eine solche andere Güterallokation dann wird die gegebene Verteilung als ineffizient (oder Pareto-inferior) angesehen, die andere als Pareto-superior. Besteht keine andere Güterverteilung, die diese Kriterien erfüllt, dann ist die geprüfte Allokation Pareto-effizient.15 Pareto11 Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 22; Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 596. 12 Siehe für einen Überblick über die Diskussion der Wohlfahrtsfunktion Suzumura, social welfare function, in: The New Palgrave Dictionary of Economics, Vol. 4, 1987. 13 Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 22; Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 597. 14 S. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 12. 15 S. nur Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 21 f.: „Pareto efficiency[…] evaluates a proposed allocation among a set of actors by asking whether there exists a second allocation that (i) none of the actors prefer less than the proposed allocation and (ii) at least one of the actors actually prefers to the proposed allo-
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
93
Effizienz liegt also mit anderen Worten vor, wenn die Besserstellung einer Person nur gelingt, wenn hierdurch mindestens eine andere Person einen Nachteil erleidet. Synonym werden auch die Begriffe Pareto-Optimalität oder Allokationseffizienz verwendet.16 Mit dem Pareto-Kriterium lassen sich vor allem ineffiziente Güterallokationen identifizieren. Es taugt jedoch nicht dazu, verschiedene Pareto-effizienten Güterallokationen entsprechend ihrem Effizienzgrad zu ordnen. Dies lässt sich am Beispiel der Zuteilung eines nicht teilbaren Gegenstands veranschaulichen: So ist jede Verteilung Pareto-effizient, die den Gegenstand irgendeinem der Gesellschaftsmitglieder zuordnet, da bei einer alternativen Zuteilung zumindest ein Gesellschaftsmitglied schlechter steht als zuvor.17 Ganz allgemein ist seine Praktikabilität als Entscheidungsregel limitiert, weil bereits die abweichenden Präferenzen nur einer Person seiner Erfüllung und damit der Durchführung der in Rede stehenden Maßnahme oder Entscheidung entgegenstehen.18 1.1.3.2 Kaldor-Hicks-Kriterium und abgeleitete Entscheidungsregeln 1.1.3.2.1 Begriffsbestimmungen Um zwei soziale Zustände auch dann in eine soziale Rangfolge bringen, also als „besser“ oder „schlechter“ einordnen zu können, wenn der Übergang von einem zum anderen Zustand nicht nur Begünstigte, sondern auch Benachteiligte kennt, haben die Ökonomen Kaldor und Hicks das nach ihnen benannte Kaldor-Hicks(Kompensations)kriterium entwickelt.19 Danach ist ein sozialer Zustand A gegenüber einem sozialen Zustand B vorzuziehen, wenn diejenigen, die Zustand A präferieren, dies auch dann noch täten, wenn sie die Nachteile derjenigen, die Zustand B präferieren, durch Kompensationszahlungen ausgleichen würden, so dass letztere nunmehr gegenüber der Wahl zwischen Zustand A und B indifferent wären. Nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium ist eine Kollektiventscheidung also dann durchzuführen, wenn sie für die Begünstigten auch dann noch vorteilhaft ist, wenn sie die für andere entstehenden Nachteile voll kompensieren würden.20 Da 16 cation. If such a second allocation exists, the proposed allocation is deemed inefficient (alternatively, Pareto inferior or Pareto dominated). The second allocation in this case is deemed Pareto superior. If no such second allocation exists, the proposed allocation is deemed efficient.“; gleichsinnig Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 13. Dort auch zum „schwachen Pareto-Kriterium“. 16 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 14. 17 S. zu diesem Beispiel Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 22. Zum Ganzen auch Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 19. 18 S. nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 13. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 55 hält das Pareto-Kriterium daher für die ökonomische Analyse des Rechts für praktisch „wenig brauchbar“. 19 S. Kaldor, Econ. J. 49 (1939), 549 ff.; Hicks, Econ. J. 49 (1939), 696 ff. 20 S. nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 20; Schwalbe, in Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, S. 43, 59.
94
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
die Kompensationszahlungen nicht real durchgeführt werden, spricht man bei Entscheidungen nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium auch von potentiellen Pareto-Verbesserungen.21 Aus dem Kaldor-Hicks-Kriterium hat namentlich Richard Posner verschiedene Entscheidungsregeln für die rechtsökonomische Anwendung abgeleitet22: Hierzu gehört zum einen die sog. Auktionsregel, die besagt, dass die Rechtsordnung ein Recht demjenigen zuordnen soll, der voraussichtlich den höchsten Preis dafür zu zahlen bereit wäre, d.h. dem (hypothetisch) Meistbietenden.23 Zum anderen benennt Posner als Entscheidungskriterium das Vermögensmaximierungsprinzip (wealth maximization principle). Danach sollen Kollektiventscheidungen darauf gerichtet sein, dass die Summe aller durch sie bewirkten Vermögensänderungen das Gesamt(end)vermögen der Betroffenen maximiert.24 Als praktisch wichtigste Anwendung des Kaldor-Hicks-Kriteriums wird die Entscheidung über staatliche Projekte oder Regelungen anhand einer Kosten-Nutzen-Analyse25 angesehen.26 Hierbei werden die in Geldeinheiten bemessenen Gesamtkosten der Maßnahme mit ihrem ebenfalls in Geldeinheiten bemessenen Gesamtnutzen verglichen. Bei einem positiven Saldo ist die Maßnahme Kaldor-Hicks-effizient.27 1.1.3.2.2 Rechtfertigung Da das Kaldor-Hicks-Kriterium keine reale, sondern nur eine hypothetische Entschädigung der durch eine Entscheidung Benachteiligten voraussetzt, stellt sich die Frage, ob es gleichwohl durch seine allgemeine Zustimmungsfähigkeit gerechtfertigt werden kann. Ihre Bejahung wird vor allem mit dem Argument der Quasi-Pareto-Superioriät des Kaldor-Hicks-Kriteriums begründet. Hierfür wird nicht auf die Folgen der einzelnen Entscheidung abgestellt, sondern auf die Gesamtheit aller staatlichen Entscheidungen. Bei Anwendung des Kaldor-HicksKriteriums auf jede einzelne dieser unzähligen Entscheidungen stehe nach genü21 S. etwa Cooter/Ulen, Law & Economics, 6th ed. 2011, S. 42; R. Posner, Hofstra L. Rev. 8 (1980), 487, 491; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 20 mit Fn. 11. Zum hypothetischen Charakter der Umverteilung ferner etwa Schwalbe, in Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, S. 43, 59 f. 22 S. für einen Überblick wiederum Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 21 f.; ferner Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 51 f., 54 f. 23 R. Posner, Economic Analysis of Law, 8th ed. 2010, § 1.2 (S. 18 f.). Zu den mit der Auktionsregel verbundenen Problemen s. nur Coleman, in: Pennock/Chapman (eds.), Ethics, Economics and the Law, 1982, S. 83 ff., insb. 94 ff. 24 R. Posner, J. Legal Stud. 8 (1979), 103, 119 ff.; krit. dazu Veljanovski, Int’l Rev. L. Econ. 1 (1981), 5 ff. 25 Vgl. zur Kosten-Nutzen-Analyse im Aktien- und Kapitalmarktrecht Fleischer, FS v. Rosen, 2008, S. 597 ff. 26 S. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 51. 27 S. etwa die Beschreibung bei Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 52, oder Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 22, die zutreffend darauf hinweisen, dass sogar Pareto-Effizienz gegeben ist, wenn die in die Rechnung eingestellten Kosten und Nutzen dieselben Personen betreffen.
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
95
gend langer Zeit bzw. einer hinreichend hohen Zahl an Einzelentscheidungen jeder in der Gesellschaft besser als ohne die Anwendung dieses Kriteriums. Es komme mithin nach einiger Zeit zu einer Art Generalkompensation für durch einzelne Entscheidungen herbeigeführte Verluste.28 Die Hypothese der Generalkompensation setzt allerdings eine gleichmäßige und damit weitgehend zufällige Verteilung der Vor- und Nachteile über eine hinreichend große Gesamtheit von Einzelentscheidungen voraus. Ihre Überzeugungskraft hängt daher davon ab, für wie realistisch man diese Prämisse hält.29 Mit Blick auf rechtliche (Verteilungs-)Entscheidungen ist insofern die gesamte Rechtsordnung der maßgebliche Bezugspunkt. Wie namentlich Ott zutreffend bemerkt, lassen sich nämlich systematische Ungleichverteilungen in einem Teilsystem wie dem Zivilrecht normativ rechtfertigen, wenn die erforderliche Kompensation der aus effizienten Entscheidungen entstehenden Nachteile für bestimmte Personengruppen über ein anderes Teilsystem, etwa das Recht der sozialen Transferleistungen, erfolgt.30 1.1.3.2.3 Schwachpunkte Bereits früh hat Scitovsky eine logische Inkonsistenz des Kaldor-Hicks-Kriteriums aufgedeckt. Es sind nämlich Fallgestaltungen denkbar, in denen für zwei soziale Zustände A und B gilt: Gemessen am Kaldor-Hicks-Kriterium ist Zustand A besser als Zustand B, gleichzeitig ist aber auch Zustand B besser als Zustand A.31 Unter welchen Umständen diese logische Inkonsistenz das Kaldor-HicksKriterium für die Anwendung auf rechtliche Regelungen untauglich macht, ist freilich bisher ungeklärt.32
28 So insbesondere v. Weizsäcker, in: Neumann (Hrsg.), Ansprüche, Eigentums- und Verfügungsrechte, 1984, S. 123, 125 ff.; s. auch Hicks, Rev. Econ. Stud. 8 (1941), 108, 111; zustimmend Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 22 ff., 25; ähnlich R. Posner, Hofstra L. Rev. 8 (1980), 487, 491 ff. 29 S. einerseits R. Posner, Hofstra L. Rev. 8 (1980), 487 ff.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 25; andererseits Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 239 ff. Zu dessen Kritik noch sogleich unter § 4 I.1.1.3.2.3. 30 So insbesondere Ott, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 25 ff.; vgl. auch Kübler, FS Steindorff, 1990, S. 687, 700. Ott nimmt für seine Idee ausdrücklich Bezug auf die Ideen der ordoliberalen Schule. Zusammenfassend zum Ganzen Schäfer/ Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 24. 31 De Scitovsky, Rev. Econ. Stud. 8 (1941), 77 ff., 88. Zwei Bedingungen müssen erfüllt sein, um dieses paradoxe Ergebnis herbeizuführen: (1) Die Einkommensverteilung beim Übergang von A nach B bzw. umgekehrt muss sich spürbar ändern und (2) die Konsumpräferenzen der Begünstigten müssen von denjenigen der Benachteiligten relativ stark abweichen. Den Zwei-Kriterien-Test von de Scitovsky, Rev. Econ. Stud. 8 (1941), 77, 86 f., der derartige Inkonsistenzen verhindern sollte, ist später von Gorman, Oxford Econ. Pap. 7 (1955), S. 25 ff. als nicht ausreichend erkannt worden. S. dazu ferner Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 20 f.; sowie Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 53 m.w.N. in Fn. 94. 32 S. auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 53 f., der lediglich feststellt, dass das Kaldor-Hicks-Kriterium für die Bewertung rechtlicher Regelungen aufgrund der aufgezeigten Widersprüche in bestimmten Fällen unbrauchbar sein kann.
96
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
Jenseits dieser logischen Problematik sieht Eidenmüller aus juristischer Sicht ein wesentlich bedeutenderes Problem des Kaldor-Hicks-Kriteriums in der für seine Anwendung notwendigen Messung und Bewertung von Kosten und Nutzen einer Maßnahme oder Entscheidung in – die Vergleichbarkeit und Saldierung erst ermöglichenden – Geldeinheiten.33 Schließlich lehnt Eidenmüller die Quasi-Pareto-Superiorität34 des KaldorHicks-Kriteriums und damit seine konsenstheoretische Rechtfertigung mittels der Generalkompensationsthese ab:35 Auch bei einer Totalbetrachtung der gesamten Rechtsordnung könne nämlich nicht jeder einzelne erwarten, von einer am Kaldor-Hicks-Kriterium orientierten Rechtspolitik langfristig über den Mechanismus der Generalkompensation zu profitieren. Dem wird entgegnet, dass zumindest bei einer Zusammenfassung der betroffenen Personen zu hinreichend großen Gruppen ein Vergleich der effizienzorientierten Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme mit solchen, die anderen Maximen folgten, die Geltung der Generalkompensationsthese belege.36 1.1.4 Das Kardinalproblem des interpersonellen Nutzenvergleichs 1.1.4.1 Die utilitaristischen Wurzeln des Effizienzziels Das normative Effizienzziel der modernen Wohlfahrtsökonomik hat seine ethischen Wurzeln im klassischen Utilitarismus.37 Diese von Jeremy Bentham begründete und später vor allem von John Stuart Mill und Henry Sidgwick fortentwickelte philosophische Strömung38 erhebt das Nützlichkeitsprinzip (principle of utility) zur kollektiven Entscheidungsregel für staatliche Maßnahmen: Eine staatliche Maßnahme ist mit dem Nützlichkeitsprinzip vereinbar, wenn sie das
33 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 54; auch Schwalbe, in Fleischer/ Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht, 2008, S. 43, 61: „Diese Probleme zeigen, dass auch mittels des Kompensationsprinzips eine Auswahl einer Paretooptimalen Allokation aus einer Menge mehrerer Pareto-effizienter Allokationen nur dann durchgeführt werden kann, wenn interpersonelle Nutzenvergleiche angestellt werden.“ 34 S. dazu oben § 4 I.1.1.3.2.2. 35 S. zum Folgenden ausführlich Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 243 ff. m.w.N. 36 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 25; vgl. auch v. Weizsäcker, Neumann (Hrsg.), Ansprüche, Eigentums- und Verfügungsrecht, 1984, S. 123, 128 ff., der alle Perzentile der Wohlstandsverteilung, also 100 Wohlstandsgruppen betrachtet. Eidenmüller ist freilich zuzugeben, dass bei einer Betrachtung von Wohlstandsgruppen der Generalkompensationsthese ihr konsenstheoretisches Fundament abhanden kommt, da die Benachteiligung einzelner Individuen gerade nicht ausgeschlossen ist. 37 Arrow, J. Philos. 70 (1973), 245, 246: „The implicit ethical basis of economy policy judgment is some version of utilitarianism.“; s. auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 22. 38 Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1780/89; Mill, Utilitarianism, 1861; Sidgwick, The Methods of Ethics, 1874. S. zu Leben und Werk Benthams aus jüngerer Zeit Kramer-McInnis, Der „Gesetzgeber der Welt“ – Jeremy Benthams Grundlegung des klassischen Utilitarismus, 2008.
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
97
Glück, die Wohlfahrt der Gesellschaft per Saldo erhöht.39 Dabei wird der Wohlfahrtssaldo der Gesellschaft als die Summe der individuellen Kosten-Nutzen-Salden der Gesellschaftsmitglieder verstanden.40 Für die Berechnung der individuellen Salden geht Bentham von einem einheitlichen Maß für das individuelle Leid und die individuellen Freuden aller Gesellschaftsmitglieder aus. Die Addition der individuellen Salden zu einem Wohlfahrtssaldo der gesamten Gesellschaft impliziert wiederum die Prämisse, dass die individuellen Salden kardinal bestimmt und auch interpersonell verglichen werden können.41 Zur Verdeutlichung der Wirkungsweise dieses Nutzenkalküls wird üblicherweise das Bild des Wohlfahrtsthermometers bemüht: Jedes Gesellschaftsmitglied trägt danach ein Thermometer bei sich, das sein Wohl auf einer Skala anzeigt, dem Wohl also einen bestimmten Zahlenwert zuschreibt. Die Summe der Werte aller Thermometer gibt dann das Gesamtwohl an.42 1.1.4.2 Die Kritik von Robbins am klassischen Utilitarismus Die wohlfartsökonomische Forschung wurde lange Zeit von diesem utilitaristischen Denken bestimmt. So ging noch Pigou in seinem klassischen Werk „The Economics of Welfare“ zur nutzensteigernden Wirkung der Einkommensumverteilung zwischen armen und reichen Gesellschaftsmitgliedern von kardinaler Bestimmbarkeit und interpersoneller Vergleichbarkeit individueller Nutzensalden aus.43 Gegen diese Grundannahmen und damit gegen klassisch utilitaristisches Denken wandte sich Lionel Robbins in seiner erstmals im Jahre 1932 veröffentlichten Schrift „An Essay on the Nature and Significance of Economic Science“ und stieß damit einen Paradigmenwechsel in der Wohlfahrtsökonomik an.44 Robbins bestritt erstens die Möglichkeit der kardinalen Nutzeneinschätzung. Ein Individuum könne nur ordinale Nutzenvergleiche anstellen, also sagen, ob ein Zustand A besser oder schlechter als ein Zustand B oder diesem gleich sei.45 Zweitens be39 Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1780/89 (2001), S. 13: „A measure of government […] may be said to be conformable to or dictated by the principle of utility, when […] the tendency which it has to augment the happiness of the community is greater than any which it has to diminish it.“ 40 Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1780/89 (2001), ch. IV (S. 38 ff.). S. zur klassisch-utilitaristischen sozialen Wohlfahrtsfunktion bereits oben unter § 4 I.1.1.1. 41 Zur Kritik an diesen Prämissen des klassischen Utilitarismus s. sogleich unter § 4 I.1.1.4.2. 42 Vgl. zu diesem Bild nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 26; vgl. ferner die Inbezugnahme bei Hicks, Econ. J. 49 (1939), 696, 699. 43 Pigou, The Economics of Welfare, 1924 (2009), part I ch. VII § 3 (S. 84 ff.); s. dazu sowie zum Folgenden Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 43 und ff. 44 S. L. Robbins, An Essay on the Nature and Significance of Economic Science, 2nd ed. 1935 (1945). 45 L. Robbins, An Essay on the Nature and Significance of Economic Science, 2nd ed. 1935 (1945), S. 138 f.: „[I]t is one thing to assume that scales can be drawn up showing the order in which an individual will prefer a series of alternatives, and to compare the arrangement of one such individual scale with another. It is a quite different thing to assume that behind such arrangements lie magnitudes which themselves can be compared. […] It is a comparison which falls outside the scope of any positive science.“
98
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
ruhe ein interpersoneller Nutzenvergleich lediglich auf einem Werturteil, das wissenschaftlicher Überprüfung nicht zugänglich sei.46 Auch wenn John von Neumann und Oskar Morgenstern später ein Verfahren zur Ermittlung kardinaler Nutzenfunktionen entwickeln konnten47, ist die Unmöglichkeit des interpersonellen Nutzenvergleichs bis heute ein weithin akzeptiertes Datum der Wohlfahrtsökonomik geblieben48.49 1.1.4.3 Die Entwicklung des Kaldor-Hicks-Kriteriums als Reaktion auf Robbins Ausdruck dieser Unzulänglichkeiten der utilitaristischen Wohlfahrtstheorie ist die Hinwendung zu den bereits benannten wohlfahrtsökonomischen Effizienzkriterien, welche die benthamitischen Grundannahmen des normativen Individualismus50 und der Präferenzautonomie, d.h. die Selbstbestimmung jedes Individuums darüber, was seine Wohlfahrt wie beeinflusst, übernommen haben.51 So ist die Entwicklung des Kaldor-Hicks-Effizienzkriteriums als ein direkt an die Lehren von Robbins anknüpfender Versuch zu verstehen, eine weitestgehend objektive Entscheidungsregel für Kollektiventscheidungen zu konstruieren, die ohne einen interpersonellen Nutzenvergleich auskommt.52 Dies geschieht durch die Verwendung einer anderen Maßeinheit: Das Kaldor-Hicks-Kriterium vergleicht nämlich anders als der klassische Utilitarismus keine Nutzeneinheiten, sondern Zahlungsbereitschaften bzw. Geldeinheiten.53 1.1.4.4 Soziale Wohlfahrtsfunktion und das Unmöglichkeitstheorem von Arrow Bergson und Samuelson beschritten einen anderen Weg, um das Problem der Unmöglichkeit interpersoneller Nutzenvergleiche in den Griff zu bekommen. Um jenseits des Pareto-Effizienzkriteriums verschiedene soziale Zustände auch ohne interpersonellen Nutzenvergleich miteinander vergleichen zu können, konstru46 L. Robbins, An Essay on the Nature and Significance of Economic Science, 2nd ed. 1935 (1945), S. 139 f.: „We do not need to be slavish behaviourists to realise that here is no scientific evidence. There is no means of testing the magnitude of A’s satisfaction as compared with B’s.“ 47 Vgl. von Neumann/Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour, 3rd ed. 1953 (2004), S. 17 ff. Dazu instruktiv Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 45 f. 48 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 43, 47 sieht die Ablehnung interpersoneller Nutzenvergleiche als konstitutives Merkmal der „neuen“ Wohlfahrtsökonomik an. 49 Zum geringen Nutzen der kardinalen Nutzeneinschätzung ohne interpersonellen Nutzenvergleich s. etwa Sen, Econ. J. 89 (1979), 537, 546; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 46 f. 50 S. bereits oben unter § 4 I.1.1.2. 51 S. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 47 f. 52 Vgl. Kaldor, Econ. J. 49 (1939), 549 ff.; Hicks, Econ. J. 49 (1939), 696, 700. 53 Ergebnisrelevante Unterschiede zwischen den Entscheidungsregeln ergeben sich vor allem aus dem Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen des Geldes. Danach nimmt der Einkommensnutzen einer Person mit steigendem Einkommen nämlich nur unterproportional zu. D.h., die erste Geldeinheit hat einen höheren Nutzen für den Einzelnen als die zweite, die zweite als die dritte usw. S. zum Ganzen Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 26 ff.
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
99
ierten sie eine soziale Wohlfahrtsfunktion, die soziale Zustände allein anhand der Präferenzen der Gesellschaftsmitglieder gegenüber diesen Zuständen in eine Rangfolge einordnen sollte.54 Bei dem Versuch, eine solche soziale Wohlfahrtsfunktion konkret zu bestimmen, bewies Kenneth J. Arrow, dass die Konstruktion einer solchen Funktion unmöglich ist, selbst wenn man jedes nur erdenkliche Entscheidungsverfahren zulässt, sofern als alleinige Information die ordinale Rangfolge, welche die Individuen den sozialen Zuständen geben, zur Verfügung steht55 und ferner vier Mindestbedingungen erfüllt sind (sog. Arrow-Unmöglichkeitstheorem).56 Diese vier Mindestbedingungen sind: (1) unbegrenzter Bereich57, (2) das schwache Pareto-Prinzip58, (3) das Nicht-Diktaturprinzip59 sowie (4) die Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen60. So verstößt etwa der Marktmechanismus als Entscheidungsverfahren selbst bei vollständiger Konkurrenz gegen das Prinzip des unbegrenzten Bereichs, weil die Anfangsverteilung der Ressourcen nicht durch den Markt erfolgt, sondern durch ein anderes Verfahren, für das wiederum das Unmöglichkeitstheorem gilt.61 1.1.4.5 Subjektivismus und Kritik des herkömmlichen Effizienzbegriffs Die subjektivistische Schule der Ökonomik zieht die wohl weitreichendsten Schlüsse aus der Kritik von Robbins. Sie lehnt nämlich nicht nur den Utilitarismus, sondern jede auf Reichtumsmaximierung abzielende Kosten-Nutzen-Analyse als Maßstab für Kollektiventscheidungen ab, weil der die Sozialwahl treffende Entscheider weder die Kosten noch den Nutzen von Handlungen Dritter 54 P.A. Samuelson, Foundations of Economic Analysis, 2nd print. 1948, Chap. VIII (S. 203 ff.); Bergson, Quart. J. Econ. 52 (1938), 310 ff.; ders., Quart. J. Econ. 68 (1954), 233 ff. 55 Arrow, J. Pol. Econ. 58 (1950), 328, 335 definiert wie folgt: „By a ‘social welfare function’ will be meant a process or rule which, for each set fo individual orderings R1, …, Rn for alternative social states (one ordering for each individual), states a corresponding social ordering of alternative social states, R.“ 56 S. dazu wie zum Folgenden Arrow, J. Pol. Econ. 58 (1950), 328 ff. Eine nicht-formale Beschreibung findet sich etwa bei Sen, Econ. J. 89 (1979), 537, 539; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 29 ff. 57 Diese Bedingung besagt, dass jede logisch mögliche Kombination individueller Präferenzen zugelassen werden muss, was die Gleichschaltung von Präferenzen durch Druck oder manipulative Beeinflussung ausschließt. Vgl. Arrow, J. Pol. Econ. 58 (1950), 328, 336, 338 f. 58 Wenn alle Gesellschaftsmitglieder den Zustand A dem Zustand B vorziehen, so ist er nach dem schwachen Pareto-Prinzip auch sozial besser. 59 Danach darf die Rangordnung sozialer Zustände nicht allein von der Präferenzordnung eines einzelnen Individuums abhängen. S. Arrow, J. Pol. Econ. 58 (1950), 328, 339. 60 Diese Bedingung besagt, dass die Rangfolge zweier sozialer Zustände A und B nicht davon abhängen darf, wie eine irrelevante Alternative C eingeschätzt wird. Beispiel nach Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 30 f.: Bei einer Bürgermeisterwahl stehen drei Kandidaten A, B und C zur Auswahl. Einige ziehen A, andere B vor, während C von allen auf die dritte Rangstelle plaziert wird. Dann darf nach der Bedingung von der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen das Auswahlverfahren nicht so gestaltet sein, dass die Wahl zwischen A und B davon abhängt, wie C gegenüber diesen beiden eingeschätzt wird. Für die formale Beschreibung der Bedingung s. Arrow, J. Pol. Econ. 58 (1950), 328, 337. 61 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 32.
100
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
erkennen könne.62 Hierzu sei vielmehr nur der jeweilige Akteur selbst in der Lage.63 An diesem epistemologischen Problem scheitere aber nicht nur ein utilitaristischer Effizienzbegriff, sondern auch das Kaldor-Hicks-Kompensationskriterium. Dessen Methode, effiziente Regelungen über Pseudo-Transaktionen zu ermitteln, sei untauglich, da es an einem gemeinsamen Nenner zur Messung und Offenlegung effizienter Ergebnisse fehle, wie ihn ein realer Markt für rechtliche Regelungen bereitstellen würde. Stattdessen werde versucht, Effizienz über auf Pseudo-Märkte gestützte Ad hoc-Begründungen zu ermitteln.64 Demgegenüber werde die relative – und subjektive – Größe von Kosten und Nutzen in privatautonom durchgeführten Transaktionen sichtbar.65 Die Rechtsordnung und insbesondere die Gerichte sollten daher der Vertragsfreiheit der Parteien größere Bedeutung beimessen. Die Nichtbeobachtbarkeit subjektiver Werte lasse die Gerichte zu häufig auf einen objektiven Behelfsmaßstab zurückgreifen, der die mutmaßlich die wahren subjektiven Werte der Betroffenen abbildende Parteivereinbarung ersetze. Wenn etwa für die Bestimmung der Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung auf den jeweiligen Marktpreis abgestellt werde, dann stehe eine signifikante vertragliche Abweichung hiervon regelmäßig unter dem Verdacht der Unbilligkeit. Dies gefährde die Durchsetzbarkeit effizienter Verträge, die signifikante subjektive Kosten oder Werte berücksichtigen.66 1.1.5 Jenseits des Effizienzkriteriums – Überindividuelle Gerechtigkeitskriterien und Abwägungsverbote Die Anhänger der sich im Anschluss an die Utilitarismus-Kritik von Robbins67 entwickelnden Neuen Wohlfahrtsökonomik (new welfare economics) sowie der durch Arrow begründeten Sozialwahltheorie (social choice) teilen zwei normative Grundannahmen: (1) Soziale Wohlfahrt ist eine Funktion der individuellen Nutzenniveaus; soziale Zustände sind mithin allein aufgrund des individuellen Nutzens zu bewerten, den die Gesellschaftsmitglieder aus diesen Zuständen ziehen (Wohlfahrtsprinzip oder welfarism).68 Dabei wurden im Anschluss an Robbins 62 S. speziell zum sog. „Wissensproblem“ des paternalistischen Intervenienten noch unten unter § 5 VI.3.2.2. 63 S. für die ökonomische Analyse des Vertragsrechts de Alessi/Staaf, JITE 145 (1989), 561, 573: „In general, the parties to an exchange are the only ones who can take account of subjective costs through institutional arrangements […]“; grundlegend Hayek, Law, Legislation and Liberty, Vol. 2: The Mirage of Social Justice, 1976; Nozick, Anarchy, State and Utopia, 1974. S. auch die allgemeine Darstellung bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 41. Der Gedanke der intersubjektiven Nichterkennbarkeit von Kosten und Nutzen liegt letzlich auch der Kritik am interpersonellen Nutzenvergleich von Robbins [s.o. § 4 I.1.1.4.2] zugrunde. Vgl. zur Kosten-Nutzen-Analyse auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 52. 64 De Alessi/Staaf, JITE 145 (1989), 561, 566. 65 De Alessi/Staaf, JITE 145 (1989), 561, 564. 66 De Alessi/Staaf, JITE 145 (1989), 561, 568 f. 67 S. dazu oben unter § 4 I.1.1.4.2. 68 S. dazu bereits oben unter § 4 I.1.1.2.
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
101
Ordinalismus und Nichtvergleichbarkeit individueller Nutzenfunktionen vorausgesetzt. (2) Zieht mindestens ein Gesellschaftsmitglied mehr Nutzen aus Zustand A, während jeder andere in Zustand A genauso viel Nutzen zieht wie in Zustand B, dann ist Zustand A sozial besser (Pareto-Kriterium). Nimmt man beide normativen Grundannahmen zusammen, dann ist soziale Wohlfahrt eine steigende Funktion der individuellen Nutzenniveaus der Gesellschaftsmitglieder.69 Dieser „normative Konsens“ in der Wohlfahrtsökonomik ist jedoch dafür kritisiert worden, dass er allein Nutzeninformationen in den Blick nimmt.70 1.1.5.1 Überindividuelle Gerechtigkeitskriterien und Kritik Um die Beschränkung auf diese als äußerst dünn empfundenen Nutzeninformationen zu überwinden, hat Amartya Sen bereits Ende der 1970er Jahre vorgeschlagen, die Nutzeninformation dadurch „anzureichern“, dass man kardinale Nutzeneinschätzungen und einen interpersonellen Nutzenvergleich für Sozialwahlentscheidungen wieder zulässt71 oder auch Gerechtigkeitskriterien berücksichtigt, die keine Nutzeninformation enthalten und deshalb gegen das Wohlfahrtsprinzip verstoßen können, wie etwa Freiheit, Nichtausbeutung oder Nichtdiskrimierung72. Bereits einige Jahre zuvor hatte John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit (A Theory of Justice) das Prinzip der Nutzenmaximierung als Maßstab für die Gerechtigkeit gesellschaftlicher Institutionen (und damit auch des Rechts) zurückgewiesen und stattdessen seine Forderung nach Gerechtigkeit auf den Begriff der Fairness gegründet („justice as fairness“).73 Fair sind danach solche Entscheidungen, die von allen Gesellschaftsmitgliedern im „Urzustand“ (original position) angenommen würden. Als Urzustand versteht Rawls eine Situation, in der die Gesellschaftsmitglieder „hinter einem Schleier der Unwissenheit“ (veil of ignorance) über ihren (künftigen) Platz in der Gesellschaft, ihren sozialen Status oder ihre natürlichen Talente und Fähigkeiten über die wesentlichen Institutio-
69
S. zum Ganzen den Überblick bei Sen, Econ. J. 89 (1979), 537, 537 f. m.w.N. mit der Definition des von ihm sog. „Pareto-inclusive Welfarism“: „Social welfare is an increasing function of personal utility levels, thus satisfying both welfarism and the Pareto preference rule.“ 70 S. insbesondere Sen, Econ. J. 89 (1979), 537 ff.: „A critical examination of these properties is undertaken in this paper, and it is argued that they have played remarkably restrictive roles in traditional welfare economics by imposing […] severe constraints on the types of information that may be used in making social welfare judgments.“; s. zu dieser Diskussion auch Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 32 f. 71 Sen, Econ. J. 89 (1979), 537, 546 f. unter der Überschrift „Richer Utility Information“. Für einen Überblick über diverse Versuche dieser Art s. Eidenmüller, Effizienz als Rechtspinzip, 3. Aufl. 2005, S. 196 ff. 72 Sen, Econ. J. 89 (1979), 537, 547 ff., unter Nennung der Beispiele „liberty, non-exploitation, non-discrimination“; aus rechtstheoretischer Perspektive zust. Hockett, Cornell J. L. & Pub. Pol’y 18 (2009), 391, 466 ff. 73 Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 26 f., 71 und passim; vgl. auch ders., Political Liberalism, 1993, S. 187 f.: „Justice as fairness rejects the idea of comparing and maximizing overall well-being in matters of political justice.“
102
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
nen der Gesellschaft entscheiden.74 Aus dieser Situation leitet Rawls zwei Gerechtigkeitsprinzipien ab, denen solchermaßen vereinbarte Institutionen genügen müssen: (1) die Forderung nach möglichst umfangreichen und gleichen Freiheiten für alle und (2) den Grundsatz, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten nur dann gerechtfertigt sind, wenn sie mit dem größtmöglichen Vorteil für das Gesellschaftsmitglied in der schlechtesten Position verbunden sind (sog. Differenzprinzip).75 Die „Positionsbestimmung“ erfolgt anhand des Maßstabs der Versorgung mit „Grundgütern“ (primary goods) zur Verwirklichung des individuellen Lebensplans. Diese Grundgüter sind solche, die jeder Mensch mutmaßlich sein eigen nennen möchte.76 Hierzu gehören nach Rawls Rechte und Freiheiten, Möglichkeiten und Einfluss, Einkommen und Vermögen.77/78 Das Differenzprinzip nach Rawls, auch Minimax-Prinzip genannt, widerspricht dem Wohlfahrtsprinzip insofern, als maßgebliches Gerechtigkeitskriterium die Mindestausstattung mit Grundgütern ist und der Nutzen einer Entscheidung für die Gesellschaftsmitglieder (utility) als solcher unerheblich.79 Ferner geht es Rawls auch nicht um die Maximierung dieser Grundgüter im Aggregat, sondern um die Maximierung des Minimums. Diese letztere Eigenschaft des Differenzprinzips lässt sich – bezogen auf das Effizienzkalkül – als Abwägungsverbot begreifen: Das Ziel der Maximierung sozialer Wohlfahrt verstanden als Aggregat des individuellen Nutzens sämtlicher Gesellschaftsmitglieder wird durch das vorrangige Gebot der Maximierung der Grundgüterausstattung des insofern am schlechtesten gestellten Gesellschaftsmitglieds überlagert.80/81 74
Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 12. Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 60: „First: each person is to have an equal right to the most extensive basic liberty compatible with a similar liberty for others. Second: social and economic inequalities are to be arranged so that they are both (a) reasonably expected to be to everyone’s advantage, and (b) attached to positions and offices open to all.“; ausführlich zum Differenzprinzip auf S. 75 ff. 76 Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 62. 77 Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 62, 92. 78 Sehr instruktive Überblicksdarstellung bei Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 193 ff. 79 Vgl. etwa Sen, Econ. J. 89 (1979), 537, 548: „Rawls’s […] ‘difference principle’ in his theory of justice, in which a person’s disadvantage is judged in terms of his access to ‘primary social goods’, and not in terms of utility as such […], will clash violently with welfarism.“; deutlich auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 194 f.; dies übersehen Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 35 ff., 39 f. 80 So Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 35 f., 39 f. 81 Das Differenzprinzip ist allerdings nicht ohne Widerspruch geblieben. Seine größte Schwäche wird darin gesehen, dass es im Urzustand ein extrem risikoaverses Verhalten der Gesellschaftsmitglieder voraussetzt. Denn es ist in der Tat eine sehr restriktive Annahme, risikobereites Verhalten zugunsten des möglichst weitgehenden Schutzes des Schwächsten im Urzustand auszuschließen, in dem die entscheidenden Gesellschaftsmitglieder eigennützig handeln [so etwa Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 35 f.]. Bezeichnenderweise nimmt etwa Harsanyi an, dass sich die Mitglieder einer Gesellschaft im Urzustand auf das Prinzip 75
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
103
Die Gegenposition haben in jüngerer Zeit namentlich Kaplow und Shavell eingenommen. Sie lehnen die Berücksichtigung überindividueller Fairnessprinzipien strikt ab, wenn hierdurch gegen das Wohlfahrtsprinzip verstoßen würde. Die Rechtspolitik solle sich vielmehr ausschließlich am Wohlfahrtsprinzip orientieren und Fairnesserwägungen nur als aus dem individuellen Nutzen der Gesellschaftsmitglieder abgeleiteten Wert gelten lassen. Diesen Standpunkt begründen sie vor allem damit, dass sich eine dem Wohlfahrtsprinzip übergeordnete Fairnesserwägung auch dann durchsetzt, wenn sie den individuellen Nutzen aller absenken und damit das auf allgemeinem Konsens beruhende schwache ParetoKriterium verletzen würde.82 Diese Position hat eine wissenschaftliche Diskussion ausgelöst, deren Ausgang noch nicht abzusehen ist.83 1.1.5.2 Liberale Rechte und unveräußerliche Rechte als Abwägungsverbote In seinem berühmten Aufsatz „The Impossibility of a Paretian Liberal“ hat wiederum Amartya Sen zu Beginn der 1970er Jahre darauf aufmerksam gemacht, dass das dem Liberalismus eigene wohlfahrtstheoretische Konzept des liberalen Rechts mit dem in der Wohlfahrtsökonomie vorherrschenden Effizienzprinzip nicht immer vereinbar ist.84 Das Konzept liberaler Rechte beschreibt er dabei wie folgt: „Given other things in the society, if you prefer to have pink walls rather than white, then society should permit you to have this, even if a majority of the community would like to see your walls white.“85 Dieses gegen das Nicht-Diktaturprinzip86 verstoßende Konzept der liberalen Rechte ist fester Bestandteil der der82Maximierung des Durchschnittsnutzens einigen würden, wenn im hypothetischen Urzustand jeder mit der gleichen Wahrscheinlichkeit irgendeine der denkbaren sozialen Positionen besetzt (Gleichwahrscheinlichkeitstheorem) [s. Harsanyi, J. Pol. Econ. 63 (1955), 309, 316]. 82 Kaplow/Shavell, Fairness versus Welfare, 2002, dort speziell zum Vertragsrecht S. 172 ff.; vgl. auch die stark verknappte Darstellung bei Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 595 ff.; Kaplow/Shavell, Am. L. & Econ. Rev. 1999, 63 ff., 64: „In this article, we demonstrate that granting importance to any notion of fairness entails a conflict with the Pareto principle. More precisely, placing any weight on a notion of fairness implies that, in some situations, one will wish to adopt a legal rule that reduces the well-being of every person in society. […B]ecause it is our impression that most analysts who accord importance to notions of fairness would not want to contravene the unanimous preferences of the population, they should find our conclusion troubling.“; referierend Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 33. 83 Gegen Kaplow und Shavell etwa Hockett, Cornell J. L. & Pub. Pol’y 18 (2009), 391 ff., der „fair welfare“ als das normative Grundprinzip des Rechts ansieht, „what we all want“. 84 Sen, J. Pol. Econ. 78 (1970), 152 ff.; in Reaktion hierauf etwa Seidl, Zeitschrift für Nationalökonomie 35 (1975), 257 ff.; aufbereitet und um spezifisch grundrechtliche Aspekte ergänzt bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 36 f. 85 Sen, J. Pol. Econ. 78 (1970), 152 und öfter. Die formale Definition liefert Sen, J. Pol. Econ. 78 (1970), 152, 153 in seiner „Condition L“: „For each individual i, there is at least one pair of alternatives, say (x, y), such that if this individual prefers x to y, then society should prefer x to y, and if this individual prefers y to x, then society should prefer y to x.“ S. auch die hieran angelehnte Definition liberaler Rechte bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 36. 86 S. dazu oben § 4 I.1.1.4.4 mit Fn. 59.
104
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
Rechtswirklichkeit. So hat etwa jeder das Recht, seine Religion frei zu wählen, ungeachtet der Präferenzen anderer.87 Die mit dem liberalen Recht verbundenen Handlungsmöglichkeiten dürfen also nicht beschränkt werden; eine Abwägung ist untersagt. Zu einem Konflikt zwischen einem solchen liberalen Konzept und dem Effizienzprinzip kann es immer dann kommen, wenn die Ausübung eines liberalen Rechts nachteilig auf Dritte wirkt.88 Die möglichen nachteiligen Wirkungen für Dritte begründen jedenfalls einen basaler Widerspruch zwischen dem liberalen Rechten zugrunde liegenden Gedanken individueller Freiheit und dem Pareto-Kriterium.89 Freilich sind die daran anknüpfenden Fragen zur Legitimation der Beeinträchtigung von Drittinteressen für die hier betrachtete Frage nach der Rechtfertigung paternalistischer Eingriffe in die Vertragsfreiheit – wenn überhaupt – nur von nachrangiger Bedeutung. Anders verhält es sich insoweit mit dem Konzept der unveräußerlichen Rechte. Hier sind Eingriffe in das Recht selbst dann unzulässig, wenn der Rechtsinhaber diesen zustimmt. Ein Beispiel für ein solches Recht ist die unantastbare Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG).90 Widerspricht die Unantastbarkeit der Präferenz des Rechtsinhabers, steht die Unveräußerlichkeit des Rechts im Gegensatz zum Pareto-Kriterium. Sie konfligiert auch mit dem Wohlfahrtsprinzip, wenn hierdurch der Nutzen anderer Individuen nicht betroffen ist, weil sie die Präferenzautonomie des Rechtsinhabers nicht anerkennt.91 Die Präferenzheteronomie kann paternalistische Motive haben. Es liegt dann ein Fall von hartem Paternalismus vor.92 Die genannten Beispiele haben gezeigt, dass das Konzept liberaler und unveräußerlicher Rechte in den Grundrechten des Grundgesetzes seinen Niederschlag gefunden hat. Zwischen diesem verfassungsrechtlichen Datum und einer effizienzgeleiteten Begründung des Rechts besteht mithin ein gewisses Spannungsverhältnis.93 Dieses lässt sich jedoch auflösen, wenn man die Grundrechtsgewährleistungen der Verfassung als äußeren Rahmen der Zivilrechtsordnung und damit auch des Vertragsrechts begreift, innerhalb dessen die Anwendung
87 Beispiel nach Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 36 f. 88 S. Seidl, in: Schäfer/Ott (Hrsg.), Effiziente Verhaltenssteuerung und Kooperation im Zivilrecht, 1997, S. 1 ff.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 36 f. 89 Sen, J. Pol. Econ. 78 (1970), 152 ff., 156 f. Zur Auflösung des Konflikts zwischen Liberalismus und Effizienzdenken gelten wohl auch heute noch die abschließenden Ausführungen bei Seidl, Zeitschrift für Nationalökonomie 35 (1975), 257, 291: „[T]he solution of the difficult problems of liberalism […] we consider as one of the most important and exciting issues of the social sciences. There remains a lot of work to be done[…].“ 90 S.o. unter § 3 IV.3.2.1. 91 S. zum Ganzen Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 37. 92 S. zur Definition des harten Paternalismus oben unter § 2 V pr. 93 Ausführlich zum Verhältnis von Grundrechten und Utilitarismus auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 208 ff.
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
105
von Effizienzerwägungen nicht nur erlaubt, sondern grundsätzlich sogar wünschenswert ist.94 1.1.5.3 Präferenzautonomie und einmischende Präferenzen Nicht nur das Vorhandensein unveräußerlicher Rechte, sondern auch die allseits konsentierte Außerachtlassung bestimmter „einmischender“, das Wohlergehen anderer betreffender Präferenzen (meddlesome preferences)95 zeigt, dass das Wohlfahrtsprinzip in seiner Zurückhaltung bei der Bewertung individueller Präferenzen keine uneingeschränkte Akzeptanz in der sozialen Wirklichkeit genießt. Das Wohlfahrtsprinzip nimmt die individuellen Präferenzen nämlich als Datum hin und beschränkt sich auf deren Aggregation.96 Dieses Prinzip ist aber integraler Bestandteil der Effizienzkriterien. Dementsprechend berücksichtigt die an den Effizienzkriterien ausgerichtete ökonomische Analyse des Rechts grundsätzlich alle Präferenzen, und zwar auch dann, wenn sie etwa zur Missachtung der Würde anderer Menschen oder deren Tod führen würden.97 Diese Neutralität des Wohlfahrtsprinzips gegenüber den individuellen Präferenzen der Gesellschaftsmitglieder hat Ronald Dworkin zu der berühmten Frage veranlasst: „Suppose racial bigots are so numerous and so sadistic that torturing an innocent black man would improve the overall happiness in the community as a whole. Would this justify the torture?“98 Es besteht Einvernehmen, dass ein solches Ergebnis untragbar wäre. Allgemein besteht ein ethischer Konsens, dass Präferenzen wie Hass, Neid oder Schadenfreude bei der Bewertung von Sozialentscheidungen außer Betracht zu bleiben haben.99 Auch insofern besteht ein Abwägungsverbot.100 94 In diesem Sinne darf wohl auch Schäfer, in: Schäfer/Ott (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 1, 18 f. verstanden werden, der zutreffend darauf hinweist, dass das Zivilrecht „kein reines Effizienzrecht“ ist. Mit skeptischerem Grundton hingegen Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 210; s. auch Gerner-Beuerle, FS Schwark, 2009, S. 3 ff., 20. 95 S. dazu Schäfer, in: Schäfer/Ott (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 1, 17 f.; Sen, Economica 40 (1973), 241 ff.; zusammenfassend Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 38; ganz ähnlich spricht Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 234 ff. von „external preferences“; dazu wiederum Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Auf. 2005, S. 209 und ff. 96 S. auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Auf. 2005, S. 209, der diese Eigenschaften mit den Begriffen „Präferenzautonomie“ und „Aggregationsprinzip“ umschreibt. 97 S. dazu wiederum Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 211, der zutreffend darauf hinweist, dass bei Anwendung der Zahlungsbereitschaften vergleichenden Auktionsregel allein das verfügbare Einkommen der Durchsetzung solcher Präferenzen eine gewisse faktische – aber keine kategorische – Grenze setzen würde. 98 R. Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 290. 99 Schäfer, in: Schäfer/Ott (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 1, 18 f.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 38. Es zeigt sich mithin, dass nicht nur die absolut-deontologische Ethik [s. dazu oben § 2 III.3], sondern auch die konsequentialistische Ethik vor der Möglichkeit einer „moralischen Katastrophe“ nicht gefeit ist. In diesem Sinne auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 210: „katastrophale Folgen“. 100 Mit Blick auf die weniger klaren Fälle wird freilich beklagt, dass es bisher an einer kohärenten Theorie zu der Frage fehle, wann einmischende Präferenzen bei einer Kollektiventscheidung zu
106
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
1.2 Effizienz als normatives Ziel der ökonomischen Analyse des Vertragsrechts Die ökonomische Analyse des Vertragsrechts legt ebenfalls als normatives Ziel die Maximierung sozialer Wohlfahrt zugrunde. Maximierung sozialer Wohlfahrt bedeutet in Bezug auf das Vertragsrechtsregime regelmäßig Maximierung der Wohlfahrt der Vertragsparteien. Denn sie sind normalerweise die allein von den Folgen des Vertragsschlusses betroffenen Personen.101 Dritteffekte (Externalitäten) spielen in der ökonomischen Diskussion des Vertragsrechts hingegen eine untergeordnete Rolle, weil sie als seltene Ausnahme begriffen werden.102 Die Parteienwohlfahrt wird wiederum vor allem anhand des Maßstabs der Transaktionseffizienz ermittelt. Die damit einhergehende Ausblendung von Fairness-Erwägungen wird vielfach103 damit begründet, dass das Vertragsrecht hauptsächlich dem Zweck dient, den Austausch zwischen Wirtschaftssubjekten zu ermöglichen, die im Wesentlichen von Renditestreben geleitet seien.104 Das diese Fokussierung für bestimmte Vertragsarten, wie etwa Verbraucher- oder Arbeitsverträge möglicherweise nicht sachgerecht ist, hat man erkannt. Eine „normativ angereicherte“ ökonomische Erforschung des Vertragsrechts steckt freilich noch in den Kinderschuhen.105
2. Ökonomisches Verhaltensmodell herkömmlicher Prägung Neben dem normativen Effizienzziel ist ein weiterer wesentlicher Baustein der ökonomischen Vertrags(rechts)theorie das als REMM-Hypothese bezeichnete Standardmodell menschlichen Verhaltens.
101 berücksichtigen sind und wann nicht. S. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 38; Kaplow/Shavell, Fairness versus Welfare, 2002, S. 418 ff. S. aber den jüngsten Versuch von Hockett, Cornell J. L. & Pub. Pol’y 18 (2009), 391 ff. 101 Klar Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 294: „It will generally be assumed that the goal of courts is to maximize social welfare. This will usually mean that courts act to further the welfare of the parties to the contract, for they will ordinarily be the only parties affected by the contract.“ 102 Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of Law and Economics, 2007, Vol. I, Ch. 1, S. 13. 103 S. aber auch Kaplow/Shavell, Fairness versus Welfare, 2002, S. 431 ff.; dazu bereits oben unter § 4 I.1.1.5 pr. 104 Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of Law and Economics, 2007, Vol. I, Ch. 1, S. 13; s. auch Schwartz/Scott, Yale L.J. 113 (2003), 541 ff. (insbesondere unter I. und II.). 105 S. zum Ganzen Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of Law and Economics, 2007, Vol. I, Ch. 1, S. 13, die hierzu bemerken: „there has been relatively little economic analysis of contract law in this regard“; vgl. auch die sehr allgemein gehaltenen Aussagen bei Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, 3. Aufl. 2009, S. 220 ff. Zum Verhältnis der ökonomischen zu anderen Theorien des Vertragsrechts s. im Hinblick auf die Frage zulässiger Eingriffe in die Vertragsfreiheit noch unten unter § 4 II.4.
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
107
2.1 Die REMM-Hypothese – Begriff und Komponenten 2.1.1 Definition Nach der für die ökonomische Theorie zentralen REMM-Hypothese106 handelt der einzelne Mensch als rationaler eigennütziger Nutzenmaximierer.107 Weitgehend gleichbedeutend spricht man auch vom homo oeconomicus.108 Das Entscheidungsverhalten dieser ökonomischen Modellfigur lässt sich wie folgt zusammenfassen:109 Der rational handelnde Akteur besitzt erstens ein vollständiges, nichtwidersprüchliches, transitives und stabiles Präferenzsystem. Neben diesen formalen Anforderungen an seine Präferenzen wird zweitens inhaltlich ein eigennütziges Verhalten angenommen. Drittens erfordert rationales Verhalten für das Entscheidungsverfahren die Aufnahme und Verarbeitung aller relevanten Informationen und die Wahl derjenigen Handlungsoption, die angesichts der eigenen Präferenzen bei einem Kosten-Nutzen-Vergleich die vorteilhafteste ist. Dies lässt sich noch einmal dahingehend komprimieren, dass Menschen rational handeln, indem sie über einer individuellen, aber stabilen Präferenzordnung (1) und unter Berücksichtigung der optimalen Menge an Informationen sowie anderer Inputs (2) ihren Nutzen maximieren (3).110 Die unbeschränkte Verfolgung der Ziele einer rationalen Person maximiert also den individuellen Nutzen und wirkt damit – vorbehaltlich etwaiger Externalitäten – zugleich wohlfahrtsfördernd.111 2.1.2 REMM-Hypothese als Ausprägung zweckrationalen Verhaltens (rational choice) Die REMM-Hypothese ist eine spezielle Ausprägung des allgemeineren Verhaltensmodells zweckrationalen Handelns (rational choice theory).112 Dieses setzt wohldefinierte Handlungszwecke voraus, für deren Erreichung die zur Verfügung stehenden Mittel dann rational eingesetzt werden, wenn der Grad der Zielerreichung bei gegebenem Mittelvorrat maximiert oder bei dem ein bestimmter Zielerreichungsgrad mit einem Minimum an Mitteln erreicht wird (effiziente 106
Begriffsprägend Brunner/Meckling, The Perception of Man and the Conception of Government, JMCB 3 (1977), 70, 71: „resourceful, evaluating, maximizing man“ (REMM). 107 S. nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 95 m.w.N. 108 Zur weitgehenden Deckungsgleichheit von REMM und homo oeconomicus s. Kirchgässner, Homo Oeconomicus, 4. Aufl. 2013, S. 12 mit Fn. 1; anders Tietzel, Jb. für Sozialwissenschaft 103 (1983), 115, 125, der als wesentliche Unterschiede ausmacht, dass für den REMM die Prämissen vollständiger Information und fehlender Transaktionskosten aufgehoben sind. 109 S. auch Eidenmüller, JZ 2005, 216, 217; Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 12 f. 110 S. etwa Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 63 unter Verweis auf Gary Becker, The Economic Approach to Human Behavior, 1976, S. 14. 111 Kelman, 97 Nw. U. L. Rev. 1347, 1357 (2003) bei Fn. 19. 112 S. etwa Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1064; vgl. ferner etwa Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 96; Schmolke, ZBB 2007, 454, 460.
108
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
Zweck-Mittel-Relation).113 Insofern enthält der Begriff des rationalen Nutzenmaximierers eine gewisse Redundanz.114 Die REMM-Hypothese bleibt aber nicht bei der Annahme zweckrationalen Verhaltens stehen, sondern spezifiziert die Handlungsziele der zugrunde liegenden Modellfigur des homo oeconomicus als von Eigeninteressen bestimmt (2.2). Für die mit der rationalen Entscheidung verbundene Maximierungsaufgabe macht die ökonomische Theorie zudem bestimmte Vorgaben für die Präferenzordnung aller Entscheidungsalternativen durch den Entscheider (2.3) sowie hinsichtlich der Inputverarbeitung, d.h. der Berücksichtigung der Entscheidungsumgebung (2.4).115 2.2 Handlungsziele – interessegeleitetes, eigennütziges Verhalten 2.2.1 Eigennutz als Präferenzinhalt und Handlungsziel Die REMM-Hypothese reichert das „zielneutrale“ Modell zweckrationalen Verhaltens, d.h. der Nutzenmaximierung, um Annahmen zum Inhalt der Präferenzen und zu den Zielen der Akteure an: Die Modellfigur des homo oeconomicus ist in ihrem Handeln allein von den eigenen Interessen geleitet. Sie handelt eigennützig.116 Mit dieser (starken) Annahme wird es möglich, das Verhalten eines Akteurs vorherzusagen, sofern man ermitteln kann, von welchem Verhalten er am meisten profitieren wird. Sie erlaubt also Aussagen über den Inhalt von Entscheidungen.117 Noch einen Schritt weiter geht die Annahme, dass Entscheider bei ihrem Verhalten die Maximierung ihres Vermögens zum Ziel haben.118 Diese Variante der 113 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 96; vgl. auch R. Posner, Legal Theory 3 (1997), 23, 26: „rationality is defined […] as the best available fitting of means to ends“. Diese von Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1062 als „definitorische Version“ bezeichnete allgemeinste Variante der rational choice theory trifft keine weiteren Aussagen darüber, welche Ziele das Individuum verfolgt und mit welchen Mitteln es dies tut. Schließt man auf dem Boden dieser abstrakten Vorgaben vom beobachtbaren Verhalten der Akteure auf ihre Ziele, so ist die Vorhersage rationaler Nutzenmaximierung praktisch nicht falsifizierbar. Die Kritiker dieser RCT-Variante werfen ihr daher vor, eine bloße Definition an die Stelle einer normativen oder empirisch fundierten Aussage über Mittel und Ziele der Individuen zu setzen [So Leff, Va. L. Rev. 60 (1974), 451, 458; zust. Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1062]. 114 S. auch Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 12 f. 115 Ein Überblick findet sich bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 95 ff.; ausführlicher Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1060 ff.; ganz knapp Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 40 f. 116 S. dazu F.Y. Edgeworth, Mathematical Psychics: An Essay on the Application of Mathematics to the Moral Sciences, 1881, S. 16; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 95 ff., 98 ff.; auch Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1064. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 248 spricht insofern von einer „thick definition of rationality“. 117 S. wiederum Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1064 ff. 118 S. dazu etwa Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 100.
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
109
rational choice theory findet sich verbreitet in der (rechts-)ökonomischen Literatur, wenn es um Entscheidungssituationen finanzieller Natur geht119 und wird daher für das Verhalten von Unternehmen fruchtbar gemacht.120 Freilich ist die generelle Übertragung der Annahme, dass ideelle, nicht monetär quantifizierbare Anreize für menschliches Verhalten zu vernachlässigen sind, auf Individuen realitätsfern.121 Die Profitmaximierungsannahme bildet daher anerkanntermaßen keine taugliche Basis für ein allgemeines Verhaltensmodell.122 2.2.2 Zur Aussagekraft der Eigennutzannahme 2.2.2.1 Eigennutz und urteilsbestimmtes Verhalten Die Eigennutzannahme setzt voraus, dass eine Entscheidungsoption nur dann gewählt wird, wenn sie im eigenen Interesse liegt, d.h. wenn sie dem Entscheider nutzt und jedenfalls nicht schadet. Mehrere Handlungsoptionen werden also daran gemessen, welche Konsequenzen sie für den Entscheider selbst haben.123 Hiervon zu unterscheiden, ist eine Entscheidung aufgrund eines „commitment“, d.h. der eigenen Gerechtigkeits- oder Richtigkeitsvorstellungen anhand der Kategorien „richtig“ oder „falsch“.124 Dieses „urteilsbestimmte Verhalten“125 wird durch die Eigennutzannahme ausgeschlossen. Es kann freilich in der konkreten Entscheidungssituation zu demselben Ergebnis führen wie das an den eigenen Interessen ausgerichtete Verhalten. 2.2.2.2 Eigennutz und Theory of Revealed Preferences Wie zu Recht bemängelt wird, lässt sich ungeachtet des Ausschlusses urteilsbestimmten Verhaltens mit dem Eigennutz-Postulat ohne weitere inhaltliche Eingrenzung nahezu alles, was sich an tatsächlichem Verhalten beobachten lässt, in Einklang bringen.126 Dies gilt namentlich dann, wenn man mit der sog. theory of revealed preferences davon ausgeht, dass sich im Entscheidungsverhalten des Individuums seine Präferenzen offenbaren. Lässt sich danach beobachten, dass der Entscheider Entscheidungsalternative A und nicht B wählt, dann hat er „offenbart“, dass er A gegenüber B vorzieht.127 Die theory of revealed preferences be119
Vgl. Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1066 mit Beispielen. Cooter/Ulen, Law & Economics, 6th ed. 2011, S. 26; Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1066 m.w.N. 121 S. auch Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 69. 122 Zutr. Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 69. Zu Fällen, in denen die Vermögensmaximierungsannahme als unpassend aufgegeben wird, s. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 100. 123 S. dazu nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 98 f. 124 Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 326 ff. 125 So die Begriffswahl bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 98. 126 Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 322; s. auch Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 67 f. 127 Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 322. 120
110
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
stimmt mithin allein anhand tatsächlich beobachtbaren Entscheidungsverhaltens die Präferenzen des Entscheiders.128 Dieser Vorgehensweise ist zu Recht vorgeworfen worden, dass sich mit ihr „vom Verhalten des Märtyrers bis zu dem des berechnenden Karrieristen alles erklären – und nichts voraussagen“129 lässt. Ganz ähnlich formuliert Sen: „With this set of definitions you can hardly escape maximizing your own utility, except through inconsistency.“130 Die Erklärung von Verhalten mit Hilfe einer Kombination aus der Modellfigur des Eigennutzmaximierers und der theory of revealed preferences führt schnell in die „Tautologie-Falle“131. Denn hier scheint Verhalten mittels Präferenzen erklärt zu werden, die wiederum allein durch das Verhalten bestimmt werden.132 Dieser Variante des Rational choice-Verhaltensmodells bleibt zwar theoretisch eine gewisse Bedeutung, weil sie inkonsistentes Verhalten ausschließt.133 Da aber gerade im Zeitverlauf inkonsistentes Entscheidungsverhalten nur schwer von einem Präferenzwandel zu unterscheiden ist, wird dieser sog. definitorischen Variante des Rationalmodells vorgeworfen, nicht falsifizierbar zu sein.134 2.2.2.3 Eigennutz und Beachtlichkeit sog. „Einmischender Präferenzen“ Die Bestimmung des Eigeninteresses (self-interest) als Maximierungsziel zweckrationalen Verhaltens trägt gegenüber der jedem zweckrationalen Verhalten eigenen Maximierung des Nutzens (utility) zudem nichts bei, wenn man für die Bestimmung der Eigennützigkeit sog. „einmischende Präferenzen“ (meddlesome preferences) ohne Einschränkung berücksichtigt.135 Solche einmischende Präferenzen liegen vor, wenn der Nutzen für die eigene Person vom Nutzen anderer Personen beeinflusst wird. Sie lassen sich als Externalitäten begreifen.136 Nimmt man auch derlei Präferenzen in den Eigennützigkeitsbegriff auf, dann 128 Zur Kritik hieran Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 323 f.; ausführlich ders., Economica 40 (1973), 241 ff. 129 Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 67 f. im Anschluss an die Kritik bei Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1061 f.; Leff, Va. L. Rev. 60 (1974), 451, 458. 130 Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 322 sowie 323: „If you are consistent, then no matter whether you are a single-minded egoist or a raving altruist or a class conscious militant, you will appear to be maximizing your own utility in this enchanted world of definitions“. 131 Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 67 f. im Anschluss an die Kritik bei Korobkin/Ulen, 88 Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1061 f.; Leff, Va. L. Rev. 60(1974), 451, 458. 132 Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 325. 133 Zur Konsistenz als Voraussetzung rationalen Entscheidungsverhaltens s. unten unter § 4 I.2.3.1. 134 Korobkin/Ulen, 88 Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1061 f.; Leff, Va. L. Rev. 60 (1974), 451, 458; zust. Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 67 f.; vorsichtiger Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 325. 135 S. etwa Korobkin/Ulen, 88 (2000) Cal. L. Rev. 1051, 1064 ff., die zu Recht darauf hinweisen, dass der Einschluss des Wohlergehens anderer in den Eigennutzbegriff [vgl. R. Posner, Economic Analysis of Law, 8th ed. 2010, S. 4., der „self-interest“ von „selfishness“ unterscheidet] diesen entwertet. 136 Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 328. Zum Begriff s. oben unter § 4 I.1.2.
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
111
bedeutet Eigeninteresse nicht mehr zwingend die Abwesenheit von Altruismus oder auch Neid.137 Die ökonomische Forschung nimmt daher in fast all’ ihren Anwendungsgebieten einen „egoistischen“ Akteur an, der ausschließlich auf seinen eigenen Vorteil bedacht und dessen eigener Nutzen von dem Nutzen(verlust) anderer nicht berührt wird.138 Interdependente Nutzenfunktionen werden allenfalls in Bezug auf dem Akteur nahe stehende Personen zugelassen. Der Vorteil muss für den Akteur aber nicht notwendigerweise von materieller Natur sein.139 2.3 Rationale Präferenzordnung – Maximierungskomponente I Die REMM-Hypothese begreift das Verhalten von Menschen als rationale, von Eigeninteressen geleitete Nutzenmaximierung. Maximierung bedeutet die Wahl der Entscheidungsalternative mit dem höchsten Nutzen.140 Hierfür muss der Entscheider die möglichen Optionen in eine Rangordnung bringen. Ein rationales Verfahren dieser Präferenzordnung muss bestimmte Bedingungen erfüllen. 2.3.1 Axiome rationaler Präferenzordnung nach von Neumann und Morgenstern Im Anschluss an von Neumann und Morgenstern werden bestimmte Bedingungen an ein rationales nutzenmaximierendes Verhalten gestellt.141 Zu diesen Axiomen rationaler Nutzenmaximierung gehören: (1) Vollständigkeit und Vergleichbarkeit: Der Entscheider muss in der Lage sein, die Nutzenkonsequenzen aller Handlungsoptionen zu vergleichen und jeweils anzugeben, welchen von zwei Zuständen er präferiert. (2) Transitivität: Falls ein Entscheider die Option A gegenüber der Option B und die Option B gegenüber der Option C präferiert, dann muss er auch die Option A gegenüber der Option C vorziehen.142 137 Englerth, in: Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 67 f.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 99; Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 326 ff. betitelt dieses Phänomen als „sympathy“/„antipathy“. 138 Kirchgässner, Homo Oeconomicus, 4. Aufl. 2013, S. 16; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 100; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 217. Die Terminologie ist nicht einheitlich. Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 326 spricht auch unter Berücksichtigung von einmischenden Präferenzen von „egoistic behavior“. 139 S. nur Englerth, Engel et al. (Hrsg.), in: Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 70, der darauf hinweist, dass eine derart konkretisierte Eigennutzannahme falsifizierbare Vorhersagen erlaubt und mithin experimentell oder empirisch widerlegbar ist. 140 Vgl. Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1063 ff. S. auch bereits oben unter § 4 I.2.1.2. 141 von Neumann/Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour, 3rd ed. 1953 (2004), S. 26 f.; vgl. auch Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 7 ff.; zusammengefasst etwa bei Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 1051, 1064; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 97 f.; vgl. auch Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 248. 142 S. dazu auch das Beispiel bei Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 8 f.
