Die Markierung des Genitiv(s) im Deutschen: Empirie und theoretische Implikationen von morphologischer Variation 9783110557442, 9783110555301

The genitive marker -s of strong masculine and neuter nouns is sometimes omitted in German (e.g. des Tsunami/Tsunamis).

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Die Markierung des Genitiv(s) im Deutschen: Empirie und theoretische Implikationen von morphologischer Variation
 9783110557442, 9783110555301

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1 .Einleitung
2. Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation
3 .Competing Motivations
4. Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen
5. Theoretische Implikationen
Anhang
Quellen- und Literaturverzeichnis
Index

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Christian Zimmer Die Markierung des Genitiv(s) im Deutschen

Reihe Germanistische Linguistik

Herausgegeben von Mechthild Habermann und Heiko Hausendorf Wissenschaftlicher Beirat Karin Donhauser (Berlin), Stephan Elspaß (Salzburg), Helmuth Feilke (Gießen), Jürg Fleischer (Marburg), Stephan Habscheid (Siegen), Rüdiger Harnisch (Passau)

315

Christian Zimmer

Die Markierung des Genitiv(s) im Deutschen Empirie und theoretische Implikationen von morphologischer Variation

Reihe Germanistische Linguistik Begründet und fortgeführt von Helmut Henne, Horst Sitta und Herbert Ernst Wiegand Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft

ISBN 978-3-11-055530-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-055744-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-055548-6 ISSN 0344-6778 Library of Congress has cataloged this record under LCCN: 2018017818. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Beim Verfassen dieser Arbeit, die 2016 an der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen wurde, habe ich vielfältige Unterstützung erfahren, für die ich mich herzlich bedanken möchte. An erster Stelle ist Horst Simon zu nennen, der für mich der ideale Betreuer war und von dem ich mir vieles abgeschaut habe. Die Art und Weise, wie ich über Sprache denke, hat auch meine Zweitbetreuerin Damaris Nübling nachhaltig geprägt – was gut an den (in Berlin so genannten) Mainzer Pfeilen zu erkennen ist (s. z.B. S. 128). Wie so viele andere hat sie auch mich mit ihrer Begeisterung für die Sprachwissenschaft angesteckt. Für finanzielle Unterstützung und ideelle Förderung möchte ich mich bei der Studienstiftung des deutschen Volkes bedanken sowie bei der Ernst-Reuter-Gesellschaft für einen Druckkostenzuschuss für die Publikation dieses Buches sowie den Ernst-Reuter-Preis. Ein besonderer Dank gebührt auch Roland Schäfer und Felix Bildhauer, von deren Expertise ich in vielerlei Hinsicht profitiert habe und die mit DECOW eine Ressource geschaffen haben, die für meine Arbeit von zentraler Bedeutung ist. Für eine sehr angenehme Atmosphäre und einen regen wissenschaftlichen Austausch haben an der FU darüber hinaus (unter anderem) auch Edgar Baumgärtner, Susanne Chrambach, Christian Forche, Linda Gennies, Julia Hübner, Matthias Hüning, Jakob Maché, Ferdinand von Mengden, Nina Nikulova, Andreas Pankau, Christine Paul, Barbara Schlücker, Eva Valcheva und Elodie Winckel gesorgt, die allesamt auf unterschiedliche Art und Weise ihren Anteil zu dieser Arbeit beigetragen haben. Wertvolle Kommentare verdanke ich außerdem Antje Dammel, Caroline Döhmer, Corinna Handschuh, Elke Ronneberger-Sibold, Carmen Scherer, Kathleen Schumann, Renata Szczepaniak und Elpida Xanthopoulos. Ausgesprochen dankbar bin ich schließlich auch meinen Eltern Doris und Manfred, auf die ich mich immer verlassen kann; bei Tanja Ackermann bedanke ich mich in besonderer Verbundenheit – nach alter Tradition – für alles. Berlin, im April 2018

https://doi.org/10.1515/9783110557442-201

Christian Zimmer

Inhalt 1  1.1  1.2  1.3 

Einleitung | 1  Thema, Ziel und Methoden | 1  Forschungsstand | 5  Struktur der Arbeit | 12 

2  2.1  2.2  2.3  2.4  2.4.1  2.4.2  2.4.3  2.4.4  2.4.5  2.4.6  2.5 

Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation | 13  Das Korpus: DECOW2012 | 15  Zusammenstellung und Aufarbeitung der Stichproben | 16  Darstellung der eingesetzten statistischen Verfahren | 17  Analyse der Daten | 18  Überblick | 22  Phonologische und morphologische Faktoren | 32  Native Appellative | 37  Umfang der Nominalgruppe | 39  Artikellose Verwendung | 42  Zusammenfassung der Ergebnisse | 47  Exkurs: Genitiv-s-Losigkeit in gesprochenem Deutsch | 50 

3  3.1  3.2  3.3 

Competing Motivations | 53  Zentrum und Peripherie des Lexikons | 53  Morphologische Schemakonstanz | 55  Die systemkonforme saliente Kodierung grammatischer Informationen | 59  Schemakonstanz vs. saliente Kodierung grammatischer Informationen | 67  Die konkurrierenden Motivationen im Sprachvergleich | 70  Psycholinguistische Evidenz | 77  Untersuchungsdesign | 77  Ergebnisse | 84  Diskussion | 91 

3.4  3.5  3.6  3.6.1  3.6.2  3.6.3 

VIII | Inhalt

4  4.1  4.1.1  4.1.2  4.1.3  4.1.4  4.2  4.2.1  4.2.2  4.2.3  4.2.4  4.2.5  4.3  4.3.1  4.3.2 

5  5.1  5.2  5.2.1  5.2.2  5.2.3  5.2.4  5.3  5.3.1  5.3.2  5.3.3  5.3.4  5.3.5 

Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen | 93  Fremdwörter | 93  Die Genitivmarkierung als Gegenstand morphologischer Integration | 98  Die Pluralmarkierung als Gegenstand morphologischer Integration | 116  Morphologische Integration: Genitiv- und Pluralmarker im Vergleich | 126  Aktuell ablaufende Integrationsprozesse | 134  Eigennamen | 137  Mögliche Gründe für den erhöhten Schonungsbedarf von Eigennamen | 140  Fallstudie I: Formseitige Eigenschaften, Frequenz und Vertrautheit | 148  Fallstudie II: Vertrautheit und Frequenz | 157  Fallstudie III: Differenzierungsbedarf und semiotischer Sonderstatus | 167  Resümee der Fallstudien | 171  Kurzwörter | 176  Das flexionsmorphologische Verhalten verschiedener Kurzworttypen | 176  Kurzwörter und das Relevanzprinzip (nach Bybee 1985, 1994) | 185  Theoretische Implikationen | 193  Genitiv-s-Losigkeit und das deutsche Deklinationssystem | 194  Allgemeine Organisationsprinzipien morphologischer Systeme | 203  Der implikative Aufbau von Paradigmen | 203  Das Paradigm Economy Principle | 204  Das No Blur Principle | 209  Zwischenfazit | 215  Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 217  Möglichkeit 1: Nicht in die Systematik integrieren | 221  Möglichkeit 2: Eine eigene Kleinstklasse veranschlagen | 236  Möglichkeit 3: Zuordnung zu Ø|s (Feminina) | 241  Möglichkeit 4: Zuordnung zu s|s | 245  Zusammenfassung der Ergebnisse | 251 

Inhalt | IX

6  6.1  6.2  6.3 

Fazit | 253  Methodologische Aspekte | 253  Die Stabilität des nominalen Kasusmarkers | 256  Theoretische Anknüpfungspunkte und Ausblick | 260 

Anhang | 263  Anhang 1: Self-Paced-Reading-Task | 263  Anhang 2: Akzeptabilitätsstudie | 265  Anhang 3: Die Frequenz von Eigennamen vs. Appellativen | 266  Anhang 4: Die neighborhood density von Eigennamen vs. Appellativen | 271  Anhang 5: Korpus-Studie: Berücksichtigte Zeitungen | 276  Anhang 6: Nichtfeminina, die (auch) nach dem Muster Ø|s flektieren | 279  Anhang 7: Das Paradigm Economy Principle (PEP) | 282  Anhang 8: Das No Blur Principle (NBP) | 283  Anhang 9: Die Typenfrequenz kleiner Deklinationsklassen | 284  Quellen- und Literaturverzeichnis | 291  Index | 305 

1 Einleitung 1.1 Thema, Ziel und Methoden Im Gegenwartsdeutschen werden starke Maskulina und Neutra in der Regel mit -s oder -es im Genitiv Singular verwendet, während Feminina endungslos bleiben. Allerdings gibt es auch zahlreiche Belege für genitiv-s-los verwendete Nichtfeminina. Solche Belege sind nicht auf ein bestimmtes Register, auf mündliche oder schriftliche Kommunikation und auch nicht auf das Gegenwartsdeutsche begrenzt. Die s-losen Substantive in (1) bis (4) veranschaulichen diesen Befund. Aufgeführt sind hier jeweils ein Beleg aus lektorierter Schriftsprache (1), einem Internetforum (2), mündlicher Kommunikation (3) sowie ein Beleg aus dem 18. Jahrhundert (4). (1)

Netzfeminismus, hier muss man kurz ausholen, meint einen „zeitgemäßen“ Feminismus, der sich strategisch der Mittel des Internet zu bedienen weiß.

(2)

sowohl im Real-Live als auch in den weiten des Internet gibt es nur eine geringe Anzahl Menschen die wirklich wissen wer und was ich bin und wie ich mich wirklich fühle!

(3)

Der Totalitarismus des Internet besteht nicht aus dem, was wir landläufig darunter verstehen, also Bewusstseinskontrolle und Unterdrückung, sondern in seiner Unausweichlichkeit. Hörbeleg, ARD-Sendung druckfrisch, 01.11.2015, 23:41:54 Uhr

(4)

Ueber den Bau, die Feſtigkeit und Bequemlichkeit der Gartenwege, wobey man vorzuͤ glich auf die Beſchaffenheit des Klima und des Erdbodens Ruͤ ckſicht zu nehmen hat, findet man in den Schriften der Gaͤ rtnerey hinlaͤ nglichen Unterricht. Hirschfeld (1780: 130): Theorie der Gartenkunst, Bd. 21

|| 1 Dieser Beleg ist dem Deutschen Textarchiv (DTA) entnommen (vgl. zu diesem Korpus ausführlich Abschnitt 4.1.1.1). https://doi.org/10.1515/9783110557442-001

2 | Einleitung

Die Lexeme, die gegenwärtig (auch) genitiv-s-los verwendet werden, unterliegen in aller Regel erheblicher Variation. Nicht selten handelt es sich bei der Flexion dieser Substantive gemäß der Definition von Klein (2003: 7) um echte sprachliche Zweifelsfälle, da kompetente MuttersprachlerInnen darüber in Zweifel geraten, welche der beiden Varianten standardsprachlich korrekt ist – was häufig in intraindividueller Variation resultiert. Das veranschaulichen die Belege in (5) bis (8). Die hier zitierten flexionsmorphologischen Varianten sind jeweils in unmittelbarer Nähe zueinander verwendet worden. (5)

Als erster westlicher Politiker traf er dabei auch den neuen Hoffnungsträger des Irak, den zukünftigen Präsidenten Abadi. Hörbeleg, Tagesschau vom 16. August 2014, 20:02:19 Uhr

(6)

Eine neue Regierung steht für die vielleicht letzte Chance, den Zerfall des Iraks noch aufzuhalten. Hörbeleg, Tagesschau vom 16. August 2014, 20:02:26 Uhr

(7)

Statt des Genitiv wird in diesen Fällen in der Regel die Konstruktion mit von + Substantiv verwendet Wahrig (22009: 323): Richtiges Deutsch leicht gemacht

(8)

Statt des Genitivs ist natürlich immer die Konstruktion mit von + Name möglich. Wahrig (22009: 321): Richtiges Deutsch leicht gemacht

Die Untersuchung dieser flexionsmorphologischen Schwankung zwischen -s und -Ø im Genitiv Singular starker Maskulina und Neutra steht im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit.2 Dabei werden immer wieder auch andere Schwankungsund Zweifelsfälle in die Untersuchung einbezogen, um relevante Parallelen und/oder Unterschiede aufzudecken, so z.B. Fremdwortplurale (s. Abschnitt 4.1.2

|| 2 Ich verwende das Nullzeichen (Ø) in dieser Arbeit, um die Abwesenheit eines Flexivs zu bezeichnen. Ich gehe nicht von einem Nullallomorph oder einem phonetisch leeren Allomorph aus. Eine solche Modellierung wäre zwar theoretisch denkbar, z.B. um die bei Feminina kategorisch ausgeschlossene Genitivendung von der schwankenden und nur in bestimmten Fällen ausbleibenden Genitivendung bei Maskulina und Neutra abzuheben, wäre aufgrund der starken Variation aber gleichzeitig mit zahlreichen empirischen Problemen verbunden (vgl. Konopka & Fuß 2016: 261–262) und in dieser Arbeit nicht zielführend. „For present purposes […] ›no suffix‹ is not a suffix” (Enger 2016: 14).

Thema, Ziel und Methoden | 3

und 4.1.3), die Variation zwischen -s und -es im Genitiv Singular (s. Abschnitt 4.1.3), die Verwendung von Apostrophen (s. Abschnitt 4.1.1.2) oder die Auslassung des Pluralmarkers bei Kurzwörtern (s. Abschnitt 4.3.2). Auf diese Weise kann aufgezeigt werden, inwiefern viele verschiedene Aspekte gegenwartssprachlicher Variation eng miteinander verwandt und auf identische Motivationen zurückzuführen sind. Ziel der Arbeit ist es zunächst, eine fundierte empirische Basis zu schaffen und Faktoren zu ermitteln, die die Variation steuern. Auf dieser empirischen Grundlage aufbauend sollen dann verschiedene Erklärungsansätze evaluiert, weiterentwickelt und präzisiert werden. Nicht nur die sprachlichen Fakten sollen also beschrieben werden, sondern auch – soweit es geht – die dahinterstehenden Motivationen und Prinzipien. Darüber hinaus ist ein wesentlicher Teil der Arbeit nicht nur der Beschreibung und Erklärung der Variation gewidmet, sondern auch der Frage, inwiefern die Analyse des Schwankungsfalls Erkenntnisse hinsichtlich allgemeiner Zusammenhänge und theoretischer Aspekte generieren kann. Es soll also nicht nur etwas über die Variation, sondern auch etwas anhand der Variation ausgesagt werden. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Themenbereiche relevant, die in den entsprechenden Kapiteln im Detail erläutert werden. Dazu zählen das Konzept von Zentrum und Peripherie einer Sprache, das Verhältnis dieser beiden Bereiche und das Phänomen der morphologischen Integration (vgl. Abschnitt 3.1 und 4.1), das grammatische Sonderverhalten von Eigennamen und die dafür verantwortlichen Motivationen (vgl. Abschnitt 4.2) sowie die Relevanzhierarchie (vgl. Abschnitt 4.3.2). Weiterhin ist die untersuchte Variation bedeutsam mit Blick auf das Deklinationsklassensystem des Deutschen. Dies wird hier genutzt, um Vor- und Nachteile verschiedener Flexionsklassendefinitionen zu diskutieren. Schließlich wird auch die Relevanz der Variation hinsichtlich sprachübergreifender Prinzipien wie dem Paradigm Economy Principle und dem No Blur Principle erörtert (vgl. Abschnitt 5.2). In diesen theoretischen Aspekten manifestiert sich ein großer Teil des Erkenntnispotentials der untersuchten Variation. Darüber hinaus ist die Untersuchung des Phänomens auch aus methodologischer Perspektive aufschlussreich, gerade mit Blick auf den diachronen Aspekt der untersuchten Variation. Bei der Schwankung im Genitiv gilt, was ebenso auch auf die meisten anderen sprachlichen Zweifelsfälle zutrifft: Die synchrone Variation ist hier (auch) auf aktuell ablaufenden Sprachwandel zurückzuführen. Sprachwandel erfolgt nie abrupt, denn eine grammatische Variante löst die andere nie ab, ohne dass es eine Phase gibt, in der beide miteinander konkurrieren. Eine der Varianten setzt sich dabei in der Regel durch, oft sind diese zeitweise aber gleichermaßen akzeptabel und weitestgehend austauschbar. In der daraus

4 | Einleitung

resultierenden synchronen Variation wird Sprachwandel dann greifbar, was insofern von besonderem Interesse ist, als die Wandelursachen hier mithilfe eines sehr großen methodischen Repertoires untersucht werden können: Während bei bereits abgeschlossenem Wandel fast ausschließlich (schriftliche) Korpusdaten analysiert werden können, die oft nur in begrenztem Umfang zur Verfügung stehen, kann man bei der Erforschung aktuell ablaufenden Wandels auf die ganze Brandbreite methodischer Möglichkeiten zurückgreifen. So kann hier auch die Rezeptionsseite von Sprache systematisch berücksichtigt werden, indem z.B. Akzeptabilitätsstudien oder Analysen zur Verarbeitung der Varianten durchgeführt werden. Korpusdaten, auch solche aus diachron ausgerichteten Korpora des Nhd., sind im Vergleich zu historischen Korpora vergangener Sprachstufen wesentlich umfangreicher, besser annotiert und beinhalten unterschiedliche Register. Darüber hinaus ist es möglich, Daten zu elizitieren, mithilfe derer bestimmte besonders relevante Aspekte präzise angesteuert werden können. Es eröffnen sich also viele Möglichkeiten, wenn man bei der Erforschung von sprachwandelrelevanten Motivationen auch gegenwartssprachliche Variation berücksichtigt. Dieser Ansatz wird in der vorliegenden Arbeit verfolgt. Morphologische Schemakonstanz – ein Konzept, das in Kapitel 3 näher erläutert wird – wirkt sich sowohl auf synchrone als auch auf diachrone Variation (s. hierzu vor allem Abschnitt 4.1) aus und wird auch als relevant mit Blick auf bereits abgeschlossenen Sprachwandel angesehen (vgl. Abschnitt 4.2; s. hierzu auch Ackermann 2018a). Um diese Motivation und deren Einfluss genauer fassen zu können, werden in den folgenden Kapiteln sehr unterschiedliche Arten von Daten herangezogen. Dazu gehören synchrone und diachrone Korpusdaten aus unterschiedlichen Korpora geschriebener Sprache (vgl. Kapitel 2 und 4), psycholinguistische Evidenz aus einer Self-Paced-Reading-Studie (vgl. Abschnitt 3.6), Akzeptabilitätsurteile (ebd.) sowie einige Daten aus mündlichen Korpora (vgl. Abschnitt 2.4.7). Da die Erhebung gewisser Datentypen zur Untersuchung von Variation und Wandel im Gegenwartsdeutschen nicht selbstverständlich und keineswegs Usus ist – so etwa die Untersuchung eines Wandelfaktors mithilfe psycholinguistischer Methoden (vgl. Abschnitt 3.6) ‒ und z.B. auch Fragen der Operationalisierung bestimmter Aspekte immer wieder thematisiert werden (vgl. z.B. Abschnitt 4.2), hat die vorliegende Arbeit auch eine methodologische Komponente. In der methodischen Vielfalt besteht dann auch ein zentraler Unterschied zu anderen Arbeiten, die sich bisher mit der Variation im Genitiv beschäftigt haben. Diese werden im folgenden Forschungsüberblick zusammengefasst.

Forschungsstand | 5

1.2 Forschungsstand Die Literatur zur Variation zwischen -s und -Ø im Genitiv Singular maskuliner und neutraler Substantive ist sowohl methodisch als auch hinsichtlich der eingenommenen Perspektiven äußerst heterogen. Es lassen sich aber zwei grundlegende Erklärungsansätze identifizieren, denen sich die meisten dieser Arbeiten zuordnen lassen. Der Ansatz, dem die meisten Analysen bisher folgen, besteht darin, s-lose Genitive in den Kontext der Reduktion nominaler Kasusmarker im Deutschen und seinen Vorgängern zu stellen. Diese Einordnung ist in der Tat naheliegend, was ein Vergleich des Gegenwartsdeutschen mit älteren Sprachstufen verdeutlicht. In Tab. 1 wird das (rekonstruierte) germanische Paradigma des Lexems Wolf seinem gegenwartsdeutschen Pendant gegenübergestellt (vgl. auch Wurzel 1992: 279). Der Rückgang des nominalen Kasusausdrucks ist hier offenkundig: Im Gegenwartsdeutschen sind nur zwei der vormals sehr zahlreichen Kasusmarker übrig geblieben: das Genitiv-(e)s und das Dativ-Plural-n.3 Der hier illustrierte Schwund nominaler Kasusmarker betrifft nicht nur das Lexem Wolf, sondern beinahe ausnahmslos alle Substantive im Deutschen. Lediglich die relativ kleine Klasse der schwachen Maskulina weist zumindest im Singular noch nominale Marker zur Anzeige aller obliquen Kasus auf (z.B. des Mensch-en, dem Mensch-en, den Mensch-en). Tab. 1: Protogermanische und gegenwartsdeutsche Flexion von Wolf4 

Kasus

Protogermanisch

Gegenwartsdeutsch

Nominativ Sg.

*wulf-az

Wolf

Genitiv Sg.

*wulf-asa

Wolf-(e)s

Dativ Sg.

*wulf-ai

Wolf

Akkusativ Sg.

*wulf-an

Wolf

Instrumental Sg.

*wulf-ō

-

|| 3 Zum Status der Genitivallomorphe -s und -es siehe Abschnitt 4.1.2. 4 „Im Protogermanischen gab es wahrscheinlich auch einen Instrumental im Plural; seine Form ist jedoch unbekannt“ (Wurzel 1992: 279).

6 | Einleitung

Kasus

Protogermanisch

Gegenwartsdeutsch

Nominativ Pl.

*wulf-ōz

Wölf-e

Genitiv Pl.

*wulf-ōn

Wölf-e

Dativ Pl.

*wulf-ōmiz

Wölf-e-n

Akkusativ Pl.

*wulf-ans

Wölf-e

Instrumental Pl.

?

-

Neben der bisher beschriebenen syntagmatischen Seite hat die Reduktion der Kasusmarker auch eine paradigmatische Seite: Nicht nur die Anzahl der flexionsmorphologischen Slots, in denen Kasusflexive verwendet werden, hat sich reduziert, sondern auch die Anzahl der verwendeten Allomorphe. Das Deutsche weist also insgesamt eine Tendenz in Richtung der Reduktion nominaler Kasusmarker auf (vgl. hierzu einführend z.B. Wegera & Waldenberger 2012: 146–151). Ähnliche und in der Regel noch stärker ausgeprägte Entwicklungen finden sich in fast allen anderen germanischen Sprachen, z.B. dem Englischen, Niederländischen und Schwedischen. Lediglich auf Isländisch und Färöisch trifft dies nicht zu (vgl. hierzu Abschnitt 3.2). Vor diesem Hintergrund wäre es nicht überraschend, wenn im Deutschen auch die verbliebenen Kasusmarker abgebaut würden, zumal deren Funktion bereits größtenteils von Artikelwörtern übernommen wurde: Im Zuge der Kasusnivellierung am Substantiv wurde der Kasusausdruck weitestgehend auf den Artikel ausgelagert.5 So ist der Dativ in (9) auch ohne nominales Kasusflexiv eindeutig durch die Flexion des Artikels kodiert.6 Das in dem Beleg aus dem 19. Jahrhundert (vgl. (10)) noch vorhandene, mittlerweile aber weitestgehend abgebaute Dativ-e ist zur eindeutigen Kasus-Anzeige nicht nötig (zu Überresten des Dativ-e vgl. Eichinger 2013). (9)

Ich gab d-em Mann einen Apfel.

(10)

Dieſer Vogel kam auf den Ruf ſeines Pflegers von der Stange herab geflogen, näherte ſich vertraulich dem Manne und duldete es ſogar, daß

|| 5 Zur Entstehung des Artikelsystems und zur Verlagerung des Kasusausdrucks vgl. einführend Szczepaniak (22011: 63–85) und Wegera & Waldenberger (2012: 151–154). 6 In diesem Zusammenhang spricht Ágel (1996) von „finiten Substantiven“. Argumente gegen eine solche Bezeichnung finden sich bei Thieroff (2006).

Forschungsstand | 7

dieſer ihn zwiſchen die Beine nahm und ihm Kopf, Hals und Rücken ſtreichelte. Brehm (1866: 567): Illustrirtes Thierleben, Bd. 37

Der Abbau des Dativ-e geht also nicht mit einem Verlust des Kasusausdrucks einher, sondern sorgt vielmehr für den Abbau eines (vermeintlich) überflüssigen Markers und erscheint deshalb in gewisser Weise als folgerichtig.8 Hier hat sich Monoflexion durchgesetzt. Im Gegensatz dazu ist die Markierung des Genitivs weitestgehend stabil geblieben. Sie stellt sich „als fast schon penetrant heraus – schließlich ist sie auch noch redundant gegenüber dem kasus-eindeutigen Artikel (des, eines)“ (Teuber 2000: 174), vgl. (11). (11)

Die Markierung d-es Genitiv-s ist Gegenstand dieser Arbeit.

Dass nun Variation im Genitiv Singular zu beobachten ist und das Genitiv-s gelegentlich nicht realisiert wird (vgl. die Beispiele (1) bis (8)), wird von vielen ForscherInnen als Indiz dafür gewertet, dass mittlerweile auch dieses Flexiv im Abbau begriffen ist. s-lose Genitive werden demnach als Vorboten des kompletten Schwunds nominaler Kasusmarker gewertet. Diese Sichtweise wird von Wurzel (1991: 176–180) folgendermaßen auf den Punkt gebracht: Bei Licht besehen sind substantivische Flexionsformen mit Kasusmarkern am Wort nichts anderes als Relikte eines früheren Systems. […] Demzufolge wäre zu erwarten, daß künftig alle substantivischen Kasusflexive, darunter auch alle Genitivflexive, beseitigt werden […]. Die Kasus werden dann allein durch Artikelflexion symbolisiert, vgl. *des Pfau, *des Nachbar, aber auch *des Hund, *des Bär usw. (Hervorhebungen im Original)

In vielen anderen Arbeiten wird diese Grundannahme geteilt, aber nicht immer so explizit formuliert (vgl. Gallmann 1985, Ágel 1996, Wegener 1995, Wiedenmann 2004, Paulfranz 2013). Der entscheidende Punkt ist hier, dass die Schwankung im Genitiv Singular im Kontext des Abbaus nominaler Kasusmarker gesehen und somit als Reflex des Übergangs von einem System (mit Kasusausdruck am Substantiv) zu einem anderen System (mit Kasusausdruck am Artikel) interpretiert wird.

|| 7 Dieser Beleg ist dem DTA entnommen. Für Informationen zu diesem Korpus siehe Abschnitt 4.1.1.1. 8 Zur Funktion des redundanten Kasusausdrucks siehe Abschnitt 3.3.