112
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
(3) Invarianz: Die Präferenz zwischen verschiedenen Optionen darf nicht davon abhängen, wie die Optionen präsentiert oder strukturiert werden, solange die Eintrittswahrscheinlichkeiten konstant bleiben.143 (4) Unabhängigkeit: Die Wahl zwischen Optionen darf nicht von einer Eigenschaft der Optionen abhängen, die bei diesen identisch ist. Wird die Option A der Option B und die Option B der Option C vorgezogen, so muss auch die Option D, bei der sich mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten die Option A oder C verwirklicht, der Option E vorgezogen werden, bei der sich mit den gleichen Wahrscheinlichkeiten die Option B oder C verwirklicht. (5) Konsistenz: Zieht jemand die Option A der Option B vor, so schließt dies aus, dass er die Option B der Option A vorzieht. Zieht jemand die Option A der Option B vor, so muss er A einer Option C vorziehen, in der sich mit bestimmter Wahrscheinlichkeit A oder B verwirklicht, und diese Option C der Option B vorziehen. Diese Rationalitätsanforderungen leuchten unmittelbar ein und scheinen daher selbstverständlich. In der entscheidungstheoretischen Diskussion wird aber auch die Position vertreten, dass nicht notwendig sämtliche der genannten Anforderungen erfüllt sein müssen, um noch von einer vernünftigen Entscheidung sprechen zu können.144 2.3.2 Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit 2.3.2.1 Riskante Entscheidungen – Erwartungsnutzentheorie Die dem Standardmodell der rationalen Wahl zugehörige Erwartungsnutzentheorie (expected utility theory) besagt, dass der Nutzen einer riskanten Entscheidungsalternative, bei der die Eintrittswahrscheinlichkeiten bekannt sind, dem wahrscheinlichkeitsgewichteten Durchschnittsnutzen aller möglichen Ergebnisse dieser Wahl entspricht.145 Der Erwartungsnutzen wird also durch die Summierung der Produkte aus dem Nutzen jeder möglichen Handlungsfolge mit ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit ermittelt.146 Bei gleichem Erwartungsnutzen aber 143
Dazu mit Beispiel Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 9. S. Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 9 f. Ganz anders Caplan, Kyklos 54 (2001), 3 ff.: Während nach der hier dargestellten klassischen Anschauung Rationalität ein Modus Operandi zur Erzielung höchstmöglichen Nutzens ist, sieht Caplan Rationalität bzw. rationales Entscheiden (auch) als einen Nutzenträger, der je nach der Präferenz des Entscheiders auch einen geringeren Nutzen haben kann als irrationales Entscheiden. Danach ließe sich u.U. also durch irrationales und nicht durch rationales Entscheiden Nutzenmaximierung herbeiführen („rational irrationality“). 145 Die Erwartungsnutzentheorie geht zurück auf Bernoulli, Specimen theoriae de mensura sortis, Commentarii Academiae Scientiarium Imperialis Petropolitanae, 1738; und von Neumann/ Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour, 3rd ed. 1953 (2004), S. 16 ff. Zur weitgehenden Austauschbarkeit der Begriffe rational choice theory und expected utility theory s. nur Arlen/Talley, in: Arlen/Talley (Hrsg.), Experimental Law and Economics, 2008, S. xv mit Endnote 1. 146 S. etwa Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 249; aus dem rechtsökonomischen Schrifttum etwa Korobkin/Ulen, 88 Cal. L. Rev. 1051, 1062 f. (2000); Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 86. 144
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
113
unterschiedlichem Risiko, d.h. unterschiedlicher Varianz der möglichen Ergebnisse, kommt es auf die Risikopräferenzen des Akteurs an, welche Option er wählt.147 2.3.2.2 Unsicherheit im engeren Sinne und Bayesian Updating Im Falle von Unsicherheit im engeren Sinne (uncertainty) sind auch die Eintrittswahrscheinlichkeiten unbekannt.148 Hier ermitteln die Akteure nach der sog. subjective utility theory den Erwartungsnutzen, indem sie statt der bekannten Eintrittswahrscheinlichkeiten die subjektiv empfundenen Wahrscheinlichkeiten der möglichen Handlungsergebnisse zugrunde legen.149 Die Aktualisierung von Wahrscheinlichkeitsbeurteilungen hat dabei nach Bayes’ Gesetz zu erfolgen (sog. Bayesian updating). In Situationen von Ungewissheit müssen ursprüngliche Wahrscheinlichkeitsberechnungen angesichts neuer Information proportional zum Vorhersagewert dieser Information aktualisiert werden. Dabei ist die bisherige Wahrscheinlichkeitsbeurteilung von der Bewertung der neuen Information strikt zu trennen.150 Genügt das Entscheidungsverhalten eines Akteurs diesen Voraussetzungen nicht, ist er kein vollständig rationaler Nutzenmaximierer.151 2.3.3 Präferenzordnung bei intertemporalen Entscheidungen Die Konsequenzen einer Entscheidung treten häufig zu verschiedenen Zeitpunkten ein. Dasselbe gilt für die Konsequenzen verschiedener Entscheidungsoptionen. Hier sind heutige Konsequenzen gegen künftige Konsequenzen abzuwägen. Der Entscheider hat eine sogenannte intertemporale Entscheidung zu treffen.152 Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Entscheidung zwischen dem gegenwärtigen Verzicht auf schmackhaftes, aber ungesundes Essen mit der Folge einer besseren Gesundheit in der Zukunft und dem gegenwärtigen Genuss ungesunder Speisen unter Inkaufnahme der sich erst in der Zukunft manifestierenden gesundheitlichen Probleme. Um hier eine Präferenzordnung im Zeitpunkt der Entscheidung erstellen zu können, müssen die zu unterschiedlichen Zeitpunkten 147
Vgl. nur Cooter/Ulen, Law and Economics, 6th ed. 2011, S. 44 ff. Zur Unterscheidung von Risiko (risk) und Ungewissheit im engeren Sinne (uncertainty) grundlegend Knight, Risk, Uncertainty, and Profit, 1921. 149 Vgl. Savage, The Foundation of Statistics, 1954. 150 Zu Bayes’ Gesetz s. Bayes, Philosophical Transaction of the Royal Society, 53 (1763), 370 ff., online: http://www.stat.ucla.edu/history/essay.pdf; geraffte Darstellung des Bayesian Updating bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 32. Zu Bayes’ Gesetz als integralem Bestandteil der umfassende Rationalität annehmenden RCT s. etwa Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1214 f.; aus dem deutschen Schrifttum Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 88 f., letzterer auch mit einem Anwendungsbeispiel. 151 Vgl. auch die geraffte Umschreibung „voller Rationalität“ bei Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1214 f. 152 S. etwa Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 339 f.; s. dazu auch die Beiträge in Loewenstein/Elster (eds.), Choice Over Time, 1992. 148
114
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
auftretenden Konsequenzen für die persönliche Wohlfahrt des Entscheiders im Entscheidungszeitpunkt miteinander verglichen werden können. 2.3.3.1 Dominantes Modell – Discounted Utility Theory (DUT) Das ökonomische Standardmodell, mit Hilfe dessen sich gegenwärtige und künftige Konsequenzen einer Entscheidung vergleichen lassen, so dass die Handlungsoption mit dem höchsten Nutzen für den Akteur ermittelt werden kann, ist die erstmals von Paul A. Samuelson in den späten 1930er Jahren vorgeschlagene sog. discounted utility theory (Theorie des diskontierten Nutzens).153 Dabei wird der Wert einer Konsequenz in einer späteren Zeitperiode t1 mit einem Diskontierungsfaktor δ versehen, um seinen Wert in der gegenwärtigen Entscheidungssituation t0 zu bestimmen. Der diskontierte künftige Wert entspricht also dem gegenwärtigen Wert. Der Diskontierungsfaktor lässt sich für finanzielle Entscheidungen als diejenigen Opportunitätskosten begreifen, die entstehen, weil das Kapital nicht bereits in der Periode t0, sondern erst später in t1 verzinslich angelegt werden kann (time value of money). Jenseits finanzieller Entscheidungen lässt sich hiermit das Maß der Ungeduld des Entscheiders abbilden.154 Der Diskontierungsfaktor δ wird dabei zumeist als Konstante verstanden. In diesem Fall findet eine exponentielle Diskontierung über die Zeitperioden statt. Da der Diskontierungsfaktor unabhängig davon ist, wann der Nutzen gemessen wird, besteht Zeitkonsistenz: Jener Akteur, der lieber heute einen Apfel erhält als morgen zwei, sollte danach ebenfalls einen Apfel in einem Jahr gegenüber zwei Äpfeln in einem Jahr und einem Tag bevorzugen.155 Andere begreifen den Diskontierungsfaktor hingegen als Funktion, deren Wert sich selbst über die Zeit verändert. Dies kann dann jedoch zu (zeit-)inkonsistentem Entscheidungsverhalten führen.156 Ungeachtet der Frage, wie man den Diskontierungsfaktor interpretiert, liegt der DUT die Annahme zugrunde, dass ein Akteur ungeduldig ist. Er präferiert also den früheren Eintritt einer Konsequenz mit positivem Nutzen gegenüber ihrem späteren Eintritt.157 Darüber hinaus wird der Gesamtnutzen einer Entscheidung über die Zeit durch schlichte Summierung des (diskontierten) Nutzens aus den verschiedenen Zeitperioden ermittelt.158 Dabei ist zu beachten, dass gegenwärtiger Nutzen auch aus der Erinnerung oder Antizipation eines Ereignisses ge153
S. Samuelson, Rev. Econ Stud. 4 (1937), 155 ff. Zu ihrer Dominanz in der ökonomischen Forschung s. nur Loewenstein, in: Loewenstein/Elster (eds.), Choice Over Time, 1992, S. ix. 154 S. auch Eisenführ/Weber, Rationales Entscheiden, 4. Aufl. 2003, S. 301. 155 Dieses Beispiel findet sich bei Thaler, Econ. Letters 8 (1981), 201, 202. 156 S. wiederum nur Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 349, die Stationariät jedoch nicht generell als Anforderung an rationales Verhalten erachten. Zur quasi-hyperbolen Diskontierung nach dem βδ–Modell s. noch ausführlich unten unter § 5 II.4. 157 S. für eine formale Definition Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 349. 158 Formal: βt ut(x). Der Gesamtnutzen ist die Summe () des Nutzens u(x) in den Zeitperioden t multipliziert mit dem zwischen 0 und 1 liegenden Diskontierungsaktor β pro in der Zukunft liegender Zeitperiode t.
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
115
zogen werden kann. Die in der Zukunft oder Vergangenheit eintretende Konsequenz kann also in der Gegenwart einen Wert besitzen.159 2.3.3.2 Die Annahmen des Diskontierungsmodells Bereits Samuelson beschrieb die der DUT zugrunde liegenden Annahmen als „completely arbitrary“.160 So setzt die Angemessenheit der schlichten Summierung des Nutzens in den verschiedenen Zeitperioden voraus, dass aus der Änderungsrate des Nutzens pro Zeiteinheit oder anderen Derivaten kein eigener Nutzen gezogen wird.161 Es wird also die wechselseitige Präferenzunabhängigkeit vorausgesetzt, wonach der Nutzen aus den Konsequenzen in einer Zeitperiode unabhängig von den Konsequenzen in einer anderen Zeitperiode ist. Diese Bedingung ist aber in der Realität keineswegs immer erfüllt.162 Die DUT setzt des Weiteren voraus, dass die Präferenzreihung von Handlungsoptionen bei simultaner zeitlicher Verschiebung ihrer Konsequenzen erhalten bleibt (sog. Stationarität).163 Feiert der Entscheider etwa in diesem Jahr lieber seinen Namenstag im Frühjahr als seinen Geburtstag im Winter, so besagt die Bedingung der Stationarität, dass dasselbe auch für das nächste Jahr gilt. Der Entscheider handelt danach inkonsistent, wenn er die ursprüngliche Entscheidung bei späterer Betrachtung anders treffen würde.164 Die Stationaritätsbedingung vereinfacht zwar die Bestimmung intertemporaler Entscheidungen deutlich. Der Preis hierfür ist aber eine nicht unerhebliche Realitätsferne. Denn in Wirklichkeit werden Entscheidungen, die zu verschiedenen Zeitpunkten getroffen werden, häufig voneinander abweichen.165 Schließlich geht das Diskontierungsmodell davon aus, dass heutige Konsequenzen vom Entscheider als wichtiger eingestuft werden als künftige. Diese Annahme ist jedoch keineswegs zwingend, Ungeduld mithin nicht notwendige Grundlage rationalen Entscheidens.166 2.3.3.3 Fazit Angesichts der unrealistischen und teilweise auch theoretisch nicht zwingenden Annahmen der discounted utility theory ist man sich heute weitgehend einig, dass das Diskontierungsmodell zur Erklärung und Vorhersage von nutzenmaximierendem Entscheidungsverhalten über die Zeit allenfalls eingeschränkt tauglich
159 S. Eisenführ/Weber, Rationales Entscheiden, 4. Aufl. 2003, S. 295; dazu ausführlich Elster/ Loewenstein, in: Loewenstein/Elster (Hrsg.), Time Over Choice, 1992, S. 213 ff. 160 Samuelson, Rev. Econ Stud. 4 (1937), 155, 159. 161 Samuelson, Rev. Econ Stud. 4 (1937), 155, 159. 162 S. dazu nur Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 343 f. m.w.N. 163 S. zum Begriff etwa Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 348 f.; Koopmans, Econometrica 28 (1960), 287, 293 f. 164 S. auch Loewenstein, in: Loewenstein/Elster (Hrsg.), Choice Over Time, 1992, S. ix, x. 165 S. zum Ganzen Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 349 f. 166 Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 350.
116
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
ist.167 Freilich fehlt es bisher an handhabbaren Alternativen, die ohne ein aufwendiges mathematisches Kalkül auskommen.168 2.4 Optimale Inputberücksichtigung – Maximierungskomponente II 2.4.1 Die Annahme optimaler Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazität Die REMM-Hypothese unterstellt nach klassischer Anschauung die umfassende Rationalität des Entscheiders. Der dem ökonomischen Standardmodell zugrunde liegende homo oeconomicus verfügt danach über eine optimale Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazität.169 Lässt man die Prämisse umfassender Rationalität gelten, beschränkt nur die Entscheidungsumgebung, wie die verfügbare Information und die bestehenden Handlungsmöglichkeiten, die Entscheidung des Anlegers. Je mehr Informationen ihm zur Verfügung stehen, umso besser ist seine Entscheidung.170 2.4.2 Beschränkte Rationalität – „Satisficing“ nach Simon Ein solcher umfassend rationaler Entscheider, der keinen Informationsaufnahme- und -verarbeitungsschranken unterliegt, ist als Zerrbild eines „paleohomo oeconomicus“ heftig kritisiert worden.171 Die Annahme vollständiger Rationalität ist in der Tat unrealistisch und empirisch widerlegt.172 Für die Anpassung des Rational choice-Modells an die reale Gegebenheit eines in seinen kognitiven Fähigkeiten beschränkten Menschen hat der Nobelpreisträger Herbert Simon wirkmächtige Beiträge geleistet: Die umfassende Rationalität des homo oeconomicus – so Simon – sei durch ein Rationalverhalten zu ersetzen, dass sowohl den eingeschränkten Informationszugang des Einzelnen (access to informa167
Deutlich Loewenstein, in: Loewenstein/Elster (Hrsg.), Choice Over Time, 1992, S. ix, x. S. Eisenführ/Weber, Rationales Entscheiden, 4. Aufl. 2003, S. 297. 169 S. Simon, Quart. J. Econ. 69 (1955), 99, der den vollständig rationalen „economic man“ folgendermaßen definiert: „This man is assumed to have knowledge of the relevant aspects of his environment which, if not absolutely complete, is at least impressively clear and voluminous. He is assumed also to have a well-organized and stable system of preferences, and a skill in computation that enables him to calculate, for the alternative courses of action that are available to him, which of these will permit him to reach the highest attainable point on his preference scale.“; ferner etwa Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417, 434: „The starting point for analyzing how people behave and think […] is rationality – the assumption that individuals are able to anticipate and consider all relevant factors in making choices and that they have unlimited computational capabilities.“; vgl. auch Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 40 f. 170 Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417, 435. 171 S. Doucouliagos, J. Econ. Issues 28 (1994), 877, 878 und öfter. 172 S. nur Kirchgässner, Homo Oeconomicus, 4. Aufl. 2013, S. 29. Der gänzlich rationale homo oeconomicus kann daher nurmehr als Sonderfall des ökonomischen Verhaltensmodells begriffen werden, bei dem man von Unsicherheit oder Informationskosten abstrahiert. Vgl. Fleischer/ Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 14. 168
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
117
tion) als auch seine individuell beschränkten kognitiven (Informationsverarbeitungs-)Fähigkeiten (computational capacity) Rechnung trage (sog. begrenzte Rationalität oder bounded rationality).173 Der Entscheider hat seine Fähigkeiten zur Datenbeschaffung und -verarbeitung, wie andere knappe Ressourcen174, entsprechend seinen Präferenzen zu allozieren. Begrenzte kognitive Fähigkeiten sind folglich – ebenso wie Informationsgewinnungs- und -verarbeitungskosten – als Restriktionen für das Nutzenmaximierungsverhalten der Akteure anzusehen.175 Da Menschen nicht sämtliche verfügbaren Informationen sichten und bewerten können, sind ihre Entscheidungen nicht perfekt.176 Sie entwickeln vielmehr – rationalerweise – Entscheidungsstrategien, um die verfügbaren Informationen für sich handhabbar zu machen.177 Entsprechend hat bereits Anfang der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts Frank Knight formuliert: „It is evident that the rational thing to do is to be irrational, where deliberation and estimation cost more than they are worth“178.179 Auf die Frage, wie solche Entscheidungsstrategien angesichts begrenzter kognitiver Fähigkeiten aussehen, gibt das Rationalmodell freilich keine Antwort.180 Um diese Leerstelle zu füllen, hat Herbert Simon unter Heranziehung psychologischer Erkenntnisse sein Modell des satisficing entwickelt: Ein sich begrenzt rational verhaltendes Individuum entscheide nicht mit dem Ziel der Maximierung einer Nutzenfunktion, sondern begnüge sich mit Entscheidungsstrategien, die zu einem hinreichend guten Ergebnis führen, auch wenn theoretisch eine bessere Entscheidung i.S. einer Nutzenmaximierung möglich wäre.181 Im Rahmen einer Abwägung zwischen der Optimierung des Resultats und der Vereinfachung des Entscheidungsprozesses passe der Entscheider sein Anspruchsniveau (aspiration level) an, je nachdem, als wie aufwändig sich die Erreichung des ursprünglichen Anspruchsniveaus erwiesen habe.182 173 Vgl. Simon, Models of Man: Social and Rational, 1957, S. 241 f.: „[…] the task is to replace the global rationality of economic man with a kind of rational behavior that is compatible with the access to information and the computational capacities that are actually possessed by organisms, including man, in the kinds of environments in which such organisms exist.“ 174 Vgl. Simon, Am. Econ. Rev. 68 (1978), 1, 9–14: unter der Überschrift „Mind as the Scarce Resource“. 175 Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1076; zusammenfassend Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 91. 176 Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417, 435. 177 Simon, Quart. J. Econ. 69 (1955), 99, 101, 104; zust. Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417, 435 f. 178 Knight, Risk, Uncertainty, and Profit, 1921, S. 67. 179 Zum abnehmenden Grenznutzen von Information aus dem juristischen Schrifttum nur Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, 2001, S. 115 m.w.N. in Fn. 125. 180 Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 91. 181 Simon, Am. Econ. Rev. 49 (1959), 253, 262 ff. („Satisficing versus Maximizing“); dazu auch Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417, 436; Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 91. 182 Simon, Am. Econ. Rev. 49 (1959), 253, 263 f.; vgl. auch Paredes, Wash. U.L.Q. 81 (2003), 417, 439 f.: Der begrenzt rationale Entscheider nehme für die Wahl der konkreten Entscheidungsstrategie eine Abwägung zwischen der Güte des Entscheidungsergebnisses und dem hierfür nötigen
118
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
Die Wahl der Entscheidungsstrategie hängt dabei nach Simon nicht nur von den kognitiven Grenzen des Entscheiders ab, sondern gleichermaßen von der Struktur der Entscheidungsumgebung. Um dieses Verhältnis plastisch zu beschreiben, gebraucht Simon das inzwischen berühmt gewordene Bild einer Schere: „[…] a pair of scissors, where one blade is the ‚cognitive limitations‘ and the other the ‚structure of the environment‘. […] Studying only one blade is not enough; it takes both for the scissors to cut.“183 Der von Simon in die Diskussion eingeführte Ansatz der „bounded rationality“ hat sich in der deskriptiven Entscheidungstheorie durchgesetzt und gehört zum Prämissenkanon der Neuen Institutionenökonomik184.185 Seine Attraktivität besteht in der Anpassung des ökonomischen Entscheidungsmodells an die Wirklichkeit unter grundsätzlicher Wahrung der überkommenen Rationalitätsannahme. Die Ökonomen haben folglich auf das Phänomen begrenzter Rationalität reagiert und es in ihren der Theorie der rationalen Wahl verpflichteten Modellrahmen integriert.186 Allerdings wird Simons Kritik und Modifikation des Rationalmodells vorgeworfen, zu wenig spezifisch zu sein, d.h. keine konkreten Einzelabweichungen vom Modell umfassender Rationalität zu thematisieren. Zudem fehle es ihm an empirischer Fundierung.187 2.5 Methodologischer Stellenwert des REMM Das Verhaltensmodell des rational egoistischen Menschen (resourceful evaluating maximizing man), der niemals irrational handelt und nie gegen seine Eigeninteressen entscheidet, die grundsätzlich auch nicht durch das Wohlergehen anderer beeinflusst werden, gehört immer noch zum Standard der Wirtschaftswissenschaften. Insbesondere der Teilaspekt des rationalen Entscheidungsverhaltens
183 Aufwand vor. Die Komplexität der Aufgabe beeinflusse mithin die Wahl der Entscheidungsstrategie, da mehr Komplexität mehr Aufwand bedeute. Vgl. auch ders., ebenda, S. 436 ff. zu verschiedenen solcher Entscheidungsstrategien. 183 S. Gigerenzer/Selten, in Gigerenzer/Selten (Hrsg.), Bounded Rationality: The Adaptive Toolbox, 1999 (2001), S. 1, 4 in Anlehnung an Simon, Psychol. Rev. 63 (1956), 129 ff. S. ferner zum Ganzen ders., Annu. Rev. Psychol. 41 (1990), 1 ff. 184 Vgl. etwa Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, 4. Aufl. 2010, S. 4 f., 192 f.; Williamson, The Economic Institutions of Capitalism, 1985, S. 43 ff.; ders., J. Econ. Lit. 19 (1981), 1537, 1541 f., 1543 ff. 185 S. auch die Einschätzung bei Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, 2001, S. 113 und Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218. 186 S. dazu bspw. Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vo. I, 2007, Ch. 1, S. 40 ff. m.w.N. für vertragliches Handeln; s. ferner noch unten unter § 4 II.2.3.1.1. 187 S. zu diesen Kritikpunkten Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218; zu ersterem auch van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S. 82 in Fn. 318 a.E. Inzwischen sind jedoch erste Entscheidungsexperimente entwickelt worden, welche die Theorie des satisficing testen und auch zu bestätigen scheinen, s. Caplin/Dean/Martin, Am. Econ. Rev. 101 (2011), 2899 ff.
I. Grundlagen der neoklassischen Rechtsökonomik
119
(rational choice im weiteren Sinne)188 wird auch als der Kern der modernen mikroökonomischen Theorie bezeichnet.189 Die Hypothese des eigennützigen rationalen Entscheiders hat sich für die Erklärung und Vorhersagbarkeit menschlichen Verhaltens als äußerst nützlich erwiesen190, weshalb sie über die Ökonomik hinaus in anderen Sozialwissenschaften wie etwa den Politikwissenschaften oder der Soziologie Verbreitung gefunden hat191. Dabei ist unbestritten, dass die REMM-Hypothese im konkreten Einzelfall falsch sein kann, also nicht der Realität entspricht. Die Kognitionspsychologie sowie die Experimentalökonomie haben hierfür zahlreiche Belege geliefert.192 Ihrem Stellenwert für die mikroökonomische Forschung hat dies bisher aber nicht nachhaltig geschadet. Der REMM-Hypothese wird vielmehr eine fortgeltende Bedeutung zuerkannt. Dies wird methodologisch unterschiedlich begründet193: So wird etwa darauf verwiesen, dass es der Ökonomie nur um „Erklärungen im Prinzip“ gehe.194 Daher sei die REMM-Hypothese auch nicht bereits deshalb falsifiziert, weil sie im Einzelfall falsch ist.195 Nach Milton Friedman ist es hingegen gänzlich irrelevant, ob die REMM-Hypothese widerlegt sei; es komme nur darauf an, dass sie ungeachtet dessen gute Prognosen im wirtschaftlichen Bereich ermöglicht (sog. „as if“-Methode).196 In neuerer Zeit haben schließlich Faruk Gul und Wolfgang Pesendorfer die REMM-Hypothese des Standardmodells mit dem beschränkten Erkenntnissinteresse der Standardökonomik verteidigt197: 188 Vgl. zur – uneinheitlichen – Terminologie etwa Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 248, der von „thin rationality“ bei bloß formalrationalen Vorgaben für das Entscheidungsverhalten spricht, während „thick rationality“ im Hinblick auf die Präferenzinhalte die Annahme hinzufüge, dass Menschen Maximierer ihres eigenen Wohlergehens seien. Nach dieser Diktion ist die REMM-Hypothese gleichbedeutend mit einer „thick rational choice theory“. Zur Begriffsklärung s. ferner bereits oben unter § 4 I.2.1.1. 189 Vgl. Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1060; ferner DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 367; w.N. bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 41. 190 Vgl. nur die Bewertung bei Korobkin/Ulen, 88 (2000), Cal. L. Rev. 1051, 1060 und Fleischer, FS Immenga, 2004, 575, 576 m.w.N. 191 S. dazu Korobkin/Ulen, 88 Cal. L. Rev. 1051, 1060 (2000). Freilich variieren die Modellspezifikationen; vgl. Eidenmüller, JZ 2005, 216, 217. 192 S. dazu noch ausführlich unten § 5. 193 S. zum Folgenden im Überblick Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 101 ff. sowie Tietzel, Jb. für Sozialwissenschaft, 103 (1983), S. 115, 131 ff.; vgl. ferner Sen, Phil. & Pub. Aff. 6 (1977), 317, 325. 194 S. Hayek, The Counter-Revolution of Science, 2nd ed. 1979, S. 55 f., 86 ff. und öfter. 195 S. zu dieser Argumentation Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 101. 196 So vor allem Friedman, The Methodology of Positive Economics, in: Essays In Positive Economics, 1953, S. 3, 40 f. et passim; ganz ähnlich Eidenmüller, JZ 2005, 216, 217 f.: „Der so beschriebene homo oeconomicus ist nicht ein real existierendes Individuum. Es handelt sich vielmehr um ein abstrahierendes Konstrukt, das Prognosezwecken dient“. Von Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 102, wird diese Sichtweise auch als „methodologischer Opportunismus“ bezeichnet. 197 Gul/Pesendorfer, The Case for Mindless Economics, in: Caplin/Schotter (eds.), The Foundations of Positive and Normative Economics, 2008, S. 3 ff., insb. 32, 35; ähnlich Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 21.
120
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
„Identifying what makes people happy, defining criteria for trading off one person’s (or selves) happiness against the happiness of another, and advocating social change in a manner that advances overall happiness by this criterion are tasks many neuroeconomists find more worthy than dealing with the more pedestrian questions of standard economics. However, the expression of this preference constitutes neither an empirical nor a methodological criticism of standard economics. […] Populating economic models with ‘fleshand-blood human beings’ was never the objective of economists.“
Freilich hat die Verhaltensökonomik nachgewiesen, dass die REMM-Hypothese nicht nur im Einzelfall falsch sein kann, sondern dass das menschliche Entscheidungsverhalten systematisch von den Vorhersagen des ökonomischen Standardverhaltensmodells abweicht, so dass die nachweisbaren „Verhaltensanomalien“198 sich im Aggregat nicht etwa wie Zufallsprodukte ausgleichen, sondern fortbestehen. Zudem ist der von Milton Friedman vertretenen Position von den Anhängern der empirisch geprägten Verhaltensökonomik entgegengehalten worden, dass realistischere Verhaltensannahmen zu besseren Vorhersagen und damit auch zu einer leistungsstärkeren Theorie führen.199 Schließlich ist dem Rechtswissenschaftler, der ökonomische Erkenntnisse für die Beantwortung juristischer Fragen fruchtbar zu machen sucht, mit der Bescheidenheit von Gul und Pesendorfer nicht geholfen. Denn anders als diese kann er den „Menschen aus Fleisch und Blut“ nicht ignorieren.
II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen Die ökonomischen Vertragstheorie200 hält ebenso wie die normative ökonomische Analyse des Vertragsrechts die Geltung der Vertragsfreiheit201 im Grundsatz 198 Der Begriff der Anomalie wird hier im Sinne der Kuhn’schen Wissenschaftstheorie verwendet. Danach beschreibt er Beobachtungen, die im Widerspruch zum herrschenden Paradigma, hier: des vollständig rationalen REMM / homo oeconomicus, stehen. 199 S. statt vieler nur Camerer, in: Blundell/Newey/Persson (eds.), Advances in Economics and Econometrics, Vol. II, 2006, S. 181, 182. S. ausführlich zu den Erkenntnissen der modernen Verhaltensökonomik und ihrer Bedeutung für ein überzeugendes Konzept rechtspaternalistischer Intervention im Vertragsrecht unten unter § 5 und öfter. 200 Für eine Beschreibung der ökonomischen Vertragstheorie s. nur Schweizer, Vertragstheorie, 1999, S. 1: „Die ökonomische Vertragstheorie beschäftigt sich mit wirtschaftlichen Beziehungen zwischen individuellen Parteien, deren Zusammenwirken durch strategische Interaktion geprägt sind.“ 201 Vertragsfreiheit meint dabei im Folgenden die Freiheit, Verträge zu schließen (positive Vertragsfreiheit). Da sich die vorliegende Arbeit mit den Grenzen der Selbstbindung beschäftigt, geht es mithin nicht um die sog. negative Vertragsfreiheit, s. zur Abgrenzung etwa Hermalin/Katz/ Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 19 f. Mit Verträgen sind hier – ganz im Sinne des juristischen Sprachgebrauchs – ferner nur solche Vereinbarungen gemeint, die durch staatliche Durchsetzungsmechanismen sanktioniert werden können. S. auch die einschränkende Definition bei Masten, in: Bouckaert/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. III, 2000, S. 25 und ff. Nicht weiter nachgegangen wird mithin einer Vertragsfreiheit in dem Sinne, dass die Durchführung des Vertrages zwar nicht verboten wird, aber auch nicht gerichtlich durchsetzbar ist, vgl. Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell
II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen
121
für effizient. Abweichungen von diesem Grundsatz sind durch ein Verhandlungs- oder Marktversagen zu begründen.202
1. Das (präsumptive) ökonomische Argument für die Vertragsfreiheit Das ökonomische Argument für die Vertragsfreiheit ruht auf zwei Säulen, einer wohlfahrtsökonomischen und einer vertragstheoretischen. 1.1 Erstes Wohlfahrtstheorem als Argument für die Vertragsfreiheit Das wohlfahrtsökonomische Argument für die Vertragsfreiheit, d.h. die Rechtsmacht zur Selbstbindung, wird aus der Analyse von Märkten gewonnen: Unter der – freilich strengen – Annahme einer idealen Ökonomie, in der perfekte Wettbewerbsmärkte ohne Externalitäten und Transaktionskosten herrschen und in der kein Marktteilnehmer Marktmacht besitzt, haben Arrow und Debreu nachgewiesen, dass jedes erzielte kompetitive Marktgleichgewicht Pareto-effizient ist (sog. erstes Wohlfahrtstheorem).203 Hierauf aufbauend haben Arrow und Hahn die Auswirkungen der Vertragsfreiheit im Konkurrenzmodell analysiert und dabei nachgewiesen, dass Vertragsfreiheit bei vollständiger Konkurrenz zu einem Pareto-effizienten gesamtgesellschaftlichen Gleichgewichtszustand führt (dem „Kern“ der Wirtschaft), der bei einem Eingriff in die Vertragsfreiheit nicht erreicht werden kann.204 Als Argument für die Vertragsfreiheit ist das erste Wohlfahrtstheorem allerdings von der Annahme vollständiger Konkurrenz, d.h. des Angebots und der Nachfrage vieler am vollständigen Markt, abhängig. Diese Annahme entspricht jedoch nicht der Realität. Der Idealzustand vollständiger Konkurrenz ist vielmehr als Referenzsystem zu verstehen.205 Dem hierauf aufbauenden ersten Wohl202 (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 19 f.; Hinweise zur Diskussion um die Vorzugswürdigkeit nicht-rechtlicher Durchsetzungsmechanismen von Verträgen finden sich bei Craswell, in: Bouckaert/De Geest, Encyclopedia of Law and Economics Vol. III, 2000, S. 1, 16. 202 S. auch zum Folgenden ausführlich die vorzügliche Überblicksdarstellung von Hermalin/ Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 21 ff. 203 Arrow/Debreu, Econometrica 22 (1954), 265 ff.; Debreu, The Theory of Value, 1959, § 6.3 (S. 94 f.); zusammenfassend Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 23. 204 Arrow/Hahn, General Competitive Analysis, 1971, insb. S. 183 ff.; zusammengefasst bei Schäfer/Ott, Lehruch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 425 f.; zum Konzept des „core of economy“ s. auch Sen, Phil. & Pub. Aff. (6) 1977, 317, 319 f. Zur Übertragung des Arrow/Debreu-Konzepts auf die Vertragstheorie s. auch Masten, in: Bouckaert/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. III, 2000, S. 25, 27. 205 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 58 f.; ferner Masten in: Bouckaert/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. III, 2000, S. 25, 27: „Arrow-Debreu complete contingent claims contracts represent what transactors would write in an ideal world free from ‘imperfections’.“
122
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
fahrtstheorem kommt mithin die Funktion zu, Ursachen für Ineffizienzen aufzudecken und zu klassifizieren.206 Ihm lässt sich aber nichts darüber entnehmen, ob Pareto-Effizienz oder ein ihr nahe kommender Zustand in der realen Welt besser mit Vertragsfreiheit oder staatlichem Interventionismus hergestellt werden kann.207 1.2 Coase-Theorem als Argument für die Vertragsfreiheit Auf Ronald Coase geht ein weiteres, theoretisches Argument für die Vertragsfreiheit und gegen die Intervention durch soziale Planer208 zurück, das sich als Ausgangspunkt vertragstheoretischer Überlegungen in der ökonomischen Forschung etabliert hat. In seinem berühmten Aufsatz über das Problem sozialer Kosten führt er aus, dass sich die beteiligten Akteure ungeachtet der urspünglichen Verteilung von Rechtspositionen im Wege der Verhandlung, d.h. über Markttransaktionen, letztlich auf eine effiziente Zuweisung der Rechtspositionen verständigen würden, wenn diese Transaktionen kostenlos durchgeführt werden könnten.209 Diese Überlegung wird als Coase-Theorem bezeichnet210, für das es ungeachtet seiner vielfachen Verwendung bislang keine kanonische Formulierung gibt.211 Guido Calabresi etwa beschreibt das Coase-Theorem wie folgt: Sind die Marktteilnehmer rational, die Markttransaktionen kostenlos und bestehen keine rechtlichen Hindernisse für den Austausch der Marktteilnehmer, 206 Farrell, J. Econ. Persp. 1 (1987), 113, 116; beispielhaft Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 30. S. zu den „zwei Interpretationsmöglichkeiten“ der Effizienzbedingungen auch Pindyck/Rubinfeld, Mikroökonomie, 7. Aufl. 2009, S. 792. 207 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 59; weitergehend noch Farrell, J. Econ. Persp. 1 (1987), 113, 116: „As arguments against active government policy, the welfare theorem [is] unconvincing. [It says] that, in ideal circumstances, the laissez-faire outcome is no less Pareto-efficient than the ideal government-dicated outcome.“ [Hervorhebung nur hier]. Einen weiteren Einwand, der letztlich eine Ausprägung der Debatte um das Verhältnis von Effizienz und Fairness [s. dazu oben unter § 4 I.1.1.5] ist, formulieren Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 425: Eine Person, die mit Ressourcen schlecht ausgestattet sei, könne in einem System der Vertragsfreiheit durch jede Transaktion einen Nettovorteil haben und trotzdem nach Abschluss aller Transaktionen immer noch „arm und depriviert“ sein. Auf dieser Linie auch der jüngere Beitrag von Hockett, Cornell J. L. & Pub. Pol’y 18 (2009), 391 ff., der für eine an dem Prinzip des „fair welfare“ orientierte normative Theorie des Rechts eintritt. 208 Zum „anti-interventionistischen“ Charakter seiner Argumentation s. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 60; gleichsinnig etwa Farrell, J. Econ. Persp. 1 (1987), 113, 114, der das Coase-Theorem (wie das Erste Wohlfahrtstheorem) als „decentralization result“ bezeichnet. 209 S. Coase, The Problem of Social Cost, J. L. & Econ. 3 (1960), 1, 15: „It is always possible to modify by transactions on the market the initial legal delimination of rights. And, of course, if such market transactions are costless, such a rearrangement of rights will always take place if it would lead to an increase in the value of production.“ 210 Die Bezeichnung geht auf Stigler, The Theory of Price, 1966, S. 113, zurück. 211 Vgl. Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. I (2000), S. 836 ff., mit einer Auflistung zahlreicher ähnlicher, aber eben nicht identischer Definitionen.
II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen
123
dann führen deren Verhandlungen letztlich zu einer optimalen Ressourcenallokation.212 Donald Regan, ein weiterer bekannter Interpret des Coase-Theorems formuliert ähnlich, aber mit erkennbar abweichender Akzentuierung: In einer Welt mit vollständigem Wettbewerb213, vollständiger Information und ohne Transaktionskosten wird eine effiziente Ressourcenallokation erreicht, und zwar ungeachtet der rechtlichen Regeln, welche zunächst die Kosten externer Effekte zuweisen.214 Diese Aussage des Coase-Theorems wird im Anschluss an Regan215 gemeinhin in die Invarianzthese und die Effizienzthese untergliedert216: Die Invarianzthese besagt, dass unter den genannten Voraussetzungen für die Realgüterverteilung nach Vertragsschluss irrelevant ist, wie sich die anfängliche Realgüterverteilung darstellt. Es ist also egal, ob Partei A oder Partei B anfänglich ein bestimmtes Realgut, etwa ein Kfz, hat, nach Vertragsschluss ist das Kfz immer Partei A (oder immer B) zugeordnet.217 Die Effizienzthese des Coase-Theorems besagt, dass diese Güterzuordnung auch effizient, d.h. wohlfahrtsmaximierend, ist.218 Für die Vertragsfreiheit folgt hieraus: Unter den Annahmen des Coase-Theorems kann ein Eingriff in den von den Parteien intendierten Vertrag die Gesamtwohlfahrt nicht steigern. Es sollte mithin Vertragsfreiheit gelten, wenn es allein um die Gesamtwohlfahrt der Vertragsparteien geht.219
212 Calabresi, J. L. & Econ. 11 (1968), 67, 68: „If people are rational, bargains are costless, and there are no legal impediments to bargains, transactions will ex hypothesis occur to the point where bargains can no longer improve the situation; to the point, in short, of optimal resource allocation.“ 213 Ob das Coase-Theorem tatsächlich kompetitive Märkte voraussetzt, wird nicht einheitlich beurteilt. S. dazu knapp Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. I, 2000, S. 836, 851. Die Frage verneinend Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/ Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 24. Vgl. zum Verhältnis von Wohlfahrtstheorem und Coase-Theorem auch Farell, J. Econ. Persp. 1 (1987), 113 ff. 214 Regan, J. L. & Econ. 15 (1972), 427. 215 Regan, J. L. & Econ. 15 (1972), 427. 216 S. zu dieser gängigen Unterteilung nur Schlieper, in: Albers (Hrsg.), HdWW, Bd. 2, 1980, S. 524, 528; Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. I, 2000, S. 836, 838; aus dem rechtswissenschaftlichen Schrifttum etwa Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 61. 217 Coase, J. L. & Econ. 3 (1960), 1, 6, 8 und öfter; vgl. auch Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, vol. 1 (2000), S. 836, 838; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 60 f. 218 Coase, J. L. & Econ. 3 (1960), 1, 6; vgl. auch Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, vol. 1 (2000), S. 836, 838; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 61. 219 Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 25 (Korollar 1); gleichsinnig etwa Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559, 569; Korobkin, in: Gigerenzer/Engel (eds.), Heuristics and the Law, 2006, S. 45, 48 f.
124
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
2. „Marktversagen“ als Argument gegen die unbeschränkte Vertragsfreiheit Das Coase-Theorem setzt ein Umfeld voraus, das reibungslose Transaktionen ermöglicht. Die dort formulierten „Umfeldbedingungen“ werden jedoch nicht als realistisch angesehen. Vielmehr begreift man sie ebenso wie das für die Gültigkeit des Ersten Wohlfahrtstheorems erforderliche Ideal vollkommener Konkurrenz220 als Referenzsystem, von dem aus die ökonomische, insbesondere die vertragstheoretische Forschung die Ursachen für ineffiziente Vertragsschlüsse identifiziert. Insofern sprechen manche Vertragstheoretiker auch vom „Coase-Programm“.221 Die Ursachen für das Verfehlen effizienter Vertragsergebnisse werden als „Marktversagen“ apostrophiert, das Raum für eine wohlfahrtssteigernde, staatliche Intervention schafft.222 Als Argument gegen die Vertragsfreiheit und für die rechtliche Intervention taugen sie jedoch nur, wenn die Kosten der Intervention den hiermit zu erzielenden Effizienzgewinn nicht vollständig aufzehren oder gar übersteigen. Letzterenfalls wäre es unter Effizienzgesichtspunkten hingegen besser, auf eine rechtliche Intervention zu verzichten und es bei unbeschränkter Vertragsfreiheit zu belassen (sog. zweitbeste Lösung223).224 Die Fälle von Marktversagen werden typischerweise in verschiedene Kategorien unterteilt, zu denen regelmäßig externe Effekte (Externalitäten), unvollständige Information (Informationsasymmetrien), Marktmacht, Rationalitätsdefizite oder sog. öffentliche Güter gezählt werden.225 Auf der Suche nach einem „gemeinsamen Nenner“ für diese Phänomene hat vor allem Oliver E. Williamson in Anlehnung an Ronald Coase den Begriff der Transaktionskosten genutzt und damit die sog. Transaktionskostenökonomik begründet.226 Diese Sichtweise 220
S. dazu oben § 4 II.1.1. S. Schweizer, Vertragstheorie, 1999, S. 2. 222 S. nur Schweizer, Vertragstheorie, 1999, S. 12 und passim; in der Sache ganz ähnlich Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 30; vgl. ferner etwa Pindyck/Rubinfeld, Mikroökonomie, 7. Aufl. 2009, S. 792, dort allgemein zur „Doppelgesichtigkeit“ der Effizienzbedingungen; für einen – letztlich nicht überzeugenden – konzeptionellen Gegenentwurf Veetil, Eur. J. Law Econ. 31 (2011), 199, 202 ff. auf der Grundlage des Verhaltensmodells des homo agens. 223 S. zum Begriff nur Hart/Holmström, in: Bewley (ed.), Advances in Economic Theory, 1987, S. 71, 74. 224 S. dazu bereits Coase, J. L. & Econ. 3 (1960), 1, 15 f.; klar auch Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 28. Skeptisch daher in Bezug auf die Begründbarkeit staatlicher Eingriffe in die Vertragsfreiheit mit externen Effekten und Informationsasymmetrien E.A. Posner, Yale L.J. 112 (2003), 829, 859 ff., 863. 225 S. etwa Pindyck/Rubinfeld, Mikroökonomie, 7. Aufl. 2009, S. 792 ff.; Hermalin/Katz/ Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 30 ff.; Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 320 f. Die Kategorie der Öffentlichen Güter ließe sich freilich auch unter die Kategorie der Externalitäten einordnen, vgl. Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 77 f. (sub d). 226 S. insbesondere Williamson, The Economic Institutions of Capitalism, 1985, insb. S. 15 ff., 17: „This book advances the proposition that the economic institutions of capitalism have the main purpose and effect of economizing on transaction costs.“; ferner ders., J. L. & Econ. 22 (1979), 233 ff.; 221
II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen
125
löste die zuvor bestehende Konzentration auf Marktmacht- und Monopolkonzepte ab.227 Freilich ist auch das immer noch sehr bedeutsame Transaktionskostenkonzept stark kritisiert worden, weil es begrifflich unscharf228 und überdies in seiner Eindimensionalität unterkomplex229 sei. Viele spieltheoretisch inspirierte Vertragstheoretiker sehen inzwischen die Hauptursache für ineffiziente Vertragschlüsse in der unvollständigen Information der Parteien, namentlich der ungleichen Verteilung, also der Asymmetrie von Informationen.230 Dieser informationsökonomische Ansatz kann in der Tat eine Vielzahl von Verhandlungsineffizienzen erklären.231 2.1 Vorweg: Negative externe Effekte Die tiefere Begründung von Marktversagen mit prohibitiv hohen Transaktionskosten oder unvollständiger Information lässt sich anhand des Phänomens negativer externer Effekte verdeutlichen.232 Hiermit wird das weithin als eigenständige Kategorie des Marktversagens angesehene Problem beschrieben, dass die Aktivität von Wirtschaftseinheiten, hier: der Vertragschluss der Parteien, (soziale) Kosten für Dritte oder die Allgemeinheit verursacht, die von diesen Wirtschaftseinheiten (den Vertragsparteien) nicht übernommen (internalisiert) werden.233 Dies kann zu Wohlfahrtsverlusten führen, wenn die sozialen Kosten den Nutzen der Vertragsparteien aus dem Vertragschluss übersteigen. In der Coase’schen Idealwelt ohne Transaktionkosten und mit perfekt informierten Ak227 zumindest im Ausgangspunkt etwa auch Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 24 ff.; krit. zu diesem Ansatz Schweizer, Vertragstheorie, 1999, S. 3. 227 S. dazu wiederum Williamson, The Economic Institutions of Capitalism, 1985, insb. S. 17 m.w.N. 228 Zu dem Problem ihrer Definition s. etwa Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. I, 2000, S. 836, 855 ff.; ferner Siemer, Das Coase-Theorem, 1999, S. 42 f. jew. m.w.N. 229 S. Schweizer, Vertragstheorie, 1999, S. 3. 230 S. insbesondere Schweizer, Vertragstheorie, 1999, S. 3 und passim: „Der vertragstheoretische Ansatz kommt ohne einen Transaktionskostenbegriff aus. Ausgangspunkt ist vielmehr die zu unterstellende Informationsverteilung, die zwischen den beteiligten Parteien herrscht.“; s. zum Ganzen auch Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. I, 2000, S. 836, 854 f. 231 S. auch Masten, in: Bouckaert/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. III, 2000, S. 25, 27 ff. zu der möglichen (und durchaus üblichen) Zweiteilung vertragstheoretischer Ansätze in die Theorie des vollständigen Vertrages (complete contract theory) und die Theorie des unvollständigen Vertrages (incomplete contract theory). 232 Zu möglichen Ineffizienzen aufgrund positiver Externalitäten s. nur Pindyck/Rubinfeld, Mikroökonomie, 7. Aufl. 2009, S. 839 f.; s. dort auch die Beispiele für effizienzsteigernde Eingriffe. 233 S. für eine Definition etwa Schlieper, in: Albers (Hrsg.), HdWW, Bd. 2, 1980, S. 524 m.w.N. Externalitäten unterscheiden sich von bloßen Preiseffekten dadurch, dass sie sich gerade nicht unmittelbar in Marktpreisen niederschlagen, s. etwa Pindyck/Rubinfeld, Mikroökonomie, 7. Aufl. 2009, S. 793. Zu dem Unterschied zwischen den hier in Rede stehenden technischen externen Effekten als einer Form des Marktversagens und pekuniären Effekten auch Schäfer/Ott, Lehrbuch des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 424 f.
126
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
teuren ließe sich dieses „Problem of Social Costs“ jedoch unter Einbeziehung aller Betroffenen „wegverhandeln“. Eine Pareto-optimale Ressourcenallokation wäre das Ergebnis.234 Externe Effekte werden aber gerade deshalb zum wohlfahrtsmindernden Problem, wenn und weil hohe Koordinationskosten (Transaktionskosten) bzw. Informationsdefizite der Akteure eine effiziente Verhandlungslösung verhindern.235 Für die im Rahmen dieser Arbeit untersuchte Frage nach Grund und Grenzen paternalistischer Intervention im vertraglichen Privatrechtsverkehr sind externe Effekte freilich streng genommen ohne Belang. Die paternalistische Motivation eines Eingriffs zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es allein um die Interessen des Maßnahmeadressaten, im hiesigen Kontext also der Vertragspartei geht und nicht um die Interessen am Vertrag nicht beteiligter Dritter. Freilich kann es im konkreten Fall schwierig sein, ob eine Beschränkung der Vertragsfreiheit paternalistisch motiviert ist, ob sie dem Schutz Dritter dient, oder ob ein beide Ziele umfassendes Motivbündel vorliegt.236 So lassen sich gemeinhin als paternalistisch eingestufte Eingriffe in die Vertragsfreiheit durchaus als Maßnahmen gegen Wohlfahrtsminderungen durch negative Externalitäten begreifen.237 2.2 Informationsasymmetrien als Kardinalproblem effizienter Vertragsschlüsse Nicht nur die Anhänger einer informationsökonomisch fundierten Vertragstheorie238, sondern auch die Vertreter einer stärker transaktionskostenökonomisch geprägten Vertrags(rechts)analyse239 identifizieren die asymmetrische Informati234 Coase, J. L. & Econ. 3 (1960), 1 ff. ging es gerade um die Möglichkeit mit Hilfe des Verhandlungsmodells Externalitäten zu internalisieren [s. dazu etwa Schlieper, in: Albers (Hrsg.), HdWW, Bd. 2, 1980, S. 524, 525; auch Farell, J. Econ. Persp. 1 (1987), 113]. S. ferner die Ausführungen von Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest, Encylopedia of Law and Economics, Vol. I, 2000, S. 836, 860 f. zu den Untersuchungen von Hofman und Spitzer. 235 S. insofern auch die abschließende Äußerung bei Medema/Zerbe, in: Bouckaert/De Geest (Hrsg.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. I, 2000, S. 836, 855: „In sum, the likelihood of incomplete information gives us little reason to believe that the Coase Theorem is correct when specified in a noncooperative bargaining context.“; zum Ganzen auch Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 34; ferner den Einwand bei E. Posner, Yale L.J. 112 (2003), 829, 862. S. zur „Crux großer Verhandlungsgruppen“ auch Siemer, Das Coase-Theorem, 1999, S. 74 ff., m.w.N., der zu dem wohl allgemein geteilten Schluss kommt, dass das Coase-Theorem bei großen Verhandlungsgruppen nur für den Fall vollkommener Information gilt. 236 S. dazu bereits oben unter § 3 IV.3.5. 237 S. zur Unwirksamkeit überkompensierender Strafschadensersatzvereinbarungen etwa E. Posner, Yale L.J. 112 (2003), 829, 861 f.; zur Einschränkung der Vertragsfreiheit zur Verhinderung von Sozialkosten für die Allgemeinheit vgl. E. Posner, J. Legal Stud. 24 (1995), 283 ff.; sowie zur ähnlichen Argumentation des BVerfG für die Helmpflicht oben unter § 3 I.1.1; kritisch zu dieser Argumentation Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 32 ff.; vgl. ferner den Überblick bei Ayres, Yale L.J. 112 (2003), 881, 888 f. 238 Eindrücklich Schweizer, Vertragstheorie, 1999, passim; vgl. auch Craswell, in: Bouckaert/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. III, 2000, S. 1 ff. 239 S. etwa Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 30 ff.
II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen
127
onsverteilung zwischen den Parteien als das praktisch bedeutsamste Hindernis für effiziente Vertragsschlüsse.240 2.2.1 Das Problem adverser Selektion als gedanklicher Ausgangspunkt Dieser Einschätzung liegt folgende grundsätzliche Überlegung zugrunde: Pareto-Optimalität einer vertraglichen Vereinbarung setzt voraus, dass der Vertragsgegenstand zutreffend bepreist werden kann. Hierfür ist es wiederum erforderlich, dass die Parteien sämtliche preisrelevanten Informationen teilen. In der Realität besitzt eine Vertragspartei aber häufig „private Informationen“ über den Vertragsgegenstand, welche der anderen Partei (zunächst) nicht zur Verfügung stehen. Solche Informationsasymmetrien zwischen den Vertragsparteien können zu falschen Preisen und damit zu Marktverzerrungen mit der Folge ineffizienter Ressourcenallokation führen.241 Diese Wirkung von Informationsasymmetrien hat George Arthur Akerlof in seinem berühmten Aufsatz über den Markt für Gebrauchtwagen242 bereits Anfang der 1970er Jahre eindrücklich illustriert: Können die (potentiellen) Verkäufer hochwertiger Fahrzeuge den (potentiellen) Käufern die besondere Qualität ihrer Wagen nicht zu hinreichend niedrigen Kosten signalisieren, bekommen sie keinen angemessenen Preis und scheiden aus dem Markt für Gebrauchtwagen aus. Die hierdurch entfachte Dynamik führt schließlich dazu, dass nur noch minderwertige Fahrzeuge („lemons“) auf dem Gebrauchtwagenmarkt angeboten werden, obwohl es durchaus Interessenten für hochwertige Fahrzeuge gibt, die hierfür auch einen angemessenen Preis zahlen würden (sog. adverse Selektion). 2.2.2 Parameterabhängige Effizienz von Eingriffen in die Vertragsfreiheit Mögliche Wohlfahrtsverluste aufgrund asymmetrischer Information der (potentiellen) Vertragsparteien können sich aber nicht nur daraus ergeben, dass ein Pareto-effizienter Vertrag gar nicht zustande kommt, der bei symmetrischer Information abgeschlossen worden wäre. Ineffizienzen können auch deshalb entstehen, weil der tatsächlich abgeschlossene Vertrag einen Pareto-inferioren Inhalt gegenüber demjenigen Vertrag hat, der bei Informationssymmetrie abgeschlossen worden wäre.243 Dieser durch den Abschluss suboptimaler Verträge herbeigeführte Wohlfahrtsverlust schafft die Voraussetzung für eine mögliche Effizienz240 Beispielhaft Hart/Holmström, in: Bewley (ed.), Advances in Economic Theory, 1987, S. 71, 74: „[I]nformational constraints […] play a particularly important role […]“; s. ferner die Beiträge von Sutton, Rev. Econ. Stud. 53 (1986), 709, 717 ff.; Farell, J. Econ. Persp. 1 (1987), 113 ff.; aus dem rechtsökonomischen Schrifttum jüngst Peppet, UCLA L. Rev. 59 (2012), 676 ff. 241 S. hier statt aller nur Riley, J. Econ. Lit. 39 (2001), 432, 433. 242 Akerlof, Quart. J. Econ. 84 (1970), 488 ff. 243 S. zu Fragen des contract designs bei Informationsasymmetrien etwa Aghion/Bolton, Am. Econ. Rev. 77 (1987), 388 ff.; Aghion/Hermalin, J. Law, Econ., Organ. 6 (1990), 381 ff.; Johnston, Yale L.J. 100 (1990), 615 ff.; Spier, RAND Journal of Economics 23 (1992), 432 ff. Dazu zusammenfassend Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 34 und ff.
128
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
steigerung durch rechtliche Intervention244, sofern diese nicht ihrerseits mit noch größeren Ineffizienzen einhergeht245. Die Ergebnisse der hierzu ergangenen Forschung sind hinsichtlich der hier interessierenden Effizienz von Vertragsfreiheit (oder ihrer Beschränkung) freilich gemischter Natur. Sie lassen sich mit Farell dahin zusammenfassen, dass „depending on the parameters, the outcome of negotiation may be more or less efficient on average than the bumbling bureaucrat“.246 Diese Abhängigkeit der Ergebnisse von den gewählten Parameterwerten schränkt ihre Brauchbarkeit als Handlungsempfehlung für das Vertragsrecht erheblich ein. Denn Rechtsregeln, die dem Rechtsanwender abverlangen, diese Parameterwerte für den konkreten Fall zu bestimmen und hieraus die richtigen Schlussfolgerungen abzuleiten247, dürften in der Praxis nicht selten ihr Ziel verfehlen, weil die für ihre sachgerechte Anwendung notwendigen Informationen nicht, jedenfalls nicht zu angemessenen Kosten ermittelt werden können.248 2.2.3 Aufschlüsselung in Signalling- und Screening-Szenarien Ein wenig spezifischere Aussagen lassen sich aber immerhin aus den vertragstheoretischen Studien von Aghion, Hermalin und Katz gewinnen, die Hermalin, Katz und Craswell in einem Überblick zusammengestellt haben.249 Hierfür ist zwischen Signalling- und Screening-Szenarien zu unterscheiden. Im SignallingSzenario besitzt die das Vertragsangebot abgebende Partei private Informationen, die sie der anderen Vertragspartei über den Inhalt des Angebots signalisieren möchte.250 Ein Screening-Szenario liegt hingegen im umgekehrten Fall vor, in dem die schlechter informierte Partei durch ihr Vertragsangebot zusätzliche Informationen über die Gegenpartei zu erlangen sucht.251 244 Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 34. 245 S. zu diesem „Second best“-Vergleich von „Property rights and voluntary private negotiation“ versus „Bumbling Bureaucrat“ etwa Farell, J. Econ Persp. 1 (1987), 113, 122 ff.; ferner Hermalin/Katz, JLEO 9 (1993), 230, 248. 246 Farell, J. Econ Persp. 1 (1987), 113, 124, der fortfährt: „This ambiguous result should make us hesitate to use the Coase theorem to argue for laissez-faire.“ 247 S. dazu auch Aghion/Hermalin, JLEO 6 (1990), 381, 403. 248 Dies konzedieren auch Hermalin/Katz, JLEO 9 (1993), 230, 247 f.: „We suspect that it would be too much to ask courts to distinguish among these various possibilities.“ Sehr kritisch daher E. Posner, Yale L.J. 112 (2003), 829, 861: „As a normative theory, it is also not successful, as it assumes that courts have sufficient information to distinguish signalling equilibria where judicial intervention will increase welfare, and other equilibria where it will not.“; gegen ihn wiederum Ayres, Yale L.J. 112 (2003), 881, 889 f. Zu dieser Kontroverse auch Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 36 f., die hierzu abschließend befinden: „[T]here is no reason to require economic analysis to reach ‘all or nothing’ conclusions before the analysis is useful normatively.“ 249 S. zum Folgenden Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 34 ff. 250 Begriffsprägend Spence, Quart. J. Econ. 87 (1973), 355 ff. 251 S. ausführlich zu Signalling und Screening den Literaturüberblick bei Riley, J. Econ. Lit. 39 (2001), 432 ff.
II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen
129
2.2.3.1 Effizienzsteigernder Eingriff in die Vertragsfreiheit im Signalling-Szenario Aghion und Hermalin haben die Wohlfahrtsimplikation einer Beschränkung möglicher Verträge für das Signalling-Szenario untersucht.252 Zur Veranschaulichung verwenden sie das Beispiel des Unternehmers, der ein Projekt finanzieren möchte und daher den Anreiz hat, für den Fall des Scheiterns hohe Strafzahlungen zu versprechen, um so potentiellen Financiers die hohe Qualität seines Projekts zu signalisieren. Dieses Signal ist offensichtlich mit Kosten verbunden. Aghion und Hermalin konnten im Ergebnis zwar zeigen, dass unter gewissen Voraussetzungen eine Wohlfahrtsverbesserung erreicht werden kann, wenn man die Möglichkeit einer solchen Strafzahlungsverpflichtung bei Scheitern des Projekts beschränkt.253 Diese Aussage bleibt jedoch von bestimmten Parameterwerten abhängig, die keineswegs immer gegeben sind.254 2.2.3.2 Wohlfahrtsimplikationen rechtlicher Intervention im Screening-Szenario Für das Screening-Szenario haben wiederum Hermalin und Katz nachgewiesen, dass eine Pareto-Verbesserung durch Beschränkungen der Vertragsfreiheit praktisch auszuschließen ist, da die nicht informierte Partei im Rahmen ihres Angebots keine private Information signalisieren kann.255 Für das hiesige Erkenntnisinteresse lassen sich aber auch aus diesem Beleg keine klaren Schlussfolgerungen ziehen. Denn jenseits einer Pareto-Verbesserung bleibt eine Steigerung der Gesamtwohlfahrt durch einen Eingriff in die Vertragsfreiheit unter bestimmten 252
Aghion/Hermalin, JLEO 6 (1990), 381 ff. Aghion/Hermalin, JLEO 6 (1990), 381, 397 (Korollar 3) sowie 403: „Under asymmetric information, a contract plays two roles. First, it sets the terms of trade, and second, it can reveal private information. As it is the first role that determines the efficiency of a contract, the second role can lead to inefficiency. Restrictions on contracts can increase efficiency if they limit the signaling role without adversely affecting the terms of trade role.“; vgl. auch die Ausführungen bei Hermalin/Katz, JLEO 9 (1993), 230, 245 ff. 254 Aghion/Hermalin, JLEO 6 (1990), 381, 396 f. (Abb. 5b und zugehöriger Text), 403. Vgl. auch Aghion/Bolton, Am. Econ. Rev. 77 (1987), 388 ff., 395 f., die zeigen, dass unter bestimmten Umständen Informationsasymmetrien die negativen Wirkungen von Marktmacht in Schranken hält. 255 Hermalin/Katz, JLEO 9 (1993), 230, 245 ff. mit Fn. 25: „If the uninformed seller made the contract offer, then the equilibrium in the absence of judicial modification would be Pareto efficient given the information structure (given that she has no private information to signal), the seller always would make a Pareto-efficient contract offer.“; gleichsinnig Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 37: „Because the uninformed party cannot signal information, changing the contract space cannot change the informed party’s acceptance rule.“ Der Unterschied zum Signalling-Szenario wird damit erklärt, dass dort nicht internalisierbare Externalitäten auftreten können, beim Screening-Szenario hingegen nicht. S. Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 37 f.: Die Externalität ergibt sich aus der möglichen Bereitschaft des „schlechten“ Unternehmers, sich als „guter“ Unternehmer auszugeben, was den „guten“ Unternehmer erst zur Aussendung kostspieliger Signale veranlasst. 253
130
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
Umständen auch beim Screening-Szenario möglich.256 Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass die Screening-Funktion des Vertragsangebots seine Funktion zur wohlfahrtsmaximierenden Allokation von Gütern und Leistungen beeinträchtigen kann. Diese Ineffizienz könnte ein Eingriff in die Vertragsfreiheit unter Umständen beheben, freilich auf Kosten derjenigen Vertragspartei, die aus dem Screening Vorteile zieht (mithin keine Pareto-Verbesserung).257 2.2.4 Informationsasymmetrien bei Verhandlungsungleichgewicht Bereits sehr früh hat man versucht das bekannte Marktversagen bei Marktmacht bzw. Monopolmacht258 als Erklärung für ineffiziente Vertragsinhalte fruchtbar zu machen.259 Zu den besonders einflussreichen Pionierbeiträgen gehört ein Aufsatz von Friedrich Kessler, in dem er im Zusammenhang mit Standardverträgen auf die Verhandlungsmacht des Monopolisten verweist: Aufgrund der Monopolstellung des Anbieters habe die schwächere Gegenpartei allein die Wahl, ob sie sich dem ihr diktierten Vertrag unterwerfe oder nicht. Es handele sich dann um „contracts of adhesion; they are à prendre ou à laisser“.260 In seiner Coase Lecture hat Richard Craswell jedoch zutreffend darauf hingewiesen, dass Monopolisten üblicherweise keine Anreize haben, ihre Monopolrente nicht direkt über den Preis abzuschöpfen, sondern den Umweg über ineffiziente Vertragsklauseln zu gehen. Anderes könne zwar gelten, wenn sich solche Vertragsklauseln als Screening-Instrument zum Zwecke der Preisdiskriminierung einsetzen ließen. Dann aber beruhe der Wohlfahrtsverlust letztlich auf der Informationsasymmetrie und nicht auf der Marktmacht.261 Würde aber die ineffiziente Screening-Klausel von Rechts wegen verboten, führte dies nur zu einer Strategieänderung dahin, dass der Monopolist nunmehr einen einheitlichen Monopolpreis 256 S. bereits Hermalin/Katz, JLEO 9 (1993), 230, 245 mit Fn. 25: „However, as can be shown by example, even in this situation [i.e. screening-scenario] the equilibrium absent judicial modification may fail to maximize total surplus given the information structure.“ Dieses Beispiel liefern Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 38 nach. 257 Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 39: „When there is asymmetric information, transfers are called upon to serve double duty. They continue to be a means of transferring surplus so that the welfare-maximizing allocation might be viewed as Pareto efficient by the parties. But, with asymmetric information, they are also a means of screening the different types. […T]his second duty impedes transfers from doing the first optimally.“ 258 S. hierzu nur Pindyck/Rubinfeld, Mikroökonomie, 7. Aufl. 2009, S. 792; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 58 ff. 259 S. dazu Craswell, Freedom of Contract, The Coase Lecture Series, 1995, S. 6: „Indeed, for a long time many courts and legal scholars assumed that, if inefficient contract terms seemed to be persisting in certain markets, it must be due to monopoly power.“; ferner die Besprechung der Entscheidung des House of Lords in der Sache Macaulay v Schroeder Publishing Co Ltd. bei Trebilcock, U. Toronto L.J. 26 (1976), 359, 381 ff. 260 Kessler, Colum. L. Rev. 43 (1943), 629, 632. Vgl. auch Choi/Triantis, Va. L. Rev. 98 (2012), 1665, 1695. 261 S. zu diesem Punkt ausführlich Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 39 f.