8 | Einleitung

Eine andere Position nimmt Appel (1941) ein, die hier stellvertretend für den zweiten grundlegenden Erklärungsansatz genannt sei. Sie subsumiert die beobachtete Schwankung nicht unter die generelle Tendenz zum Abbau nominaler Kasusmarker und geht stattdessen davon aus, dass die Genitiv-s-Losigkeit auf eine klar abgrenzbare Gruppe von Wörtern beschränkt ist und bleibt: Indessen ein sehr wesentliches Ergebnis der Untersuchung gerade dieser […] Fügungen mit deutlich genitivischem Gehalt, aber einer von der Norm abweichenden „s“-losen Ausprägung scheint mir zu sein, daß wir es nicht mit einem „Abfall“, „Wegfall“ der „s“-Endung im mechanischen Sinne zu tun haben, sondern mit sprachlichen Prägungen, die eben unter den gegebenen Bedingungen notwendig „s“-los geformt sind, deren „-s“-losigkeit aber auch an diese Bedingungen gebunden bleibt. […] Hier interessiert uns nur die Tatsache, daß unter bestimmten Voraussetzungen „s“-lose Genitivformen immer wieder zwangsläufig gebraucht werden, ohne daß unter anderen als diesen Voraussetzungen „s“-lose Genitive vorkämen oder auch nur denkbar wären. (Appel 1941: 55)

Wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird, spricht einiges für die von Appel formulierte These. Es scheint kein unmittelbarer Schwund des Genitiv-s bevorzustehen – zumindest lassen sich derzeit keine Anzeichen dafür finden. Das legen sowohl synchrone als auch diachrone Korpusdaten nahe (vgl. Kapitel 2 und Abschnitt 4.1). Ein alternativer Erklärungsansatz, der der Position von Appel nahesteht, wird in Kapitel 3 ausgearbeitet. Auf die Gegenüberstellung der hier vorgestellten grundlegenden Ansätze zur Erklärung der Schwankung komme ich unter Einbezug der in den folgenden Kapiteln generierten Argumente dann in Abschnitt 6.2 wieder zurück. Ein zusätzlicher Erklärungsversuch, der sich nicht ohne Weiteres einem der beiden hier aufgezeigten Ansätze zuordnen lässt, stammt von Wegener  (1995). Auch sie geht von einem bevorstehenden Abbau aller nominalen Kasusmarker aus (vgl. Wegener 1995: 154–163), spricht der Genitiv-s-Losigkeit aber einen besonderen funktionalen Nutzen zu: Sie beobachtet, dass -Ø vor allem bei solchen Substantiven auftritt, die das Pluralallomorph -s selegieren (z.B. des Tango-Ø; viele Tango-s) und schlussfolgert, dass die Auslassung des Kasusflexivs auf intendierte Homonymie-Vermeidung zurückzuführen sei: Weil diese Nomina ihre Pluralform mit -s bilden, gehen sie dazu über, die Genitivmarkierung ausschließlich am Determinans vorzunehmen, um somit Homonymie zwischen der Form des Genitiv Singular und der des Plurals zu vermeiden. Der Kasusverfall trägt hier also zur höheren Transparenz der Numerusunterscheidung bei, er ist funktional. (Wegener 1995: 156; Hervorhebungen im Original)

Dieser These halten Konopka & Fuß (2016: 258–259) drei naheliegende wie plausible Argumente entgegen: Genitiv-s-Losigkeit tritt auch bei Wörtern auf, die

Forschungsstand | 9

nicht den s-Plural selegieren, z.B. Index oder Bonus. Weiterhin finden sich Belege für s-Losigkeit auch bei Substantiven, die nie oder sehr selten im Plural vorkommen, sodass hier die Homonymie-Vermeidung von untergeordneter Bedeutung sein sollte (z.B. Internet oder Islam). Und schließlich lassen sich so gut wie keine genitiv-s-losen Belege für gut integrierte Fremdwörter, die den s-Plural selegieren, finden, z.B. Auto oder Hotel.9 Diese Beobachtungen zeigen, dass s-Plural und Genitiv-s-Losigkeit zwar oft koinzidieren – was kein Zufall ist, wie weiter unten ausführlich gezeigt wird (vgl. Abschnitt 4.1) – aber keineswegs aufeinander angewiesen sind. Somit kommt der Homonymie-Vermeidung bestenfalls eine unterstützende Funktion hinsichtlich der Flexiv-Auslassung zu, diese Motivation kann aber nicht ausschlaggebend sein und ist für die Erklärung der Variation nicht hinreichend. Zu viele Beobachtungen können mithilfe dieses Ansatzes nicht erklärt werden, weshalb er im Folgenden auch nicht weiterverfolgt wird. Neben den bisher vorgeschlagenen Erklärungsansätzen kann auch die Liste mutmaßlicher Einflussgrößen, die die Variation im Detail zu steuern scheinen, als wesentliches Ergebnis der bisherigen empirisch ausgerichteten Forschung gelten. Diese wird innerhalb des vorliegenden Forschungsüberblicks aber nicht im Einzelnen wiedergegeben und stattdessen im empirisch ausgerichteten Kapitel 2 besprochen und bei der eigenen Datenerhebung und -analyse berücksichtigt. Auch die Darstellung der relevanten Literatur hinsichtlich der weiteren theoretischen Fragestellungen erfolgt dann in den entsprechenden Kapiteln. Lediglich die bereits erwähnte Monographie von Konopka & Fuß (2016) soll hier etwas ausführlicher kommentiert werden, weil sie gleichzeitig mit der vorliegenden Arbeit entstanden ist, sich Methoden und Erkenntnisinteresse zum Teil überlappen und es sich hierbei um eine Publikation zum Thema handelt, in die auch viele Erkenntnisse früherer Arbeiten eingeflossen sind.10 Konopka & Fuß (2016) widmen sich der flexionsmorphologischen Variation der starken Genitivendung (-s vs. -es einerseits und -s vs. -Ø andererseits) und untersuchen diese anhand von Daten aus dem IDS-Korpus DeReKo. Die dort gesetzten Themenschwerpunkte unterscheiden sich aber deutlich von denen der hier vorliegenden Arbeit, sodass sich beide Untersuchungen ideal ergänzen. || 9 Die Argumente werden auch von den Daten gestützt, die im Folgenden präsentiert werden, vgl. z.B. die Ausführungen zu Auto (Abschnitt 4.3.1), Internet (Abschnitt 4.1.4) und Fremdwörtern mit [s]-Auslaut (Abschnitte 2.4.2.1 und 4.1.3). 10 Diese Arbeit basiert im Wesentlichen auf Daten, die bereits in Bubenhofer, Hansen-Morath & Konopka (2014) besprochen werden. Die folgenden Kommentare zur Methode von Konopka & Fuß (2016) treffen also auch auf die Studie von Bubenhofer, Hansen-Morath & Konopka (2014) zu.

10 | Einleitung

So ist die Monographie von Konopka & Fuß (2016) sehr stark methodologisch ausgerichtet: Ein maßgebliches Ziel ihrer Untersuchung ist es, die von ihnen entwickelte Methode zu testen und zu evaluieren (vgl. z.B. Konopka & Fuß 2016: 168). Diese besteht darin, mithilfe automatischer Extraktions- und Annotationsverfahren Genitivbelege in einem Korpus zu identifizieren, zu extrahieren, mit linguistischen Informationen zu versehen und in einer Datenbank zu speichern. Die so erstellte Datenbank wird maschinell analysiert, wobei die ermittelten Faktoren, die einen Einfluss auf die Ausprägung der abhängigen Variable (hier: -s vs. -Ø bzw. -s vs. -es) haben, abschließend in einem automatisch erzeugten Entscheidungsbaum modelliert werden (vgl. z.B. Konopka & Fuß 2016: 161). Das Ergebnis der ausführlichen Methoden-Reflexion ist, dass dieses Vorgehen zur Untersuchung der Variation zwischen -s und -es gut geeignet ist, mit Blick auf die Faktoren, die Genitiv-s-Losigkeit befördern, aber keine belastbaren Ergebnisse liefert: „Es hat sich herausgestellt, dass die Erkennung endungsloser Formen spezifische Probleme aufwirft, die dazu führen, dass sowohl Ertrag als auch Präzision der automatischen Extraktion hinter die Ergebnisse bei overt markierten Formen zurückfällt“ (Konopka & Fuß 2016: 168). So werden Flexionsendungen falsch interpretiert (z.B. werden Pluralformen als Genitivformen klassifiziert), genitiv-s-haltige Wortformen werden nicht als solche erkannt und auch die linguistische Annotation ist unpräzise: Fremdwörter, Eigennamen und Konversionen werden nicht richtig klassifiziert, Wortformen werden falsch lemmatisiert, Kontraktionen wie obs werden als genitivmarkierte Kurzwörter eingestuft usw. (vgl. hierzu ausführlich Konopka & Fuß 2016: 169–172). Dabei sind „Schwierigkeiten hinsichtlich Precision und Recall bei endungslosen Formen […] nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Kriterien zur Erkennung von Genitiven primär auf sichtbare morphologische Markierungen ausgelegt waren“ (Konopka & Fuß 2016: 172). Wie die manuelle Analyse einer kleinen Stichprobe zeigt, ist der resultierende Anteil an Fehlbelegen und Fehlanalysen nicht zu vernachlässigen: Die geschätzte Fehlerquote liegt z.B. bei Kurzwörtern bei 37,5 % (vgl. Konopka & Fuß 2016: 192–195). Auch die Baummodellierung liefert keine belastbaren Erkenntnisse, da sie auf den Ergebnissen des automatischen Annotations- und Extraktionsverfahrens aufbaut, das „vor allem im Zusammenhang mit endungslosen Formen fehlerhafte Resultate liefert“ (Konopka & Fuß 2016: 172). Darüber hinaus sei auch der verwendete Algorithmus problembehaftet. „In Kombination mit den Unschärfen bei der Annotation kann dies dazu führen, dass Wörter unter ein (linguistisch wenig plausibles) Erklärungsmuster gefasst werden, obwohl sie keine natürliche Klasse bilden“ (Konopka & Fuß 2016: 176) – Generalisierungen und Schlussfolgerungen auf Grundlage der Baummodellierung sind demnach also kaum möglich.

Forschungsstand | 11

Das wird von den Autoren immer wieder hervorgehoben und auch als Grund dafür genannt, dass sie „ergänzend traditionelle korpuslinguistische Methoden herangezogen“ haben (Konopka & Fuß 2016: 177). Diese stichprobenartigen Studien liefern interessante Erkenntnisse, vor allem zur Flexion von Konversionen (wie Nein oder Jetzt), Wochentagen (Freitag) und Monatsnamen (Dezember) sowie Stil- und Epochenbezeichnungen (Biedermeier) – Aspekte, die in der vorliegenden Arbeit nicht fokussiert werden.11 Inwiefern die Ausführungen zum flexionsmorphologischen Verhalten von Eigennamen (vgl. Konopka & Fuß 2016: 207– 208, 224–228) für die hier vorgestellte Analyse relevant sind, wird kurz in Abschnitt 4.2 thematisiert. Die Arbeit von Konopka & Fuß (2016) und die vorliegende Arbeit ergänzen sich nun insofern gut, als in der vorliegenden Studie keine automatisierten Extraktions- und Annotationsverfahren getestet und evaluiert werden, sondern alle Belege manuell analysiert und kodiert wurden. Das führt zwangsläufig zu sehr viel kleineren Stichprobengrößen12, hat aber Vorteile hinsichtlich der Genauigkeit.13 Diese Stichproben wurden hier dann mit (ggf. multifaktoriellen) inferenzstatistischen Methoden, z.B. einer logistischen Regression, analysiert. Darüber hinaus unterscheiden sich die Daten: Konopka & Fuß (2016) beschränken sich auf Belege aus dem DeReKo. Dieses Korpus wird in der vorliegenden Arbeit auch herangezogen, der Schwerpunkt liegt aber auf der Analyse von Belegen aus dem Webkorpus DECOW sowie historischen Daten aus dem Deutschen Textarchiv (für Beschreibungen dieser Korpora vgl. Abschnitt 2.1 bzw. 4.1). Weiterhin werden in Konopka & Fuß (2016) normative Aspekte stark betont, was sich auch in der Gliederung der Arbeit („Normgerechte Formen der Endungslosigkeit“ vs. „Nichtnormgerechte Formen der Endungslosigkeit“) niederschlägt und dazu führt, dass Aussagen verschiedener Grammatiken wiedergegeben werden (vgl. Konopka & Fuß 2016: 162–167). „Die Überprüfung und Neueinschätzung gängiger Sprachnormen“ (Konopka & Fuß 2016: 234) wird explizit als relevanter Aspekt genannt. Dieser Themenbereich wird in der vorliegenden Arbeit nicht in den Vordergrund gestellt. Stattdessen werden theoretische Implikationen der Variation (z.B. hin-

|| 11 Siehe zu einigen dieser Substantivgruppen auch Nowak & Nübling (2017), deren Aufsatz ebenfalls gleichzeitig mit der vorliegenden Arbeit entstanden ist. 12 Der Untersuchung von Konopka & Fuß (2016) liegen 462.619 Genitivbelege zugrunde (vgl. Konopka & Fuß 2016: 167). 13 Lediglich in einem Ausnahmefall wurden nicht alle Belege manuell analysiert (vgl. Tab. 29 in Abschnitt 3.6.1). Hier wurde eine lexembasierte Suche durchgeführt, deren Präzision stichprobenartig bestätigt werden konnte.

12 | Einleitung

sichtlich der deutschen Deklinationsklassen) in den Blick genommen, psycholinguistische Aspekte untersucht sowie neben der Synchronie ausdrücklich auch die Diachronie berücksichtigt. Die beiden hier kurz gegenübergestellten Arbeiten teilen sich demnach teilweise den Untersuchungsgegenstand, unterscheiden sich gleichzeitig aber deutlich hinsichtlich der angewandten Methodik, der inhaltlichen Schwerpunkte, der eingenommenen Perspektiven und des zugrundeliegenden Erkenntnisinteresses – und liefern somit einander ergänzende Ergebnisse.

1.3 Struktur der Arbeit Im folgenden Kapitel wird zunächst die empirische Basis für die anschließenden Ausführungen gelegt, indem die synchrone Variation anhand von Korpusdaten analysiert und beschrieben wird. Dabei werden Faktoren, die die Variation steuern, sowie besonders von der s-Losigkeit betroffene Substantivgruppen identifiziert. Anschließend werden in Kapitel 3 die konkurrierenden Motivationen beschrieben, die die Variation im Wesentlichen determinieren: die (systemkonforme) saliente Markierung grammatischer Strukturen auf der einen Seite sowie morphologische Schemakonstanz auf der anderen Seite. Nach einer ersten Beschreibung dieser beiden Motivationen wird erstere anhand einiger sprachvergleichender Aspekte näher beleuchtet, woraufhin anschließend die psycholinguistische Plausibilität der letzteren getestet wird. In Kapitel 4 stehen dann solche Substantivgruppen im Fokus, die in hohem Maße von der Genitiv-s-Losigkeit betroffen sind und mit Blick auf allgemeine theoretische Aspekte besonders aufschlussreich sind. So sind Fremdwörter aus diachroner Perspektive interessant und geben Aufschluss über das Phänomen der morphologischen Integration (vgl. Abschnitt 4.1). Die Gründe für das grammatische Sonderverhalten von Eigennamen stehen in Abschnitt 4.2 im Mittelpunkt und schließlich wird in Abschnitt 4.3 anhand der Kurzwörter geprüft, inwiefern die Relevanzhierarchie von Bybee (1985, 1994) auch mit Blick auf synchrone Variation bedeutsam ist. Die bereits erwähnten allgemeinen theoretischen Implikationen der Schwankung hinsichtlich des deutschen Deklinationsklassensystems und sprachübergreifender Generalisierungen zur Struktur von Flexionsklassen werden in Kapitel 5 in den Blick genommen. Im Fazit wird dann die Relevanz der erzielten Ergebnisse hinsichtlich der oben vorgestellten Erklärungsansätze noch einmal gebündelt dargestellt. Außerdem werden dort methodologische Aspekte reflektiert, weitere Themengebiete umrissen, deren Bearbeitung lohnenswert erscheint, und theoretische Erkenntnisse resümiert.

2 Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation Grundlage einer präzisen Beschreibung und einer darauf aufbauenden Erklärung eines Phänomens ist eine solide empirische Basis. Bisherigen Publikationen zur s-Losigkeit im Genitiv Singular starker maskuliner und neutraler Substantive mangelt es an einer solchen empirischen Basis. Viele AutorInnen haben sich zur s-Losigkeit geäußert, ohne – abgesehen von einzelnen Beispielen – eigene Daten zu analysieren (vgl. z.B. Moser 1979, Sommerfeldt 1988, Wurzel 1991, Wegener 1995, Schmitz 1999), während andere ihren Ausführungen eigene Belegsammlungen zugrunde legen (vgl. z.B. Appel 1941, Shapiro 1941, Leirbukt 1983, Rowley 1988 und Wiedenmann 2004). Solche Belegsammlungen können (wie vor allem im Falle von Appel 1941) erste wertvolle Hinweise geben. Für eine systematische Untersuchung der Variation sind sie aber nicht geeignet, da die Auswahl der zusammengetragenen Texte stark vom Leseverhalten und dem Aufmerksamkeitsfokus der jeweiligen ForscherInnen abhängt und deshalb nicht als repräsentativ gelten kann. Sie ist verzerrt und im statistischen Sinne keine zufällige Stichprobe. Inferenz ist anhand einer solchen Stichprobe deshalb nicht zulässig. Das heißt, dass lediglich Aussagen über die Stichprobe selbst zulässig sind, verallgemeinernde Aussagen über die Grundgesamtheit (in diesem Fall z.B. das Deutsche) aber nicht möglich sind (vgl. Bortz & Schuster 7 2010: 79–82). Neben diesem qualitativen Aspekt sind Belegsammlungen auch in quantitativer Sicht nicht zufriedenstellend: Viele Details, die für die Erklärung der Schwankung relevant sind, können aufgrund der zu geringen Anzahl an Belegen nicht seriös untersucht werden. Hinzu kommt, dass in die erwähnten Belegsammlungen lediglich s-lose Belege aufgenommen wurden. So sind Aussagen über relative Häufigkeiten oder die Repräsentativität eines Beleges nicht möglich, da die Vergleichsgröße (also entsprechende s-haltige Belege) fehlt. Auch die wenigen Publikationen zum Thema, denen eine Korpusuntersuchung zugrunde liegt, beheben das bestehende empirische Defizit nicht: Ljungerud (1955) bezieht sich auf eine Stichprobe aus literarischen Texten aus dem Zeitraum 1900 bis 1955, die auch aufgrund der Quantität der Belege keine weitreichenden Aussagen zulässt. Scott (2014a: 253–259) bespricht erste interessante Korpusbefunde, geht aber möglichen, für die Erklärung der Schwankung bedeutsamen Einflussfaktoren, wie dem Umfang der Nominalgruppe, phonolo-

https://doi.org/10.1515/9783110557442-002

14 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

gischen Faktoren oder der Bedeutung der Tokenfrequenz entweder gar nicht oder nicht systematisch nach.1 Das trifft ebenso auch auf Paulfranz (2013) zu. Bubenhofer, Hansen-Morath & Konopka (2014) greifen auf eine sehr große Datenmenge zurück, die sie automatisiert untersuchen lassen. Eines der Probleme an ihrem Ansatz ist aber, dass versucht wird, die gesamte Genitivallomorphie des Deutschen zu erfassen. Das führt unter anderem dazu, dass Faktoren, die lediglich für die Variation zwischen -s und -es relevant sind, nicht sauber getrennt werden von Faktoren, die bzgl. der s-Losigkeit bedeutsam sind. Insgesamt zeigen „die maschinellen Extraktionen und auf maschinellem Lernen basierenden Modellierungen von Entscheidungsbäumen deutliche Schwächen bei der Erfassung und Klassifikation der nicht-kanonischen, weniger standardisierten und zum Teil auch weit selteneren Markierungsvarianten -’s, -’ und Ø“, wie Bubenhofer, Hansen-Morath & Konopka (2014: 414–415) einräumen.2 Hinzu kommen beachtliche Interpretationsschwierigkeiten der maschinell erzeugten Entscheidungsbäume. Inwiefern die Ergebnisse von Bubenhofer, HansenMorath & Konopka (2014) dennoch für die vorliegende Untersuchung relevant sind, wird in Abschnitt 2.4.6 thematisiert. Die stichprobenartigen KorpusStudien von Nübling (2012, 2014) und Nowak & Nübling (2017) beziehen sich in erster Linie auf die Variation zwischen -Ø und -s bei Eigennamen im Genitiv nach einem Artikel und werden in Abschnitt 4.2 besprochen. Im Folgenden soll die Variation zwischen s-loser und s-haltiger Realisierung des Genitivs systematisch, umfassend und mit der nötigen Präzision analysiert werden. Dazu sind eine sorgfältige Auswahl des Korpus, eine sinnvolle Zusammenstellung und Aufarbeitung der Stichproben sowie eine saubere statistische Auswertung nötig. Diese Punkte werden zunächst kurz erläutert, bevor in Abschnitt 2.4 die Ergebnisse der Analyse besprochen werden.

|| 1 Vor allem den Bemerkungen zur Bedeutung des Auslauts mangelt es an einer entsprechenden empirischen Basis (Scott 2014: 258). 2 Das Gleiche trifft auch auf die bereits etwas ausführlicher kommentierte Arbeit von Konopka & Fuß (2016) zu, die im Wesentlichen auf den bereits in Bubenhofer, Hansen-Morath & Konopka (2014) beschriebenen Daten basiert (vgl. Abschnitt 1.2).

Das Korpus: DECOW2012 | 15

2.1 Das Korpus: DECOW2012 Für das Gegenwartsdeutsche wurde das Korpus DECOW2012 herangezogen (vgl. Schäfer & Bildhauer 2012).3 Dieses Korpus umfasst mehr als 9 Milliarden Textwörter aus mehr als 8 Millionen Dokumenten, die von öffentlich zugänglichen Webseiten mit der Domain .de stammen. Für die Wahl dieses Korpus sprechen mehrere Gründe. So enthält das Korpus eine große Bandbreite an Textsorten. Neben lektorierter Schriftsprache sind z.B. auch Forenbeiträge vertreten, die dem Bereich quasi-spontaner Schriftsprache zuzuordnen sind.4 Das ermöglicht die Analyse von Phänomenen des Substandards, die (ggf. noch) nicht in lektorierte Schriftsprache vorgedrungen sind. Dieser Aspekt ist von besonderer Bedeutung, wenn man auch an sich aktuell vollziehendem Sprachwandel interessiert ist. Darüber hinaus sind alle Texte in DECOW2012 linguistisch annotiert (Partof-speech Tagging), was z.B. lexemunabhängige Suchanfragen überhaupt erst ermöglicht (vgl. z.B. Abschnitt 2.4.4). Hinzu kommt die Größe des Korpus, die es z.B. erlaubt, auch vergleichsweise wenig frequente Lemmata oder wenig frequente Konstruktionen (die aber nichtsdestoweniger von Interesse sein können oder sogar von besonderem Interesse sind) mit in die Analyse einzubeziehen.5 Beachten muss man bei der Interpretation der Daten aus DECOW2012, dass keine Informationen zu den AutorInnen der enthaltenen Texte verfügbar sind. Das bedeutet zum einen, dass soziolinguistische Faktoren wie Alter oder Bildung der AutorInnen nicht in die Analyse einfließen können. Zum anderen kann nicht ausgeschlossen werden, dass vereinzelte Texte von Nicht-MuttersprachlerInnen verfasst wurden oder es sich bei manchen Belegen um Tippfehler im eigentlichen Sinne handelt, da die verfassten Texte in der Regel keiner Korrektur unterzogen wurden. Deshalb werden im Folgenden immer (mindestens) zwei konkurrierende Varianten hinsichtlich ihrer Frequenz miteinander verglichen, um zu überprüfen, ob es sich bei der beobachteten Konstruktion um eine ernstzunehmende Variante oder einen Ausreißer handelt. Bei solchen Ausreißern kann man dann nicht ausschließen, dass sie ggf. auf einen Tippfehler

|| 3 Die Daten aus diesem Korpus werden an geeigneten Stellen durch Stichproben aus anderen Korpora ergänzt, so z.B. durch Daten aus einem Korpus gesprochener Sprache (vgl. Abschnitt 2.4.7). 4 Eine Übersicht über die vertretenen Textsorten und Genres in DECOW2012 findet sich bei Schäfer & Bildhauer (2012: 8). 5 Den Begriff Konstruktion verwende ich in dieser Arbeit nicht im konstruktionsgrammatischen Sinn, sondern bezeichne damit der traditionellen Terminologie entsprechend die Struktur einer grammatischen Einheit.

16 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

oder einen Fehler eines Nicht-Muttersprachlers bzw. einer Nicht-Muttersprachlerin zurückzuführen sind.

2.2 Zusammenstellung und Aufarbeitung der Stichproben Da sowohl der Einfluss aller bisher in der Literatur thematisierten möglichen Einflussgrößen als auch der Einfluss einer ganzen Reihe von bisher noch nicht erwähnten potentiellen Faktoren untersucht werden soll, müssen verschiedene Stichproben gezogen werden, um der Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Variablen gerecht werden zu können. Neben der zunächst thematisierten einfachen Zufallsstichprobe von insgesamt 5000 Genitivbelegen werden anschließend einzelne stratifizierte Stichproben gezogen, die es ermöglichen, auf spezielle Aspekte zu fokussieren.6 Nur auf diese Weise kann z.B. der Einfluss von verschiedenen Eigennamen auf die Variation zwischen -s und -Ø differenziert analysiert werden – rein anhand der Zufallsstichprobe von 5000 Genitivbelegen wäre diese nicht möglich, da lediglich 380 und damit zu wenige Eigennamen im Genitiv in dieser Stichprobe enthalten sind. Darüber hinaus sind in der einfachen Zufallsstichprobe von 5000 Genitivbelegen nicht alle Konstruktionen hinsichtlich aller Faktoren miteinander vergleichbar. Es wäre z.B. unsauber, buchstabierte multisegmentale Buchstabenkurzwörter wie AKW mit Vollformen hinsichtlich phonologischer Kriterien wie der Silbenzahl oder der Komplexität des Auslauts zu vergleichen. Deshalb erfolgt die statistische Analyse in mehreren Schritten, sodass auch erkennbar ist, wenn Faktoren z.B. nur auf bestimmte Gruppen in der Stichprobe einen Einfluss haben. Allen Stichproben – egal ob einfache Zufallsstichprobe oder stratifizierte Stichprobe – gemeinsam ist die Tatsache, dass inferentielle Aussagen möglich sind, also verallgemeinerte Angaben über die Grundgesamtheit, da alle Stichproben im statistischen Sinne zufällig sind (Bortz & Schuster 72010: 82). Alle Belege, die in die Untersuchung eingeflossen sind, wurden manuell analysiert und mit den notwendigen grammatischen Informationen versehen, was eine umfassende Analyse der Variation erlaubt. Wie die einzelnen Stichproben im Detail gezogen und linguistisch aufgearbeitet wurden, wird an den entsprechenden Stellen in den jeweiligen Abschnitten erläutert.

|| 6 Das bedeutet, dass einzelne Stichproben analysiert werden, die hinsichtlich einer relevanten Eigenschaft homogen sind.

Darstellung der eingesetzten statistischen Verfahren | 17

2.3 Darstellung der eingesetzten statistischen Verfahren Das wichtigste statistische Verfahren, das hier zur Analyse der Variation herangezogen wird, ist die binäre logistische Regression.7 Mithilfe dieses Verfahrens lässt sich bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ereignis (hier: das Ausbleiben des Flexivs im Genitiv Singular Maskulinum oder Neutrum) in Abhängigkeit von verschiedenen Einflussgrößen (z.B. Silbenanzahl, Auslaut, etc.) zu erwarten ist (vgl. Backhaus et al. 102003: 418). Die logistische Regression bietet sich an, weil die abhängige Variable nominalskaliert ist und der Einfluss mehrerer unabhängiger Variablen überprüft werden soll, also ein mehrfaktorielles Verfahren benötigt wird. Mit einer Stichprobengröße von je mindestens 1000 Belegen liegen jeweils genügend Beobachtungen vor. Verteilungsannahmen als Voraussetzung für die Anwendung dieses Modells gibt es nicht (vgl. Fromm 2005: 6). Die Auswahl der ins jeweilige Modell integrierten Variablen kommt durch eine Rückwärtselimination auf Basis der Wahrscheinlichkeit der LikelihoodQuotienten-Statistik zustande (vgl. SPSS Inc. 2007: 6). Das bedeutet, dass zunächst alle unabhängigen Variablen in das Modell integriert werden, bevor diejenigen Variablen anschließend schrittweise wieder entfernt werden, die die Modellgüte nicht positiv beeinflussen – übrig bleiben also ausschließlich die unabhängigen Variablen, die einen signifikanten Einfluss auf die abhängige Variable haben (vgl. Agresti 32013: 214). Die Zusammenstellung der Variablen führt also zur bestmöglichen Modellgüte, es werden aber nicht mehr Variablen einbezogen als nötig. Folglich kann auf diese Weise auch ermittelt werden, welche Variablen keinen Einfluss haben. Das Signifikanz-Niveau bzgl. der Score-Statistik für die Aufnahme ins Modell wurde aufgrund der hohen Anzahl an Beobachtungen pro Stichprobe auf α = 0,01 festgelegt. Zur Beurteilung der Modellgüte wird das übliche Gütekriterium, jeweils ein Nagelkerke-R2-Wert, angegeben (Backhaus et al. 102003: 441). Dieser gibt Auskunft darüber, wie gut die unabhängigen Variablen dazu beitragen, die Ausprägung der abhängigen Variable vorherzusagen (vgl. Backhaus et al. 102003: 437). Bei allen Berechnungen ist sichergestellt, dass keine Multikollinearität vorliegt, also nicht von der Merkmalsausprägung einer unabhängigen Variable auf eine Merkmalsausprägung einer anderen unabhängigen Variable geschlossen werden kann (vgl. Backhaus et al. 102003: 88–91).8

|| 7 Genutzt wurde hierzu die Statistik-Software SPSS. 8 Korrelationen unter den unabhängigen Variablen übersteigen r = |0,5| nicht.