II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen
131
verlangen würde.262 Er schließt daher mit der weithin geteilten Annahme: „I think the focus on monopoly power is really a red herring where contract terms are concerned.“263 Ein Ungleichgewicht in der Verhandlungsmacht der Parteien kann mithin für sich genommen einen Eingriff in die Vertragsfreiheit aus Effizienzgründen264 nicht rechtfertigen. In diesen Fällen auftretende Ineffizienzen beruhen vielmehr regelmäßig auf hinzutretenden Informationsasymmetrien.265 2.3 Rationalitätsdefizite als Form des Verhandlungsversagens im Besonderen Das Coase-Theorem266 geht – ebenso wie die gesamte traditionelle Vertragstheorie267 – von der Rationalität der Akteure aus. Gemeint ist damit Rationalität in Form der REMM-Hypothese.268 Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass die Parteien eines Vertrages nur den ihren (subjektiven) Erwartungswert maximierenden Vertragsinhalt wählen können, wenn sie die (subjektiven) Erwartungswerte aller Entscheidungsoptionen zunächst korrekt, d.h. entsprechend den Regeln des Rationalwahlmodells269, berechnet haben (formale Rationalität).270 Hierzu gehört bei Entscheidungen unter Unsicherheit insbesondere die richtige Berechnung von (subjektiven) Wahrscheinlichkeiten.271 262
Craswell, Freedom of Contract, Coase Lecture Series, 1995, S. 6 f. Craswell, Freedom of Contract, Coase Lecture Series, 1995, S. 9. 264 Vgl. insofern etwa Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 615 ff., der nicht Effizienz-, sondern Umverteilungsgesichtspunkte anführt. Jüngst ferner Choi/Triantis, Va. L. Rev. 98 (2012), 1665, 1731: „When parties are rational and fully informed about the terms of their agreement, distributional concerns are less severe because at least each party is better off than without an agreement.“ Vgl. auch E. Posner, Yale L.J. 127 (2003), 829, 843: „These [economic] theories do not describe what courts do.“ 265 S. dazu neben dem bereits zitierten Craswell, Freedom of Contract, Coase Lecture Series, 1995, S. 6 f.; etwa Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 40: „Hence, the welfare loss typically seen with monopoly stems not from market power alone, but from the combination of market power and asymmetric information.“; s. auch Schwartz/Wilde, U. Pa. L. Rev. 127 (1979), 630, 666–71. Letztlich auch Choi/Triantis, Va. L. Rev. 98 (2012), 1665, 1706: „This result yields the bargaining power irrelevance proposition under the strong assumption of complete and symmetrical information[…]. As we will see […], the combination of bargaining power and asymmetric information leads to inefficient nonprice terms.“ 266 Klar insofern die Formulierung des Coase-Theorems bei Calabresi, dazu oben unter § 4 II.1.2. 267 S. insofern nur Schweizer, Vertragstheorie, 1999, S. 15 und passim. 268 Ausführlich dazu oben unter § 4 I.2. 269 S. dazu oben unter § 4 I.2.3 und § 4 I.2.4. 270 Eisenberg, in: Newman (ed.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, 1998, S. 282 unter Verweis auf Dawes, Rational Choice in an Uncertain World, 1988: „According to the standard economic model of choice, an actor who must make a choice in the face of uncertainty will rationally select the option that maximizes his subjective expected utility.“; dazu kürzlich Peppet, UCLA L. Rev. 59 (2012), 676, 731 ff., 732 f.; gleichsinnig etwa Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 40 f. 271 S. wiederum Eisenberg, in: Newman (ed.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, 1998, S. 282: „Rationality requires, among other things, that when consequences are uncertain, their likelihood is evaluated without violating the basic rules of probability theory.“ 263
132
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
Die Annahme formaler Rationalität ist jedoch empirisch widerlegt: Zu den begrenzten Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazitäten menschlicher Entscheider (begrenzte Rationalität)272 gesellen sich systematische Abweichungen des tatsächlichen Entscheidungsverhaltens von der Modellfigur des rationalen Nutzenmaximierers. Auf diesen Belegen baut die Forschungsrichtung der Verhaltensökonomik auf, deren Aussagen an späterer Stelle ausführlich gewürdigt werden.273 Aus dem rational defizitären Verhalten des Menschen (limits of cognition) hat wohl erstmals Melvin A. Eisenberg in einem viel beachteten Beitrag weitreichende Aussagen zur Effizienz eines Regimes vollständiger Vertragsfreiheit und ihrer Begrenzung durch Vertragsrecht abgeleitet.274 Seine Hauptthese besagt, dass sich die beobachtbare Begrenzung der Vertragsfreiheit durch das Vertragsrecht vielfach als effizienzsteigernde Antwort auf Rationalitätsdefizite menschlicher Entscheider begreifen und erklären lässt. 2.3.1 Wohlfahrtsverluste bei beschränkter Rationalität einer Vertragspartei Im Anschluss an das Satisficing-Konzept von Herbert Simon275 hat die vertragstheoretische Forschung Informationsaufnahme- und -verarbeitungsgrenzen menschlicher Entscheider bereits relativ früh in „Lesekosten“ oder allgemeiner „Verständniskosten“ übersetzt, um sie sodann in ihr Transaktionskostenmodell zu integrieren.276 Der Begriff „Verständniskosten“ zeigt zudem, dass man die beschränkte Rationalität einer oder beider Vertragsparteien auch als Kommunikationsproblem, mithin wiederum als Problem der Informationsverteilung begreifen kann.277 Freilich scheint mittlerweile die Ansicht zu überwiegen, dass Rationalitätsgrenzen als eigenständige Form des Marktversagens von Informationsasymmetrien zu unterscheiden sind.278 Ungeachtet der Einordnung gilt jedenfalls im Ergebnis: Immer dann, wenn Vertragsparteien aufgrund ihrer beschränkten Informationsaufnahme- und -verarbeitungskapazitäten rationalerweise279 den In272
S. dazu bereits oben unter § 4 I.2.4.2. S. dazu unten unter § 5. 274 Eisenberg, The Limits of Cognition and the Limits of Contract, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211 ff. S. hier ferner etwa Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1082; zur Bedeutung der Arbeiten von Eisenberg etwa auch Peppet, UCLA L. Rev. 59 (2012), 676, 733; dazu auch Hermalin/Katz/ Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 41 f. 275 S. dazu oben unter § 4 I.2.4.2. 276 S. für einen frühen Beitrag Katz, RAND J. Econ. 21 (1990), 518 ff.; aus jüngerer Zeit ferner Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 41 ff. m.w.N. 277 Vgl. insofern die Ausführungen bei Peppet, UCLA L. Rev. 59 (2012), 676, 736 ff. zur Verwendung von Sorting- und Signalling-Strategien zur Überwindung von Rationalitätsdefiziten. 278 S. für diese Sichtweise jüngst Peppet, UCLA L. Rev. 59 (2012), 676, 731 m.w.N. 279 S. zur begrenzten Rationalität des Simon’schen „Satisficer“ oben unter § 4 I.2.4.2; vgl. allgemein auch Tietzel, Jb. für Sozialwissenschaft 103 (1983), 115, 130 f., der insofern von subjektiver Rationalität spricht. Vgl. insofern auch Eisenberg, in: Newman (ed.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, 1998, S. 282, 283: „However, even if actors follow the model of optimal decision-making procedure, so that their ignorance of undiscovered alternatives and consequences is rational, their calculations concering the alternatives and consequences they do consider may not be rational.“ 273
II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen
133
halt einer Klausel ignorieren (bounded rationality nach Simon), weil der „Verständnisaufwand“ zu hoch ist, können sich Wohlfahrtsverluste einstellen, die Raum für wohlfahrtssteigernde Eingriffe in die Vertragsfreiheit eröffnen.280 2.3.2 Wohlfahrtsverluste bei systematischen Entscheidungsfehlern Die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik gehen aber weit über das Simon’scheModell hinaus: Zu ihren kardinalen Einsichten gehört es nämlich, dass menschliche Entscheider aufgrund von Wahrnehmungsverzerrungen und der Anwendung von Heuristiken systematische Entscheidungsfehler begehen. Hierzu gehört namentlich die systematische Fehleinschätzungen von Wahrscheinlichkeiten bei Entscheidungen unter Unsicherheit.281 In der Folge werden vertragsrelevante Risiken und die ihrer Zuordnung dienenden Vertragsklauseln falsch bepreist oder (aufgrund unterschätzter Risiken diesmal) irrationalerweise ignoriert. Auch hieraus ergeben sich – teils ganz erhebliche – Wohlfahrtsverluste, die einen rechtlichen Eingriff in die Vertragsfreiheit rechtfertigen können.282 Gerade diese Legitimationsquelle für die rechtliche Intervention in das Vertragswerk der Parteien wird für die weitere Untersuchung eine entscheidende Rolle spielen.
3. Zwischenfazit – Effizienzziel und Funktion des Vertragsrechts Unter den idealen Annahmen des Coase-Theorems wird ein wohlfahrtsmaximierender Zustand allein durch Verhandlungen und daran anknüpfenden Güteraustausch unter den betroffenen Akteuren erreicht. Für die Verfolgung und Erreichung des Effizienzzieles bedarf es mithin keiner rechtlichen Vorgaben. Die idealen Annahmen des Coase-Theorems decken sich aber nicht mit der Realität. In dieser verhindern Transaktionskosten, Informationsasymmetrien, Rationalitätsdefizite der Akteure und andere Fälle von Marktversagen die Wohlfahrtsmaximierung. Aus ökonomischer Perspektive kommt dem Recht hier die Aufgabe zu, Regeln bereitzustellen, den Ist-Zustand dem unter idealen Bedingungen wohlfahrtsmaximierten Zustand weitestgehend anzunähern. Das Recht ist also ein Instrument zur Erreichung des Effizienzzieles.283 Speziell dem Ver280 S. dazu die Ausführungen bei Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 597 ff.; Craswell, U. Chi. L. Rev. 60 (1993), 1, 8 und ff.; Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 251 ff.; für ein formales Modell Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 41 ff., mit dem kontraintuitiven Ergebnis, dass nicht der nur beschränkt rationale Vertragspartner die Kosten für seine – ihm bewussten (!) – Verständnisdefizite trägt, sondern der (vollständig) rationale „Klauselverwender“. Freilich erscheint die Annahme, dass ein Akteur zwar eine Klausel nicht versteht, die Kosten für ihre Außerachtlassung aber korrekt einschätzen kann, wenig realistisch. 281 S. hier nur Eisenberg, in: Newman (ed.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, 1998, S. 282, 283 und passim; zum Ganzen ausführlich im folgenden § 5. 282 Grundlegend Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211 ff. Dazu ausführlich im Laufe der weiteren Untersuchung. 283 Deutlich Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 63.
134
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
tragsrecht kommt – vorbehaltlich negativer Externalitäten – mithin die Aufgabe zu, den gemeinsamen Nutzen aller Vertragsparteien zu maximieren. 3.1 Zulassung von Markttransaktionen Dies setzt zunächst voraus, dass das Recht den Güteraustausch, einschließlich des Handels von Rechtspositionen an Gütern, überhaupt zulässt.284 Dieser Vorgabe werden jedenfalls die westlichen Rechtsordnungen regelmäßig gerecht. Es gibt aber auch Ausnahmen. So bestimmen die meisten Rechtsordnungen die Unveräußerlichkeit gewisser Rechtspositionen und Güter und verbieten entsprechende Transaktionen.285 3.2 Erleichterung von Markttransaktionen Für die Annäherung der Wirklichkeit an die idealen Zustände des Verhandlungsmodells nach Coase kommt dem Recht die Aufgabe zu, Markttransaktionen zu erleichtern, insbesondere Transaktionskosten zu minimieren.286 Das Vertragsrecht einschließlich der ergänzenden Vertragsauslegung durch die Gerichte tut dies auf zweierlei Weise287: Es ordnet den Parteien die Vertragsrisiken in der Weise zu, wie es Parteien in einer Welt ohne Transaktionskosten in einem vollständigen Vertrag an ihrer Stelle getan hätten (1). Die Rechtsordnung entlastet die Parteien auf diese Weise von den Kosten eines vollständigen Ausverhandelns des Vertragsinhalts (Entlastungsfunktion).288 Ferner senkt das Vertragsrecht das Risiko opportunistischen Verhaltens der Parteien vor und nach Vertragsschluss, indem es verbindliche Informations- und Verhaltensregeln sowie Mechanismen zum Schutz vertragsspezifischer Investitionen vorhält (2).289 In seiner transaktionskostensenkenden Funktion lässt sich das Vertragsrecht in einem System der Vertragsfreiheit als „Schmiermittel“ für die Nutzung des Marktes begreifen.290
284
S. nur Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 63 f. S. bereits oben unter § 4 I.1.1.5.2 sowie etwa Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 23 ff. 286 S. statt vieler Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 64. 287 S. zum Folgenden die Ausführungen bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 428, die freilich die (hier) zweite Funktion noch einmal unterteilen. 288 S. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 64; ferner Shavell, Foundations of Law and Economics, 2004, S. 302: „The advantage to parties of correct interpretation of their intentions by courts is […] that the parties can omit more explicit terms and thereby save drafting and negotiating costs.“; ausführlich zur Rekonstruktion des vollständigen Vertrages durch die Rechtsordnung etwa Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 431 ff. 289 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 428. S. zur rechtlichen Antwort auf Ex post-Opportunismus noch ausführlich mit Blick auf das Ehevertragsrecht und das Gesellschaftsrecht in den §§ 7 und 8. 290 So die Beschreibung bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 428. 285
II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen
135
3.3 Simulation des Marktmechanismus In Fällen des Marktversagens oder bei prohibitiv hohen Transaktionskosten, in die sich auch kognitive Defizite und irrationales Verhalten übersetzen lassen291, kann das Recht wohlfahrtsfördernde Wirkung entfalten, indem es das Ergebnis der Verhandlungslösung bei idealen Bedingungen nachbildet. Dies setzt zunächst die Rekonstruktion der hypothetischen Verhandlungslösung voraus. Es ist also zu fragen, „welche Regelung rational und eigennützig handelnde Parteien bei Abwesenheit von Transaktionskosten getroffen hätten“.292 Die hypothetische Vertragsregelung kann dann in einem zweiten Schritt durch das Recht nachgeahmt werden.293 In Abwesenheit handfester empirischer Belege beinhaltet die Rekonstruktion der hypothetischen Vertragslösung freilich eine Wertung darüber, wie diese Lösung denn aussähe. Eine solche Wertung ist naturgemäß abhängig davon, wer sie vornimmt, und kann daher durchaus unterschiedlich ausfallen. Allerdings erscheint es zu pessimistisch, wenn Skeptiker äußern, mit dem Effizienzargument lasse sich daher beinahe jedes Ergebnis rechtfertigen.294
4. Eingriffe in die Vertragsfreiheit: Effizienz versus Verteilungsgerechtigkeit Die Verbindlichkeit von Verträgen und damit auch ihre Grenzen werden häufig mit anderen als Effizienzgründen gerechtfertigt; hierzu zählen namentlich Erwägungen der Verteilungsgerechtigkeit oder der Selbstbestimmung.295 Dabei streiten auf die Gewährleistung individueller Freiheit und Selbstbestimmung gestützte Vertragstheorien296 ebenso wie ökonomische Vertragstheorien grundsätzlich für die Vertragsfreiheit.297 Auch Regelungen, die bestimmte Rechte und 291
S. oben unter § 4 II.2.3. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 65. 293 Zum interventionistischen Charakter solcher Regelungen s. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 65 ff. m.w.N. 294 S. Kennedy, Md. L. Rev 41 (1982), 563, 599 ff. mit anschaulichem Beispiel. 295 S. zur nicht-ökonomischen Rechtfertigung von Eingriffen in die Vertragsfreiheit und ihrem Verhältnis zu den hier dargestellten Effizienzerwägungen insbesondere Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 17 ff. und passim; Craswell, in: Bouckaert/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. III, 2000, S. 1, 16 ff.; Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/ Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 46 f. 296 Hierzu gehört namentlich die sog. Willenstheorie, s. dazu Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, 2. Aufl. 1975, S. 54; aus U.S.-amerikanischer Perspektive etwa Horwitz, Harv. L. Rev. 87 (1974), 917, 946 ff.; Kennedy, Suffolk U. L. Rev. 36 (2003), 631, 637 ff. 297 Craswell, in: Bouckaert/De Geest (eds.), Encyclopedia of Law and Economics, Vol. III, 2000, S. 1, 16 ff.; Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 46, dort auch zu möglichen Unterschieden in den Fällen von Marktversagen oder bei erheblichen Transaktionskosten; ausführlich Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 241 ff. unter der Überschrift „Autonomy and Welfare“. S. speziell zu Fällen eines „autonomiefördernden Paternalismus“ Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 292
136
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
Rechtsgüter der Disposition durch ihren Inhaber entziehen, lassen sich nicht immer als effiziente Antwort auf ein Markt- oder Verhandlungsversagen erklären298 und sind dann theoretisch am überzeugendsten als wertebasierte Abwägungsverbote299 einzuordnen.300 Dies betrifft vor allem Rechte und Rechtsgüter, die als grundlegende Aspekte der persönlichen Identität und Selbstbestimmung und damit der Menschenwürde oder auch der Eigenschaft als Staatsbürger begriffen werden. Insofern sei noch einmal an das Verbot des Selbstverkaufs in die Sklaverei erinnert.301 Schließlich spielt auch im Vertragsrecht, insbesondere im Verbrauchervertragsrecht, die Idee der Verteilungsgerechtigkeit als Alternative zum Effizienzmaßstab eine prominente Rolle.302 Das Verhältnis dieser beiden Wertungskriterien soll im Folgenden mit Blick auf das Vertragsrecht in der gebotenen Kürze näher beleuchtet werden. 4.1 Das Verhältnis von Effizienz und Umverteilung Das ökonomische Effizienzziel ist auf die Maximierung der Wohlfahrt aller Betroffenen gerichtet ohne Rücksicht darauf, wie sich der maximierte Nutzen unter den Betroffenen verteilt. Dies bedeutet für die auf Effizienz gerichtete ökonomische Analyse des Vertragsrechts, dass regulatorische Eingriffe in die Vertragsfreiheit nicht danach bewertet werden, wie sich Vorteile und Nachteile einer Regelung auf die Vertragsparteien verteilen.303 Vielmehr werden regulatorische Eingriffe, die nicht auf die Wohlfahrtsmaximierung durch effiziente Güteralloka298 2005, S. 374 ff. Freilich geht es ihm hier um Fälle, in denen die vom Welfarismus vorausgesetzte Präferenzautonomie zumindest zweifelhaft ist. In diesen Fällen stellt sich die „Autonomieförderung“ also letztlich auch als Effizienzförderung heraus, weil der einzelne Akteur darin unterstützt wird, seinen „wahren“ Präferenzen zu folgen und so seinen „eigentlichen“ Nutzen zu maximieren. S. dazu noch ausführlich im Rahmen dieser Arbeit. Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, begreift hingegen nutzenorientierte und liberale Regelungspolitik gerade vor dem Hintergrund eines um sich greifenden (Rechts-)Paternalismus im Wesentlichen als Gegensatzpaar. 298 So etwa die noch zu besprechenden Grenzen der Abdingbarkeit der gesellschafterlichen Treuepflicht [dazu ausführlich unten unter § 8 V.2.4.1]; allg. Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 47 f. 299 S. dazu allgemein bereits oben unter § 4 I.1.1.5.2. In diesem Sinne auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 385 ff. unter Berufung auf das „Personalitätsprinzip“. 300 Die Nichtveräußerlichkeit oder Handelbarkeit des betreffenden Gegenstandes als ein der individuellen Nutzenfunktion vorausliegendes und einer Nutzenabwägung nicht zugängliches Interesse wird in der englischsprachigen Literatur unter dem Stichwort „commodification“ diskutiert. S. etwa Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, S. 22 ff.; Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 47 f. 301 S. dazu aus ethischer und verfassungsrechtlicher Perspektive bereits oben unter § 2 VIII.2.2 und § 3 VI.3. 302 S. dazu jüngst wieder Bagchi, Distributive Justice and Contract, in: Klass/Letsas/Saprai (eds.), Philosophical Foundations of Contract Law (im Erscheinen). 303 Craswell, Stan. L. Rev. 43 (1991), 361. Selbstverständlich kann aber der Umverteilungseffekt einer rechtlichen Regelung effizienzfördernde Wirkung haben und in dieser Eigenschaft ökonomisch sinnvoll sein. So verhält es sich insbesondere bei Regelungen, die Externalitäten internalisieren. S. nur Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 46.
II. Die ökonomische Theorie der Vertragsfreiheit und ihrer Grenzen
137
tion, sondern (auch) auf Umverteilung zur Schaffung von mehr Verteilungsgerechtigkeit gerichtet sind, nicht selten mit dem Effizienzziel konfligieren.304 4.2 Umverteilung zwischen den Vertragsparteien In der ökonomischen Forschung herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass das Privatrecht ein ineffizientes und daher ungeeignetes Umverteilungsinstrument ist, weil die Zuordnung zu einer Marktseite (Unternehmer/Verbraucher) nur sehr bedingt Auskunft über die tatsächliche Bedarfslage gibt (1), sich die Umverteilungseffekte nur schwer vorhersehen lassen (2) und die Kosten der Umverteilung hoch sind (3).305 Die Einwände gegen die Umverteilung durch Privatrecht lassen sich für Eingriffe in die Vertragsfreiheit durch Vertragsrecht präzisieren. Auch solche Eingriffe eignen sich allenfalls sehr bedingt zur Umverteilung zwischen Angebotsund Nachfrageseite. Die durch den regulatorischen Eingriff in den möglichen Vertragsinhalt belastete Marktseite (typischerweise der Unternehmer) wird regelmäßig mit einer Preisanpassung reagieren. Dies führt wiederum dazu, dass diejenige Partei, die von dem Umverteilungseffekt der Regelung profitieren soll (Verbraucher), hierfür den Preis an die vertragliche Gegenpartei zu entrichten hat.306 Anders gewendet: Die Kosten des regulatorischen Eingriffs werden (teilweise) über den Preis auf die Gegenseite abgewälzt. Ist eine solche Kostenüberwälzung aber nicht vollständig möglich307, so ist dies auch308 ein Indiz dafür, dass die kostspielige rechtliche Regelung für die Nachfrageseite „ihren Preis nicht wert ist“.309 304 Vgl. etwa Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. XL f.; Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 46; monographisch Okun, Equality and Efficiency: The Big Trade-off, 1975. 305 S. Cooter/Ulen, Law & Economics, 6th ed. 2011, S. 8 f.; ferner ausführlich (und eindringlich) Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 654 ff. Diese Einwände mögen in bestimmten Konstellationen weniger überzeugend sein als in anderen, vgl. Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 772 zur Umverteilung durch Mietrecht; s. insofern auch Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, 3. Aufl. 2009, S. 222 f. 306 Vgl. etwa Buchanan, U. Chi. L. Rev. 38 (1970), 64, 66 f.; Craswell, Stan. L. Rev. 43 (1991), 361 et passim; Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 46; Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 653 f. 307 S. die Analyse bei Craswell, Stan. L. Rev. 43 (1991), 361, 366 ff., welche (vorerst) den Nutzen der rechtlichen Regelung für die Nachfrageseite außer Acht lässt; vgl. auch Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 773 f.; Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 604 ff.; ferner Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 654: „It is true that price changes do not always offset the influence of legal rules on prices“. 308 Zum speziellen Fall der Marktmacht des Anbieters ausführlich Spence, Bell J. Econ. 6 (1975), 417 ff. 309 Craswell, Stan. L. Rev. 43 (1991), 361, 372: „[I]f less than 100 percent of the costs are passed on, the rule has made the product/warranty package less attractive to consumers, which implies that the rule is not very good for consumers“; gleichsinnig Bar-Gill/Ben-Shahar, CML Rev. 50 (2013), 109, 110 et passim in ihrer Kritik am Draft Common European Sales Law (CESL). Vgl. bereits Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 607 f.: „The decision maker makes the duties compulsory or non-waivable precisely because he believes that people value them so little they won’t buy them
138
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
Allgemeiner lässt sich formulieren: Da sich der Nutzen der rechtlichen Regelung für die Nachfrager (Verbraucher) im Preis niederschlägt, steigt dieser Nutzen mit der Möglichkeit der Anbieter die Kosten der Regelung – entgegen dem intendierten Umverteilungseffekt – auf die Nachfrager abzuwälzen.310 Sind die Präferenzen in Bezug auf den rechtlichen Eingriff in die Vertragsfreiheit innerhalb der Gruppe der Nachfrager uneinheitlich (heterogen), dann hat diese Regelung zwar einen Umverteilungseffekt. Dieser stellt sich aber innerhalb der Gruppe der Nachfrager ein, so dass einige Nachfrager von der rechtlichen Regelung profitieren, während andere Nachteile erleiden.311
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus Für effizienzsteigernden Rechtspaternalismus besteht nach dem Gesagten kein Raum, sofern bereits die Marktlösung, sprich: die Vertragsfreiheit, über den Preismechanismus effiziente Ergebnisse gewährleistet. An das Coase-Theorem anknüpfend hat die ökonomische Vertragstheorie die maßgeblichen Funktionsbedingungen der Vertragsfreiheit identifiziert und damit zugleich die möglichen Einbruchstellen für eine rechtliche Intervention aufgezeigt.312 Sowohl im rechtswissenschaftlichen wie im rechtsökonomischen Schrifttum hat man es verschiedentlich unternommen, diese ökonomischen Begründungsmuster für eine rechtliche Intervention (Stichwort: Marktversagen313) für eine Rechtfertigung rechtspaternalistischer Eingriffe fruchtbar zu machen.314 Die hierbei zu Tage geförderten Ergebnisse werden im Folgenden anhand einiger ausgewählter Paternalismuskonzepte dargestellt und gewürdigt (2.), bevor der Versuch unternommen wird, die Grundbausteine eines der Effizienzförderung verschriebenen Paternalismuskonzepts aus dem angehäuften Material herauszupräparieren (3.). Zuvor ist jedoch noch einmal an einen bereits angesprochenen Punkt zu erinnern315 (1.): 310 of their own account.“ Freilich weist Kennedy zu Recht darauf hin, dass eine Überwälzung der Kosten schlicht daran scheitern kann, dass die Nachfrager sich das Leistungspaket dann nicht mehr leisten können. S. wiederum Craswell, Stan. L. Rev. 43 (1991), 361, 372 für den umgekehrten Fall, dass die Anbieterseite den Preis hingegen über die durch die Regelung zu gewärtigen Kosten anziehen: Diesfalls schätze der Nachfrager (bspw. Verbraucher) das Leistungspaket inklusive rechtlicher Regelung höher als ohne. Die Regelung nütze den Nachfragern also, ohne freilich die intendierte Umverteilung zu bewirken. 310 S. Craswell, Stan. L. Rev. 43 (1991), 361, 372, 398: „Paradoxical as it may seem, the rules whose costs are most heavily passed on are also the rules that will benefit consumers the most.“ 311 S. wiederum Craswell, Stan. L. Rev. 43 (1991), 361, 372 ff., 398: „In such a case, the pro-consumer analyst must look to the redistribution among consumers because some consumers are likely to gain from the rule while others lose.“; ganz knapp auch Hermalin/Katz/Craswell, in: Polinsky/Shavell (eds.), Handbook of law and economics, Vol. I, 2007, Ch. 1, S. 46. 312 S. dazu Ayres, Yale L.J. 112 (2003), 881 ff.; äußerst kritisch hingegen E. Posner, Yale L.J. 112 (2003), 829 ff. 313 Dazu ausführlich oben unter § 4 II.2. 314 S. hier nur Zamir, Va. L. Rev. 91 (1998), 229, 246 f.; ausführlich sogleich unter § 4 III.2. 315 S. dazu bereits oben unter § 4 II.2.1.
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
139
1. Vorweg: Negative Externalitäten als untaugliche Begründung für Rechtspaternalismus Zunächst lässt sich festhalten, dass ein Marktversagen in Form (nicht internalisierter) negativer Externalitäten zur Begründung von Rechtspaternalismus nicht taugt und daher im Weiteren ausgeblendet werden kann. Denn die paternalistische Intervention ist per definitionem durch die Motivation gekennzeichnet, den Adressaten vor eigenem Verhalten zu bewahren.316 Bei einer Intervention zur Internalisierung (oder Vermeidung) negativer Externalitäten geht es – wiederum definitionsgemäß – hingegen um die Einwirkung auf ein Verhalten, das sich negativ auf vom Akteur verschiedene Dritte auswirkt.317 Mit anderen Worten: Rechtspaternalismus einerseits und Regulierung negativer Externalitäten andererseits haben unterschiedliche, einander nicht überschneidende Regulierungsanliegen.318 Dies schließt freilich nicht aus, dass eine Regelungsmaßnahme zugleich beide Regulierungsanliegen verfolgt.
2. Ausgewählte Konzepte eines effizienzsteigernden Paternalismus 2.1 Vorarbeiten: Vereinbarkeit von Paternalismus und Effizienzziel (Kennedy) Zu Beginn der Debatte um das Verhältnis von Paternalismus und Effizienzziel im Vertragsrecht hat Duncan Kennedy in einem Aufsatz aus dem Jahre 1982 wichtige Aussagen der später von anderen Stimmen vorgetragenen Konzepte eines effizienzsteigernden Paternalismus vorweggenommen.319 Kennedy versteht Rechtspaternalismus noch nicht als Mittel zur Erreichung des Effizienzziels. Vielmehr begreift er Paternalismus und Effizienz als unterschiedliche Motive des Gesetzgebers zur Einschränkung der Vertragsfreiheit.320 Paternalismus definiert er dabei eng als Intervention zur Verbesserung der individuellen Wohlfahrt des Schutzadressaten durch Einwirkung auf dessen Verhalten entgegen dessen Präferenzen, aber in dessen „eigenem wahren Interesse“.321 Eine dem Effizienzziel verpflichtete Intervention sei hingegen darauf gerichtet, die Adressaten zu einer Einigung zu bewegen, die sie auch nach dem status quo 316
Zur Paternalismusdefinition s. oben unter § 2 II. S. zum Begriff bereits oben unter § 4 II.2.1. 318 Diese (begriffsimmanente) „Blindheit“ des Paternalismus für negative Externalitäten wird im rechtsökonomischen Schrifttum neuerdings zum Anlass genommen, ihm die normative Regulierungstheorie des „Welfarismus“ gegenüber zu stellen. S. Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651 ff., 1665 f., 1673 ff., der sich für einen „Libertarian Welfarism“ einsetzt. Freilich liegt dessen Kritik an der Nichtberücksichtigung negativer Externalitäten im Konzept des „libertarian paternalism“ neben der Sache. Denn soll es um Paternalismus gehen, spielen derlei Externalitäten eben keine Rolle. 319 S. Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563 ff. 320 In diese Richtung auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 323 ff. mit 358 ff. 321 Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 572. 317
140
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
getroffen hätten, wären sie nicht durch prohibitiv hohe Transaktionskosten hieran gehindert. Der Unterschied zum Rechtspaternalismus liegt danach darin, dass für die effizienzfördernde Intervention angenommen wird, dass der Eingriff den Präferenzen der Adressaten entspricht.322 Kennedy hält es aber keineswegs für ausgeschlossen, dass ein zwingendes Regelungsregime zugleich paternalistisch motiviert und am Effizienzziel ausgerichtet ist.323 Möglich ist dies dann, wenn die Präferenzformung des betreffenden Entscheiders imperfekt ist. Dann kann eine paternalistisch motivierte Intervention effizient sein, wenn man die „wahren“, d.h. „korrekt“ geformten Präferenzen des Entscheiders dem Effizienzkalkül zugrunde legt.324 Dies bedeutet eine Zurückweisung der theory of revealed preferences325 insofern, als die im Entscheidungsverhalten des Einzelnen offenbar werdenden Präferenzen, nicht immer „korrekt“ gebildet und damit anerkennenswert sind. 2.2 Effizienz als bloße Teilerklärung von Paternalismus im Vertragsrecht (Kronman) In seiner Studie über die Erklärung und Legitimation von Rechtspaternalismus im U.S.-amerikanischen Vertragsrecht beschäftigt sich Kronman mit paternalistischen Eingriffen in die Vertragsfreiheit, verstanden als Freiheit ein rechtsverbindliches Versprechen abzugeben.326 Als paternalistisch versteht er einen Eingriff, der ein Verhalten unterbindet, weil es den eigenen Nutzen des Akteurs beeinträchtigen würde.327 In seinem Bestreben, einen Standard zur Erklärung und Bewertung paternalistischer Maßnahmen zu ermitteln, warnt er gleich zu Beginn seiner Ausführungen: „It would be a mistake […] to assume that there is a single principle that best explains every paternalistic restriction in our law of contracts.“328 Kronman macht vielmehr drei verschiedene Begründungsansätze für die paternalistisch motivierte Einschränkung der Vertragsfreiheit aus: Ökonomische Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit (1), Persönliche Integrität (2) sowie sound judgment (3). Dabei stehen diese drei Erklärungsansätze nicht in einem strengen Exklusivitätsverhältnis zueinander; vielmehr bestehen nach Kronman bedeutende Überschneidungen.329 Ökonomische Effizienz – so die Quintessenz der Studie – kann 322
Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 573. Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 629. 324 S. – freilich weitgehend implizit – Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 629 ff. 325 S. dazu oben unter § 4 I.2.2.2.2. 326 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 764: „[…] I shall be concerned with […] those [legal rules] that may properly be regarded as belonging to the law of contracts because the liberty they restrict is the liberty to bind oneself by making a legally enforceable promise.“ 327 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763: „In general, any legal rule that prohibits an action on the ground that it would be contrary to the actor’s own welfare is paternalistic.“ 328 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 765. 329 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 765. 323
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
141
mithin die paternalistischen Eingriffe in die Vertragsfreiheit nach geltendem Recht nur sehr partiell erklären: 2.2.1 Unabdingbarkeit bestimmter Gewährleistungsrechte und Produktstandards Nach Kronman kann allein die paternalistisch motivierte Unabdingbarkeit bestimmter Gewährleistungsrechte mit Hilfe des ökonomischen Effizienzgedankens einigermaßen überzeugend begründet werden.330 Die von ihm vorgebrachte Erklärung greift allerdings nur in engen Grenzen: Können erstens (Gewährleistungs-)Rechte vertraglich aufgegeben werden, geschieht dieser Verzicht zweitens zumeist aufgrund einer (arglistigen) Täuschung, und kann drittens die Täuschung nur selten nachgewiesen werden, dann sei es vorstellbar, dass die durch die Unabdingbarkeit der Rechte hervorgerufenen Effizienzverluste durch noch größere Ineffizienzen aufgewogen werden, die aus der Durchsetzung zu vieler betrügerischer Geschäfte resultieren.331 Als mögliche Gründe für eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit betrügerischen Verhaltens und gleichzeitige Nachweisschwierigkeiten macht Kronman Informationsasymmetrien und ein relativ großes Gefälle in den Vermögensverhältnissen und der geschäftlichen Gewandtheit zwischen den Parteien aus.332 2.2.2 (Übermäßiger) Verzicht auf persönliche Freiheit Demgegenüber sieht Kronman keine plausible ökonomische Erklärung für solche Regelungen, die eine übermäßige vertragliche Aufgabe persönlicher Freiheit verhindern wollen. Zu diesen Vorschriften zählt Kronman das Verbot der Selbstversklavung oder des Verkaufs in die Leibeigenschaft, aber auch das Verbot von Verträgen, in denen eine Vertragspartei auf die Ausübung eines bestimmten Berufs, das Recht zur Einreichung der Scheidung oder die Entschuldung im Rahmen der Insolvenz verzichtet.333 In all’ diesen Fällen werde eine Person, die zu viel ihrer eigenen Freiheit aufgeben wolle, vor sich selbst geschützt, „no matter how rational his decision or compelling the circumstances“.334 Dies kann zu Wohlfahrtsverlusten führen, etwa weil die verzichtende Vertragspartei eine bestimmte Information, etwa ihre Kreditwürdigkeit, der Vertragsgegenseite nicht oder jedenfalls nicht günstiger vermitteln kann als durch den Verzicht (auf eine Entschuldungsmöglichkeit durch ein Insolvenzverfahren).335 Selbst für die Selbstversklavung 330 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 766 ff., 798, s. aber auch 770: „any conclusion regarding the efficiency or inefficiency of nondisclaimable warranties must remain tentative“. Zur alternativen Begründung mit der Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 770 ff. Zu den ökonomischen Argumenten gegen eine Umverteilung mittels privatrechtlicher Normen s. bereits oben unter § 4 II.4. 331 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 768 a.E. 332 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 769. 333 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 774 f. 334 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 775. 335 Vgl. Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 776 f. S. dazu allgemein bereits oben unter § 4 II.2.2.
142
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
gelte: „If the slave lacks the managerial skills needed to exploit his own labor most productively, it is especially likely that an arrangement of this sort will be efficient.“336 Auch als Second-Best-Lösung zur Verhinderung bestimmter Formen von Täuschung und Zwang seien die genannten Verzichtsverbote nicht überzeugend, da auch die Wirksamkeit einer erwiesenermaßen nicht erzwungenen Selbstversklavungsvereinbarung von niemandem ernsthaft erwogen werde.337 Soweit die persönliche und nicht lediglich die finanzielle Freiheit der Vertragsparteien berührt sei, gehe es vielmehr um den Schutz der persönlichen Integrität (und nicht um Effizienzerwägungen).338 2.2.3 Zwingende Widerrufsmöglichkeiten Zuletzt wendet sich Kronman zwingenden Widerrufsmöglichkeiten zu, welche die endgültige Verbindlichkeit einer Einigung für eine bestimmte Zeit suspendieren (sog. „Cooling off“-Periode), weil die eigene Verpflichtungserklärung noch widerrufen werden kann. Der Zweck dieser Regeln bestehe darin, den Akteur vor einer übereilten, auf einem fehlerhaften Findungsprozess beruhenden Entscheidung zu schützen. Dieser typisierte Übereilungsschutz breche mit der ökonomischen Prämisse, dass jeder seine eigenen Interessen am besten beurteilen kann und individuelle Präferenzen so lange respektiert werden, wie sie nicht zur Schädigung Dritter führen. Solche Regeln gingen vielmehr davon aus, dass Menschen in ihren Entscheidungen in gewissen Situationen akuten Impulsen nachgeben, ohne für ihre aktuelle Präferenz mögliche künftige Konsequenzen hinreichend zu reflektieren. Es fehle den Menschen dann an „judgment as requiring disengagement from the immediacy of desire“.339 In den entscheidungstheoretischen Jargon übersetzt, erklären sich nach Kronman Widerrufsrechte als eine Remedur gegen Defekte bei der Präferenzformung des Entscheiders, die in Abweichung vom Rationalmodell in bestimmten Situationen als typisch oder zumindest hinreichend wahrscheinlich unterstellt werden.340 2.3 Präferenzformung durch Recht (Sunstein) Sunstein geht es in seinem Beitrag zur Einwirkung des Rechts auf persönliche Präferenzen341 darum zu zeigen, dass die auf Präferenzänderung gerichtete Intervention des Rechts mit dem ökonomischen Effizienzkalkül (ebenso wie dem liberalen Autonomiepostulat) vereinbar ist, also wohlfahrtsfördernde (ebenso wie autonomiefördernde) Wirkungen haben kann. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Prämisse, dass das Recht die individuellen Präferenzen der Rechts336
Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 777. Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 777. 338 Ausführlich Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 778 ff. 339 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 789 ff. 340 S. dazu noch ausführlich im Hinblick auf das verbraucherkreditrechtliche Widerrufsrecht unten unter § 9 IV.3.4.3. 341 Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129 ff. 337
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
143
unterworfenen nicht als exogene Größen behandeln darf, sondern ein rechtliches Regelungsregime vielmehr die Präferenzformung der Betroffenen beeinflussen kann und tatsächlich beeinflusst. Die alleinige Bewertung einer rechtlichen Intervention aus der Ex ante-Perspektive sei daher unvollständig. Eine rechtliche Intervention könne – auch jenseits irgendwelcher Drittinteressen – vielmehr als wohlfahrtsfördernd gerechtfertigt sein, wenn und weil sie die Präferenzen der Rechtsunterworfenen ändere.342 Sunstein hält die Einwirkung auf individuelle Entscheidungen für zulässig, wenn diese in irgendeiner Weise auf „verzerrten“ (distorted) Präferenzen beruhen und eine rechtliche Intervention eine qualitativ bessere Präferenz beim Normadressaten erzeugt und/oder eine dementsprechende Entscheidung bewirkt.343 Diese zulässige Einwirkung auf individuelle Entscheidungen zum Wohle der „wahren“ Interessen des Betroffenen (Paternalismus) teilt er anhand der ex ante bestehenden Präferenzen des Regelungsadressaten in vier Kategorien ein: Regelungen in Übereinstimmung mit privaten Präferenzen zweiter Ordnung („Präferenzen über Präferenzen“), auch wenn sie mit Präferenzen erster Ordnung kollidieren (1), Regelungen, die auf Präferenzen einwirken, die lediglich ein Produkt des ex ante bestehenden rechtlichen Regimes sind (2), Regelungen, die auf Präferenzen einwirken, denen motivatorische Verzerrungen zugrunde liegen (Süchte, Marotten, kurzsichtiges Verhalten) (3) und schließlich solche Vorschriften, die Entscheidungen auf einer defizitären Informationsbasis (einschließlich kognitiver Verzerrungen) verhindern sollen (4).344 Alle vier Regelungskategorien halten nach Sunstein der Bewertung anhand von Wohlfahrtskriterien stand.345 Die benannten Präferenzverzerrungen seien eine Art „Marktversagen“.346 Die Legislative könne und solle durch die Verabschiedung von Gesetzen, die verzerrte Präferenzen ändern, daher die Wohlfahrt fördern.347 Ihm ist allerdings die Schwierigkeit der Abgrenzung „verzerrter“ Präferenzen von wahrhaft autonomen Präferenzen bewusst. Auch seien die Kosten einer rechtlichen Intervention in die Abwägungen über das Für und Wider eines paternalistischen Eingriffs einzubeziehen.348 2.4 Präferenzinkonsistenzen im Zeitverlauf und effizienter Paternalismus (Burrows) Burrows’ Argument für die (mögliche) Effizienz rechtspaternalistischer Intervention gründet auf der heute nicht mehr ernsthaft angefochtenen These, dass das ökonomische Standardverhaltensmodell des REMM in der Variante der revealed 342 343 344 345 346 347 348
Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1136 f. Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1135 f. et passim. Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1138 ff. Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1170. Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1173. Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1172. Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1173.
144
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
preferences theory349 auf Annahmen beruht, die nicht immer zutreffen. So setze die alleinige Nutzenbewertung einer Entscheidung anhand der sich in ihr manifestierenden Ex ante-Präferenzen ein konsistentes und vollständig in der Entscheidung berücksichtigtes Präferenzset voraus. Auch müssten die Ex ante-Präferenzen die Konsequenzen der Entscheidung und die Rückwirkung (feedback) der darin liegenden Erfahrungen des Entscheiders auf sein Präferenzset berücksichtigen. Die Entscheidung müsste mithin an einer intertemporalen, die Endogenität der Ex post-Präferenzen reflektierenden Nutzenfunktion gemessen werden. Hierzu – so die realistische Annahme Burrows’ – werden menschliche Entscheider häufig nicht in der Lage sein, etwa weil ihnen die Fähigkeit fehlt, eigene Präferenzänderungen zutreffend vorherzusagen. Aber selbst wenn der Entscheider seine Ex ante-Präferenzen zutreffend ermittelt habe, könne ihm bei der Wahl der nutzenmaximierenden Entscheidungsalternative immer noch ein Fehler aufgrund von Defiziten bei der Informationssammlung und -verarbeitung unterlaufen.350 Hieraus folgert Burrows, dass Rechtspaternalismus zu Effizienzgewinnen führen könne, wenn die ökonomische Theorie in Abweichung von ihrem Standardverhaltensmodell des REMM endogene, d.h. von der zu treffenden Entscheidung abhängige Präferenzen ebenso anerkennt, wie die Rationalitätsdefizite menschlichen Entscheidungsverhaltens. Eine rechtspaternalistische Intervention wäre danach effizient, wenn im Aggregat ein durch den Intervenienten ex ante identifizierbarer Nettonutzen für die Entscheider bestehe, der durch die intertemporale Nutzenfunktion der Entscheider aufgedeckt würde, wenn diese die Präferenzentwicklung ex post hinreichend berücksichtigen würde.351 So lasse sich die rechtliche Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte und Rechtsgüter als paternalistischer Schutz der individuellen Entwicklung(sfähigkeit) solcher Entscheider verstehen, die bei ihrer Präferenzformung die möglichen Veränderungen über die Zeit nicht angemessen in ihr Entscheidungskalkül einbeziehen.352 Im U.S.-amerikanischen Vertragsrecht bezwecke zudem etwa die unconscionability doctrine für einen Teil der von ihrem Anwendungsbereich erfassten Fälle den Schutz einer Vertragspartei vor defizitären Entscheidungen, die ihrer intertemporalen Nutzenfunktion widersprächen.353 So würde Verträgen die rechtliche Wirksamkeit unter Berufung auf ihre unconscionability verweigert, 349
S. zu dieser Theorie oben unter § 4 I.2.2.2.2. Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 543 ff.; knapper ders., Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 490 ff. 351 Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 558 ff.; s. auch ders., Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 495. Burrows will diese „Prima facie“-Effizienz einer rechtspaternalistischen Intervention noch gegen die Freiheitsimplikationen einer solchen Intervention abwägen. Diese lassen sich aber entweder in die Nutzenfunktion integrieren oder sie bewegen sich außerhalb des an dieser Stelle allein betrachteten ökonomischen Nutzenkalküls. 352 Burrows, Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 497 ff. 353 Vgl. insofern auch E. Posner, J. Legal Stud. 24 (1995), 283, 296: „[T]here is a widespread feeling among contract law scholars that paternalistic attitudes account for some judges’ use of the unconscionability doctrine in certain contract cases.“ 350
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
145
wenn eine Partei kontrahiert habe, weil (1) sie ihre gegenwärtigen Präferenzen nicht hinreichend reflektiert habe, (2) sie ihre zukünftigen Präferenzen nicht hinreichend antizipiert, (3) ihr wesentliche Informationen von der anderen Vertragspartei vorenthalten worden seien, oder (4) weil sie die verfügbare Information nicht angemessen wahrgenommen oder verarbeitet habe. Freilich würden diese paternalistischen Erwägungen häufig unter Verweis auf ein „Verhandlungsungleichgewicht“ verschleiert.354 Burrows ist freilich skeptisch, wenn es um die Entwicklung klarer und leicht handhabbarer Regeln zur Bestimmung effizienten Rechtspaternalismus gerade auch im Vertragsrecht geht. Eine „bright-line rule“ sei nicht zu erwarten. Vielmehr seien die maßgeblichen Bedingungen für effizienten Paternalismus in hohem Maße von den Umständen des einzelnen Falles abhängig und für den jeweiligen Fall jenseits von Wertungsfragen auch empirisch zu belegen.355 2.5 Ein Modell zur Effizienzmessung paternalistischer Maßnahmen (Zamir) Die wohl elaboriertesten Ausführungen zur Effizienz von Paternalismus finden sich in dem gleichnamigen Beitrag von Zamir.356 Darin setzt er ökonomische Effizienz oder Wertmaximierung als normatives Ziel voraus und entwirft ein Modell zur Messung der Effizienz (rechts-)paternalistischer Regeln, nachdem er zuvor die Vereinbarkeit von Effizienzziel und Paternalismus bejaht hat. 2.5.1 Zur Vereinbarkeit von Effizienzziel und Paternalismus In einem ersten Schritt untersucht Zamir die Kompatibilität von Effizienzziel und Paternalismus, wenn man die Wohlfahrt als zu maximierende Größe anhand der Befriedigung der tatsächlichen Präferenzen der Akteure bemisst (actual preferences theory). Zamir sieht zwei Möglichkeiten, die actual prefences theory und Paternalismus miteinander zu vereinbaren: Paternalismus kann danach zum einen effizient sein, wenn er zwar die Erfüllung der offenbarten Präferenzen erster Ordnung verhindert, gleichzeitig aber zur Befriedigung von hiermit konfligierenden Präferenzen zweiter Ordnung357 führt (Stichwort: Odysseus und die Sirenen).358 Dem Einwand, dass rechtspaternalistische Regeln auch solche Akteure erfassen, deren Präferenzen zweiter Ordnung in Einklang mit ihren Präferenzen erster Ordnung stehen, begegnet er mit dem Argument, dass es im Rahmen der Wohlfahrtsökonomie als einer konsequentialistischen Theorie allein auf den Zustand im Aggregat ankomme, also die Auswirkung der paternalistischen Regel auf die Gesamtwohlfahrt.359 Zamir gesteht allerdings ein, dass diese ökonomische 354 355 356 357 358 359
Burrows, Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 504 ff. Burrows, Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 490, 497, 506 f. Zamir, The Efficiency of Paternalism, Va. L. Rev. 84 (1998), 229 ff. S. dazu bereits oben unter § 4 III.2.3. Zamir, Va. L. Rev 84 (1998), 229, 242. Zamir, Va. L. Rev 84 (1998), 229, 243. S. zum Regelutilitarismus bereits oben unter § 2 III.3.
146
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
Rechtfertigung von Rechtspaternalismus umso weniger überzeugen kann, je spekulativer die Präferenzen zweiter Ordnung sind.360 Zum anderen hält Zamir die actual preferences theory und (Rechts-)Paternalismus für miteinander vereinbar, wenn man annimmt, dass Rechtsnormen die Präferenzen der Rechtsunterworfenen beeinflussen.361 Soweit deren tatsächlichen Präferenzen sich an die rechtspaternalistische Regel anpassen (adaptive Präferenzen) und damit ex post mit dieser konform gehen, gebe es keine konsequentialistische Begründung, die den Ex ante-Präferenzen größeres Gewicht zumesse als den Ex post-Präferenzen. Gleiches gilt freilich auch andersherum. Als Möglichkeit für einen Vergleich der Präferenzstärken schlägt Zamir eine Kosten-NutzenAnalyse vor, die den jeweiligen diskontierten Nutzen beider Präferenzen misst.362 Nach Zamir zielt die normative ökonomische Standardtheorie allerdings gar nicht auf eine Wohlfahrtsmaximierung verstanden als bestmögliche Befriedigung der Gesamtheit tatsächlicher individueller Präferenzen ab. In Fällen von Marktversagen, wie Marktmacht, prohibitiv hohen Transaktionskosten etc., befürworte sie eine regulatorische Intervention, auch wenn hierdurch die tatsächlichen Second best-Präferenzen363 der Entscheider missachtet werden, um die Gesamtwohlfahrt zu maximieren. Auch die REMM-Hypothese mit ihren beiden Teilannahmen der Rationalität und des Eigennutzes der Akteure364 rücke das ökonomische Standardmodell in die Nähe einer ideal preferences theory, welche die Gesamtwohlfahrt anhand der Befriedigung von eben diesen Annahmen entsprechenden Präferenzen messe. In der Realität seien diese Annahmen aber keineswegs immer erfüllt, die kognitiven und motivationalen Defizite realer Entscheider vielmehr belegt. Je höher die Rationalitätsanforderungen und je größer damit die Abweichung von der Realität desto mehr werde das ökonomische Standardmodell zu einer ideal preferences theory.365 Rechtspaternalismus ist danach geeignet die Wohlfahrt i.S. des ökonomischen Standardmodells zu fördern, wenn die tatsächlichen Präferenzen der Akteure nicht in Einklang mit den Annahmen des Standardmodells (vollständiger kompetitiver Markt, REMM-Hypothese) gebildet werden. Dabei sieht Zamir solche Abweichungen vom Standardmodell vor allem in Rationalitätsdefiziten.366
360
Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 243. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 244. mit Verweis u.a. auf Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129 ff. S. zu letzterem oben unter § 4 III.2.3. 362 Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 245 unter Verweis auf G. Becker, Accounting for Tastes, 1996, S. 20–22. S. zur discounted utility theory bereits oben unter § 4 I.2.3.3.1. 363 D.h. ihre Präferenzen angesichts des Marktversagens. 364 Dazu ausführlich oben unter § 4 I.2. 365 Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 246 ff., 250 ff. 366 Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 232, 253 f. 361
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
147
2.5.2 Das Modell zur Effizienzmessung paternalistischer Intervention Seinem Modell legt Zamir die Idealannahme eines vollständig kompetitiven Marktes zugrunde, weicht aber von der REMM-Hypothese dahingehend ab, dass Nutzenmaximierung anstrebende Entscheider aufgrund ihrer kognitiven Beschränkungen in einer Minderzahl der Fälle diejenige von zwei Entscheidungsalternativen wählen, die den geringeren Erwartungsnutzen aufweist.367 Reduziert nun der paternalistische Intervenient die Entscheidungsalternativen von zweien (X, Y) auf eine (X), dann resultiere der Erwartungsnutzen der Intervention aus dem Nutzenverlust einer „falschen“ Wahl von Y multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit einer solchen Wahl abzüglich des Nutzens aus der „korrekten“ Wahl von Y multipliziert mit der entsprechenden Wahrscheinlichkeit. Hiervon sind noch die Kosten der Intervention abzuziehen. Zamir berücksichtigt dafür zwei Kostenpositionen: die legislativen und administrativen Kosten des Intervenienten (1) und die Frustrationskosten, die daraus resultieren, dass der Adressat der Intervention der Entscheidungsalternative Y beraubt wird (2). Die Möglichkeit der Fehlerhaftigkeit der Interventionsentscheidung lässt Zamir hingegen nicht als prinzipiellen Einwand gegen die paternalistische Intervention gelten, weil die Entscheidung zur Nichtintervention in gleicher Weise fehlerhaft sein könne.368 Aus diesem Modell zieht Zamir die folgenden Schlüsse: Da die Kosten der Intervention gewöhnlich keine vernachlässigenswerte Größe seien, müsse der Nutzen der Intervention deutlich höher liegen als der (Erwartungs-)Nutzenverlust aus der Wahl der „falschen“ Entscheidungsalternative. Der paternalistische Planer müsse daher überzeugt davon sein, dass die Entscheidungsalternative X richtig ist, auch wenn der Adressat der Intervention Y wählen wollte. Hierfür muss die Interventionsentscheidung auf einer ausreichend breiten Informationsbasis ruhen, die auch die adressierte Entscheidungssituation sowie die (typischen) Fähigkeiten und Eigenschaften des Entscheiders berücksichtigen müsse. Bei alledem sei aber anzunehmen, dass in der ganz überwiegenden Zahl der Entscheidungen, die Wahrscheinlichkeit einer „korrekten“ Wahl als sehr hoch zu veranschlagen sei. In diesen Fällen sei eine Intervention aber immer noch effizient, wenn der Nutzenverlust durch die Wahl der „falschen“ Entscheidungsalternative ebenfalls sehr hoch sei.369 Bei einer entsprechend hohen Wahrscheinlichkeit, die „falsche“ Wahl zu treffen, sei Paternalismus aber auch dann effizient, wenn der Nutzenverlust im jeweiligen Fall nur moderat ausfalle. Effizienter Paternalismus sei also mit anderen Worten nicht darauf beschränkt, schwerwiegende oder irreversible Schäden (grave or irreversible harms) zu verhindern.370 Andererseits sei zu beachten, dass die Frustrationskosten eine Intervention selbst dann ineffizient machen können, wenn X die bessere Entscheidungsalternative 367 368 369 370
S. auch zum Folgenden Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 256 ff. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 259 ff. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 262 nennt als Beispiel die Selbstversklavung. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 263.
148
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
ist. Die Maximierung der Gesamtwohlfahrt scheitere aber bei Anwendung des Kaldor-Hicks-Kriteriums371 nicht daran, dass die paternalistische Intervention nicht für jede individuelle Entscheidung jedes Adressaten effizient sei.372 Zamir lockert schließlich seine Modellannahmen und betrachtet bisher unberücksichtigte Aspekte. So lasse sich über nicht im Modell enthaltene Langzeiteffekte paternalistischer Behandlung nur spekulieren. Die mögliche Formung „rationaler“ Präferenzen spreche für, die Verhinderung möglicher Lerneffekte gegen eine Intervention. Auch sei es unwahrscheinlich, dass externe Effekte zur Ineffizienz sonst effizienten Paternalismus führten. Betrachte man alleine die vertragliche Gegenpartei, so müsste hierfür deren Erwartungsnutzen aus der falschen Entscheidung des Schutzadressaten – im Aggregat – höher sein als dessen Erwartungsnutzenverlust. Ferner neigten Effizienzerwägungen zur Regulierung von Marktversagen dazu mit solchen zur paternalistischen Intervention wegen Rationalitätsdefiziten der Akteure zu konvergieren. Schließlich hätten das Ziel der Verteilungsgerechtigkeit, welches distributive Effekte berücksichtige, und der paternalistische Schutz vor irrigen Entscheidungen regelmäßig die gleiche Stoßrichtung, weil die Beschränkung der „Freiheit zum Irrtum“ den Entscheider weniger anfällig für die Ausbeutung durch andere mache.373 2.6 Zwischenergebnis und weiteres Vorgehen 2.6.1 Maßgeblichkeit der Entscheiderpräferenzen für effizienten Paternalismus In einem ersten Zugriff auf die vorgestellten Konzepte eines effizienten Rechtspaternalismus sticht zunächst besonders hervor, dass sie im Hinblick auf das zugrundegelegte Entscheidungsverhalten zwar das gängige Rationalmodell (Standardmodell)374 zum gedanklichen Ausgangspunkt nehmen, dessen Annahmen aber in zentralen Punkten abschwächen: So lehnen sie als notwendige Bedingung eines effizienzsteigernden Paternalismus die Theorie der „offenbarten“ Präferenzen (revealed preferences) ab.375 Würden sich nämlich in einer Entscheidung immer die entsprechenden (Meta-)Präferenzen der Entscheider offenbaren, wäre jede Entscheidung eine Pareto-optimale. Für eine effizienzsteigernde paternalistische Intervention bliebe kein Raum. Anders gewendet: Durch die Rückbindung des Effizienzbegriffs an die
371
S. dazu oben unter § 4 I.1.1.3.2. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 267. 373 Allerdings sei ein Umverteilungseffekt zu Lasten hochbefähigter und reicher Akteure nicht auszuschließen. S. zum Ganzen Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 276 ff. 374 Das Rationalwahlmodell (rational choice theory) entspricht der oben unter § 4 I.2 ausführlich dargestellten REMM-Hypothese mit Ausnahme der Festlegung auf ein allein eigennütziges Verhalten. 375 Plastisch (und tendenziös) Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 72: „When revealed preferences are tossed out the window, Big Brother enters through the back door.“ S. zur theory of revealed preferences bereits oben unter § 4 I.2.2.2.2. 372
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
149
Präferenzen der Akteure ist jenseits der Eindämmung negativer Externalitäten376 eine Wohlfahrtssteigerung nur möglich, wenn der durch die paternalistische Maßnahme addressierte Entscheider ohne Intervention nicht die seinen Präferenzen am besten entsprechende Wahl vornehmen würde, d.h. ein Fall von „Marktversagen“ vorliegt.377 Aus der Maßgeblichkeit der individuellen Präferenzen für den welfaristischen378 Wohlfahrtsbegriff folgt ein Weiteres: Effizienter Paternalismus kann nur weicher Paternalismus im Sinne der eingangs eingeführten Unterscheidung sein.379 Umgekehrt ist ein den „wahren“ Präferenzen des Schutzadressaten widersprechender harter Paternalismus immer ineffizient. Dabei versteht sich, dass die wohlfahrtstheoretische Maßgeblichkeit des Aggregats, d.h. des betrachteten Gemeinwesens, dazu führen kann, dass eine weich paternalistische abstrakt-generelle Regelung im konkreten Einzelfall hart paternalistisch wirkt.380 2.6.2 Marktversagen als Rechtfertigung der paternalistischen Intervention Ist eine Wohlfahrtssteigerung durch (rechts-)paternalistische Intervention nur möglich, wenn die Adressaten der paternalistischen Maßnahme ohne eine solche Intervention nicht ihren (Meta-)Präferenzen entsprechend handeln würden381, bedarf es zur Rechtfertigung eines dem Effizienzmaßstab verpflichteten Paternalismus mithin eines „Marktversagens“ (market failure) oder „Kontrahierungsversagens“ (contracting failure). Dabei ist es zunächst einmal unerheblich, ob dieses darin gründet, dass der Akteur durch äußere Einflüsse an einer präferenzkonformen Entscheidung gehindert wird oder er aufgrund innerer Umstände die präferenzkonforme Entscheidung nicht identifizieren kann oder seine Präferenzformung derart gestört wird, dass sich die getroffene Entscheidung unbewusst oder zumindest ungewollt seinen Metapräferenzen bzw. Präferenzen höherer Ordnung widersprechen würde. Die vorgestellten Paternalismuskonzepte richten ihren Fokus auf die beiden letztgenannten Kategorien des Markt- oder Verhandlungsversagens. Diese betreffen Defizite des Entscheiders, die von den Annahmen des strengen Rationalmodells abweichen382: So wird zum einen Entscheidungsverhalten, das die eigenen Präferenzen nicht reflektiert, mit den begrenzten Informationsbeschaffungs-
376
Zu deren Irrelevanz für die paternalistisch motivierte Intervention s. oben unter § 4 III.1. Zum „Markversagen“ als Eingriffsrechtfertigung für einen effizienten Paternalismus s. sogleich unter § 4 III.2.6.2. 378 Zum Begriff des Welfarismus s. oben unter § 4 I.1.1.2. 379 S. dazu oben unter § 2 IV.2. 380 S. zum rechtspaternalistischen Kosten-Nutzen-Kalkül noch sogleich unter § 4 III.3. 381 S. soeben unter § 4 III.2.6.1. 382 Vgl. zur Einordnung von „Präferenzverzerrungen“ als eine Art von Marktversagen etwa Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1173. Demgegenüber stellt etwa Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 246 ff. noch die herkömmlichen Kategorien des Marktversagens den Defiziten des Entscheiders bei der Formung und Verfolgung der eigenen Präferenzen gegenüber. 377
150
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
und -verarbeitungskapazitäten der Entscheider begründet.383 Zum anderen gehen die Proponenten eines effizienten Paternalismus in Abweichung vom Rationalmodell davon aus, dass Entscheider nicht immer eine (über die Zeit) stabile und kohärente Präferenzordnung aufweisen, ja teilweise erst im Zusammenhang mit der Entscheidung kontextuell Ad hoc-Präferenzen formen384, und dabei von ihren Metapräferenzen abweichen385. 2.6.3 Kosten-Nutzen-Kalkül des effizienten Paternalismus – Maßgeblichkeit des Aggregats Eine Theorie des effizienten Paternalismus muss nicht nur Potentiale für eine effizienzsteigernde Intervention identifizieren, sondern auch die Kosten der Intervention. Kosten und Nutzen sind miteinander zu vergleichen. Nur bei einem positiven Nutzensaldo ist die Intervention effizient. Anders gewendet: Ein dem Effizienzmaßstab verpflichteter Rechtspaternalismus zielt darauf ab, die Summe aus den Kosten des oben beschriebenen Marktversagens386 und den Kosten der paternalistischen Intervention zu minimieren.387 Ein typisches Beispiel für eine Konkretisierung dieses Kosten-Nutzen-Kalküls des effizienten Paternalismus stellt etwa das oben dargestellte Modell von Zamir388 dar. Aus der Sicht des rechtspaternalistisch intervenierenden Gesamtwohlfahrtsmaximierers ist für die Kosten-Nutzen-Rechnung dabei die Betrachtung des Aggregats maßgeblich.389 Wendet man hierbei das Kaldor-Hicks-Kriterium390 an, steht es der Maximierung der Gesamtwohlfahrt nicht per se entgegen, dass die paternalistische Intervention nicht für jede individuelle Entscheidung jedes Adressaten effizient ist.391 Für den konkreten Fall des Marktversagens, dass die Veränderlichkeit der Präferenzen des Entscheiders über die Zeit nicht hinreichend in dessen Entschei383 Vgl. zusammenfassend Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651, 1655 ff. (unter der Überschrift „judgment biases“); Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 59 ff., 62 ff. („information failure“ als Grund für die Abweichung der Entscheidung von der „underlying preference“). 384 S. wiederum Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651, 1658 ff. (unter der Überschrift „Context-Dependent Preferences“); Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 56 ff. (unter der Überschrift „Cognitive Incapacity“). 385 S. etwa Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 558 ff.; s. auch ders., Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 495, der für die Identifikation eines ex ante identifizierbaren Nettonutzen der Intervention für die zeitinkonsistent handelnden Entscheider auf deren intertemporaler Nutzenfunktion zurückgreifen will. Dazu oben unter § 4 III.2.4. 386 S. soeben unter § 4 III.2.6.2. 387 Vgl. Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 747 unter Verweis auf Calabresi, The Costs of Accidents, 1970, S. 26. 388 S. oben unter § 4 III.2.5.2. 389 S. etwa Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 243. 390 Und damit nicht das Pareto-Kriterium. S. zu beiden Effizienzkriterien bereits oben unter § 4 I.1.1.3. 391 Zutr. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 267. Dazu bereits oben unter § 4 III.2.5.2.
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
151
dung reflektiert wird, lässt sich daher mit Burrows formulieren: Eine rechtspaternalistische Intervention ist effizient, wenn im Aggregat ein durch den Intervenienten ex ante identifizierbarer Nettonutzen für die Entscheider besteht, der in der intertemporalen Nutzenfunktion der Entscheider abgebildet würde, würde diese (Funktion) die Präferenzentwicklung ex post hinreichend berücksichtigen.392 Gerade die Anhänger eines wohlfahrtstheoretisch begründeten Paternalismus versuchen die gemeinhin als sachgerecht angesehenen Fälle eines harten Paternalismus (Prototyp: bewusste vertragliche Selbstversklavung) durch die Vermutung eines Marktversagens in Form „verzerrter“ Präferenzen oder eines von den Entscheidern nicht erkannten intertemporalen Nettonutzens der Intervention mit ihrem Ansatz zu versöhnen.393 2.6.4 Das Verhältnis zu freiheits- und autonomiebasierten Paternalismuskonzepten Die Tatsache, dass ein effizienter Paternalismus welfaristischer Prägung bei den Präferenzen der Individuen, d.h. der Regelungsadressaten der paternalistischen Maßnahme ansetzt, führt in der Stoßrichtung und – auf der Individualebene auch in den Ergebnissen – zu einem weitreichenden Gleichlauf mit solchen Paternalismuskonzepten, die auf dem Autonomiegedanken gründen oder der individuellen Freiheit(smaximierung) verpflichtet sind394.395 Entsprechend führen die Anhänger eines „libertären Paternalismus“ nicht nur die weitgehende Bewahrung der Entscheidungsfreiheit des Paternalismusadressaten als Vorzug ihres Konzeptes an, sondern auch die damit einhergehende Wohlfahrtssteigerung.396 Ausdruck dieses Gleichlaufs ist es auch, dass das Bemühen des effizienten Paternalismus um möglichst niedrige Kosten der Intervention weithin der strik-
392 Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 558 ff.; s. auch ders., Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 495. S. dazu bereits oben unter § 4 III.2.4. 393 Vgl. aber ebenso Feinberg, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 3, 12 auf dem Boden eines autonomiebasierten Paternalismusansatzes. Dazu bereits oben unter § 2 V.1. 394 S. zu solchen Konzepten bereits oben unter § 2 V; vgl. ferner Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 365 ff., 374 ff. 395 S. monographisch Epstein, Principles for a Free Society: Reconciling Individual Liberty with the Common Good, 1998, dort insb. S. 23 ff.; vgl. auch Mayr, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, S. 48 ff.; zweifelnd Alexander/Schwarzschild, QLR 19 (2000), 657 ff., die das grundsätzliche Problem darin sehen, die „wahren“ Präferenzen der Entscheider zu ermitteln. Aus ihrer Sicht gesteht der libertäre Planer den Regelungsadressaten ein größeres Reservat an Präferenzen zu, die nicht im Hinblick auf die Qualität ihrer Formung und ihre Vereinbarkeit mit Präferenzen höherer Ordnung hinterfragt werden. Zum Verhältnis beider Ansätze auch Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, dort insb. S. 2 f., 152 f. 396 S. etwa Thaler/Sunstein, Am. Econ. Rev. 93 (2003), 175 ff.; dies., Nudge, 2008, S. 4 ff., 72 ff.; zu diesem Konzept noch ausführlich unten unter § 5 VI.2.1.; die libertäre Dimension ihres Konzepts verneinend hingegen Mitchell, Libertarian Paternalism is not an Oxymoron, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245 ff.; ausführlich zu dessen Kritik unten unter § 5 VI.3.
152
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
ten Ausrichtung eines grundrechtlich fundierten Konzepts des „schonendsten Paternalismus“ am Verhältnismäßigkeitsprinzip entspricht.397 Abweichungen freiheitlicher und wohlfahrtsorientierter Paternalismuskonzepte können sich aber insbesondere unter zwei Aspekten ergeben: Beinhaltet der an der individuellen Entscheidungsfreiheit (um ihrer selbst willen) Maß nehmende Paternalismus das Konzept „liberaler Rechte“, die eine Abwägung dieser Rechtspositionen mit anderen Belangen nicht zulassen, dann kann es angesichts des Verbots einer nach Effizienzkriterien erfolgenden Abwägung zu ineffizienten und damit dem Prinzip des effizienten Paternalismus widersprechenden Ergebnissen kommen.398 Ferner können an der Autonomie des Individuums orientierte Paternalismuskonzepte in Widerspruch zu einem an der Wohlfahrtsmaximierung des Aggregats interessierten effizienten Paternalismus geraten, wo dieser um der Gesamtwohlfahrtsförderung willen eine den Präferenzen des Einzelnen (respektive seiner „freien Wahl“) im konkreten Fall widersprechende Intervention befürwortet.399 Diese Divergenzen zwischen einem autonomie- oder freiheitsbasierten Paternalismus und einem wohlfahrtsorientierten effizienten Paternalismus werden weitestgehend eliminiert, wenn man mit den Anhängern eines „asymmetrischen“ oder eines „libertären“ Paternalismus angesichts der unklaren Kosten einer Intervention nur solche Regelungsmaßnahmen für vertretbar erachtet, die dem einzelnen Entscheider ein kostengünstiges opting out ermöglichen.400 Weder ein autonomiebasiertes noch ein wohlfahrtsmaximierendes Paternalismuskonzept können schließlich das weithin akzeptierte unbedingte Verbot der verbindlichen Vereinbarung bestimmter Verzichtsleistungen, wie etwa die Selbstversklavung, erklären. Jedenfalls lässt es sich nicht mit Effizienzerwägungen erklären, wenn man – wie üblich – kein Marktversagen als Voraussetzung für ein solches Verbot fordert.401 2.6.5 Weiteres Vorgehen Im Folgenden sollen zunächst die für einen am Effizienzmaßstab orientierten Rechtspaternalismus maßgeblichen Kosten- und Nutzenpositionen näher aufgeschlüsselt werden. Es geht also um die konkrete Benennung derjenigen Abwä397 S. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff.; zu ihrem Konzept des „schonendsten Paternalismus“ ausführlich unten unter § 5 VI.2.5.; s. zur Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips anhand des ökonomischem Effizienzmaßstab etwa auch Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1205 und ff. 398 Diesen Punkt betonen Alexander/Schwarzschild, QLR 19 (2000), 657, 658 ff. S. zum Konzept der „liberalen Rechte“ und seinem Verhältnis zum Effizienzmaßstab nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 36 f., 326 sowie bereits oben unter § 4 I.1.1.5.2. 399 Vgl. bereits die Ausführungen unter § 4 III.2.6.3. 400 S. zu diesen vor dem Hintergrund der verhaltensökonomischen Erkenntnisse entwickelten Paternalismuskonzepten ausführlich unten unter § 5 VI.2.1 und § 5 VI.2.2. 401 Überzeugend Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 775 ff. Zu dessen Gedanken zu einem paternalistischen Vertragsrechts s. bereits oben unter § 4 III.2.2.
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
153
gungsaspekte, die im konkreten Fall über das Für und Wider einer rechtspaternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit entscheiden (3.). Dabei wird zu Recht eingefordert, die maßgeblichen Bedingungen für effizienten Paternalismus für den jeweiligen Fall jenseits von Wertungsfragen empirisch zu belegen402, oder doch zumindest auf dem Boden empirischer Ergebnisse im Wege einer „vernünftigen Vermutung“403 zu begründen. Denn je größer die Unsicherheiten bei der Quantifizierung von Kosten und Nutzen einer Intervention, desto näher liegt es, von einer Intervention (zunächst) abzusehen.404 Diese empirischen Belege haben die Kognitionspsychologie und die experimentelle Ökonomie für die Rationalitätsdefizite des menschlichen Entscheiders geliefert, die in den vorgestellten Paternalismuskonzepten die bedeutendste Form des Marktversagens darstellen. Die Erkenntnisse dieser Forschungsdisziplinen haben die Grundlage für alternative Entscheidungsmodelle zur Rationalwahltheorie abgegeben, die sich unter dem Sammelbegriff der Behavioral Decision Theory vereinen lassen und als Behavioral Law & Economics Eingang in die rechtswissenschaftliche Diskussion gefunden haben.405 Ihr Beitrag für eine Legitimation rechtspaternalistischer Intervention wird gesondert im nächsten Abschnitt dieser Arbeit (§ 5) untersucht. Es wird sich zeigen, dass sich die bereits erlangten Einsichten zu einem effizienten Rechtspaternalismus mit Hilfe der verhaltensökonomischen Erkenntnisse weiter zu einem Paternalismuskonzept verfeinern lassen, das in Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben406 ein überzeugendes System für einen legitimen Rechtspaternalismus darstellt und daher als Referenzrahmen dienen kann, um die Legitimität konkreter rechtspaternalistischer Regelungen im Vertragsrecht zu prüfen.
3. Kosten- und Nutzenpositionen eines effizienten Paternalismus im Vertragsrecht Die für das ökonomische Kosten-Nutzen-Kalkül der paternalistischen Intervention maßgeblichen Einflussgrößen können im Rahmen der sich anschließenden Bestandsaufnahme nur qualitativ beschrieben, nicht aber quantifiziert werden.407 Letzteres hat vielmehr bei Betrachtung einer konkreten Regelungsfrage zu erfolgen, kann aber auch dort jenseits einer vernünftigen Schätzung nur geleistet werden, wenn entsprechende (empirische) Daten zur Verfügung stehen. 402
Burrows, Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 490, 497, 506 f. S. zu den „Regeln eines vernünftigen Vermutens“ als Teil der modernen Methodenlehre des Rechts Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978/1991, S. 285 ff., 287; für die ökonomische Analyse des Rechts auf Alexy bezugnehmend Kübler, FS Steindorff, 1990, S. 687, 696. 404 Vgl. Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 73 für die Einräumung von Widerrufsrechten. 405 S. hier wiederum nur Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651, 1654 ff. 406 S. dazu oben unter § 3. 407 Vgl. insofern auch Ogus, Costs and Cautionary Tales, 2006, S. 239; sowie ders., Legal Studies 30 (2010), 61, 69: „Even in the absence of concrete figures, setting up a benefit-cost framework facilitates clear thinking about policy options.“ 403
154
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
3.1 Nutzen – Marktversagen als Voraussetzung effizienten Paternalismus Der (erstrebte) Nutzen einer rechtspaternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit der Rechtsunterworfenen liegt in der damit verbundenen Steigerung der Gesamtwohlfahrt. Diese Steigerung ist – wie schon mehrfach angeklungen – nur möglich, wenn die Parteien aufgrund eines „Marktversagens“ nicht in der Lage oder Willens sind, einen für sie Pareto-optimalen Vertrag zu schließen.408 Kurz: Der Nutzen der paternalistischen Intervention läge darin, nicht-präferenzkonforme und damit ineffiziente Verträge (bzw. deren Durchführung) zu verhindern.409 Die im Folgenden interessierenden Formen eines solches Marktversagens, das gleichsam das „Nutzenpotential“ einer rechtspaternalistischen Intervention begründet, lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Zum einen können transaktionsspezifische Hemmnisse für den Abschluss eines effizienten Vertrages in einer Störung im Verhältnis der Kontrahenten zueinander begründet sein. Zum anderen kann ein solches Hemmnis auch in der beschränkten Befähigung des einzelnen Kontrahenten zum effizienten Vertragsschluss liegen. Letztere Kategorie lässt sich auch als eingeschränkte Transaktionskompetenz beschreiben und meint die für die Begründung rechtspaternalistischer Intervention äußerst bedeutsamen Rationalitätsdefizite. Ganz ähnlich wird teilweise auch zwischen „Vertragsversagen“ (contract failure) in der Form der die eigenen Präferenzen nicht reflektierenden Entscheidung einerseits und des kognitiven Unvermögens andererseits unterschieden.410 Die hier vorgeschlagene Einteilung ist freilich keine (im philosophischen Sinne) kategorische. Auch überschneiden sich beide Kategorien in Randbereichen, so dass die Zuordnung der einzelnen Phänomene zu einer Kategorie keinesfalls stets eindeutig ist. An dieser Stelle nicht weiter ausgeführt wird eine Ursache für einen ineffizienten Vertragsschluss, die in keine der beiden Kategorien passt, nämlich der dispositive Regelungshintergrund, in dessen „Schatten“ die Rechtsunterworfenen kontrahieren.411 Ein überzeugendes Konzept für einen dem Effizienzziel ver408
S. zu diesen Grundannahmen der ökonomischen Vertragstheorie und ihrer Bedeutung für das Für und Wider die Vertragsfreiheit oben unter § 4 II. S. zur verwandten Transaktionskostenargumentation nur E. Posner, Yale L. J. 112 (2003), 829, 866: „Economic analysis of contract law assumes that contracts cannot be designed to describe every future state of the world. The usual statement is that transaction costs prevent the parties from achieving such a detailed and complex contract. […] In any event, one needs some such assumptions to get the economic analysis of contract law off the ground; if the parties entered complete contracts, the law would not need to supply default terms.“ 409 So Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 72 f. für das Widerrufsrecht. 410 S. Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 56 ff., zu ersterem zählen sie Zwang und „Informationsversagen“ (information failure). Noch anders, aber ähnlich Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 74 ff., der im Zusammenhang mit der Begründung von Widerrufsrechten zwischen (1) Informationsasymmetrien bei Vertragsschluss, (2) exogen veranlassten Präferenzstörungen des Kontrahenten und (3) endogenen Präferenzstörungen des Kontrahenten unterscheidet. 411 S. grundlegend Mnookin/Kornhauser, Bargaining in the Shadow of the Law: The Case of Divorce, Yale L.J. 88 (1979), 950 ff.
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
155
pflichteten Rechtspaternalismus kann mit einer ineffizienten Hintergrundregelung nämlich nicht begründet werden. Die paternalistische Intervention wäre im Grunde nichts anderes als eine „Reparaturmaßnahme“ zur Abmilderung der nachteiligen Wirkungen einer anderen rechtlichen Regelung: Das Recht würde hier seine eigenen Ineffizienzen bekämpfen. Eine Effizienz anstrebende Rechtsordnung ändert stattdessen sinnvollerweise gleich die ineffiziente Regelung selbst. Auf das Phänomen des dysfunktionalen Regelungshintergrunds, vor dem die Parteien kontrahieren müssen, wird aber noch bei der Durchleuchtung konkreter rechtspaternalistischer Regelungskomplexe der lex lata zurückzukommen sein.412 3.1.1 Marktversagen wegen einer Dysfunktion im Verhältnis der Kontrahenten zueinander Zu den Kategorien von Marktversagen, die das Verhältnis der Kontrahenten zueinander betreffen, gehören Informationsasymmetrien und – damit nicht selten verbunden – ein Gefälle in der Verhandlungsmacht der Parteien. Letzterem nahe verwandt ist auch das Phänomen des sozialen Drucks (social pressure), der eine der Vertragsparteien zu einer Entscheidung veranlassen kann, die ihren wahren Präferenzen nicht entspricht. 3.1.1.1 Informationsasymmetrien Die Mechanismen, die bei Informationsasymmetrien die Vertragsparteien daran hindern können, einen Pareto-optimalen und/oder wohlfahrtsmaximierenden413 Vertrag abzuschließen, sind bereits ausführlich dargestellt worden.414 An dieser Stelle erscheinen daher wenige kurze Ausführungen ausreichend: Grundsätzlich hat die Vertragspartei, welche die besten (oder auch nur vergleichsweise gute) Konditionen bieten kann, einen Anreiz, diesen Vorteil gegenüber der Konkurrenz der Marktgegenseite zu signalisieren, sofern diese nicht schon selbst in der Lage ist, die unterschiedliche Qualität zu prüfen415. Ist das Signal für Anbieter guter Qualität günstiger als für diejenigen mit vergleichsweise schlechter Qualität wird ein Marktversagen in Form adverser Selektion (Stichwort: market for lemons) abgewendet.416 412
S. dazu im dritten Teil dieser Arbeit unter § 7 V.6.2.1. Zu der möglichen Abweichung von Pareto-Optimalität und Gesamtwohlfahrtsmaximierung und deren Gründen bereits oben unter § 4 II.2.2.3.2. 414 S. zu den maßgeblichen Einsichten von Aghion, Bolton, Hermalin u.a. über die Bedeutung von Informationsasymmetrien für das Vertragsdesign oben unter § 4 II.2.2.3. 415 Zur Unterscheidung von Such-, Erfahrungs- und Vertrauensgütern in der Informationsökonomik s. nur Nelson, J. Pol. Econ. 78 (1970), 311 ff.; Darby/Karni, J. L. & Econ. 16 (1973), 67 ff.; s. dazu noch in Bezug auf das verbraucherkreditrechtliche Widerrufsrecht unten im Dritten Teil der Arbeit unter § 9 IV.3.4.3.1. 416 S. zum Problem adverser Selektion oben unter § 4 II.2.2.1. Aus dieser Überlegung leitet Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 75 ff. etwa ein Argument gegen ein allgemeines und zwingendes Widerrufsrecht beim Erwerb von Erfahrungsgütern im Versandhandel ab. 413
156
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
Raum für eine Intervention zur Effizienzsteigerung der abgeschlossenen Verträge bleibt daher nur in zwei Fällen: zum einen, wenn das Signal deshalb nicht gesendet wird, weil es für den Anbieter zu teuer ist oder nicht funktioniert, da es nicht oder nur unter prohibitiv hohen Kosten durch die Gegenseite verifiziert werden kann. Potential für eine Effizienzsteigerung verbleibt zum anderen, wenn das Signal zwar funktioniert und auch gesendet wird, aber ein Unterbleiben des Signals im konkreten Fall günstiger wäre (etwa weil der Signalempfänger bloßes Schweigen nicht mehr einem Anbieter mit unterdurchschnittlicher Qualität zuordnen würde, sondern von einem Anbieter mit durchschnittlicher Qualität ausginge).417 Die Kosten von Informationsasymmetrien beruhen zu einem Großteil darauf, dass sich die Marktteilnehmer bei schwer oder gar nicht verifizierbaren Informationen strategisch verhalten: Um ein möglichst vorteilhaftes Verhandlungsergebnis bemüht, rücken sie sich bzw. die von ihnen angebotenen Leistungen in ein möglichst günstiges Licht, auch wenn sie um die Unrichtigkeit dieses Signals wissen. Erst dieses Verhalten macht es für Anbieter tatsächlich besserer Leistungen nötig, kostspielige Signale zu senden, die sie von den vergleichsweise schlechteren Anbietern für Dritte unterscheidbar machen.418 Klassische zivilrechtliche Instrumente zur Eindämmung solcher strategischer Fehlinformation sind etwa das Anfechtungsrecht wegen arglistiger Täuschung oder haftungsbewehrte Aufklärungspflichten.419 3.1.1.2 Ungleiche Verhandlungsmacht und Manipulation des Vertragspartners Die präsumptive Effizienz von Verträgen beruht auf der Annahme, dass beide Vertragsparteien ein zutreffendes Verständnis von ihren eigenen Präferenzen und damit von dem Nutzen des Vertrages haben und frei entsprechend dieser Präferenzen handeln können: Wer – idealerweise – in Kenntnis aller relevanten Informationen und nach ruhiger Überlegung, unbeeinflusst von dem anderen Vertragsteil den eigenen Nutzen am Vertragsschluss abwägt, wird in der Regel die richtige Entscheidung treffen.420
417 Ayres, Yale L.J. 112 (2003), 881, 889 benennt diese Erkenntnis ausdrücklich als mögliche Rechtfertigung für eine rechtspaternalistische Intervention in die Vertragsfreiheit. 418 S. für ein Beispiel etwa Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 769 f.; im Zusammenhang mit dem Abschluss von Eheverträgen etwa Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 559. Dazu noch ausführlich unten unter § 7 V.2. 419 Vgl. wiederum nur Trebilcock/Keshvani, U. Toronto L.J. 41 (1991), 533, 559. Zur möglichen Rechtfertigung zwingender Gewährleistungsrechte bei Schwierigkeiten, betrügerisches Verhalten nachzuweisen, s. Kronman, Yale L.J. 92 (1983), 763, 766 ff. [dazu bereits oben unter § 4 III.2.2.1]. In der Realität wird allerdings einem möglichen Reputationsschaden des „Täuschers“ bzw. (anderweitigen) sozialen Sanktionen durch das Umfeld eine ungleich stärkere Disziplinierungsfunktion zukommen. 420 Ganz richtig Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 82. Dies ist letztlich die Erwägung, die hinter der berühmten „Richtigkeitsgewähr“ von Verträgen in Sinne Schmidt-Rimplers steht, s. nur Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 151.
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
157
Die reflektierte Vergewisserung über die eigenen Präferenzen kann aber ebenso wie ihre freie Betätigung durch den Einfluss der anderen Vertragspartei gestört sein. Die Fähigkeit zu einer solchen Manipulation der Vertragsgegenseite kann in Verbindung mit deren Empfänglichkeit für derartige Manipulationen zu einem Machtgefälle im Rahmen der Vertragsverhandlungen führen. Dies sind die vielbeschriebenen Fälle ungleicher Verhandlungsmacht. Stört die Vertragsgegenseite die reflektierte Vergewisserung über die eigenen Präferenzen, zu denken ist etwa an die Herbeiführung eines Überraschungsmoments, den Aufbau von Zeitdruck oder eine psychologischen Verstrickung421, kommt dies einer Art „Überlistung“ gleich, ohne dass aber eine anfechtungsberechtigende Täuschung vorläge. Der Erfolg derartiger Manipulationsversuche hängt immer auch von der Anfälligkeit der Gegenseite ab. Augenfällig wird dies etwa an der Vorschrift des § 138 Abs. 2 BGB, welche die nichtigkeitsauslösende „Ausbeutung“ einer Vertragspartei an deren situative oder persönliche Schwächeposition knüpft. Insofern verschwimmen auch die Grenzen zwischen exogen und endogen veranlassten Präferenzstörungen422 oder Rationalitätsdefiziten, will man nicht lediglich auf einen (in Verhandlungssituationen kaum zu vermeidenden) bloßen Kausalzusammenhang mit dem Verhalten der „listigen“ Vertragspartei abstellen. Erwägt man in derlei Fällen eine rechtspaternalistische Intervention in das freie Spiel der (Verhandlungs-)Kräfte, darf freilich nicht übersehen werden, dass es auch Kosten verursacht, die Anreize zu geschicktem Verhandeln zu beschneiden.423 In Abschätzung dieser beiden gegenläufigen Effekte hat der Jurist eine wertende Zurechnung zu leisten, anhand derer sich entscheidet, ob eine Verhandlungspraktik lediglich „geschickt“ oder schon übermäßig manipulativ ist und daher eine rechtspaternalistische Intervention in Erwägung zu ziehen ist.424 Auch wenn die Vertragsparteien sich ihrer jeweiligen Präferenzen hinreichend vergewissert haben, kann ein Pareto-optimaler Vertragsschluss dadurch verhindert werden, dass der eine Kontrahent die Präferenzbetätigung des anderen Kontrahenten stört. Dies geschieht typischerweise durch den Aufbau von „Druck“, sei er wirtschaftlicher oder psychisch-emotionaler (bzw. „sozialer“) Natur.425
421 Beispiele nach Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 82 ff., der insofern von „exogen veranlassten Präferenzstörungen“ spricht. 422 Zu letzteren sogleich unter § 4 III.3.1.2. 423 S. zu den Kosten der rechtspaternalistischen Intervention noch gesondert unten unter § 4 III.3.2. 424 Insofern macht es sich Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 82 in Fn. 32 zu einfach, wenn er als Antwort auf die Frage von Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 231, 245 ff. nach der normativen Erklärung für die Sanktionierung der Verkaufstaktik des Käufers, lediglich darauf verweist, dass „dem Verkäufer die Präferenzstörung auf Seiten des Käufers zuzurechnen sei“ (Hervorhebung im Original). 425 Vgl. zu der Begründung rechtspaternalistischer Intervention wegen situativer Ausübung von „psychischem Druck“ durch die andere Vertragspartei etwa den 21. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher (Verbraucherrechterichtlinie), ABl. EU L 304 vom 22.11.2011, S. 64.
158
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
Freilich lässt sich dieser Druck auch immer in die Effizienzrechnung mit einbeziehen: Durch den – isoliert betrachtet – ungünstige(re)n Vertragsschluss entzieht sich die betroffene Partei der (unangenehmen) Drucksituation bzw. der in Aussicht gestellten (noch) ungünstigeren Alternative zum Vertragsschluss. Berücksichtigt man den „Negativnutzen“ (disutility) des Drucks bzw. der dahinter stehenden Alternative zum Vertragsschluss, erzielt die unter solchem Druck stehende Partei mithin durch den Vertragsschluss einen Nutzengewinn. Das rechtsgeschäftliche Gebaren der Vertragschließenden stellt sich dann wieder als dasjenige rationaler Nutzenmaximierer dar, das jedenfalls zu Pareto-superioren und möglicherweise sogar zu Pareto-optimalen Ergebnissen führt. Ob man den beschriebenen „Negativnutzen“ der Drucksituation bzw. den Nutzen ihrer Abwesenheit in die Präferenz- und Effizienzbetrachtung mit einbeziehen will, ist letztlich eine Wertungsfrage, genauer: eine Frage der Angemessenheit der Mittel. Jenseits eindeutiger Fälle unlauterer Druckausübung, wie etwa dem von § 123 Abs. 1 Alt. 2 BGB erfassten Verhalten,426 fällt die Grenzziehung zwischen unangemessener Druckausübung, deren Wirkungen auf die betroffene Vertragspartei als Störung ihrer Präferenzbetätigung einzuordnen ist, und Druck als Aspekt üblichen Verhandlungsgebarens, das bei der autonomen Präferenzbildung der betroffenen Partei Berücksichtigung findet, naturgemäß schwer. Diese wohl nur mit Blick auf die konkrete Fallgestaltung zu lösenden Schwierigkeiten zeigen sich etwa in der Diskussion um Sinn und Unsinn von (Verbraucher)widerrufsrechten427 und – in ganz besonderer Weise – in der durch das Verfassungsgericht angestoßenen Debatte um die Grenzen der Privatautonomie bei „struktureller Unterlegenheit“ einer Vertragspartei.428 Im Rahmen dieser Rechtsprechung sind nicht nur, aber insbesondere intensive emotionale Beziehungen aufgrund familiärer Bande als Quelle psychisch-emotionaler Störung der Präferenzbetätigung („Druck“) ausgemacht worden (Stichwort: Angehörigenbürgschaft, Ehevertrag). Auch rechtsvergleichend werden diese und andere „thick relationships“ als besonderer Nährboden für „social pressure“ angesehen, der eine vergleichsweise intensive Intervention in die Vertragsfreiheit der Beteiligten rechtfertigen könne.429
426 Weitere Sanktionen unangemessener Druckausübung können sich etwa aus den §§ 138 Abs. 1 und 2, 826 BGB ergeben. 427 S. dazu etwa die oben dargestellten Ausführungen von Kronman [§ 4 III.2.2.3] sowie jüngst Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67 ff.; zum verbraucherkreditrechtlichen Widerrufsrecht noch ausführlich unten unter § 9 IV.3.4.3. 428 S. dazu bereits oben unter § 3 VI.2.3.1 und noch ausführlich im Zusammenhang mit der Inhaltskontrolle von Eheverträgen unten unter § 7 III.3 und öfter. 429 S. zu „thick relationships“ als Anwendungsfeld für vergleichsweise intensive Eingriffe in die Vertragsfreiheit Eisenberg, Stan. L. Rev. 47 (1995), 211, 251 ff.; zum Phänomen der „social pressure“ als Rechtfertigung für Rechtspaternalismus auch Ogus, in: Hopt et al. (eds.), Corporate Governance in Context, 2005, S. 303, 309 f.; ders., Costs and Cautionary Tales, 2006, S. 238. Zum Verhandlungsungleichgewicht als Begründung effizienzsteigernder Intervention in das Ehevertragsrecht s. noch § 7 IV.2.2.1 und § 7 VI.2.3.3.2.6.
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
159
Unter Effizienzgesichtspunkten ist bei der Entscheidung über eine rechtliche Intervention in derlei Fällen eines (vermeintlichen) Ungleichgewichts der Verhandlungsmacht freilich besondere Vorsicht geboten. Gerade weil die Wirkungen des Verhandlungsgebarens auf die Präferenzformung und -betätigung der Beteiligten häufig nicht eindeutig bestimmt werden können, ist hier die Gefahr der Fehldeutung durch den Intervenienten und damit der Verursachung von Ineffizienzen groß.430 3.1.2 Rationalitätsdefizite als maßgeblicher Ansatzpunkt Für die Befürworter rechtspaternalistischer Intervention ist der mit Abstand wichtigste Ansatzpunkt für die Hebung von Wohlfahrtsgewinnen die Vorstellung, dass die privaten Akteure unter sog. „Rationalitätsdefiziten“ leiden.431 Anders als bei den vorgenannten Kategorien hat hier das Markt- oder Verhandlungsversagen endogene Ursachen, die in der psychisch-kognitiven Konstitution des Entscheiders begründet sind.432 Theoretisch lassen sich hier Defizite der Präferenzformung und der Präferenzbetätigung unterscheiden.433 Erkennt man aber an, dass der einzelne Entscheider nicht immer über eine stabile, d.h. von der Entscheidungssituation unabhängige und über die Zeit unveränderliche, Präferenzordnung verfügt, und daher seine – bezogen auf die Entscheidung – Ex ante- und Ex post-Präferenzen konfligieren können und auch eine diesen Konflikt eigentlich regelnde Meta-Präferenz bei der konkreten Entscheidung nicht immer berücksichtigt wird, dann zeigt sich, dass beide Kategorien tatsächlich nur schwer zu trennen sind. Bei der folgenden, nicht abschließenden434 Auflistung der in der Diskussion genannten Rationalitätsdefizite, die zu Abweichungen von einer Pareto-optimalen Verhandlungslösung führen können, sind die beiden zuerst genannten Kategorien der Informationsaufnahme- und -verarbeitungsdefizite sowie der systematischen Entscheidungsfehler theoretisch auch bei einer stabilen Präferenzordnung denkbar, wie sie das klassische Rationalwahlmodell zugrunde legt435. Die anschließenden „Defizitkategorien“ setzen gedanklich hingegen die Instabilität 430 Vgl. Burrows, Int. Rev. Law. Econ. 15 (1995), 489, 490, 497, 506 f. [zu dessen Standpunkt bereits oben unter § 4 III.2.4]. S. zum Wissensproblem des Intervenienten und den damit verbundenen Kosten noch ausführlich unten unter § 4 III.3.2.5.1 und später unter § 5 VI.3.2.2. 431 S. bspw. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 232 et passim; ausführlich zu dessen Konzept eines effizienten Paternalismus oben unter § 4 III.2.5. 432 Vgl. auch die Differenzierung zwischen exogen veranlassten Präferenzstörungen und endogenen Präferenzstörungen bei Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 82 ff., der letztere als solche beschreibt, „deren Ursache beim [Kontrahenten] selbst [liegt], der aus in seiner psychischen Disposition wurzelnden Gründen nicht in der Lage ist, eine störungsfreie Reflexion über den Nutzen des konkreten Vertragsgegenstandes anzustellen.“ 433 S. bereits oben unter § 4 III.2.6.2 m.N. aus dem Schrifttum. 434 So wird etwa auf die allseits anerkannten Fälle minderjähriger und geistig beeinträchtigter Menschen verzichtet, s. dazu nur Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 56 f. unter der Überschrift „Cognitive Incapacity“. 435 S. dazu oben unter § 4 I.2.3.
160
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
von Präferenzen voraus, sei es in Form der bloßen Veränderlichkeit über die Zeit, sei es in Form der kontextuellen oder Stehgreif-Präferenzbildung.436 Die zuletzt aufgeführte Kategorie der (gänzlich) fehlenden Reflexion stellt hier in gewisser Weise einen Grenzfall dar.437 3.1.2.1 Informationsaufnahme- und -verarbeitungsdefizite Wie gezeigt können Informationsasymmetrien der Grund für ein Marktversagen sein.438 Ein Informationsmangel, der eine Pareto-optimale Verhandlungslösung verhindert, kann aber eben auch auf inneren Umständen der Verhandlungspartner beruhen, nämlich auf deren begrenzter Informationsaufnahme- und -verarbeitungsfähigkeit.439 Der hieraus resultierende Informationsmangel kann zum einen dazu führen, dass der betroffene Akteur die seinen Präferenzen am besten entsprechende Entscheidungsoption nicht identifizieren kann. Dann handelt es sich um eine Störung der Präferenzbetätigung.440 Bildet der Entscheider seine Präferenzen hingegen erst in der konkreten Entscheidungssituation, dann kann der die konkrete Entscheidungsgrundlage betreffende Informationsmangel auch auf die Präferenzformung durchschlagen. In diesem Fall begründet die beschränkte Informationsaufnahme- und -verarbeitungsfähigkeit mithin eine Störung der Präferenzformung. 3.1.2.2 Systematische Entscheidungsfehler Eine weitere Form von Rationalitätsdefiziten, die auch bei einer „an sich“ stabilen Präferenzordnung denkbar ist, betrifft systematische Entscheidungsfehler des Menschen – auch kognitive Verzerrungen (cognitive biases) genannt –, die insbesondere bei Entscheidungen unter Unsicherheit auftreten. Zu den Ursachen solcher Fehler zählen etwa die sog. Verfügbarkeitsheuristik oder die Ähnlichkeitsheuristik.441 Die Anerkennung solcher in überraschend großer Zahl von Kognitionspsychologen und Experimentalökonomen nachgewiesenen Entscheidungsfehler stellt einen Grundpfeiler der Verhaltensökonomik dar. Ihre ausführliche Beschreibung wird daher dem folgenden Kapital der Arbeit vorbehalten. 436 Ähnlich die Differenzierung bei Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651, 1655 ff. in „Judgment Biases“ und „Context-Dependent Preferences“. 437 S. unten § 4 III.3.1.2.5. 438 S. oben unter § 4 III.3.1.1.1 und vorher § 4 II.2.2. 439 Vgl. auch Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 62 ff., die „Information Failure“ als eine Form der „Contract Failure“ ansehen, die sowohl Informationsasymmetrien im herkömmlichen Sinne als auch Informationsverarbeitungsdefizite umfasst. 440 Für ein solches Verständnis etwa Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 59 ff., 62 ff. („information failure“ als Grund für die Abweichung der Entscheidung von der „underlying preference“); ähnlich Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651, 1655 ff. (unter der Überschrift „judgment biases“); Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1166 ff. 441 S. hier nur Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651, 1655 ff. Dazu ausführlich unten unter § 5 II.1.3.
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
161
An dieser Stelle ist allein festzuhalten, dass diese Entscheidungsfehler natürlich auf einem gewissen Umgang mit entscheidungserheblicher Information beruhen, weshalb sie sich insofern auch als Informationsverarbeitungsmangel einordnen und damit unter die zuvor genannte Defizitkategorie subsumieren lassen.442 3.1.2.3 Akute Impulse und motivatorische Verzerrungen Eine weitere zur Begründung effizienten Paternalismus genannte Kategorie von Rationalitätsdefiziten ist diejenige der Beeinträchtigung durch akute Impulse, die auch als „temporäre Aussetzer“ apostrophiert werden443. Hierunter zählt man etwa Zustände großer Aufregung oder allgemein starker Emotionalität, Erschöpfung oder die temporäre Beeinträchtigung durch psychoaktive Substanzen.444 Eine anverwandte Fallgruppe von Rationalitätsstörungen sind sog. motivatorische Verzerrungen (motivational distortions), die Süchte, Marotten oder kurzsichtiges Verhalten umfassen.445 In beiden Fallgruppen treffen Menschen Entscheidungen, ohne für ihre aktuelle Präferenz mögliche künftige Konsequenzen hinreichend zu reflektieren, weil sie in der Entscheidungssituation akuten Impulsen und/oder motivatorischen „Schwächen“ nachgeben. In den Worten von Kronman fehlt es den Menschen dann an „judgment as requiring disengagement from the immediacy of desire“.446 Fände eine solche Distanzierung von dem unreflektierten Entscheidungsimpuls statt – so die zumeist implizite Aussage –, würden die Entscheider andere, stärker an längerfristigen Effekten orientierte (Meta-)Präferenzen bilden und/oder diesen entsprechend entscheiden. 3.1.2.4 Mangelnde teleskopische Fähigkeiten – Begrenztes Vorstellungsvermögen Auch jenseits der vorstehend beschriebenen affektiven Zustände (sog. „hot states“) ist es dem Menschen aufgrund seiner mangelnden teleskopischen Fähigkeiten447 bzw. seiner begrenzten Vorstellungskraft häufig nicht möglich, in der konkreten Entscheidungssituation eine mögliche künftige Änderung der eigenen 442 Vgl. auch die Darstellung bei Korobkin, Cal. L. Rev. 97 (2009), 1651, 1655 ff. oder Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1139, 1166 ff.: „[P]rivate preferences are sometimes based on inadequate information, a large category that includes cognitive distortions in dealing with low-probability events.“ 443 S. Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 57, die von „temporary distorting states“ sprechen. 444 S. wiederum Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 57; ferner etwa Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 789 ff. S. aus entscheidungstheoretischer Perspektive auch die Beiträge in Heft 2/2006 des Journal of Behavioral Decision Making, die sich sämtlich mit dem Thema „The Role of Affect in Decision Making“ befassen. 445 S. Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1139, 1158 ff. 446 Kronman, Yale. L.J. 92 (1983), 763, 789. 447 S. dazu bereits Pigou, The Economics of Welfare, 1924 (2009), part I ch. 2 § 3 (S. 25): „Our telescopic faculty is defective and […] we therefore, see future pleasures, as it were, on a diminished scale.“; im Zusammenhang mit unvollständigen Verträgen Hart/Moore, Econometrica 56 (1988), 755; Tirole, Econometrica 67 (1999), 741, 743.
162
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
Präferenzen „vorherzusehen“, meint: zu imaginieren.448 Notwendige Annahme für eine wohlfahrtssteigernde Intervention ist nun, dass der Entscheider die (mögliche) Präferenzänderungen stärker oder überhaupt erst für seine – dann anders ausfallende – Entscheidung berücksichtigen würde, wenn er nur über die nötige Vorstellungskraft verfügte. 3.1.2.5 Fehlende Reflexion Potential für eine effiziente Intervention in die Vertragsfreiheit liegt schließlich dort auf der Hand, wo menschliche Akteure ungeachtet vorhandener kognitiver Ressourcen und ohne akuten Impulsen unterworfen zu sein, ihre Entscheidung gar nicht reflektieren.449 Die sich in einem solchen Entscheidungsverhalten manifestierenden Ad hoc-„Präferenzen“ lassen die an sich bestehende, am individuellen Lebensplan sowie an inhaltlich fundierten Maximen ausgerichtete Präferenzordnung des Entscheiders (jedenfalls teilweise) unberücksichtigt. Das Effizienzsteigerungspotential des regulatorischen Eingriffs beruht mithin auf der Annahme, dass der Entscheider – würde er nur hinreichend eindringlich auf die Konsequenzen seines Entscheidungsverhaltens hingewiesen – eine reflektierte Entscheidung vorziehen würde, also m.a.W. eine Meta-Präferenz zugunsten der reflektierten Entscheidung mit der dieser zugrundeliegenden „reflektierten“ Präferenzen besteht. 3.2 Kosten der rechtspaternalistischen Intervention Dem (potentiellen) Nutzen einer rechtspaternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit der Rechtsunterworfenen stehen eine Reihe potentieller Kostenpositionen gegenüber. 3.2.1 Kosten für den Intervenienten – Rechtsetzungs- und -anwendungskosten Zu diesen Kosten gehören zunächst die bei jeder neuen Regelung anfallenden Kosten des Rechtsetzungsprozesses und der fortlaufenden Rechtsanwendung durch die Gerichte.450 Erstere fallen in der Regel, d.h. wenn nicht nachträglich Korrekturbedarf entsteht, nur einmal an und sind – bezogen auf die Rechtsgemeinschaft – in der Höhe dann meist marginal.451 Die Kosten der Rechtsanwen448
Hierauf verweist etwa Burrows, Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 493 f. unter Verweis auf verhaltensökonomische Erkenntnisse. Im Zusammenhang mit affektivem Verhalten spricht man von der sog. „hot-cold empathy gap“; s. etwa Ariely/Loewenstein, J. Behav. Dec. Making, 19 (2006), 87 ff.; grundlegend dazu Loewenstein, Organ. Behav. & Hum. Decision Processes 65 (1996), 272 ff. 449 S. dazu Trebilcock/Elliott, in: Benson (ed.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 45, 57 f. („Absence of Reflection“). 450 Auf diese verweist etwa Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 260; s. ferner etwa Ogus, Legal Studies 30 (2010), 61, 70. 451 Freilich können die Opportunitätskosten, die sich daraus ergeben, dass die knappen Rechtsetzungsressourcen nicht für ein anderes, „lohnenderes“ Rechtsetzungsprojekt eingesetzt werden können, im Einzelfall sehr hoch sein. Verallgemeinernde Aussagen sind hierzu jedoch nur schwer zu treffen.
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
163
dung durch die Gerichte können hingegen abhängig von der Streitträchtigkeit der paternalistischen Regelung sehr hoch ausfallen. Dies gilt insbesondere für eine richterliche Inhaltskontrolle von Verträgen, die auf die Umstände des konkreten Einzelfalles abstellt. Die wechselvolle Rechtsprechung zur Wirksamkeit von Eheverträgen liefert hier ein eindrucksvolles Beispiel.452 3.2.2 Verteuerung der Transaktion für die Rechtsunterworfenen Für die Vertragsparteien können Kosten durch die rechtspaternalistische Intervention in das Vertragsrechtsregime ferner dadurch entstehen, dass die Beachtung der hiermit verbundenen prozeduralen und inhaltlichen Vorgaben den Vertragsschluss und/oder seine Durchführung verteuert. Zu diesen durch den rechtlichen Eingriff begründeten Transaktionskosten zählen beispielsweise auch die Kosten der Planungsunsicherheit, die mit einer solchen Regelung verbunden sein kann, etwa wenn die Rechtsverbindlichkeit einer vertraglichen Vereinbarung unter dem Vorbehalt der richterlichen Inhaltskontrolle steht.453 3.2.3 Intrinsischer Nutzen der Entscheidungsfreiheit und Frustrationskosten In der Paternalismusdiskussion wird weithin angenommen, dass die Freiheit, zwischen verschiedenen Optionen wählen zu können, für den Entscheider einen intrinsischen Wert hat.454 Der Entscheider misst danach der Wahlmöglichkeit X einen Wert zu, der unabhängig davon ist, ob er X tatsächlich für eine gute Wahl hält oder nicht. Und umgekehrt misst der Entscheider auch der Möglichkeit, die Option X aus einer Mehrzahl von Optionen auszuwählen, einen Mehrwert gegenüber der alternativlosen Wahl von X zu.455 Begründet wird dieses Phänomen zum einen damit, dass das Auswählen einer Option aus einer Vielzahl von Möglichkeiten ein Prozess ist, der mit zunehmender Erfahrung verbessert wird, und die eigenverantwortliche Wahl und das Tragen der damit verbundenen Konsequenzen zur Charakterentwicklung beiträgt.456 Zum anderen wird – letztlich zirkulär – darauf verwiesen, dass die Entscheidungsmöglichkeit zwischen verschiedenen Optionen den Akteuren ein angenehmes Gefühl der Kontrolle vermittelt, das zu ihrem Wohlbefinden beiträgt.457 452
S. dazu ausführlich unten unter § 7 III. S. dazu für das Ehevertrags- und das Gesellschaftsrecht unten unter § 7 VI.2.3.3 und § 8 V.2.3.4. 454 S. etwa Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 555 ff.; aus der philosophischen Literatur etwa G. Dworkin, Midwest Studies In Philosophy 7(1) (1982), 47, 58; Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 115 f.; ferner Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 23 ff. in Auseinandersetzung mit Gegenpositionen. S. dazu bereits oben unter § 2 III. 455 S. zu dieser Definition sowie zum Folgenden Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 555 f. 456 So etwa G. Dworkin, Midwest Studies In Philosophy 7(1) (1982), 47, 59; Regan, in: Sartorius (ed.), Paternalism, 1983, S. 113, 116; Sen, Eur. Econ. Rev. 32 (1988), 269, 289 ff. 457 Vgl. dazu Gahagan, in: Radford/Govier (eds.), A Textbook of Psychology, 2nd ed. 1991, S. 659, 673. 453
164
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
Der Wert, den der Entscheider der Entscheidungsmöglichkeit „an sich“ beimisst, ist freilich stark von der Person des Entscheiders abhängig und davon, welcher Entscheidungsgegenstand in Rede steht. So wird dieser Wert etwa für triviale Entscheidungen vergleichsweise niedrig sein.458 Führt nun die rechtspaternalistische Intervention dazu, dass dem Entscheider eine oder mehrere Entscheidungsoptionen verwehrt werden, sei es, dass einer entsprechenden vertraglichen Wahl die Rechtsverbindlichkeit versagt wird, sei es, dass diese Wahl mit prohibitiv hohen Kosten verbunden wird, entstehen dem Schutzadressaten Frustrationskosten, die den intrinsischen Wert der Verfügbarkeit der versagten Option reflektieren. Ebenso wie dieser Wert sind die entsprechenden Kosten der paternalistischen Intervention stark kontextabhängig und können (wenn überhaupt) nur für den konkreten Vertragsgegenstand ermittelt werden.459 3.2.4 Lerneffekte und Langzeitnutzen – Kosten ihrer Vereitelung Im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse rechtspaternalistischer Regelungen schlagen auf der Individual- oder Mikroebene ferner die Kosten verhinderter Lerneffekte zu Buche. Denn die Intervention verhindert nicht nur die Konsequenzen des ineffizienten Vertrages, sondern damit zugleich, dass ihr Adressat aus dem diesen Konsequenzen innewohnenden Schaden „klug wird“. Ein solches „Klugwerden“ durch Lernen generiert für den Adressaten auf lange Sicht einen eigenen Nutzen, sei es aufgrund eines fürderhin den eigenen Präferenzen besser entsprechenden Entscheidungsverhaltens, sei es (darauf aufbauend) aufgrund einer vorteilhafteren Selbstwahrnehmung oder aufgrund sonstiger Umstände.460 Die Kosten der Intervention aus der Verhinderung von Lerneffekten spielen freilich dort keine Rolle, wo der zur ineffizienten Entscheidung führende psychische Mechanismus durch Lernen nicht verändert werden kann.461 Wenig anders verhält es sich in denjenigen Fällen, in welchen Entscheidungen der betreffenden Art zwar häufig anfallen, die mit ihrer Ineffizienz verbundenen nachteiligen Folgen aber nur höchst selten auftreten.462 Hier wird die erworbene Erfahrung häufig zu spärlich sein, um einen nachhaltigen Lernprozess in Gang zu setzen.463 Aber auch dort, wo eine stärkere (Langzeit-)Präferenzkonformität des Entscheidungsverhaltens prinzipiell erlernbar ist, hängt die Bedeutung dieser Kosten 458
S. zum Ganzen ausführlich Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 556 ff. S. auch Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 556 ff. der folgert, dass „paternalism requires serious, context-specific evaluation“. 460 S. zu den durch die Verhinderung von Lerneffekten entstehenden Kosten der paternalistischen Intervention bereits oben unter § 2 VI.1. 461 S. dazu noch unten unter § 5. 462 Ein klassisches, nicht aus dem vertraglichen Bereich stammendes Beispiel ist etwa die Entscheidung, beim Autofahren den Gurt oder beim Radfahren den Helm anzulegen. 463 S. dazu sowie zum Nachfolgenden auch Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 553 f., der nicht von Lerneffekten, sondern von „positivem Erfahrungsfeedback“ spricht. 459
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
165
von dem konkreten Vertragsgegenstand, genauer: von (1) der Gewichtigkeit der mit einem ineffizienten Vertragsschluss verbundenen nachteiligen Konsequenzen sowie (2) der Häufigkeit ihres Auftretens ab. Handelt es sich um einmalige oder zumindest seltene, lebensverändernde oder -determinierende Entscheidungen mit irreversiblen Folgen, bleibt häufig kein Anwendungsfeld für eine nutzbringende Anwendung des aus der Fehlentscheidung Gelernten. Die durch fehlende Lerneffekte entstehenden Kosten tendieren dann gegen Null. Gleichzeitig können die Kosten des nachteiligen Vertragsschlusses extrem hoch ausfallen. In derlei Fällen liegt eine am Kosten-Nutzen-Kalkül des Effizienzmaßstabs ausgerichtete rechtspaternalistische Intervention besonders nahe.464 Umgekehrt wird in Fällen, in denen die Konsequenzen des ineffizienten Vertragsschlusses nicht dramatisch sind, Lerneffekte aber erwiesen, den Kosten für verhinderte Lerneffekte eine größere Bedeutung zukommen.465 3.2.5 Frustrationskosten bei fehlerhafter oder sachwidrig motivierter Entscheidung des Intervenienten Für die Analyse der potentiellen Kosten einer rechtspaternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit der Rechtsunterworfenen ist ferner die Erkenntnis von großer Bedeutung, dass auch auf Seiten des Intervenienten, d.h. der Legislative oder der rechtsanwendenden Gerichte, letztlich menschliche und damit fehlbare Entscheider stehen. Realisiert sich diese Fehlbarkeit dahingehend, dass die rechtspaternalistisch motivierte Intervention tatsächlich gar nicht den wahren, hinreichend reflektierten Präferenzen bzw. Metapräferenzen der Schutzadressaten entspricht, fehlt es nicht nur an einem Nutzen der Intervention. Diese verursacht vielmehr auch (Frustrations-)Kosten, indem sie dem Entscheider die eigentlich präferenzkonforme Entscheidung unmöglich macht oder diese zumindest verteuert. Über diesen Fall hinaus ist die paternalistisch motivierte Intervention bereits dann ineffizient, wenn der Intervenient den Kosten-Nutzen-Saldo des Eingriffs irrtümlich für positiv hält.466 Folgende Gründe kommen für derart fehlgehende Interventionen in Betracht: 3.2.5.1 Das Wissensproblem des Intervenienten Eine in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Quelle für Fehler des Intervenienten bei dem paternalistisch motivierten Eingriff in die Vertragsfreiheit ist der Umstand, dass es sich bei den maßgeblichen Präferenzen der Schutzadressaten um innere (und häufig hoch individuelle) Zustände handelt. Der Intervenient ist nicht mit den persönlichen Werten, Anschauungen und Bedürfnissen des Schutz464
S. zu den im Ergebnis ähnlichen Wertungen des Verfassungsrechts oben unter § 3 VI.3. Ist gleichzeitig noch unklar, ob überhaupt Ineffizienzen vorliegen, spricht viel dafür, von einer rechtspaternalistischen Intervention abzusehen. In diesem Sinne auch Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 73 im Hinblick auf das Widerrufsrecht des Verbrauchers. 466 Vgl. Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 260. 465
166
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
adressaten vertraut.467 Ihm werden daher häufig die Informationen fehlen, um wirklich zu wissen, was die Interessen des Adressaten sind, die er schützen will. So ist etwa der gerichtlichen Intervention in die vertragliche Vereinbarung wegen (angeblichem) Verhandlungsungleichgewicht468 entgegengehalten worden, sie könne eine „einseitige“ Vertragsgestaltung gar nicht sicher identifizieren, da sie nicht um die subjektiven Kosten und den subjektiven Nutzen der Parteien wisse, die von objektiven Marktpreisen durchaus abweichen könnten.469 Die an die Stelle der Kenntnis rückende Abschätzung werde dann allzu leicht dadurch beeinflusst, was der Intervenient selbst für gut und richtig hält.470 3.2.5.2 Beschränkte Rationalität des Intervenienten Eine weitere Ursache für Fehleinschätzungen ist die beschränkte Rationalität des Intervenienten selbst.471 Auch wenn die Interventionsentscheidungen das Ergebnis eines formalisierten Findungsprozesses sind und jedenfalls bei Legislativakten durch ein Kollektiv getroffen werden, sind weder der Gesetzgeber noch der Richter vor systematischen Entscheidungsfehlern gefeit.472 3.2.5.3 Verfolgung effizienzfremder Motive (Missbrauch) Schließlich besteht immer die Gefahr, dass eine vermeintlich dem Effizienzmaßstab verpflichtete paternalistische Regelung tatsächlich anderen (sachfremden) Motiven dient. So mag der Gesetzgeber in Wahrheit mit der Maßnahme seine eigene politische Agenda verfolgen oder aber der Einflussnahme durch wirkungsmächtige Interessengruppen nachgegeben haben.473 Die Befürchtung einer derart sachfremd motivierten Intervention und die hieraus entstehenden Kosten für die Rechtsunterworfenen und damit das Gemeinwohl klingen in der immer wieder geäußerten Mahnung gegenüber den Befür467 Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 260; ferner Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905 ff. passim, die die damit verbundenen Kosten für prohibitiv hoch halten. S. zu ihrer Kritik eines verhaltensökonomisch fundierten Rechtspaternalismus noch unten unter § 5 VI.3.2.2. 468 S. zu dieser Rechtfertigung der Intervention im Rahmen eines effizienten Paternalismus oben unter § 4 III.3.1.1.2. 469 So De Alessi/Staaf, JITE 145 (1989), 561, 568 mit 574 in Bezug auf die UnconscionabilityDoktrin. 470 Eindringlich zu diesem Wissensproblem des Intervenienten Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905 ff. S. zu diesem epistemologischen Problem bereits Mill, On Liberty, 1859, S. 136 f. [dazu bereits oben unter § 2 III.2]. 471 S. etwa Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 260; auch Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1173 erkennt diese mögliche Kostenquelle der paternalistischen Intervention an; aus dem deutschen Schrifttum etwa Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, 2012, S. 268; allgemein zum Richter als satisficer Tsaoussi/Zervogianni, Eur. J. Law Econ. 29 (2010), 333 ff. 472 Zu diesen Fehlern noch ausführlich im folgenden Abschnitt (§ 5). 473 S. bereits Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1173: „[P]ast experience suggests that the risks of abuse here are significant.“; aus neuerer Zeit etwa Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 39 f., 149; ferner den knappen Hinweis bei Ogus, Costs and Cautionary Tales, 2006, S. 240. Die Einflussnahme von Interessengruppen auf den politischen Entscheidungsfindungsprozess wird vor allem von den Anhängern der Public Choice-Strömung in der politischen Ökonomie sehr ernst genommen. S. dazu den Überblick bei Farber/Frickey, Law and Public Choice, 1991, S. 12 ff.
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
167
wortern rechtspaternalistischer Eingriffe an, dass man sich mit der Akzeptanz rechtspaternalistischer Regelsetzung auf eine abschüssige Bahn (slippery slope) begebe, die leicht in den Abgrund eines freiheitsfeindlichen Interventionismus führen könne.474 Diese Gefahr bestehe gerade auch deshalb, weil die auf diesem Feld maßgeblichen Begriffe der Selbstbestimmung und Freiwilligkeit in hohem Maße manipuliert und als Ideale letztlich in der Realität immer verneint werden können.475 3.2.5.4 Fehlerhafte Intervention versus irrtümliche Untätigkeit Die Bedeutung der Kosten eines fehlerhaften, d.h. nicht effizienzsteigernden, paternalistischen Eingriffs in die rechtliche Handlungsfreiheit der Rechtsunterworfenen für die Kosten-Nutzen-Analyse des Rechtsetzers oder -anwenders bedarf allerdings einer gewissen Relativierung: Wie bei jeder unter den Bedingungen der Unsicherheit getroffenen Entscheidung über ein Tun oder Unterlassen, kann nicht nur die Entscheidung für das Tun fehlerbehaftet sein, sondern auch die Entscheidung für das Unterlassen. Hieraus folgt: Die Kosten einer möglichen Fehlentscheidung des Intervenienten sind in der Kosten-Nutzen-Abwägung nur dann gegen eine paternalistische Intervention in Ansatz zu bringen, wenn im konkreten Fall die (unter Berücksichtigung ihrer Wahrscheinlichkeit) erwartbaren Kosten einer Fehleinschätzung im Interventionsfalle über den entsprechenden Kosten im Falle der Untätigkeit liegen.476 3.2.6 Heterogenität des Adressatenkreises – Über- und Unterinklusion Für die Kosten-Nutzen-Analyse einer rechtspaternalistischen Intervention ist aus Sicht des Gesetzgebers ferner der Umstand von größter Bedeutung, dass die Regelungsadressaten in ihren Eigenschaften nicht identisch, sondern verschieden sind. Sind diese Unterschiede für das konkrete Regelungsproblem relevant, entsteht bei typisierenden Regeln, die vom Einzelfall abstrahieren, das Problem der Über- oder Unterinklusion: Braucht ein Teil der in den Anwendungsbereich der (intendierten) Regelung fallenden Adressaten für die Aushandlung des (für sie) effizienten Vertrages keine Hilfe, stellt sich die wohlmeinende Intervention für sie lediglich als Kostenfaktor dar (Überinklusion). Ist der personale Anwen474 S. dazu Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1199 selbst; hierbei handelt es sich inzwischen um einen stehenden Begriff in der Paternalismusdiskussion, vgl. statt vieler nur Ogus, Legal Studies 30 (2010), 61, 69. 475 S. etwa Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 582: „The law of freedom of contract claimed to resolve basic issues of distribution and paternalism. Yet these constitutive exceptions refer ultimately to the abstract notion of voluntariness or freedom which is among the most manipulable and internally contradictory in the legal repertoire.“; sowie Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1170: „Lurking beneath the surface, however, is a serious risk: […] If the ideas of endogenous preferences and cognitive distortions are carried sufficiently far, it may be impossible to describe a truly autonomous preference.“ 476 S. Zamir, Va. L. Rev. 45 (1998), 229, 261; ferner bereits Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1145 ff., 1173 f., vor allem im Hinblick auf das Phänomen der Präferenzadaption an ein vorfindliches Rechtsregime.
168
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
dungsbereich der (intendierten) Regelung allerdings zu eng zugeschnitten, wird Nutzenpotential der Intervention verschenkt (Unterinklusion). Das Problem der Heterogenität des (potentiellen) Adressatenkreises einer paternalistischen Regelung wirkt also in zwei Richtungen. In der rechtswissenschaftlichen Paternalismusdiskussion steht allerdings das Phänomen der Überinklusion ganz im Vordergrund.477 Ihm kommt auch deshalb eine höhere rechtspolitische Brisanz zu, weil es hierdurch regelmäßig zu einer Umverteilung zwischen schutzbedürftigen und nicht schutzbedürftigen Regelungsadressaten kommt.478 3.2.7 Die Idee des asymmetrischen Paternalismus Das Kostenpotential einer in Bezug auf den Effizienzmaßstab fehlgehenden oder in Bezug auf den erfassten Personenkreis zu weit geratenen479 paternalistischen Intervention entscheidet allerdings nicht notwendig über das „Ob“ einer solchen Maßnahme, wenn ihm bereits auf der Ebene des „Wie“ hinreichend Rechnung getragen werden kann. Auf dieser Erkenntnis gründet das Konzept des asymmetrischen Paternalismus, das nur solche rechtspaternalistischen Regelungen befürwortet, aus denen der Schutzadressat zu vergleichsweise geringen Kosten „herausoptieren“ (sog. opting out) kann.480 Hierauf und auf verwandte Konzepte wird an späterer Stelle noch zurückzukommen sein.481 3.3 Theoretische Konvergenz von Intervention und Präferenz des Entscheiders Wie bereits betont sind die Entscheiderpräferenzen Dreh- und Angelpunkt eines dem Effizienzmaßstab verpflichteten Rechtspaternalismus.482 Sie determinieren letztlich, wann ein Effizienzgewinn oder -verlust vorliegt.483 Klassischerweise wird hierfür der Grad der Präferenzbefriedigung ohne paternalistischen Eingriff mit demjenigen bei paternalistischem Eingriff verglichen. Der mögliche Wohlfahrtsgewinn resultiert aus der Behebung von Störungen der Präferenzverwirklichung oder -formung. Der Intervenient muss dann die Störung als solche identifizieren und dafür jedenfalls bei endogenen Präferenzstörungen ein Bild von den 477 Vgl. etwa Camerer/Issacharoff/Loewenstein/O’Donoghue/Rabin, U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1219 et passim, die als Antwort auf das Problem das Konzept des asymmetrischen Paternalismus entwickeln. Dazu sogleich unter § 4 III.3.2.7 und ausführlich unter § 5 VI.2.2. 478 S. zu diesem Effekt bereits oben unter § 4 II.4.2. Anschaulich für das Widerrufsrecht des Verbrauchers Eidenmüller, AcP 210 (2010), 67, 71 f. mit Fn. 14 und S. 78 mit Fn. 28, der sich auf von Borges/Irlenbusch, JITE 163 (2007), 84, 87 präsentierte Zahlen stützt. 479 Meint „überinklusiven“. Zum Phänomen der Überinklusion soeben unter § 4 III.3.2.6. 480 S. Camerer/Issacharoff/Loewenstein/O’Donoghue/Rabin, U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211 ff. 481 S. ausführlich unten unter § 5 VI.2.2. 482 S.o. unter § 4 III.2.6.1. 483 Dies gilt sowohl für die „Nutzenseite“, also für die Identifizierung eines Marktversagens, aber jedenfalls teilweise auch für die „Kostenseite“, nämlich etwa bei der Identifikation von „Frustrationskosten“. Das Problem der Externalitäten bleibt hier, wie bereits vielfach betont, außer Betracht.