18 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

Ergänzend zur logistischen Regression werden zur Veranschaulichung der Ergebnisse auch Verfahren der beschreibenden Statistik und, sofern nur der Einfluss einer unabhängigen Variable getestet werden soll, auch der χ2-Test bzw. (je nach Datenmenge) auch der Fisher-Yates-Test herangezogen.9

2.4 Analyse der Daten Die in diesem Kapitel thematisierten Ergebnisse können als Basis der weiteren Teiluntersuchungen zu spezifischen Aspekten der Variation gelten, da den hier diskutierten Beobachtungen eine große Stichprobe zugrunde liegt, bei der so wenig wie möglich in die Zusammenstellung der Datenpunkte eingegriffen wurde. Diese Stichprobe liefert erste grundlegende Ergebnisse, auch zur Häufigkeit der s-Losigkeit, und ist der Ausgangspunkt für detailliertere Fragestellungen. Dafür werden dann stratifizierte Stichproben gezogen, sodass genügend Beobachtungen pro Merkmalsausprägung gegeben sind, die mit Blick auf die weiterführenden Fragestellungen relevant sind (vgl. Kapitel 4). Die einfache Zufallsstichprobe wurde folgendermaßen gezogen: In einem ersten Schritt wurden alle Sätze aus dem Teilkorpus DECOW2012-00 extrahiert, in denen ein Substantiv unmittelbar auf ein Artikelwort im Genitiv folgt.10 Aus diesen 986.155 Sätzen wurde eine randomisierte Stichprobe von 5000 Sätzen gezogen, wobei alle Belege überprüft und Fehlbelege nicht aufgenommen wurden. Entfernt wurden z.B. schwache Maskulina (des Menschen), andere Kasus (dieses Fenster ist geschlossen) oder dialektales Material (des Video is ned vollständig).11

|| 9 Bei diesem Test handelt es sich um eine robustere Alternative zum χ2-Test, die auch bei sehr kleinen Stichproben und sehr schwach besetzten einzelnen Zellen verwendet werden kann. Sowohl der χ2-Test als auch der Fisher-Yates-Test wurden jeweils mithilfe der Statistik-Software R berechnet. 10 Berücksichtigt wurden (jeweils ungeachtet von Groß- oder Kleinschreibung) sowohl definiter (des) und indefiniter Artikel (eines) als auch der Negationsartikel keines und die Possessivartikel meines, deines, seines, ihres, unseres, eures sowie die Demonstrativartikel jenes und dieses. Nominalgruppen, bei denen das Substantiv nicht unmittelbar auf das Artikelwort folgt (z.B. des oft sehr fröhlichen Mannes), wurden an dieser Stelle nicht aufgenommen, weil entsprechende Belege im Vergleich zu den aufgenommenen Belegen sehr selten vorkommen und sich der Faktor Umfang der Nominalgruppe hier deshalb einer Analyse entzieht. Dieser Faktor wird in Abschnitt 2.4.4 diskutiert. 11 Darüber hinaus wurden auch getrennt geschriebene Komposita entfernt (z.B. des Shooting Adventure), da diese sich in einigen Fällen einer eindeutigen Analyse entziehen und deshalb die Aussagekraft der Ergebnisse gefährdet hätten.

Analyse der Daten | 19

Anschließend wurden alle Belege manuell analysiert und mit grammatischen Informationen entsprechend der Faktoren (vgl. unten, Tab. 2) versehen, sodass der quantitativen Analyse eine Datensammlung mit 5000 Belegen und insgesamt 85.000 grammatischen Informationen zugrunde gelegt werden konnte. Tab. 2 gibt einen ersten Überblick über alle Variablen und die dazugehörigen Merkmalsausprägungen. Die grau hinterlegten Zellen markieren jeweils die Referenzkategorie einer Variable. Für alle Variablen in Tab. 2 wurde die am häufigsten beobachtete Merkmalsausprägung als Referenzkategorie gewählt (also z.B. natives Appellativ für die Variable ‚Lexik‘).12 Bei der Interpretation der Daten werden die einzelnen Variablen dann genauer erläutert. Als abhängige Variable wird immer Flexivlosigkeit festgelegt; es wird also der Einfluss aller unabhängigen Variablen auf die Wahrscheinlichkeit, dass Flexivlosigkeit eintritt, berechnet. Die Zusammenstellung an Variablen berücksichtigt zunächst Faktoren, die in bisherigen Publikationen zur s-Losigkeit diskutiert wurden (s. oben). Darüber hinaus sind Faktoren integriert, die weitere Schwankungsfälle im Gegenwartsdeutschen beeinflussen und somit auch als potentielle Einflussgrößen bzgl. der hier behandelten Schwankung gelten können. Außerdem finden Faktoren Berücksichtigung, die mit Blick auf die verschiedenen Erklärungsansätze von Relevanz sind. Besonders seltene Lexeme bzw. Strukturen (z.B. lautierte Buchstabenkurzwörter wie RAM) werden wegen ihrer geringen Häufigkeit oder weil sie nicht in der einfachen Zufallsstichprobe vorkommen, separat behandelt (vgl. Kapitel 4). 13

|| 12 Die Bedeutung der Referenzkategorie wird an geeigneter Stelle weiter unten genauer erläutert (s. Abschnitt 2.4.1). Metrisch skalierte Variablen (hier: ‚Silbenzahl‘, ‚Komplexität Silbenkoda‘ und ‚Anzahl an s-Lauten‘) benötigen keine Referenzkategorie. 13 Zur Variable ‚Lexik‘: Selbstverständlich sind Kurzwörter auch Wortbildungsprodukte und hätten entsprechend anders klassifiziert werden können. Kurzwörter unterscheiden sich aber von den meisten anderen Wortbildungsprodukten darin, dass sie (ebenso wie Eigennamen und Fremdwörter) als periphere Substantive gelten können. Da im vorliegenden Zusammenhang die Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie wichtiger ist als die Unterscheidung zwischen Wortbildungsprodukt und Simplizia, wird hier diese Klassifikation gewählt. Zur Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie vgl. Abschnitt 3.1.

20 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

Tab. 2: Unabhängige Variablen samt Merkmalsausprägungen

Variable

Ebene

Merkmalsausprägung

‚Frequenz‘

Gebrauch

hochfrequent mittelfrequent niederfrequent

‚Lexik‘

Lexik

natives Appellativ Kurzwort + Eigenname Kurzwort + Fremdwort Kurzwort Eigenname Fremdwort

‚Genus‘

Lexik

Maskulinum Neutrum

‚Inhärente Monoreferenz‘

Lexik

liegt nicht vor liegt vor

‚Apposition‘

Syntax

liegt nicht vor liegt vor

‚Artikelwort‘14

Syntax

des jenes dieses Possessivartikel eines

|| 14 Aufgrund der niedrigen Frequenz wurden die Possessivartikel zu einer Gruppe zusammengefasst. Der Negationsartikel keines ist überhaupt nicht in der Stichprobe enthalten.

Analyse der Daten | 21

Variable

Ebene

Merkmalsausprägung

‚Genitivtyp‘

Syntax

Attribut Adverbiale (fossiliert) Objekt (von einem Verb regiert) Objekt (von einem Adjektiv regiert) von Adposition regiert

‚Genitivhäufung‘

Syntax

liegt nicht vor syntaktisch abhängig syntaktisch nicht abhängig

‚Derivation‘

Wortbildung

liegt nicht vor liegt vor

‚Substantivierter Infinitiv‘

Wortbildung

liegt nicht vor liegt vor

‚Kompositum‘

Wortbildung

liegt nicht vor liegt vor

‚Fugen-s‘

Wortbildung

liegt nicht vor liegt vor

‚Schonungsbedarf + [s]‘

Lexik/Phonologie

liegt nicht vor liegt vor

‚Vollvokal in letzter Silbe‘

Phonologie

liegt vor liegt nicht vor

‚Auslaut‘

Phonologie

s. Tab. 13 in Abschnitt 2.4.2.1

‚Silbenzahl‘

Phonologie

metrisch: 1 bis 11

‚Konsonanten in finaler Silbenkoda‘

Phonologie

metrisch: 0 bis 3

‚Anzahl an [s]/[z]-Lauten‘

Phonologie

metrisch: 0 bis 5

Zu beachten ist, dass nicht alle Datenpunkte bei dieser Zusammenstellung an Variablen in ein statistisches Modell integriert werden können. Es gibt zwei

22 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

Gründe, warum bestimmte Kurzwörter gesondert behandelt werden müssen: Erstens besteht z.B. zwischen den Merkmalsausprägungen Kurzwort und Kompositum ein starker Zusammenhang, was zum Problem der Multikollinearität führt, da nahezu alle Kurzwörter auf Komposita zurückgehen.15 Zweitens sind Kurzwörter und Nicht-Kurzwörter hinsichtlich phonologischer Kriterien (wie z.B. Komplexität der finalen Koda) nicht vergleichbar.16 Deshalb werden zunächst zwei logistische Regressionen gerechnet: eine erste, in der alle Datenpunkte integriert sind, aber die Variablen fehlen, die die Wortbildung (‚Kompositum‘, ‚Derivation‘ und ‚Fugen-s‘) oder die Phonologie (‚Anzahl an s-Lauten‘, ‚Auslaut‘, ‚Komplexität der Silbenkoda‘, ‚Silbenzahl‘ und ‚Vollvokal in letzter Silbe‘) betreffen, und eine zweite, bei der multisegmentale Buchstabenkurzwörter ausgeschlossen werden, dafür aber alle Variablen integriert sind.17

2.4.1 Überblick Insgesamt enthält die Stichprobe 620 flexivlose Substantive im Genitiv, 4380 sind mit einem Flexiv versehen. Der Anteil flexivloser Substantive liegt somit bei 12,4 %.

ohne Flexiv 12,4%

mit Flexiv 87,6%

Abb. 1: Anteil flexivloser Formen in der Stichprobe

|| 15 Das betrifft vor allem die frequentesten Kurzworttypen in der Stichprobe, die multisegmentalen Buchstabenkurzwörter (z.B. AKW zur Vollform Atomkraftwerk oder RAM zur Vollform Random-Access Memory). Die hier verwendete Terminologie richtet sich nach Fleischer & Barz (42012: 277–280). 16 Das betrifft in erster Linie buchstabierte multisegmentale Buchstabenkurzwörter (z.B. AKW). 17 Unisegmentale Kurzwörter (z.B. Akku zur Vollform Akkumulator) werden jeweils berücksichtigt, da die oben beschriebene Problematik auf diesen Kurzwortbildungstyp nicht zutrifft.

Analyse der Daten | 23

Die in das statistische Modell integrierten Variablen ermöglichen es, die Varianz der abhängigen Variable zu erklären. Nagelkerke-R2 liegt bei 0,624, sodass die Modellgüte als „sehr gut“ klassifiziert werden kann – mehr als 62 % der Varianz innerhalb der Stichprobe bzgl. der Flexivlosigkeit können durch unabhängige Variablen erklärt werden (Backhaus et al. 102003: 442).18 Die gute Erklärungskraft des Modells unterstreicht auch die entsprechende Konfusionstabelle (vgl. Tab. 3): 94,1 % aller Merkmalsausprägungen der abhängigen Variable (also Flexiv vs. kein Flexiv) werden aufgrund der Merkmalsausprägungen der unabhängigen Variablen richtig vorhergesagt.19 Tab. 3: Konfusionstabelle

Vorhersagt

Anteil korrekter Vorhersagen (in %) kein Flexiv

Beobachtet

Flexiv

Flexiv

4291

89

kein Flexiv

206

414

98,0 66,8 94,1

Tab. 4 fasst alle Variablen zusammen, die zur Verbesserung der Modellgüte beitragen und einen signifikanten Einfluss auf die Merkmalsausprägung der abhängigen Variable haben. Aufgeführt sind die Anzahl der Freiheitsgrade pro Variable (degrees of freedom, df)20, der p-Wert, auf dessen Basis entschieden werden kann, ob eine Variable einen signifikanten Einfluss hat, sowie der jeweilige Effekt-Koeffizient samt Konfidenzintervall. Neben dem p-Wert ist der EffektKoeffizient die entscheidende Größe, da anhand dieses Wertes nicht nur abgelesen werden kann, ob ein Einfluss erkennbar ist, sondern auch, wie stark dieser ist und in welche Richtung er sich auswirkt (also zugunsten oder zuungunsten der Realisierung eines Flexivs). Wird einer Merkmalsausprägung ein Wert zugewiesen, der größer ist als 1, ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine flexivlose || 18 Es liegt keine Multikollinearität vor. Die Korrelation zwischen den unabhängigen Variablen übersteigt r = |0,388| nicht. 19 Die grau hinterlegten Zellen dokumentieren in der Übersicht die richtig klassifizierten Fälle; hier stimmt also die aufgrund der abhängigen Variablen vorhergesagte Anwesenheit oder Abwesenheit des Flexivs mit der tatsächlich beobachteten Abwesenheit/Abwesenheit des Flexivs im entsprechenden Beleg überein. 20 Diese ergibt sich aus der Anzahl der Merkmalsausprägungen einer Variable, wobei die Referenzkategorie nicht mitgezählt wird. Bei metrisch skalierten Variablen ist df = 1.

24 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

Form auftritt, bei dieser Merkmalsausprägung größer als bei der Referenzkategorie.21 Je stärker der Wert von 1 abweicht, desto größer ist die Wirkungsstärke: Der Effekt-Koeffizient gibt an, wie sich das Chancenverhältnis bzgl. des Eintretens der Flexivlosigkeit durch die jeweilige Merkmalsausprägung im Vergleich zur Referenzkategorie verändert. Der Merkmalsausprägung Apposition wird z.B. der Wert 2,435 zugewiesen. Das Chancenverhältnis ändert sich vom zunächst theoretisch angenommenen 1:1 zu 2,435:1 zugunsten der Flexivlosigkeit, wenn eine Apposition vorliegt. Die Wahrscheinlichkeit, dass kein Flexiv realisiert wird, ist bei anderen Variablen sogar deutlich größer: Bzgl. eines Lexems, das als Kurzwort und Eigenname zu klassifizieren ist (z.B. DFB für Deutscher Fußball-Bund), liegt das Chancenverhältnis von kein Flexiv zu Flexiv bei 1596,728:1. Werte unter 1 bedeuten entsprechend, dass die Wahrscheinlichkeit, dass kein Flexiv realisiert wird, sinkt. Je näher der Effekt-Koeffizient an 0 liegt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit (vgl. z.B. die Variable ‚Genus‘ in Tab. 4: Wenn Neutrum vorliegt, liegt das Chancenverhältnis bei 0,414:1 zuungunsten der Flexivlosigkeit). Das Konfidenz-Intervall gibt schließlich Auskunft darüber, in welchem Bereich der Wert des Effekt-Koeffizienten mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % liegt. Unabhängige Variablen, die keinen signifikanten Einfluss auf die Ausprägung der abhängigen Variable haben, wurden (auf Basis der Wahrscheinlichkeit der Likelihood-Quotienten-Statistik) aus dem Modell entfernt (vgl. Tab. 10 in Abschnitt 2.4.1.6). Tab. 4: In das Modell integrierte Variablen

Variable und Merkmalsausprägungen

df

Sign.

‚Lexik‘

5

,000

Kurzwort + Eigenname

1

,000

Effekt-Koeffizient

Konfidenzintervalle (95%) für den Effekt-Koeffizienten

1596,728

474,889

5368,708

Kurzwort

1

,000

595,616

302,867

1171,335

Eigenname

1

,000

31,129

19,413

49,916

Kurzwort + Fremdwort

1

,000

13,499

4,204

43,340

Fremdwort

1

,000

11,968

8,329

17,197

Referenzkategorie: natives Appellativ

|| 21 Zur Festlegung der Referenzkategorien vgl. Tab. 2.

Analyse der Daten | 25

Variable und Merkmalsausprägungen

df

Sign.

Effekt-Koeffizient

Konfidenzintervalle (95%) für den Effekt-Koeffizienten

‚Inhärente Monoreferenz‘

1

,000

6,067

4,366

8,431

Referenzkategorie: Inhärente Monoreferenz liegt nicht vor ‚Frequenz‘

2

mittel

1

,000 ,000

2,669

1,745

4,083

niedrig

1

,000

2,286

1,488

3,513

,000

2,435

1,571

3,775

,315

,545

Referenzkategorie: hochfrequent ‚Apposition‘

1

Referenzkategorie: Apposition liegt nicht vor ‚Genus‘: Neutrum

1

,000

,414

Referenzkategorie: Maskulinum

Im Folgenden werden alle Variablen im Einzelnen besprochen, wobei auch die jeweils relevanten Teile von Tab. 4 in einer eigenen Tabelle wiederholt werden. 2.4.1.1 Lexik Wie an den Effekt-Koeffizienten in Tab. 4 zu erkennen ist, handelt es sich bei ‚Lexik‘ um die mit Abstand einflussstärkste Variable. Jede einzelne Merkmalsausprägung hat erhebliche Auswirkungen auf das Chancenverhältnis bzgl. der Flexivlosigkeit. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Flexiv ausgelassen wird, ist bei Fremdwörtern, Eigennamen und Kurzwörtern (sowie Substantiven, die mehreren dieser drei Klassen angehören) um ein Vielfaches höher als bei Substantiven, die keiner dieser drei Gruppen angehören (vgl. (12) bis (14) und Tab. 5).22 (12)

FREMDWORT: Dazu kommt das Problem des Zapping oder ChannelHopping.

|| 22 Bei der Klassifizierung der einzelnen Substantive habe ich mich in Zweifelsfällen nach Nübling, Fahlbusch & Heuser (22015) und dem Duden-Fremdwörterbuch (92009) gerichtet. Das Verständnis dieser Kategorien, das den Unterteilungen zugrunde liegt, wird in Kapitel 4 reflektiert.

26 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

(13)

EIGENNAME: Der Campingplatz liegt ja direkt am Ufer des Neckar und so wurde allen vorbeifahrenden Schiffen zugewunken.

(14)

KURZWORT: Neben Fragen nach der weiteren Erschließung des ÖPNV (Wehrhahnlinie, Hafenlinie, U80) stand vor allem die Arena im Mittelpunkt des Interesses.

Tab. 5: Einfluss der Variable ‚Lexik‘

Variable und Merkmalsausprägungen

df

Sign.

‚Lexik‘

5

,000

Kurzwort + Eigenname

1

,000

Effekt-Koeffizient

Konfidenzintervalle (95%) für den Effekt-Koeffizienten

1596,728

474,889

5368,708

Kurzwort

1

,000

595,616

302,867

1171,335

Eigenname

1

,000

31,129

19,413

49,916

Kurzwort + Fremdwort

1

,000

13,499

4,204

43,340

Fremdwort

1

,000

11,968

8,329

17,197

Referenzkategorie: natives Appellativ

Auch zwischen den Merkmalsausprägungen bestehen deutliche Unterschiede, die an den Effekt-Koeffizienten abgelesen werden können und zudem in Abb. 2 anhand von Anteilswerten veranschaulicht werden.23 Kurzwörter sind am stärksten von der Flexivlosigkeit betroffen, gefolgt von Eigennamen und Fremdwörtern. Dass die Effekte, die aus der Zugehörigkeit zu den speziellen Klassen resultieren, sich summieren, wenn bei einem Substantiv eine Zugehörigkeit zu mehr als einer Klasse gegeben ist (vgl. (15) und (16)), zeigen die Effekt-Koeffizienten in Tab. 5 und veranschaulicht Abb. 3.24

|| 23 Eine präzisere Analyse der einzelnen Gruppen erfolgt in Kapitel 4. 24 Aufgrund des besonders hohen Anteils fremdsprachlichen Materials im Onomastikon ist eine gesonderte Klasse Eigenname + Fremdwort nicht sinnvoll und wurde deshalb nicht angesetzt.

Analyse der Daten | 27

Native

Fremdwörter

Eigennamen

Kurzwörter

Appellative 1%

10%

15% 39%

61% 99%

85%

90% -s



Abb. 2: Anteil flexivloser Formen bei verschiedenen Lexemklassen

(15)

EIGENNAME + KURZWORT: Ich war ja immer Fan von Basti, aber: Er ist Praktikant auf der Pressestelle des HSV.

(16)

FREMDWORT + KURZWORT: Zumindest gilt das für die 3 Teile des Prequel.

Abb. 3: Kumulierende Effekte Lexik

28 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

Diejenigen nativen Appellative, die nicht den Kurzwörtern zuzurechnen sind25, werden beinahe ausnahmslos mit Flexiv versehen. Unter den 3212 nativen Appellativen in der Stichprobe enthalten lediglich 38 (also 1,2 %) kein Flexiv. Diese Belege können als Einzelfälle gewertet werden, sind allesamt auch im statistischen Sinne als Ausreißer zu klassifizieren26 und können nur sehr begrenzt von den weiteren Faktoren erklärt werden (s. auch Abschnitt 2.4.3). 2.4.1.2 Monoreferenz Nicht nur Eigennamen, bei denen generell Monoreferenz gilt, sondern auch bestimmte Appellative wie Monosemantika oder Unika (die nur ein einziges Denotat besitzen) müssen als monoreferenziell klassifiziert werden, was mitunter zu Abgrenzungsproblemen führen kann (vgl. Nübling, Fahlbusch & Heuser 2 2015: 32–36). Solche Substantive, die in dieser Hinsicht also eine gewisse Nähe zu Eigennamen aufweisen, verhalten sich auch grammatisch ähnlich wie Eigennamen, da sie häufig flexivlos belegt werden können (vgl. (17) und Tab. 6). (17)

Auch die Möglichkeiten des Internet werden bisher vollkommen vernachlässigt.

Tab. 6: Auswirkung der Monoreferenz

Variable und Merkmalsausprägungen

df

Sign.

Effekt-Koeffizient

Konfidenzintervalle (95%) für den Effekt-Koeffizienten

‚Monoreferenz‘

1

,000

6,067

4,366

8,431

Referenzkategorie: Monoreferenz liegt nicht vor

|| 25 Diese Gruppe von Substantiven, die dem zentralen substantivischen Bereich zuzuordnen sind, werden im Folgenden der Einfachheit halber als native Appellative bezeichnet. Sollten native, appellativische Kurzwörter gemeint sein, wird dies gesondert kenntlich gemacht. Mit Appellativ werden hier nicht nur Gattungsnamen bezeichnet, sondern alle Substantive, bei denen es sich nicht um Eigennamen handelt. Nübling, Fahlbusch & Heuser (22015: 28–30) sprechen in diesem Zusammenhang von Appellativen „im weiteren Sinn“. 26 Als Basis der Ausreißererkennung werden die Residuen, also die „Abweichungen zwischen tatsächlicher Gruppenzugehörigkeit und der geschätzten Wahrscheinlichkeit“ (Fromm 2005: 27) der entsprechenden Merkmalsausprägung herangezogen. Die Klassifizierung als Ausreißer erfolgt ab einem standardisierten Residuum von über 2,0.

Analyse der Daten | 29

2.4.1.3 Frequenz Die gesamte Stichprobe wurde zur Überprüfung des Faktors ‚Frequenz‘ in drei Gruppen mit je 1666 bzw. 1667 Belegen aufgeteilt. Die Einteilung in niederfrequent (bis zu einer Tokenfrequenz von 1790), mittelfrequent (bis 35.150) und hochfrequent (über 35.150) richtet sich dabei nach der Frequenz des betroffenen Lemmas im Teilkorpus DECOW2012-00. Tab. 7: Auswirkung der Frequenz

Variable und Merkmalsausprägungen

df

Sign.

Effekt-Koeffizient

Konfidenzintervalle (95%) für den Effekt-Koeffizienten

‚Frequenz‘

2

,000

mittel

1

,000

2,669

1,745

4,083

niedrig

1

,000

2,286

1,488

3,513

Referenzkategorie: hochfrequent

Tab. 7 zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit einer s-losen Form bei mittel- und niederfrequenten Substantiven signifikant höher ist als bei hochfrequenten. Die Stärke des Einflusses ist mit 2,669 bzw. 2,286 allerdings relativ gering. 2.4.1.4 Appositive Nebenkerne Syntaktische Eigenschaften der Belege sind von untergeordneter Bedeutung mit Blick auf die Flexivlosigkeit. Lediglich appositive Nebenkerne sorgen – wenn auch schwach – für eine vermehrte Auslassung des Flexivs. Unter appositiven Nebenkernen verstehe ich mit der Duden-Grammatik (92016: 997) „ein Substantiv, das so eng zu seinem Bezugssubstantiv gehört, dass beide zusammen einen komplexen Phrasenkern bilden“. Zu diesen Juxtapositionen werden determinative und explikative Appositionen gezählt (vgl. (18) und (19)).27 (18)

Briefwechsel des Landesverband Niedersachsen mit dem Bundestagsabgeordneten Uhl

|| 27 Mehrteilige Eigennamen, die in der Duden-Grammatik (92016: 999–1000) ebenfalls zu den appositiven Nebenkernen gezählt werden (z.B. Wolfram von Eschenbachs Parzival), sind in der Stichprobe nicht enthalten. Zur Flexion dieser Eigennamen vgl. Zifonun (2001).

30 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

(19)

Dort aber waren sie schlecht organisiert und nervös, während die Figur des Colonel Peckham der militärischen Engstirnigkeit ein fieses Gesicht gab.

Tab. 8: Auswirkung von appositiven Nebenkernen

Variable und Merkmalsausprägungen

df

Sign.

Effekt-Koeffizient

Konfidenzintervalle (95%) für den Effekt-Koeffizienten

‚Apposition‘

1

,000

2,435

1,571

3,775

Referenzkategorie: Apposition liegt nicht vor

2.4.1.5 Genus Der Merkmalsausprägung Neutrum kommt ein Effekt-Koeffizient von 0,414 zu. Die Wahrscheinlichkeit, dass Flexivlosigkeit eintritt, ist bei Maskulina demnach in etwa doppelt so hoch wie bei Neutra (vgl. Tab. 9). Dieses Ergebnis ist allerdings nicht durch die Variable ‚Genus‘ selbst zu erklären, sondern vielmehr durch den Zusammenhang mit der Variable ‚Lexik‘. 64,3 % der Kurzwörter sind Maskulina. Diese Ungleichverteilung sorgt zwar nicht für eine starke Korrelation der beiden Variablen (r = -0,156), ist aber dennoch von Bedeutung, da der Effekt-Koeffizient der Merkmalsausprägung Kurzwort außerordentlich groß ist (595,616). Sobald die Kurzwörter in der Regression unberücksichtigt bleiben, erübrigt sich der Einfluss der Variable ‚Genus‘ (vgl. Abschnitt 2.4.2). Tab. 9: Auswirkung des Genus

Variable und Merkmalsausprägungen

df

Sign.

Effekt-Koeffizient

Konfidenzintervalle (95%) für den Effekt-Koeffizienten

‚Genus‘: Neutrum

1

,000

,414

,315

,545

Referenzkategorie: Maskulinum

2.4.1.6 Variablen ohne signifikanten Einfluss Keinen signifikanten Einfluss haben die Wahl des zum Substantiv gehörigen Artikels, die Wortart, von dem das Substantiv abhängig ist, und die Anwesenheit weiterer Genitivkonstruktionen in der syntaktischen Umgebung, wobei es

Analyse der Daten | 31

auch unerheblich ist, ob eine ggf. vorhandene weitere Genitivkonstruktion syntaktisch abhängig ist (vgl. (20)) oder nicht (vgl. (21)). In Tab. 10 sind die entsprechenden Werte aufgelistet. Tab. 10: Nicht in das Modell integrierte Variablen

Variable

df

Sign.

‚Genitivhäufung‘

2

,679

syntaktisch nicht abhängig

1

,406

syntaktisch abhängig

1

,792

Referenzkategorie: liegt nicht vor ‚Genitivtyp‘

4

,107

von Adposition regiert

1

,676

Objekt (von Adjektiv regiert)

1

,610

Objekt (von Verb regiert)

1

,012

Adverbiale (fossiliert)

1

,349

‚Artikelwort‘

4

,164

eines

1

,695

Possessivartikel

1

,106

dieses

1

,090

jenes

1

,609

Referenzkategorie: Attribut

Referenzkategorie: des

(20)

Mit der Entdeckung der Radioaktivität, der Aufklärung des Aufbaus eines Atoms [...] wurde der Menschheit eine gewaltige neue Energiequelle nutzbar.

(21)

Ein neues Zeitalter des Friedens und des Fortschritts.

32 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

2.4.2 Phonologische und morphologische Faktoren Wie in Abschnitt 2.2 beschrieben ist es nötig, eine weitere logistische Regression zu berechnen, bei der bestimmte Kurzwörter ausgeschlossen werden, um phonologische Kriterien und Wortbildungsmerkmale ohne inhaltliche Verzerrungen und ohne das Problem der Multikollinearität untersuchen zu können. Alle anderen Belege werden berücksichtigt. Außerdem werden die unabhängigen Variablen, die sich in der oben beschriebenen Regression als bedeutsam erwiesen haben, um Variablen aus den Bereichen Phonologie und Wortbildung ergänzt. Auch die mit diesen Änderungen durchgeführte logistische Regression ist sehr gut dazu in der Lage, die Ausprägung der abhängigen Variable vorherzusagen bzw. zu erklären, was an der Modellgüte mit einem R2-Wert nach Nagelkerke von 0,562 abgelesen werden kann. Mehr als 56 % der Varianz innerhalb der Stichprobe bzgl. der Flexivlosigkeit können demnach durch die integrierten unabhängigen Variablen erklärt werden, was ein sehr guter Wert ist (vgl. Backhaus et al. 102003: 442). Tab. 11 zeigt, dass 95,7 % der Merkmalsausprägungen der abhängigen Variable aufgrund der berücksichtigten unabhängigen Variablen richtig prognostiziert werden. Tab. 11: Konfusionstabelle

Vorhersagewert

Anteil korrekter Vorhersagen (in %)

Beobachtet Flexiv

kein Flexiv

Flexiv

4308

37

kein Flexiv

168

218

99,1 56,5 95,7

Von den (im Vergleich zu Abschnitt 2.4.1) zusätzlich integrierten Variablen haben lediglich ‚Kompositum‘ und ‚Schonungsbedarf + [s]‘ einen signifikanten Einfluss (vgl. Tab. 12).

Analyse der Daten | 33

Tab. 12: In das Modell integrierte Variablen

Variable und Merkmalsausprägungen

df

Sig.

Effekt-Koeffizient

‚Schonungsbedarf + [s]‘

1

,000 20,941

Konfidenzintervalle (95%) für den Effekt-Koeffizienten 12,791

34,285

Referenzkategorie: Schonungsbedarf + [s] liegt nicht vor ‚Lexik‘

2

,000

Eigenname

1

,000 24,468

14,337

41,758

Fremdwort

1

,000 5,310

3,598

7,837

Referenzkategorie: natives Appellativ ‚Frequenz‘

2

,000

niedrig

1

,000 7,105

4,238

11,912

mittel

1

,000 3,260

2,061

5,158

1

,000 4,305

2,814

6,587

2,046

5,544

,065

,150

Referenzkategorie: hoch ‚Inhärente Monoreferenz‘

Referenzkategorie: Inhärente Monoreferenz liegt nicht vor ‚Apposition‘

1

,000 3,368

Referenzkategorie: Apposition liegt nicht vor ‚Kompositum‘

1

,000 ,099

Referenzkategorie: Kompositum liegt nicht vor

2.4.2.1 Schonungsbedarf + [s] Grundsätzlich lässt sich kein signifikanter Einfluss eines speziellen Auslauts nachweisen. Integriert man ‚Auslaut‘ als unabhängige Variable in die sonst identisch konfigurierte logistische Regression, gilt für sämtliche Merkmalsausprägungen p > 0,05 (vgl. Tab. 13).28

|| 28 Ein zentraler Aspekt bzgl. des Auslauts ist seine Sonorität. So ist es durchaus plausibel, anzunehmen, dass Flexivlosigkeit begünstigt wird, wenn das Flexiv -s unmittelbar auf einen Plosiv folgen würde und damit extrasilbisch wäre (zur Bedeutung der Sonorität bei der Genitivallomorphie (-es vs. -s) im Deutschen vgl. Szczepaniak 2010a). Als Referenzkategorie für die Variable ‚Auslaut‘ wurde deshalb nicht die am häufigsten beobachtete Merkmalsausprägung [t] gewählt, sondern der Frikativ [x]. Es war nötig, einen Frikativ als Referenzkategorie zu definieren, um einen möglichen Einfluss von Extrasilbizität und Plateaubildung im Auslaut sinnvoll darstellen zu können: Wäre dieser Aspekt bedeutsam, müssten die weniger sonoren Plosive signifikant abweichen und einen Effekt-Koeffizienten > 1 aufweisen, während allen Lauten mit (im Vergleich zu Frikativen) höherer Sonorität ein Effekt-Koeffizient von < 1 zukommen müsste. Diese Effekte zeigen sich aber nicht (vgl. Tab. 13). Die insgesamt verhältnis-

34 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

Tab. 13: Signifikanz-Niveaus der einzelnen Auslaute

Klasse

Auslaut

Sig.

Klasse

Auslaut

Sig.

[a]

,956

Liquide

[l]

,301

[eː]

,247

[θ]

,999

[ɛː]

,070

[ʃ]

,729

[øː]

,999

Frikative [s]

,153

[oː]

,718

[ç]

,658

[i]

,149

[f]

,890

[yː]

1,000

[p]

,996

[u]

,767

[t]

,270

[ɐ]

,217

[k]

,191

[ə]

,698

[m]

,313

[n]

,664

[ŋ]

,723

Vokale

Nasale

Plosive

Auch für den Auslaut [s] lässt sich kein grundsätzlicher Einfluss zugunsten der Flexivlosigkeit beobachten. Allerdings ist ein Auslaut auf [s] extrem bedeutsam, wenn es sich bei dem betreffenden Substantiv um ein schonungsbedürftiges Wort, also einen Eigennamen, ein Kurzwort oder ein Fremdwort handelt (vgl. Tab. 14).29 Bei nativen Appellativen ist es hingegen unerheblich, ob das Lexem auf ein [s] auslautet.

|| mäßig große Stichprobe ermöglichte es zudem, auch weitere potentielle Einflussgrößen der einzelnen Auslaute zu testen. Dazu wurden die Auslaute nicht zu Klassen (z.B. Plosive) zusammengefasst, sondern einzeln in das statistische Modell integriert. Aus der Gruppe der in der Stichprobe als Auslaut belegten Frikative wurde per Zufallsauswahl der Laut [x] zur Referenzkategorie für alle Auslaute bestimmt. Zur Auswahl von Referenzkategorien vgl. Fromm (2005: 15). 29 Hier spielt auch der Akzent des betroffenen Substantivs eine Rolle. Dieser Aspekt und einige weitere Ausführungen zur Bedeutung des [s]/[z]-Auslauts werden in Abschnitt 4.1.3 etwas ausführlicher thematisiert.

Analyse der Daten | 35

Tab. 14: Einfluss von [s] im Auslaut30

Lexem/Onym lautet auf [s] aus

Sonstige Auslaute

p-Wert31 (FisherYates-Test)

odds ratio32

-Ø vs. -es33

Anteil -Ø

-Ø vs. -(e)s

Anteil -Ø

natives Appellativ

4|270

1,5 %

34|2904

1,2 %

> 0,05



Peripherie

137|38

78,3 %

444|1169

27,5 %

< 0,001***

9,477421

In die logistische Regression wurde deshalb die Variable ‚Schonungsbedarf + [s]‘ aufgenommen, die als einzige (zumindest z.T.) phonologische Variable einen signifikanten Einfluss auf die Flexivlosigkeit hat. Der Effekt-Koeffizient liegt bei 20,941, sodass die Variable als besonders bedeutsam gewertet werden kann. Tab. 15: Auswirkung der Variable ‚Schonungsbedarf + [s]‘

Variable und Merkmalsausprägungen

df

Sig.

Effekt-Koeffizient

Konfidenzintervalle (95%) für den Effekt-Koeffizienten

‚Schonungsbedarf + [s]‘

1

,000

20,941

12,791

34,285

Referenzkategorie: Schonungsbedarf + [s] liegt nicht vor

2.4.2.2 Komposita Bei einem Kompositum ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Flexiv realisiert wird, zehnmal höher als bei Simplizia, Derivationen oder Konversionen (die

|| 30 Die Anzahl der Freiheitsgerade (df) wird bei der Berechnung eines χ2-Tests oder eines Fisher-Yates-Tests im Folgenden nicht gesondert ausgewiesen. Diese Anzahl ergibt sich aus den Angaben in den jeweiligen Erläuterungen und/oder Tabellen. Nur wenn mehr als ein Freiheitsgrad vorliegt, wird gesondert darauf hingewiesen. 31 Die Asteriske bei p-Werten veranschaulichen, auf welchem Signifikanz-Niveau der betreffende Unterschied als statistisch signifikant gewertet werden kann: p < 0,05*, p < 0,01** oder p < 0,001***. 32 Bei der odds ratio handelt es sich um das Äquivalent zum Effektstärkemaß Φ, das bei χ2-Tests berechnet wird. Je stärker der Wert von 1 abweicht, desto größer ist der Effekt (vgl. z.B. Gries 2014). Dieses Maß wird im Folgenden immer mit angegeben, wenn ein Fisher-Yates-Test berechnet wurde und sich dabei ein Unterschied als signifikant herausgestellt hat. 33 Bei einem Auslaut auf [s] ist die nichtsilbische Variante des Genitivflexivs (-s) ausgeschlossen, lediglich -es kann realisiert werden.

36 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

nicht zusätzlich als Komposita zu klassifizieren sind). Dieser Effekt ist nicht mit der im Vergleich höheren Silbenanzahl der Komposita zu erklären, da die Silbenanzahl an sich keinen signifikanten Effekt hat (vgl. Tab. 17). Tab. 16: Auswirkung der Variable ‚Kompositum‘

Variable und Merkmalsausprägungen

df

Sig.

Effekt-Koeffizient Konfidenzintervalle (95%) für den Effekt-Koeffizienten

‚Kompositum‘

1

,000

,099

,065

,150

Referenzkategorie: Kompositum liegt nicht vor

2.4.2.3 Variablen ohne signifikanten Einfluss Abgesehen vom [s]-Auslaut bei schonungsbedürftigen Substantiven trägt kein phonologischer Faktor zur Verbesserung der Modellgüte bei. Die Silbenanzahl des Substantivs, die Anzahl der [s]- bzw. [z]-Laute im Lexem/Onym, die Anzahl der Konsonanten in der auslautenden Silbenkoda, ein ggf. vorhandener Vollvokal in Nebensilben sowie die Anwesenheit oder Abwesenheit eines Fugen-s haben allesamt das veranschlagte Signifikanz-Niveau nicht erreicht und tragen nichts zur Erklärung der Flexivlosigkeit bei. Darüber hinaus ist es irrelevant, ob es sich beim betroffenen Substantiv um einen substantivierten Infinitiv oder eine Derivation handelt.34 Zu guter Letzt zeigt sich hier, wie oben bereits angesprochen, dass der Faktor ‚Genus‘ nicht das Signifikanz-Niveau erreicht, wenn Kurzwörter (die in der Stichprobe überwiegend Maskulina sind) nicht berücksichtigt werden.

|| 34 Andere Konversionen (wie z.B. Sie sind zum Teil des Ich geworden) sind in der Stichprobe nicht enthalten (s. hierzu Konopka & Fuß 2016: 192–199, 220–224 sowie Nowak & Nübling 2017: 129–131).

Analyse der Daten | 37

Tab. 17: Nicht in das Modell integrierte Variablen

Variable

df

Sig.

‚Genus‘: Neutrum

1

,036

‚Silbenzahl‘

1

,492

‚Anzahl der [s]/[z]-Laute‘

1

,086

‚Konsonanten in finaler Silbenkoda‘

1

,018

‚Vollvokal in letzter Silbe‘

1

,837

Referenzkategorie: Maskulinum

Referenzkategorie: Vollvokal in letzter Silbe liegt nicht vor ‚Fugen-s‘

1

,601

Referenzkategorie: Fugen-s liegt nicht vor ‚Derivation‘

1

,026

Referenzkategorie: Derivation liegt nicht vor ‚Substantivierter Infinitiv‘

1

,999

Referenzkategorie: Substantivierter Infinitiv liegt nicht vor

2.4.3 Native Appellative Einen weiteren Nachweis, dass ‚Lexik‘ der ausschlaggebende Faktor ist und der Großteil der weiteren Faktoren vernachlässigt werden kann, liefert eine logistische Regression, die nur native Appellative berücksichtigt und die anderen Belege, die einer anderen Ausprägung der Variable ‚Lexik‘ zuzuordnen sind, ausschließt. Auch wenn alle 17 bisher thematisierten Variablen in das Modell integriert werden, können sie die Varianz bzgl. der Flexivlosigkeit in dieser Stichprobe nicht erklären. Der R2-Wert nach Nagelkerke liegt bei 0,035 und ist nach Backhaus et al. (102003: 448) somit nicht akzeptabel. Die Klassifikationsergebnisse werden im Vergleich zur proportionalen Zufallswahrscheinlichkeit durch die integrierten Variablen nicht verbessert. Das bedeutet, dass das Modell samt den verwendeten Variablen nicht zur Erklärung der Flexivlosigkeit bei nativen Appellativen herangezogen werden kann (vgl. ebd.). Da der Einfluss weiterer unabhängiger Variablen äußerst unwahrscheinlich ist, muss man hier wohl von freier Variation oder (Flüchtigkeits-)Fehlern ausgehen. Dem entspricht auch die Tatsache, dass flexivlose native Appellative aufgrund der in Abschnitt 2.4.1 thematisierten logistischen Regression allesamt als Ausreißer zu klassifizieren sind.

38 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

Tab. 18 listet alle 38 nativen Appellative auf, die in der Stichprobe ohne Flexiv vorkommen. Möglicherweise können einzelne Belege damit erklärt werden, dass die zum Stamm gehörende Endung en als Flexiv der schwachen Flexion interpretiert wurde (also z.B. des Unternehm-en statt des Unternehmen-Ø) und deshalb das starke Flexiv ausbleibt. Diese mögliche Reanalyse könnte zehn der 38 in Tab. 18 aufgelisteten Belege erklären (vgl. grau hinterlegte Zellen). Tab. 18: Native Appellative ohne Flexiv

des Angeln

des Kopfbahnhof

des Töten

des Bewohner

des Landesverband

eines Unentschieden

des Einlauf

des Lied

des Unternehmen

des Entwurf

des Mächteverhältnis

eines Unternehmen

Meines Erachten

des Menschsein

unseres Unternehmen

des Es

des Mittelstürmer

des Verfahren

des Fernmeldewesen

des Netzteil

des Vertretenmüssen

des Film

des Nichts

des Wanderer

des Fräulein

des Richter

des Wasser

eines Gespräch

des Selbst

des Wettbewerbsrecht

des Gott

des Sozialgesetzbuch

des Hersteller

des spießertum

eines Kindergarten

des Süden

des Knecht

des Torverhältnis

Dass es sich bei diesen zehn Belegen dennoch um Ausreißer handelt und keine generelle Tendenz auszumachen ist, Substantive, deren Stamm auf en endet, nicht zu flektieren, verdeutlicht Tab. 19: Der Anteil flexionsloser Formen bei Wörtern mit Stämmen auf en liegt sogar unter dem Anteil flexivloser Formen bei allen übrigen Substantiven, was daran liegt, dass 95,5 % dieser Substantive native Appellative sind und ‚Lexik‘ die entscheidende Variable ist.

Analyse der Daten | 39

Tab. 19: Einfluss des Stamm-Auslauts

Stamm-Auslaut

-Ø vs. -(e)s

Anteil -Ø

en

11 | 430

2,5 %

≠ en

609 | 3950

χ2-Wert35

p

Φ36

43,6899

< 0,001***

0,09347714

13,4 %

2.4.4 Umfang der Nominalgruppe Um den möglichen Einfluss des Umfangs einer Nominalgruppe auf die Anwesenheit/Abwesenheit eines Flexivs zu testen, wurde eine stratifizierte Stichprobe gezogen. Dazu wurde in DECOW2012-00 nach den Artikelwörtern des, eines, jenes, dieses, keines, meines, deines, seines, unseres, eures, ihres, auf die kein Substantiv folgt, gesucht. Die 1.048.565 Belege wurden randomisiert und davon dann 11.000 manuell analysiert und von Fehlbelegen bereinigt, sodass je 250 Genitivbelege der in der Tab. 20 dargestellten Gruppen in die Analyse integriert werden konnten. Ergänzt wurde diese Stichprobe um 250 randomisiert ausgewählte Belege mit unmittelbar auf das Artikelwort folgendem Substantiv aus der einfachen Zufallsstichprobe (vgl. Abschnitt 2.4.1). Aussortiert wurden wieder schwache Maskulina (des klugen Menschen), getrennt geschriebene Komposita (des Shooting Adventure) und Konstruktionen ohne eine Wortform im Genitiv Singular (eines der vielen Abenteuer). Die Kategorie, die in der letzten Zeile von Tab. 20 dargestellt ist, enthält Sätze mit bis zu 24 Wortformen zwischen Artikelwort und dem dazugehörigen Substantiv (vgl. (22)).

|| 35 Der χ2-Wert ist beim gleichnamigen Test die Basis der Einteilung in signifikante und nichtsignifikante Unterschiede und somit die Grundlage für den p-Wert. Beide Werte werden im Folgenden angegeben. 36 Mithilfe des Effektstärkemaßes Φ kann die Bedeutsamkeit eines Unterschieds bestimmt werden. Der Wert liegt immer zwischen 0 und 1. Je näher sich der Wert an 1 befindet, desto größer ist die Bedeutsamkeit des Unterschieds (vgl. z.B. Gries 2014). Dieses Maß wird im Folgenden für alle statistisch signifikanten Unterschiede mit angegeben, wenn ein χ2-Test berechnet wurde.

40 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

Tab. 20: Zusammenstellung der Stichprobe

Abstand: Artikelwort – Substantiv

Beispiel

keine Wortform

des Hausmeisters

eine Wortform

des vergangenen Tages

zwei Wortformen

eines braven, fleißigen Mannes

drei Wortformen

des öffentlichen und privaten Lebens

vier oder mehr Wortformen

des nicht ganz so populären Autors

(22)

Anzahl Belege

je 250

Für die Annahme eines zwischen der – unstreitig zu allen das Mietverhältnis betreffenden Erklärungen bevollmächtigten – Hausverwaltung und den Kl. im Rahmen der förmlichen Übergabe der Wohnung Ende Juli 1996 geschlossenen Mietaufhebungsvertrags sprechen folgende Umstände: […]

Um den möglichen Einfluss des Umfangs einer Nominalgruppe zu testen, wurde die Anzahl an Wörtern zwischen Artikelwort und Substantiv als metrisch skalierte Variable in eine logistische Regression integriert. Ergänzt wurde diese um alle Variablen, die sich in mindestens einer bisher thematisierten logistischen Regression als bedeutsam erwiesen haben.37 Der Nagelkerke-Wert von R2 = 0,601 und die Konfusionstabelle (vgl. Tab. 21) verdeutlichen, dass auch hier die unabhängigen Variablen sehr gut dazu in der Lage sind, die Ausprägung der abhängigen Variable vorherzusagen.

|| 37 Lediglich die Variable ‚Kompositum‘ wurde nicht integriert, da aus den in Abschnitt 2.4 erläuterten Gründen ansonsten die Kurzwörter nicht hätten berücksichtigt werden können. Eine logistische Regression mit der Variable ‚Kompositum‘, aber ohne Kurzwort-Belege, kommt zu vergleichbaren Ergebnissen wie den hier präsentierten: Nagelkerkes R2 = 0,552; Anteil richtig vorhergesagter Merkmalsausprägungen: 95,0 %; Einfluss der Variable ‚Umfang der Nominalgruppe‘ nicht signifikant: p > 0,05.

Analyse der Daten | 41

Tab. 21: Konfusionstabelle

Vorhersagewert

Anteil korrekter Vorhersagen (in %)

Beobachtet Flexiv

kein Flexiv

Flexiv

1072

35

97,3

kein Flexiv

38

105

73,4

 

94,2

Die neu integrierte Variable ‚Umfang der Nominalgruppe‘ hat allerdings keinen signifikanten Einfluss auf die Anwesenheit/Abwesenheit eines Flexivs (vgl. Tab. 22). Bzgl. der Realisierung eines Flexivs ist es demnach unerheblich, ob bzw. wie viele Wörter zwischen Artikelwort und Substantiv stehen. Darüber hinaus zeigt sich hier (wie auch schon in Abschnitt 2.4.2.3) kein signifikanter Einfluss des Genus. Auch die Variable ‚Apposition‘ ist mit Blick auf die hier besprochene Stichprobe nicht bedeutsam. Tab. 22: Nicht in das Modell integrierte Variablen

Variable

df

Sig.

‚Apposition‘

1

0,332

1

0,16

1

0,944

Referenzkategorie: Apposition liegt nicht vor ‚Genus‘: Neutrum Referenzkategorie: Maskulinum ‚Anzahl Wörter zwischen Artikelwort und Substantiv‘

Einen signifikanten Einfluss haben demgegenüber die Variablen ‚Lexik‘, ‚Frequenz‘38, ‚Monoreferenz‘ und ‚Schonungsbedarf + [s]‘ (vgl. Tab. 23). Allein diese vier Variablen tragen zur richtigen Vorhersage von 94,2 % aller Ausprägungen der abhängigen Variable bei, was erneut deren Bedeutsamkeit unterstreicht.

|| 38 Die Einteilung in drei Gruppen mit je 416 bzw. 417 Wörtern abhängig von der Frequenz des Lemmas erfolgte analog zu der in Abschnitt 2.4.1.3 beschriebenen Vorgehensweise. Die drei hier eingeteilten Gruppen stellen sich folgendermaßen dar: niederfrequent (Tokenfrequenz des Lemmas in DECOW2012-00 zwischen 1 – 1251), mittelfrequent (1252 – 34.223) und hochfrequent (34.224 – 1.832.995).

42 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

Tab. 23: In das Modell integrierte Variablen

Variable und Merkmalsausprägungen

df

Sig.

Effekt-Koeffizient

Konfidenzintervalle (95%) für den Effekt-Koeffizienten

‚Schonungsbedarf + [s]‘

1

,000

17,738

8,208

38,333

Referenzkategorie: Schonungsbedarf + [s] liegt nicht vor ‚Lexik‘

5

,000

Fremdwort

1

,003

2,96

1,458

6,007

Eigenname

1

,000

17,524

4,884

62,884

Kurzwort

1

,000

102,459

32,134

326,687

Kurzwort + Fremdwort

1

,086

6,718

0,765

58,976

Kurzwort + Eigenname

1

,000

120,634

29,889

486,894

8,612

2,94

25,226

Referenzkategorie: natives Appellativ ‚Inhärente Monoreferenz‘

1

,000

Referenzkategorie: Inhärente Monoreferenz liegt nicht vor ‚Frequenz‘

2

,006

niedrig

1

,013

3,022

1,265

7,22

mittel

1

,001

4,078

1,729

9,62

Referenzkategorie: hoch

2.4.5 Artikellose Verwendung Im Deutschen sind verschiedene Genitivkonstruktionen ohne Artikelwort möglich. Diese werden nun nacheinander kurz erläutert und auf ihre Relevanz bzgl. der s-Losigkeit überprüft. Als marginal können Genitivobjekte, die entweder von einem Adjektiv oder einem Verb regiert werden, gelten – besonders in der Verwendungsweise ohne Artikelwort. In DECOW2012-00 finden sich lediglich elf von einem Adjektiv regierte Genitive, die ein maskulines oder neutrales Substantiv im Singular enthalten (vgl. (23)).39 Alle diese Substantive sind mit einem Flexiv versehen.

|| 39 Gesucht wurde nach einem schwach flektierten Adjektiv gefolgt von einem Substantiv und einem Adjektiv, das einen Genitiv regieren kann. Die Liste der Adjektive richtet sich nach der Duden-Grammatik (82009: 808, 820, 929). Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, beinhaltet aber alle prototypischen Fälle. Folgende Adjektive wurden berücksichtigt: ansichtig, bedürftig, bewusst, gewärtig, gewiss, habhaft, kundig, ledig, schuldig, sicher, teilhaftig,

Analyse der Daten | 43

(23)

Wer nach Kompetenzen fragt und nach der Fähigkeit, in der Welt zurechtzukommen, macht sich immer schon ökonomischen Nützlichkeitsdenkens schuldig.

Von einem Verb regierte Genitivobjekte mit neutralem/maskulinem Substantiv im Singular ohne Artikel finden sich in DECOW2012-00 überhaupt nicht.40 Theoretisch denkbar wären Konstruktionen des Typs Für eine gute Party bedarf es leckeren Bieres. Adverbiale Genitive sind mittlerweile weitestgehend auf feste Wortverbindungen beschränkt (vgl. Duden-Grammatik 92016: 833). Die in der DudenGrammatik verzeichneten Konstruktionen schnellen/festen/gemessenen Schrittes werden – wie zu erwarten – ausschließlich mit Flexiv verwendet (vgl. (24)). In DECOW2012-00 befindet sich unter allen 423 entsprechenden Belegen kein einziger Beleg ohne Flexiv. Auch adverbiale Genitive mit Artikelwort (eines Tages, unseres Erachtens, des Nachts) werden in DECOW2012-00 zu über 99 % mit Flexiv versehen. (24)

Wir marschierten schnellen Schrittes über die Hochebene, die wir gestern schon erkundet hatten.

Mit Blick auf die s-Losigkeit von geringer Aussagekraft sind adpositionale Genitive ohne Artikelwort, da Adpositionen (zum Teil sehr massiven) Rektionsschwankungen unterliegen (vgl. z.B. Lindqvist 1996 und Di Meola 2002). Da an Substantiven ohne attribuierendes Adjektiv in Konstruktionen wie in (25) weder synthetisch noch analytisch ein Kasus spezifiziert wird, ergeben sich hier Interpretationsschwierigkeiten (zumindest wenn Aussagen über die Rektion der Präposition getroffen werden sollen). || überdrüssig, unkundig, verdächtig, verlustig, wert, würdig. Die resultierenden Treffer wurden manuell analysiert. 40 Gesucht wurde nach einer beliebigen Flexionsform eines Verbs, das einen Genitiv regieren kann, gefolgt von null bis zwei beliebigen Wörtern, einem schwach flektierten Adjektiv und einem Substantiv. Die Liste an Verben richtet sich nach der Duden-Grammatik (82009: 808, 820, 928–929, 937–938). Folgende Verben wurden berücksichtigt: achten, bedürfen, entbehren, entraten, gedenken, harren, (sich) annehmen, (sich) bedienen, (sich) bemächtigen, (sich) enthalten, (sich) entledigen, (sich) erwehren, (sich) rühmen, (sich) schämen, anklagen, berauben, beschuldigen, bezichtigen, entheben, überführen, verdächtigen. Die resultierenden Treffer wurden manuell analysiert.

44 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

(25)

Am Freitag, 26. März, ist das Sekretariat wegen Urlaub geschlossen.

Es liegt nahe, dass es sich bei Urlaub um einen Dativ handelt (vgl. z.B. Gallmann 2018: 173–175). Dieser ist hier standardsprachlich anerkannt (vgl. DudenGrammatik 92016: 982). Theoretisch könnte es sich hier aber auch um die flexionslose Variante des Genitivs wegen Urlaubs handeln. Die Frage, welche Analyse hier zutrifft (oder ob Kasuslosigkeit vorliegt), lässt sich anhand der Form solcher Fälle nicht entscheiden, weshalb diese Konstruktionen im Folgenden nicht weiterverfolgt werden. Auch bei vermeintlich eindeutiger Adjektivflexion kann nicht zwingend auf einen Genitiv ohne Flexiv am Substantiv geschlossen werden (vgl. (26)). (26)

heult nicht rum wegen primitiven Satzbau, dann ist es wenigstens einfacher zu verstehen.

Aufgrund der Adjektivflexion erscheint der Satz in (26) auf den ersten Blick als ein Beleg für Flexivlosigkeit im Genitiv. Denn läge ein Dativ vor, müsste das Adjektiv (um der Norm zu entsprechen) die Form primitivem haben. primitiven hingegen ist gleichlautend zur normkonformen Genitivform primitiven Satzbaus. Allerdings hat man es bei diesen mit einer gewissen Häufigkeit vorkommenden Belegen wahrscheinlich mit einem anderen Phänomen zu tun, und zwar mit der Schwankung zwischen starker und schwacher Flexion des Adjektivs im Dativ Singular (vgl. z.B. Duden-Grammatik 92016: 967–968). Dafür spricht, dass auch nach Präpositionen, die ausschließlich den Dativ regieren, Adjektive auf -n eine beachtliche Frequenz aufweisen (vgl. (27) und Tab. 24). (27)

So, nun sitze ich hier und trinke meinen ersten Tee mit gefilterten Wasser.

Analyse der Daten | 45

Tab. 24: Flexion des Adjektivs zwischen mit und Wasser in DECOW2012-00

Suchanfrage

Flexion des Adjektivs -m | -n

Anteil -n

mit Adjektiv Wasser

3144 | 474

13,1 %

Der Anteil an Adjektiven auf -n scheint nach wegen und mit vergleichbar zu sein, was die in Tab. 24 und Tab. 25 dargestellten Stichproben nahelegen. Tab. 25: Flexion des Adjektivs zwischen wegen und Wetter in DECOW2012-00

Suchanfrage

Flexion des Adjektivs -m | -n

Anteil -n

wegen Adjektiv Wetter

52 | 8

13,3 %

Demzufolge ist es plausibel, anzunehmen, dass es sich bei Konstruktionen des Typs wegen schlechten Wetter nicht um Genitive ohne Flexiv im hier interessierenden Zusammenhang handelt, sondern um Dative, bei denen das vorangehende Adjektiv der Schwankung zwischen dem standardsprachlich anerkannten -m und dem nicht anerkannten -n unterliegt. Da anhand der Form aber nicht eindeutig entschieden werden kann, welche der beiden Analysen zutrifft, sind präpositionale Genitive ohne Artikel nur sehr beschränkt aussagekräftig mit Blick auf die hier interessierenden Fragestellungen. Sie werden deshalb im Folgenden zugunsten eindeutiger Genitive ausgeschlossen. Aussagekräftiger sind attributive Genitive ohne vorausgehendes Artikelwort. Da diese im Korpus relativ selten sind, musste die Zusammenstellung der entsprechenden Stichprobe mittels bestimmter Lexeme erfolgen. Die Stichprobe wurde so gezogen, dass auf der Basis von einzelnen Korpus-Recherchen zunächst zwei Listen erstellt wurden: 1) eine Liste mit Substantiven, die typischerweise und vergleichsweise häufig als Kopfnomen einer Genitivkonstruktion ohne Artikelwort verwendet werden (vgl. (28) und Tab. 26); (28)

Heute ist Freiheit eine selbstverständliche Grundlage gemeinschaftlichen Lebens.

46 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

Tab. 26: Typische Kopfnomen

Aspekt

Existenz

Mann

Verbrauch

Ausdruck

Förderung

Mensch

Verkauf

Bedeutung

Form

Merkmal

Vermittlung

Bedingung

Formen

Möglichkeit

Vernichtung

Bereich

Frau

Notwendigkeit

Verschwendung

Bereiche

Gebrauch

Phase

Verwendung

Dimension

Genuss

Qualität

Zentrum

Entstehung

Grenze

Quelle

Ziel

Entwicklung

Grundlage

Schutz

Zustand

Ergebnis

Konsum

Sinn

2) eine Liste mit Substantiven, die häufig als Attribut in Genitivkonstruktionen ohne Artikelwort verwendet werden (vgl. (29) und Tab. 27). (29)

Erst nachts, wenn die Geräusche von der Straße und die Rufe der Händler verstummt waren, war das leise, unterirdische Donnern fallenden Wassers zu hören […].