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
169
„wahren“ Präferenzen des Schutzadressaten haben. Bei Anerkennung in der Zeit veränderlicher sowie durch Umstände der Entscheidungssituation beeinflusster (endogener) Präferenzen wird es dann teilweise auch nötig, hierfür bestimmte (temporale) Metapräferenzen bzw. Präferenzen zweiter Ordnung zu ermitteln.484 Das vor der bzw. ohne die Intervention bestehende Präferenzsystem des Entscheiders (Ex ante-Präferenzen) bleibt aber auch bei Anerkennung veränderlicher, instabiler Präferenzen der maßgebliche Faktor des Effizienzkalküls, nämlich über die Inbezugnahme der Präferenzen höherer Ordnung, die ja immer auch die Ex ante-Präferenzen einschließen, wenn sie diese mit den Ex post-Präferenzen vergleichen.485 Erkennt man jedoch an, dass Präferenzen nicht stabil, ja häufig nicht einmal unabhängig von dem konkreten Entscheidungsproblem sind, dann eröffnet sich eine weitere Möglichkeit der zumindest wohlfahrtsneutralen Intervention. Derart endogene oder adaptive Präferenzen lassen sich nämlich unter Umständen durch das geltende rechtliche Regime beeinflussen. Sind Präferenzen aber lediglich oder zumindest auch ein Produkt des bestehenden rechtlichen Regimes, dann generiert der rechtspaternalistische Eingriff (insoweit) keine Kosten als er seinerseits erst darüber bestimmt, was der Adressat als Kosten oder „Negativnutzen“(disutility) empfindet.486 Derartige allein oder maßgeblich vom Rechtsregime abhängige Präferenzen mögen tatsächlich existieren, wie insbesondere die Forschung zum Einfluss unterschiedlicher default rules auf das tatsächliche Entscheidungsverhalten nahelegt.487 Aber auch wenn man dieser Argumentation folgt, bleibt fraglich, worin in derlei Fällen die durch eine paternalistische Intervention intendierte Wohlfahrtssteigerung für den Regelungsadressaten liegt. Denn wenn dieser ohne die Intervention eben andere Präferenzen gehabt hätte, dann bedarf es für dessen Wohl484 S. hierzu etwa Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1138 ff.; Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 549 ff.; ders., Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 492 ff.; Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 242 ff. 485 Deutlich Burrows, Oxford Econ. Papers 45 (1993), 542, 558 ff.; ders., Int. Rev. Law Econ. 15 (1995), 489, 495 [zu dessen „intertemporalem Effizienzbegriff“ bereits oben unter § 4 III.2.4]; letztlich auch Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1138 ff.; zur Fallgruppe derjenigen Präferenzen, die ein Produkt des rechtlichen Regimes selbst sind, s. sogleich im Text. Anders Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 244 ff., der erwägt, auf ein „objective or ideal measure for well-being“ zu rekurrieren, aber im gleichen Atemzug konzediert, dass „this assumption is inconsistent with the starting-point of an actual preferences theory“ und damit des ökonomischen Effizienzbegriffs [zu dessen Grundlagen s. oben unter § 4 I.1]. 486 S. zu dieser Argumentation vor allem Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129 ff., insb. 1137 f., 1146 ff.; deren letzten Schritt geht Zamir, Va. L. Rev. 84 (1998), 229, 244 ff. nicht mit, weil er allein diejenigen Rechtsunterworfenen im Blick hat, die aufgrund der Intervention erst einmal ihre bereits geformten Präferenzen ändern müssen; zu einem verwandten Gedanken, nämlich der Vorstellung, dass es keine natürlichen Preise gibt, sondern diese immer durch das Rechtsregime beeinflusst sind, und dessen Einfluss auf das Postulat der Vertragsfreiheit bereits Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 578 f. 487 S. dazu hier nur Thaler/Benartzi, J. Pol. Econ. 112 (2004), S164 ff. Ausführlich zu AnkerEffekten noch unten unter § 5 II.1.3.2.
170
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
fahrtsgewinn – und bei paternalistisch motiviertem Eingriff geht es allein um diesen – eines Nachweises, dass sich der Regelungsadressat aufgrund der Intervention irgendwie „besser“ steht als ohne. Als Maßstab hierfür scheiden aber die Präferenzen des Regelungsadressaten aus, da sie eben keine von der Intervention unabhängige Größe darstellen. Die Befürworter rechtspaternalistischer Intervention, die mit der Adaptabilität von Präferenzen argumentieren, scheinen aber zumeist auf die Ex post-Präferenzen, also die durch die Intervention geänderten Präferenzen, abstellen zu wollen.488 Eine Begründung hierfür fehlt allerdings. Im Ergebnis scheint der Verweis auf die Adaptabilität von Präferenzen an das Rechtsregime daher weniger als alleinige oder nur maßgebliche Begründung für effizienten Paternalismus geeignet, denn als Hilfsargument in Bezug auf die „Kostenseite“, wenn ein Fall des Marktversagens auf Basis der Ex ante-Präferenzen bereits anderweitig identifiziert ist.489 3.4 Summe – Das Kosten-Nutzen-Kalkül effizienten Paternalismus Aus den vorstehend ermittelten Ergebnissen lässt sich für das erforderliche Nutzenkalkül eines dem Effizienzmaßstab verpflichteten Rechtspaternalismus folgende Summe ziehen: Notwendige Bedingung für eine effiziente Intervention ist zunächst die Identifikation eines Potentials zur Effizienzsteigerung. Vor dem Hintergrund eines welfaristischen Wohlfahrtsbegriffs, der keinen überindividuellen Nutzenmaßstab anerkennt, sondern die Gesamtwohlfahrt aus den individuellen Nutzenfunktionen der Gemeinschaftsmitglieder zusammensetzt, sind hierfür die Präferenzen der Vertragsparteien in den Blick zu nehmen. Diese sind angesichts der Irrelevanz externer Effekte für eine paternalistisch motivierte Maßnahme ausschließlicher Maßstab für die Ermittlung eines Effizienzsteigerungspotentials. Hieraus folgt dreierlei: (1) Eine Theorie des effizienten Paternalismus muss die Annahme ablehnen, dass sich – entsprechend der Theorie der „offenbarten“ Präferenzen (revealed preferences theory) – in einer Entscheidung stets die „wahren“ Präferenzen der Entscheider unverfälscht offenbaren. Da dann nämlich jeder Vertragsschluss Pareto-optimal wäre, bliebe für einen effizienzsteigernden Eingriff kein Raum. (2) Effizienter Paternalismus kann nur weicher Paternalismus sein, nicht jedoch harter Paternalismus, der die Präferenzen des Schutzadressaten gerade ignoriert. Ein unbedingtes Verbot der verbindlichen Vereinbarung bestimmter Verzichtsleistungen, wie etwa die Selbstversklavung, lässt sich ohne die Annahme eines zumindest vermuteten Marktversagens mit Effizienzerwägungen daher nicht erklären. Die wohlfahrtstheoretische Maßgeblichkeit des Aggregats kann jedoch zum Ergebnis haben, dass eine weich paternalistische abstrakt-generelle Regelung im konkreten Einzelfall hart paternalistisch wirkt. (3) Die Anküpfung an die Präferenzen der Schutzadressaten führt zu einem weitreichenden, 488 489
S. etwa Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1137. So wohl auch Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129 ff., 1173.
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
171
wenn auch nicht vollkommenen Gleichlauf des effizienten Paternalismus mit freiheits- und autonomiebasierten Paternalismuskonzepten. Eine rechtspaternalistische Intervention in die Vertragsfreiheit ist effizient, wenn der Nutzen-Kosten-Saldo des Eingriffs positiv ist. Da das Nutzenpotential einer Intervention ein Marktversagen nicht nur voraussetzt, sondern dessen Wirkung gleichsam spiegelt, lässt sich die Intervention auf der Grundlage von Effizienzerwägungen nur rechtfertigen, wenn sie (1) eine Reaktion auf Marktversagen ist und (2) die Kosten der Intervention geringer sind als die Kosten des Marktversagens, auf das sie reagiert. Von den danach in Frage kommenden Interventionsmöglichkeiten ist (3) die kostengünstigste zu wählen.490 In Anlehnung an Guido Calabresi lässt sich noch bündiger formulieren: Das Ziel eines effizienten Paternalismus muss es sein, die Summe aus den Kosten des Marktversagens sowie den Kosten der Intervention möglichst gering zu halten. Auf diese Weise lässt sich das am Verhältnismäßigkeitsprinzip ausgerichtete Postulat des – in Bezug auf die eigene Entscheidungsfreiheit – schonendsten Paternalismus491 in ein am Effizienzmaßstab ausgerichtetes Paternalismuskonzept einpassen.492 Für den rechtspaternalistisch intervenierenden Gesamtwohlfahrtsmaximierer ist dabei wiederum die Betrachtung des Aggregats entscheidend. Daher wird eine nach dem KaldorHicks-Kriterium effiziente Intervention nicht per se dadurch ausgeschlossen, dass die paternalistische Intervention nicht für jede individuelle Entscheidung jedes Adressaten effizient ist. Das Nutzenpotential des rechtspaternalistischen Eingriffs ergibt sich aus einem „Marktversagen“ oder „Verhandlungsversagen“, aufgrund dessen die Kontrahenten nicht in der Lage oder willens sind, einen für sie Pareto-optimalen Vertrag zu schließen. Die Ursachen für das Scheitern des präferenzkonformen Vertrages lassen sich dabei grob in zwei Kategorien einteilen, die sich freilich an den Rändern überschneiden: Zum einen kann das Hemmnis für den Abschluss eines Pareto-optimalen Vertrages in einer Störung im Verhältnis der Kontrahenten zueinander begründet sein. Zum anderen kann ein solches Hemmnis seine Ursache in der psychischen Disposition des einzelnen Kontrahenten haben. Letztere Kategorie umfasst die im Zentrum der Paternalismusdiskussion stehenden sog. „Rationalitätsdefizite“. Zur ersten Kategorie der im Verhältnis der Kontrahenten zueinander gründenden Störung zählt man erstens Informationsasymmetrien, die vor allem durch das strategische Verhalten des Informationsinhabers ihre schädliche Wirkung entfalten, und zweitens sog. exogen veranlasste Präferenzstörungen. Letztere erfassen solche Fälle, in denen die reflektierte Vergewisserung über die eigenen Präferenzen oder aber deren freie Betätigung durch den Einfluss der Vertragsgegenseite 490
Vgl. etwa Schmolke, WM 2010, 740, 746. S. zu dieser verfassungsrechtlich begründeten Paternalismuskonzeption von van Aaken ausführlich unten unter § 5´VI.2.5. 492 Zum Gleichlauf von Verhältnismäßigkeitsgedanken und ökonomischer Regulierungs(kosten)effizienz s. beispielhaft etwa auch Grigoleit, in: R. Zimmermann (Hrsg.), Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 163, 179. 491
172
§ 4 Neoklassische Rechtsökonomik und effizienter Rechtspaternalismus
gestört wird. Für ersteres ist etwa an die Herbeiführung eines Überraschungsmoments, den Aufbau von Zeitdruck oder eine psychologischen Verstrickung zu denken, allgemein gesprochen also an die Verwendung einer List. Wann hierin lediglich ein „geschicktes“ Verhandeln zu sehen ist und wann eine Manipulation, die ein rechtliches Eingreifen rechtfertigt, ist letztlich anhand einer wertenden Betrachtung zu beantworten. Eine Störung der Präferenzbetätigung durch die Vertragsgegenseite geschieht typischerweise durch den Aufbau von wirtschaftlichem oder psychisch-emotionalem Druck. Auch hier ist eine häufig schwierige Wertungsentscheidung zu treffen, nämlich ob und inwieweit man die Beendigung der Drucksituation durch den Vertragsschluss noch in das Nutzenkalkül mit einbezieht oder sie unberücksichtigt lässt, weil die Druck ausübende Vertragsseite unangemessene Mittel eingesetzt hat. Die Schwierigkeiten der Grenzziehung zeigen sich in ganz besonderer Weise in der durch das Bundesverfassungsgericht angestoßenen Debatte um die Grenzen der Privatautonomie bei „struktureller Unterlegenheit“ einer Vertragspartei. Ganz im Vordergrund der rechtspaternalistischen Debatte stehen aber solche Markt- oder Verhandlungsstörungen, die in der psychisch-kognitiven Disposition des einzelnen Entscheiders gründen. Auch diese „Rationalitätsdefizite“ lassen sich jedenfalls theoretisch in Mängel der Präferenzformung und solche der Präferenzbetätigung unterscheiden. Bei ihrer Identifizierung und Klassifizierung spielt die mit der überkommenen Rationalwahltheorie brechende Vorstellung eine ganz maßgebliche Rolle, dass Präferenzen nicht stabil und von der konkreten Entscheidungssituation unabhängig („exogen“) sind, sondern sich häufig über die Zeit ändern und von Umständen des konkreten Entscheidungsproblems abhängen. Aufgrund dieser Annahme sind Widersprüche zwischen den – bezogen auf die betreffende Entscheidung – Ex ante- und Ex post-Präferenzen des Entscheiders möglich. Eine rechtspaternalistisches Eingreifen rechtfertigende Störung wird dann darin gesehen, dass die diesen Präferenzkonflikt eigentlich auflösende Meta-Präferenz bzw. Präferenz zweiter Ordnung für die konkrete Entscheidung nicht hinreichend berücksichtigt wird. Als Ursachen hierfür werden etwa das Handeln aufgrund akuter Impulse (etwa große Aufregung, Erschöpfung, Einfluss psychoaktiver Substanzen) oder motivatorischer Verzerrungen (Süchte, Marotten, kurzsichtiges Verhalten), aber auch auf die allgemeinen Grenzen der teleskopischen Fähigkeiten des Menschen oder schlicht die fehlende Reflexion in der Entscheidungssituation ausgemacht. Theoretisch auch bei einer stabilen Präferenzordnung denkbar sind hingegen Informationsaufnahme- und -verarbeitungsdefizite des menschlichen Entscheiders sowie – hiermit eng verwandt – systematische Entscheidungsfehler, wie sie die verhaltensökonomische Forschung in großer Zahl nachgewiesen hat. Dem aus diesen Markt- und Verhandlungsstörungen resultierenden Nutzenpotential der rechtspaternalistischen Intervention stehen mögliche Kostenpositionen gegenüber. Zu diesen gehören erstens die bei jeder neuen Regelung anfallenden Kosten des Rechtsetzungsprozesses und – in der Regel bedeutender – der fortlaufenden Rechtsanwendung durch die Gerichte (Rechtsetzungs- und -an-
III. Effizienzerwägungen als Rechtfertigung für Paternalismus
173
wendungskosten). Zweitens kann die rechtspaternalistische Intervention den Vertragsschluss oder seine Durchführung für die Rechtsunterworfenen verteuern (Transaktionskosten). Misst der Entscheider der Möglichkeit, aus (vielen) verschiedenen Optionen wählen zu können, einen eigenständigen Wert bei und verwehrt ihm die rechtspaternalistische Maßnahme den Zugang zu einer an sich bestehenden Option, entstehen dem Entscheider drittens Frustrationskosten, die den intrinsischen Wert der Verfügbarkeit der versagten Option reflektieren. Eine rechtspaternalistische Regelung kann viertens dadurch Kosten verursachen, dass sie Lerneffekte auf Seiten des Entscheiders verhindert, die diesem auf lange Sicht zum Nutzen gereichen würden. Ferner ist fünftens an die (möglichen) Frustrationskosten der Schutzadressaten zu denken, die aus einer fehlerhaften oder sachwidrig motivierten Entscheidung des Intervenienten resultieren. So steht auch dieser vor dem epistemologischen Problem, dass es sich bei den maßgeblichen Präferenzen der Schutzadressaten um innere (und häufig hoch individuelle) Zustände handelt. Der einzelne Schutzadressat hat hier vielmehr einen natürlichen Informationsvorteil bezüglich seiner eigenen Präferenzen. Die beim Intervenienten an die Stelle der Kenntnis rückende Abschätzung wird dann allzu leicht dadurch beeinflusst, was er selbst für gut und richtig hält. Abgesehen von diesem allgemeinen Erkenntnisproblem unterliegt auch der Intervenient bzw. unterliegen die für ihn handelnden menschlichen Individuen Rationalitätsbeschränkungen; weder der Gesetzgeber noch der Richter sind vor systematischen Entscheidungsfehlern gefeit. Schließlich besteht immer auch die Gefahr, dass eine vorgeblich dem Effizienzmaßstab verpflichtete paternalistische Regelung tatsächlich anderen, sachfremden Motiven dient (Kosten des Missbrauchs). Allerdings sind die Kosten einer möglichen Fehlentscheidung des Intervenienten nur dann gegen eine paternalistische Intervention in Ansatz zu bringen, wenn die Kosten der Intervention im konkreten Fall über den entsprechenden Kosten einer (möglicherweise) fehlgehenden Untätigkeit liegen. Schließlich können sechstens bei typisierenden Regelungen deshalb Kosten entstehen, weil es aufgrund der Heterogenität des Adressatenkreises kaum möglich ist, den Anwendungsbereich der Regelung passgenau auf den schutzbedürftigen Personenkreis zuzuschneiden. Im Vergleich zur regulatorischen Untätigkeit begründet die Überinklusion Kosten für die erfassten, aber nicht schutzbedürftigen Individuen. Das Kostenpotential einer in Bezug auf seine effizienzsteigernde Wirkung falsch eingeschätzten oder im Hinblick auf den erfassten Personenkreis zu weit geratenen Intervention entscheidet nicht notwendig über das „Ob“ einer solchen Maßnahme, wenn es auf der Ebene des „Wie“ hinreichend berücksichtigt werden kann. So propagiert das Konzept des asymmetrischen Paternalismus eine Beschränkung auf solche rechtspaternalistischen Maßnahmen, denen sich die Regelungsadressaten durch ein kostengünstiges opting out wieder entziehen können. Ein Frustrationskosten mindernder Effekt entsteht auch dann, wenn die Präferenzen des Entscheiders durch das geltende Rechtsregime beeinflusst werden und sich daher auch an die rechtspaternalistische Regelung anpassen.
174
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
Stellt sich dem sozialen Planer im konkreten Fall die Interventionsfrage, kommt er nicht umhin, die vorstehend aufgeführten Kosten- und Nutzenfaktoren zu gewichten. Die hierfür notwendige Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten und Effektstärken wird sich angesichts der vielen Unbekannten und des damit verbundenen Grades der Unsicherheit kaum einmal als simple Rechenoperation präsentieren. Allerdings kann diese kaum vermeidbare Unschärfe nicht als Rechtfertigung eines rein intuitiven – und damit letztlich der Überprüfbarkeit enthobenen – Ad hoc-Paternalismus dienen.493 Gerade auch angesichts des verfassungsrechtlichen Ranges der Privatautonomie494 ist es vielmehr geboten, die für eine Intervention ins Feld geführten Annahmen – wenn möglich – empirisch zu belegen oder doch zumindest erhöhten Plausibilitätsanforderungen im Sinne eines „vernünftigen Vermutens“ zu unterwerfen495. Für die Phänomenologie von Rationalitätsdefiziten und die Wirkungsmechanismen verschiedener Faktoren des Entscheidungsrahmens (choice architecture)496 liefert die verhaltensökonomische Forschung wertvolle Einsichten. Von diesen und den hieraus abgeleiteten, weiter verfeinerten Paternalismuskonzepten handelt das folgende Kapitel.
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik I. Einführung Die rechtsökonomische Analyse herkömmlicher Prägung ruht auf den Erkenntnissen der neoklassischen Ökonomie, wie sie die Vertreter der Chicago School im vorigen Jahrhundert entwickelt haben. Mit ihr teilt sie die Grundannahme rationalen Verhaltens1, genauer: die ausführlich beschriebenen Verhaltensannahmen des REMM oder homo oeconomicus.2 Diese Verhaltensannahmen wurden insbesondere durch die kognitive Psychologie, aber auch durch die experimentelle Ökonomik seit den 1970er Jahren zunehmend in Frage gestellt.3 Aus dieser kritischen Auseinandersetzung mit dem ökonomischen Standardverhaltensmodell hat sich inzwischen ein interdisziplinäres Forschungsgebiet entwickelt, das man 1493 Vgl. aber Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 638 ff., der eine „intuitive confidence“ genügen lassen will. 494 S. dazu ausführlich oben unter § 3. 495 S. zu diesem Postulat bereits oben unter § 4 III.2.6.5. 496 Vgl. E. Posner, Yale L.J. 112 (2003), 829, 868; zum Begriff der choice architecture Thaler/Sunstein, Nudge, 2008, S. 81 ff. 1
Vgl. auch Fleischer, FS Immenga, 2004, S. 575, 576. S. dazu oben unter § 4 I.2. 3 S. für eine erste Zwischenbilanz dieser Forschung den Sammelband Kahneman/Slovic/Tversky (eds.), Judgment under uncertainty: Heuristics and biases, 1982. 2
I. Einführung
175
international als Behavioral Economics4 oder Behavioral Decision Theory5 zu bezeichnen pflegt6, während man im Deutschen zunehmend den Begriff der Verhaltensökonomik verwendet7. Die „geballte experimentelle Evidenz“8 der inzwischen etablierten9 und immer weiter ausreifenden10 verhaltensökonomischen Forschung hat den Geltungsanspruch des ökonomischen Standardverhaltensmodells unumkehrbar relativiert. So ist empirisch sowohl die Annahme widerlegt, dass der menschliche Entscheider in der Realität formal aufgrund eines vollständigen, nicht-widersprüchlichen, transitiven und stabilen Präferenzsystems handelt11 (1), als auch die Hypothese, dass er sich inhaltlich für sein Verhalten allein an seinem Eigeninteresse orientiert12 (2). Schließlich weicht der menschliche Entscheider nicht selten von einem rationalen Entscheidungsverfahren, das die Auf-
4 S. etwa Camerer, in: Blundell/Newey/Persson (eds.), Advances in Economics and Econometrics, Vol. II, 2006, S. 181 ff.; Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3 ff. 5 Vgl. etwa Edwards, Annu. Rev. Psychol. 12 (1961), 473 ff.; Hillman, Cornell L. Rev. 85 (2000), 717, 718; Langevoort, Cal. L. Rev. 84 (1996), 627, 632 in Fn. 9 m.w.N. 6 Teils wird auch von Psychology and Economics gesprochen [vgl. etwa DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315 ff.]. S. zur Entwicklungsgeschichte die knappen Ausführungen bei Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1169 f. Die Namensgebung ist freilich irreführend. Die Behavioral Decision Theory hat nämlich nichts mit der in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts herrschenden psychologischen Schule des Behaviorismus zu tun, die sich mit Namen wie John Watson, B.F. Skinner oder Clark Hull verbindet. Diese hatte gerade davon Abstand genommen, menschliche Denkprozesse zu untersuchen, sondern behandelte diese als „black box“ [vgl. Rachlinski, Cornell. L. Rev. 85 (2000), 739, 740 m.N.]. 7 S. etwa Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9 ff.; Englerth, in: Towfigh/Petersen (Hrsg.), Ökonomische Methoden im Recht, 2010, S. 165 ff. Teilweise wird auch – etwas unscharf – von Verhaltensökonomie gesprochen [s. die N. in dieser Fn.]. S. zur Unterscheidung von Ökonomie und Ökonomik nur Petersen/Towfigh, in: Towfigh/Petersen (Hrsg.), Ökonomische Methoden im Recht, 2010, S. 1, 3. 8 Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 11; ferner etwa das Resümee bei Korobkin/ Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1055: „There is simply too much credible experimental evidence that individuals frequently act in ways that are incompatible with the assumptions of rational choice theory.“ 9 So wurden Daniel Kahneman und Vernon Smith als Pioniere der Verhaltensökonomik im Jahr 2002 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet [s. dazu die Rede Kahnemans anlässlich der Nobelpreisverleihung, abgedruckt in Am. Econ. Rev. 93 (2003), 1449 ff.]. Hierzulande erhielten Axel Ockenfels und Armin Falk in den Jahren 2005 bzw. 2009 den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ihre verhaltensökonomische Forschung [vgl. dazu Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 11]. 10 So betitelt Pesendorfer, J. Econ. Lit. 44 (2006), 712 ff. seinen Überblicksaufsatz mit „Behavioral Economics Comes of Age“. 11 S. dazu oben unter § 4 I.2.3.1. 12 S. dazu oben unter § 4 I.2.2.
176
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
nahme und Verarbeitung aller relevanten (bzw. einer genügenden Menge an13) Informationen14 und die Wahl derjenigen Handlungsoption voraussetzt, die angesichts der eigenen Präferenzen bei einem Kosten-Nutzen-Vergleich die vorteilhafteste ist, zugunsten heuristischer Entscheidungsverfahren ab, die anfällig für systematische Entscheidungsfehler sind und zudem noch durch Wahrnehmungsverzerrungen (sog. biases) verfälscht werden (3). Die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik finden seit den 1990er Jahren auch zunehmend Eingang in die ökonomische Analyse des Rechts. Der rechtswissenschaftlichen Forschungsrichtung der Law and Economics hat sich die Behavioral Law and Economics hinzugesellt. Ausgehend von den Vereinigten Staaten15 fasst die verhaltensökonomische Analyse des Rechts auch hierzulande immer mehr Fuß.16
1. Bedeutung der Verhaltensökonomik für den Untersuchungsgegenstand Für die hiesige Untersuchung sind die Einsichten der Verhaltensökonomik zum Entscheidungsverhalten menschlicher Akteure von kaum zu überschätzender Bedeutung: Sind Rationalitätsdefizite die bei weitem bedeutsamste Vorbedingung für eine effiziente rechtspaternalistische Intervention17, so liefert die verhaltensökonomische Forschung die empirischen Belege solcher Rationalitätsdefizite in Form systematischer Entscheidungsfehler menschlicher Entscheider. Die Verhaltensökonomik bietet mit anderen Worten die von den Vertretern eines effizienten Paternalismus geforderte empirische Grundlage zur Rechtfertigung einer rechtspaternalistischen Intervention in die Vertragsfreiheit.18 In der Diskussion um die rechtlichen Implikationen der von der verhaltensökonomischen Forschung aufgedeckten Verhaltensweisen (Behavioral Law and Economics) bildet 13 S. zum satisficing als Entscheidungsstrategie beschränkt rationaler Akteure oben unter § 4 I.2.4.2. 14 S. zur Annahme optimaler Inputberücksichtigung nach dem Rationalwahlmodell (REMM, homo oeconomicus) oben unter § 4 I.2.4. 15 S. die frühen Beiträge von Sunstein, U. Chi. L. Rev. 64 (1997), 1175 ff.; Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471 ff.; Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051 ff.; sowie die Beiträge in dem Sammelband Sunstein (ed.), Behavioral Law and Economics, 2000. 16 S. etwa van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S. 82 ff.; Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 22 ff.; Eidenmüller, JZ 2005, 216 ff.; Englerth, in: Towfigh/Petersen (Hrsg.), Ökonomische Methoden im Recht, 2010, S. 165 ff.; Fleischer, FS Immenga, 2004, S. 575 ff.; Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006; Kübler/ Kübler, KritV 2007, 94 ff.; Wagner, ZZP 121 (2008), 5 ff.; die Sammelbände Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007; sowie zuletzt Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011. 17 S. dazu ausführlich soeben unter § 4 III. 18 S. zu dieser Forderung oben unter § 4 III.2.4 und § 4 III.2.6.5 und öfter. Den rein empirischen (und nicht normativen) Charakter der verhaltensökonomischen Forschungsergebnisse betont Eidenmüller, JZ 2011, 814 und öfter. S. auch den programmatischen Aufsatz von Sunstein, Empirically Informed Regulation, U. Chi. L. Rev. 78 (2011), 1349 ff.
I. Einführung
177
denn auch die Frage nach der Rechtfertigung rechtspaternalistischer Intervention in Bezug auf das Entscheidungsverhalten der Rechtsunterworfenen einen Schwerpunkt.19
2. Fortgang der Untersuchung Die verhaltensökonomische Forschung hat sich in ihren Anfängen im Wesentlichen darauf beschränkt, Widersprüche zwischen dem tatsächlich beobachtbaren Entscheidungsverhalten und den Vorhersagen des Standardmodells der rationalen Wahl aufzudecken. Die engen Grenzen dieses Forschungsprogramms hat sie allerdings schon lange hinter sich gelassen.20 Die von ihr aufgespürten Anomalien bilden heute die empirische Grundlage für die Konstruktion alternativer Entscheidungstheorien und -modelle.21 Diese zeichnen mithin die beschränkte Rationalität, Willensstärke und Eigennützigkeit menschlicher Entscheider nach.22 Die so entwickelten Verhaltensmodelle werden dann ihrerseits wieder experimentell oder mit Hilfe von Felddaten getestet und verfeinert.23 Der folgende Untersuchungsgang zeichnet dieses Vorgehen insofern nach, als die weiteren Ausführungen zunächst mit einem Überblick über die von der verhaltensökonomischen Forschung ermittelten Verhaltensanomalien beginnen (II.), an die sich eine Darstellung der hieraus abgeleiteten Verhaltenstheorien (deskriptiven Präferenztheorien) und ihrer empirischen Überprüfung anschließt (III.). Nach einer kurzen Vergewisserung über die Konsequenzen der verhaltensökonomischen Erkenntnisse für die ökonomische Theorie (IV.) wird kurz auf die Eigentümlichkeiten und Schwierigkeiten bei der Nutzung der Verhaltensökonomik für das Recht eingegangen (V.), bevor im Hauptteil dieses Kapitels die Implikationen der Verhaltensökonomik für die Rechtfertigung rechtspaternalistischer Eingriffe in die Vertragsfreiheit ermittelt werden (VI.). 19 Vgl. nur Rachlinski, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 207, 224: „The most common use of cognitive psychology in legal scholarship is to support paternalistic legal interventions.“; s. ferner noch ausführlich unten unter § 5 VI. 20 Camerer, in: Blundell/Newey/Persson (eds.), Advances in Economics and Econometrics, Vol. II, 2006, S. 181, 199: „The goal of behavioural economics is not just to create a list of anomalies.“ 21 Camerer, in: Blundell/Newey/Persson (eds.), Advances in Economics and Econometrics, Vol. II, 2006, S. 181, 199: „The anomalies are used to inspire and constrain formal alternatives to rational-choice theories.“ 22 Camerer, in: Blundell/Newey/Persson (eds.), Advances in Economics and Econometrics, Vol. II, 2006, S. 181, 182; dazu bereits Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 18. 23 Vgl. Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 7; dazu ausführlich DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315 ff. Zu diesem drei- bzw. vierschrittigen Vorgehen der verhaltensökonomischen Forschung s. auch Fleischer/ Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 18 f.
178
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell Die folgende Darstellung will einen Überblick über die von der verhaltensökonomischen Forschung im Rahmen zahlreicher Experimente und Erhebungen aufgespürten Abweichungen menschlichen Entscheidungsverhaltens von den Vorhersagen des ökonomischen Standardmodells vermitteln. Es kann hier freilich nicht Aufgabe sein, diese Anomalien24 vollständig aufzulisten. Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher auf eine exemplarische Darstellung derjenigen Abweichungen vom Rationalmodell, die sich für die Rechtswissenschaft als besonders ergiebig erwiesen haben und insbesondere für die hier untersuchte Frage nach Grund und Grenzen rechtspaternalistischer Intervention im Vertragsrecht besonders bedeutsam erscheinen.25 Die ermittelten Abweichungen vom Standardmodell werden dabei im Folgenden unterteilt in (1) Abweichungen vom Optimierungsverhalten aufgrund von Kognitionsschwächen bei der Informationsaufnahme- und -verarbeitung sowie von systematischen Entscheidungsfehlern (heuristics and biases), (2) Abweichungen von der Annahme eigennützigen Verhaltens sowie (3) Abweichungen von den Axiomen einer rationalen Präferenzordnung26. Schließlich wird besonders auf auch als „Willensschwäche“ (bounded willpower) bezeichnete Präferenzinkonsistenzen im Zeitverlauf eingegangen, da diese für die hiesige Untersuchung von besonderem Interesse sind (4)27.28
24 Zur Verwendung dieses Begriffs in Anlehnung an die Kuhn’sche Wissenschaftstheorie s. bereits oben in § 4 Fn. 198. 25 Vgl. insofern auch die Darstellungen bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 17 ff.; ferner van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S. 88 ff. sowie Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 66 ff. 26 S. dazu oben unter § 4 I.2.3. 27 S. auch van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 120. 28 Ähnlich Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 66 ff. Vgl. aber auch die teilweise eher terminologisch denn sachlich abweichenden Einteilungen bei Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471, 1477 ff. in „bounded rationality“, „bounded willpower“ und „bounded self-interest“; Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 203 ff.: „Judgment Errors“ und „Departures from Expected Utility Theory“; van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 115 ff.: „Kognitive Schwächen“ und „Willensschwäche“; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218 f.: „Informationsaufnahme und -verarbeitung“, „Entscheidungsverhalten“, „Uneigennütziges Verhalten“; ders., JZ 2011, 814, 816 ff.: „Begrenzte Informationsaufnahme und -verarbeitung“, „Fehler in der Urteilsbildung“, „Irrationales Entscheidungsverhalten“ und „Begrenzte Willensstärke“; Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 18 ff.: „Vom Standardmodell abweichende Präferenzen“, „Fehlerhafte Wahrscheinlichkeitseinschätzung“ und „Weitere Kategorien abweichenden Entscheidungsverhaltens“.
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell
179
1. Fehler bei der Informationsaufnahme und -verarbeitung – Heuristiken und Wahrnehmungsverzerrungen Das ökonomische Standardmodell geht davon aus, dass der menschliche Entscheider als homo oeconomicus die verfügbare Information in optimaler Weise für seine Entscheidungsfindung nutzt.29 Simon und seine Anhänger gehen zumindest noch davon aus, dass der Mensch seine beschränkten Informationsaufnahmeund -verarbeitungskapazitäten als satisficer rational – eben „beschränkt rational“ – einsetzt.30 Die begrenzten kognitiven Fähigkeiten der Menschen werden dabei folglich in das Rationalmodell integriert, indem man sie als Restriktionen für das Nutzenmaximierungsverhalten der Akteure in Form von Informationsgewinnungs- und -verarbeitungskosten einordnet.31 Die verhaltensökonomische Forschung hat jedoch gezeigt, dass die gegenüber einem idealtypischen Optimierungsverhalten abweichende Verwendung vereinfachter Entscheidungsstrategien dazu führt, dass Entscheider in systematischer Weise das Ziel verfehlen, ihren Erwartungsnutzen zu maximieren bzw. präferenzkonform zu entscheiden.32 1.1 Vorbemerkungen zur Klärung der Begriffe Im Zusammenhang mit diesen vereinfachten Entscheidungsstrategien und -verfahren des Menschen sprechen die Verhaltensökonomen zumeist von „Heuristiken“ (heuristics). Mit Heuristiken werden in der Regel unbewusst eingesetzte „Daumenregeln“ („rules of thumb“) oder gedankliche Abkürzungen („mental shortcuts“) bezeichnet,33 kurz: Mechanismen, die Menschen unbewusst verwenden, um sich Entscheidungen einfacher (oder erst möglich)34 zu machen35. Nicht zuletzt der unbewusste Einsatz dieser Strategien führt dazu, dass Abweichungen von den Vorgaben der Erwartungsnutzenmaximierung bzw. des präferenzkonformen Entscheidens häufig nicht eindeutig der verzerrten oder voreingenommenen Informationsaufnahme (bias) des Entscheiders oder der Informationsverarbeitung mittels besagter Vereinfachungsstrategien (heuristics) zugerechnet werden können. Nicht selten werden beide Phänomene gleichzeitig vorliegen36. 29
S.o. unter § 4 I.2.4.1. S.o. unter § 4 I.2.4.2. 31 Vgl. Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1075 f.; ferner Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 91 f. 32 Dabei soll hier nicht in Abrede gestellt werden, dass Heuristiken – obwohl Abweichungen vom ökonomischen Standardmodell der rationalen Wahl – in vielen Fällen eine nützliche evolutionäre Adaption sind. Dies mit Nachdruck bejahend Gigerenzer, in: Gigerenzer/Engel (eds.), Heuristics and the law, 2006, S. 17 ff.; ders./Gaissmaier, Annu. Rev. Psychol., 62 (2011), 451 ff. jew. m.w.N. zur hier in dieser Grundsätzlichkeit nicht weiter interessierenden Kontroverse. 33 S. etwa Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1075 ff.; Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 92; ausführlich zum Begriff der Heuristik etwa Stephan, in: Fischer/Kutsch/Stephan (Hrsg.), Finanzpsychologie, 1999, S. 101, 103 ff. 34 Vgl. Gigerenzer, in: Gigerenzer/Engel (eds.), Heuristics and the law, 2006, S. 17 ff. 35 Vgl. Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 92. 36 Vgl. auch die Aussage bei Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218 in Fn. 23. 30
180
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
Häufig wird deshalb auch kurz von „heuristics and biases“ gesprochen37 oder ein Phänomen mal als „bias“ mal als „heuristic“ tituliert.38 Verkomplizierend kommt hinzu, dass mit „bias“ nicht nur eine Wahrnehmungsverzerrung bezeichnet wird, sondern nicht selten auch ihre Folge, d.h. der systematische Entscheidungsfehler39. 1.2 Komplexität und Unsicherheit der Entscheidung als Auslöser und Verstärker systematischer Entscheidungsfehler Bevor in der gebotenen Kürze die wichtigsten der durch die empirische Forschung aufgedeckten Heuristiken und Wahrnehmungsverzerrungen vorgestellt werden, soll zunächst kurz auf zwei Aspekte von Entscheidungssituationen hingewiesen werden, die eine besondere Herausforderung für die kognitiven Fähigkeiten der meisten Menschen darstellen, weshalb ihnen bei deren Vorliegen nicht nur besonders häufig Fehler bei der Informationsaufnahme unterlaufen, sondern sie in der Regel auch auf Vereinfachungsstrategien zurückgreifen, die zu Abweichungen von der Erwartungsnutzenmaximierung bzw. der präferenzkonformen Entscheidung führen. Die Rede ist einerseits von komplexen Entscheidungen, andererseits von Entscheidungen unter Unsicherheit. 1.2.1 Komplexität der Entscheidung und information overload Entscheidungsforscher haben die Komplexität einer Entscheidungssituation als die bedeutendste Ursache dafür identifiziert, dass Entscheider von einer rationalen Optimierungsentscheidung40 Abstand nehmen. Dabei muss die Entscheidungssituation nicht notwendigerweise eine solche Komplexität erreichen, dass es dem menschlichen Entscheider geradezu unmöglich ist, entsprechend dem ökonomischen Standardmodell zu optimieren.41 Selbst wenn die Komplexität unterhalb dieser (hohen) Schwelle bleibt, begrenzen Entscheider die Suche nach entscheidungserheblicher Information und/oder den Umfang ihrer Überlegungen häufig dahin, dass sie hinter dem für eine (Erwartungsnutzen-)Optimierung Erforderlichen zurückbleiben. Das dabei verfolgte Ziel ist es, den Aufwand für die betreffende Entscheidung (möglichst) niedrig zu halten; die Entscheider tref37
Vgl. nur den Titel des Aufsatzes von Tversky/Kahneman, Science, 185 (1974), 1124 ff.: „Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases“. 38 Vgl. einerseits van Aaken, in: Anderheiden et al., Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 119; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218: „availability bias“ und andererseits Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1085; Englerth, Engel et al. (Hrsg.), in: Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 92: „availability heuristic“. 39 Vgl. insofern auch Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 15. 40 Vgl. dazu oben unter § 4 I.2. 41 Vgl. hierzu das berühmte Schachbeispiel bei Simon, Models of Bounded Rationality: Behavioral Economics and Business Organization (Vol. 2), 1982, S. 408, 412 ff.
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell
181
fen – ganz im Sinne des Simon’schen satisficing – eine Abwägung zwischen der Richtigkeit der Entscheidung und den hierfür aufzuwendenden Anstrengungen.42 Die ermittelten Vereinfachungsmethoden – hier seien neben dem satisficing, die „lexikographische“ oder die „Elimination by aspects“-Methode genannt43 – führen nun zu systematischen Maximierungsfehlern.44 Der Übergang zu einfacheren Entscheidungsstrategien45 bei komplexeren Entscheidungssituationen führt dazu, dass ein Mehr an Information ab einem gewissen Punkt zu schlechteren Entscheidungen führt.46 Der Grenznutzen zusätzlicher Information dreht also irgendwann ins Negative.47 Verschlimmert wird dieses als information overload48 bekannte Überforderungsphänomen, wenn Entscheider durch weniger relevante Information von relevanterer Information abgelenkt werden.49 1.2.2 Entscheidungen unter Unsicherheit Schließlich erschweren mit Unsicherheit behaftete Entscheidungssituationen Optimierungsentscheidungen im Sinne des ökonomischen Standardmodells. Die Maximierung des eigenen Erwartungsnutzens durch (rationale) Entscheider setzt voraus, dass sie ihre subjektive Wahrscheinlichkeitserwartung50 gemäß den Re-
42 S. etwa Payne/Bettman/Johnson, The adaptive decision maker, 1993, S. 1 ff.; Bettman/Luce/ Payne, J. Consumer Res. 25 (1998), 187, 189 ff., 192; Wright, J. Marketing Res. 12 (1975), 60, 62. 43 Bei der „lexikographischen“ Entscheidungsstrategie bestimmt der Akteur das für ihn wichtigste Attribut der vorhandenen Optionen und entscheidet sich für die Option mit dem höchsten Wert für dieses Attribut. Die „Elimination by aspects“-Methode kombiniert das satisficing mit der „lexikographischen“ Methode. Der Entscheider bestimmt wieder die Werte der verschiedenen Optionen für das für ihn wichtigste Attribut und verwirft all diejenigen Optionen, die einen bestimmten Schwellenwert nicht erreichen. Vgl. zu beiden Strategien Bettman/Luce/Payne, J. Consumer Res. 25 (1998), 187, 190. Weitere Entscheidungsstrategien werden vorgestellt bei Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417, 437 ff. 44 Zu möglichen Fehlern bei Anwendung des satisificing s. für das Schachbeispiel Korobkin/ Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1078; zu Veränderungen des Entscheidungsergebnisses bei Verwendung der „lexikographischen“ Methode Kahn/Baron, J. Consumer Psychol. 4 (1995), 305, 312. 45 Diese bestehen in praxi häufig aus einer Kombination aus Elementen verschiedener Strategien, vgl. Payne/Bettman/Johnson., The adaptive decision maker, 1993, S. 28 f. 46 S. nur Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417, 441 m. zahlreichen weiteren N. in Fn. 113. 47 Vgl. Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218; ders., JZ 2011, 814, 816; Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 319 f. 48 S. dazu im kapitalmarktrechtlichen Kontext etwa Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417 ff.; s. aus dem deutschen Schrifttum ausführlich Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 319 ff.; im kapitalmarktrechtlichen Kontext Möllers/Kernchen, ZGR 2011, 1 ff.; s. zur Gefahr des information overload im Verbraucherkreditrecht noch ausführlich unten unter § 9 IV.3.4.1. 49 Vgl. Paredes, Wash. U. L. Q. 81 (2003), 417, 442 m.w.N.; Payne/Bettman/Johnson, The adaptive decision maker, 1993, S. 36 f.; s. auch Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, S. 284, 319 ff., der dieses Phänomen als „Informationskannibalismus“ bezeichnet. 50 Zur Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Wahrscheinlichkeiten s. bereits oben unter § 4 I.2.3.2; ferner etwa van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 118 in Fn. 32.
182
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
geln der Wahrscheinlichkeitsrechnung kalkulieren.51 Dies macht es wiederum erforderlich, dass die Wahrscheinlichkeitseinschätzung auf einer Informationssammlung und -verarbeitung beruht, die den Regeln statistischer Datenauswahl sowie der Bayes’schen Regel52 gehorchen. Dies erscheint als Beschreibung des tatsächlichen Entscheidungsverhaltens von Menschen jedoch unrealistisch. So werden die genannten Regeln bereits verletzt, wenn nicht strikt zwischen der bisherigen Wahrscheinlichkeitsbeurteilung und der Bewertung neuer Information getrennt wird, etwa weil neue Information auf der Grundlage bereits erlangter Information bewertet wird.53 Ein Verstoß gegen die Theorie vom subjektiven Erwartungsnutzen54 liegt auch dann vor, wenn der durch einen Zustand vermittelte Nutzen die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung dieses Zustands beeinflusst, wie dies in Fällen des „Wunschdenkens“ oder allgemeiner: der selbstdienlichen Wahrnehmung geschieht.55 Schließlich führt die Beschaffenheit des menschlichen Gedächtnisses dazu, dass die Reihenfolge, in der die Informationen beim Entscheider eingehen, dessen Wahrscheinlichkeitseinschätzung beeinflusst; die Bayes’sche Regel kennt eine solche Verbindung zwischen Reihenfolge und Wahrscheinlichkeit hingegen nicht.56/57 Tversky und Kahneman und ihnen nachfolgende Forscher haben denn auch belegt, dass sich menschliche Entscheider insbesondere bei der Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten heuristischer Methoden bedienen, die zu systematischen Fehlern führen.58 1.3 Heuristiken und Wahrnehmungsverzerrungen 1.3.1 Verfügbarkeitsheuristik und Rückschaufehler Die sog. Verfügbarkeitsheuristik (availability heuristic) ist ein bestens belegtes Phänomen menschlichen Entscheidungsverhaltens. Ihre Anwendung führt dazu, dass leicht vorstellbaren oder schnell aus der Erinnerung abrufbaren Ereignissen eine höhere Eintrittswahrscheinlichkeit beigemessen wird. Aktuell verfügbarer 51 Vgl. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 118 m. weiterführenden N. 52 S. zu dieser oben unter § 4 I.2.3.2.2. 53 S. dazu Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 9. Für eine daran anknüpfende Modellierung der Aktualisierung von Wahrscheinlichkeitseinschätzungen (updating beliefs), je nachdem ob die neue Information „erwartet“ worden war oder nicht, Ortoleva, Am. Econ. Rev. 102 (2012), 2410 ff. 54 S. dazu oben unter § 4 I.2.3.2.2. 55 S. dazu etwa Babcock/Loewenstein, J. Econ. Persp. 11(1) (1997), 109 ff. 56 S. dazu Hogarth/Einhorn, Cogn. Psychol. 24 (1992), 1 ff. 57 S. zum Ganzen auch Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 32 f. 58 S. zur Forschung von Tversky und Kahneman aus der Perspektive Tverskys die Ausführungen im nachfolgenden Text. Für eine Analyse der Wirkungsgeschichte ihrer Arbeit s. Laibson/ Zeckhauser, J. Risk & Uncertainty 16 (1998), 7 ff.
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell
183
Information, häufig solcher, die besonders augenfällig oder hervorstechend ist (sog. salient information), wird daher für die Wahrscheinlichkeitseinschätzung ein zu hohes Gewicht eingeräumt.59 So wird die Eintrittswahrscheinlichkeit seltener Todesursachen, Unfälle oder Katastrophen systematisch überschätzt, wenn ihnen durch die Medien eine besondere Aufmerksamkeit zuteil geworden ist.60 Mit der Überbewertung von leicht verfügbarer und erinnerlicher Information lässt sich auch die sog. conjunction fallacy erklären: Entscheider, die ihr unterliegen, halten den Eintritt eines Unterfalls einer bestimmten Ereignismenge für wahrscheinlicher als den Eintritt eines Ereignisses aus der Gesamtmenge.61 Eine Ausprägung der Verfügbarkeitsheuristik ist ferner der sog. Rückschaufehler (hindsight bias). Wer ihm unterliegt, schätzt die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses im Nachhinein deshalb höher ein, weil es tatsächlich eingetreten ist.62 1.3.2 Verzerrung durch kognitive Anker Eine weitere Fehlerquelle bei der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten ergibt sich aus dem ebenfalls experimentell belegten Umstand, dass Individuen sich häufig zu stark von bereits bestehenden kognitiven „Ankern“ beeinflussen lassen.63 So wurden Wirtschaftsprüfer gefragt, ob sie glaubten, dass Betrügereien bei mehr als zehn von 1000 geprüften Firmen vorkämen, während die Vergleichgruppe gefragt wurde, ob sie glaubten, dass dies in mehr als 200 von 1000 geprüften Firmen geschähe. Die Gruppe mit dem höheren Zahlenanker (200) schätzte die Wahrscheinlichkeit von Betrügereien signifikant höher ein.64 Ein solcher Anker wirkt insofern ähnlich wie besonders augenfällige oder hervorstechende Informationen im Rahmen der Verfügbarkeitsheuristik65. 1.3.3 Ähnlichkeitsheuristik und verwandte Phänomene Ganz ähnliche Informationsverarbeitungsfehler wie bei der Verfügbarkeitsheuristik werden durch die Ähnlichkeitsheuristik verursacht (representativeness 59 S. dazu bereits Tversky/Kahneman, Science 185 (1974), 1124, 1127 f. m.N.; ausführlich Tversky/Kahneman, in: Kahneman/Slovic/Tversky (eds.), Judgement under uncertainty: Heuristics and biases, 1982, S. 163 ff.; ferner etwa Kuran/Sunstein, Stan. L. Rev. 51 (1999), 683 ff. 60 Vgl. die Beispiele bei van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.) Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 119. 61 Vgl. hierzu das berühmte „Linda“-Experiment von Tversky/Kahneman, Psychol. Rev. 90 (1983), 293 ff. 62 Grundlegend Fischhoff, J. Exp. Psychol: Hum. Perc. & Perf. 1 (1975), 288 ff.; vertiefend etwa Hawkins/Hastie, Psychol. Bull. 107 (1990), 311 ff. 63 S. dazu allgemein den Überblick bei Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 206 f. 64 S. Joyce/Biddle, Journal of Accounting Research 19 (1981), S. 120 ff., insb. Experiment 1A und 1B. S. zur Diskussion um die Robustheit experimenteller Belege für Ankereffekte etwa Fudenberg/Levine/Maniadis, AEJ: Microeconomics 4 (2) (2012), S. 131 ff. 65 S. dazu soeben unter § 5 II.1.3.1.
184
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
heuristic).66 Menschen nutzen dieses Instrument, um Wahrscheinlichkeitsurteile zu treffen, indem sie ermitteln, wie gut die ihnen vorliegenden Informationen zu einer bestimmten Hypothese oder Kategorie passen. Zur Anschauung mag folgendes Beispiel dienen67: Die Personalabteilung eines Unternehmens weist eine Bewerberin ab, deren Bewerbungsfoto ein Nasenpiercing und grellbuntes Haar offenbart, weil dieses Aussehen (vermeintlich) repräsentativ für unordentliche und arbeitsscheue „Punker“ ist. Hierbei überschätzt die Personalabteilung die Wahrscheinlichkeit, dass die Bewerberin tatsächlich der Kategorie „Punker“ angehört, weil nicht nur (arbeitsscheue) „Punker“, sondern (zumindest teilweise) auch fleißige und arbeitswillige Bewerber Nasenpiercings und bunte Haare haben. Bei Anwendung der Ähnlichkeitsheuristik werden A priori-Wahrscheinlichkeiten vernachlässigt (sog. base rate neglect). Im obigen Beispiel berücksichtigt die Personalabteilung daher den Anteil von „Punkern“ an der Grundgesamtheit der Bewerber nicht hinreichend.68 Auch kommt es nicht selten zu einer Verwechslung bzw. Umkehr bedingter Wahrscheinlichkeiten. So vertauscht die Personalabteilung im obigen Beispiel die Wahrscheinlichkeit, dass ein „Punker“ Nasenpiercings und bunte Haare hat, mit der Wahrscheinlichkeit, dass ein Bewerber mit Nasenpiercing und bunten Haaren „Punker“ ist.69 Schließlich kann die Ähnlichkeitsheuristik auch zu der bereits beschriebenen conjunction fallacy führen.70 Der irrige Glaube an das sog. Gesetz der kleinen Zahlen (law of small numbers) lässt sich ebenfalls als Ausprägung der Ähnlichkeitsheuristik begreifen.71 Hiernach weist der Entscheider fälschlicherweise einer kleinen Ereignismenge die statistischen Eigenschaften einer großen Ereignismenge zu. Dieser Fehlschluss tritt in zwei Ausprägungen auf: Bei der sog. gambler’s fallacy wird angenommen, dass nach einer Serie gleichartiger Ereignisse, etwa „Kopf“ beim Münzwurf oder „Rot“ beim Roulette, die Wahrscheinlichkeit des gegenteiligen Ereignisses, also „Zahl“ oder „Schwarz“ steige, beim Münzwurf also über 50% liege. Bei der umgekehrten Erscheinungsform dieses Fehlschlusses, der sog. hot
66 S. Tversky/Kahneman, Science 185 (1974), 1124 ff.; dies., in: Kahneman/Slovic/Tversky, Judgement under Uncertainty: Heuristics and Biases, 1982, S. 84 ff. 67 Dieses ist dem „Gammelstudentenbeispiel“ von Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 203 f. nachempfunden. S. dies., ebenda auch zum Folgenden. 68 S. hierzu und zum Einfluss der Darstellung des Entscheidungsproblems auf das Auftreten dieses Phänomens Koehler, Behav. Brain Sci. 19 (1996), 1 ff. Die Vernachlässigung von A prioriWahrscheinlichkeiten kann etwa dazu führen, dass Eheschließende auf den Abschluss eines Ehevertrages verzichten, weil sie die durchschnittliche Scheidungsrate für irrelevant halten. 69 Ausführlich zu dieser Umkehrung bedingter Wahrscheinlichkeiten etwa Hastie/Dawes, Rational Choice in an Uncertain World, 2001, S. 118 ff. 70 S. dazu Tversky/Kahneman, in: Kahneman/Slovic/Tversky (eds.), Judgement under uncertainty: Heuristics and biases, 1982, S. 84, 92 f. zu ihrem berühmten „Linda“-Experiment. Zur conjunction fallacy bereits oben unter § 5 II.1.3.1. 71 S. hierzu Tversky/Kahneman, Psychol. Bull. 76 (1971), 105 ff.
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell
185
hand fallacy, glaubt der Akteur hingegen an eine „Strähne“, die eine Serie gleicher Ergebnisse wahrscheinlicher macht.72/73 1.3.4 Fortschreibung gegenwärtiger Präferenzen und Projektionsfehler Der Mensch nimmt bei der Einschätzung seiner künftigen Präferenzen ferner zu stark an seinen gegenwärtigen Präferenzen Maß (übermäßige Extrapolation).74 Dieser Projektionsfehler (projection bias)75 wird für das Verhältnis von affektiven („heißen“) Gegenwartspräferenzen76 und reflektierte(re)n („kühlen“) künftigen Präferenzen plastisch als „hot-cold empathy gap“, mithin als „Einfühlungsmangel“ bezeichnet.77 Read und Leeuwen haben diesen Projektionsfehler in einem Feldversuch nachgewiesen, indem sie holländischen Angestellten anboten, ihnen in einer Woche einen Snack an ihren Arbeitsplatz zu bringen.78 Es zeigte sich, dass hungrige Probanden, die am Nachmittag befragt wurden, häufiger einen ungesunden Snack wählten, als satte Probanden, die sich direkt nach dem Mittagessen äußerten. Nach einer Woche erneut befragt, ob sie bei ihrer Wahl blieben oder einen anderen Snack haben wollten, zeigte sich nicht nur, dass wiederum hungrige Probanden häufiger den ungesunden Snack wählten, sondern auch, dass bei der ersten Wahl satte und nunmehr hungrige Angestellte eine höhere „Wechselquote“ hin zu ungesunden Snacks aufwiesen als zu beiden Zeitpunkten hungrige Probanden. Dieser Befund lässt sich als Ergebnis einer fehlerhaften, weil übermäßig durch gegenwärtige Präferenzen beeinflussten Vorhersage künftiger Präferenzen deuten.79 1.3.5 Überoptimismus und Selbstüberschätzung Selbst wenn Individuen die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines bestimmten Ereignisses abstrakt richtig einschätzen, können sie immer noch dem sog. overconfidence bias anheim fallen. Zahlreiche Untersuchungen belegen nämlich, dass Menschen dazu neigen, sich in vielerlei Hinsicht für überdurchschnittlich befä72
S. zum Ganzen etwa Camerer, Am. Econ. Rev. 79 (1989), 1257 ff.; Gilovich/Vallone/Tversky, Cogn. Psychol. 17 (1985), 295 ff. 73 Ein vergleichbarer Überblick zur Ähnlichkeitsheuristik und verwandten Phänomenen findet sich auch bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 33 ff. m.N., dort auch zur Modellierung heuristischer Wahrscheinlichkeitseinschätzung und mit weiteren Anwendungsbeispielen. 74 S. dazu etwa Read/van Leeuwen, Organ. Behav. & Human Decision Processes 76 (1998), 189 ff. 75 S. für ein Modell Loewenstein/O’Donoghue/Rabin, Quart. J. Econ. 118 (2003), 1209, 1216 f. 76 S. dazu etwa Loewenstein, Organ. Behav. & Human Decision Processes 65 (1996), 272 ff. 77 S. etwa Wilson/Gilbert, Affective Forecasting, Current Directions in Psych. Sci. 14 (2005), 131 ff.; Ariely/Loewenstein, J. Behav. Dec. Making 19 (2006), 87 ff. m.w.N. 78 Read/Leeuwen, Organ. Behav. & Human Decision Processes 76 (1998), 189 ff. 79 S. auch den Feldversuch von Conlin/O’Donoghue/Vogelsang, Am. Econ. Rev. 97 (2007), 1217 ff., wonach die Rückgabequote von Winterkleidung, die an kühlen Tagen per Katalog bestellt worden war, signifikant höher lag als bei Bestellungen an wärmeren Tagen.
186
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
higt zu halten (above-average effect) oder sich besonders gefeit vor künftigen negativen Ereignissen zu wähnen (comparative optimism)80.81 So glauben etwa 90% der U.S.-amerikanischen Autofahrer, dass sie ihr Fahrzeug überdurchschnittlich gut beherrschen,82 während frisch getraute Paare die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung häufig viel zu gering veranschlagen.83 Auch bei diesem komparativen Optimismus handelt es sich letztlich um einen Aspekt des Überdurchschnittlichkeitseffekts, korreliert er doch stark mit der Wahrnehmung der eigenen Kontrolle über den Eintritt des Ereignisses (illusion of control).84 Die eigene Selbstüberschätzung manifestiert sich freilich auch ganz unabhängig von einem Vergleich mit anderen.85 Als Grund für diesen Überoptimismus wird neben bloßen Informationsdefiziten86 vor allem die systematisch verzerrte Informationsselektion ausgemacht. Der Mensch tendiert nämlich dazu, mehrdeutige Informationen so zu interpretieren und zu gewichten, dass sie die von ihm gewünschte Schlussfolgerung bzw. die schon vorgefasste Ansicht unterstützen (selbstdienliche Wahrnehmung oder selfserving bias).87 Hierher gehört etwa der sog. attributional bias,88 nach dem positive Ergebnisse dem eigenen Zutun zugeschrieben werden, negative Ergebnisse aber unglücklicher Fügung oder anderen externen Ursachen.89 Bei der Bewertung einer eigenen, bereits getroffenen Entscheidung wird diese Form der Infor-
80
S. hier nur die Pionierstudie von Weinstein, J. Personality & Soc. Psychol. 39 (1980), 806 ff. S. zum Ganzen auch mit Hinweisen auf neuere Feldstudien Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 37 f. 82 S. die berühmte Studie von Svenson, Acta Psychologica 47 (1981), 143 ff. Bei den ebenfalls untersuchten schwedischen Autofahrern lag der Anteil derjenigen, die sich für überdurchschnittlich gute Autofahrer hielten, immerhin noch bei knapp 80%. 83 Baker/Emery, L. & Hum. Behav. 17 (1993), 439 ff. S. zu dieser Studie ausführlich unten unter § 7 VI.1.1. 84 Dunning/Heath/Suls, Psychol. Sci. Pub. Int. 5 (2004), 69, 80 m.w.N.: „One of the strongest moderators of unrealistic optimism is perceived control […]. The greater a person’s perceived control over an event or its outcome, the stronger the person’s optimistic bias.“ 85 S. wiederum nur Dunning/Heath/Suls, Psychol. Sci. Pub. Int. 5 (2004), 69, 73 m.w.N. 86 S. wieder Dunning/Heath/Suls, Psychol. Sci. Pub. Int. 5 (2004), 69, 73 f., wonach derjenige, der in einem Gebiet unterdurchschnittlich gut ist, häufig gar nicht die Fähigkeit besitzt, die Güte seiner Leistung in eben diesem Gebiet einzuschätzen. 87 S. zu diesem Phänomen etwa Babcock/Loewenstein, J. Econ. Persp. 11 (1997), 109 ff.; Miller/ Ross, Psychol. Bull. 82 (1975), 213 ff. Insofern lässt sich die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten oder der Resistenz gegenüber zukünftigen Schicksalschlägen als Ausprägung des allgemeineren confirmatory bias begreifen, nach dem unklare Information als Bestätigung der bereits für richtig gehaltenen Hypothese verstanden werden [s. zum Zusammenhang von confirmatory bias und overconfidence auch Rabin/Schlag, Quart. J. Econ. 114 (1999), 37, 47 und öfter; ferner Eil/Rao, AEJ: Microeconomics 3 (2) (2011), 114 ff.]. Allgemein zu der Frage, ob Überdurchschnittlichkeitsund Überoptimismuseffekte eher auf motivationale Faktoren oder begrenzte Informationsverarbeitungskapazitäten zurückzuführen sind, Chambers/Windschitl, Psychol. Bull. 130 (2004), 813 ff. 88 Es findet sich auch die Bezeichnung self-attribution bias. 89 S. für eine Metastudie zum attributional bias Mezulis et al., Psychol. Bull. 130 (2004), 711 ff. 81
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell
187
mationsselektion auch zur Reduktion kognitiver Dissonanz genutzt.90 Der selbstdienlichen Wahrnehmung wohnt die Tendenz inne, den bereits bestehenden Überoptimismus weiter zu verstärken. Entsprechend führt ein Mehr an Information tendenziell zu einem größeren Überoptimismus.91 Diese „Unwucht“ der selbstdienlichen Wahrnehmung setzt sich bei der Ermittlung bedingter Wahrscheinlichkeiten in der Anwendung der Ähnlichkeitsheuristik (representativeness heuristic) fort: Bedingte Wahrscheinlichkeiten werden danach ermittelt, wie gut die betreffenden Daten zu einer bestimmten Hypothese passen. A prioriWahrscheinlichkeiten werden dabei vernachlässigt (base rate neglect).92 1.3.6 Außerachtlassung kleiner Wahrscheinlichkeiten Der Mensch neigt dazu, solche möglichen Ereignisse aus seinem Entscheidungskalkül auszublenden, die nur mit (sehr) kleiner Wahrscheinlichkeit eintreten.93 Dieses Verhalten kann durchaus rational sein94, aber auch auf einer systematischen Vernachlässigung dieser wenig wahrscheinlichen Ereignisse beruhen95. In beiden Fällen gilt jedoch: Werden aufgrund der vorstehend beschriebenen Verhaltensanomalien, etwa aufgrund von Überoptimismus, der Wirkung der Verfügbarkeitsheuristik oder aufgrund von Projektionsfehlern die Wahrscheinlichkeiten künftiger Risiken oder der Betroffenheit von künftigen negativen Ereignissen für unrealistisch gering erachtet, kann diese Vernachlässigung (subjektiv) kleiner Wahrscheinlichkeiten zu einer gänzlichen Ausblendung des in Rede stehenden Ereignisses führen; der betroffene Akteur veranschlagt die Eintrittswahrscheinlichkeit des Ereignisses in seinem Entscheidungskalkül mit „Null“. Der vorausliegende systematische Entscheidungsfehler wird hierdurch weiter verstärkt. 90
Grundlegend Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, 1957. S. Dunning/Meyerowitz/Holzberg, in: Gilovich et al (eds.), Heuristics and Biases, 2002, S. 324, 328 f. 92 S. zur Ähnlichkeitsheuristik soeben unter § 5 II.1.3.3. 93 Das Auftreten dieses Phänomens ist freilich abhängig von der Entscheidungssituation. So werden kleine Wahrscheinlichkeiten nicht unter-, sondern überwertet, wenn dem Entscheider zwei riskante Entscheidungsalternativen und die möglichen Auszahlungsbeträge präsentiert werden. S. dazu im Detail Chen/Jia, Marketing Letters 16 (2005), 5 ff. 94 Für eine Erklärung dieser Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten insbesondere in Bezug auf negative Ereignisse auf dem Boden des Rationalmodells s. G. Becker/Mulligan, Quart. J. Econ. 112 (1997), 729, 742 f. 95 Vgl. vor allem in Bezug auf Verlustrisiken Eichenberger, Verhaltensanomalien und Wirtschaftswissenschaft, 1992, S. 18; dazu van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 119; ferner Herring/Wachter, in: Hunter/Kaufman/Pomerleano (eds.), Asset Price Bubbles, 2003, S. 216, 222 zur „threshold heuristic“ von Entscheidern unter Zeitdruck; s. zudem bereits Menger, Zeitschrift für Nationalökonomie, 5 (1934), 459, 471 f.; zu der Problematik der Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten für rationales Entscheiden, s. nur Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, 8. Aufl. 2012, S. 541; speziell zu regulierungstheoretischen Problemen Stack/Vandenbergh, Colum. L. Rev. 111 (2011), 1385 ff. Für eine Erklärung dieser Vernachlässigung kleiner Wahrscheinlichkeiten insbesondere in Bezug auf negative Ereignisse auf dem Boden des Rationalmodells s. G. Becker/Mulligan, Quart. J. Econ. 112 (1997), 729, 742 f. 91
188
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
2. Begrenzter Eigennutz – Fairness und soziale Präferenzen Das ökonomische Standardmodell des REMM geht von eigennützigen Akteuren aus, die ihr Verhalten allein am eigenen Wohlergehen, insbesondere am eigenen materiellen Wohlergehen ausrichten.96 Auch diese Annahme ausschließlich eigennützigen Verhaltens ist durch eine Vielzahl empirischer Belege widerlegt. So handeln Individuen aufgrund von sozialen Normen, allgemeinen Fairnesserwägungen oder aus Gehässigkeit, auch wenn dies ihren Eigeninteressen im konkreten Fall zuwiderläuft.97 Deshalb halten manche den homo reciprocans für das gegenüber dem homo oeconomicus realistischere Modell.98 Besonders anschaulich zeigt sich die Relevanz uneigennütziger Fairnesserwägungen in der experimentellen Forschung zum sog. Ultimatumspiel.99 Hierbei wird einem Spieler A ein bestimmter Geldbetrag zugeteilt mit der Maßgabe, ihn mit einem zufällig ausgewählten anderen Spieler B zu teilen. Die Aufteilung liegt ganz im Belieben von A. B kann das Angebot des A nun annehmen. Dann kann er den ihm angebotenen Betrag behalten, während A den Rest erhält. Lehnt B das Angebot hingegen ab, gehen beide leer aus. Beide Spieler kennen diese Regeln; Verhandlungen sind nicht gestattet. Das Rationalmodell sagt nun folgende Strategie von Spieler A voraus: A behält alles bis auf einen Cent, den er B anbietet. B nimmt dieses Angebot an, da er damit immer noch besser steht, als wenn er das Angebot ablehnen würde. Tatsächlich aber liegt in dem inzwischen vielfach wiederholten Experiment das Angebot des Spielers A in der großen Mehrheit der Fälle zwischen einem Drittel und der Hälfte des zu verteilenden Betrages. Angebote von einem Fünftel oder weniger wurden hingegen fast durchweg als unfair erachtet und daher mit Ablehnung sanktioniert.100 Andere Experimente weisen ähnliche Abweichungen von der Eigennutzannahme nach. Beim Diktatorspiel etwa, das sich vom Ultimatumspiel dadurch unterscheidet, dass Spieler B die von Spieler A vorgeschlagene Aufteilung des Geldbetrages hinnehmen muss, weist die Mehrzahl der Spieler in der „Diktatorenposition“ (Spieler A) dem Mitspieler (B) gleichwohl einen gewissen Geldbetrag zu.101 Das Vertrauensspiel (trust game) setzt wiederum wechselseitiges Verhalten der Akteure zum gemeinsamen Nutzen voraus: Spieler A wird ein Geldbetrag 96
S. dazu oben unter § 4 I.2.2. Ausführlich zum Ganzen Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1126 ff. 98 Vgl. Sunstein, in: Sunstein (ed.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 1, 8. 99 Grundlegend Güth/Schmittberger/Schwarze, J. Econ. Behav. Organ. 3 (1982), 367 ff. Eine Zusammenfassung des Experiments und seiner Ergebnisse findet sich etwa bei Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 70 f. oder Eidenmüller, JZ 2005, 216, 219. Vgl. aber auch die Vorbehalte bei Arlen, Vand. L. Rev. 51 (1998), 1765, 1786 f.; hiergegen wiederum Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 73 f. 100 S. die Zusammenfassung bei Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2006, S. 3, 27, die das Ultimatumspiel als „useful workhorse for identifying departures from self-interest“ bewerten. 101 S. die Ergebnisse bei Forsythe/Horowitz/Savin/Sefton, Games Econ. Behav. 6 (1994), 347, 357, 362. 97
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell
189
zur Verfügung gestellt. Hiervon kann er einen bestimmten Anteil einsetzen, der dann verdreifacht wird. Spieler B entscheidet nun über die Aufteilung des verdreifachten Betrages zwischen sich selbst und Spieler A. Nach dem Standardmodell würde Spieler B alles für sich behalten. Spieler A würde dies voraussehen und daher einen Betrag von Null einsetzen. Tatsächlich setzen die Spieler A im Experiment aber etwa die Hälfte des Betrages ein. Die Spieler B zahlen etwas weniger als den Einsatz an die Spieler A zurück. Der zurückgezahlte Betrag steigt dabei mit der Höhe des Einsatzes.102/103 Es lässt sich also beobachten, dass die einzelnen Spieler nicht nur Nutzen aus den materiellen Auszahlungen ziehen, sondern auch aus einer wechselseitig geübten Fairness, deren Verletzung bestraft wird. Das Verhalten der Spieler wird mithin maßgeblich durch das vorangehende Verhalten der Mitspieler ihnen gegenüber bestimmt (Reziprozität).104 Nach Jolls, Sunstein und Thaler sind für die verhaltenssteuernden Fairnesserwartungen gewisse Referenztransaktionen, zumeist die marktüblichen Transaktionen, maßgeblich.105 Allerdings wird die Wahrnehmung von Fairness auch durch das Eigeninteresse des Akteurs beeinflusst, bisweilen auch verzerrt (self-serving bias).106
3. Abweichungen von den Axiomen rationaler Präferenzordnung Das ökonomische Standardmodell geht von einer stabilen, konsistenten Präferenzordnung aus, die als vorgegebene (exogene) Größe bei der Nutzenmaximierung berücksichtigt wird und nicht kontextbeeinflusst ist.107 Letzteres widersprä102 S. dazu die Beschreibung bei Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2006, S. 3, 27. 103 Bekannt ist ferner das sog. Geschenkaustauschspiel (gift exchange game); s. dazu Fehr/Kirchsteiger/Riedl, Quart. J. Econ. 108 (1993), 437 ff.; Falk, Econometrica 75 (2007), 1501 ff. Für eine Übersicht über die einschlägige Experimentalforschung zu sozialen Präferenzen s. Charness/Rabin, Quart, J. Econ. 117 (2002), 817 ff.; Fehr/Gächter, J. Econ. Persp. 14(3) (2000), 159 ff. Einen kurzen Überblick über neuere Feldexperimente geben Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 31 f. 104 S. zur Modellierung dieser Reziprozitätsbeziehung einerseits die Modelle von Rabin, Am. Econ. Rev. 83 (1993), 1281 ff.; Dufwenberg/Kirchsteiger, Games Econ. Behav. 47 (2004), 268 ff.; Falk/Fischbacher, Games Econ. Behav. 54 (2006), 293 ff.; andererseits die mit einer „Ungleichheitsaversion“ arbeitenden Modelle von Fehr/Schmidt, Quart. J. Econ. 114 (1999), 817, 820 ff.; Charness/Rabin, Quart. J. Econ. 117 (2002), 817, 822 ff.; ferner zum Ganzen den kurzen Überblick bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 30 f. 105 Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471, 1496. 106 S. hierzu zusammenfassend Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 75 ff. m.w.N. S. zum self-serving bias bereits oben unter § 5 II.1.3.5. 107 S. nur Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 79; van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 115; ausführlich dazu oben unter § 4 I.2.3.
190
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
che dem Invarianzaxiom.108 Vielzählige empirisch-experimentelle Belege stützen indes die entgegengesetzte These, dass Präferenzen ein Produkt von Verfahren, Beschreibung und Kontext zum Entscheidungszeitpunkt sein können.109 3.1 Referenzpunktabhängigkeit von Präferenzen und Verlustaversion Zahlreiche Laborexperimente legen nahe, dass die Präferenzen menschlicher Entscheider in Abweichung vom ökonomischen Standardmodell von einem Referenzpunkt abhängig sind.110 Veränderungen nehmen offenbar stärker auf die Nutzenwahrnehmung Einfluss als Endzustände.111 In der Regel ist der maßgebliche Referenzpunkt der status quo oder die gegenwärtige Ausstattung (endowment).112 Er wird aber auch von Erwartungen und Ansprüchen beeinflusst.113 So ist eine wesentliche Erkenntnis der Verhaltensökonomik, dass Menschen negative Statusveränderungen, also Verluste, wesentlich stärker beschweren, als sie Nutzen aus gleich großen Gewinnen ziehen. Aufgrund dieser Verlustaversion (loss aversion) ziehen menschliche Entscheider also weniger Nutzen aus Gewinnen als aus nicht realisierten Verlusten.114 Oder noch anders gewendet: Opportunitätskosten und tatsächliche Kosten werden nicht gleichgesetzt.115 Dieser Effekt zeigt sich nicht nur bei „Laien“, sondern auch bei Expertenentscheidern.116 108
S. dazu oben unter § 4 I.2.3.1. S. Sunstein, Am. L. & Econ. Rev. 1 (1999), 115, 117 ff.; rezipiert bei Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 78. 110 S. nur Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263 ff. und Tversky/Kahneman, Science 211 (1981), 453 ff. Zur von diesen entwickelten Prospect-Theorie s. noch unten unter § 5 III.1. 111 S. Eidenmüller, JZ 2005, 216, 218; gleichsinnig etwa van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S. 88 und dies., in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 117 mit Verweis auf die Prospect-Theorie. 112 Für mögliche Erklärungen des status quo bias vgl. Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1224 f. m.w.N. 113 S. dazu auch Köszegi/Rabin, Quart. J. Econ. 121 (2006), 1133, 1141 f., die nicht die gegenwärtige Ausstattung oder den status quo als Referenzpunkt ansehen, sondern die Erwartung, diesen status quo zu halten. Vgl. zur Referenzpunktbestimmung anhand eigener Erwartungen ferner etwa das Experiment von Abele/Falk/Goette/Huffman, Am. Econ. Rev. 101 (2011), 470 ff. 114 Vgl. zum Phänomen der Verlustaversion Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263 ff.; Tversky/Kahneman, Science 211 (1981), 453 ff.; Tversky/Kahenman, J. Risk & Uncertainty 5 (1992), 297 ff.; Kahneman, Am. Econ. Rev. 93 (2003), 1449, 1454 ff. Zur Verlustaversion als Bestandteil der Prospect-Theorie s. unten unter § 5 III.1. Verluste werden in der Regel doppelt so schwer gewichtet wie entsprechende Gewinne, vgl. Sunstein, Am. L. & Econ. Rev. 1 (1999), 115, 123 f.; Guthrie, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), S. 1115, 1119. 115 Dies führt zu inkonsistenter und damit irrationaler Risikoaversion. Menschen gehen weniger Risiken ein, die zu Verlusten führen können, als von rationalen Erwartungsnutzenmaximierern zu erwarten wäre. Vgl. zusammenfassend van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 115 f. in Fn. 19; ferner Rachlinski, S. Cal. L. Rev. 70 (1996), 113, 121. 116 Einen knappen Überblick über die zahlreichen Feldstudien zu Referenzpunktabhängigkeit und Verlustaversion liefern Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 21 f. 109
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell
191
Die Phänomene der Referenzpunktabhängigkeit von Präferenzen und der Verlustaversion sind auch für den sog. Ausstattungs- oder Besitzeffekt (endowment effect) verantwortlich, der zu Unterschieden zwischen Kauf- und Verkaufsbereitschaft führt, weil der Akteur ein Gut (nur deshalb) höher bewertet, wenn (und weil) er es bereits besitzt.117 Der Effekt ist umso stärker, je länger der Besitz währt.118 Die Referenzpunktabhängigkeit und Verlustaversion führen zu sog. FramingEffekten. Diese, von Tversky und Kahneman bereits früh für Entscheidungen unter Risiko nachgewiesenen Effekte liegen vor, wenn logisch äquivalente Darstellungen einer Entscheidungssituation bei Individuen aufgrund der konkreten Beschreibung des Entscheidungsproblems zu unterschiedlichen Wahlhandlungen führen.119 So ist es für die Entscheidung eines verlustaversen Individuums typischerweise von Bedeutung, ob die Entscheidungsoptionen positiv oder negativ, d.h. ob sie sprachlich als Verluste oder als entgangene Gewinne dargestellt werden.120 Ebenso beeinflusst die Kombination oder Isolation von Gewinnen und Verlusten (sog. choice bracketing) die Präferenzen des Entscheiders.121 Die Abhängigkeit einer Entscheidung von einem Referenzpunkt zeigt sich auch in dem bereits bei den Informationsaufnahme- und -verarbeitungsanomalien angesprochenen Anchoring-Effekt.122 In Abwesenheit eines bereits bestehenden (und hinreichend stabilen) Referenzpunktes bzw. hinreichend stabiler Präferenzen werden Daten aufgrund eines Anfangspunktes (Ankers) beurteilt, etwa aufgrund einer zuerst unterbreiteten Information. Dieser Anker kann durch die (anfängliche) Darstellung einer Information bzw. die anfängliche Vorgabe einer 117 Vgl. dazu Kahneman/Knetsch/Thaler, J. Pol. Econ. 98 (1990), 1325, 1342 ff.; Kahneman/ Knetsch/Thaler, J. Econ. Persp. 5 (1991), 193, 197 ff., 199 ff. Das von ihnen beschriebene „Kaffeebecher“-Experiment hat wiederum eine eigene Diskussion in der ökonomischen Literatur nach sich gezogen, s. dazu knapp Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 20 m.N. in Fn. 63. Endowment effect und loss aversion lassen sich ihrerseits wieder zusammen unter den status quo bias einordnen, s. Samuelson/Zweckhauser, J. Risk & Uncertainty 1 (1988), 7 ff. S. aber auch Bordalo/ Gennaioli/Shleifer, Am. Econ. Rev.: Papers & Proeceedings 102 (2012), 47 ff. m.w.N., die auf die Bedeutung der Salienz bestimmter Attribute der bewerteten Güter sowie des Entscheidungskontextes für das Auftreten von Ausstattungseffekten hinweisen. 118 Eichenberger/Frey, Jahrbuch für neue politische Ökonomie, 12 (1993), 50, 58. 119 Grundlegend Tversky/Kahneman, Science 211 (1981), 453 ff. 120 Vgl. die Experimente bei Tversky/Kahneman, Science 211 (1981), 453 ff.; ferner die Beschreibung bei Druckman, APSR 98 (2004), 671 ff.; mit Blick auf vertragliche Entscheidungen etwa Feldman/Schurr/Teichman, JELS 10 (2013), 512 ff. 121 Dazu Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 18 f. S. ferner die neueren Studien von Barberis/Huang/Thaler, Am. Econ. Rev. 96 (2006), 1069 ff.; Rabin/Weizsäcker, Am. Econ. Rev. 99 (2009), 1508 ff., wonach Entscheider bei Entscheidungen unter Risiko eine neue Wahlsituation nicht entsprechend der Standardtheorie in den bestehenden Entscheidungshintergrund einbetten (und daher nicht den Beitrag der Entscheidung zu ihrem „Gesamtrisiko“ bewerten), sondern isoliert betrachten (sog. narrow framing). 122 S. oben unter § 5 II.1.3.2.
192
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
Größe manipuliert werden. Verschiedene Anker führen dabei zu unterschiedlichen Einschätzungen.123 So ist in einem Experiment von Englich und Mussweiler etwa das vom Richter verhängte Strafmaß – bei ansonsten gleichem Sachverhalt – von der Forderung der Anklage beeinflusst worden.124 Aufgrund des Ankereffekts kann auch die zeitliche Reihenfolge des Informationsempfangs maßgebliche Bedeutung für die Entscheidung erlangen.125 Dabei scheint der Ankereffekt „praktisch vollständig trainingsresistent“126 zu sein.127 3.2 Präferenzen bei Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit Für Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit hält das Standardmodell mit der (subjektiven) Erwartungsnutzentheorie128 ein Entscheidungsverfahren bereit, dass den Axiomen einer rationalen Präferenzordnung, insbesondere den Postulaten der Transitivität, Vollständigkeit und Unabhängigkeit genügt.129 Zahlreiche Untersuchungen belegen jedoch Abweichungen tatsächlichen Entscheidungsverhaltens von den Vorhersagen der (subjektiven) Erwartungsnutzentheorie.130 3.2.1 Allais-Paradoxon und Sicherheitseffekte So hat Allais bereits in der Mitte des letzten Jahrhunderts Entscheidungssituationen präsentiert, in denen die Mehrzahl der Entscheider gegen das Unabhängigkeitsaxiom verstößt.131 Eines dieser später als „Allais-Paradoxa“ berühmt gewordenen Entscheidungsprobleme lautet wie folgt: Dem Entscheider werden zwei Alternativenpaare I, II und III, IV vorgelegt, zwischen denen er sich jeweils entscheiden muss. Die Entscheidungsoptionen sind jeweils mit (riskanten) Auszahlungsgewinnen verbunden. Es handelt sich also um eine Art Lotterie. Nach dem Unabhängigkeitsaxiom132 müsste die Präferenz für I über II zu einer Präferenz von III über IV führen, da sich das Paar III, IV nur insofern von I, II unterscheidet als seine Alternativen jeweils mit einer identischen und daher unerheblichen Lotterie kombiniert worden sind. Allais selbst hat hierfür das fol123
Vgl. Tversky/Kahneman, Science 185 (1974), 1124, 1128 f. Englich/Mussweiler, J. Appl. Soc. Psychol. 31 (2001), 1535 ff. 125 Vgl. etwa Tversky/Kahneman, Science 185 (1974), 1124, 1128 f.; Rabin, J. Econ. Lit. 36 (1998), 11, 29 und wiederum das Experiment von Englich/Mussweiler, J. Appl. Soc. Psychol. 31 (2001), 1535 ff. 126 Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363, 373 unter Verweis auf Mussweiler/Strack/Pfeiffer, Personality & Soc. Psychol. Bull. 26 (2000), 1142 ff. 127 S. zu diesem Effekt ferner Chapman/Bornstein, Appl. Cogn. Psychol. 10 (1996), 519 ff.; Sunstein, Am. L. & Econ. Rev. 1 (1999), S. 115, 123 f.; zusammenfassend etwa Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 82 f. 128 S. dazu oben unter § 4 I.2.3.2. 129 S. statt vieler Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 19; ausführlich bereits oben unter § 4 I.2.3.1. 130 Für einen Überblick Starmer, J. Econ. Lit. 38 (2000), 332 ff. 131 Vgl. Allais, Econometrica 21 (1953), 503 ff. 132 S. dazu oben unter § 4 I.2.3.1 sub (4). 124
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell
193
gende Zahlenbeispiel verwandt133: Option I bedeutet einen sicheren Gewinn von 100 Mio. Francs, Option II gewährt eine zehnprozentige Chance auf 500 Mio. Francs, eine 89prozentige Chance auf 100 Mio. Francs und eine einprozentige „Chance“ auf keinen Gewinn. Die Option III des zweiten Paares gewährt hingegen eine elfprozentige Chance auf 100 Mio. Francs und eine 89prozentige Chance leer auszugehen, während Option IV eine zehnprozentige Chance auf 500 Mio. Francs gewährt und der Entscheider zu 90 Prozent ohne Gewinn bleibt. Die Mehrzahl der Entscheider („la plupart des gens prudents“) bevorzugen die sicheren 100 Mio. (I) gegenüber der riskanten Option II, obwohl deren Erwartungswert höher ist (139 Mio. Francs). Unter Verstoß gegen das Unabhängigkeitsaxiom ziehen sie aber in Bezug auf das zweite Alternativenpaar die Option IV (Erwartungswert: 50 Mio. Francs) der Option III (Erwartungswert: 11 Mio Francs) vor.134 Dieses dem Unabhängigkeitsaxiom widersprechende Entscheidungsverhalten lässt sich damit erklären, dass der Entscheider den Nutzen einer sicheren Option besonders hoch bewertet, die Sicherheit gleichsam mit einem Bonus versieht (sog. Sicherheitseffekt).135 3.2.2 Ellsberg-Paradoxon und Ambiguitätsaversion Das sog. Ellsberg-Paradoxon beschreibt wiederum eine systematische Abweichung tatsächlichen Entscheidungsverhaltens bei Entscheidungen unter Unsicherheit im engeren Sinne.136 Diesem liegt folgendes Entscheidungsproblem zugrunde137: In einer Urne liegen 30 rote und zusammen 60 gelbe und schwarze Kugeln, deren Mengenverhältnis unbekannt ist. Der Entscheider hat zwischen folgenden zwei Alternativenpaaren I, II und III, IV zu wählen: I = man setzt auf rot, II = man setzt auf schwarz, sowie III = man setzt darauf, dass rot oder gelb gezogen wird, IV = man setzt darauf, dass schwarz oder gelb gezogen wird. Die meisten Entscheider bevorzugen I gegenüber II und IV gegenüber III, obwohl sich I, II und III, IV nur dadurch unterscheiden, dass man bei dem letzten Alternativenpaar auch bei dem Ereignis „gelbe Kugel wird gezogen“ gewinnt. Dieses Ergebnis wird als Beleg für eine sog. Ambiguitätsaversion der Entscheider interpretiert: Sie suchen im engeren Sinne unsichere Entscheidungen zu vermeiden 133
Allais, Econometrica 21 (1953), 503, 527. S. auch das Beispiel nach Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 403 präsentiert bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 23. 135 S. etwa Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 403 f.; van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.) Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 119.; s. dazu ferner Guthrie, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1115, 1119. Allais selbst spricht gleichsinnig von „l’avantage de la certitude“. 136 Vgl. Ellsberg, Quart. J. Econ. 75 (1961), 643 ff.; für einen Literaturüberblick Camerer/Weber, J. Risk & Uncertainty 5 (1992), 325 ff. 137 S. zum Folgenden die Beschreibung bei Ellsberg, Quart. J. Econ. 75 (1961), 643, 653 f. 134
194
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
und ziehen demgegenüber riskante Entscheidungen, bei denen die Eintrittswahrscheinlichkeit möglicher Ergebnisse bekannt ist, vor.138 3.3 Vergleichende Bewertung von Entscheidungsalternativen und Menüeffekte Schließlich beruhen menschliche Entscheidungen vielfach auf einem wertenden Vergleich von Entscheidungsalternativen. Die Manipulation des Vergleichs durch ein entsprechendes framing kann daher auch dort zu abweichenden Entscheidungen führen, wo die zugrundeliegenden Abwägungen materiell, d.h. bei Abstraktion von der konkreten Entscheidungsformatierung, identisch sind.139 Eindrücklich zeigt sich der Einfluss der Darbietung von Information auf das Ergebnis einer Entscheidung und damit die Verletzung des Invarianz-Kriteriums auch in Studien, die eine Präferenzumkehr des Entscheiders in Abhängigkeit von der getrennten oder gemeinsamen Präsentation – und damit Bewertung – der zu vergleichenden Optionen feststellen.140 Hsee erklärt diese Präferenzumkehr mit seiner sog. Evaluierbarkeitshypothese. Danach beruht die beobachtete Präferenzumkehr auf dem Umstand, dass ein Attribut der präsentierten Optionen relativ schwer ohne Vergleich zu bewerten ist, während sich ein anderes Attribut relativ leicht unabhängig von einer Vergleichsoption evaluieren lässt. Bei separater Bewertung stützen die Akteure ihre Entscheidung allein auf die leicht zu bewertenden Faktoren, während sie bei gemeinsamer, vergleichender Bewertung auch die ansonsten schwer zu bewertenden Faktoren in ihre Entscheidung einbeziehen.141 Schließlich hat die Verhaltensökonomik das Phänomen der extremeness aversion aufgedeckt, wonach Menschen regelmäßig einen Kompromiss den vorhandenen Extremoptionen vorziehen.142 Aufgrund dieses Effekts kann die Wahl zwischen zwei Optionen mithin durch die Hinzufügung einer dritten Option beeinflusst werden. Dies verstößt gegen die rationale Vorgabe der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen143, nach der eine Entscheidung zwischen zwei Optionen nicht von einer weiteren, nicht gewählten Option abhängen darf.144 Solche „Menüeffekte“ können aber insbesondere bei einer größeren Mehrzahl von Op138 S. zum Ganzen auch den neueren Beitrag von Eichberger/Kelsey/Schipper, Oxford Econ. Papers 61 (2009), 355 ff. Zur Modellierung der Ergebnisse von Allais- und Ellsberg-Paradoxa im Rahmen der (kumulativen) Prospect-Theorie s. unten unter § 5 III sowie den knappen Überblick bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 24. 139 Klassisch Tversky/Kahneman, Science 211 (1981), 453 ff. S. zu Framing-Effekten bereits oben unter § 5 II.3.1. 140 S. für einen Überblick Hsee, Organ. Behav. & Hum. Dec. Processes, 67 (1996), 247 ff. 141 Hsee, Organ. Behav. & Hum. Dec. Processes, 67 (1996), 247, 249. 142 Vgl. zum Ganzen etwa Kelman/Rottenstreich/Tversky, J. Legal Stud. 25 (1996), 287 ff. 143 Dazu allgemein Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 9 f. 144 Vgl. Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 81.
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell
195
tionen auch auf die geringen Aufmerksamkeitsressourcen menschlicher Entscheider zurückzuführen sein.145
4. Zeitinkonsistentes Verhalten und Probleme der Selbstkontrolle Schließlich ist noch auf eine Verhaltensanomalie einzugehen, die in der Diskussion um einen verhaltensökonomisch legitimierten (Rechts-)Paternalismus besondere Beachtung gefunden hat: die Abweichung menschlichen Verhaltens von der Annahme konsistenten Verhaltens über die Zeit.146 Das ökonomische Standardmodell geht davon aus, dass der Mensch nur eine globale Nutzenfunktion über die (Lebens-)Zeit hat, d.h. auch im Zeitverlauf über stabile, also zeitkonsistente Präferenzen verfügt. Danach sind die Präferenzen des Entscheiders in Bezug auf künftige Ereignisse mithin unabhängig vom Bewertungszeitpunkt. Ferner wird dem Entscheider typischerweise Ungeduld unterstellt147, weshalb er seinen künftigen Nutzen mit dem Diskontierungsfaktor δ „abzinst“ (discounted utility theory, DUT).148 Dabei lässt das Standardmodell unterschiedlich hohe Abzinsungsraten der verschiedenen Individuen zu: Individuen mit sehr starker Selbstbeherrschung, d.h. einer starken Präferenz für die Zukunft, diskontieren mit einer niedrigeren Rate als weniger disziplinierte Individuen.149 Eine Vielzahl verhaltensökonomischer Experimente zeigt jedoch, dass reale Entscheider häufig von den Vorhersagen der DUT abweichen.150 Danach diskontiert der Mensch seinen künftigen Nutzen für einen weiter in die Zukunft reichenden, längeren Zeithorizont weniger stark als über einen kürzeren Zeithorizont: Die Diskontierungsraten der meisten Menschen sind mithin nicht konstant, sondern weisen einen (quasi-)hyperbolischen Verlauf auf (quasi-hyperbolic 145 S. etwa Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 38. 146 Vgl. die Einschätzung bei van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 120; vgl. ferner Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1210: „Die (aus meiner Sicht) wichtigste Fallgruppe des ,behavioural law‘ betrifft das Phänomen der ,Zeitinkonsistenz‘ […]. Betrachtet man die Vorgaben zwingenden Rechts in unserem Vertragsrecht, so sind es häufig Fälle von ,Zeitinkonsistenz‘, die den Gesetzgeber zum Eingreifen veranlassen.“ 147 Bzw. um den Zeitwert von Geld und die Ungewissheit der Zukunft weiß, vgl. auch R. Posner, Legal Theory 3 (1997), 23, 30. 148 S. zur DUT bereits ausführlich unter § 4 I.2.3.3; s. hier nur die knappen Darstellungen bei DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 318; van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 120; Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 79 f. sowie bereits Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 25; ausführlicher Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 347 ff. 149 Vgl. Polinsky/Shavell, J. Legal Stud. 28 (1999), 1, 12; Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 80. Vgl. ferner das Beispiel bei R. Posner, Legal Theory 3 (1997), 23, 30. 150 Vgl. die Überblicksaufsätze zur experimentellen Forschung über intertemporales Entscheidungsverhalten von Loewenstein/Prelec, Quart. J. Econ. 107 (1992), 573 ff.; Frederick/Loewenstein/O’Donoghue, J. Econ. Lit. 40 (2002), 351 ff.
196
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
discounting).151 Ein solcher Verlauf könnte beispielsweise dazu führen, dass ein Entscheider eine Belohnung von € 110 in 31 Tagen einer Belohnung von € 100 in 30 Tagen vorzöge, gleichzeitig aber lieber € 100 jetzt bekäme als € 110 morgen; es käme mithin im Zeitverlauf zu einer Präferenzumkehr.152 Solche Zeitpräferenzen können mithin zu Inkonsistenzen führen, die sich als Probleme der Selbstkontrolle153 deuten lassen. So machen Menschen für ihre (fernere) Zukunft Pläne, die ihnen längerfristig nutzen sollen. Dies betrifft etwa die bekannten Vorsätze für eine gesunde Lebensführung, aber etwa auch den Vorsatz monatlich etwas für das Alter zurückzulegen. In der Gegenwart diskontieren sie den damit verbundenen Nutzen für die nahe Zukunft jedoch so stark, dass sie doch noch (ein letztes Mal!) dem ungesunden Genuss nachgeben oder sich einen teuren Spaß auf Kosten der Altersversorgung gönnen.154 Später bereuen sie dieses Verhalten dann vielfach.155 4.1 Die Darstellung quasi-hyperboler Diskontierung im β-δ-Modell Richard Posner hat als Vertreter der neoklassischen Rechtsökonomik noch versucht, dieses Verhalten durch eine Aufspaltung des Menschen in verschiedene „Selbst“ (multiple selves) zu erfassen, deren Präferenzordnungen – über die Zeit – miteinander in Konflikt geraten.156 Weitgehend durchgesetzt hat sich inzwi151
Vgl. zum Ganzen Laibson, Quart. J. Econ. 112 (1997), 443 ff. Beispiel nach Frederick/Loewenstein/O’Donoghue, J. Econ. Lit. 40 (2002), 351, 361 m.w.N. S. auch die bekannte Pionierstudie von Thaler, Econ. Letters 8 (1981), 201 ff., insb. 204, in der es dem die statistische Mitte bildenden Teilnehmer gleich war, ob er US$ 15 jetzt oder US$ 20 in einem Monat bzw. US$ 100 in 10 Jahren erhält. Ersteres entspricht einem Diskontierungsfaktor von 345% pro Jahr, letzteres von nur 19% pro Jahr. Diese Präferenz für die zeitlich unmittelbare Erfüllung einer Nutzenoption lässt sich offenbar auch hirnphysiologisch darstellen, vgl. McClure/ Laibson/Loewenstein/Cohen, Science 306 (2004), 503 ff., dort auch zur Kompatibilität der hirnphysiologischen Befunde mit dem β-δ-Modell; zu diesem sogleich im Text. 153 S. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 120; das Phänomen wird auch „Willensschwäche“ [ebenda], „bounded willpower“ [Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471, 1479] oder „dynamische Inkonsistenz“ [so etwa Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 79 f.] genannt. 154 Dazu knapp DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 318; als Ratgeber zur Überwindung dieser Selbstkontrollprobleme versteht sich das populärwissenschaftliche Buch von Thaler/Sunstein, Nudge – Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness, 2008. Diese apostrophieren die widerstreitenden Zeitpräferenzen als „Planner“ und „Doer“, die sie wiederum anschaulich mit „Mr. Spock“ und „Homer Simpson“ vergleichen (s. dort S. 42). 155 Abstrakt lässt sich dieses Phänomen wie folgt beschreiben: Das Individuum bereut seine für den künftigen Zeitpunkt t3 zum Zeitpunkt t1 getroffene Entscheidung im vor t3 liegenden Zeitpunkt t2. Seine Präferenzen im Zeitpunkt t1 konfligieren folglich mit seinen Präferenzen im Zeitpunkt t2. Die Präferenzordnung dieser Individuen ist folglich über die Zeit nicht stabil und einheitlich (dynamische Inkonsistenz oder Zeitinkonsistenz); vgl. Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471, 1539 f. 156 Vgl. R. Posner, Legal Theory 3 (1997), S. 23 ff.; jüngst wieder Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 43 ff. et passim. Anklänge an eine solche Betrachtung finden sich in den auch heute noch aktuellen „Zwei-System“-Modellen; s. dazu die N. in Fn. 159. Für eine darauf aufsetzende evolutionstheoretisch-biologistische Erklärung dynamischer Inkonsistenzen Netzer, Am. Econ. Rev. 99 (2009), 937 ff. 152
II. „Verhaltensanomalien“ – Empirisch belegte Abweichungen vom Standardmodell
197
schen aber das von Laibson157 sowie O’Donoghue und Rabin158 entwickelte Modell sog. quasi-hyperboler oder β-δ-Präferenzen159. Die Besonderheit dieses Modells besteht darin, dass der über die Zeit exponentiell anwachsenden Diskontierungsfaktor δ160 mit der Konstante β multipliziert wird. Ist β = 1, dann entspricht das β-δ-Modell dem Standardmodell. Setzt man jedoch β < 1, lässt sich hiermit das vorgestellte Selbstkontrollproblem darstellen.161 Das β-δ-Modell verortet die mit intertemporalen Entscheidungen verbundenen Anomalien also in der Diskontierungsfunktion.162 Dieses Modell haben O’Donoghue und Rabin um die eigene Erwartung des Entscheiders von seinen künftigen Zeitpräferenzen erweitert: Die eigene Einschätzung der künftigen Selbstkontrolle wird dabei wiederum mittels einer Konstante dargestellt. Ist diese größer als das tatsächliche β, dann ist der Akteur im Hinblick auf seine künftige Selbstkontrolle zu optimistisch. Entspricht die Konstante hingegen dem tatsächlichen β, dann schätzt er sich selbst realistisch ein und wird gegebenenfalls nach Selbstbindungsmechanismen suchen, um sein Selbstkontrollproblem zu bewältigen.163 4.2 Selbsteinschätzung der Entscheider und Wohlfahrtsimplikationen Für die Frage, ob zeitinkonsistente Präferenzen einen rechtspaternalistischen Eingriff zur Steigerung der Wohlfahrt des betroffenen Akteurs rechtfertigen können164, kommt es entscheidend darauf an, ob der Entscheider seine künftigen Präferenzen realistisch einschätzt oder seine Selbstdisziplin zu optimistisch bewertet. Ein solcher naiver Akteur wird nämlich sein Bedürfnis nach Selbstbindung unterschätzen und daher – gemessen an seinen eigenen Präferenzen – zu 157
Vgl. Laibson, Quart. J. Econ. 112 (1997), 443 ff., insbesondere 449 f. Vgl. O’Donoghue/Rabin, Am. Econ. Rev. 89 (1999), 103 ff. 159 Sie stützen sich dabei auf Vorarbeiten von Strotz, Rev. Econ. Stud. 23 (1956), 165 ff.; Phelps/ Pollak, Rev. Econ. Stud. 35 (1968), 185 ff.; und Akerlof, Am. Econ Rev. 81 (1991), 1 ff. Für ein anderes Modell etwa Gul/Pesendorfer, Econometrica 69 (2001), 1403 ff.; s. ferner die alternativen „Zwei-System“-Modelle von Thaler/Shefrin, J. Pol. Econ. 89 (1981), 392 ff.; sowie Fudenberg/Levine, Am. Econ. Rev. 96 (2006), 1449 ff. 160 S. zu dessen Funktion im Rahmen der DUT oben unter § 4 I.2.3.3.1. 161 S. zum Ganzen auch die Darstellung des Modells bei DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 318 ff. sowie Fleischer/Schmolke/Zimmer, Verhaltensökonomik als Forschungsinstrument für das Wirtschaftsrecht, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 26 f. 162 Zu alternativen Erklärungen und weiteren Modellansätzen Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 22, 25 f. m.w.N. 163 Vgl. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 121; zum Vorstehenden DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 318 f. Als ein solcher Mechanismus wird etwa das sog. mental accounting angesehen [vgl. Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363, 371 f.], bei dem im Kopf eine Vermögensaufteilung stattfindet, indem gleichsam getrennte Bücher für verschiedene Zwecke geführt werden [s. zum mental accounting nur Thaler, J. Behav. Dec. Making 12 (1999), S. 183 ff.]. 164 S. für einen prominenten Vorschlag zur Gestaltung der betrieblichen Altersvorsorgeregelung Thaler/Benartzi, J. Pol. Econ. 112 (2004), S164 ff. 158
198
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
laxe Selbstdisziplinierungsmaßnahmen ergreifen oder gar ganz auf sie verzichten.165 Dieses Phänomen lässt sich anhand einiger bekannter Feldstudien illustrieren: Eine Studie von DellaVigna und Malmendier hat etwa aufgedeckt, dass Nutzer von Sportstudios mit Blick auf ihr Trainingsverhalten nachteilige Monatstarife bezahlen. Aufgrund ihrer relativ niedrigen Trainingsquote käme sie nämlich ein Tarif günstiger, der pro Studiobesuch abrechnet. Die Einlassungen der zu ihrem Verhalten befragten Studionutzer stützte weitgehend die These, dass sie bei Abschluss des Monatstarifs ihre künftige Trainingsdisziplin überschätzt hatten.166 In ganz ähnlicher Weise deuten die Ergebnisse eines von Ausubel präsentierten Feldversuchs eines großen amerikanischen Kreditkartenunternehmens darauf hin, dass Kreditkartennutzer bei der Wahl der Nutzungskonditionen ihrer Karte die eigene (künftige) „Ausgabendisziplin“ überschätzen: So entschieden sich die Verbraucher häufiger für das ihnen zugesandte Vertragsangebot, das für die ersten sechs Monate mit einem niedrigeren Kreditzins lockte, für die anschließende Zeit aber einen höheren Zins berechnete als das alternativ versandte Angebot. Für den durchschnittlichen Kreditkartennutzer war das häufiger gewählte Angebot jedoch letztlich ungünstiger als die weniger häufig gewählte Alternative.167
III. Deskriptive Präferenztheorien Die Vielzahl systematischer Abweichungen tatsächlich beobachtbaren Entscheidungsverhaltens von den Vorhersagen der auf der REMM-Hypothese fußenden Erwartungsnutzentheorie hat die verhaltensökonomische Forschung veranlasst, nach neuen Entscheidungstheorien zu suchen, die den empirischen Befunden Rechnung tragen und das tatsächliche, intuitive Entscheidungsverhalten von Menschen (besser) abbilden. Die Entwicklung und empirische Überprüfung dieser deskriptiven Präferenztheorien ist freilich ein langwieriger, noch andauernder Prozess.168 Im Folgenden sollen einige deskriptive Präferenztheorien vorgestellt werden, die in der wissenschaftlichen Diskussion besondere Aufmerksamkeit erfahren haben. Hierzu zählt in Sonderheit die kumulative Prospect-Theorie (cumulative prospect theory, CPT) (2.), die aus der (einfachen) Prospect-Theorie (1.) 165
Vgl. Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1116 ff.; Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 81 in Fn. 72. 166 S. DellaVigna/Malmendier, Am. Econ. Rev. 96 (2006), 694 ff., 716. Eine alternative Erklärung wäre, dass die Vereinbarung einer Monatsgebühr der Selbstbindung des realistischen Studiobesuchers dient. S. zu diesem Beispiel bereits Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 27. 167 Zum Ganzen Ausubel, Adverse Selection in the Credit Card Market, 1999, http://www.ausubel.com/creditcard-papers/adverse.pdf. S. noch ausführlich zu zeitinkonsistentem und naivem Verhalten kreditnehmender Verbraucher unten unter § 9 IV.2.2. 168 Vgl. einerseits Eisenführ/Weber, Rationales Entscheiden, 4. Aufl. 2003, S. 357 sub 6. und andererseits Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 414 ff., 450 f.
III. Deskriptive Präferenztheorien
199
hervorgegangen ist. Daneben werden noch kurz die Disappointment- und die Regret-Theorie (3.) sowie die Support-Theorie (4.) vorgestellt.169
1. Prospect-Theorie Die von Kahneman und Tversky in den 1970er Jahren für Entscheidungen unter Risiko entwickelte Prospect-Theorie versucht, das tatsächliche Entscheidungsverhalten von Menschen zu beschreiben, die sich vor die Wahl zwischen einer sicheren und einer riskanten Alternative gestellt sehen. Die Prospect-Theorie unterscheidet sich in drei wesentlichen Punkten von der Erwartungsnutzentheorie des Standardmodells170: Der Entscheider transformiert zunächst in einer EditingPhase die möglichen Ergebnisse und Wahrscheinlichkeiten der riskanten Alternative mit dem Ziel „to organize and reformulate the options so as to simplify subsequent evaluation and choice“171 (1). Die Wertfunktion des Entscheiders bewertet die Vermögens- oder Wohlfahrtsveränderung in Relation zu einem zuvor bestimmten Referenzpunkt und nicht wie die Erwartungsnutzentheorie die Endgröße des Vermögens bzw. der Wohlfahrt nach getroffener Entscheidung (2).172 Schließlich werden die möglichen Entscheidungsergebnisse mit einem Koeffizienten (decision weight) multipliziert, der „measure[s] the impact of events on the desirability of prospects and not merely the perceived likelihood of these two events“173 (3). In der Editing-Phase werden vor allem folgende Operationen ausgeführt174: – Coding. Der Entscheider setzt einen Referenzpunkt – bei materiellen Entscheidungen ist dies üblicherweise die gegenwärtige Vermögensposition (status quo) – und kodiert in Relation zu diesem Referenzpunkt die möglichen Ergebnisse der Entscheidung als Gewinne oder Verluste. Diese Einbeziehung des Referenzpunktes in die Entscheidungsanalyse ist eine der wichtigsten Erweiterungen der Erwartungsnutzentheorie durch die Prospect-Theorie.175 – Combination. Der Entscheider kombiniert die Wahrscheinlichkeiten identischer Ergebnisse und vereinfacht so das Entscheidungsverfahren. Macht er etwa mit einer Wahrscheinlichkeit von 25% einen Gewinn von 200 und mit 169
S. zum Folgenden auch den Überblick bei Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 414 ff. 170 S. dazu bereits oben unter § 4 I.2.3.2 sowie Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 245 ff. 171 Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 274. 172 Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 277. 173 Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 280. 174 S. zum Folgenden Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 274 f. Die nachstehenden Ausführungen stellen im Wesentlichen eine Übertragung ihrer Ausführungen ins Deutsche dar. 175 So Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 423 f. Kahneman/ Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 277 sprechen von einem „essential feature“.
200
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
weiteren 25% denselben Gewinn, so fasst er dies als fünfzigprozentige Chance auf einen Gewinn von 200 zusammen.176 – Segregation. Durch Segregation trennt der Entscheider denjenigen Betrag, der in jedem möglichen Ergebnis der riskanten Entscheidungsalternative sicher ist. Bei zwei möglichen Ergebnissen (300 Euro, 0,8) und (200 Euro, 0,2) würde er also 200 Euro abtrennen und die riskante Entscheidungsalternative als sichere Zahlung von 200 Euro und eine 80%ige Chance auf weitere 100 Euro begreifen.177 – Cancellation. Beim Vergleich zweier riskanter Entscheidungsalternativen lässt der Entscheider identische Bestandteile außen vor. Die Wahl zwischen den Alternativen (200 Euro, 0,2; 100 Euro, 0,5; -50 Euro, 0,3) und (200 Euro, 0,2; 150 Euro, 0,5; -100 Euro, 0,3) wird danach durch Cancellation auf eine Wahl zwischen (100 Euro, 0,5; -50 Euro, 0,3) und (150 Euro, 0,5; -100 Euro, 0,3) reduziert.178 Als weitere Operationen der Editing-Phase nennen Kahneman und Tversky noch das Runden von Wahrscheinlichkeiten (Simplification) und die Eliminierung dominierter Alternativen (Detection of dominance).179 Nach dem Editing werden die möglichen Entscheidungsergebnisse mittels einer Wertfunktion nach ihrer positiven oder negativen Abweichung von einem Referenzpunkt bewertet. Die Wertfunktion des Entscheiders zeigt dabei einen konkaven Verlauf für den Gewinnbereich (bezogen auf den Referenzpunkt), während sie im Verlustbereich konvex ist. Überdies ist der Wert eines Gewinns kleiner als der (negative) Wert eines gleich hohen Verlustes; im Verlustbereich ist die Funktion also „steiler“.180 Diese Wertfunktion soll den Umstand abbilden, dass Menschen nicht generell risikoneutral oder risikoavers handeln, sondern in Bezug auf einen Referenzpunkt (zumeist den status quo) entscheiden und dabei typischerweise verlustavers sind.181 In einem letzten Schritt wird schließlich jedes mögliche Ergebnis in Abhängigkeit von seiner Eintrittswahrscheinlichkeit p mit einem Entscheidungsgewicht multipliziert. Mit der Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion (p) versuchen Kahneman und Tversky einige empirisch belegte systematische Abweichungen
176
Beispiel nach Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 274. S. auch für das Beispiel Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 274. 178 S. wiederum, auch für das Beispiel, Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 274 f. 179 Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 275. 180 Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 277 ff. mit einer graphischen Darstellung auf S. 279. 181 Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, S. 279: „A salient characteristic of attitudes to changes of welfare is that losses loom larger than gains. The aggravation that one experiences in losing a sum of money appears to be greater than the pleasure associated with gaining the same amount.“ Vgl. auch Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheider, 5. Aufl. 2010, S. 432 f.; zur Referenzpunktabhängigkeit und Verlustaversion bereits ausführlich oben unter § 5 II.3.1. 177
III. Deskriptive Präferenztheorien
201
vom Rationalverhalten abzubilden.182 Hierfür muss die Prospect-Theorie zwar die Geltung des Unabhängigkeitsaxioms abschwächen.183 Im Gegenzug ist sie aber nicht auf ein so enges Präferenzspektrum festgelegt wie die Nutzentheorie des Standardmodells, weshalb sie etwa das Allais-Paradoxon abbilden kann.184
2. Kumulative Prospect-Theorie Allerdings kann die Anwendung der einfachen Prospect-Theorie dazu führen, dass eine Präferenz für stochastisch dominierte Alternativen vorausgesagt wird.185 Dieses Manko lässt sich dadurch beseitigen, dass man nicht einzelne Wahrscheinlichkeiten transformiert, sondern die kumulierte Wahrscheinlichkeitsverteilung aller möglichen Konsequenzen.186 Kahneman, Tversky und andere haben daher die Transformation der kumulativen Wahrscheinlichkeitsverteilung mit dem Referenzpunktdenken der (ursprünglichen) Prospect-Theorie kombiniert. Aus dieser Synthese entstand die kumulative Prospect-Theorie (CPT)187: Hierbei werden zunächst die (möglichen) Konsequenzen einer Entscheidungsalternative in aufsteigender Reihenfolge geordnet. Anhand des maßgeblichen Referenzpunktes des Entscheiders werden diese Konsequenzen als Gewinne oder Verluste eingeordnet und entsprechend dieser Unterscheidung jeweils getrennt mittels einer Wertfunktion gewichtet. Der Erwartungswert einer riskanten oder im engeren Sinne ungewissen188 Option ergibt sich nach der kumulativen Prospect-Theorie dann durch eine Aufsummierung des erwarteten rangplatzabhängigen Nutzens der positiven Konsequenzen sowie der negativen Konsequenzen.189 182 Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 280 ff.; dazu den knappen Überblick bei Eisenführ/Weber, Rationales Entscheiden, 4. Aufl. 2003, S. 378 f. 183 S. Eisenführ/Weber, Rationales Entscheiden, 4. Aufl. 2003, S. 379 unter Verweis auf Kahneman/Tversky, Econometrica 47 (1979), 263, 289 ff. (Appendix). Zum Unabhängigkeitsaxiom nach der Erwartungsnutzentheorie des Standardrationalmodells s. oben unter § 4 I.2.3.1. 184 Vgl. Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 419 f.; zum AllaisParadoxon dies., ebenda, S. 402 ff. sowie oben unter § 5 II.3.2.1. 185 S. Tversky/Kahneman, J. Risk & Uncertainty 5 (1992), 297, 299; Eisenführ/Weber, Rationales Entscheiden, 4. Aufl. 2003, S. 379 f.: Zudem kann sie bloß Entscheidungen mit wenigen Alternativen abbilden. 186 S. Tversky/Kahneman, J. Risk & Uncertainty 5 (1992), 297, 299. 187 Tversky/Kahneman, J. Risk & Uncertainty 5 (1992), 297 ff.; Wakker/Tversky, J. Risk & Uncertainty 7 (1993), 147 ff. 188 Zur Anwendung der Prospect-Theorie auf im engeren Sinne ungewisse Entscheidungen wird sie nicht mit rangplatzabhängigen Nutzentheorien kombiniert, sondern mit dem Äquivalent für subjektive Wahrscheinlichkeiten, der sog. Choquet expected utility theory (CEUT). S. bereits Tversky/Kahneman, J. Risk & Uncertainty 5 (1992), 297, 299 unter Verweis auf Schmeidler, Econometrica 57 (1989), 571 ff.; vgl. ferner etwa Wu/Gonzalez, Management Sci. 45 (1999), 74 ff., 84 f.; s. zur CEUT Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 421 ff. 189 S. zum Vorstehenden Tversky/Kahneman, J. Risk & Uncertainty 5 (1992), 297, 300 f. mit dem Beispiel eines Würfelspiels auf S. 301; sowie die Beschreibung bei Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 425 f.
202
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
Die Vorhersagekraft der kumulativen Prospect-Theorie für Entscheidungsverhalten in riskanten Entscheidungssituationen ist inzwischen vielfach getestet und bestätigt worden. Sie hat sich dabei vor allem in der Abbildung von Verhaltensanomalien und systematischen Entscheidungsfehlern als leistungsstark erwiesen190 und kann daher inzwischen als ein Standardwerkzeug der Verhaltensökonomik gelten.
3. Regret- und Disappointment-Theorie Kurz nach der Präsentation der (einfachen) Prospect-Theorie durch Kahneman und Tversky entwickelten David Bell sowie Graham Loomes und Robert Sugden in den 1980er Jahren die Regret- und die Disappointment-Theorie.191 Als Alternativen zur Prospect-Theorie gedacht192 gehen sie ebenso wie diese davon aus, dass der Entscheider bei der Bewertung der Konsequenzen einer Entscheidung einen Referenzpunkt berücksichtigt. Anders als die Prospect-Theorie liegt dieser Referenzpunkt der Entscheidung jedoch nicht voraus, sondern wird durch die möglichen Konsequenzen der Entscheidung selbst bestimmt.193 Disappointmentund Regret-Theorie gehen für ihr Verhaltensmodell bei riskanten Entscheidungen nämlich von dem bekannten Phänomen aus, dass der Wert der möglichen Konsequenz einer Entscheidungsalternative für den Entscheider von den möglichen anderen Konsequenzen derselben Entscheidungsalternative oder der zur Wahl stehenden anderen Alternative abhängt. Diese Abhängigkeit äußert sich in Bedauern (regret) oder Enttäuschung (disappointment). 3.1 Regret-Theorie Die Regret-Theorien ergänzen die Erwartungsnutzentheorie des Rationalwahlmodells durch einen Vergleich der jeweiligen Konsequenzen eines Alternativenpaares (A1, A2).194 Bei diesem Vergleich ermittelt der Entscheider das jeweilige Potential, seine Wahl in Ansehung der nicht gewählten Alternative im Nachhin190 S. für weitere Einzelheiten etwa den Überblick bei Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 438 ff. mit Tabelle 13–4; ferner Camerer/Weber, J. Risk & Uncertainty 5 (1992), 325 ff.; vgl. aber auch List, Econometrica 72 (2004), 615 ff., nach dessen Befund sich Verbraucher mit zunehmender Erfahrung in ihrem Verhalten von den Vorhersagen der ProspectTheorie entfernen und denjenigen des neoklassischen Standardmodells annähern. 191 S. Bell, Oper. Res. 30 (1982), 961 ff.; ders., Oper. Res. 33 (1985), 1 ff.; ders., Manage. Sci. 31 (1985), 117 ff.; Loomes/Sugden, Econ. J. 92 (1982), 805 ff.; Loomes, Economica 55 (1988), 47 ff.; s. ferner Jia/Dyer/Butler, J. Risk & Uncertainty 22 (2001), 59 ff. 192 So vor allem Loomes/Sugden, Econ. J. 92 (1982), 805: „We shall offer an alternative theory which is much simpler than prospect theory and which, we believe, has greater appeal to intuition.“; aber auch Bell, Oper. Res. 30 (1982), 961, 972 ff. 193 S. Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 445 f., der Referenzpunkt ist also nicht „exogen“, sondern „endogen“. 194 S. etwa Bell, Oper. Res. 30 (1982), 961 ff.; Loomes/Sugden, Econ. J. 92 (1982), 805 ff.
III. Deskriptive Präferenztheorien
203
ein zu bedauern (regret).195 Der Nutzen der jeweiligen Alternative setzt sich dann aus deren (Erwartungs-)Wert und der Stärke des möglichen Bedauerns zusammen.196 Zur Veranschaulichung vergleichen Loomes und Sugden einen Steuernachteil mit der Teilnahme an einem Gewinnspiel: Für die meisten Menschen sei der Verlust von € 100 bei einem Pferderennen eine unangenehmere Erfahrung als der Verlust von € 100 aufgrund einer Änderung der Steuergesetze. Denn während der Betroffene auf die Steuergesetzgebung keinen Einfluss habe, hätte er, statt zu wetten (A1), auf den Wetteinsatz verzichten können (A2) und wird seine Entscheidung daher bedauern.197 Nach der Regret-Theorie ist der Entscheider daher nicht nur darauf erpicht, durch seine Wahl einen möglichst hohen Wert zu erzielen, sondern zugleich auch ein Gefühl des Bedauerns möglichst zu vermeiden. Haben also die Alternativen A1 und A2 den gleichen Erwartungswert, ist aber das Potential des Bedauerns bei der Wahl von A1 („Ich hätte meinen Wetteinsatz noch.“) größer als bei der Wahl von A2 („Ich hätte einen Wettgewinn von € X.“) wird der Entscheider die Alternative A1 vorziehen.198 Die Regret-Theorien können nicht nur das Allais-Paradoxon erklären199, sondern aufgrund ihrer Betrachtung von Alternativenpaaren auch intransitive Präferenzen abbilden (a wird gegenüber b, b gegenüber c und c gegenüber a bevorzugt).200 3.2 Disappointment-Theorie Das von der Disappointment-Theorie modellierte Phänomen lässt sich an folgendem Beispiel veranschaulichen201: Angenommen ein Entscheider nimmt an zwei Lotterien teil. In beiden gewinnt er € 10 000. In der ersten Lotterie handelt es sich dabei um den geringstmöglichen Gewinn, in der zweiten Lotterie sind die € 10 000 hingegen der Hauptgewinn. Obwohl der Entscheider beide Male den gleichen Betrag von € 10 000 gewonnen hat, wird er hinsichtlich der Teilnahme an der ersten Lotterie enttäuscht sein, weil er einen höheren Gewinn erwartet hat (disappointment), während er sich im Hinblick auf die Teilnahme an der zweiten Lotterie freuen wird (elation).202 Die Bewertung der realisierten Konsequenz 195 S. nur Loomes/Sugden, Econ. J. 92 (1982), 805, 808; dort auch zum gegenteiligen Phänomen („rejoicing“). 196 Loomes/Sugden, Econ. J. 92 (1982), 805, 808 sprechen insofern von „modified utility“. 197 Loomes/Sugden, Econ. J. 92 (1982), 805, 808. S. auch Bell, Oper. Res. 30 (1982), 961, 971, der ebenfalls als Beispiel die Wette beim Pferderennen anführt. 198 S. Bell, Oper. Res. 30 (1982), 961, 971 mit formaler Darstellung. Nach der Erwartungsnutzentheorie wäre er hingegen indifferent. 199 S. Bell, Oper. Res. 30 (1982), 961, 962 und ff. 200 Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 449 f. 201 Beispiel nach Bell, Oper. Res. 33 (1985), 1. S. auch das Beispiel bei Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 446. Für einen Vergleich von Regret- und Disappointment-Theorien s. wiederum Bell, Oper. Res. 33 (1985), 1, 2. 202 S. zu den Begriffen etwa Bell, Oper. Res. 33 (1985), 1, 5; ferner Jia/Dyer/Butler, J. Risk & Uncertainty 22 (2001), 59, 60.
204
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
„€ 10 000 Gewinn“ durch den Entscheider wird mithin durch den Kontext (die anderen möglichen Entscheidungskonsequenzen)203 und die daraus resultierenden Erwartungen des Entscheiders an die Konsequenz seiner (unsicheren) Entscheidung beeinflusst.204 Die Disappointment-Theorien modellieren diesen Effekt205: Antizipiert der Entscheider die möglichen Disappointment- und Elation-Effekte, beeinflussen sie sein Entscheidungskalkül. Sein Erwartungsnutzen einer Konsequenz stellt sich dann als die Summe aus dem Wert der Konsequenz und der für diese Konsequenz möglichen Entäuschung oder Freude dar.206 Die Disappointment-Theorien schwächen wie die Prospect-Theorie das Unabhängigkeitsaxiom ab.207 Mit ihnen lässt sich daher auch Allais-paradoxes Verhalten erklären.208
4. Support-Theorie Die von Amos Tversky and Derek Koehler in den 1990er Jahren entwickelte Support-Theorie modelliert die Einschätzung subjektiver Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen in Abhängigkeit von ihrer Beschreibung. Sie ist mithin keine Präferenztheorie im eigentlichen Sinne, sondern dient dazu, Phänomene wie die Verfügbarkeitsheuristik209 modellhaft abzubilden. Der Support-Theorie liegt folglich die Annahme zugrunde, dass das subjektive Wahrscheinlichkeitsurteil über den Eintritt eines Ereignisses durch die Deutlichkeit der Ereignisbeschreibung (den „Support“) bestimmt wird. Die Art der Beschreibung kann mit anderen Worten zu systematischen Veränderungen der Wahrscheinlichkeitseinschätzung führen.210 Die Grundbausteine der Support-Theorie sind Ereignisse (A, B) und deren Hypothese genannte Beschreibung (A, B).211 Dabei sind mehrere Hypothesen für ein und dasselbe Ereignis möglich. Die Support-Theorie weist jeder Hypothese entsprechend dem Ausmaß ihres support einen Wert zu212, mithilfe dessen die 203 Bell, Oper. Res. 33 (1985), 1, 2 spricht von „reference effect“. Diesen Einfluss des Entscheidungskontextes auf die Bewertung der Konsequenzen kennt die Erwartungsnutzentheorie nicht. Nach ihr ist der Nutzen einer Konsequenz unabhängig von den anderen Konsequenzen einer Entscheidungsalternative. S. auch Eisenführ/Weber/Langer, Rationales Entscheiden, 5. Aufl. 2010, S. 446. 204 Deutlich Bell, Oper. Res. 33 (1985), 1, 2; s. ferner etwa Jia/Dyer/Butler, J. Risk & Uncertainty 22 (2001), 59, 60. 205 S. etwa Bell, Oper. Res. 33 (1985), 1 ff.; Loomes/Sugden, Rev. Econ. Stud. 53 (1986), 271 ff. 206 S. nur Bell, Oper. Res. 33 (1985), 1, 5: „Total utility = economic payoff + psychological satisfaction“. 207 S. Gul, Econometrica 59 (1991), 667 ff., 672 (Axiom 3). 208 S. etwa Jia/Dyer/Butler, J. Risk & Uncertainty 22 (2001), 59, 65 f. 209 S. dazu oben unter § 5 II.1.3.1. 210 Tversky/Koehler, Psychol. Rev. 101 (1994), 547 ff., 548: „The common failures of extensionality, we suggest represent an essential feature of human judgment[…]. […W]e present a theory in which the judged probability of an event depends on the explicitness of its description.“ 211 S. wiederum Tversky/Koehler, Psychol. Rev. 101 (1994), 547, 548. 212 Tversky/Koehler, Psychol. Rev. 101 (1994), 547, 548: „Support theory assumes that there is a ratio scale s (interpreted as degree of support) that assigns to each hypotheses a nonnegative real number […].“
IV. Verhaltensökonomik und Standardmodell
205
subjektive Wahrscheinlichkeit berechnet werden kann, dass ein Ereignis A („Die Sonne scheint“) und nicht B („Die Sonne scheint nicht“) eintritt.213 Dabei wird angenommen, dass der support für eine Hypothese (A) kleiner oder gleich dem support für zwei disjunkte Hypothesen (A1 und A2) ist, die zusammen dasselbe Ereignis beschreiben.214 Zur Veranschaulichung diene folgendes Beispiel: Das Ereignis A sei, dass morgen fortwährend die Sonne scheint. Hypothese A lautet: „Morgen scheint den ganzen Tag die Sonne“. Hypothese A1 besagt „Morgen scheint vor zwölf Uhr fortwährend die Sonne“, während Hypothese A2 lautet „Morgen scheint ab zwölf Uhr fortwährend die Sonne“. Die subjektive Wahrscheinlichkeit, dass morgen fortwährend die Sonne scheint, ist nach der SupportTheorie größer (oder gleich), wenn das Ereignis A durch die Hypothesen A1 und A2 und damit ausführlicher beschrieben wird als durch Hypothese A (sogenanntes Unpacking-Prinzip).215
IV. Verhaltensökonomik und Standardmodell Welche Konsequenzen sich aus den ausschnittsweise dargestellten empirisch fundierten Verhaltensanomalien für das ökonomische Verhaltensmodell ergeben, ist seit langem Gegenstand einer lebhaften Kontroverse im ökonomischen und rechtsökonomischen Schrifttum.
1. Relevanz der Verhaltensanomalien im Aggregat Frühe Skeptiker sprachen den von der Verhaltensökonomik ermittelten Verhaltensanomalien jede Bedeutung für die den Ökonomen hauptsächlich interessierende Betrachtung im Aggregat216 ab: Irrationales Verhalten sei für ökonomische Prognosen irrelevant, weil sich diese als „Zufallsabweichungen“ gegenseitig neutralisieren würden.217 Die mit diesem Einwand verbundene Hoffnung hat sich jedoch zerschlagen. Denn diese Argumentation übersieht, dass die aufgedeckten Anomalien systematisch sind. Es handelt sich also nicht um zufällige Abweichungen vom Rationalmodell, die sich im Aggregat wieder ausgleichen. Vielmehr weisen diese Abweichungen bei den betroffenen Akteuren in dieselbe Richtung.218 Zudem ist davon auszugehen, dass die – ansonsten rational handelnden – Akteure bei ihren Entscheidungen die Möglichkeit berücksichtigen, dass sie aufgrund kognitiver Schwächen irrational handeln. Schließlich ist zu Recht darauf hinge213
Tversky/Koehler, Psychol. Rev. 101 (1994), 547 ff., 548 mit formaler Darstellung. Tversky/Koehler, Psychol. Rev. 101 (1994), 547 ff., 548 mit formaler Darstellung. 215 Tversky/Koehler, Psychol. Rev. 101 (1994), 547 ff., 549; s. zum Ganzen auch die zusammenfassende Darstellung bei Eisenführ/Weber, Rationales Entscheiden, 4. Aufl. 2003, S. 393 f. 216 S. nur Kirchgässner, Homo Oeconomicus, 4. Aufl. 2013, S. 23 m.w.N. 217 Vgl. etwa R. Posner, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1551, 1556 f., 1575. 218 Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 283, 291; Eidenmüller, JZ 2005, 217, 220. 214
206
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
wiesen worden, dass die Aggregierung individuellen Verhaltens den Effekt von Irrationalität auch verstärken kann, insbesondere in Fällen strategischer Interaktion der Akteure.219 Kurzum: Die individuellen Verhaltensabweichungen schlagen auf die Aggregatsebene durch.220
2. Beharrlichkeit der Verhaltensanomalien in der realen Welt Ungeachtet des systematischen Auftretens der ermittelten Verhaltensanomalien haben Ökonomen und Vertreter der ökonomischen Analyse des Rechts gleichwohl Zweifel an der Aussagekraft und Tragweite der verhaltensökonomischen Forschungsergebnisse angemeldet.221 Zunächst hatte die verhaltensökonomische Forschung ihre Erkenntnisse nämlich ganz überwiegend aus Laborexperimenten gewonnen. Diese Laborbefunde aber – so die Kritik – seien nicht auf die Realität übertragbar, jedenfalls seien sie unter wechselhaften Rahmenbedingungen nicht stabil; Laborbefunde würden von den Vertretern der Verhaltensökonomik mithin zu schnell auf die Wirklichkeit extrapoliert und generalisiert.222 Dabei wurde etwa darauf verwiesen, dass die im Labor ermittelten Effekte bei größeren materiellen Anreizen223 oder unter Marktbedingungen und bei der Einbindung in Institutionen224 zu vernachlässigen seien. Rationalitätsdefizite könnten in der Realität jedenfalls nicht dauerhaft fortbestehen, weil die Akteure, die nicht im Sinne des Rationalwahlmodells maximieren, aus dem Markt verdrängt würden.225 Zudem würden die mit irrationalem Verhalten verbundenen Nachteile Anreize set-
219 Vgl. Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 291; vgl. auch den Verweis auf irrationales Herdenverhalten an den Kapitalmärkten bei Eidenmüller, JZ 2005, 217, 220. 220 S. bereits Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 17: „Kurz: Die individuellen Verhaltensanomalien nehmen Einfluss auf die Aggregatsebene.“; gleichsinnig Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 277. 221 Paradigmatisch für die Beurteilung der modernen Verhaltensökonomik durch die skeptischen „Traditionalisten“ etwa R. Posner, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1551 ff. 222 Vgl. Arlen, Vand. L. Rev. 51 (1998), 1765 ff., 1787 f.; Hillman, Cornell L. Rev. 85 (2000), 717, 729 ff.; Issacharoff, Vand. L. Rev. 51 (1998), 1729, 1733 f.; Mitchell, Wm. & Mary L. Rev. 43 (2002), 1907, 1979 ff.; ders., Geo. L.J. 91 (2002), 67, 114 ff.; Plott, J. Bus. 59 (1986), S301 ff.; R. Posner, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1151, 1570 f.; Slonim/Roth, Econometrica 66 (1998), 569 ff.; neuerdings wieder Veetil, Eur J. Law Econ. 31 (2011), 321, 329 f.: „In short, empirical findings about how certain cognitive characteristics of human beings may lead to inoptimal outcomes in controlled environments cannot be easily extended to real environments within which individuals act.“ 223 Vgl. aber Slonim/Roth, Econometrica 66 (1988), S. 569 ff. 224 Vgl. Arlen, Vand. L. Rev. 51 (1998), 1765, 1768, 1788; Plott, J. Bus. 59 (1986), S301 ff.; aus dem neueren Schrifttum etwa Veetil, Eur. J. Law Econ. 31 (2011), 321, 329 f. 225 Vgl. etwa Arlen, Vand. L. Rev. 51 (1998), 1765, 1768, 1777, 1788; R. Posner, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1551, 1570; Friedman, The Methodology of Positive Economics, in: Essays In Positive Economics, 1953, S. 3, 21 ff.; s. zu dieser Kritik etwa Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1070 ff.