Tab. 27: Typischerweise als Attributteil verwendete Substantive

Alter

Glaube

Material

Urlaub

Bewusstsein

Glück

Mehl

Verhalten

Bier

Gold

Reichtum

Verstand

Denken

Handeln

Saft

Wachstum Wasser

Eigentum

Internet

Schlaf

Engagement

Leben

Sterben

Wein

Frieden

Lernen

Stoff

Wissen

Geist

Marketing

Unterricht

Zusammenleben

Aus DECOW2012-00 wurden alle Sätze extrahiert, in denen auf ein Substantiv aus Tab. 26 unmittelbar mindestens ein schwach flektiertes Adjektiv und ein Substantiv folgt. Außerdem wurden alle Sätze extrahiert, in denen auf ein Substantiv mit mindestens einem unmittelbar folgenden Adjektiv ein in Tab. 27 aufgelistetes Substantiv folgt. Die resultierenden 33.761 bzw. 19.595 Belege wur-

Analyse der Daten | 47

den anschließend randomisiert und jeweils 500 Belege in die zu analysierende Stichprobe integriert. Partitive Genitive (z.B. ein Glas guten Weines) wurden dabei ausgeschlossen, da sich Belege, bei denen es sich (vermeintlich) um die s-lose Variante dieser Struktur handelt, einer eindeutigen Analyse entziehen: Belege des Typs mit einem Glas kalten Wasser bzw. mit einem Glas guten Wein können nämlich nicht zweifelsfrei als (partitive) Genitive ohne -s analysiert werden. Einiges spricht dafür, hier von Strukturen mit einem schwach flektierten Adjektiv auszugehen, das nicht hinsichtlich eines bestimmten Kasus markiert ist (vgl. hierzu ausführlich Zimmer 2015: 11–12, 21–25). Demnach lägen hier keine s-losen Genitive vor. Anhand der Form der Belege lässt sich aber keine der beiden Analysen definitiv ausschließen, weshalb solche Strukturen und (um die Ergebnisse nicht zu verzerren) auch partitive Genitive mit -s nicht in die Stichprobe aufgenommen wurden. Die Anzahl flexivloser Substantive im Genitiv in den hier analysierten Nominalgruppen ohne Artikelwort ist außerordentlich gering. In der gesamten Stichprobe finden sich lediglich sieben s-lose Belege, die demnach weniger als 1 % ausmachen (vgl. (30)). Auch Fremdwörter treten regelmäßig mit Flexiv auf (vgl. (31)), Kurzwörter und Eigennamen sind in der Stichprobe nicht enthalten. (30)

Dieses Kapitel sichert auch den Anschluss systemischer Theorie und Praxis an die vielen Formen psychosozialen Handeln jenseits eines engen Therapiekonzeptes.

(31)

Den Luxus ehrenamtlichen Engagements können sich nämlich nur Menschen leisten, deren Lebensunterhalt ansonsten gedeckt ist

2.4.6 Zusammenfassung der Ergebnisse Die Datenanalyse in den vorangegangenen Abschnitten liefert zunächst einmal zwei wichtige Erkenntnisse:

48 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

1. Abgesehen von vereinzelten Belegen, die weniger als 1 % aller Fälle ausmachen, wird ein Substantiv immer mit Genitivflexiv versehen, wenn kein Artikelwort den Ausdruck des Kasus übernimmt.41 Nominale Flexivlosigkeit beeinträchtigt demnach nicht den Kasusausdruck der Nominalgruppe als solchen. Dass der Kongruenzmarker -s nicht realisiert wird, sorgt lediglich dafür, dass die Kasusinformation nicht redundant ausgedrückt wird (vgl. (32)). (32)

d-esGEN.SG Genitiv-sGEN.SG vs. d-esGEN.SG Genitiv-Ø

2. In Genitivphrasen, die ein Artikelwort beinhalten, wird das Flexiv mitunter nicht realisiert. Die Flexivlosigkeit beschränkt sich dabei weitestgehend auf periphere Substantive. Diese werden z.T. sehr häufig ohne -s verwendet. Native Appellative sind in aller Regel nicht betroffen. Zudem sorgt eine hohe Frequenz eines Lemmas für seltenere Flexivlosigkeit. Diese beiden Hauptergebnisse der empirischen Studie sind von hoher Relevanz für die Erklärung des Phänomens, da sie Hinweise liefern, welche übergeordneten sprachlichen Motivationen die Variation verursachen bzw. steuern. Diese zentralen Motivationen, die hier miteinander konkurrieren, sind zum einen die systemkonforme saliente Kodierung grammatischer Informationen (syntaktische Kongruenz) und zum anderen die für periphere Substantive besonders relevante morphologische Schemakonstanz.42 Diese beiden Einflussgrößen und ihre Relevanz für die Variation werden im folgenden Kapitel ausführlich dargestellt. Daraufhin wird in Kapitel 4 das flexionsmorphologische Verhalten der drei frequentesten peripheren Substantivgruppen fokussiert: Fremdwörter, Eigennamen und Kurzwörter. Die Untersuchung dieser Substantivgruppen ist für das Verständnis der Variation unerlässlich – auch deshalb, weil manche Einflussgrößen ausschließlich bei diesen peripheren Substantiven bedeutsam

|| 41 Dies steht im Übrigen im Einklang mit der Genitivregel, die besagt, dass „eine Nominalphrase […] nur dann im Genitiv stehen [kann], wenn sie (i) mindestens ein adjektivisch flektiertes Wort und (ii) mindestens ein Wort mit s- oder r-Endung enthält“ (Duden-Grammatik 92016: 978). Die meisten Artikelwörter werden der „adjektivischen Flexion“ zugerechnet (ebd.). Belege des Typs die Literatur des Barock gehen demnach mit der Genitivregel konform, da der Artikel adjektivisch flektiert wird und eine s-Endung enthält, während Strukturen ohne Artikel und ohne Genitiv-s (z.B. ?die vielen Formen psychosozialen Handeln) ausgeschlossen werden. 42 Die Ergebnisse von Bubenhofer, Hansen-Morath & Konopka (2014) sind trotz ihrer begrenzten Aussagekraft mit Blick auf die Variation zwischen -s und -Ø insofern relevant für die vorliegende Studie, als auch dort gezeigt wird, dass die Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie der Substantiv-Klasse der wesentliche Faktor bzgl. der gegenwartssprachlichen Variation ist (vgl. Bubenhofer, Hansen-Morath & Konopka 2014: 417, Abb. 4).

Analyse der Daten | 49

sind. So hat ein Auslaut auf [s] ausschließlich hier einen Einfluss auf die Realisierung des Flexivs (vgl. Abschnitt 2.4.2.1 und 4.1.3). Auch die Variable ‚Apposition‘ steht in engem Zusammenhang mit dem Einfluss peripherer Substantive, da das rechte Element des komplexen Phrasenkerns in aller Regel ein Eigenname ist (z.B. des Colonel Peckham)43 und dies die Wahrscheinlichkeit von -Ø erhöht.44  Insgesamt unterstreichen die Ergebnisse dieser Untersuchung, dass eine so breit angelegte Korpus-Studie für eine solide empirische Basis zur Analyse des Phänomens nötig ist: Einige Faktoren, die in der Literatur bereits angenommen wurden (vgl. z.B. der Faktor Eigenname u.a. bei Appel (1941), Wurzel (1991), Wiedenmann (2004) und Nübling (2012)), konnten bestätigt und um Angaben zur Effekt-Stärke45, also der Bedeutung des jeweiligen Faktors, ergänzt werden. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass eine ganze Reihe von Faktoren, die in der Literatur postuliert und zur Erklärung des Phänomens herangezogen wird, bzgl. der hier besprochenen gegenwartssprachlichen Daten keinen Einfluss hat. Das betrifft phonologische Eigenschaften der Substantive wie die Silbenanzahl (vgl. z.B. Wahrig-Zweifelsfälle 2003: 327), die Anwesenheit eines Fugen-s (vgl. z.B. Rowley 1988: 61), den Umfang der genitivischen Nominalgruppe (vgl. Appel 1941: 34) usw. Außerdem wurde die Relevanz von Faktoren, die meines Wissens bisher nicht untersucht wurden, nachgewiesen. Dazu zählen die Variablen Inhärente Monoreferenz und Apposition. Nachdem nun ausführlich schriftliche Daten analysiert wurden, soll die Variation im Genitiv im anschließenden Kapitel auch anhand von Daten aus Korpora gesprochener Sprache untersucht werden.

|| 43 Dieses Beispiel macht außerdem deutlich, dass auch der Fremdwortcharakter des rechten Elements des komplexen Phrasenkerns die Wahrscheinlichkeit von -Ø erhöhen kann. 44 Selbst der oben festgestellte Einfluss der Variable ‚Kompositum‘ (vgl. Abschnitt 2.4.2.2) muss möglicherweise im Zusammenhang mit der Variable Lexik gesehen werden, und zwar aufgrund der hier getroffenen Entscheidung, getrennt geschriebene Komposita generell nicht in die Stichprobe aufzunehmen (z.B. des Shooting Adventure, s. Abschnitt 2.4): Periphere Substantive neigen sehr viel stärker zu -Ø als native Appellative. Gleichzeitig werden vor allem Komposita, die periphere Substantive enthalten, häufig getrennt geschrieben (zum Zusammenhang von Schemakonstanz und Graphie vgl. Gallmann 1989). Getrennt geschriebene Komposita nun nicht berücksichtigt zu haben, könnte zu dem geringen Anteil s-loser Formen bei Komposita geführt haben. Insofern haben wir es hier möglicherweise mit einem Artefakt zu tun. 45 Vgl. die in den Tabellen angegebenen Effekt-Koeffizienten.

50 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

2.5 Exkurs: Genitiv-s-Losigkeit in gesprochenem Deutsch Der empirische Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt auf der Analyse schriftlicher Daten. Diese Schwerpunktsetzung ermöglicht es, auch solche Fragestellungen korpusbasiert und im Detail zu bearbeiten, die besonders vielversprechend sind, aber die Fokussierung von weniger frequenten Strukturen und Lexemen erfordern. Im Gegensatz dazu können in Korpora der gesprochenen Sprache viele Aspekte nicht in angemessener Weise untersucht werden, z.B. das grammatische Verhalten von Eigennamen und Kurzwörtern im Genitiv (vgl. hierzu Abschnitt 4.2 und 4.3) oder Genitivkonstruktionen ohne Artikel (vgl. Abschnitt 2.4.5). Korpora der gesprochenen Sprache enthalten – anders als die mittlerweile sehr umfangreichen Korpora geschriebener Sprache wie DECOW oder DeReKo – nicht genügend Wortformen: Viele Strukturen und Lexeme sind hier aufgrund mangelnden Umfangs nicht (mit ausreichend Belegen) dokumentiert. Der Grund für die Größenunterschiede liegt auf der Hand: Die Erstellung von Korpora gesprochener Sprache ist mit deutlich mehr Aufwand verbunden als die von Korpora, die schriftliche Daten enthalten. Nichtsdestoweniger stellt die Schwankung der Genitivendung in der gesprochenen Sprache natürlich einen interessanten Untersuchungsgegenstand dar. Bedeutsame Unterschiede zwischen den beiden Modalitäten sind durchaus denkbar, unter anderem weil mündliche Kommunikation typischerweise progressiver ist als schriftliche. Deshalb soll im Folgenden geprüft werden, ob grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Modalitäten hinsichtlich der Genitiv-s-Losigkeit bestehen. Dazu wurden Daten aus FOLK (Forschungs- und Lehrkorpus gesprochenes Deutsch) herangezogen.46 Dabei handelt es sich um das Korpus der über die DGD (Datenbank Gesprochenes Deutsch des Instituts für Deutsche Sprache) verfügbaren Korpora, das die aktuellsten Aufnahmen bereitstellt: Der Erhebungszeitraum erstreckt sich von 2003 bis 2015. Das Korpus beinhaltet 1.609.220 Tokens, die sich auf 219 Gesprächsereignisse und 582 dokumentierte SprecherInnen verteilen. Die Gesamtdauer der transkribierten Aufnahmen beträgt 169 Stunden und 12 Minuten. Damit handelt es sich bei FOLK um ein verhältnismäßig großes Korpus gesprochener Sprache. Bereitgestellt wird ein breites Spektrum mündlicher Kommunikation. Die Daten wurden „in unterschiedlichsten privaten (z.B. Tischgespräche, Gespräche bei Spielinteraktionen), institutionel-

|| 46 Die aktuellsten Informationen zu diesem Korpus sind unter (zuletzt abgerufen am 28.07.2016) zu finden. Auf den dort hinterlegten Informationen beruht auch die folgende Beschreibung des Korpus.

Exkurs: Genitiv-s-Losigkeit in gesprochenem Deutsch | 51

len (z.B. Schulunterricht, berufliche Kommunikation) und öffentlichen (z.B. Podiumsdiskussionen, Schlichtungsgespräche) Kontexten erhoben“.47 Die Aufnahmen sind hinsichtlich Alter, regionaler Herkunft und Bildungsstand der SprecherInnen ausgewogen. Analysiert wurden alle genitivischen Nominalgruppen, die entweder des oder eines enthalten. Diese wurden mithilfe einer Suchanfrage in den normalisierten Transkripten identifiziert, um die sehr zahlreichen dialektalen bzw. umgangssprachlichen Belege des Typs dann machst du des einfach, in denen kein Genitiv vorliegt, auszuschließen. Die auf diese Weise ermittelten Transkriptstellen wurden manuell analysiert. Fehlbelege wurden aussortiert. Die Zuverlässigkeit der Transkriptionen mit Blick auf die Genitivendung wurde anhand einer Stichprobe überprüft: Die Transkriptionen von 200 Genitivbelegen wurden mithilfe der entsprechenden Audio-Aufnahmen kontrolliert. Dabei stellte sich die Transkription als sehr zuverlässig heraus. Nur vier Genitivendungen waren fehlerhaft transkribiert.48 Der Analyse konnten 1323 Belege zugrunde gelegt werden, davon 1194 mit des und 129 mit eines. Bei drei Belegen handelt es sich um Selbstkorrekturen (vgl. (33)). Lediglich in 60 Fällen wurde kein Flexiv realisiert. Das entspricht einem Prozentsatz von 4,5 % (vgl. Tab. 28). Ohne Flexiv wurden in erster Linie periphere Substantive verwendet (vgl. (34)). Nur 23 native Appellative wurden flexivlos verwendet, was einem Prozentsatz von 2,2 % der insgesamt untersuchten nativen Appellative entspricht. s-lose Belege gehen in aller Regel mit intraindividueller Variation einher (vgl. (35)). Dass es sich hierbei (zumindest zum Teil) um Versprecher handelt, kann nicht ausgeschlossen werden. (33)

des war ja auch des was sie gesagt ham sein gro (.) des große problem vo des mann vom hm (.) des mannes vom land °h ist dass er (.) die ganze zeit darauf wartet die erlaubn[is zu bekommen anstatt] dass (.) einfach zu tun (.) was er tun will (.) nämlich (.) reingehen FOLK_E_00120_SE_01_T_02

(34)

diese neue regierung h° die (.) durch den sieg des maidan durch die flucht (.) des präsidenten janukowytsch bestanden ist wird (.) von putin für nicht legitim gehalten FOLK_E_00210_SE_01_T_03

|| 47 , zuletzt abgerufen am 28.07.2016. 48 In drei Fällen wurde fälschlicherweise ein -s notiert, einmal wurde ein -s unterschlagen.

52 | Korpusbasierte Untersuchung der synchronen Variation

(35)

die die krim war ein verletzung des völkerrechts (.) äh die krim annexion war eine verletzung des vö völkerrecht °h (.) un eine militärische intervention demnächst vielleicht in der ostukraine °h ist eine absolute katastrophe der vereinten nationen FOLK_E_00210_SE_01_T_04

Tab. 28: Anteil genitiv-s-loser Belege in Daten aus FOLK

Anteil -Ø

n

periphere Substantive

13,2 %

281

native Appellative

2,2 %

1042

gesamt

4,5 %

1323

Der Anteil flexivlos verwendeter nativer Appellative in gesprochener Sprache liegt nur unwesentlich über dem entsprechenden Anteil in den schriftlichen Daten. Dieser liegt bei 1,2 % (vgl. Abschnitt 2.4.1.1). Insofern unterstützen die hier präsentierten Ergebnisse die oben anhand von schriftlichen Daten entwickelte These, dass im Gegenwartsdeutschen zwar bestimmte periphere Substantive regelmäßig ohne Flexiv verwendet werden, der Anteil solcher Belege bei nativen Appellativen hingegen aber äußerst gering ist. Die Genitiv-s-Losigkeit ist momentan also sowohl im geschriebenen als auch im gesprochenen Deutschen auf eine klar abgrenzbare Gruppe von Substantiven beschränkt.

3 Competing Motivations Wie die im vorigen Kapitel vorgestellte Studie gezeigt hat, ergibt sich ein gewisser Spielraum hinsichtlich der Endung im Genitiv Singular, wenn die Anzeige des Kasus bereits durch ein entsprechendes Artikelwort geleistet wird. Nur in diesen Fällen bestehen die beiden Möglichkeiten, das Genitivsuffix entweder zu realisieren oder auszulassen. Ob ein Suffix realisiert wird oder nicht, hängt dabei dann ganz maßgeblich von den Eigenschaften des betreffenden Substantivs ab, was durch die Variable ‚Lexik‘ belegt ist, die mit Abstand den größten Einfluss auf die untersuchte Schwankung hat (vgl. Abschnitt 2.4.1.1). Die Substantive, die von der s-Losigkeit betroffen sind, kann man zusammenfassend als periphere Substantive bezeichnen, während im Gegensatz dazu prototypische deutsche Substantive im Genitiv Singular nahezu ausnahmslos ein Suffix erhalten. Das hier relevante Verhältnis von Zentrum und Peripherie des Lexikons wird im anschließenden Abschnitt fokussiert. Dabei wird sich zeigen, dass die hier untersuchte Variation im Wesentlichen auf die Unvereinbarkeit zweier konkurrierender Motivationen zurückzuführen ist: morphologische Schemakonstanz auf der einen Seite und die systemkonforme saliente Kodierung grammatischer Informationen auf der anderen Seite. Diese beiden Motivationen sowie deren Konkurrenzsituation werden in den anschließenden Abschnitten vorgestellt (3.2 bis 3.4), bevor sie aus sprachvergleichender (Abschnitt 3.5) und psycholinguistischer Perspektive (Abschnitt 3.6) genauer in den Blick genommen werden.

3.1 Zentrum und Peripherie des Lexikons Bei der Verwendung der Terminologie von ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ lehne ich mich an Arbeiten aus der Prager Schule an, z.B. Daneš (1966) und Vachek (1966). Diesen liegt die Annahme zugrunde, dass jedes natürliche Sprachsystem über einen Kern verfügt, das heißt über typische Muster, die das Zentrum einer Sprache bilden. Im Gegensatz dazu gebe es weniger oder gar nicht integrierte Elemente, die in mindestens einer Eigenschaft von den typischen Mustern des Kernsystems abweichen.1 Die hier relevanten Eigenschaften sind nicht auf eine

|| 1 Von peripheren Elementen zu unterscheiden sind an dieser Stelle hochfrequente Kernwörter, die sich aufgrund ihrer Gebrauchshäufigkeit einem Systematisierungsdruck entziehen und deshalb ebenfalls Eigenschaften aufweisen, die das entsprechende Element von einem Großteil der anderen Elemente abhebt; man denke hier z.B. an suppletive Formen hochfrequenter https://doi.org/10.1515/9783110557442-003

54 | Competing Motivations

bestimmte Sprachebene beschränkt und sind im Bereich der Kerngrammatik zu finden (Phonetik/Phonologie, Morphologie, Syntax), schließen aber auch semiotische Aspekte oder auch Gebrauchsfrequenz mit ein (für eine ausführliche Liste s. Kö pcke 1993: 91–95; Uspensky & Zhivov 1977: 8). Je mehr vom Kernsystem abweichende Eigenschaften vorhanden sind, als desto peripherer kann das entsprechende Element eingestuft werden. Die Unterscheidung zwischen Peripherie und Zentrum ist also nicht binär und mit klaren Grenzen angelegt, sondern als multidimensionales Kontinuum (Daneš 1966: 10–12, 15; Vachek 1966: 23; Kö pcke 1993: 91).2 In dieser Hinsicht offenbart die Konzeption von Zentrum und Peripherie ganz deutlich eine gewisse Nähe zur Prototypentheorie. Ein klassisches Beispiel, um die Unterscheidung von Peripherie und Zentrum zu veranschaulichen, ist die Phonetik/Phonologie von Fremdwörtern. Typischerweise nimmt man für das Deutsche ein gewisses Phoneminventar an, zu dem z.B. der nasalierte Vokal [õː] bzw. [ɔ͂ ] nicht gezählt wird. Dieser Laut wird im Deutschen aber auch verwendet, und zwar häufig bei Wörtern, die aus dem Französischen entlehnt sind, z.B. Chanson [ʃã ˈsõ ː]. Dementsprechend haben wir es hier mit einem peripheren Laut und auch einem peripheren Wort zu tun. Beide gehören in gewisser Weise zum Deutschen dazu, da sie in dieser Sprache verwendet werden, typische Vertreter sind sie aber nicht, weshalb man sie als peripher einstufen kann (zur Integration von Fremdwörtern s. ausführlich Abschnitt 5.1). Neben Fremdwörtern werden typischerweise auch Eigennamen, Kurzwörter, Onomatopoetika und Interjektionen zur lexikalischen Peripherie einer Sprache gezählt (vgl. z.B. Uspensky & Zhivov 1977: 6–8; Kö pcke 1993: 93). Die Gründe dafür sind vielfältig. Verschiedene Eigenschaften, die eine solche Einstufung rechtfertigen, werden in den jeweiligen Abschnitten in Kapitel 4 ausführlicher thematisiert. Lediglich ein besonders anschaulicher Aspekt sei bereits hier genannt: Grundsätzlich gilt, dass Simplizia im Deutschen – von außerordentlich wenigen Ausnahmen wie Arbeit abgesehen – nicht mehr als einen betonbaren Vollvokal aufweisen; für Fremdwörter (Banane), Eigennamen (Bochum), Onomatopoetika (Kuckuck) und Interjektionen (oho) gilt diese deskriptive Regel allerdings nicht.

|| Verben wie sein (Kö pcke 1993: 92–93; vgl. hierzu auch Nü bling 2000a). Aufgrund der hohen Tokenfrequenz, der Tatsache, dass diese unregelmäßigen Wörter nicht sprecherInnengruppenspezifisch verwendet werden und seit geraumer Zeit in einer Sprache etabliert sind, werden sie zum „Kernbestandteil des Lexikons“ gezählt (Köpcke 1993: 93). Geringe Typenfrequenz alleine reicht nach der hier vertretenen Auffassung also nicht aus, um periphere Bestandteile einer Sprache zu identifizieren. 2 Eine Veranschaulichung dieses Konzepts befindet sich in Abschnitt 4.1.3.

Morphologische Schemakonstanz | 55

Auch hinsichtlich des Sprachgebrauchs weisen periphere Wörter häufig spezielle Charakteristika auf. Wichtige Eigenschaften der sprachlichen Peripherie sind Instabilität, Variation und eine im Vergleich zum Zentrum schwächere Normierung (Köpcke 1993: 91–92). So kann man in vielen Fällen z.B. beobachten, dass das Zentrum eine gewisse Anziehungskraft auf periphere Elemente ausübt und diese integriert werden, wodurch das Sprachsystem insgesamt systematischer wird. Das ist häufig bei Fremdwörtern zu beobachten, die nach und nach ihre Fremdheitsmerkmale verlieren, bis sie schließlich als Lehnwort gänzlich in das Zentrum der Sprache integriert sind (z.B. das auf das lateinische tēgula zurückgehende Wort Ziegel). Allerdings muss auch betont werden, dass periphere Elemente nicht immer und zwangsläufig integriert werden. Teile der Peripherie einer Sprache können sehr stabile Eigenschaften aufweisen und eigene Prinzipien und Regularitäten ausbilden, die zwar vom Kernsystem abweichen, aber keineswegs als chaotisch zu beschreiben sind (Vachek 1966: 31– 35). „In its resistance to the centre of the language the periphery tends to form a system of its own” (Uspensky & Zhivov 1977: 10). Selbst Fremdwörter, die generell zur Integration neigen, können periphere Eigenschaften beibehalten und systematisieren (vgl. z.B. Eisenberg 2001: 183).

3.2 Morphologische Schemakonstanz Dass nun periphere Substantive dazu neigen, ohne Genitivsuffix verwendet zu werden, liegt nur indirekt an der Tatsache, dass es sich hier nicht um prototypische Vertreter der Wortart handelt, sondern vielmehr an verschiedenen Eigenschaften dieser Wörter, die wiederum Grundlage der Zuordnung zur Peripherie sind.3 Die Bedeutsamkeit dieser Eigenschaften besteht darin, dass sie (ggf. in Kombination) dafür verantwortlich sind, dass das entsprechende Wort formseitig möglichst stabil bleibt und somit gesondert behandelt wird (hierauf gehe ich später ausführlicher ein, s. unten).4 Diese formseitige Stabilität wird im Folgen-

|| 3 Das Sonderverhalten im Genitiv Singular stellt auch ein – aber natürlich nicht das einzige – Argument für eine Zuordnung zur Peripherie dar. Ansonsten wäre die Aussage, dass es sich bei genitiv-s-los verwendeten Substantiven um periphere Lexeme handelt, zirkulär. Weitere Argumente für oder gegen eine solche Einordnung liefern graphematische (z.B. Abweichungen von den Graphem-Phonem-Korrespondenz-Regeln des Deutschen), phonologische (z.B. die Anwesenheit von mehr als einem betonbaren Vokal) und weitere morphologische Eigenschaften (z.B. s-Plural), vgl. Kapitel 4. 4 An dieser Stelle und auch im weiteren Verlauf dieser Arbeit werden übliche, aber strenggenommen etwas verkürzte Formulierungen verwendet. Natürlich bewirken die hier thematisier-

56 | Competing Motivations

den als Schemakonstanz bezeichnet. Da dieser Begriff ursprünglich aus der Graphematik stammt, in der vorliegenden Arbeit aber vorwiegend in einem etwas anderen Zusammenhang gesehen wird, ist hier von morphologischer Schemakonstanz die Rede.5 Damit ist die Konstanthaltung eines Wortkörpers durch die Vermeidung besonders wortkörperaffizierender Elemente zugunsten strukturbewahrender Flexive oder – im radikalsten Fall – durch gänzliches Auslassen von Flexionselementen gemeint. Morphologische Schemakonstanz ist ein Konzept, dessen Bedeutung sich nicht auf die Schwankung im Genitiv Singular (-Ø vs. -s) beschränkt, sondern auch mit Blick auf verschiedene andere Schwankungsfälle und Sprachwandelphänomene relevant ist und sich dabei innerhalb der Nominalmorphologie sowohl auf die Kasus- als auch die Numerusmarkierung bezieht. Einige dieser Phänomene werden in den folgenden Kapiteln etwas ausführlicher zur Sprache kommen, z.B. Fremdwortplurale (s. Abschnitt 4.1.2 und 4.1.3), die Variation zwischen -s und -es im Genitiv Singular (s. Abschnitt 4.1.3), die Verwendung von Apostrophen (s. Abschnitt 4.1.1.2) oder die Auslassung des Pluralmarkers bei Kurzwörtern (s. Abschnitt 4.3.2). Inwiefern das Konzept der morphologischen Schemakonstanz dort relevant ist, wird an den entsprechenden Stellen herausgearbeitet. Auch in anderen Arbeiten jüngeren Datums spielt morphologische Schemakonstanz eine wichtige Rolle (vgl. z.B. Nowak & Nübling 2017, Ackermann 2018b, Gallmann 2018, Schlücker 2018; s. auch Duden-Grammatik 92016: 200). Siehe außerdem Ackermann & Zimmer (2017) für ausführlichere Kommentare zur Terminologie und zur Bedeutung dieses Konzepts in Graphematik und Phonologie.6 Wie der Definition weiter oben bereits zu entnehmen war, bezieht sich morphologische Schemakonstanz sowohl auf quantitative als auch auf qualitative Aspekte. In diesem Sinne ist es als ein graduelles Konzept zu verstehen – Sche|| ten Eigenschaften nicht unmittelbar, dass die entsprechenden Substantive gesondert behandelt werden. Vielmehr ist in ihnen der Grund zu sehen, warum SprecherInnen und SchreiberInnen das Wort auf eine bestimmte Art und Weise benutzen. 5 Für Überlegungen zur Schemakonstanz im graphematischen Kontext siehe z.B. Gallmann (1989, 1990). Zur Anwendung des Begriffs und des Konzepts im morphologischen Bereich (hier vor allem im Zusammenhang mit der Sondergrammatik von Eigennamen) siehe Nübling (2005) und Nübling & Schmuck (2010) sowie Nowak & Nübling (2017). Auch Wegeners Arbeiten (z.B. 2004, 2010) zur Pluralmarkierung peripherer Substantive sind in diesem Zusammenhang relevant. Wegener verwendet eine andere Terminologie; die von ihr unter dem Stichwort Transparenz (und im Rahmen ihrer optimalitätstheoretischen Analyse auch im Zusammenhang mit Treuebeschränkungen) behandelten Aspekte fallen aber auch in den Bereich dessen, was hier als morphologische Schemakonstanz bezeichnet wird. 6 Für einen kurzen Überblick über verwandte Konzepte in verschiedenen theoretischen Ansätzen siehe Nowak & Nübling (2017: 114).