IV. Verhaltensökonomik und Standardmodell
207
zen, rationales Verhalten zu erlernen, wie überhaupt Lerneffekte Rationalitätsdefizite auf Dauer tilgen würden.226 Dieser Kritik ist zuzugeben, dass die Übertragung oder Generalisierung von Laborbefunden auf reale Gegebenheiten nicht vorschnell, sondern mit aller Vorsicht zu geschehen hat.227 Die von Psychologen und Ökonomen aufgedeckten Verhaltensanomalien haben jedoch ein robustes empirisches Fundament228, das längst nicht mehr allein auf Laborbefunden ruht. Diese sind wiederholt erfolgreich auf ihre Übertragbarkeit auf die realen Gegebenheiten im Rahmen von Feldstudien getestet worden.229 Auch zeichnet sich immer deutlicher ab, dass der bestehende Wettbewerbsdruck auf den Märkten die beobachteten Verhaltensanomalien nicht vollständig eliminieren kann.230 Die von vorneherein wenig realistische231 Annahme, dass sämtliche Anomalien durch Lerneffekte tatsächlich neutralisiert werden könnten, kann mithin als widerlegt gelten.232 Hierfür hat man vor allem drei Ursachen identifiziert233: (1) Das Fehlen eindeutiger Rückmeldesignale über das eigene Verhalten (feedback)234, (2) fehlende Anreize für externe Beratung (insbesondere durch die Marktgegenseite)235 sowie (3) die Tatsache, dass sich zumindest einige der festgestellten Anomalien als nachgerade „lernresistent“ erwiesen haben.236 226 S. etwa Arlen, Vand. L. Rev. 51 (1998), 1765, 1769, 1777; Mitchell, Wm. & Mary L. Rev. 51 (1998), 1907, 1977 ff.; vgl. auch Kelman, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1577, 1583. Auf all diese Bedenken und Kritikpunkte beziehen sich Wright/Ginsburg, Nw. U. L. Rev. 106 (2012), 1033, 1044 ff. in ihrer Kritik an einem verhaltensökonomisch inspirierten, libertären Paternalismus. 227 In diesem Sinne etwa Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 117. 228 Vgl. dazu, dass die moderne verhaltensökonomische Forschung möglichen Schwachpunkten, wie geringen materiellen Anreizen oder eingeschränkten Möglichkeiten des Lernens, durchaus Rechnung trägt, Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 289 m.N. in Fn. 24; ferner zum Einwand zu geringer materieller Anreize Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1168 f. mit Verweis in Fn. 32 auf zahlreiche Studien, die realistische bzw. hohe Anreize setzen. 229 S. dazu den ausführlichen Überblick bei DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315 ff.; ferner Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 17 ff.; vgl. zudem noch Rachlinski, Cornell L. Rev. 85 (2000), 739, 743 m.N. in Fn. 19. 230 Vgl. zur Diskussion nur Camerer, in: Blundell/Newey/Persson (eds.), Advances in Economics and Econometrics, Vol. II, 2006, S. 181, 206, der dies seinerzeit noch als „open question“ einordnete. 231 Vgl. zur entsprechenden Kritik Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 119; gleichsinnig Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 289, 292; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 220; Kelman, Nw. U.L. Rev. 97 (2003), 1347, 1379 f. 232 Vgl. aber auch etwa zur scheinbar erfahrungsbedingten Verringerung des Ausstattungseffekts List, Quart. J. Econ. 118 (2003), 41 ff.; ders., Econometrica 72 (2004), 615 ff.; zur erfahrungsbedingten Verbesserung der Fertigkeit zur Rückwärtsinduktion Palacios-Huerat/Volij, Am. Econ. Rev. 99 (2009), 1619 ff. 233 S. dazu bereits Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 9, 39. 234 Vgl. nur DellaVigna, J. Lit. Econ. 47 (2009), 315, 365. 235 Vgl. Gabaix/Laibson, Quart. J. Econ. 121 (2006), 505, 508 ff.; zust. DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 366. 236 Vgl. etwa zum hindsight bias Rachlinski, in: Sunstein (ed.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 95, 98. Vielmehr scheinen sich bestimmte Verhaltensanomalien mit zunehmender Erfah-
208
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
Auch das Argument, dass die Marktkräfte irrationales Verhalten in einer Art natürlicher Selektion eliminieren oder doch auf ein nicht (mehr) signifikantes Maß reduzieren würden, trägt letztlich nicht. Hiergegen ist vielmehr überzeugend vorgebracht worden, dass sich auch schlecht geführte Firmen oft noch lange im Markt halten. Daher sei es wahrscheinlich, dass sich jederzeit Firmen im Markt befinden, die nicht in optimaler Weise ihren Nutzen maximieren.237 Darüber hinaus gilt das Argument jedenfalls nicht in dieser Allgemeinheit für natürliche Personen, die etwa als Verbraucher bestimmte Geschäfte des täglichen Lebens tätigen müssen.238 Suboptimale Entscheidungen führen hier nicht zum „Ausscheiden“ aus dem Markt, sondern lediglich dazu, dass die betroffenen Akteure auf einem niedrigeren Niveau weiterleben und konsumieren.239 Für eine große Vielzahl von Verbrauchermärkten gilt zudem, dass es für die dort aktiven Unternehmen profitabler ist, die Verhaltensanomalien von Verbrauchern auszubeuten, als diese über ihr fehlerhaftes Verhalten aufzuklären.240 Ein eindrückliches Beispiel für eine solche Strategie ist die Ausbeutung von Fehlvorstellungen des Verbrauchers über das eigene künftige Verhalten durch die Verwendung von niedrigen Einstiegspreisen bei hohen Folgekosten („Lockangebot“).241
3. Alternativerklärungen auf der Grundlage des Standardmodells Die Verteidiger des ökonomischen Standardmodells der rationalen Wahl haben aber nicht nur die Stabilität und Relevanz der von der verhaltensökonomischen Forschung aufgedeckten Effekte in der realen Welt in Frage gestellt. Sie haben darüber hinaus auch ihre Nichtrationalität bezweifelt, d.h. eine hierdurch belegte Abweichung menschlichen Verhaltens vom Rationalwahlmodell. Stattdessen werden Alternativerklärungen für das Auftreten dieser Effekte angeboten, die sie besser in das Rationalwahlmodell einfügen sollen.242 237 rung sogar noch zu verstärken; vgl. etwa Haigh/List, J. Fin. 60 (2005), 523 ff.; ferner die neuere Studie von Pope/Schweitzer, Am. Econ. Rev. 101 (2011), 129 ff.; zusammenfassend Fleischer/ Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 39. 237 Vgl. Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1070; Conlisk, J. Econ. Lit. 34 (1996), 669, 684; Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 292; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 220; Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 118 f. 238 Vgl. Eidenmüller, JZ 2005, 217, 220. 239 Vgl. Conslik, J. Econ. Lit. 34 (1996), 669, 684; zust. Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 118 f. 240 S. hier nur Gabaix/Laibson, Quart. J. Econ. 121 (2006), 505 ff. m. zahlr. N.: „Firms exploit myopic consumers. […E]ducation does not help the educating firm.“ 241 Ein solches „Lockangebot“ lag etwa in dem oben referierten Kreditkartenexperiment vor. S. dazu oben unter § 5 II.4.2. Dazu näher Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 39 f. m.w.N.; im Zusammenhang mit dem Verbraucherkreditrecht noch ausführlich unten unter § 9 IV.2.2.2. 242 Vgl. insbesondere R. Posner, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1551 ff.
IV. Verhaltensökonomik und Standardmodell
209
Richtig hieran ist, dass sich einige vordergründig irrational erscheinende Verhaltensweisen bei näherem Zusehen durchaus als rational erweisen können. So ist bereits darauf hingewiesen worden, dass es durchaus rational sein kann, die Informationssuche nur so lange fortzusetzen, wie der Grenznutzen dieser Suche die Grenzkosten übersteigt.243 Auch die Anwendung bestimmter Heuristiken kann sich als ökonomisch rationale Entscheidungsstrategie bei Unsicherheit erweisen.244 Allerdings stoßen die Bemühungen um eine durchgängige „Rationalisierung“ der durch die moderne Verhaltensökonomik entdeckten Verhaltensanomalien an Grenzen. Dies zeigt sich exemplarisch an den Versuchen Richard Posners, Abweichungen vom Rationalwahlmodell über spontane Präferenzänderungen oder evolutionsbiologische Erklärungsmuster einzufangen.245 So versucht Posner etwa Besitzeffekte246 als ein Ergebnis von evolutionsbiologischer Entwicklung, rationaler Präferenzanpassung und dem Fehlen naher Substitute zu erklären.247 Auch die Ergebnisse beim Ultimatumspiel248 werden evolutionsbiologisch erklärt: Die Annahme einer (zu) geringen Zuteilung hätte den Artgenossen mangelnden Behauptungswillen signalisiert mit all den damit verbundenen negativen Konsequenzen.249 Solche Reparaturversuche des Rationalwahlmodells vermögen indes nicht zu überzeugen. Zu Recht ist etwa darauf hingewiesen worden, dass die Evolutionsbiologie erklären mag, warum sich menschliche Verhaltensweisen entwickelt haben, die vielleicht früher einmal rational waren, dies aber nichts daran ändert, dass sie dies unter den heutigen Umweltbedingungen eben nicht mehr sind.250 Auch sind instant endowment effects empirisch belegt, die sich nicht über eine rationale Präferenzanpassung erklären lassen. Und diese Effekte betrafen auch leicht ersetzbare Güter.251 Ohne hier weiter ins Detail zu gehen, kann jedenfalls festgehalten werden, dass eine umfassende „Rationalisierung“ sämtlicher, der von der modernen Verhaltensökonomik empirisch belegten Effekte mit dem Rationalwahlmodell herkömmlicher Prägung nicht möglich ist.252 Es verbleibt 243
S.o. unter § 4I.2.4.2; ferner Eidenmüller, JZ 2005, 217, 220. Kelman, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1577, 1584; ders., Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1347, 1389 f. S. auch Gigerenzer, Heuristics, in: Gigerenzer/Engel (Hrsg.), Heuristics and the law, 2006, S. 17 ff. m.w.N., der die Betrachtung von Heuristiken als Abweichung vom Optimierungsverhalten i.S. des ökonomischen Standardmodells für verfehlt hält. 245 Vgl. R. Posner, Stan L. Rev. 50 (1998), 1551, 1553 f., 1562 f., 1565 ff. 246 S. dazu oben unter § 5 II.3.1. 247 Vgl. R. Posner, Stan L. Rev. 50 (1998), 1551, 1565 f. 248 S. dazu oben unter § 5 II.2. 249 Vgl. R. Posner, Stan L. Rev. 50 (1998), 1551, 1564 f. 250 Vgl. Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 294 f., der die Argumentation Posners als „pretty desperate defense“ bezeichnet; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 220. 251 Vgl. wiederum Eidenmüller, JZ 2005, 216, 220 unter Verweis auf Kahneman/Knetsch/Thaler, J. Pol. Econ. 98 (1990), 1325, 1342. 252 Vgl. etwa Eidenmüller, JZ 2005, 216, 217, 220; gleichsinnig Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 294 f.; ferner Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1055: „There is simply too much credible experimental evidence that individuals frequently act in ways that are incompatible with the assumptions of rational choice theory.“ 244
210
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
ein gesicherter Bestand echter Verhaltensanomalien, deren Existenz das Standardmodell herausfordert.
4. Konsequenzen für die ökonomische Theorie Nach alledem lässt sich das ökonomische Standardmodell nicht mehr als universal gültige Beschreibung realen menschlichen Entscheidungsverhaltens aufrecht erhalten. Andererseits ist die Verhaltensökonomik – jedenfalls bislang – nicht angetreten, das Rationalmodell und die traditionelle ökonomische Analyse zu ersetzen, sondern sie versteht sich als eine Ergänzung und Verfeinerung des überkommenen ökonomischen Entscheidungsmodells des homo oeconomicus.253 Dieses Standardmodell wird vielmehr auch von Verhaltensökonomen weiterhin als das Herzstück bzw. das Kernmodell der modernen mikroökonomischen Theorie angesehen254, das sich für die Erklärung und Vorhersagbarkeit menschlichen Verhaltens als äußerst nützlich erwiesen hat255. Vor diesem Hintergrund verbreitet sich zunehmend die Einsicht, dass es für das Verhältnis von Verhaltensökonomik und Standardmodell nicht darum gehen kann, welche der beiden Theorien letztlich ihren Exklusivitätsanspruch durchsetzt.256 Eine einheitliche Theorie menschlichen Verhaltens mag wünschenswert sein, sie ist aber keineswegs condicio sine qua non für eine wissenschaftlich taugliche Erklärung menschlichen Verhaltens.257 Angesichts der Komplexität der Lebenswirklichkeit könne eine solche „Universaltheorie“ dem realen menschlichen 253 Vgl. etwa Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewesntein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 14, 42; Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1074 f.; Jolls/ Sunstein/Thaler, in: Sunstein (Hrsg.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 13, 50: Die Verhaltensökonomik diene dazu „[to] enrich[…] the traditional analysis by incorporating a more realistic conception of human behavior“; gleichsinnig Pesendorfer, J. Econ. Lit. 44 (2006), 712, 720: „[B]ehavioral economics remains a discipline that is organized around failures of standard economics.“; ferner Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 144; gleichsinnig Eidenmüller, JZ 2005, 216, 221; Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 296; Kübler/Kübler, KritV 2006, 94, 103. 254 S. statt vieler nur Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1060; DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 367. 255 Vgl. nur die Bewertung bei Korobkin/Ulen, Cal. L. Rev. 88 (2000), 1051, 1060; Fleischer, FS Immenga, 2004, 575, 576 m.w.N.; s. ferner Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 296; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 217. 256 Vgl. etwa Harless/Camerer, Econometrica 62 (1994), 1251, 1285 f.: „We cannot declare a single winner among theories […] because the best theory depends on one’s tradeoff between parsimony and fit. […] We cannot give a more definite answer to the question of which theory is best because people use theories for different purposes. A researcher interested in a broad theory, to explain choices by as many people as possible, cares less for parsimony and more for accuracy; she might choose […] prospect theory. A decision analyst who wants to help people make more coherent decisions, by adhering to axioms they respect but sometimes wander from, might stick with EU or EV.“ 257 So zu Recht Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 295, der in diesem Zusammenhang von einem Fall von „physics envy“ spricht.
IV. Verhaltensökonomik und Standardmodell
211
Verhalten auch kaum gerecht werden.258 Nach Kelman sollten daher Verhaltensökonomik und Standardmodell nicht als einander ausschließende, sondern als miteinander kommunizierende Modelle verstanden werden, die einen unterschiedlichem Zugriff auf die komplexe Realität ermöglichen.259 Dieser Empfehlung folgend streben viele Ökonomen heute eine Art „Vereinigungslösung“ an, indem sie sich um eine Integration der verhaltensökonomischen Erkenntnisse in die Standardökonomik bemühen.260 Dies führt zu einer Fortentwicklung des homo oeconomicus zu einer realitätsnäheren, aber deshalb auch komplexeren Konzeption menschlichen Verhaltens.261 Diese Komplexität hat freilich ihren Preis:262 Die Kontextabhängigkeit von Entscheidungsverhalten macht seine Vorhersagbarkeit schwieriger. Die in einem bestimmten Entscheidungskontext ermittelten Ergebnisse sind – wenn überhaupt – nur nach sorgfältiger Prüfung auf andere Entscheidungssituationen übertragbar.263 Einige Beobachter prognostizieren daher eine Aufspaltung des ökonomischen Verhaltensmodells in spezielle Mikrotheorien ohne universellen Geltungsanspruch.264 Die Dynamik der verhaltensökonomischen Forschung ist freilich ungebrochen. Neben verstärkter Feldforschung treten in den letzten Jahren vermehrt hirnphysiologische Untersuchungen, deren Erkenntnisse sich zuneh258 Kelman, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1577, 1579 f. et passim; vgl. auch Lüdemann, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 7, 33: „Es ist Ausdruck einer den epistemologischen Herausforderungen nicht gewachsenen intellektuellen Mentalität.“ 259 Kelman, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1577, 1591: „We should understand that imbedding ourselves in the dialectic dialogue between rational choice theory and its critics will make us wiser users of the rich, inexorably overwhelming data with which we have to deal.“ 260 Vgl. DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 367: „More parsimonious models and a boom of evidence from the field have contributed to integrate the laboratory findings in Psychology and Economics more into mainstream economics.“; s. aber auch Pesendorfer, J. Econ. Lit. 44 (2006), 712, 720: „With the success of behavioral economics, more radical departures are being considered.“ 261 Vgl. Jolls/Sunstein/Thaler, in: Sunstein (ed.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 13, 50; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 221. 262 Vgl. Jolls/Sunstein/Thaler, in: Sunstein (ed.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 13, 50. 263 Dieser Schwierigkeiten sind sich die Verhaltensökonomen durchaus bewusst. Vgl. etwa DellaVigna, J. Econ. Lit. 47 (2009), 315, 367: „Our knowledge of behavioural deviations is partial, with disparities in the field, limited use of certain methodologies, and few applications of important psychological phenomena.“; sowie Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 14: „[…] admittedly, a list of a theory’s failings is not an alternative theory. So far, a parsimonious alternative theory has not emerged to deal with all of these challenges to utility maximization.“; ferner die Einlassungen bei Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1593, 1597; Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1215 f. 264 Vgl. Eidenmüller, JZ 2005, 216, 221; für ein jüngeres Beispiel s. etwa die von Bordalo/Gennaioli/Shleifer, Quart. J. Econ. 127 (2012), 1243 ff. vorgestellte „Salienztheorie“ (Salience Theory). Das Fehlen einer einheitlichen verhaltensökonomischen Theorie darf indes nicht mit einer überhaupt fehlenden theoretischen Fundierung verwechselt werden. Vgl. aber Arlen, Vand. L. Rev. 51 (1998), 1765, 1768; Choi/Pritchard, Stan. L. Rev. 56 (2004), 1, 58 f.; Hillman, Cornell L. Rev. 85 (2000), 717, 731 ff.; R. Posner, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1551, 1558 ff.; wie hier etwa Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 295; Eidenmüller, JZ 2005, 216, 221; vgl. auch Kelman, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1577, 1586 ff.
212
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
mend zu dem eigenständigen Forschungszweig der Neuro-Ökonomik verdichten.265 Im Zuge dieser fortschreitenden Entwicklung sehen etwa Camerer und Loewenstein das gegenwärtige Standardmodell in seiner Bedeutung zusehends hinter verhaltensökonomische Modelle menschlichen Entscheidungsverhaltens zurücktreten.266
V. Verhaltensökonomik als juristisches Forschungsinstrument Die Aufdeckung und Systematisierung von Rationalitätsdefiziten durch die Verhaltensökonomik dient dem Ziel, ein realistischeres Modell menschlichen Verhaltens zu entwickeln.267 Die Vertreter der Behavioral Law and EconomicsBewegung versuchen, die mithilfe empirischer und statistischer Methoden gewonnenen Erkenntnisse der Verhaltensökonomik für die (auch) als Steuerungswissenschaft268 verstandene Rechtswissenschaft zu nutzen. Ziel dieses auch hierzulande zunehmend Fuß fassenden Forschungsansatzes269 ist in deskriptiver (positiver) Hinsicht ein neues und verbessertes Verständnis des bestehenden Rechts und seiner Wirkungen.270 Darüber hinaus wird Behavioral Law and Eco265 S. allgemein zu den Forschungstrends in der Verhaltensökonomik den knappen Überblick bei Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 40 f. Speziell zur NeuroÖkonomik etwa Camerer, Econ. J. 117 (2007), C26 ff.; ders., U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 87 ff.; Brocas/Carrillo, Am. Econ. Rev.: Papers & Proceedings 98 (2008), 175 ff.; Caplin/Dean, Am. Econ. Rev.: Papers & Proceedings 98 (2008), 169 ff.; Fehr/Rangel, J. Econ. Persp. 25 (4) (2011), 3 ff. 266 Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 42: „Our hope is that behavioral models will gradually replace simplified models based on stricter rationality, as the behavioral models prove to be tractable and useful in explaining anomalies and making surprising predictions. Then strict rationality assumptions now considered indispensable in economics will be seen as useful special cases […].“; zurückhaltender Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 165, 171: „Umgekehrt hoffen viele Verhaltensökonomen, irgendwann eine allgemeinere Verhaltenstheorie präsentieren zu können, als deren bloßer Spezialfall die rationale Wahl erschiene. Trotz einiger unbestreitbarer Fortschritte ist es, zumindest bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt, bei dieser Hoffnung geblieben.“; zum Ganzen bereits Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 42. 267 Die Verhaltensökonomik selbst versteht sich folglich als (vorrangig) deskriptive Theorie, vgl. auch van Aaken, in: Anderheiden (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 110.; Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 101. 268 S. dazu ausführlich Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 332 ff. 269 Vgl. die Sammelbände Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, sowie Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011; ferner etwa Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007, 284 ff.; Schmolke, ZBB 2007, 454 ff.; Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1209 ff.; Stürner, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1489, 1491 ff. Ferner bereits Fleischer, FS Immenga, 2004, S. 575 ff.; Eidenmüller, JZ 2005, 216 ff.; Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006. 270 Vgl. Sunstein, in: Sunstein (ed.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 1, 10; Englerth, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 101; Engel, in Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363 f.
V. Verhaltensökonomik als juristisches Forschungsinstrument
213
nomics als normatives Konzept verstanden, das auf eine bessere Ausgestaltung und einen besseren Gebrauch des Rechts als Instrument sozialer Ordnung zielt.271 So findet sich bei Vertretern der Behavioral Law and Economics regelmäßig die grundsätzliche Forderung nach Rechtsnormen, die stärker auf die kontextuellen Unterschiede innerhalb einer Regelungsmaterie zugeschnitten sind.272
1. Die besonderen Herausforderungen der verhaltensökonomischen Rechtsanalyse Für die konkrete Anwendung von Behavioral Law and Economics, und zwar sowohl für ihre deskriptive als auch für ihre normative Dimension, wird freilich auch von ihren Befürwortern regelmäßig Vorsicht angemahnt und in einer Art „Gebrauchsanweisung“273 auf die besonderen Herausforderungen bei der Verwertung verhaltensökonomischer Erkenntnisse für das Recht hingewiesen.274 So wird unter Verweis auf das junge Alter der Verhaltensökonomik betont, dass systematische Verhaltensanomalien nur dann Eingang in die juristische Analyse finden sollten, wenn sie empirisch hinreichend belegt sind.275 Dabei gilt es die Aussagekraft der vorhandenen empirischen Befunde richtig einzuordnen.276 Eine Extrapolierung der Ergebnisse auf Sachverhalte, die nicht unmittelbar Gegenstand der empirischen Untersuchung waren, ist insbesondere dort mit größten Schwierigkeiten verbunden, wo ein gesichertes theoretisches Fundament 271 Vgl. Sunstein, in: Sunstein (ed.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 1, 10; Englerth, in: Engel (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 60, 101; Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363 f.; für Fragen der Regulierung Vandenbergh/Carrico/Schultz Bressman, Minn. L. Rev. 95 (2011), 715 ff., 779 f.: „The framework that we present continues the process of transforming behavioral insights into concrete considerations, thereby enabling agencies to improve the efficacy and efficiency of regulation.“; in Bezug auf paternalistische Regelungen auch Schön, FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1191, 1209. 272 Vgl. nur Korobkin, in: Engel/Gigerenzer (eds.), Heuristics and the law, 2006, S. 45, 54 ff.: „[L]awmakers must tailor legal rules to nuanced contextual differences within markets, social life, and political life. Some restrictions on freedom of contract might be appropriate in certain situations but not in others.“; nachdrücklich auch Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 265 ff. 273 Engel, Verhaltenswissenschaftliche Analyse: eine Gebrauchsanweisung für Juristen, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363 ff. 274 S. Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363 ff.; im Anschluss hieran auch Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 45 f.; s. auch Zeiler, JITE 166 (2010), 178 ff. 275 Vgl. Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1214; Choi/Pritchard, Stan. L. Rev. 56 (2004), 1, 11, 69; Fleischer, FS Immenga, 2004, S. 575, 586; Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 149; auch Sunstein, in: Sunstein (Hrsg.), Behavioral Law & Economics, 2000, S. 1, 9. 276 S. dazu Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363, 364, 365 ff.; Zeiler, JITE 166 (2010), 178, 179 ff.
214
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
fehlt.277 Besteht eine theoretische Grundlage, sind faktische Annahmen durch Extrapolation nicht unmittelbar einschlägiger empirischer Befunde jedoch im Rahmen „vernünftigen Vermutens“ allemal zulässig, häufig sogar unumgänglich.278 Zur Absicherung verhaltensökonomisch hergeleiteter rechtswissenschaftlicher Ergebnisse wird zudem eine rechtsvergleichende Überprüfung empfohlen.279 Insbesondere für die normative Dimension der Behavioral Law and Economics wirft ferner die – von der Verhaltensökonomik empirisch belegte – Annahme endogener und damit instabiler Präferenzen der Rechtsunterworfenen280 weitere, bisher nicht geklärte Fragen auf. Geht man nämlich wie die Anhänger der verhaltensökonomischen Analyse des Rechts davon aus, dass die Präferenzen des einzelnen Akteurs durch den Entscheidungsprozess und die Entscheidungssituation, mithin durch Verfahrensregeln und den rechtlichen Rahmen beeinflusst werden, kann dieser Rahmen nicht einfach danach bewertet werden, ob er die Präferenzen der betroffenen Akteure besser fördert als ein anderes Regelungsregime.281 Angesichts dieser Einsicht wird zum einen die Bedeutung des Entscheidungsverfahrens und seiner rechtlichen Ausgestaltung betont.282 Zum anderen hat sie aber auch die Frage provoziert, ob das Recht nicht kontrafaktisch am strikten Rationalmodell der Mainstream-Ökonomik festhalten sollte.283 Denn – so das Argument – würde die Rechtspolitik am real existierenden Individuum mit all seinen Rationalitätsdefiziten ausgerichtet, würde es diese Defizite stabilisieren, anstatt sie zu bekämpfen. Eine Rechtsordnung, die ein „selbstbestimmtes, rationales menschliches Verhalten normativ für ein erstrebenswertes Ziel halte[…]“, sei daher möglicherweise besser auf „einem überschießenden Rationalitätsfundament zu errichten“. Freilich wird auch hierfür eine situationsspezifische Differenzierung gefordert, welche die Schwere der Konsequenzen einer Fehlentscheidung sowie die aus der Entscheidung gewinnbaren Lerneffekte berücksichtigt.284 277 S. wiederum Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363, 364; ferner Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 322 ff.; in diesem Sinne auch Zeiler, JITE 166 (2010), 178, 184 ff., dort auch zum Problem des „cherry picking“ (allein) solcher Experimente, welche die eigene These unterstützen. 278 Vgl. auch Kübler, FS Steindorff, 1990, S. 687, 696 unter Verweis auf Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 287. 279 Vgl. Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 149; Fleischer, FS Wiedemann, 2002, S. 827, 848; vgl. auch van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S. 127, 148. 280 S. dazu oben unter § 5 II.3. 281 Vgl. Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 301 f.; van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 123; auch Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363, 372 f. 282 Vgl. Farber, U. Chi. L. Rev. 68 (2001), 279, 301 f. („key question“); van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 123 f. 283 S. auch zum Folgenden Eidenmüller, JZ 2005, 216, 223. 284 Eidenmüller, JZ 2005, 216, 223 f. weist zudem darauf hin, dass die Präferenzinstabilität auch den ökonomischen Effizienzkalkül als normative Grundlage der ökonomischen Analyse des Rechts relativiere.
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
215
Zu Recht ist allerdings angemahnt worden, diese Überlegungen nicht zu radikalisieren. Denn die verhaltensökonomische Analyse des Rechts besagt nicht, dass Präferenzen ausschließlich durch Institutionen gebildet werden. Der freie Wille der Rechtsunterworfenen wird von ihr nicht in Frage gestellt. Sie weist allein – aber immerhin – darauf hin, dass äußere Einflüsse auf die Konstruktion von Präferenzen einwirken.285
2. Verbleibende Vorzüge der verhaltensökonomischen Rechtsanalyse Die vorerwähnten Schwierigkeiten und Gefahren bei der Nutzung der verhaltensökonomischen Erkenntnisse für die juristische Analyse dürfen aber nicht den Blick darauf verstellen, dass die Verhaltensökonomik dem Juristen sowohl bei dem Verständnis der Wirkung geltenden Rechts als auch bei der Prognose der Effekte einer in Aussicht genommenen juristischen Intervention wertvolle Einsichten verheißt.286 Ihr Vorteil gegenüber der Rechtsökonomik neoklassischer Prägung liegt in der größeren Nähe der Verhaltensannahmen zur Wirklichkeit. Beide Zweige der Rechtsökonomik führen gegenüber der Verwendung von Alltagstheorien, Routinen oder politischen Präferenzen zu einem ganz erheblichen „Rationalisierungsschub“.287 An dieser Stelle soll und kann keine abschließende Diskussion über die Bedeutung und den Nutzen der Verhaltensökonomik für die rechtliche Analyse stattfinden. Die weitere Arbeit geht vielmehr einen pragmatischen Weg, indem sie das Ausmaß der unbestreitbaren Vorzüge der verhaltensökonomischen Analyse des Rechts für den hier behandelten Untersuchungsgegenstand auslotet. Der Forschungsansatz der Behavioral Law and Economics wird mit anderen Worten für den hiesigen Untersuchungsgegenstand zur praktischen Anwendung gebracht und dabei auf seine Brauchbarkeit erprobt.288
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte Welche Schlüsse lassen sich aus den verhaltensökonomischen Einsichten für die Legitimität rechtspaternalistischer Intervention in die Vertragsfreiheit ziehen? Zur Beantwortung dieser Frage werden zunächst die normativen Ableitungen vorgestellt, welche die Anhänger der „New Paternalism“-Bewegung289 aus den 285
Bechtold, Die Grenzen zwingenden Rechts, 2010, S. 328. S. nur Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363 f., 372 f. 287 Schneider, Die Verwaltung 34 (2001), 317, 343; zust. Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handelsund Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 43; gleichsinnig Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 315 f. m.w.N. 288 S. zu diesem Vorgehen Fleischer, FS Immenga, 2004, S. 575, 579. Vgl. auch Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 153. 289 S. zum Begriff etwa Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905 ff.; dies., N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411 ff. 286
216
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
empirischen Befunden der verhaltensökonomischen Forschung gezogen haben (1.). Hierauf folgt ein Überblick über einzelne, aus den allgemeinen Überlegungen entwickelte Paternalismuskonzepte des vor allem U.S.-amerikanischen Schrifttums (2.). Im Anschluss hieran wird die Kritik an diesen verhaltensökonomisch inspirierten Paternalismuskonzepten eingehender dargestellt (3.) und gewürdigt (4.), bevor schließlich eine Summe gezogen wird, in der die hier vertretene Position zu einem verhaltensökonomisch fundierten Rechtspaternalismus im Vertragsrecht näher entfaltet und in konkrete Vorgaben für eine zulässige paternalistisch motivierte Intervention in die Vertragsfreiheit übersetzt wird (5.).
1. Verhaltensökonomik und „Neuer Paternalismus“ Die Anhänger der verhaltensökonomischen Analyse des Rechts haben bereits früh rechtspaternalistische Handlungsempfehlungen aus den empirisch belegten Verhaltensanomalien abgeleitet.290 Als selbständige normative Rechtfertigung dient ihnen die Wohlfahrtsförderung und der Freiheitsschutz, auf die sich auch das Konzept des effizienten Paternalismus291 stützt.292 Der zunächst rein deskriptive Befund systematisch fehlerhafter Entscheidungsfindung bildet dabei die Voraussetzung oder doch zumindest den wesentlichen Ansatzpunkt für die wohlfahrtsfördernde und freiheitsschützende Wirkung der rechtlichen Intervention zugunsten des von ihr betroffenen Adressaten. Denn zu den wesentlichen Erkenntnissen der Verhaltensökonomik gehört es zum einen, dass die Präferenzbildung der Individuen durch die Entscheidungsumgebung, einschließlich des rechtlichen Rahmens beeinflussbar ist, und zum anderen, dass Individuen bei der Verfolgung bestehender Präferenzen in systematischer Weise Fehler begehen.293 Ein regulatorischer Eingriff in den Entscheidungsprozess oder in Form rechtlicher Nichtanerkennung einer Entscheidung stellt aber keine Beschränkung der Präferenzautonomie der Beteiligten dar, wenn er lediglich Fehler bei der Verfolgung autonomer Präferenzen ausmerzt oder den Entscheider vor den Konse-
290 Vgl. Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471, 1541 ff.; ferner Sunstein, U. Chi. L. Rev. 64/1997), 1175, 1178; vorsichtig zust. Camerer/Loewenstein, in: Camerer/Loewenstein/Rabin (eds.), Advances in Behavioral Economics, 2004, S. 3, 36. 291 Genauer: Primärziel des effizienten Paternalismus ist die Wohlfahrtsförderung, die – weil welfaristisch begründet – in aller Regel mit einer Maximierung der Selbstbestimmung i.S. präferenzkonformen Verhaltens einhergeht. S. dazu oben unter § 4 III. 292 Zur Notwendigkeit einer selbständigen normativen Rechtfertigung neben dem deskriptiven Befund bestehender Verhaltensanomalien wird zutreffend hingewiesen von van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 110; Engel, in: Engel et al. (Hrsg.), Verhalten und Recht, 2007, S. 363, 394 ff.; zust. Fleischer/Schmolke/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Beitrag der Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, S. 3, 46. 293 Vgl. van Aaken, in: Anderheiden (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 123. S. aber auch die Kritik bei Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168, 1206 f.: Diese Erkenntnis sei von Juristen „overlearned“ und „overapplied“.
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
217
quenzen einer derart fehlerhaften Entscheidung schützt.294 Ein solcher Eingriff erscheint vielmehr im Gegenteil als autonomie- und freiheitsfördernde Maßnahme.295 Die Herbeiführung präferenzkonformer Entscheidungen des Rechtsunterworfenen, also des von ihm „eigentlich“ Gewollten, führt ferner zur Hebung des in der Diskrepanz von fehlerhafter Entscheidung und „eigentlich“ Gewolltem liegenden Potential für Wohlfahrtsgewinne.296 Kurzum: Die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik bergen das Potential für die erhebliche Ausweitung legitimer rechtspaternalistischer Intervention297, weil sie die empirische Begründung für ein Marktversagen in der Form von Rationalitätsdefiziten298 liefern. Hier kann es höchstens dann zur Gefahr einer (übermäßigen) Fremdbestimmung und zugleich ineffizienten Intervention kommen, wenn die in ihrer Zielrichtung freiheitsfördernde Korrekturmaßnahme (in dieser Weise) nicht erforderlich ist, etwa weil die zu korrigierende Wahrnehmungsverzerrung gar nicht vorliegt oder ein schonenderes Mittel zu ihrer Bekämpfung zur Verfügung steht.299 Hinzu kommt ein Weiteres: Wenn individuelle Präferenzen bisweilen unklar sind und über Effekte wie den Ausstattungseffekt oder andere Emanationen der Referenzpunktabhängigkeit von Präferenzen300 erst durch das Recht geformt
294 Nach Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 323 ff., 358 ff., läge in diesem Fall konsequenterweise gar kein Fall von Paternalismus mehr vor, da er hierfür Beschränkungen der Präferenzautonomie für konstitutiv erachtet. 295 In diesem Sinne begreift das BVerfG seine Rspr. zur Nichtigkeit von Verträgen bei struktureller Unterlegenheit eines Vertragsteils als Maßnahme zum Schutz der Selbstbestimmung der unterlegenen Partei (Stichwort: „materiale Vertragsfreiheit“). S. dazu oben unter § 3 VI.2.3. 296 Vgl. oben unter § 4 III.2.6; klar auch Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411: „[C]ognitive problems lead to errors in decision making, meaning that people systematically behave in ways that fail to advance their own best interest. Insofar as actual behavior deviates from optimal behavior, governments (as well as other people and institutions) can potentially intervene in ways that will improve the individual’s well-being.“ 297 So stellt etwa van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 122 die Frage: „Öffnen gerade die Erkenntnisse der begrenzten Rationalität einem überbordenen Paternalismus Tür und Tor?“; vgl. ferner Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199: „Boundedly rational behavior might be, and often is, taken to justify a strategy of insulation, attempting to protect legal outcomes from people’s bounded rationality.“; Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211: „Recent research in behavioral economics has identified a variety of decision-making errors that may expand the scope of paternalistic regulation.“ sowie 1214; ferner Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165: „Recognition of the fallibility of human judgment and the research that identifies this fallibility commonly inspire calls for imposing constraints on individual choice.“ 298 Dazu oben unter § 4 III.3.1.2. 299 Durch das vorstehend im Text Gesagte wird deutlich, dass für die Erklärung und Legitimierung rechtspaternalistischer Intervention zwischen den Regelungszwecken Präferenzbeeinflussung/-beschränkung und Ausgleich von Entscheidungsfehlern bei gegebenen Präferenzen zu unterscheiden ist. Zutr. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 124. 300 S. dazu oben unter § 5 II.3.1.
218
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
werden, dann lässt sich mitunter Rechtspaternalismus gar nicht vermeiden.301 Zudem kann sich bei Präferenzinkonsistenzen über die Zeit lediglich die Frage stellen, für welchen Zeitpunkt t1 oder t2 eine paternalistische Intervention vorliegt, ohne dass sich eine solche für beide Zeitpunkte t1 und t2 vermeiden ließe.302 In diesen Fällen, in denen jeder denkbare Regelungsrahmen auf eine Präferenzbeeinflussung hinausläuft, sinkt der Rechtfertigungsaufwand für eine rechtspaternalistische Intervention.303 Da hier jede Regulierungsstrategie mit der Präferenzbeeinflussung verbundene Kosten herbeiführt, können diese in Höhe des gemeinsamen „Kostensockels“ aus dem Kosten-Nutzen-Kalkül des Intervenienten „herausgekürzt“ werden. Die danach theoretisch breite Legitimationsbasis für einen verhaltensökonomisch fundierten Rechtspaternalismus verengt sich allerdings nicht unerheblich durch die (möglichen) Kosten einer rechtspaternalistischen Intervention, die sich vor allem aus der irrtümlichen Anwendung paternalistischer Rechtsregeln auf nicht (in diesem Ausmaß) schutzbedürftige Adressaten ergeben. Diese bereits im Einzelnen näher dargestellten304 Kosten rechtspaternalistischer Intervention sind den Anhängern eines verhaltensökonomisch fundierten Paternalismus ebenso bewusst wie die Notwendigkeit eines positiven Nutzen-Kosten-Saldos für die Rechtfertigung der Intervention. Entsprechend bemühen sie sich im Rahmen der von ihnen entwickelten Paternalismuskonzepte um eine Minimierung dieser Interventionskosten.305
2. Verhaltensökonomisch fundierte Paternalismuskonzepte in der Diskussion Im Folgenden sollen einige der bedeutendsten Paternalismuskonzepte306, die auf den Erkenntnissen der Verhaltensökonomik gründen, vorgestellt werden.307 301 S. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 123; Sunstein/Thaler, U.Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1161, 1171 ff. mit zahlreichen Beispielen; vgl. ferner Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 150, 152. 302 Vgl. Farber, U. Chi. L.Rev. 68 (2001), 279, 301 f. 303 Deutlich Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1166: „Once it is understood that […] a form of paternalism cannot be avoided, […] we can abandon the less interesting question of whether to be paternalistic or not, and turn to the more constructive question of how to choose among the choice influencing options.“ 304 S.o. unter § 4 III.3.2. 305 Dazu sogleich unter § 5 VI.2. 306 Es handelt sich also um eine Auswahl, welche die wesentlichen Gedanken und Argumente verhaltensökonomisch inspirierter Paternalismuskonzepte widerspiegelt. Als Beispiel eines hier nicht im Einzelnen vorgestellten Konzepts sei hier nur das „Emotional Paternalism“-Konzept von Blumenthal, Fla. St. U. L. Rev. 35 (2007), 1 ff. genannt, das entlang der im Folgenden näher dargestellten Gedankengänge und Argumentationsmuster besonders emotionale Einflüsse in den Blick nimmt, die zu Entscheidungsfehlern führen können. 307 Zu Paternalismuskonzepten, die nicht auf der Behavioral Decision Theory aufbauen, s. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 367 ff. m.w.N.
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
219
2.1 „Libertärer Paternalismus“ – Die Konzeption von Sunstein und Thaler Das Konzept des „libertären“ oder „freiheitlichen“ Paternalismus (Libertarian Paternalism)308 ist das bislang wohl wirkmächtigste Konzept eines verhaltensökonomisch fundierten Paternalismus.309 Ziel dieser von Cass Sunstein und Richard Thaler entwickelten Spielart des Rechtspaternalismus ist es, die Entscheidungen der Rechtsunterworfenen in eine wohlfahrtsfördernde Richtung zu dirigieren (paternalistische Komponente)310, ohne die Entscheidungsfreiheit der Akteure aufzuheben (freiheitliche Komponente).311 Diesem Konzept liegt zum einen die empirisch unterlegte Prämisse zugrunde, dass das Individuum aufgrund von Rationalitätsdefiziten und eingeschränkter Selbstdisziplin kein unfehlbarer Sachwalter seines eigenen Wohlergehens ist.312 Zum anderen basiert es auf der hier bereits referierten313 Erkenntnis, dass Rechtspaternalismus dort nicht verhindert werden kann, wo die Präferenzen der Rechtsunterworfenen unklar oder nicht verfestigt sind und ihre Entscheidungen unausweichlich durch default rules, Framing-Effekte und Referenzpunkte beeinflusst werden. Dort, wo solche Effekte auftreten, könne es nur darum gehen, die Entscheidungsfreiheit der Betroffenen möglichst weitgehend aufrecht zu erhalten.314 Freiheitlicher, wohlfahrtsfördernder Paternalismus sei über die Fälle dieses unausweichlichen Paternalismus hinaus aber auch dort denkbar, wo Kurzfristpräferenzen mit Langfristpräferenzen konfligieren315. Auch hier könne ein regulatorischer, die Entscheidungsfreiheit unberührt lassender Rahmen geschaffen werden, der zwar nicht versucht, den Leuten zu geben, was sie ex ante wählen würden, sie aber dennoch in die von ihnen eigentlich, d.h. bei Abwesenheit von beschränkter Rationalität und Selbstdisziplin präferierte Richtung lenkt.316 Libertärer und nicht libertärer Paternalismus stünden sich nicht trennscharf dichotomisch gegenüber, sondern seien als Kategorien eines Entscheidungskosten-Kontinuums zu begreifen. Libertärer Rechtspaternalismus sei bemüht sicherzustellen, dass die Akteure von den Vorgaben des Rechts zu möglichst geringen Kosten abweichen können.317 308 Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159 ff. S. bereits zuvor den von Sunstein, U. Chi. L. Rev. 64 (1997), 1175, 1178 und Jolls/Sunstein/Thaler, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1471, 1541 ff. propagierten „Anti-Antipaternalismus“. Hinter diesem Begriff verbirgt sich die Skepsis gegenüber Antipaternalismus, ohne Paternalismus offensiv zu verfechten. 309 Sunstein und Thaler haben ihr Paternalismuskonzept in dem popularwissenschaftlichen Werk „Nudge“ von 2008 ausgebaut und breiten Kreisen zugänglich gemacht. 310 S. die Definition von Paternalismus bei Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1162: „a policy […] counts as ‘paternalistic’ if it attempts to influence the choices of affected parties in a way that will make choosers better off.“ 311 Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1161. 312 Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1163, 1167 ff. 313 S. soeben unter § 5VI.1. 314 Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1182 f. 315 Bspw. die Lust auf einen Nachtisch mit dem Wunsch, sein Gewicht zu halten bzw. abzunehmen. 316 Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1184. Dieser lenkende „Schubs“ hat ihrem später veröffentlichten Werk „Nudge“ den Namen gegeben. 317 Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1185 f.
220
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
Aus diesen Erwägungen leiten Sunstein und Thaler vier mögliche Erscheinungsformen freiheitlich-paternalistischer Intervention ab:318 – Minimalpaternalismus (minimal paternalism) liege vor, wenn eine dispositive Rechtsnorm als Referenzpunkt gesetzt wird (default rule), um das Verhalten der betroffenen Akteure zu beeinflussen. Solange eine privatautonome Abweichung von diesem Referenzpunkt (nahezu) kostenlos möglich sei, bleibe die Entscheidungsfreiheit weitestgehend erhalten. – Bei dem Erfordernis aktiver Entscheidung (required active choice) wird hingegen ein rechtlicher Rahmen geschaffen, der die Betroffenen zu einer aktiven Entscheidung zwischen verschiedenen Optionen zwingt. – Eine etwas stärkere Form des Paternalismus liege vor, wenn eine dispositive Referenzpunktregelung (default rule) von prozeduralen Schranken (procedural constraints) flankiert werde, die sicherstellen, dass eine Abweichung von der gesetzlichen Vorgabe vom wirklichen Willen eines hinreichend rationalen Entscheiders getragen wird. Während die Kosten einer solchen Regelung vom Ausmaß der Beschränkungen abhingen, komme es für ihre Rechtfertigung auf das Ausmaß der Defizite im Hinblick auf Rationalität und Selbstdisziplin an. Die Legitimation der Regelung beruhe auf dem Umstand, dass die Entscheidung der Betroffenen in der geregelten Situation – ohne prozedurale Schranken – wahrscheinlich fehlerhaft ist. Zu denken sei an unvertraute Situationen, Erfahrungsmangel oder das erhöhte Risiko impulsiven Verhaltens. – Inhaltliche Schranken (substantive constraints) gehen in ihrer Eingriffsintensität noch einen Schritt weiter, indem sie die Möglichkeit der Abweichung von einer gesetzlichen Vorgabe an bestimmte inhaltliche Bedingungen knüpfen. Je kostspieliger deren Erfüllung für die Parteien ist, desto weniger freiheitlich ist die Regelung. Ihre Rechtfertigung hängt wiederum von Bestehen und Umfang der Rationalitätsdefizite und der Selbstdisziplinierungsschwierigkeiten ab. Die Wahl der default rule sowie die Entscheidung zwischen den verschiedenen Formen von (libertärem) Rechtspaternalismus sollte, soweit durchführbar, durch einen Kosten-Nutzen-Vergleich der verschiedenen Regelungsstrategien bestimmt werden. Dabei könne aber nicht auf die Zahlungsbereitschaft (willingness to pay) der Akteure abgestellt werden, da auch diese durch die default rule beeinflusst werde. Wo eine solche Kosten-Nutzen-Analyse aus Mangel an ausreichenden Informationen unmöglich oder wegen hoher Kosten untunlich ist, sei mittels Daumenregeln zu entscheiden, die über bestimmte Indikatoren die Wohlfahrtsauswirkungen der verschiedenen Regelungsstrategien indirekt zu ermitteln suchen.319 318
S. zu Folgendem Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1188 ff. Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1193 ff.: Vorgeschlagen wird etwa die Anlehnung an das tatsächliche Entscheidungsverhalten der Mehrheit, sofern eine aktive Wahl stattfindet, oder falls diese Möglichkeit ausfällt, der Rückzug auf die Vorgabe einer aktiven Entscheidung durch die Regulierungsinstanz. 319
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
221
2.2 Das Konzept des „asymmetrischen Paternalismus“ Das Konzept des „asymmetrischen Paternalismus“ ist zur gleichen Zeit entstanden wie das des freiheitlichen Paternalismus. Es wurde von Colin Camerer, Samuel Issacharoff, George Loewenstein, Ted O’Donoghue und Matthew Rabin entwickelt320 und weist viele Ähnlichkeiten zu dem von Sunstein und Thaler propagierten „libertären Paternalismus“ auf.321 Asymmetrischer Paternalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er denjenigen (mitunter große) Vorteile verschafft, die Entscheidungsfehler begehen, während er keine oder nur geringe Nachteile für diejenigen Akteure begründet, die rational handeln.322 Dieser konservative323 Ansatz ist also von der Absicht getragen, die negativen Konsequenzen von „false positives“ (Typ I-Fehlern) gering zu halten, und soll als Leitlinie für die (rechts)paternalistische Intervention ein bedachtes und diszipliniertes sowie im Ergebnis effizientes Vorgehen gewährleisten.324 Dem Konzept liegt die Sorge zugrunde, dass die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik vorschnell zur Rechtfertigung von Rechtspaternalismus herangezogen werden könnten, obwohl die von ihr ermittelten Anomalien keine universellen Phänomene sind.325 Darüber hinaus stellen Camerer et al. klar, dass sie eine paternalistische Intervention nicht allein deshalb für gerechtfertigt halten, weil die verhaltensökonomische Forschung eine Abweichung der tatsächlichen Präferenzen der Akteure von den Annahmen des ökonomischen Standardmodells belegt. Vielmehr sei Rechtspaternalismus dort begründet, wo die Akteure aufgrund von Rationalitätsdefiziten mit ihren eigenen Präferenzen nicht übereinstimmende Entscheidungen treffen oder zumindest aufgrund defizitärer Selbstdisziplin ihren Langzeitpräferenzen zuwider handeln.326 Sei unsicher, ob der aus Sicht des ökonomi320
S. Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211 ff. Vgl. zur Ähnlichkeit der Konzepte auch Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159, 1160 in Fn. 6. 322 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1212. Die Autoren fassen das Konzept des asymmetrischen Paternalismus in folgender Formel zusammen: (p*B) – [(1-p)*C]- I + ΔΠ > 0. Dabei ist p der Anteil beschränkt rationaler Akteure, B der Nutzen der Regulierung für diese, C die Kosten für rationale Akteure, I die Implementierungskosten der Regelung und ΔΠ die Änderung der Gewinne der Vertragsgegenseite durch die Regulierung. 323 So die Autoren selbst, s. Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1214. 324 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1212 und 1221 ff., 1251. 325 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1214. Hinzu treten Vorbehalte der Autoren aufgrund der geringen Erfahrungen mit Behavioral Economics angesichts ihres jungen Alters. 326 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1216 ff. Sofern – wie häufig – diese Entscheidungsfehler den Betroffenen nicht bewusst sind, sei nicht damit zu rechnen, dass sich Marktlösungen als Alternative zu regulatorischer Intervention herausbilden würden [dies., ebenda, 1251 f.]. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Camerer, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 87 ff., der dort mit Hilfe eines neurophysiologisch fundierten Modells die Abweichung von Wahl (mittels eines „Wanting“Systems) und Präferenz (mittels eines „Liking“-Systems) erklären will. Asymmetrischer Paternalismus zur Verkleinerung der „Wanting“-„liking“-Lücke sei etwa vorstellbar in Form von Tests über den hinreichenden Gleichlauf von „wanting“ und „liking“ („licensing“), der Erinnerung des „Wanting“-Systems an sonst möglicherweise übergangene Aspekte des „liking“ über eindringliche Information („dramatizing“) oder Abkühlphasen („cooling off“). 321
222
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
schen Standardmodells suboptimalen Entscheidung ein Rationalitätsdefizit oder aber eine echte, stabile Präferenz des Entscheiders zugrunde liegt, solle sich der Regulierer im Zweifel auf ein Informationsmodell zurückziehen.327 Als bestehende oder mögliche regulatorische Antworten auf Entscheidungsfehler, die das Kriterium des asymmetrischen Paternalismus erfüllen, identifizieren sie vier Regelungsformen: (1) default rules, (2) das Verfügbarmachen oder Aufbereiten (re-framing) von Information, (3) Abkühl- und Überlegungsfristen (cooling off-periods) sowie (4) die Einschränkung von Verbraucherentscheidungen. Dabei gehe mit dieser Auflistung eine zunehmende Entfernung von einem reinen asymmetrischen Paternalismus einher.328 Einer reinen asymmetrisch paternalistischen Regelungsstrategie komme die Festsetzung einer default rule zur Bekämpfung des status quo bias wahrscheinlich am nächsten. So sei es für viele Verbraucherentscheidungen notwendig, eine Rechtsfolge festzulegen, wenn der Konsument keine eigene Entscheidung treffe. Solange die Kosten einer aktiven Entscheidung gering seien, habe die Vorgabe einer (dispositiven) Regelung praktisch keinen Effekt auf voll rationale Verbraucher, während sie für beschränkt rationale Akteure Bedeutung habe. Die Bestimmung der Vorgabe solle sich regelmäßig daran orientieren, was für die meisten Leute wahrscheinlich die beste Option sei (majoritarian default). Freilich könnten die Überlegungen hierbei nicht stehen bleiben. Vielmehr seien für die Bestimmung der default rule weiter die relativen Kosten einer falschen Entscheidung zu berücksichtigen (diese Erwägung spricht dafür, diejenige Option zur default rule zu machen, deren fälschliche Nichtwahl die höchsten Kosten verursacht) wie auch eine mögliche Asymmetrie des status quo bias (ist der bias bei Vorgabe der Option A stärker als bei Vorgabe der Option B, spricht dies für die Vorgabe von B).329 Kognitive Fehlleistungen, die zu einer Vernachlässigung entscheidungsrelevanter Umstände oder zu einer Berücksichtigung (nach dem Rationalmodell) entscheidungsirrelevanter Umstände führen, lassen sich nach Ansicht von Camerer et al. durch zwingende Vorgaben zur Offenlegung und Darbietung/Formatierung von Informationen abfedern. Zwingendes Offenlegen von Information und re-framing des Entscheidungskontextes stellen nach ihrer Ansicht eine asymmetrisch paternalistische Regelungstechnik nahezu in Reinform dar, da vollständig rationale Entscheider dem framing einer Entscheidungssituation keinerlei Bedeutung für die zu treffende Entscheidung beimessen. Die maßgeblichen Kosten dieser Regelungstechnik seien daher auch diejenigen ihrer Implementierung.330 Ferner seien die Gefahr und die möglichen Kosten eines information overload
327
Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1253 f. Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1224 ff. mit zahlreichen illustrierenden Beispielen aus dem geltenden Recht. 329 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1224 ff. 330 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1230 ff. 328
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
223
gerade von Verbrauchern zu berücksichtigen, die sich aus der Statuierung von Informationspflichten ergeben können.331 Abkühl- und Überlegungsfristen werden als nützlich erachtet, um Individuen vor Fehlentscheidungen zu schützen, die sie in einem vorübergehenden emotional oder „biologisch“ aufgeladenen Zustand („hot“ state) treffen. Die Verhaltensökonomik offeriert als Erklärung für diese fehlerhaften oder zumindest suboptimalen Entscheidungen die Fehleinschätzung des Individuums über die Dauer des aufgeladenen Zustands und die mangelnde Fähigkeit, sich gedanklich in den später eintretenden kühl-reflektierten Zustand hineinzuversetzen (sog. hot-cold empathy gap)332 bzw. allgemeiner: die übermäßige Extrapolation gegenwärtiger Präferenzen in die Zukunft (projection bias)333, sowie eine Übergewichtung von Kurzfristpräferenzen aufgrund von Defiziten der Selbstkontrolle334. Der potentielle Nutzen einer Abkühlphase, welche die Entscheidung oder zumindest eine definitive Bindung hieran verzögert, besteht darin, dass beschränkt rationale Entscheider eine nachteilige Entscheidung innerhalb dieser Phase überdenken und revidieren. Die durch die Abkühlphase herbeigeführte zeitliche Verzögerung kann andererseits in zweierlei Hinsicht Kosten verursachen: indem sie zum einen den Nutzen der in der Abkühlphase nicht mehr revidierten Entscheidung verringert oder zum anderen Individuen von der für sie an sich vorteilhaften Entscheidung Abstand nehmen lässt. Grundsätzlich spricht mehr für die Implementierung von Abkühlphasen, wenn die Kosten der beschriebenen Entscheidungsfehler hoch sind, während der Nutzenverlust durch die zeitliche Verzögerung gering ist.335 Als Beispiele für geeignete Regelungsfelder nennen Camerer et al. den Autokauf oder das Eheversprechen. Je nach dem Gegenstand der Entscheidung eigne sich dabei eher das Hinauszögern der Entscheidung für eine bestimmte Zeit oder die zeitlich befristete Möglichkeit des Rückgängigmachens einer ohne Verzögerung getroffenen Entscheidung. In letzterem Fall entstünden auch Anreize für die Marktgegenseite, auf eine überlegte Entscheidung hinzuwirken, um mögliche Kosten einer Rückabwicklung zu vermeiden.336 Was schließlich die Beschränkung von Verbraucherentscheidungen betrifft, so könne diese für den beschränkt rationalen Entscheider dort von Vorteil sein, wo die weniger stark in die Entscheidung eingreifenden Regelungsmechanismen
331 S. Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1235 f. auch zu möglichen weiteren versteckten Kosten von Informationspflichten. 332 Vgl. Camerer, Am. Econ. Rev. 79 (1989), 1257 ff.; Gilovich/Vallone/Tversky, Cogn. Psychol. 17 (1985), 295 ff. Weitere N. bei Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1238 in Fn. 94. S. dazu bereits oben unter § 5 II.1.3.4. 333 S. dazu Wilson/Gilbert, Affective Forecasting, Current Directions in Psych. Sci. 14 (2005), 131 ff.; Ariely/Loewenstein, J. Behav. Dec. Making 19 (2006), 87 ff. m.w.N. 334 S. dazu oben unter § 5 II.4. 335 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1239. 336 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1240.
224
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
keine Abkehr von einer suboptimalen Wahl bewirken können.337 Da Beschränkungen von Verbraucherentscheidungen rationale Entscheider jedenfalls beeinträchtigen können, habe der Einführung bzw. Anwendung einer solchen Regelung eine sorgfältige Kosten-Nutzen-Analyse vorauszugehen.338 2.3 Einbeziehung von Lernkosten und Kosten für externe Entscheidungshilfe in die verhaltensökonomische Rechtfertigung von Rechtspaternalismus (Rachlinski I) Auch Rachlinski steht einer Ausweitung rechtspaternalistischer Intervention aufgrund der Einsichten der Verhaltensökonomik zum menschlichen Entscheidungsverhalten eher zurückhaltend gegenüber. Denn die Haupterkenntnis der kognitionspsychologischen Entscheidungsforschung sei nicht, dass Individuen systematische Entscheidungsfehler machen, sondern dass sie aufgrund des Vertrauens auf Heuristiken hochadaptive Entscheider seien, die mit Hilfe von „mentalen Abkürzungen“ komplexe Entscheidungssituationen restrukturieren,339 dabei aber stark von der Präsentation des Entscheidungsgegenstands abhängig sind340. Hieraus folgert Rachlinski, dass für die verhaltensökonomische Begründung eines rechtspaternalistischen Eingriffs – verstanden als die Ersetzung der individuellen Wahl durch eine rechtliche Vorgabe – keinesfalls der Hinweis ausreiche, dass der Entscheider Heuristiken angewendet habe. Oder anders gewendet: „Merely linking a cognitive bias in judgment to a decision that law could regulate should not support implementing a constraint on individual choice.“341 Auf Heuristiken vertrauende Entscheider könnten nämlich lernen, gute Entscheidungen zu treffen, oder diese an Experten delegieren. Daher sei – so die zentrale These Rachlinskis – für die Legitimation einer rechtspaternalistischen Beschränkung der individuellen Entscheidungsfreiheit zu fordern, dass die Kosten für das Erlernen eines besseren Entscheidungsansatzes oder der Delegation von Entscheidungen auf andere (bessere) Entscheider höher sind als die Kosten der paternalistischen Intervention.342 Nicht ausreichend sei hingegen, die Kosten der rechtspaternalistischen Intervention mit dem Nutzen zu vergleichen, der aus der Bewahrung der Entscheider vor einer falschen Entscheidung entsteht. Dies blende die Möglichkeit des Lernens durch Restrukturierung/Umformatierung des Entscheidungsproblems und „Debiasing“-Techniken ebenso wie den Rück337 Als Anwendungsfeld nennen Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1247 ff. das Phänomen der Prokrastination, also des wiederholten Aufschiebens von Entscheidungen oder Tätigkeiten. Dort sei eine periodische Auferlegung von Fristen als Entscheidungsbeschränkung zu erwägen. 338 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1247. 339 Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168; vgl. zur psychologischen Debatte auch die ganz ähnliche Position von Gigerenzer, in: Gigerenzer/Engel (eds.), Heuristics and the Law, 2006, S. 17 ff.; monographisch ders., Gut Feelings, 2007. 340 Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1207 ff. 341 Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168. 342 Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168, 1219 ff.