Morphologische Schemakonstanz | 57

makonstanz kann mehr oder weniger gegeben sein. Das lässt sich sehr einfach anhand von Genitivendungen veranschaulichen. Der quantitative Unterschied bezieht sich auf die Anzahl der realisierten Flexive: Entweder wird ein Flexiv realisiert (z.B. des Internet-s) oder es wird kein Flexiv realisiert (z.B. des Internet-Ø). Qualitative Unterschiede beziehen sich auf Unterschiede zwischen Flexiven. Z.B. kann ein silbenbildendes Flexiv verwendet werden (z.B. des Verbund-es) oder ein nichtsilbenbildendes Flexiv (z.B. des Verbund-s). Die silbische Variante affiziert den Wortkörper stärker. Das liegt hier nicht nur an der zusätzlichen Silbe, sondern auch an der Verlagerung der Silbengrenzen (Ver.bund vs. Ver.bun.des). Außerdem verändert sich der Endkonsonant des Stammes, da aufgrund der zusätzlichen Silbe die Auslautverhärtung nicht greift (Verbun[d]es statt Verbun[t]). Die Intensität der Wortkörperaffizierung ist bei Auslassung eines Flexivs am geringsten (nämlich nicht existent), während der Wortkörper durch das silbische Genitivallomorph am stärksten beeinträchtigt wird. Morphologische Schemakonstanz ist hier demnach am meisten bei -Ø und am wenigsten bei -es gegeben. -s nimmt in der Hinsicht eine Mittelposition ein. Auf entsprechende Weise kann man auch die Möglichkeiten, im Deutschen den Plural zu markieren, anordnen. In den folgenden Beispielen nimmt der Grad der Wortkörperaffizierung zu: viele LKW-Ø, viele LKW-s, viele Frau-en, viele Büch-er. Der Grund dafür, dass morphologische Schemakonstanz nicht bei allen Wörtern gleichermaßen zu beobachten ist, sondern ein systematisches Ungleichgewicht zwischen peripheren und prototypischen Substantiven vorliegt, liegt in der Beschaffenheit der peripheren Substantive. Fremdwörter, Eigennamen und Kurzwörter weisen Charakteristika auf, die deren formale Stabilität funktional motivieren. Zu diesen Charakteristika gehören geringe Tokenfrequenz, markierte phonologische Merkmale und einige weitere mehr. Natürlich weisen nicht alle Fremdwörter eine geringe Tokenfrequenz oder markierte phonologische Merkmale auf. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Eigenschaften vorhanden sind, bei den genannten peripheren Substantivgruppen bedeutend höher als bei prototypischen deutschen Substantiven. Welche Charakteristika mit Blick auf die jeweilige Substantivgruppe relevant sind, wie sich diese auf verschiedene Mitglieder der Gruppen verteilen und wie sich das auf deren flexionsmorphologisches Verhalten auswirkt, wird in Kapitel 4 detailliert besprochen. Funktional motiviert ist die große Bedeutung der morphologischen Schemakonstanz bei den hier thematisierten peripheren Substantiven unter ande-

58 | Competing Motivations

rem deshalb, weil die Eigenschaften, die für diese Wörter charakteristisch sind, zu einer erschwerten Worterkennung führen.7 Selten verwendete und unvertraute Wörter werden schlechter und langsamer erkannt als hochfrequente. Fremde Strukturen mit vielen nicht-nativen Eigenschaften werden schlechter und langsamer erkannt als bekannte, native Strukturen usw. (zu Details hierzu s. Abschnitt 4.2). Wenn man nun davon ausgeht, dass auch die durch Flexion verursachte Wortkörperaffizierung die Erkennung dieser Wörter erschwert (zur psycholinguistischen Plausibilität dieser Annahme s. Abschnitt 3.6), dann wird deutlich, warum morphologische Schemakonstanz bei peripheren Substantiven besonders wichtig ist: Die Erkennung eines ohnehin schwierig zu erkennenden Wortes soll nicht zusätzlich durch flexivische Elemente erschwert werden, erst recht nicht durch stark wortkörperaffizierende Elemente wie Umlaute oder eine Änderung der Silbenanzahl. Den Wortkörper eines schwer zu erkennenden Wortes auf diese Weise zu beeinträchtigen, würde hohe Kosten auf RezipientInnenseite verursachen. Die Schonung des Wortkörpers ist in dieser Hinsicht also eine Möglichkeit, den lexikalischen Zugriff auf ungewöhnliche bzw. untypische Wörter zu erleichtern. Die hinzukommende Einsparung artikulatorischen Mehraufwands scheint ein willkommener Nebeneffekt zu sein, ist aber keineswegs entscheidend bei der Wahl bzw. der Auslassung von Flexiven. Das zeigt sich unter anderem daran, dass intendierte Ökonomie allein nicht erklären kann, warum z.B. die Auslassung des Genitivsuffixes ganz systematisch nur eine klar abgrenzbare Gruppe von Substantiven betrifft und nicht auch prototypische deutsche Substantive – der artikulatorische Mehraufwand ist ja schließlich der gleiche (z.B. bei des Tiber-s und des Fieber-s). In diesem Zusammenhang drängt sich eine Frage auf, die mit einem interessanten Perspektiv-Wechsel einhergeht. Bisher wurde oft danach gefragt, warum das Genitivsuffix ausgelassen wird. Allerdings ist auch das Festhalten am -s keineswegs selbstverständlich. Die Kasusanzeige ist nach einem Artikel ja redundant und scheint somit überflüssig zu sein. Außerdem sprechen angestrebte Ökonomie und die Erleichterung der Worterkennung gegen die Verwendung des Suffixes. Warum wird also das Genitiv-s überhaupt (noch) verwendet? Diese Frage steht im Mittelpunkt des folgenden Abschnitts.

|| 7 Weitere Gründe für eine starke Gewichtung der morphologischen Schemakonstanz bei peripheren Substantiven werden in Kapitel 4 thematisiert.

Die systemkonforme saliente Kodierung grammatischer Informationen | 59

3.3 Die systemkonforme saliente Kodierung grammatischer Informationen Ein möglicher Faktor, der die Stabilität des Flexivs unterstützt, scheint seine Rolle bei der syntaktischen Strukturierung von Sätzen zu sein. Das für das Deutsche so charakteristische Klammerverfahren (vgl. Ronneberger-Sibold 1991, 1994, 1997, 2010a und 2010b) scheint in diesem Zusammenhang relevant zu sein. Dieses besteht darin, daß bestimmte Bestandteile eines Satzes so von zwei Grenzsignalen umschlossen werden, daß der Hörer aus dem Auftreten des ersten Signals mit sehr großer Wahrscheinlichkeit schließen kann, daß der betreffende Bestandteil erst dann beendet sein wird, wenn das passende zweite Signal in der Sprechkette erscheint. In der komplexen Nominalphrase wird die Klammer von der pronominalen Flexion ihres ersten Gliedes und dem Genus sowie gegebenenfalls der Numerus-Kasusflexion ihres Kernsubstantivs gebildet […]. (Ronneberger-Sibold 1994: 115)

In den Beispielen (36) und (37) bildet jeweils der Artikel das klammeröffnende Element und das Substantiv das klammerschließende Element der Nominalklammer.8 Diese beiden Elemente kongruieren in Kasus, Numerus und Genus.9 In diesem Aufeinander-bezogen-Sein der Elemente konstituiert sich das klammernde Verfahren. Dabei ist entscheidend, dass die Klammer gefüllt sein kann (s. (36)). Sie muss aber nicht tatsächlich gefüllt sein, weshalb auch der Satz in (37) nach der Definition von Ronneberger-Sibold eine Nominalklammer enthält (Ronneberger-Sibold 2010a: 89). (36)

Sie frohlockte wegen des schönen Wetters.

(37)

Sie frohlockte wegen des Wetters.

|| 8 Neben der hier erwähnten „Nominalklammer“ thematisiert Ronneberger-Sibold (z.B. 1994) auch weitere Klammerstrukturen des Deutschen, z.B. „Verbalklammern“ (Ich habe ihm das Buch gegeben) oder „Adverbialklammern“ (Da weiß ich nichts von). Diese sind im vorliegenden Zusammenhang von nachgeordneter Bedeutung, veranschaulichen aber, dass das Klammerverfahren ein prominentes Charakteristikum des Deutschen ist (vgl. hierzu auch Weinrich 1986). 9 In der englischsprachigen Literatur wird häufig zwischen concord und agreement unterschieden. Beide Begriffe werden häufig als Kongruenz ins Deutsche übersetzt, wobei auf diese Weise die Unterscheidung nivelliert wird, dass concord Kasus/Numerus/Genus-Kongruenz in der Nominalgruppe bezeichnet und agreement die Kongruenz von Verb und Subjekt (vgl. z.B. Blake 1994: 186). Ich richte mich hier dennoch nach der im Deutschen üblichen Terminologie und verwende Kongruenz, da im Folgenden agreement (im engeren Sinne) keine Rolle spielen wird und der terminologischen Unterscheidung deshalb keine besondere Relevanz zukommt.

60 | Competing Motivations

Die Funktion dieses Verfahrens sieht Ronneberger-Sibold (z.B. 2010b: 723)10 „in einer speziellen Erleichterung der Performanz bei der syntaktischen Dekodierung: Dadurch, dass die jeweils zueinander passenden Klammerränder die Grenzen von (verschieden definierten) Konstituenten klar markieren, weiß der Hörer/Leser während des Dekodierungsprozesses jederzeit, ob er sich am Anfang, im Inneren oder am Ende einer Konstituente befindet.“11 Dieses Verfahren stelle eine Besonderheit des Deutschen dar, das damit verfolgte Ziel werde jedoch auch in anderen Sprachen erreicht – nur durch andere Ausdrucksverfahren: Das „klammernde Verfahren“ des Dt. ist als morphosyntaktisches Ausdrucksverfahren also durchaus äquivalent mit dem rein flektierenden und dem rein isolierenden mit fester Wortfolge. Der Aufwand, den die Sprachbenutzer zum Erreichen ihres Kommunikationszieles treiben müssen, ist nicht größer als bei den anderen Verfahren, er ist nur anders verteilt. (Ronneberger-Sibold 1991: 232; Hervorhebungen im Original)

Dieses System funktioniert umso besser, je mehr morphologische Kategorien und Merkmale zur Verfügung stehen, da so die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass zwei Elemente, die nicht die klammerumschließenden Elemente sind, zufällig die gleiche Merkmalskombination aufweisen. Solche zufälligen Übereinstimmungen führen zu garden path-Sätzen, die eine Fehlinterpretation provozieren. Das Beispiel in (38) ist ein solcher garden path-Satz. (38)

erst bei der Wiederholung findet er eine Höhe mit Tiefe versöhnende Lösung

Die zufällige Übereinstimmung von Höhe und Lösung hinsichtlich Kasus, Numerus und Genus führt zu der Fehlinterpretation, dass eine Höhe eine Nominalklammer darstellt. Beim Weiterlesen oder bei nochmaligem Lesen erschließt sich dann, dass man es mit einer komplexen Nominalklammer zu tun hat (eine Höhe mit Tiefe versöhnende Lösung). Solche Sätze sind im Deutschen dank der Fülle an morphologischen Kategorien (4 Kasus, 3 Genera und 2 Numeri) relativ

|| 10 Ronneberger-Sibold verwendet den Begriff Konstituente im folgenden Zitat nicht im Sinne von ‚Satzglied‘, sondern „in seinem ursprünglichen, sehr weiten Sinn als ‚Bestandteil (eines Satzes)‘“ (Ronneberger-Sibold 1991: 207). Genitivattribute, die nicht als eigenständige Satzglieder, sondern als Satzgliedteile klassifiziert werden, fallen demnach auch unter diesen Oberbegriff. 11 Diese Performanz-Vorteile erübrigen sich allerdings, sobald die Klammer überstrapaziert wird, d.h. die kongruierenden Elemente zu weit auseinander stehen, vgl. z.B. RonnebergerSibold (2010a: 90) und den dort entnommenen Satz, der hier in (38) wiedergegeben wird.

Die systemkonforme saliente Kodierung grammatischer Informationen | 61

selten. Dazu trägt auch das Genitiv-s seinen Anteil bei, was in (39) und (40) veranschaulicht wird: (39)

Wir mochten das Aussehen der Milch in rauen Mengen trinkenden Person.

(40)

Wir mochten das Aussehen des Bier in rauen Mengen trinkenden Mannes.

Der Satz in (39) ist ein typischer garden path-Satz, da man der Milch als Nominalklammer interpretiert. Im Gegensatz dazu kann man in (40) aus dem Fehlen des Genitivsuffixes an Bier schließen, dass Bier nicht das klammerschließende Element ist. Die Suche nach einem passenden Ende der Klammer wird erst beendet, wenn Mannes wahrgenommen wurde. Die Zusammengehörigkeit von des und Mannes ist salient kodiert.12 Bei solchen Sätzen handelt es sich um Extremfälle. Es kommt nicht besonders häufig vor, dass ausschließlich das Genitiv-s einem garden path-Satz vorbeugt. Nichtsdestoweniger zeigen diese Beispiele, dass dem Erkennen von Klammerstrukturen im Deutschen eine besondere Rolle zukommt und dass die morphologischen Kategorien Kasus, Numerus und Genus dabei relevant sind. Es ist durchaus plausibel, dass eine saliente Grenzmarkierung der entsprechenden syntaktischen Bestandteile die syntaktische Dekodierung erleichtert.13 Inwiefern das klammernde Verfahren des Deutschen an sich funktional ist, ist an

|| 12 Auch bei diesem Satz stellen sich eventuell Verarbeitungsschwierigkeiten ein, da zusammengehörige Artikel und Substantive oft adjazent auftreten, was hier nicht der Fall ist, wodurch eine falsche syntaktische Dekodierung evoziert werden kann. Dieses Missverständnis sollte aber wesentlich schneller zu beheben sein als die Fehlinterpretation, die der Satz in (39) provoziert. 13 Diese Vermutung lässt sich nicht mit dem von Norde (2001: 258) formulierten „principle of single coding“ vereinbaren, das besagt, dass „it is more efficient (for the speaker and the hearer alike) to mark case on only one single element in the noun phrase, instead of adding an inflectional suffix to all elements (concordial case).” Ob die Annahme eines solchen Prinzips generell gerechtfertigt ist und inwiefern sie auch auf das Deutsche zutrifft – eine Sprache, in der die Erkennung von Klammerstrukturen beim Dekodierungsprozess besonders relevant ist – kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass hinsichtlich der Funktion von nominaler Kongruenz kein Konsens besteht – was möglicherweise mit den Eigenarten der jeweils untersuchten Sprache zusammenhängt: Argumente für ein „principle of single coding“ liefert die Geschichte des Schwedischen, also der Sprache, mit der sich Norde beschäftigt, während das hartnäckige Überleben nicht vom Lautwandel betroffener Kasusmarker im Deutschen (also der Sprache, die Ronneberger-Sibold untersucht) eher gegen ein solches universelles Prinzip spricht.

62 | Competing Motivations

dieser Stelle nicht ausschlaggebend und kann durchaus diskutiert werden. Die Feststellung, dass das Klammerverfahren ein wichtiges Charakteristikum des Deutschen ist, ist aber kaum zu bestreiten – und die Bedeutung des Genitivsuffixes könnte unter anderem darin liegen, dass es die syntaktische Dekodierung unter den gegebenen Umständen (also der besonderen Relevanz des Erkennens der klammerbildenden Elemente) erleichtert. Diese Annahme steht im Einklang mit Ronneberger-Sibold (2010b: 724), die „das erstaunlich konservative Festhalten des Deutschen an fast allen nominalen Flexionskategorien des Germanischen (mit vier Kasus, zwei Numeri, drei Genera) im funktionellen Zusammenhang mit dem klammernden Verfahren“ sieht (vgl. auch Dammel & Gillmann 2014: 218–220) und dabei der Markierung des Genitivs als einzigem Attribut-Kasus des Deutschen eine besondere Bedeutung zuschreibt (vgl. Ronneberger-Sibold 1997: 333). Rein deskriptiv gilt es also zunächst festzuhalten, dass das mit dem Artikel kongruierende Genitiv-s für eine besonders saliente Markierung des rechten Klammerelements sorgt. Diese eindeutige Hervorhebung der syntaktischen Struktur wirkt wohl unterstützend bei der Dekodierung. Der entsprechende Perzeptionsvorteil kommt als funktionale Motivation für die Stabilität des Genitivsuffixes infrage. Allerdings sollte die Wirksamkeit dieser funktionalen Motivation auch nicht überschätzt werden, schließlich sind z.B. einige Kasusendungen, die im Zusammenhang mit dem klammernden Verfahren die syntaktische Dekodierung hätten unterstützen können bzw. sie unterstützt haben, phonologischen Wandelprozessen zum Opfer gefallen. Dass funktional besonders belastete Elemente phonologischen Erosionsprozessen widerstehen oder diese Elemente wiederhergestellt werden können, zeigt z.B. Ronneberger-Sibold (2010a: 103–105) anhand der Entwicklungen des definiten Artikels und der starken Adjektivflexion im Deutschen (vgl. auch Dammel & Gillmann 2014).14 Dies war bei einigen Kasusendungen, z.B. dem Dativ-e, aber nicht der Fall. Die oben für das Genitiv-s beschriebene Nützlichkeit bei der syntaktischen Dekodierung war bzw. wäre aber auch hier gegeben, vgl. (41) bis (43). Die heute übliche Verwendung ohne Dativ-e sorgt für einen garden path-Satz in (41). Bei konsequent gebrauchtem Dativ-e (vgl. auch (43)) wäre klar, dass es sich bei Bier in (42) nicht um einen

|| 14 So wurde im Mhd. und Fnhd. z.B. die Endung der starken Adjektivflexion von der SchwaApokope verschont – „sogar in einer so apokope-freundlichen Mundart wie dem Bairischen […]: Mhd. grôze vüeze ‚große Füße‘ entspricht bair. /gro:sə fiɐs/: Das /-ə/ von mhd. grôze ist erhalten, dasjenige von vüeze nicht“ (Ronneberger-Sibold 2010a: 105).

Die systemkonforme saliente Kodierung grammatischer Informationen | 63

Dativ handeln kann, was dem Missverstehen an dieser Stelle vorbeugen würde.15 (41)

Sie saß auf der Bank mit dem Bier in rauen Mengen trinkenden Mann.

(42)

Sie saß auf der Bank mit dem Bier in rauen Mengen trinkenden Manne.

(43)

Sie saß auf der Bank mit dem Biere.

Darüber hinaus kommen die Feminina ohne Genitivsuffix aus, obwohl damit Nachteile im Dekodierungsprozess verbunden sein können (s. (39)). Die geschwundene Kasusmarkierung ist hier nicht restituiert worden. Interessanterweise hat aber bei einer Reihe von maskulinen Substantiven, die ihr Genitivsuffix aufgrund phonologischen Wandels verloren hatten, eine morphologisch motivierte Wiederherstellung der Genitivendung stattgefunden. Die Mitglieder der bereits im Ahd. schwach besetzten Klassen der er-Stämme (fater und bruoder, vgl. z.B. Molz 1902: 260, Kern & Zutt 1977: 88, Wegera 1987: 131, Paul et al. 25 2007: 189 und Bergmann, Ruge & Moulin 92016: 113), der nt-Stämme (friunt, vgl. Wegera & Waldenberger 2012: 146)16 und der Wurzelnomina (man, vgl. Braune & Reiffenstein 152004: 215, Paul et al. 252007: 189, Wegera & Waldenberger 2012: 146 und Bergmann, Ruge & Moulin 92016: 113)17 wurden zeitweise in allen Kasus im Singular ohne Flexiv verwendet, was im Folgenden anhand von zwei Genitivbelegen aus dem 13. Jahrhundert veranschaulicht wird:18

|| 15 Nichtsdestoweniger würde hier vielleicht die nicht gegebene Adjazenz von Artikel und zugehörigem Substantiv für Verarbeitungsschwierigkeiten sorgen, vgl. Fußnote 12 in diesem Kapitel. 16 Im Gegensatz zu Wegera & Waldenberger (2012: 146) führen Braune & Reiffenstein (152004: 215) keine Formen ohne Genitivsuffix als mögliche flexionsmorphologische Varianten auf. 17 Im oberdeutschen Sprachraum, besonders im Bairischen, wurden zu fnhd. Zeit einige weitere Substantive (wie z.B. Ritter, Elendt und Leben) gelegentlich ohne Genitiv-s verwendet (vgl. von Polenz 22000: 156 und Wegera 1987: 127–131). Hierbei handelt es sich – im Gegensatz zur s-Losigkeit der oben erwähnten Lexeme – nicht um das Resultat von Flexionsklassenwandel. Die Schwankungen sind zeitlich und räumlich begrenzt und alle betroffenen Substantive werden nur zu einem gewissen Anteil ohne Flexiv verwendet. s-Losigkeit setzt sich bei keinem Lexem durch. 18 Zur phonologischen Ursache dieses Umstands siehe Kern & Zutt (1977: 87).

64 | Competing Motivations

(44)

Dô got menſche durch uns was und uns des vater lêre las, er hiez die tôten ûf stân, geſunt von dem grabe gân. Rudolf von Ems: Barlaam und Josaphat (Zeile‫ؘ‬3351–3354)19

(45)

daz geschach nâch des bruoder tôt. Jans Enikel: Weltchronik (Zeile 25556)20

Spätestens im Mhd. zeigen diese Substantive aber erste Anzeichen eines Flexionsklassenwechsels, indem sie sich flexivisch den a-Stämmen (z.B. tac) annähern und im Genitiv Singular mit -(e)s verwendet werden. Der Prozess des Flexionsklassenwechsels zieht sich bis ins Fnhd. hinein (vgl. Wegera 1987: 131). Heute werden alle hier relevanten Substantive ausschließlich mit Genitiv-s verwendet. Die wichtigsten Entwicklungsstufen sind in Abb. 4 (basierend auf Kern & Zutt 1977: 135 und Wegera 1987: 131) anhand der Genitivformen von Bruder beispielhaft dargestellt.21

Germ. brōþrez

Ahd. >

bruoder

Mhd. >

bruoder/bruoder(e)s

Fnhd. >

bruder/bruders

Nhd. >

Bruders

Abb. 4: Die Entwicklung der Genitivmarkierung von Bruder

Diese Flexionsklassenwechsel und die damit einhergehende Wiederherstellung des Genitivsuffixes erscheinen vor dem Hintergrund der allgemeinen Tendenz zur Reduktion nominaler Kasusmarker ungewöhnlich, zumal bereits im Ahd. die Artikel entstehen und zunehmend den Kasusausdruck vom Substantiv übernehmen (vgl. Wegera & Waldenberger 2012: 143–154). Im Fnhd. ist die Verlagerung des Kasusausdrucks bereits sehr weit vorangeschritten – in der Sprachstufe also, in der sich bei den oben genannten Substantiven endgültig

|| 19 Zitiert nach Pfeiffer (1843). 20 Zitiert nach Strauch (1900). 21 Von einigen Schwankungen, die nicht die Genitivendung betreffen (z.B. die sich im Fnhd. durchsetzende Substantivgroßschreibung), wird in dieser Übersicht abstrahiert. Hier wird jeweils eine zu der jeweiligen Zeit übliche Variante stellvertretend gewählt.

Die systemkonforme saliente Kodierung grammatischer Informationen | 65

die Realisierung des Genitiv-s durchsetzt und somit der Kasusausdruck am Substantiv restituiert wird. Sowohl in diesem Zusammenhang als auch mit Blick auf die Stabilität des Genitiv-s im Gegenwartsdeutschen spielt die oft beschriebene Tendenz eine wichtige Rolle, dass SprachbenutzerInnen (unbewusst) eine gewisse Homogenität in einem sprachlichen System anstreben. Diese Tatsache, die in einem engen Zusammenhang mit dem Konzept der Analogie steht (s. hierzu z.B. Hock 2003), bezeichnet Haspelmath (2014) als „system pressure“ und beschreibt sie wie folgt: [T]here is a tendency in languages to treat the members of a lexeme class alike, even if this makes the system less efficient from a processing point of view. […] [T]he great majority of lexemes in most languages inflect according to some general pattern. This does not have to be the pattern of an entire word class, but it can be a subclass. (Haspelmath 2014: 204)

Die Subklassen, die in der Morphologie des Deutschen von besonders großer Bedeutung sind, sind die Feminina auf der einen und die Neutra und Maskulina auf der anderen Seite. Bereits im Germanischen gibt es erste Anzeichen für eine Steuerung der Deklination durch das Genus der Lexeme. Umstrukturierungen, durch die sich Feminina flexionsmorphologisch immer mehr von Nichtfeminina entfernen, sind spätestens seit dem Fnhd. ein wichtiger Leitfaden in der Entwicklung des Systems (vgl. Kern & Zutt 1977: 68–97, Dammel & Gillmann 2014: 206–208). Im Gegenwartsdeutschen sind die beiden Gruppen klar voneinander abzugrenzen. Nübling (2008: 299) spricht in diesem Zusammenhang von der „+/-Feminin-Genusschranke“.22 Ein wichtiges Kriterium bei dieser Unterscheidung ist der Genitiv Singular: Feminina weisen hier nie ein nominales Flexiv auf, Maskulina und Neutra aus dem Kernbereich des Deutschen hingegen schon (entweder das schwache -(e)n oder das starke -(e)s). Zur Entstehung dieser Systematik hat unter anderem der Flexionsklassenwechsel der oben erwähnten Substantive Bruder, Vater, Mann und Freund beigetragen, die im Ahd. bzw. Mhd. vorwiegend ohne Genitivsuffix verwendet wurden, heute aber der Deklination anderer Maskulina entsprechend mit Flexiv verwendet werden. Dass diese Wörter ihr Flexionsverhalten geändert haben, ist einerseits wenig überraschend, weil sie zwar eine hohe Token-, aber gleichzeitig eine sehr niedrige Typenfrequenz aufwiesen und umfangreiche Deklinationsklassen häufig eine große Anziehungskraft auf Mitglieder kleinerer Gruppen ausüben. Andererseits gibt es auch Beispiele von sehr kleinen Klassen, die als Analogie-Vorlage die|| 22 Die Verflechtung von Genus und Deklinationsklasse wird unter anderem auch in der Duden-Grammatik (92016: 196) thematisiert. Siehe hierzu auch Kapitel 5.

66 | Competing Motivations

nen, Mitglieder hinzugewinnen und sich schließlich etablieren. So hat z.B. die Klasse der neutralen iz-/az-Stämme, die im Ahd. lediglich zehn Mitglieder hatte (z.B. lamb), im Laufe der Zeit zahlreiche Mitglieder hinzugewonnen (z.B. wort) und ist bis heute existent (Dammel & Gillmann 2014: 201). Besonders Substantive, deren Numerusausdruck durch phonologischen Wandel bedroht war, wechselten in diese Klasse mit sehr salienter Pluralmarkierung (UL + er, z.B. Wort – Wörter). Darin liegt die funktionale Motivation für die zahlreichen Flexionsklassenwechsel. Eine funktionale Motivation, Vater, Bruder usw. als Analogievorlage zu nutzen, wäre ebenfalls denkbar: Vor dem Hintergrund der redundanten Kasusanzeige an Substantiv und Artikelwort erscheint die Einsparung artikulatorischen Mehraufwands, der mit der Realisierung des Genitivflexivs verbunden ist, naheliegend. Eine entsprechende Entwicklung setzt aber nicht ein. Im Gegenteil: Die genitiv-s-los verwendeten Substantive passen sich flexionsmorphologisch der Mehrheit der anderen Maskulina an und werden fortan mit Genitivsuffix verwendet. Unter anderem deshalb sind die peripheren Maskulina und Neutra wie Tango oder AKW, die ohne Genitiv-s verwendet werden, im Gegenwartsdeutschen die einzigen Ausnahmen zu der ansonsten konsequent befolgten Systematik, dass Nichtfeminina im Gegensatz zu Feminina ein Flexiv im Genitiv Singular erhalten (vgl. hierzu auch Kapitel 5). Das Nichtvorhandensein von -s wird bei diesen Lexemen zugunsten eines in dieser Hinsicht einheitlichen Systems dispräferiert: „System pressure“ führt unter anderem dazu, dass Fremdwörter mit der Zeit integriert werden und sich der vorherrschenden Systematik anpassen, was ausführlich in Abschnitt 4.1 analysiert wird. Hier wirkt Analogie: Die Flexion der Fremdwörter ändert sich nach dem Vorbild der prototypischen deutschen Substantive, was ebenso wie die oben beschriebene Entwicklung von Vater, Bruder usw. zur Stärkung der Genusschranke beiträgt (zum Thema Genusschranke s. auch Kapitel 5). Dass periphere Elemente sich dem Zentrum eines Sprachsystems annähern, ist ein häufig zu beobachtendes Phänomen und deshalb keineswegs überraschend (s. Abschnitte 3.1 und 4.1).23 Wenn ein Fremdwort nach dem Muster der prototypischen Elemente flektiert wird, konfligiert dies mit dem Streben nach morphologischer Schemakonstanz. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass den hier untersuchten Schwankungsfällen competing motivations (z.B. im Sinne von Moravcsik 2014)

|| 23 Nicht ganz ausgeschlossen werden kann zudem, dass das Genitiv-s durch (vermeintliches) Normbewusstsein gestützt wird. Dass einige Beobachtungen zum Gebrauch des Flexivs allerdings nur sehr bedingt mit dem Einfluss von Grammatiken und Sprachratgebern erklärt werden können, wird in Abschnitt 4.1.1.3 erläutert.