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
225
griff auf externe Hilfe von Experten oder in Organisationsstrukturen vorschnell aus.343 Eine Beschränkung der individuellen Entscheidungsfreiheit durch rechtspaternalistische Intervention lässt sich nach Rachlinski daher nur in solchen Fällen auf die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik stützen, in denen kognitive Hindernisse dem Erlernen besseren Entscheidens entgegenstehen (etwa bei einmaligen Entscheidungssituationen), es an der Motivation zur Verbesserung des Entscheidungsverhaltens fehlt (etwa weil die Akteure nicht die gesamten Kosten ihrer Fehlentscheidung tragen) oder die Kosten der kognitiven Adaption zu hoch sind (etwa aufgrund der schweren Konsequenzen einer Fehlentscheidung, aus der man lernen könnte) und/oder auch die Hinzuziehung von Experten zu kostspielig ist.344 Schließlich seien rechtliche Hilfen zur Restrukturierung der Entscheidung als mildere Mittel gegenüber einem Wahlverbot oder -gebot diesem immer vorzuziehen. Als Beispiele nennt Rachlinski die Pflicht zur Offenlegung bestimmter Informationen durch die Gegenseite, Abkühl- und Überlegungsphasen oder die zwingende Hinzuziehung von Experten.345 2.4 Die Kosten des Rechtspaternalismus – Berücksichtigung der Heterogenität des Adressatenkreises (Rachlinski II) In einem weiteren Beitrag aus dem Jahr 2006 plädiert auch Rachlinski für das Konzept des asymmetrischen Rechtspaternalismus in einer schwachen Form, die sich auf die Restrukturierung der Entscheidungssituation beschränkt (etwa durch bestimmte default rules) und keine Wahlgebote oder -verbote vorsieht.346 Ein solches Konzept vermeide die Kosten der überschießenden Wirkung347 eines starken nomothetischen Rechtspaternalismus, der in typisierender Weise allen Mitgliedern einer identifizierbaren Gruppe von Individuen dieselbe Anfälligkeit für kognitive Fehler unterstellt.348 Es sei daher vorzugswürdig, solange die psychologische Forschung keine Parameter identifiziert habe, die eine rechtliche Unterscheidung nach der individuellen Fehlerneigung zulasse (sog. ideographischer Ansatz). Die bisherigen Erkenntnisse ließen eine Differenzierung aufgrund der Intelligenz, der Erfahrung oder demographischer Faktoren wie Geschlecht oder Alter jedenfalls (noch) nicht zu.349 343
Vgl. Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168, 1211 ff. Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168, 1219 ff. m. zahlreichen Beispielen. 345 Rachlinski, Nw. U. L. Rev. 97 (2003), 1165, 1168, 1224 f. 346 Rachlinski, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 207, 226. 347 D.h. derjenigen Kosten einer rechtspaternalistischen Intervention, die durch die Beschränkung rationaler Entscheider in ihrer nicht von kognitiven Fehlern behafteten Wahl entstehen. Hiervon zu unterscheiden sind etwa die anfallenden Implementierungskosten, vgl. Rachlinski, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 207, 225 f. 348 Rachlinski, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 207, 208, 225 f. 349 Rachlinski, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 207, 216 ff., 224 mit eingehender Analyse der bisherigen psychologischen Forschung und zur Kritik bereits vorhandener, an der Erfahrung des Entscheiders anknüpfender Differenzierungen im Kapitalanlage-, Delikts- und Vertragsrecht ebenda, S. 225 f. 344
226
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
2.5 Das Prinzip des schonendsten Paternalismus (van Aaken) Das Konzept des schonendsten Paternalismus von Anne van Aaken350 ist ebenfalls in Reaktion auf die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik entstanden. Van Aaken geht es bei ihrer Paternalismuskonzeption darum, diese Erkenntnisse in die bestehende verfassungsrechtliche Diskussion über den Rechtspaternalismus351 zu integrieren und Verhaltensleitlinien für den Gesetzgeber herauszuarbeiten. Ihr Konzept ruht dabei auf der Konzeption des libertären Paternalismus nach Sunstein und Thaler.352 Mit diesem teilt es die Grundannahme, dass sich Paternalismus aufgrund des status quo bias bereits notwendig aus der Zuweisung von Rechten ergibt, Präferenzen also eine Funktion des Rechts sein können. Hieraus folgert van Aaken, dass die binäre Entscheidung zwischen grundsätzlicher (verfassungsrechtlicher) Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Rechtspaternalismus obsolet werde. Eine solche Fragestellung gehe von einem rationalen Individuum aus, das seine Präferenzen bereits geformt hat und lässt mithin die Formung von Präferenzen sowie andere Mechanismen zum Ausgleich von Anomalien außer Acht. Vielmehr könne es in der verfassungsrechtlichen Diskussion nur um die gewählten Mittel des Paternalismus, also das Übermaßverbot, gehen. Dabei dürfe die Betrachtung nicht wie bislang auf Wahlverbote und -gebote sowie staatlichen Zwang verengt werden, sondern müsse um Wahlhilfen ergänzt werden.353 Dabei nimmt van Aaken – wiederum in Übereinstimmung mit Sunstein und Thaler – grundsätzlich an, dass rechtspaternalistische Maßnahmen ein Mittel zur Behebung kostspieliger Rationalitätsdefizite sein können. Das Prinzip des schonendsten Paternalismus verstärke aber die Begründungslast für eine paternalistische Regelung, da diese einen Eingriff in die Grundrechte, insbesondere die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG darstelle. Der für Grundrechtseingriffe geltende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Ausprägung des Übermaßverbots gebe einen die Freiheitsräume des Individuums möglichst schonenden Paternalismus vor.354 In die für die Zulässigkeitsprüfung einer rechtspaternalistischen Intervention erforderliche Abwägung stellt van Aaken eine zweidimensionale Kosten-Nutzen-Analyse ein. Zum einen seien die Konsequenzen für die individuelle Wohlfahrt zu berücksichtigen, zum anderen diejenigen für die individuelle Entscheidungsautonomie. Dabei begreift van Aaken individuelle Wohlfahrt und individuelle Entscheidungsautonomie als gegeneinander abzuwägende Werte: Bleiben Anomalien regulatorisch unbeachtet, entstünden für die hiervon betroffenen Entscheider Wohlfahrtsverluste; findet eine regulatorische Intervention statt, 350 351 352 353 354
Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109 ff. S. dazu ausführlich oben unter § 3. Dazu oben unter § 5 VI.2.1. Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 133. Vgl. van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 133 f.
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
227
verursache die damit verbundene Freiheitseinschränkung „Freiheitskosten“.355 Da für rational handelnde Entscheider Rechtspaternalismus nur Freiheitskosten, aber keinen Wohlfahrtsnutzen begründe, sei für diese der Nutzen-Kosten-Saldo einer regulatorischen Intervention jedenfalls negativ. Für den Fall, dass eine Mehrheit von Entscheidern Rationalitätsdefiziten unterliegt, sei der Wohlfahrtsnutzen einer Intervention nur dann höher als die Freiheitskosten, wenn die institutionelle Lösung eines benevolenten Gesetzgebers der Entscheidung des Individuums überlegen ist. Hierfür müssten die Anomalien und die genauen Umstände ihres Auftretens bekannt sein. Seien diese Bedingungen gegeben, habe eine Abwägung stattzufinden, welche die Häufigkeit der Anomalie, die genauen Umstände zur Prüfung der Geeignetheit der Maßnahme sowie die Schwere des Eingriffs in die Freiheitsrechte berücksichtige.356 Für die Frage der Zulässigkeit von Wahlverboten, die van Aaken als Reduzierung einer Handlungsmöglichkeit auf Null als schwerstmögliche Grundrechtseingriffe identifiziert357, folgt van Aaken der Ansicht Hillgrubers, nach der Gesetze, die ihrer objektiven Zielsetzung nach ausschließlich den Zweck verfolgen, den Einzelnen gegen seinen freien Willen vor den Folgen seiner Grundrechtsausübung zu schützen, verfassungswidrig sind.358 Von diesem Verdikt sei jedoch die paternalistische Intervention in denjenigen Fällen nicht erfasst, in denen Präferenzen unklar seien und/oder erst geformt werden müssen oder Entscheidungsfehler vorliegen, welche die Entscheider von ihren Präferenzen abweichen lassen. Auch in diesen Fällen sei aber für eine rechtspaternalistische Regulierung zuerst nach der Eignung von rationalitätsfördernden Wahlhilfen zu fragen, die auf die Ermöglichung einer aufgeklärten, informierten und rationalen Wahl des Individuums gerichtet sind. Van Aaken unterscheidet dabei zwei Formen von Wahlhilfen: die isolierte Wahlhilfe und die kommunikative Wahlhilfe. Erstere sei anders als letztere nicht auf Kommunikation gerichtet, sondern ziele auf das isoliert reflektierende und entscheidende Individuum, indem sie die Konstruktion klarer Präferenzen befördere oder bei Bestehen solcher Präferenzen, kognitive Defizite, Willensschwäche und Informationsdefizite ausgleiche. Sie ist, anders als die kommunikative Wahlhilfe, inhaltlich bestimmt. Die kommunikative Wahlhilfe gebe dagegen nur die Form vor und setze allein auf „kommunikative Rationalität“.359 Die isolierte Wahlhilfe wird wiederum in fünf verschiedene Ausformungen untergliedert: (1) Reine Informationshilfen zur Behebung von Informationsdefiziten und -asymmetrien, (2) Anreize zur Selbstbindung zur Bekämpfung von zeitinkonsistentem Verhalten aufgrund von Willensschwäche (bspw. RiesterRente), (3) vorgegebene Alternativen (default rules), die zwar ein „opting out“ zulassen, aber über den status quo bias bzw. den Ausstattungseffekt möglicher355
Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 134. Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 135 f. 357 Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 124 f. 358 Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 136 unter Verweis auf Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 119. 359 Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 125. 356
228
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
weise auch durch die bloße Trägheit des Entscheiders die Wahl zugunsten der Vorgabe beeinflussen, (4) die Erzwingung der Wahl ohne Vorgabe einer Alternative und (5) Bedauernsmechanismen, die dem Individuum die Möglichkeit geben, über eine auf einem Rationalitätsdefizit beruhende Entscheidung nachzudenken und diese ohne weitere Kosten zu revidieren (bspw. Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften, Wartezeiten bei Ehescheidungen).360 Kommunikative Wahlhilfen zielen hingegen auf die Abmilderung von Anomalien durch autonomiesichernde deliberative oder kommunikative Verfahren in interaktiven Situationen. Sie bezwecken entweder die Aktivierung der individuellen Reflexion vor einer Entscheidung (etwa durch Aufklärungspflichten der Bank vor dem Kauf riskanter Wertpapiere) oder kommunikative Rationalität bzw. Deliberation. Letztere setze die Beteiligung aller Betroffenen, die Entscheidung durch Argumente von Teilnehmern für Teilnehmer sowie eine Entscheidung anhand der Leitwerte der Unparteilichkeit und Vernunft voraus361 und soll helfen, intuitives Entscheiden durch rationales Entscheiden zu ersetzen. Da Wahlhilfen die Entscheidungsfreiheit nicht aufhöben, stellten sie gegenüber Wahlverboten und -geboten das wesentlich mildere Mittel dar, sofern überhaupt von einem Eingriff in die Freiheitssphäre des zu Schützenden gesprochen werden könne.362 Daher sei Wahlhilfen grundsätzlich der Vorzug vor Wahlverboten zu geben. Wahlhilfen seien ihrerseits jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn sie – ohne die Wahlfreiheit, d.h. die Auswahl aus verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zu nicht prohibitiven Kosten, aufzuheben – der Information und der Behebung von Unkenntnis dienten. Auch kommunikative Wahlhilfen machten keine inhaltlichen Vorgaben, sondern forderten lediglich das Nachdenken im Gespräch durch Verfahrensvorgaben und könnten so zu einem normativ erwünschten „debiasing“ führen. Allerdings – so konzediert van Aaken – könnten auch mit solchen Verfahrensvorgaben Freiheitskosten verbunden sein, wie etwa die unerwünschte Reflexion oder der damit verbundene Zeitaufwand.363 2.6 „Debiasing through Law“ (Jolls/Sunstein) In ihrem Aufsatz „Debiasing through Law“ aus dem Jahre 2006 haben sich Christine Jolls und Cass Sunstein mit der Frage beschäftigt, auf welche Weise das Recht auf Rationalitätsdefizite reagieren sollte.364 Im Rahmen dessen stellen sie den von ihnen so genannten Ansatz des debiasing through law vor. Dieser sei in vielen Situationen der bloßen „Isolierung“ (insulating) rechtlicher Ergebnisse gegenüber den Effekten eingeschränkter Rationalität, etwa durch das Verbot be360
Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 126 f. Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 128 f. mit Fn. 61; ausführlich zu diesen Verfahren dies., in: Engel et al. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 189 ff. 362 Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 137 f. 363 Van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 128 f. 364 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199 ff. 361
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
229
stimmter Rechtsgeschäfte für bestimmte Personen, vorzuziehen. Das debiasing through law setzt bereits bei dem rational defizitären Verhalten selbst an, indem es das Entscheidungsumfeld derart umstrukturiert, dass sich die Wahrnehmung des Entscheidungsproblems ändert, und so dem Entscheider hilft, das Auftreten rational defizitären Verhaltens zu reduzieren oder zu eliminieren.365 In geeigneten Fällen könne etwa das Problem des Überoptimismus durch eine Präsentation von Risiken bekämpft werden, welche die Verfügbarkeitsheuristik anspricht und so die Aufmerksamkeit des Entscheiders stärker auf die Risiken seiner Entscheidung lenkt. Das debiasing through law sei in vielen Situationen mithin eine direktere und effektivere Antwort auf rational defizitäres Verhalten als der Schutz vor den Konsequenzen der (unverändert) defizitären Entscheidung durch insulating.366 Da es die Entscheidungsfreiheit des Individuums weitestgehend unberührt lasse, sei seine Eingriffsintensität zudem wesentlich geringer.367 Positive Folge der weitgehenden Respektierung der individuellen Entscheidung sei überdies, dass die Kosten einer solchen Regelungsstrategie für rationale Entscheider eher gering seien.368 Dabei betonen Jolls und Sunstein, dass ein debiasing through law nur zur Bekämpfung solcher Verhaltensanomalien in Betracht komme, die einer Debiasing-Strategie überhaupt zugänglich sind.369 Auch könne eine solche Regelungsstrategie in bestimmten Fällen neue Wahrnehmungsverzerrungen hervorrufen, die ansonsten rational handelnde Entscheider negativ beeinflussen würden.370 Ganz allgemein komme es auf die Situation an, ob sich eine Debiasing- oder eine Insulating-Regelungsstrategie empfehle oder gar grundsätzlich von einer Regelung Abstand zu nehmen sei.371 So sei eine paternalistische Intervention jedweder Art dort nicht angezeigt, wo sich die Effekte verschiedener Verhaltensanomalien ganz ohne regulatorischen Eingriff gegenseitig aufheben.372 2.7 Rechtspaternalistisches Effizienzkalkül bei irrationalem Optimismus (Williams) Eine Zusammenführung und Operationalisierung der verhaltensökonomisch fundierten Paternalismuskonzepte U.S.-amerikanischer Provenienz, namentlich des libertären, wie des asymmetrischen Paternalismus sowie des debiasing through law373, unternimmt Sean Williams für das von ihm so genannte Phäno365 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 200, 208, 211 f.: Es gehe also nicht darum Anreize für eine sorgfältigere Entscheidung zu setzen. 366 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 225. 367 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 202, 225. 368 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 202, 226 und 230 unter Verweis auf das Konzept des asymmetrischen Paternalismus. S. dazu oben unter § 5 VI.2.2. 369 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 206 f. m.w.N. 370 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 229. 371 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 225 f. 372 Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199, 227. 373 S. dazu soeben unter § 5 VI.2.1, § 5 VI.2.2 und § 5 VI.2.6.
230
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
men der „sticky expectations“.374 Hiermit meint er überoptimistische Erwartungen, von negativen Ereignissen nicht betroffen oder zumindest rechtlich vor ihnen geschützt zu sein, die sich trotz hinreichend verfügbarer Informationen über die tatsächliche Lage als äußerst beharrlich („sticky“) erweisen.375 Dieses Phänomen schreibt Williams verschiedenen Verhaltensanomalien zu, namentlich irrationalem Überoptimismus als Folge von Überdurchschnittlichkeitseffekt (aboveaverage effect), Selbstüberschätzung (overconfidence) und selbstdienlicher Wahrnehmung (self-serving bias).376 Mit diesen irrigen Erwartungen sind erhebliche Kosten verbunden. Williams identifiziert zunächst und vor allem die Kosten der Unterversicherung gegen negative Ereignisse, aber auch emotionale Kosten aufgrund der Frustration überoptimistischer Prognosen. Sind die betroffenen Akteure zusätzlich noch verlustavers377 und stemmen sich durch riskantes Prozessieren gegen die Realisierung der unerwarteten Verluste, kommen zusätzliche Kosten hinzu.378 Für die passende rechtspolitische Antwort auf dieses Phänomen stellt Williams eine Kosten-Nutzen-Analyse an, die ihren gedanklichen Ausgangspunkt bei der für das Unfallrecht erdachten Formel Guido Calabresis nimmt, wonach „the principal function of accident law is to reduce the sum of the costs of accidents and the costs of avoiding accidents“379. Übertragen auf „sticky expectations“ richtet sich dieser Calabresi’sche Ansatz auf die Minimierung der Summe zweier Kostenpositionen: die beschriebenen Kosten der unrealistischen Erwartungen einerseits und die Kosten einer rechtspaternalistischen Intervention zur Eindämmung dieser Erwartungen oder der hieraus entstehenden negativen Folgen andererseits.380 Als mögliche rechtspolitische Strategien zur Erreichung dieses Ziels identifiziert Williams drei verschiedene Ansätze: Eine rechtliche Intervention kann danach erstens das Ziel verfolgen, die irrigen Erwartungen selbst zu verändern (sog. Debiasing-Strategie) oder zweitens zumindest die entstehenden Kosten der irrigen Erwartungen zu reduzieren (sog. Insulating-Strategie).381 Als dritte Möglichkeit bleibt schließlich der Verzicht auf eine rechtliche Intervention. Die Wahl zwischen diesen drei Optionen hängt nun davon ab, ob überhaupt geeignete, d.h. kostenreduzierende Debiasing- oder Insulating-Instrumente zur Verfügung stehen, und wenn ja, wie groß die Kosten der irrationalen Erwartungen sowie diejenigen der rechtlichen Intervention sind.382 374
Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733 ff. Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733. 376 Dazu Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 742 ff., s. ferner ausführlich oben unter § 5II.1.3.5. 377 Allgemein zum Phänomen der Verlustaversion s. oben unter § 5 II.3.1. 378 Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 735. 379 Calabresi, The Costs of Accidents, 1970, S. 26. 380 Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 747 und ff. 381 Die englischen Begriffe des debiasing und des insulating entlehnt Williams dem Beitrag von Jolls/Sunstein, J. Legal Stud. 35 (2006), 199 ff. S. dazu soeben unter § 5 VI.2.6. 382 Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 747 f. 375
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
231
Im Weiteren konzentriert sich Williams auf die Kosten-Nutzen-Analyse eines debiasing.383 Als mögliche Debiasing-Strategien, die eine realistische Erwartungshaltung herbeiführen sollen, unterscheidet er die Aufklärungs- bzw. Informationsstrategie (information disclosure), die den Adressaten mit zutreffenden Daten versorgt und ihn zur kritischen Auseinandersetzung mit seinen Erwartungen motiviert, und die Instrumentalisierung gegenläufiger Wahrnehmungsverzerrungen (biases), die überoptimistische Annahmen reduzieren, bestenfalls neutralisieren sollen. Während der Nutzen der Informationsstrategie je nach kognitivem Defekt eher bescheiden sei384, lägen die Kosten der Instrumentalisierung gegenläufiger biases häufig hoch, weil deren Feinsteuerung sehr aufwändig sei. Gelinge diese Feinsteuerung nicht, könne es zu einem überschießenden Effekt kommen, so dass die Adressaten der Maßnahme das Risiko negativer Ereignisse nicht mehr unter-, sondern überschätzen. Die „Medizin“ der Intervention sei dann möglicherweise schlimmer, d.h. mit höheren Kosten verbunden, als die „Krankheit“ der überoptimistischen Erwartung.385 Grundsätzlich gelte, dass die personale und situative Heterogenität des Adressatenkreises ein großes Kostenpotential von Debiasing-Strategien begründe. Für die von ihm untersuchte Anomalie überoptimistischer Erwartungen aufgrund des Überdurchschnittlichkeitseffekts oder selbstdienlicher Wahrnehmung seien bislang keinerlei persönliche Wesenszüge identifiziert worden, die eine sachgerechte Differenzierung des Adressatenkreises ermöglichten.386 Größeren Erfolg verspreche daher eine situative Differenzierung, um der Heterogenität des Adressatenkreises Rechnung zu tragen.387 Das von Colin Camerer und anderen entworfene Konzept des asymmetrischen Paternalismus388 sei allerdings geeignet, auch bei nur beschränktem Kenntnisstand des Rechtsetzers eine Kosten-Nutzen-optimierte Regulierung heterogener Adressatenkreise herbeizuführen. Nach der von Camerer et al. verwandten Formel wohlfahrtsmaximierenden Paternalismus ist eine Intervention kosteneffizient, wenn (pB) – (1 – p)C – I > 0, wobei p dem Anteil nicht rationaler Akteure entspricht, B dem Nutzen der Intervention für diese Akteure, C den Kosten der Intervention für rationale Akteure und I den allgemeinen Implementierungskosten der paternalistischen Regelung.389 Die Frage ist danach, ob der Nutzen der Intervention (pB) die Summe aus direkten Implementierungskosten (I) und „Kollateralkosten“ für rationale Entscheider ((1 – p)C) übersteigt.390 383
Vgl. Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 748. Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 748 ff. 385 Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 751 ff. Als möglichen gegenläufigen Mechanismus nennt er die Verfügbarkeitsheuristik [s. dazu oben unter § 5 II.1.3.1]. 386 Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 753 ff. 387 Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 755 ff. 388 S. dazu oben unter § 5 VI.2.2. 389 Camerer et al., U. Pa. L. Rev. 151 (2003), 1211, 1219. 390 Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 756 in Fn. 139: „This formula assumes that any legal intervention will have only positive effects for the biased population. This Article does not make this assumption, and instead considers the possibility that an intervention will be a mixed blessing even for the people it is intended to benefit.“ 384
232
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
Während Camerer et al. zeigen wollten, dass eine Intervention auch bei Unkenntnis über den Anteil irrationaler Entscheider (p) gerechtfertigt sein kann, wenn nur der Nutzen für diese (B) hinreichend groß und die Kosten für die rationalen Akteure (C) hinreichend klein ist,391 ergebe sich aus der genannten Kosten-Nutzen-Rechnung bei einem bekannt hohen Anteil irrationaler Entscheider eine Rechtfertigung selbst für solche Maßnahmen, deren Kosten C den Nutzen B übersteigen. Der Rekurs auf die Wohlfahrtsmaximierung bzw. den Kosten-Nutzen-Saldo einer paternalistischen Intervention könne mit anderen Worten auch deutlich eingriffsintensivere als asymmetrisch paternalistische Maßnahmen legitimieren.392 An diese Überlegung anknüpfend und unter Verweis auf die Kosten des debiasing bei (Über-)Optimismus wendet sich Williams gegen den vorschnellen Verzicht auf rechtspaternalistische Insulating-Strategien im Vertragsrecht.
3. Kritik am verhaltensökonomisch begründeten „Neuen Paternalismus“ Erwartungsgemäß haben die verhaltensökonomisch begründeten Rechtfertigungsversuche rechtspaternalistischer Intervention Widerspruch erfahren. Insbesondere das wirkmächtige Konzept des libertären Paternalismus von Sunstein und Thaler ist kritisiert worden. Die vorgetragenen Einwände richten sich zum einen gegen die dort behauptete freiheitsfördernde Dimension von Paternalismus. Zum anderen verweist die Kritik auf die hohe Fehleranfälligkeit der paternalistischen Intervention, die zu letztlich nicht mehr hinnehmbar hohen Kosten führe. Zwischen diesen beiden Kritikansätzen ergeben sich freilich gewisse Überschneidungen. 3.1 Zum Verhältnis von Libertarismus und Paternalismus (Mitchell) In seiner frühen Gegenschrift „Libertarian Paternalism is an Oxymoron“ erhebt der Jurist Gregory Mitchell drei Einwände gegen das Konzept von Sunstein und Thaler.393 3.1.1 Zur Vermeidbarkeit eines paternalistischen Regelungsrahmens Mitchell wendet sich in seiner Kritik zunächst gegen die Annahme, dass Rechtspaternalismus bzw. – neutraler formuliert – die Einflussnahme auf die Entscheidungsbildung durch Recht dort nicht verhindert werden kann, wo die Präferenzen des Rechtsunterworfenen unklar oder nicht verfestigt sind und des391
Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 757. Williams, Notre Dame L. Rev. 84 (2009), 733, 757. 393 S. zum Folgenden Mitchell, Libertarian Paternalism is an Oxymoron, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245 ff.; s. neuerdings auch den gleichnamigen Beitrag von Veetil, Eur. J. Law Econ. 31 (2011), 321 ff. 392
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
233
halb unweigerlich durch default rules, Framing-Effekte und Referenzpunkte beeinflusst werden.394 Diese von ihm als „choice-framing paternalism“ bezeichnete Annahme sei nämlich insofern irrig, als sie nur dann und solange zu einer unausweichlichen Beeinflussung des Entscheiders durch eine zentrale Regulierung führe, wie er den Einflüssen der kognitiven Defekte und Wahrnehmungsverzerrungen unterliege.395 Die Annahme von Sunstein und Thaler impliziere folglich die Unüberwindlichkeit solcher Framing-Effekte. Diese sei aber durch die empirischen Befunde nicht belegt. Vielmehr gäben die Anhänger eines libertären Paternalismus selbst zu, dass es Entscheidungssituationen gebe, in denen die Präferenzen nicht endogen sind, d.h. durch den Entscheidungsrahmen beeinflusst werden. Eine verlässliche Theorie zur Abgrenzung von Situationen, in denen der Entscheidungsrahmen die Wahl beeinflusst, und solchen, in denen dies nicht geschieht, fehle jedoch. Die (irrige) Annahme eines unausweichlichen „choice-framing paternalism“ verstelle den Blick für vorzugswürdige Debiasing-Strategien, welche die Entscheider zu einer rationalen autonomen Wahl befähigen. Hier sei insbesondere an Maßnahmen für mehr Reflexion und Deliberation, wie die Beratung durch Dritte, zu denken, aber auch an prozedurale Maßnahmen gegen Selbstkontrollprobleme und die unzureichende Berücksichtigung zukünftiger Entwicklungen.396 3.1.2 Paternalismusziele: Selbstbestimmung versus Wohlfahrt Ungeachtet des vorstehenden Einwands gegen die Unausweichlichkeit eines „choice-framing paternalism“ gibt Mitchell zu, dass sich die Setzung einer irgendwie gearteten Ausgangsregelung (default rule) nicht vermeiden lässt397, allerdings folge aus „libertären“ Grundsätzen keineswegs, dass eine paternalistische default rule möglichst wohlfahrtssteigernd sein sollte. Vielmehr fordere Libertarismus (libertarianism) eine möglichst freiheitsfördernde Default-Regel. In den Augen des überzeugten Libertaristen könnten die empirischen Belege irrationalen Entscheidungsverhaltens nur zwei Arten der paternalistischen Intervention rechtfertigen: (1) die Intervention zur Verbesserung der Entscheidungskompetenz durch Debiasing-Strategien und (2), falls ein debiasing nicht möglich ist, die Verhinderung freiheitsbeschränkender irrationaler Entscheidungen. Sunstein und Thaler propagierten demgegenüber institutionelle und vertragliche Designs, die für irrationale Akteure zu einer Wohlfahrtssteigerung und nicht etwa zu einer Maximierung künftiger Freiheit führen, während sie rationalen Entscheidern die 394
S. dazu oben unter § 5 II.3.1. S. Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1250 f.: „The logical implication of the claim that normatively irrelevant features of the choice setting influence preferences is not the inevitability of paternalism but rather the inevitability of manipulation of choices by central planners so long as individuals remain subject to these irrational influences.“ (Hervorhebung im Original); zust. etwa Wright/Ginsburg, Nw. U. L. Rev. 106 (2012), 1033, 1062. 396 Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1255 ff. 397 Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1250, 1259 unter Verweis auf Charny, Mich. L. Rev. 89 (1991), 1815, 1819 f. 395
234
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
freie Wahl beließen.398 Ein wahrhaft libertärer Paternalismus müsse jedoch die Default-Regel so setzen, dass sie den irrationalen Entscheider in seiner Freiheit am wenigsten einschränke, während dem rationalen Entscheider ein opting out und damit eine größere Freiheitseinschränkung freistehe.399 Auch ein so verstandener Paternalismus müsste freilich schwierige Abwägungen, nämlich zwischen gegenwärtiger und künftiger Freiheit, vornehmen. Die Ausrichtung paternalistischer Intervention an individueller Freiheit anstelle individueller Wohlfahrt vermeide allerdings die Schwierigkeiten, die sich aus der Unmöglichkeit intersubjektiver Nutzenvergleiche ergebe400. Während die Annahme eines irgendwie gearteten objektiven Nutzenmaßstabs notwendig der Nutzenfunktion einer Teilmenge der Regelungsadressaten widersprechen wird401, diesen vielmehr den Nutzenmaßstab des Intervenienten aufdränge, könne sich ein freiheitlicher Paternalismus darauf zurückziehen, dem Individuum die Freiheit zu belassen, seinen eigenen Wohlfahrtsvorstellungen gemäß zu entscheiden, um dann mit den Konsequenzen zu leben.402 3.1.3 Die redistributiven Konsequenzen des „libertären Paternalismus“ Schließlich wendet Mitchell gegen Sunstein und Thaler ein, dass sie keine Rechtfertigung für die Umverteilungseffekte ihres Konzepts eines libertären Paternalismus liefern. Eine solche Umverteilung von rationalen zu irrationalen Akteuren finde durch eine paternalistische Intervention immer dann statt, wenn die Ressourcen in dem geregelten Bereich beschränkt sind und die Kosten der Wohlfahrtssteigerung auf Seiten der irrationalen Akteure nicht externalisiert werden können. Dann tragen notwendigerweise die rationalen Akteure die anfallenden Kosten. Führe eine paternalistische Intervention etwa dazu, dass mehr Menschen in eine betriebliche Altersvorsorge investieren, erhöhe sich aber der Arbeitgeberbeitrag insgesamt nicht, dann erhielten die schon bisher einzahlenden (rationalen) Arbeitnehmer einen geringeren Arbeitgeberzuschuss. Ein überzeugter Libertarist – so Mitchell – könne eine solche Umverteilung zumindest dann nicht billigen, wenn sie auf eine zwingende Intervention des Staates zurückzuführen sei.403
398
Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1260 f. Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1262 f., der als Beispiel einer „libertarian default rule“ eine „at-will employment rule“ nennt, d.h. eine grundsätzliche Kündbarkeit von Arbeitsverträgen ohne (wichtigen) Grund. 400 S. zu dieser kardinalen Erkenntnis der Wohlfahrtsökonomie ausführlich oben unter § 4 I.1.1.4.2. 401 Vgl. Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1269, der dies wie folgt veranschaulicht: „Many may agree in the abstract that better health is preferable to worse health, but when the choice is framed as enjoying life-shortening but intensely pleasurable vices during one’s college days versus abstaining during college to gain a couple of extra boring years at an advanced age, then better health may not look quite as good.“ 402 Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1264 ff. 403 Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1274. 399
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
235
3.1.4 Folgerung Nach Mitchell zeigt die angeführte Kritik, dass es Sunstein und Thaler in ihrem Konzept des „libertären Paternalismus“ nicht gelungen sei, die widerstreitenden Konzepte des Libertarismus und des Paternalismus miteinander zu versöhnen. Libertären Prinzipien läge es näher, in erster Linie die Autonomie der Rechtsunterworfenen durch Debiasing-Strategien zu fördern und von einem objektiven Wohlfahrts- oder Nutzenbegriff zur Bewertung der paternalistischen Intervention Abstand zu nehmen. Ungeachtet dessen seien die von Sunstein und Thaler präsentierten Anwendungsbeispiele eines libertären Paternalismus vielfach auch aus Sicht eines Libertaristen von „intuitiver“ Überzeugungskraft.404 3.2 Zu den Kosten des „Neuen Paternalismus“ Viele Kritiker des „neuen“, verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus zweifeln zwar nicht an den empirischen Belegen dafür, dass menschliche Akteure systematischen Entscheidungsfehlern unterliegen und Probleme bei der Selbstkontrolle haben. Gleichwohl lehnen sie die rechtspaternalistische Intervention zur Behebung dieser Entscheidungsdefizite im Ganzen oder doch zumindest in Bezug auf bestimmte Interventionsformen unter Verweis auf die Kosten der Intervention ab.405 Sie halten mit anderen Worten den „Neuen Paternalismus“ für ineffizient, weil seine Kosten den hiermit erzielbaren Nutzen übersteigen. Hierbei nehmen die Gegner eines verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus auf nahezu sämtliche, hier bereits bei der Konzeption eines effizienten Paternalismus dargestellten (potentiellen) Kostenpositionen einer Intervention Bezug.406 3.2.1 Nachteilige Auswirkungen auf das Lernverhalten und die Entwicklung von Entscheidungskompetenz (Klick/Mitchell) Insbesondere Jonathan Klick und Gregory Mitchell bringen das bereits von Wilhelm von Humboldt und John Stuart Mill formulierte Argument407 gegen den verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus in Stellung, nach dem die Einschränkung des selbständigen Entscheidens durch paternalistische Intervention den Menschen in seiner Persönlichkeitsentwicklung, genauer: in der Entwicklung seiner Entscheidungskompetenz behindert.408 Hierbei unterscheiden sie die 404
Mitchell, Nw. U. L. Rev. 99 (2005), 1245, 1276 f. Vgl. Hill, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 444, 449 f.; typisch auch die Einlassung bei Klick/ Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1622 f.: „Yet this renewed faith in better lives through paternalistic governance seems to ignore possible unanticipated effects of such intervention.“ 406 S. zum Kosten-Nutzen-Kalkül eines effizienten Paternalismus ausführlich oben unter § 4 III. 407 S. dazu oben unter § 2 III.2. 408 Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620 ff.; zust. etwa Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411, 429 f.; Wright/Ginsburg, Nw. U. L. Rev. 106 (2012), 1033, 1068 ff., 1072; s. auch Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 955 ff.; ferner Eidenmüller, JZ 2011, 814, 815; 405
236
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
nachteiligen Effekte des moral hazard und des cognitive hazard: Der erstgenannte Effekt beschreibe den Umstand, dass rechtspaternalistische Eingriffe die Motivation der Rechtsunterworfenen verringere, reflektiert und wohlüberlegt zu entscheiden, während der zweitgenannte auftrete, wenn die paternalistische Intervention die Informationssuche, Bildungsinvestitionen und Feedback beeinträchtige, die einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Entscheidungskompetenz der Betroffenen leisten würden.409 Diese negativen Auswirkungen auf das Lernverhalten und die Motivation der Schutzadressaten könne – so Klick und Mitchell – dazu führen, dass die langfristigen Kosten einer paternalistischen Intervention ihren kurzfristigen (Effizienz-)Gewinn übersteigen.410 Aus der Prämisse, dass Individuen durch Bildung und Erziehung, Erfahrung, Versuch und Beobachtung lernen und so ihre Entscheidungskompetenz im Wege eines durch Feedback angetriebenen Selbstregulierungsmechanismus verbessern411, ziehen sie folgende Schlüsse für die (rechts-)paternalistische Intervention: (1) Paternalistische Wahlbeschränkungen verringern die Gelegenheiten zu lernen. (2) Paternalistische Interventionen stören das Feedback-Signal einer Entscheidung, führen also zu mehr „Rauschen“ (noise) in der Lernumgebung und erschweren so das Lernen. (3) Je ausgreifender der paternalistische Schutz, desto größer ist der cognitive hazard der Schutzadressaten. (4) Ex ante-Paternalismus, der bestimmte Entscheidungen von vorneherein ausschließt oder zumindest verteuert, verringert den Anreiz, in „kognitives Kapital“ zu investieren und kognitiven Aufwand zu betreiben, was sich auch jenseits des regulierten Sachverhaltes negativ auswirken kann. (5) Ex post-Paternalismus, der den Entscheider nachträglich vor den negativen Konsequenzen seiner rational defizitären Entscheidung schützt und mithin wie eine Art Versicherung wirkt, setzt einen (positiven) Anreiz, kognitive Anstrengung und Sorgfalt zu verringern.412 Diese negativen Effekte paternalistischer Intervention könnten einen Teufelskreis in Gang setzen, in dem der durch die Intervention verursachte Verlust an Entscheidungskompetenz neue Interventionen provoziere, die wiederum die Entscheidungskompetenz 409 Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, 153 f.; zur Berücksichtigung der Kosten der Vereitelung von Lerneffekten im Rahmen des Interventionskalküls eines effizienten Paternalismus oben unter § 4 III.3.2.4. 409 Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1626. 410 Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1625 und öfter. S. auch ihren Vergleich mit dem Modell von Zamir [dazu oben unter § 4 III.2.5] auf in Fn. 16: „The primary difference between Zamir’s model and our analysis is that we effectively endogenize the magnitude of the cognitive bias under which an individual makes her decisions. That is, while Zamir assumes that the likelihood of an individual choosing correctly is given, we explicitely model the individual’s choice of how much cognitive effort to expend and that effort in turn determines the individual’s likelihood of choosing correctly. In terms of evaluating the ultimate welfare implications of a particular paternalistic intervention, our model implies that the relevant comparison does not just involve comparing which decision maker (individual or paternalist) is more likely to choose correctly as in Zamir’s model; it also involves comparing the cost of improving an individual’s likelihood of choosing correctly with the cost of administering the paternalistic intervention.“ 411 Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1627 ff. 412 Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1633 und 1637.
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
237
weiter verschlechterten: Die paternalistisch motivierte Einschränkung der Vertragsfreiheit führe also wahrscheinlich zu einer Verfestigung und Verstärkung des Bedarfs an paternalistischer Intervention.413 Klick und Mitchell wollen ihre Schlussfolgerungen freilich nicht als zwingendes Argument gegen rechtspaternalistische Interventionen überhaupt verstanden wissen.414 Vielmehr sprechen sich beide für einen Mix aus paternalistischen und kompetenzfördernden (educational) Maßnahmen aus, deren optimale Zusammenstellung von den folgenden Faktoren abhängig sei: (1) dem Effizienzverlust aufgrund der aktuellen Unterinvestition in kognitive Anstrengung und „Fortbildung“; (2) dem hieraus folgenden kapitalisierten Verlust künftiger Gewinne; (3) den Kosten privater Anstrengung zur Verbesserung der Entscheidungskompetenz sowie den Kosten öffentlicher Förderung; (4) den aus der Begrenzung fehlerhafter Entscheidungen resultierenden Effizienzgewinnen; (5) den Effizienzverlusten, die daraus resultieren, dass die paternalistische Intervention aufgrund der Heterogenität des Adressatenkreises teilweise fehlgeht; (6) den Wohlfahrtsgewinnen, die sich daraus ergeben, dass die Ausbeutung von Rationalitätsdefiziten durch die Marktgegenseite eingedämmt wird; (7) den Rechtsimplementierungs- und -anwendungskosten (Administrativkosten).415 3.2.2 Das Wissensproblem des „Neuen Paternalismus“ (Rizzo/Whitman) Die Ökonomen Mario J. Rizzo und Douglas Glen Whitman bestreiten in ihrer Fundamentalkritik an einem verhaltensökonomisch begründeten „Neuen Paternalismus“, die praktische Umsetzbarkeit eines den wahren Präferenzen des Schutzadressaten entsprechenden, wohlfahrtssteigernden Rechtspaternalismus.416 Ihre Begründung stützt sich auf ein Argument Hayeks gegen die zentrale Planwirtschaft sozialistischer Prägung417: Um sein Ziel zu erreichen, benötige der (rechts-)paternalistische Intervenient (policymaker) alle relevanten Informationen über die wahren Präferenzen des Schutzadressaten, die kognitiven Verzerrungen, denen dieser unterliegt, und den Entscheidungskontext, in dem sich diese Verzerrungen manifestieren. Zu diesem Wissen fehle dem Paternalisten aber schlicht der Zugang, da es kontextspezifisch und – zumindest nicht ohne Weiteres – anderen als den jeweils betroffenen Individuen (teils nicht einmal diesen) zugänglich sei.418 Dieses – aus ihrer Sicht unüberwindliche – Wissensprob413
S. dazu ausführlicher Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1638 ff. unter der Überschrift „The Autogenetic Effects of Paternalism“; ferner Ogus, in Hopt et al. (eds.), Corporate Governance in Context, 2005, S. 303, 311: „Paternalism may prevent individuals learning from the consequences of their own decisions, pushing them into a vicious circle where they become more and more dependent on governments.“ 414 S. Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1637 und öfter. 415 Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1653 ff. 416 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905 ff. 417 Vgl. Hayek, Am. Econ. Rev. 35 (1945), 519, 521 ff.; maßgeblich auf Hayek beruft sich auch Veetil, Eur. J. Law Econ. 31 (2011), 321 ff. in seiner Kritik am „Neuen Paternalismus“. 418 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 909 f.; vgl. zu diesem Argument auch Eidenmüller, JZ 2011, 814, 815.
238
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
lem419 des auf die Adressatenwohlfahrt ausgerichteten Paternalismus fächern sie in folgende Einzelaspekte auf: Ein Kernproblem stelle bereits die Bestimmung der „wahren“ Präferenzen des Schutzadressaten durch den paternalistischen Intervenienten dar. Diese werde keineswegs dadurch erleichtert, dass der Schutzadressat selbst häufig Schwierigkeiten habe, seine Präferenzen zu ermitteln. Die Manifestation inkonsistenter Präferenzen im Entscheidungsverhalten eines Akteurs, gebe noch keinen Anhalt dafür, ob eine der manifestierten Präferenzen – und bejahendenfalls welche – die „wahre“ sei.420 Kennte der Paternalist gleichwohl die „wahren“ Präferenzen des Schutzadressaten, benötigte er des Weiteren Informationen über das Ausmaß der Wahrnehmungsverzerrungen und Defekte bei der Entscheidungsfindung, um eine übermäßige, dann wohlfahrtsmindernde Intervention zu vermeiden. Das Ausmaß der biases variiere aber selbst bei ein und demselben Entscheider in Abhängigkeit von der Entscheidungssituation.421 Darüber hinaus habe der paternalistische Intervenient für die Konzeption seiner Schutzmaßnahmen die in ihrer Stärke individuell unterschiedliche und ebenfalls kontextabhängige Fähigkeit zur Selbstkorrektur („self-debiasing“) der Schutzadressaten ebenso zu berücksichtigen422, wie die Wechselwirkungen gleichzeitig auftretender biases423. Ferner seien die Kosten zu ermitteln, die sich aus der abnehmenden Selbstdisziplinierung des auf paternalistischen Schutz vertrauenden Akteurs ergäben.424 All diese Daten variierten nicht nur situativ, sondern auch von Person zu Person.425 Diese multidimensionale Heterogenität führe – so Rizzo und Whitman – zu hohen Kosten eines „One-sizefits-all“-Paternalismus, der letztlich für sich nicht mehr in Anspruch nehmen könne, an den eigenen Präferenzen der Schutzadressaten ausgerichtet zu sein.426 Auch verstärkte Anstrengungen der Informationsgewinnung könnten diesen mannigfaltigen Problemen nicht abhelfen, da die notwendigen Informationen 419 Zur Berücksichtigung der hiermit verbundenen Kosten im Rahmen des Interventionskalküls eines effizienten Paternalismus s. oben unter § 4III.3.2.5.1. 420 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 922 und ff. mit Beispielen; zust. Wright/Ginsburg, Nw. U. L. Rev. 106 (2012), 1033, 1065 f.; vgl. dazu auch Hill, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 444, 448: „The anti-anti-paternalists are surely right that because people are influenced by presentation – by a frame – we cannot say with certainty that what people choose is what they really want. But we cannot then purport to know what they really want and say it is consistent with libertarianism for the government to frame choices so as to get people to do what they really want.“ 421 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 932 ff., 941. 422 Vgl. Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 943 ff. 423 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 951: „The simultaneous existence of more than one bias affecting the individual’s cognition or behaviour poses a difficult problem for policy choices grounded in new paternalism. […S]ince we have good reason to believe that simultaneous biases are likely, merely finding a bias that is significant both statistically and in size is not sufficient to conclude that the associated behaviour is suboptimal.“; ferner Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411, 427; jew. unter Verweis auf Besharov, S. Econ. J. 71 (2004), 12 ff. 424 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 955 ff. 425 Vgl. nur die zahlreichen, bei Mitchell, Geo L.J. 91 (2002), 67, 83 ff. nachgewiesenen Studien. 426 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 960 ff., 964 ff.
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
239
dem Paternalisten prinzipiell unzugänglich seien, weil kontextgebunden und nur schwer kommunizierbar („local and tacit“).427 Den möglichen Einwand, dass die von ihnen aufgeführten Informationen nicht in ihrer Gesamtheit notwendig seien, um einen an der Wohlfahrt des Schutzadressaten orientierten Rechtspaternalismus praktisch umzusetzen, wollen Rizzo und Whitman ebenfalls nicht gelten lassen. Auch eine marginale Wohlfahrtsverbesserung gegenüber dem status quo lasse sich allein mit dem Wissen um den typischen Fall oder eine generelle Tendenz aufgrund der Heterogenität der Schutzadressaten nicht erreichen.428 Aufgrund des beschriebenen Mangels an Informationen über die wahren Präferenzen der Schutzadressaten, so die Befürchtung von Rizzo und Whitman, greife der paternalistische Intervenient auf die eigenen oder sozial akzeptierte Präferenzen zurück. Damit aber verwandle sich der verhaltensökonomisch begründete „Neue Paternalismus“ in der praktischen Anwendung in den klassischen Paternalismus herkömmlicher Prägung.429 3.2.3 Rationalitätsdefizite des paternalistischen Intervenienten Die Kritiker eines verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus weisen zudem auf den bereits bei der Konzeption eines effizienten Paternalismus angesprochenen Umstand hin, dass die rechtspaternalistischen Intervenienten, also der Gesetzgeber oder die Richter, ihrerseits Rationalitätsdefiziten unterliegen können und daher vor systematischen Entscheidungsfehlern nicht gefeit sind.430 Einige von ihnen gehen sogar soweit zu behaupten, dass Angehörige der Legislative, Richter und sonstige Rechtsanwender (bureaucrats) sogar stärker von entscheidungserheblichen Rationalitätsdefiziten betroffen seien als private Akteure, die in ihren eigenen Angelegenheiten entscheiden. Denn es sei nicht nur naiv zu glauben, dass Gesetzgeber, Richter und Bürokraten für ihre Entscheidung umfangreiche Berechnungen durchführten, sämtliche relevante Information sammelten und irrelevante Information ignorierten. Sie hätten auch deutlich geringere Anreize, gegen ihre Rationalitätsdefizite vorzugehen und sie zu korrigieren als private Entscheider, da sie die Konsequenzen der Intervention nicht selbst träfen.431
427 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 966 f.: „Even if it is granted that an individual has ‘true’ preferences, the paternalists have not yet enunciated a clear means of determining which preferences are true. The true preferences, by their very nature, exist only within an individual’s brain and, as the new paternalists themselves insist, they are not straightforwardly revealed by choice.“ 428 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 967. 429 Rizzo/Whitman, BYU L. Rev. 2009, 905, 968. 430 S. zu diesem Punkt bereits oben unter § 4 III.3.2.5.2 m.N. 431 Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411, 442 f. unter Verweis auf Caplan, Kyklos 54 (2001), 3 ff.; s. ferner Glaeser, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 133 ff., insb. 144 f.; Wright/Ginsburg, Nw. U. L. Rev. 106 (2012), 1033, 1063 ff.; Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 149 f.
240
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
3.2.4 Public Choice und „Neuer Paternalismus“ Dieses Misstrauen gegenüber dem Gesetzgeber zeigt sich auch in der Einschätzung allfälliger Missbrauchsgefahren432 seitens der Gegner eines „Neuen Paternalismus“. Unter Bezugnahme auf das Gedankengut der Public Choice-Theorie verweisen sie darauf, dass der Gesetzgeber mit seiner Intervention möglicherweise nur vorgeblich das Wohl der Schutzadressaten im Auge habe, tatsächlich aber seine eigene politische Agenda verfolge oder aber der Einflussnahme durch wirkmächtige Interessengruppen nachgegeben habe.433 Für diese Interessengruppen sei es aber einfacher und insgesamt kostengünstiger eine vergleichsweise geringe Zahl von Parlamentsabgeordneten zu beeinflussen als die weitaus größere Menge der von der gesetzgeberischen Intervention Betroffenen.434 3.2.5 Negative Dynamik des „Neuen Paternalismus“ Die Anfälligkeit des paternalistisch motivierten Intervenienten für fehlgehende und/oder ineffiziente Maßnahmen aufgrund mangelnder Information, rationaler Defizite oder sachwidriger Einflussnahme von Interessengruppen dient den Kritikern eines verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus zusammen mit dem Hinweis auf die Selbstgenerierung neuen Regelungsbedarfs durch paternalistische Intervention435 als Grundlage für ihr sog. „Slippery slope“-Argument.436 Sie zeichnen hiermit das Menetekel eines freiheitsfeindlichen Interventionismus an die Wand, auf den der „Neue Paternalismus“ in seiner Eigendynamik zusteuere. Veetil versteigt sich gar zu der Aussage, dass eine konsequente Anwendung des „Neuen Paternalismus“ in die Sklaverei führe.437 Diese Gefahr bestehe im Falle des „Neuen Paternalismus“ deshalb, weil er auf theoretisch vagen Modellen beruhe, deren Unschärfe sich gerade bei einem Mangel an unmittelbar einschlägigen empirischen Befunden negativ auswirke. Der ebenfalls nur mit begrenzten kognitiven Fähigkeiten ausgestattete paternalistische Intervenient werde daher auf fehleranfällige heuristische Bewertungs- und Entscheidungsmethoden zurückgreifen, die schlechtestenfalls zu einer Aneinan432
S. auch dazu bereits oben unter § 4 III.3.2.5.3. S. bereits Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1173; ferner Saint-Paul, The Tyranny of Utility, 2011, S. 149; Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411, 417; Wright/Ginsburg, Nw. U. L. Rev. 106 (2012), 1033, 1066; sowie den knappen Hinweis bei Ogus, Costs and Cautionary Tales, 2006, S. 240. 434 Glaeser, U. Chi. L. Rev. 73 (2006), 133, 145 ff. 435 S. dazu oben unter § 5 VI.3.2.1. 436 Ausführlich Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411 ff., dort auch auf S. 412 mit folgender Definition: „A slippery slope argument is one suggesting that a proposed policy or course of action that might appear desirable now, when taken in isolation, is in fact undesirable (or less desirable) because it increases the likelihood of undesirable policies being adopted in the future.“; ferner Wright/Ginsburg, Nw. U. L. Rev. 106 (2012), 1033, 1075 ff.; s. zu diesem Argument bereits knapp oben unter § 4 III.3.2.5.3. Allgemein zu den Funktionsbedingungen der „Slippery slope“-Dynamik Volokh, Harv. L. Rev. 116 (2003), 1026 ff. 437 Veetil, Eur. J. Law Econ. 31 (2011), 320: „A consistent application of libertarian paternalism is the ‘road to serfdom’.“ 433
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
241
derreihung immer weiter ausgreifender Analogieschlüsse zugunsten einer paternalistischen Intervention führe.438
4. Bewertung der Kritik am „Neuen Paternalismus“ Die Einwände gegen einen verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus sind ernst zu nehmen. Vor einer Integration der verhaltensökonomischen Erkenntnisse in das Konzept eines effizienten Paternalismus ist die vorgebrachte Kritik daher zu prüfen und zu bewerten. 4.1 Individuelle Wohlfahrt, Selbstbestimmung und Paternalismus im Vertragsrecht – Zur Kritik von Mitchell Angesichts der Einlassung von Mitchell zum angeblichen Zielkonflikt von libertärem und wohlfahrtsförderndem Paternalismus439 erscheint es angezeigt, zunächst noch einmal440 das Verhältnis von Effizienzziel und Selbstbestimmung im Rahmen einer paternalistischen Intervention klarzustellen: Die von ihm heraufbeschworene Konfliktlage zwischen Selbstbestimmung und Effizienz441 ergibt sich nämlich nur, wenn man einem „objektiven“, überindividuellen Nutzenbzw. Wohlfahrtsbegriff anhängt, gegen den sich Mitchell zu Recht wendet. Ein Effizienzgewinn lässt sich durch einen paternalistischen Eingriff auf der Grundlage des auch hier vertretenen welfaristischen Wohlfahrtsbegriffs allein durch die Behebung von Störungen der Präferenzformung442 und -verwirklichung beim Schutzadressaten erzielen. Effizienter Paternalismus wendet sich also niemals als „harter“ Paternalismus gegen die (störungsfrei geformten) Präferenzen des privaten Entscheiders, sondern verhilft diesen als „weicher“ Paternalismus vielmehr zur Verwirklichung im Rahmen der regulierten Entscheidung.443 Diese Anknüpfung an die eigenen Präferenzen des Schutzadressaten hat auch das BVerfG in seiner Rspr. zur Vertragskontrolle bei „struktureller Unterlegenheit“ einer Ver438 Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411 ff., insb. 426. Vgl. auch Kennedy, Md. L. Rev. 41 (1982), 563, 582: „The law of freedom of contract claimed to resolve basic issues of distribution and paternalism. Yet these constitutive exceptions refer ultimately to the abstract notion of voluntariliness or freedom which is among the most manipulable and internally contradictory in the legal repertoire.“; sowie Sunstein, U. Chi. L. Rev. 53 (1986), 1129, 1170: „Lurking beneath the surface, however, is a serious risk: […] If the ideas of endogenous preferences and cognitive distortions are carried sufficiently far, it may be impossible to describe a truly autonomous preference.“; hierzu bereits oben unter § 4 III.3.2.5.3. 439 S.o. unter § 5 VI.3.1.2. 440 S. bereits oben unter § 4 III.3.3. 441 Vgl. etwa auch van Aaken, in: Anderheiden et al. (Hrsg.) Paternalismus und Recht, 2006, S. 109, 134 ff. sowie Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411, 421, die Freiheit bzw. Selbstbestimmung einerseits und Effizienz andererseits als gegeneinander abzuwägende Ziele begreifen. 442 Dazu noch ausführlicher sogleich unter § 5 VI.4.2. 443 S. zu den Begriffen des „weichen“ und „harten“ Paternalismus oben unter § 2 IV.2 und öfter.
242
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
tragspartei im Sinn, wenn es als Ziel dieser Kontrolle ausgibt zu verhindern, dass „sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehrt“.444 Insofern ist es daher dem Anhänger eines effizienten Paternalismus ebenso wie nach Mitchell dem überzeugten Libertaristen ein vorrangiges Anliegen, durch die paternalistische Intervention zur Verbesserung der Entscheidungskompetenz des Schutzadressaten beizutragen, so dass dieser selbst eine fehlerfreie, seinen Präferenzen entsprechende Entscheidung treffen kann. Für den Fall, dass ein solches debiasing hin zu einer wahrhaft autonomen Entscheidung nicht möglich ist, soll nach Mitchell aus libertaristischer Perspektive allein noch eine Intervention zulässig sein, die der Verhinderung freiheitsbeschränkender irrationaler Entscheidungen dient. Genau dies ist aber auch das Anliegen des effizienten Paternalismus im Vertragsrecht. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man irrationale, nicht präferenzkonforme Entscheidungen zur vertraglichen Bindung richtigerweise als solche freiheitsbeschränkende irrationale Entscheidungen ansieht. Mitchell ist freilich zuzugeben, dass an der Autonomie des einzelnen Individuums orientierte Paternalismuskonzepte in Widerspruch zu einem an der Wohlfahrtsmaximierung des Aggregats interessierten effizienten Paternalismus geraten können, wo dieser um der Gesamtwohlfahrtsförderung willen eine den Präferenzen des Einzelnen (bzw. seiner „freien Wahl“) im konkreten Fall widersprechende Intervention befürwortet.445 Jedoch handelt es sich hierbei um unweigerliche Folgen jeder typisierenden Regulierung, die nicht per se mit libertärem Gedankengut in Widerspruch steht. 4.2 Einflussnahme auf die Präferenzformung und „Neuer Paternalismus“ Der Kritik von Mitchell ist jedoch insofern zuzustimmen, als er der These der Unausweichlichkeit rechtspaternalistischer Einflussnahme widerspricht.446 Ein solcher choice-framing paternalism ließe sich in der Tat nur dann nicht vermeiden, wenn die Präferenzen der Rechtsunterworfenen immer und unausweichlich eine Funktion der gerade einschlägigen rechtlichen Regelungen wären. Die genannte These impliziert mithin die Unüberwindlichkeit des in der rechtlichen Regelung angelegten Framing-Effekts. Dies kann jedoch nicht überzeugen. Vielmehr gilt mit Hill: „[M]ost cases of preference construction are not about making mistakes.“447 Zu weit geht es hingegen, wenn die Existenz endogener und über die Zeit instabiler Präferenzen dazu herangezogen wird, die Unmöglichkeit eines autono444 BVerfG 103, 89, 100 f.; zu dieser Rspr. bereits oben unter § 3 VI.2.3; klar auch Thüsing, FS Wiedemann 2002, 559, 574: „Verfassungsrechtliche und ökonomische Bahnen laufen oftmals parallel. Es ist auch ökonomisch sinnvoll, beim Eingriff in den Vertrag an der Unfreiheit der Entscheidung im weitesten Sinne festzumachen, sei diese Unfreiheit in Informationsdisparität, intellektuellem Gefälle oder irrationalem Verhalten begründet.“ 445 S. dazu bereits oben unter § 4 III.2.6.4. 446 S. dazu o. unter § 5 VI.3.1.1. 447 Hill, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 444, 451.
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
243
mie- und effizienzfördernden Paternalismus zu begründen.448 Von dem Intervenienten ist allerdings zu verlangen, dass er eine Störung der Präferenzformung identifizieren kann und bei endogenen Präferenzstörungen eine Vorstellung von den „wahren“ Präferenzen des Schutzadressaten hat.449 Erkennt man in der Zeit veränderliche sowie durch die Umstände der Entscheidungssituation beeinflusste Präferenzen an, wird dann nicht selten der Rückgriff auf (temporale) Metapräferenzen bzw. Präferenzen zweiter Ordnung notwendig. Bei der Identifizierung von Störungen der Präferenzformung und weiterführend dann auch bei der Ermittlung der „wahren“ Präferenzen des Entscheiders können aber gerade die Einsichten der Verhaltensökonomik mit ihrer geballten empirischen Evidenz wertvolle Hilfestellung leisten. Bleiben die „wahren“ (Meta-)Präferenzen der Schutzadressaten jedoch unklar, ist eine Intervention in die Vertragsfreiheit nicht deshalb als freiheitsfördernd und effizient gerechtfertigt, weil die erst in der Entscheidungssituation konstruierte Präferenz durch den rechtlichen Rahmen beeinflusst wird.450 Die Steuerung derartiger allein oder maßgeblich vom Rechtsregime abhängiger Präferenzen führt nämlich zu keiner messbaren Wohlfahrtssteigerung. Die Ex ante-Präferenzen des Entscheiders scheiden als Maßstab jedenfalls aus. Die Ex post-Präferenzen aber sind als Produkt der Intervention ebenfalls keine tragfähige Grundlage für einen paternalistischen Eingriff. Denn die Wohlfahrtssteigerung ist daran zu messen, ob die Intervention zum eigenen Nutzen des Schutzadressaten ausschlägt.451 4.3 Zu den Kosten des verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus Die Kritiker eines verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus verweisen zudem auf die Kosten der paternalistischen Intervention. Die von ihnen im Einzelnen in Bezug genommenen Kostenpositionen sind bereits bei der Konzeption eines effizienten Paternalismus berücksichtigt worden.452 Es wird daher auch nicht in Abrede gestellt, dass diese Kosten bei einer verhaltensökonomisch begründeten Intervention entstehen oder zumindest entstehen können. Jedoch erscheinen Zweifel angebracht, ob der Verweis auf diese Kosten die kategorische Ablehnung des „Neuen Paternalismus“ begründen kann. Bei näherem Hinsehen 448
Vgl. beispielhaft Hill, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 444, 451 f.: „[A]nti-anti-paternalists […] are ultimately hard pressed to justify paternalistic intervention either on grounds that it furthers autonomy or on grounds that it improves welfare. The anti-anti-paternalists acknowledge that preferences are constructed. Thus, as an initial matter, it is hard to see how we can say that something that might very well affect the preferences themselves furthers autonomy in choice. […] Welfare, too, can scarcely be deemed to be furthered wihtout a pre-existing sense of what constitutes welfare enhancement.“ 449 S. auch zum Folgenden bereits oben unter § 4 III.3.3. 450 S. auch zum Folgenden wiederum bereits oben unter § 4 III.3.3. 451 Vgl. insofern auch Whitman/Rizzo, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 411, 420–422, insb. 421; Hill, N.Y.U. J.L. & Liberty 2 (2007), 444, 448. 452 S. dazu oben unter § 4 III.3.2.
244
§ 5 Rechtspaternalismus im Lichte der modernen Verhaltensökonomik
zeigt sich denn auch, dass sich viele Kritiker nicht gegen Paternalismus per se wenden, sondern nur gegen besonders kostspielige paternalistische Regulierungsstrategien. Die angesprochenen Kostenpositionen bestimmen mit anderen Worten weniger das „Ob“ als das „Wie“ eines verhaltensökonomisch begründeten Paternalismus. Der Vorrang der kostengünstigeren Intervention ist aber bereits integraler Bestandteil der hier unterbreiteten Konzeption eines effizienten Paternalismus.453 Dies vorausgeschickt soll kurz im Lichte der dargestellten Kritik zu den einzelnen Kostenpositionen Stellung genommen werden. 4.3.1 Kosten ausbleibender Lernerfolge Klick, Mitchell und andere lenken die Aufmerksamkeit zu Recht auf die Kosten ausbleibender Lernerfolge aufgrund paternalistischer Intervention. Man wird in der Tat „aus Schaden klug“ und verwendet mehr Sorgfalt auf eine Entscheidung, wenn Entscheidungsfehler empfindliche Konsequenzen nach sich ziehen können. Die Schlussfolgerung, dass in zahlreichen Fällen „individual and situational variation in irrational tendencies will […] make debiasing interventions, or no intervention at all, more efficient than paternalistic interventions“454, ist freilich nur ein Teil der Wahrheit. Denn ebenso gibt es zahlreiche Situationen, in denen die Kosten ausbleibender Lernerfolge keine oder doch eine vernachlässigenswerte Rolle spielen. Hierher gehören etwa diejenigen Fälle, in denen der zur fehlerhaften Entscheidung führende psychische Mechanismus lernresistent ist oder die nachteiligen Folgen zu gering sind, um einen nachhaltigen Lernprozess in Gang zu setzen. Allgemein gilt, dass die Bedeutung der Kosten ausbleibender Lernerfolge stark von der konkreten Entscheidungssituation abhängt. Maßgebliche Faktoren sind insbesondere die Häufigkeit ihres Auftretens (und damit die Nachhaltigkeit eines den Lernprozess anstoßenden Feedback-Signals) sowie die nachteiligen Konsequenzen der fehlerhaften Entscheidung. Manche dieser Konsequenzen sind nämlich zu gravierend, um den Betroffenen darauf zu verweisen, es beim nächsten Mal besser zu machen.455 Ein solcher, entsprechend dem Effizienzkalkül differenzierender Ansatz entspricht letztlich auch dem Standpunkt von Klick und Mitchell.456 Die von ihnen den paternalistischen Maßnahmen gegenübergestellten „educational measures“ gehören nach hiesiger Diktion bereits zu den weich paternalistischen Wahlhilfen, jedenfalls sofern sie sich auf eine konkrete Vertragsschlusssituation beziehen und nicht allgemeine Fortbildungsmaßnahmen betreffen. Sie sind nach dem Primat der kostengünstigeren Intervention 453
S.o. unter § 4 III.3.4. Klick/Mitchell, Minn. L. Rev. 90 (2006), 1620, 1625 f. 455 S. dazu bereits oben unter § 4 III.3.2.4. 456 S. dazu noch einmal oben unter § 5 VI.3.2.1; in diesem Sinne wohl auch Eidenmüller, JZ 2005, 216, 223; vgl. ferner unter Verweis auf w.N. Bechtold, Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts, 2010, S. 271: „Ohne den Nachweis, dass in einer spezifischen Situation Marktteilnehmer die effektive Möglichkeit haben, Verhaltensabweichungen selbständig zu verringern, kann der pauschale Hinweis auf Lernstrategien nicht überzeugen.“ 454
VI. Implikationen der Verhaltensökonomik für die Paternalismusdebatte
245
bei entsprechender Eignung regelmäßig paternalistischen Wahlbeschränkungen vorzuziehen. 4.3.2 Noch einmal: Zum Wissensproblem des Intervenienten Der paternalistisch motivierte Intervenient, der darum bemüht ist, präferenzkonforme Entscheidungen der Schutzadressaten sicherzustellen oder doch zumindest zu befördern, steht vor der Schwierigkeit, dass es sich bei den maßgeblichen Präferenzen der Schutzadressaten um innere, individuell verschiedene Zustände handelt.457 Anders als Rizzo und Whitman meinen, versetzt diese Schwierigkeit dem Rechtspaternalismus „neuer“ Prägung noch nicht den Todesstoß.458 Was zunächst die Ermittlung der „wahren“ Präferenzen betrifft, so ist dies angesichts der Möglichkeit endogener und zeitlich inkonsistenter Präferenzbildung sicher sehr schwierig. Letztlich müssen hierfür Metapräferenzen herangezogen werden, für deren konkrete Annahme zumindest eine hohe Plausibilität vorauszusetzen ist.459 Häufig wird es aber bereits ausreichen, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine bestimmte (potentielle) Störung der Präferenzformung oder -betätigung identifizieren zu können. Dies kann bereits die Bereitstellung weich paternalistischer Wahlhilfen rechtfertigen, bei hinreichend gravierenden Konsequenzen aber auch die Wahlbeschränkung. Der Heterogenität von Schutzadressaten und Entscheidungssituationen ist durch eine entsprechend differenzierte Regelung Rechnung zu tragen. Allgemein gilt, dass die Annahmen des Intervenienten keineswegs zu hundert Prozent sicher sein müssen, um eine Intervention zu rechtfertigen. Vielmehr muss es genügen, wenn der Intervenient seine Annahmen aufgrund wohlbegründeter und möglichst empirisch untermauerter Wahrscheinlichkeitseinschätzungen bildet. Dem Juristen wird auch i