Schemakonstanz vs. saliente Kodierung grammatischer Informationen | 67

zugrunde liegen: morphologische Schemakonstanz auf der einen Seite und die systemkonforme saliente Markierung syntaktischer Strukturen (also Kongruenz) auf der anderen Seite.24 Beide Motivationen sind in erster Linie rezipientInnenorientiert, beziehen sich aber auf unterschiedliche linguistische Ebenen. Die morphologische Schemakonstanz erleichtert den lexikalischen Zugriff und steht damit im Dienste der Erkennung von Wörtern, während die systemkonforme saliente Markierung syntaktischer Strukturen den Dekodierungsprozess größerer Satzbestandteile befördert. Die Einheitlichkeit eines Systems hat darüber hinaus Vorteile hinsichtlich des Spracherwerbs, vgl. z.B. Haspelmath (2014: 208): „while form minimization makes language use more efficient, systematicity makes language easier to acquire.” Die Konkurrenz dieser beiden Motivationen wird im weiteren Verlauf fokussiert.

3.4 Schemakonstanz vs. saliente Kodierung grammatischer Informationen Wenn competing motivations aufeinandertreffen, gibt es vier Möglichkeiten, wie der Konflikt gelöst werden kann (Moravcsik 2014: 2–3): 1.

die beiden Motivationen blockieren sich gegenseitig, sodass keine der beiden einen Einfluss ausübt

2.

eine der beiden Motivationen setzt sich durch

3.

der Einfluss beider Motivationen wird im Sinne einer Kompromisslösung modifiziert, sodass beide Motivationen zu einem gewissen Grad bedeutsam sind

4.

je nach Token setzt sich eine der beiden Motivationen durch

|| 24 Systemkonform ist die saliente Kodierung grammatischer Informationen (also die Kongruenz eines Artikels mit einem Substantiv, das mit einem Flexiv versehen ist) bei Maskulina und Neutra deshalb, weil sie im Einklang mit der Genusschranke steht, die ein zentrales Charakteristikum des deutschen Deklinationssystems ist: Nichtfeminina erhalten im Genitiv Singular ein Flexiv, Feminina nicht. Auf Ausnahmen zu dieser Systematik wirkt „system pressure“. Die saliente Kodierung grammatischer Informationen via Kongruenz ist demnach nicht generell systemkonform – sie stellt im Bereich der Deklination des Deutschen eher eine Ausnahme dar – sondern nur dort, wo sich in ihr die Genusschranke manifestiert. Mit Blick auf die Schwankung im Genitiv kommen in der Bezeichnung „systemkonforme saliente Kodierung grammatischer Informationen“ demnach die folgenden zwei Aspekte der komplexen Motivation zum Ausdruck: Das nominale Flexiv kodiert die Kasus-Information salient (was relevant ist mit Blick auf die Sprachverarbeitung) und sorgt gleichzeitig für eine flexivische Abgrenzung von Feminina und Nichtfeminina (was im Sinne der Einheitlichkeit des Systems präferiert wird).

68 | Competing Motivations

Die mit Blick auf die Variation im Genitiv Singular relevanten Konfliktlösungen sind die Optionen 3 und 4. An dieser Stelle wird wieder die Unterscheidung zwischen der qualitativen und der quantitativen Dimension der morphologischen Schemakonstanz relevant. Zunächst zur quantitativen Dimension: Offenkundig spielt Option 4 eine große Rolle bei dem hier untersuchten Phänomen. Wenn man zunächst die qualitative Dimension außer Acht lässt, zeigt sich, dass entweder ein Flexiv realisiert wird oder die flexivische Markierung unterlassen wird. Das bedeutet, dass sich entweder morphologische Schemakonstanz durchsetzt oder die saliente Kodierung grammatischer Informationen.25 Welche der beiden Motivationen sich durchsetzt, hängt in erster Linie vom Schonungsbedarf des betroffenen Substantivs ab. Je zahlreicher, wichtiger und stärker ausgeprägt die Eigenschaften sind, die morphologische Schemakonstanz befördern, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die morphologische Schemakonstanz gegen die mit ihr konkurrierende Motivation durchsetzt und das Substantiv unflektiert bleibt. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Eigenname Eyjafjallajökull im Genitiv unflektiert bleibt, ist z.B. besonders groß, weil es sich hier um ein unvertrautes, niederfrequentes und phonologisch sehr markiertes Wort handelt. Rhein hingegen ist sehr viel vertrauter, frequenter und phonologisch nicht markiert, weshalb hier wesentlich häufiger das Genitiv-s verwendet wird (für eine ausführliche Darstellung der relevanten Faktoren s. Abschnitt 4.2). Bei Rhein setzt sich also in der Regel die Motivation der systemkonformen salienten Markierung syntaktischer Strukturen durch, da das Wort keinen gesonderten Schonungsbedarf aufweist. Die Tatsache, dass sich je nach Substantiv entweder die eine oder die andere Motivation durchsetzt, führt zu Variation. Diese hat viele Facetten und betrifft sowohl die Diachronie als auch die Synchronie. Wenn man z.B. das Sprachsystem betrachtet, lassen sich Unterschiede zwischen Peripherie und Zentrum des substantivischen Bereichs erkennen. Hier gibt es also sozusagen eine systemische Variation. Wenn man auf SprecherInnen fokussiert, zeigt sich sowohl intra- als auch interindividuelle Variation. Die intraindividuelle Variation äußert sich darin, dass ein Mitglied der Sprachgemeinschaft ein bestimmtes Wort unterschiedlich verwendet, was sehr häufig zu beobachten ist (s. z.B. Abschnitte 1.1 und 4.1.1.2). Interindividuelle Variation kann, muss aber nicht von außersprachlichen Faktoren bestimmt sein. Inwiefern sich z.B. Vertrautheitsunterschiede mit Orten oder Flüssen, die u.a. in unterschiedlichen Wohnorten der SprecherInnen begründet sein können, auf die Flexion von Toponymen auswirken, wird ausführlich in Abschnitt 4.2.3 thematisiert. Und schließlich kann man || 25 Insofern kommen die Konfliktlösungsoptionen 1 und 2 hier nicht zum Tragen.

Schemakonstanz vs. saliente Kodierung grammatischer Informationen | 69

auch auf einzelne Lexeme fokussieren, wobei sich ebenfalls ein beträchtliches Ausmaß an Variation zeigt. Eine ganze Reihe von Wörtern wird annähernd so häufig mit Genitivflexiv verwendet wie ohne (z.B. des Tango vs. des Tangos). Die diachrone Dimension der Variation besteht in erster Linie im Prozess der morphologischen Integration: Fremde Wörter werden zunächst gesondert, das heißt ohne Genitiv-s, verwendet, im Laufe der Zeit aber integriert und somit immer häufiger mit dem Kasussuffix gebraucht (vgl. hierzu Abschnitt 4.1). Neben dem Anteil der Variation, der mit diesem Aspekt der morphologischen Integration erklärt werden kann, scheint es aber auch einen Anteil zu geben, der nicht direkt im Zusammenhang mit Sprachwandel steht. Die beiden konkurrierenden Motivationen sorgen offenbar für Variation ohne Wandel. Dabei ist etwa an den systemischen Aspekt der Variation zu denken (Zentrum vs. Peripherie), an die je nach geographischer Lage unterschiedliche Flexion von Toponymen oder an Wörter, deren Schonungsbedarf diachron konstant bleibt, z.B. einige Kurzwörter (vgl. Abschnitt 4.3). Dafür, dass sich auf lange Sicht eine der beiden Motivationen grundsätzlich und dauerhaft durchsetzt, gibt es derzeit keine Anzeichen. Die Flexion von Fremdwörtern zeigt z.B. sehr anschaulich, dass beide Motivationen wirksam sind, indem diese Wörter zunächst gesondert behandelt werden (besondere Bedeutung der morphologischen Schemakonstanz), dann bei entsprechender Integration aber zunehmend mit Genitivflexiv verwendet werden – entsprechend der systemkonformen salienten Markierung syntaktischer Strukturen (vgl. Abschnitt 4.1). Wenn man sich nun auch dem qualitativen Aspekt der morphologischen Schemakonstanz zuwendet, wird deutlich, dass an dieser Stelle auch die Konfliktlösungsoption 3 relevant ist: In gewisser Hinsicht wird der Einfluss beider Motivationen im Sinne einer Kompromisslösung modifiziert, sodass beide Motivationen zu einem bestimmten Grad wirksam sind. Der Kompromiss zwischen beiden Motivationen besteht darin, dass zwar ein Flexiv realisiert wird, unter den beiden zur Wahl stehenden Flexiven aber dasjenige gewählt wird, das am wenigsten den Wortkörper affiziert: das nichtsilbische -s. Die systemkonforme saliente Markierung syntaktischer Strukturen wird auf diese Weise gewährleistet, da ein Flexiv realisiert wird. Gleichzeitig wirkt die entsprechende Motivation aber nicht uneingeschränkt, da dasjenige Allomorph blockiert wird, das am stärksten den Wortkörper beeinträchtigt, nämlich -es. Der morphologischen Schemakonstanz wird hier also insofern Rechnung getragen, als kein besonders strukturaffizierendes Flexiv realisiert wird. Dass aber überhaupt ein Flexiv verwendet wird, zeigt, dass auch die Schemakonstanz nicht uneingeschränkt wirkt. -s ist in dieser Hinsicht im Sinne der Option 3 also eine Kompromisslösung zwischen beiden Motivationen (vgl. hierzu auch Abb. 23 in Abschnitt

70 | Competing Motivations

4.1.3). Deshalb ist es auch nicht überraschend, dass die Verwendung von -s immer möglich ist.26 Auch wenn bei besonders peripheren Wörtern -Ø stark präferiert wird, ist -s dennoch nicht ungrammatisch (vgl. (46)): (46)

12 Eruptionszyklen des Eyjafjallajökulls sind aus den Zeiten vor der Landnahme Islands bekannt und nur 4 Ausbrüche seitdem es Menschen auf der Insel gibt.

Im Gegensatz dazu hängt es stark vom jeweiligen Substantiv ab, ob -Ø oder -es grammatisch sind (vgl. (47) und (48)): (47)

*Die Lehne des Stuhl-Ø ist besonders gut gepolstert.

(48)

*Der Ausbruch des Eyjafjallajökull-es überraschte alle.

Die Möglichkeiten, die hier Anwendung finden, um den zwischen zwei Motivationen bestehenden Konflikt zu lösen, sind also die Optionen 3 und 4. Wenn entweder sehr hoher oder sehr niedriger Schonungsbedarf besteht, setzt sich tendenziell eine der beiden Motivationen durch. -s als Kompromisslösung ist prinzipiell immer möglich, wird bei besonders schonungsbedürftigen Wörtern aber stark dispräferiert. Nachdem nun die Motivationen und deren Konkurrenzsituation vorgestellt wurden, stellen sich zwei Fragen. Erstens: Sind diese im Deutschen beobachteten Aspekte nur einzelsprachlich von Belang oder haben sie auch über das Deutsche hinaus Relevanz? Und zweitens: Erleichtert morphologische Schemakonstanz bei peripheren Substantiven tatsächlich den lexikalischen Zugriff? Ist die Annahme also psycholinguistisch plausibel und kann empirisch nachgewiesen werden? Diese Themen werden in den beiden anschließenden Abschnitten behandelt.

3.5 Die konkurrierenden Motivationen im Sprachvergleich Um die Frage zu klären, ob die beiden oben vorgestellten Motivationen übereinzelsprachlich relevant sind, bietet sich der Vergleich mit anderen Sprachen an, die in den hier wichtigen Aspekten mit dem Deutschen vergleichbar sind. Nicht

|| 26 Ausnahmen dazu sind phonologisch motiviert, vgl. des Sozialismus.

Die konkurrierenden Motivationen im Sprachvergleich | 71

geeignet sind zunächst einmal Sprachen, die nicht über ein Kasus-System verfügen. Theoretisch wäre auch ein Vergleich der Pluralrealisierung möglich, allerdings gibt es bedeutende Unterschiede zwischen der Kasus- und der Numerusflexion, weshalb ich mich hier auf den Vergleich von Kasusrealisierungen beschränke (vgl. zu diesen Unterschieden z.B. die Ausführungen zur Relevanzhierarchie nach Bybee 1985, 1994 in Abschnitt 4.3.2).27 Ein im vorliegenden Zusammenhang besonders wichtiges Charakteristikum des Deutschen stellt die Arbeitsteilung von Artikel und Substantiv bei der Kasus-Anzeige dar. Das zeigt sich unter anderem daran, dass die Auslassung des Genitivflexivs nur möglich ist, wenn der Kasus bereits durch einen Artikel markiert ist. Der Spielraum hinsichtlich der Endung und die Konkurrenzsituation der beteiligten Motivationen sind also an die Realisierung eines Artikels gebunden, der den Kasus des Substantivs overt markiert. Morphologische Schemakonstanz kann sich im Deutschen nur dann durchsetzen, wenn dadurch der Ausdruck der grammatischen Kategorie an sich nicht verloren geht. Die Salienz oder die Redundanz der Information kann demnach beeinträchtigt werden, nicht aber der Ausdruck der grammatischen Information an sich. Um in dieser Hinsicht Vergleichbarkeit zu gewährleisten, erscheint ein Vergleich mit Sprachen sinnvoll, die Kasus an Artikel und Substantiv realisieren (können).28 Diese Eigenschaft weisen weltweit allerdings nur sehr wenige Sprachen auf, da Kasus-Sprachen in der Regel keine Artikel haben (vgl. Barðdal 2009: 131). Unter den europäischen Sprachen haben z.B. viele Sprachen kein voll ausgeprägtes morphologisches Kasus-System (z.B. Englisch, Schwedisch, Friesisch, Französisch, Italienisch und Spanisch) oder keinen Artikel (z.B. Finnisch, Serbisch, Polnisch und Russisch).29 Andere verfü-

|| 27 Einige interessante Beobachtungen und Literatur-Hinweise zur wortschonenden Pluralmarkierung bei peripheren Substantivklassen in verschiedenen Sprachen finden sich bei Wegener (2004: 64). 28 Kasuskongruenz ist auch mit anderen Elementen der Nominalgruppe möglich, z.B. kongruieren im Finnischen nicht Artikel und Substantiv, aber Substantiv und ein ggf. vorhandenes Adjektiv. Ich beschränke mich hier aber auf die Kongruenz von Substantiv und (weitestgehend) obligatorischem Artikel und widme mich nicht syntaktisch fakultativen Elementen wie Adjektiven. 29 Solche sprachvergleichenden Aussagen und binäre Klassifikationen der Sprachen lassen einige wichtige Details außer Betracht und sind deshalb natürlich problematisch. So haben z.B. Englisch und Schwedisch zwar ein pronominales Kasussystem, weisen ansonsten aber keine Anzeichen von morphologischem Kasus auf, weshalb sie hier zu den Sprachen ohne voll ausgeprägtes morphologisches Kasussystem gezählt werden. Da es hier weniger um typologische Aussagen geht als darum, Sprachen zu finden, die in den hier relevanten Aspekten mit dem Deutschen vergleichbar sind, scheint mir diese Vorgehensweise gerechtfertigt zu sein. Ansons-

72 | Competing Motivations

gen nicht über eine kongruierende Kasus-Anzeige an Artikel und Substantiv (z.B. Ungarisch und Baskisch).30 Hinsichtlich der Kasuskongruenz von Artikel und Substantiv sehr gut mit dem Deutschen vergleichbar ist hingegen das Neugriechische, das erstaunliche Parallelen mit dem Deutschen aufweist, was der folgende Auszug aus einer Grammatik des Neugriechischen zeigt (Tzermias 1969: 76).31 Entsprechendes findet sich auch in weiteren Grammatiken und Sprachlehrwerken (z.B. MoserPhiltsou 41966: 269 und Holton, Mackridge & Philippaki-Warburton 2004: 53). a)

Undeklinierbare Substantive

Bei diesen Substantiven wird nur der Artikel dekliniert. Daraus ist der jeweilige Kasus ersichtlich. Hierher gehören: – viele, meistens sächliche Fremdwörter, z.B. γκαρσόν (der Kellner; aber auch το γκαρσόνι, deklinierbar), το κονιάκ (der Kognak); – die Benennung der Buchstaben des griechischen Alphabets […] – viele Eigennamen aus fremden Sprachen, z.B. το Πάσχα (Ostern), Γιβραλτάρ (Gibraltar), ο Σαίξπηρ (Shakespeare), ο κύριος Μύλλερ (Herr Müller) […] – die substantivierten Formen, z.B. το σήμερα (das Heute […]), το έχει (die Habe) […]. (Tzermias 1969: 76)

|| ten richten sich die hier aufgeführten Eigenschaften nach den Informationen, die im World Atlas of Language Structures (WALS) hinterlegt sind (Dryer & Haspelmath 2013). 30 Isländisch hat zwar seine Kasusmorphologie bewahrt und weist auch einen Definit-Artikel auf, dieser wird aber als Suffix am Substantiv realisiert, weshalb Deutsch und Isländisch in dieser Hinsicht – gerade im Hinblick auf Wortschonung des Substantivs durch Auslagerung von grammatischen Informationen an den Artikel – nicht vergleichbar sind. Aufschlussreich könnten hingegen datenbasierte Vergleiche mit dem Färöischen sein. Genitive sind hier zwar randständig, aber dennoch zu einem gewissen Grad existent, und das entsprechende Substantiv kann mit dem (allerdings nicht obligatorischen) Indefinit-Artikel ein kongruieren (Lockwood 1977: 64–65, 104–109). Im Luxemburgischen sind Konstruktionen mit kongruierendem Artikel und Substantiv im Genitiv äußerst marginal, aber möglicherweise auch aufschlussreich mit Blick auf die Anwesenheit/Abwesenheit eines nominalen Kasusmarkers (vgl. Döhmer 2018). Im Niederländischen vereinzelt zu beobachtende Belege des Typs des duivels zijn (‚wütend sein‘, wörtlich: ‚des Teufels sein‘) ähneln formal zwar stark Genitivkonstruktionen mit Kasuskongruenz von Artikel und Substantiv, sind aber keine tatsächlichen Belege für Kasusgebrauch im Niederländischen (für Details s. Scott 2014a: 198–200). Aufgrund der Kasuskongruenz von Artikel und Substantiv wäre wohl auch die australische Sprache Kayardild interessant (vgl. Evans 1995: 233); Informationen zum Sprachgebrauch sind hier allerdings sehr begrenzt. 31 Für die Beantwortung einiger Fragen zum Neugriechischen bedanke ich mich herzlich bei meiner Informantin Elpida Xanthopoulos.

Die konkurrierenden Motivationen im Sprachvergleich | 73

Diese hier erwähnten Substantivgruppen sind diejenigen, die auch im Deutschen ohne das Genitivflexiv verwendet werden können (vgl. dazu ausführlich Kapitel 4). Kurzwörter sind in den erwähnten Grammatiken des Neugriechischen nicht genannt, aber auch sie werden ohne Kasusflexive verwendet, wie der Beleg in (49) veranschaulicht, in dem das Kurzwort ΠΑΣΟΚ (PASOK, die sozialdemokratische Partei Griechenlands) vorkommt. ΠΑΣΟΚ ist Neutrum und würde im Genitiv ein Flexiv erhalten, wenn es sich nicht um ein peripheres Substantiv handeln würde. (49)

Η

Φώφη Γεννηματά

ART Fofi

είναι η

Gennimata ist

νέα πρόεδρος

του

ART neu Präsidentin ART.GEN.SG

ΠΑΣΟΚ-Ø  PASOK-Ø ‚Fofi Gennimata ist die neue Präsidentin der PASOK‘

Lediglich die peripheren Mitglieder des substantivischen Bereichs werden im Neugriechischen nicht nach Kasus flektiert (vgl. (51)). Prototypische, native Substantive kongruieren mit dem Artikel und haben eine overte Nominativ-, Genitiv- oder Akkusativmarkierung (vgl. (50)). Einige Fremdwörter scheinen nur zunächst nicht durch Flexion affiziert zu werden. Bzgl. dieser Substantive lässt sich aktuell Variation beobachten, z.B. bei γκαρσον(ι) (‚Kellner‘), das auf das französische garçon zurückgeht (vgl. (51) vs. (52)). Das deutet darauf hin, dass diese Fremdwörter ebenso wie deutsche Fremdwörter bei entsprechender Gebrauchshäufigkeit im Laufe der Zeit integriert werden können und mit Flexiv verwendet werden (vgl. Abschnitt 4.1).32 Hier spielt wohl auch der Auslaut der Fremdwörter eine bedeutende Rolle. Für das Neugriechische untypische Auslaute wie κ scheinen die Integration zu hemmen.

|| 32 Die Verwendung des Genitivflexivs -ού steht in engem Zusammenhang mit anderen Integrationsmerkmalen. So tritt diese Endung nur an die (im Vergleich zu γκαρσον) stärker integrierte Variante γκαρσονι (vgl. (51) vs. (52)).

74 | Competing Motivations

(50)

Η

παρουσίαση του

νέ-ου

βιβλί-ου

ART Präsentation ART.GEN.SG neu-GEN.SG Buch-GEN.SG ,Die Präsentation des neuen Buches‘

(51)

η

συμπεριφορα του

ART Benehmen

γκαρσον-Ø

ART.GEN.SG Kellner-Ø

,das Benehmen des Kellners‘

(52)

η

δουλειά του

γκαρσονι-ού

ART Arbeit ART.GEN.SG Kellner-GEN.SG ,die Arbeit des Kellners‘

Dieser kurze Exkurs zur Kasus-Markierung im Neugriechischen hat gezeigt, dass die zwei hier verglichenen Sprachen sehr ähnlich verfahren: Prototypische, native Substantive werden systemangemessen flektiert, während periphere Substantive für Variation sorgen, indem sie (zunächst) nicht flektiert werden. Diese Beobachtung legt die Vermutung nahe, dass die beiden fürs Deutsche beschriebenen Motivationen nicht auf diese Sprache beschränkt sind, sondern auch im Neugriechischen (und möglicherweise auch weiteren Sprachen) Relevanz haben: Morphologische Schemakonstanz ist bei peripheren Substantiven (aufgrund mangelnder Vertrautheit, geringer Frequenz, phonologischer Markiertheit usw.) besonders wichtig, weshalb sich diese Motivation hier gegen die systemangemessene saliente Markierung grammatischer Informationen durchsetzen kann, z.B. bei γκαρσον(ι) (,Kellner‘). Ansonsten setzt sich Systemangemessenheit durch, z.B. bei βιβλίο (‚Buch‘). Diachron kann sich die Gewichtung der Motivationen ändern, z.B. wenn sich ein Fremdwort etabliert und dementsprechend die Gründe für die besondere Bedeutung der Schemakonstanz einem Wandel unterliegen (wohl zu beobachten bei γκαρσον(ι) (‚Kellner‘), veranschaulicht in (51) und (52)). Der Blick über das Deutsche hinaus hat auch gezeigt, dass die im Deutschen beobachtete Konstellation kaum in anderen Sprachen zu beobachten ist, wes-

Die konkurrierenden Motivationen im Sprachvergleich | 75

halb hier nur ein Vergleich mit dem Neugriechischen vorgenommen werden konnte, das hinsichtlich der relevanten Eigenschaften mit dem Deutschen vergleichbar ist. Offenbar wird die Kasuskongruenz von Artikel und Substantiv typologisch dispräferiert. Das spricht zunächst dafür, dass diese Kongruenz nicht besonders funktional ist. Allerdings gibt es eine Reihe von Sprachen, die diese Eigenschaft in früheren Sprachstufen aufgewiesen haben, darunter viele germanische Sprachen, z.B. Altschwedisch (53), Altenglisch (54) oder Mittelniederländisch (55). (53)

v

ens

salogs

manz

munne

von ART-GEN.SG gesegnet-GEN.SG Mann-GEN.SG Mund-DAT.SG ‚aus dem Mund eines gesegneten Mannes‘33 (54)

on þæt ece

wuldor þæs

heofenlican

rices

in ART ewigen Pracht ART-GEN.SG himmlisch-GEN.SG Reich-GEN.SG ‚in die ewige Herrlichkeit des himmlischen Reiches‘34 (55)

de

oorspronc des

levens

ART Ursprung ART-GEN.SG Leben-GEN.SG ‚der Ursprung des Lebens‘35 Ein Grund dafür, dass in diesen Sprachen mittlerweile keine Kongruenz zwischen Artikel und Substantiv mehr besteht, liegt darin, dass viele Kasusmarker phonologischen Erosionsprozessen zum Opfer gefallen sind (vgl. z.B. Weerman & De Wit 1999: 1176–1177 für das Niederländische), was häufig auch als Ursache für den Abbau der Kategorie Kasus genannt wird (vgl. z.B. Blake 1994: 177–182). -(e)s im Genitiv Singular Maskulinum der starken Deklination war davon allerdings nicht betroffen – unter den vielen verschiedenen Markern scheint dieser in jenen Sprachen (wie auch im Deutschen) der widerstandsfähigste Kasusmarker zu sein. Solange der Genitiv ausgedrückt wurde, wurde auch regelmäßig der entsprechende nominale Kasusmarker verwendet, was Weerman & De Wit

|| 33 Aus: Codex Bureanus, zitiert nach Norde (2001: 259). 34 Aus: The Blickling Homilies 5, zitiert nach Allen (1997: 112–113). Das Demonstrativpronomen se (hier im Genitiv als þæs) entwickelt sich – was auch im Zusammenhang mit dem Verlust von Kasusmorphologie zu sehen ist – im Laufe der Zeit zum Definitartikel (Blake 1994: 180). 35 Aus: Jan van Ruusbroec. c. 1335. Die chierheit der gheesteliker brulocht, zitiert nach Scott (2014a: 105).

76 | Competing Motivations

(1999: 1180) für das Mittelniederländische wie folgt beschreiben (s. z.B. auch Blake 1994: 180 zum Englischen): [T]he phonologically visible evidence that there exists a separate accusative case form is relatively scant […]. The dative is more easily distinguishable, but if we take into consideration the effects of the phonological processes […] [i.e. vowel reduction, n-deletion and schwa deletion, C.Z.], case morphology appears to be consistently visible only on the determiners. The genitive is more robust in that it is independently detectable on both noun and determiner.

Obwohl es vereinzelte Belege für die Auslassung des Genitiv-s gibt, scheint es insgesamt auch im Sprachgebrauch sehr stabil gewesen zu sein. In seiner Untersuchung zum frühen Neuniederländischen, einer Varietät, in der der Genitiv stark von der periphrastischen van-Konstruktion zurückgedrängt wurde (vgl. z.B. Scott 2014a: 128), bestätigt Scott (2014b) den regelmäßigen Gebrauch des Flexivs empirisch: In lediglich 13 von 660 von ihm analysierten Genitivbelegen wurde das -s nicht realisiert. Das entspricht einem Anteil von weniger als 2 %. Morphologisch und phonologisch war auch hier der Genitiv Singular also verhältnismäßig stabil, allerdings erübrigte sich sein Gebrauch mit dem Untergang der Kategorie Kasus.36 Die zugehörige Form überdauerte diese Kategorie aber im Niederländischen und auch vielen anderen Sprachen (z.B. Dänisch, Englisch, Norwegisch und Schwedisch) und findet nun in neuer Funktion, z.B. als possessive oder phrase marker, weiterhin Verwendung (vgl. z.B. Scott 2014a: 139–148, Norde 1997: 8). Dass das Deutsche hinsichtlich der kongruierenden Markierung von Kasus an Artikel und Substantiv eine Sonderstellung innerhalb der germanischen Sprachen einnimmt, liegt also nicht an der Hartnäckigkeit des nominalen Kasusmarkers – diese war in ähnlicher Weise auch in anderen Sprachen zu beobachten – sondern vielmehr daran, dass das Deutsche überhaupt ein Kasussystem bewahrt hat. Wenn man von einzelnen Kasusüberresten in einigen germanischen Sprachen, die ihr Kasussystem ansonsten faktisch abgebaut haben, absieht, verfügen neben dem Deutschen lediglich Isländisch und Färöisch

|| 36 Ich verwende den Begriff Kasus hier im engeren Sinne, also als Bezeichnung für eine morphologische Kategorie und nicht im Sinne von ‚abstraktem Kasus‘ (vgl. hierzu z.B. Dürscheid 1999: 51–52). Dass das flexivische Kasussystem im Niederländischen komplett abgebaut wurde, wird üblicherweise angenommen, vgl. z.B. Donaldson (22008: 23): „Case, once so prevalent in Dutch – especially in the written language, even up to 1947 – is to all intents and purposes dead nowadays.“ Allerdings gibt es zahlreiche Überreste des flexivischen Kasussystems, vor allem in Form lexikalisierter Ausdrücke. Der Status dieser Überreste wird von Scott (2014a: 159–208) ausführlich diskutiert.

Psycholinguistische Evidenz | 77

über diese nominale Kategorie. Form und Funktion müssen hier auseinandergehalten werden, was von Norde (2001: 242) mit Blick auf die Deflexion, die in fast allen germanischen Sprachen zu beobachten ist, folgendermaßen auf den Punkt gebracht wird: „The term ‚deflexion‘ is potentially misleading: it suggests the mere loss of inflectional material, but what it really means is the disappearance of grammatical categories. In the present context, deflexion thus refers to the loss of case as an inflectional category.“

3.6 Psycholinguistische Evidenz 3.6.1 Untersuchungsdesign Nachdem in den beiden vorhergehenden Abschnitten bereits die Frage behandelt wurde, warum das Genitiv-s überhaupt (noch) verwendet wird und inwiefern das Deutsche in dieser Hinsicht mit anderen Sprachen vergleichbar ist, soll es im Folgenden nun wieder schwerpunktmäßig um die Frage gehen, was die Gründe für das gelegentliche Fehlen des Flexivs im Gegenwartsdeutschen sind. Der Fokus liegt hier folglich auf der morphologischen Schemakonstanz, also der Motivation, die mit der salienten Kodierung grammatischer Informationen konkurriert. Weiter oben wurde bereits dafür argumentiert, dass morphologische Schemakonstanz sich unter anderem dann durchsetzt, wenn das betreffende Lexem Eigenschaften aufweist, die zu einem erschwerten bzw. langsameren lexikalischen Zugriff führen (vgl. Abschnitt 3.2). Dafür sprechen unter anderem die Daten, die in Kapitel 2 dargestellt wurden (s. auch Abschnitt 4.2). Eine funktionale Erklärung dieser Beobachtung liegt nahe: Die ohnehin erschwerte und zeitaufwendige Worterkennung soll durch flexivische Elemente nicht zusätzlich beeinträchtigt werden. Die Auslassung des Genitiv-s und damit die formseitige Konstanz des peripheren Lexems gelten als hörerInnen- bzw. leserInnenfreundlich, da angenommen wird, dass sie die unmittelbare Wiedererkennbarkeit des Lexems gewährleisten (vgl. z.B. Nübling 2005: 50–51 zur Schemakonstanz bei Eigennamen). Die Annahme, dass die Auslassung des Flexivs der schnelleren Erkennung peripherer Substantive dient, ist ganz zentral für die Erklärung der gegenwartssprachlichen Schwankung: Auf ihr fußen im Wesentlichen alle Annahmen zur funktionalen Motivation der morphologischen Schemakonstanz. Empirisch nachgewiesen wurde der angenommene Verarbeitungsvorteil bisher allerdings nicht. Im Folgenden soll diese wichtige Prämisse nun anhand von psycholinguistischen Daten überprüft werden, da es zwar durchaus plausibel und intuitiv

78 | Competing Motivations

nachvollziehbar ist, dass morphologische Schemakonstanz zu einer schnelleren Worterkennung peripherer Lexeme führt, diese Annahme aber keineswegs (a priori) als selbstverständliche Gegebenheit gelten kann. So wäre es z.B. denkbar, dass das finale nichtsilbische Segment -s keinen signifikanten Einfluss auf die Worterkennung hat, zumal der Kasus in der Regel bereits durch den entsprechenden flektierten Artikel eindeutig markiert ist und das kongruierende Genitiv-s insofern redundant ist. Außerdem könnte ein ggf. vorhandener positiver Effekt davon überlagert werden, dass der Genitivmarker „als Dekodierhilfe für den Hörer bzw. Leser [, der] die Grenzen der Konstituenten klar markiert“ (Ronneberger-Sibold 2010a: 98), fehlt und somit ein Nachteil hinsichtlich der syntaktischen Verarbeitung zu verzeichnen ist. Um nun zu überprüfen, ob bzw. wie sich die Abwesenheit des Genitiv-s auf die Verarbeitung peripherer Substantive auswirkt, wurde ein Self-PacedReading-Experiment (SPR) durchgeführt.37 Bei einem solchen Test werden den Versuchspersonen einzelne Sätze auf einem Bildschirm dargeboten, die in verschiedene Segmente unterteilt sind. Jeder der jeweils einzeln präsentierten Sätze ist zunächst komplett durch Rautensymbole ersetzt. Per Knopfdruck deckt die Versuchsperson dann nach und nach den Satz auf, wobei immer nur ein Segment sichtbar ist und vorherige Segmente wieder verdeckt werden, um ein Zurückspringen im Satz zu verhindern (moving window-Methode), vgl. (56): (56)

########################## des Iran ######################.

Indem die Zeitabstände zwischen den Klicks gemessen werden, kann festgestellt werden, wie lange die einzelnen Segmente aufgedeckt waren, was Rückschlüsse auf die Lesedauer und den Verarbeitungsaufwand der einzelnen Elemente erlaubt (vgl. z.B. McDonough & Trofimovich 2012: 118). Auf diese Weise wurde die Lesezeit von s-haltigen und s-losen Genitivformen verglichen. Um Priming-Effekte zu verhindern, die auf mehrmaliges Lesen beinahe identischer Items zurückzuführen wären, wurde allen ProbandInnen jeweils nur eine Ausprägung eines Satzes (also mit oder ohne Genitiv-s) vorgelegt. Die Vergleichbarkeit der Daten ist gewährleistet, da ‚Person‘ als Faktor in das statistische Modell integriert wurde (s. unten). Unterschiedliche individuelle Lesegeschwindigkeiten verzerren das Ergebnis also nicht. Da außerdem damit zu rechnen war, dass die Versuchspersonen gegen Ende des Tests schneller wer-

|| 37 Das Experiment, auf dem die folgenden Ausführungen in wesentlichen Teilen beruhen, wurde in Gemeinschaft mit Tanja Ackermann durchgeführt und als Ackermann & Zimmer (2017) publiziert.

Psycholinguistische Evidenz | 79

den, wurden alle Items in randomisierter Reihenfolge präsentiert. Zusätzlich wurde auch ‚Itemposition‘ als unabhängige Variable integriert. Den Versuchspersonen wurden jeweils zehn Testsätze und 29 syntaktisch anders strukturierte Filler präsentiert. Alle Testsätze stimmen hinsichtlich ihrer Struktur überein, womit ein verzerrender Einfluss des Satzbaus auf die Lesezeiten des relevanten Segments, das die Nominalgruppe im Genitiv enthält, vermieden werden sollte. Dieses kritische Segment, das einen Definitartikel und das Substantiv enthält, befindet sich in allen Testitems an vierter Stelle (bei insgesamt sechs Segmenten) und stellt ein Genitivattribut zu einem Akkusativobjekt eines zweistelligen Verbs dar, das finit in V2 steht. Es folgt ein zweiter Hauptsatz, der mithilfe einer koordinierenden Konjunktion angeschlossen ist, vgl. (57). Die Grenzen zwischen den einzelnen Segmenten sind hier durch Trennstriche gekennzeichnet.38 (57)

Die Präsidentin | empfängt | den Botschafter | des Iran | und begrüßt | die vielen Journalisten.

An der Self-Paced-Reading-Studie nahmen 54 deutsche MuttersprachlerInnen im Alter von 18 bis 32 Jahren teil, das Durchschnittsalter lag bei 22,4 Jahren. Bei allen Versuchspersonen handelte es sich um Studierende der FU Berlin (44 weibliche und zehn männliche), die nicht bereits am Prätest, der weiter unten beschrieben wird, teilgenommen hatten. Personen, die zum Zeitpunkt des Experiments älter als 35 Jahre waren, wurden nicht berücksichtigt, um die Vergleichbarkeit der Daten sicherzustellen und um mögliche Apparent-timePhänomene zu vermeiden. Weil die Akzeptabilität der zu untersuchenden Varianten eine bedeutende Rolle spielt (s. unten) und es sich hier um sprachliche Zweifelsfälle und gegenwartssprachlichen Wandel handelt (vgl. z.B. Abschnitt 4.1 zur morphologischen Integration) – also Phänomene, bei denen Altersunterschiede häufig bedeutsam sind – ist die Altershomogenität von besonderer Bedeutung. Die ProbandInnen wurden mithilfe einer Anweisung auf dem Startbildschirm gebeten, alle Sätze „zügig und präzise“ zu lesen (die gesamte Instruktion befindet sich im Anhang 1). Das Untersuchungsziel war nicht bekannt. Vor dem eigentlichen Experiment wurde jeweils eine Trainingsphase durchgeführt, sodass die Versuchspersonen sich mit dem Prozedere vertraut machen konnten.

|| 38 Bei der Konzeption der Items wurde außerdem darauf geachtet, dass das kritische Segment nicht aufgrund des Satzanfangs vorhergesagt werden kann und dass sich keine Ambiguitäten ergeben, da beides die Lesezeiten der kritischen Segmente beeinflussen könnte.

80 | Competing Motivations

Fragen konnten nach dieser Trainingsphase gestellt werden. Während des Experiments gab es dann keine Unterbrechungen mehr. Pro Person dauerte ein Durchlauf ca. zehn Minuten. Um überprüfen zu können, ob die Versuchspersonen tatsächlich alle Sätze gelesen haben, wurden in unregelmäßigen Abständen sehr einfache Verständnisfragen gestellt (s. Anhang 1), die (per Knopfdruck) mit ja oder nein zu beantworten waren. Abschließend wurden die Metadaten erfasst, wobei die Teilnehmenden auch gebeten wurden, sprachliche Auffälligkeiten der Testitems, auf die sie ggf. aufmerksam geworden waren, zu notieren. Die softwaregestützte Präsentation der Testsätze und das Erfassen der Lesezeiten erfolgte mithilfe des Experimental-Programms DMDX (vgl. Forster & Forster 2003; s. auch , zuletzt abgerufen am 19.08.2016). Mit Blick auf die Aussagekraft der gemessenen Lesezeiten ist ganz entscheidend, dass die miteinander verglichenen Varianten beide gleichermaßen akzeptabel sind, denn Strukturen, die als nicht oder marginal grammatisch wahrgenommen werden, werden signifikant langsamer verarbeitet als unauffällige (vgl. z.B. Marinis 2010: 145).39 Um diesen wichtigen Faktor, der sich verzerrend auf die Ergebnisse auswirken würde, zu kontrollieren, wurden ausschließlich solche Substantive in die Testitems integriert, die sowohl mit als auch ohne Genitiv-s akzeptabel sind. Identifiziert wurden diese Lexeme mithilfe eines zweiteiligen Prätests. Zunächst wurde das flexionsmorphologische Verhalten infrage kommender Lexeme in DECOW2012 untersucht und zwar die An- oder Abwesenheit des Flexivs unmittelbar nach des oder eines (vgl. Tab. 29, linke Seite). Berücksichtigt wurden die Substantive, bei denen die Verwendung des Flexivs stark schwankt, was auf die Akzeptabilität beider Varianten hindeutet. Bei der Zusammenstellung der Substantive wurde außerdem darauf geachtet, alle wichtigen Substan-

|| 39 Das ist auch der Grund dafür, dass native Appellative ohne Genitiv-s nicht in das SPRExperiment integriert wurden (z.B. *die Lehne des Stuhl-Ø). Die Ungrammatikalität solcher Strukturen hätte einen entscheidenden (verzögernden) Effekt auf die Lesezeiten und würde einen ggf. durch Schemakonstanz hervorgerufenen Vorteil überlagern. Wenn des Stuhl also nicht schneller gelesen worden wäre als des Stuhls, hätte man also lediglich schlussfolgern können, dass sich hier entweder kein Vorteil durch Schemakonstanz einstellt oder dass die Ungrammatikalität die Lesezeiten negativ beeinflusst und den positiven Effekt überlagert. Demnach kann hier empirisch weder belegt noch widerlegt werden, dass Schemakonstanz auch bei nativen Appellativen einen Verarbeitungsvorteil hat bzw. hätte. Darüber hinaus hätten solche zweifelsohne ungrammatischen Formen die Aufmerksamkeit der ProbandInnen auf das Genitiv-s gelenkt, weshalb metasprachliches Bewusstsein anschließend wohl auch die Lesezeiten der folgenden Genitivbelege beeinflusst und somit die Ergebnisse verzerrt hätte.

Psycholinguistische Evidenz | 81

tivgruppen (vgl. Kapitel 2 und 4) zu berücksichtigen, nämlich Kurzwörter (z.B. PC), Fremdwörter (z.B. Internet) und Eigennamen (z.B. Tiber), und darüber hinaus ein auch hinsichtlich der Buchstabenanzahl (PC vs. Himalaya) und Tokenfrequenz (Internet vs. Orinoko) ausgewogenes und möglichst repräsentatives Sample zusammenzustellen. Ergänzend zur Korpus-Recherche wurde eine Akzeptabilitätsstudie durchgeführt, sodass sowohl die Produktion als auch die Rezeption der Varianten überprüft wurde. An dieser Akzeptabilitätsstudie nahmen 48 Studierende der FU Berlin im Alter von 17 bis 29 Jahren teil (41 weibliche und sieben männliche deutsche MuttersprachlerInnen). Das Durchschnittsalter lag bei 21,6 Jahren. Den Versuchspersonen wurden jeweils 30 zu bewertende Sätze vorgelegt (15 Testitems und 15 Distraktoren), deren Akzeptabilität auf einer Skala von 1 (ungewöhnlich) bis 5 (gewöhnlich) zu bewerten war (s. Anhang 2).40 Die Ergebnisse der Akzeptabilitätsstudie (vgl. Tab. 29, rechte Seite) zeigen zweierlei. Zum einen wurde keine Variante mit weniger als drei Punkten (also als eher ungewöhnlich) bewertet. Zum anderen gibt es keinen signifikanten Unterschied zwischen den Akzeptabilitätswerten der jeweils zwei Varianten pro Lexem. Das zeigt die Spalte ganz rechts in Tab. 29, die mit dem Wilcoxon-Test berechnete p-Werte enthält (vgl. Bortz & Schuster 72010: 133).41 Abb. 5 veranschaulicht die Akzeptabilitätsurteile.

|| 40 Alle TeilnehmerInnen bewerteten jeweils beide zu vergleichenden Varianten, also jedes Lexem in jeweils zwei Ausprägungen: mit und ohne Genitiv-s. Dementsprechend liegt hier ein within subject design vor. Die Reihenfolge, in der die zu vergleichenden Varianten eines Lexems im Fragebogen vorkommen, wurde variiert. 41 Lediglich bei Internet gibt es einen signifikanten Unterschied. Hier wird die s-haltige Variante besser bewertet. Internet wurde dennoch aufgenommen, da etwaige Effekte, die auf die geringere Akzeptabilität der s-losen Variante zurückzuführen wären, toleriert werden können, weil sie der angenommenen Tendenz zur kürzeren Verarbeitungszeit aller s-losen Formen entgegenwirken und somit die Aussagekraft bezüglich des funktionalen Vorteils der s-losen Variante nicht beeinträchtigen würden.

82 | Competing Motivations

Tab. 29: Die Frequenz und Akzeptabilität flexionsmorphologischer Varianten

DECOW2012 Lexem

Akzeptabilitätswerte

Nominalgruppen im Genitiv

Anteil s-loser Formen

-s



p

April

575

54,3%

4,06

3,18

> 0,05

BAföG

1781

77,4%

4,24

4,06

> 0,05

Barock

6384

80,6%

4,35

4,24

> 0,05

42

3193

76,9%

4,35

4,53

> 0,05

Internet

81895

32,2%

4,44

3,06

< 0,001***

iPhone

12314

53,2%

4,76

4,0

> 0,05

Iran

7503

70%

4,13

4,69

> 0,05

Jupiter

1866

63,9%

4,25

3,69

> 0,05

LKW

2487

71%

4,44

3,50

> 0,05

Orinok|co

294

87,4%

4,53

4,71

> 0,05

Himalay|ja

PC

12308

42%

4,41

3,23

> 0,05

Pharao

5129

56,6%

4,29

4,35

> 0,05

Ramadan

1761

71,4%

3,94

4,29

> 0,05

Tango

1567

50,8%

4,29

3,88

> 0,05

Tiber

413

51,1%

4,19

4,19

> 0,05

5 4 3 -s 2 1



Abb. 5: Akzeptabilitätsunterschiede zwischen s-loser und s-haltiger Variante der Items auf einer Skala von 1 (ungewöhnlich) bis 5 (gewöhnlich)

|| 42 Bei der Korpus-Recherche wurden beide graphematischen Varianten berücksichtigt, im Experiment nur die gebräuchlichere: . Das Gleiche gilt für und die weniger frequente Variante .

Psycholinguistische Evidenz | 83

Sowohl die Akzeptabilitätsstudie als auch die Korpus-Recherche sprechen demnach dafür, dass bei den ausgewählten Lexemen -s und -Ø im Genitiv Singular gleichermaßen akzeptabel sind. Ein verzerrender Einfluss, der darauf zurückzuführen wäre, dass Strukturen als marginal oder nicht grammatisch bzw. ungewöhnlich oder auffällig wahrgenommen werden, ist hier folglich ausgeschlossen. In dieser Austauschbarkeit der flexionsmorphologischen Varianten -s und -Ø liegt die Besonderheit des untersuchten Phänomens. In der hier vorgestellten SPR-Studie können zwei Sätze miteinander verglichen werden, die sich ausschließlich in der Endung des Substantivs und somit hinsichtlich dessen morphologischer Komplexität unterscheiden. Beide Varianten sind dabei gleichermaßen akzeptabel, ohne dass ein Funktionsunterschied zwischen diesen Strukturen besteht. Das unterscheidet die hier vorgenommene Studie von anderen Arbeiten, die sich dem Verarbeitungsmehraufwand, den morphologische Komplexität verursacht, widmen und das macht sie meines Erachtens auch gerade interessant. In diesen anderen Studien werden nämlich üblicherweise unterschiedliche Merkmalsausprägungen isoliert präsentierter Wörter miteinander verglichen, z.B. Singular und Plural (vgl. z.B. Günther 1983, Baayen, Dijkstra & Schreuder 1997, Dominguez, Cuetos & Segui 1999 und New et al. 2004). Verschiedene Studien haben allerdings gezeigt, dass solche unterschiedlichen Merkmalsausprägungen auch unabhängig von morphologischer Komplexität (und auch unabhängig von Frequenz-Effekten) zu unterschiedlichem Verarbeitungsaufwand führen können. So haben z.B. Katz, Rexer & Peter (1995) und Kostić (1995) nachgewiesen, dass im Serbischen ein Nominativ schneller verarbeitet wird als oblique Kasus. Das gilt auch für Feminina, die ein Nominativ-Flexiv aufweisen und formseitig ebenso komplex realisiert werden wie andere Kasus. Die Genitiv-Variation im Deutschen ermöglicht es nun, Verarbeitungsunterschiede losgelöst von solchen funktionalen Aspekten zu untersuchen und semantisch wie formseitig deckungsgleiche Strukturen miteinander zu vergleichen, die sich ausschließlich in der morphologischen Komplexität des Substantivs unterscheiden. Hinzu kommt, dass sich die hier untersuchte Schwankung insofern von anderen bereits untersuchten Phänomenen abhebt, als es sich beim Genitiv-s um ein Kongruenzphänomen handelt. Diesem Aspekt kommt besondere Bedeutung zu, da die Schwankung der Flexionsendung ausschließlich zu beobachten ist, wenn ein pronominal flektiertes Element vorausgeht (vgl. Abschnitt 2.4.5). Um dem Rechnung zu tragen, wurde mit dem SPR ein Design gewählt, das (im Ge-

84 | Competing Motivations

gensatz zum klassischen lexical decision task) auch die syntaktische Umgebung der morphologischen Form mit einbezieht.43 Die Tatsache, dass zwei gleichermaßen grammatische und gleichzeitig deckungsgleiche Strukturen verglichen werden, die sich ausschließlich hinsichtlich der Realisierung von Kongruenz unterscheiden, hebt die hier besprochene Studie dann auch von anderen Untersuchungen ab, die sich mit der Verarbeitung von Kongruenz beschäftigen und die in aller Regel grammatische mit ungrammatischen Strukturen vergleichen (vgl. Molinaro, Barber & Carreiras 2011: 914).

3.6.2 Ergebnisse Die mithilfe des SPR-Tasks ermittelten Daten wurden vor der interferenzstatistischen Analyse bereinigt, um gewährleisten zu können, dass ausschließlich solche Werte berücksichtigt werden, die verlässlich Aufschluss über den Einfluss von -s vs. -Ø auf den Verarbeitungsaufwand der Items geben können. Dazu wurden zunächst die gesamten Datensätze von denjenigen ProbandInnen aussortiert, die mehr als zwei Kontrollfragen falsch beantwortet hatten. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass nur die Daten von den Personen einbezogen werden, die tatsächlich auch alle Sätze aufmerksam gelesen haben. Weiterhin wurden einzelne Werte ausgeklammert, wenn diese mehr als drei Standardabweichungen vom Mittelwert aller Lesezeiten der kritischen Segmente abwichen, da hier davon auszugehen ist, dass ein solcher besonders hoher Wert auf eine kurzfristige Ablenkung oder Unaufmerksamkeit der Versuchsperson zurückzuführen ist: Der Lesezeit-Mittelwert aller kritischen Segmente lag (vor der Filterung der Daten) bei 802,99 ms; Werte, die 1940,36 ms überschreiten, wurden aussortiert. Schließlich wurden auch Datensätze von Personen mit Krankheiten, die zu einer Reduktion der Konzentrationsfähigkeit führen können, ausgeschlossen (sofern diese bekannt waren).  Diese drei Maßnahmen führten dazu, dass die gesamten Datensätze von zehn Personen aussortiert und darüber hin-

|| 43 Zu den (potentiellen) Unterschieden zwischen der Verarbeitung von isoliert präsentierten Wörtern und Wörtern im Satzkontext äußert sich Günther (1983: 161). Er geht davon aus, dass morphologisch komplexe Wortformen längere Verarbeitungszeiten hervorrufen als morphologisch einfache Wortformen, allerdings nur dann, wenn diese isoliert präsentiert werden. „[I]m Prozeß des flüssigen Lesens [sei nicht davon auszugehen, dass] Wortformen schlechter erkannt werden als die Grundformen.“ Das Gegenteil sei „leider nur schwer zu testen […], jedoch recht unplausibel“. Das unterstreicht die Bedeutung dieses methodologischen Aspekts und verdeutlicht, dass Ergebnisse anderer Experimente nicht ohne Weiteres auf die hier thematisierte Fragestellung übertragen werden können.

Psycholinguistische Evidenz | 85

aus neun einzelne Werte beiseitegelassen wurden, was einer Reduzierung der Datenmenge um insgesamt 20,2 % entspricht. Die verbliebenen Daten geben valide Aufschluss über die Verarbeitungszeit der jeweiligen Segmente. Indem nun die Lesezeiten der kritischen Segmente verglichen werden, die jeweils aus des und einem Substantiv mit oder ohne Genitiv-s bestehen, können Erkenntnisse zum Einfluss des optionalen Flexivs auf die Verarbeitungszeit der Nominalgruppe gewonnen werden. Hier zeigt sich, dass die kritischen Segmente mit s-losen Genitiven schneller gelesen werden als die kritischen Segmente mit Genitiv-s. Der Unterschied liegt durchschnittlich bei 42,92 ms. Nominalgruppen mit Genitiv-s weisen einen Lesezeit-Mittelwert von 810,53 ms auf (bei einer Standardabweichung von 320,62 ms), deren s-lose Pendants einen Wert von 767,61 ms (bei einer Standardabweichung von 296,18 ms). Dieser Unterschied ist auf den signifikanten Einfluss der Flexion zurückzuführen. Das zeigt eine generalisierte gemischte lineare Regression, die für den Faktor ‚Flexion‘ (also -s vs. -Ø) einen p-Wert von 0,010* ausweist.44 Der Koeffizient der flektierten Variante liegt bei -55,913. Der R2-Wert (ohne die zufälligen Effekte) liegt bei 0,111.45 Abb. 6 veranschaulicht die geschätzten Mittelwerte (mitsamt Standardfehler) für die beiden hier relevanten Merkmalsausprägungen. Hierbei handelt es sich nicht um die tatsächlich gemessenen Mittelwerte, sondern die Werte, die auf dem Koeffizienten der Variable ‚Flexion‘ basieren. Die gemessenen Mittelwerte wurden hier sozusagen um den Einfluss aller anderen unabhängigen Variablen (s. unten) bereinigt.

|| 44 Zur gemischten linearen Regression vgl. Janssen & Laatz (82013: 398–404). Da die Lesezeit eines Segments von zahlreichen Faktoren wie der individuellen Lesegeschwindigkeit der ProbandInnen, der Position des Items im Test, der Länge der Zeichenkette usw. beeinflusst wird (vgl. die folgenden Abschnitte), muss hier ein solch komplexes, mehrfaktorielles Modell gewählt werden, um den Einfluss der Flexion identifizieren zu können. 45 Dieser vergleichsweise niedrige Wert ist unter anderem damit zu erklären, dass sich die individuellen Lesegeschwindigkeiten der ProbandInnen stark unterscheiden. Die daraus resultierende Varianz kann nicht mit den festen Effekten erklärt werden: Bei der individuellen Lesegeschwindigkeit handelt es sich nicht um den Untersuchungsgegenstand, weshalb die entsprechende Variable als zufälliger Effekt eingebunden wurde, sodass verallgemeinernde Aussagen, die sich nicht nur auf die tatsächlich untersuchten Individuen beziehen, gemacht werden können. Alle festen und zufälligen Effekte werden im Folgenden näher erläutert.

86 | Competing Motivations

Abb. 6: Geschätzte Mittelwerte (in ms) für Lesezeiten der kritischen Segmente mit und ohne Flexiv

Außer dem Faktor ‚Flexion‘ wurden drei weitere ‚feste Effekte‘, also erklärende Variablen, in das statistische Modell aufgenommen, sodass diese keinen verzerrenden Effekt auf die Daten zum Einfluss der Genitivendung haben. Dass die ProbandInnen gegen Ende des Tests schneller wurden, zeigt der Faktor ‚Itemposition‘, der einen signifikanten Einfluss auf die Lesezeiten hat (Gesamteffekt: p < 0,001***) und sich auf die Reihenfolge der Testitems bezieht, die in randomisierter Abfolge präsentiert wurden (vgl. Abb. 7).

Abb. 7: Der Einfluss der Position im Test auf die Lesezeiten der kritischen Segmente (geschätzte Mittelwerte)

Psycholinguistische Evidenz | 87

Weiterhin wurden die Lexeme der kritischen Segmente ihrer Frequenz in DECOW2012-00 entsprechend in hochfrequente (> 10.000 Tokens), mittelfrequente (zwischen 1000 und 10.000 Tokens) und niederfrequente Lexeme (< 1000 Tokens) unterteilt. Der darauf basierende Faktor ‚Tokenfrequenz‘ hat einen nachweisbaren Einfluss auf die Lesezeiten: Die niederfrequenten Substantive BAföG, Orinoko und Tiber wurden signifikant langsamer gelesen als die Lexeme der anderen beiden Gruppen (Gesamteffekt: p = 0,023*, vgl. auch Abb. 8).

Abb. 8: Der Einfluss der Tokenfrequenz auf die Lesezeiten der kritischen Segmente (geschätzte Mittelwerte)

Der dritte ‚feste Effekt‘, der neben der Flexion des Substantivs einen Einfluss auf die Lesezeiten der kritischen Segmente hatte, ist der Faktor ‚Buchstabenanzahl‘ (p = 0,036*).46 Diese Variable bezieht sich auf die Zeichenanzahl des jeweiligen Substantivs (z.B. Tiber = 5, Orinoko = 7). Die bloße Anzahl an Buchstaben hat also einen signifikanten Einfluss auf die Lesezeit. Die Unterschiede, die das Genitiv-s hervorruft, gehen aber über diesen Effekt hinaus, was mit einem Vergleich verschiedener Versionen des statistischen Modells gezeigt werden kann: Wenn die Variable ‚Flexion‘ entfernt wird, hat das einen stärkeren negativen Einfluss auf die Modellgüte (der AIC-Wert steigt von 5.853,795 auf 5.868,393) als wenn die Variable ‚Buchstabenanzahl‘ entfernt wird (der AIC-Wert steigt von

|| 46 Für diesen ‚festen Effekt‘ wird keine Grafik erzeugt, da es sich hier um eine metrisch skalierte Variable handelt.

88 | Competing Motivations

5.853,795 auf 5.864,947).47 Der Koeffizient von ‚Buchstabenanzahl‘ beträgt 29,555, der von Flexion liegt bei 55,913. Folglich besteht der Effekt, den die An- oder Abwesenheit des Flexivs hat, nicht einfach in der um ein Zeichen längeren oder kürzeren Zeichenkette, sondern geht darüber hinaus. Die Tabellen 30 und 31 geben einen Überblick über die Bedeutung aller in das Modell integrierten festen Effekte. Tab. 30: Merkmalsausprägungen der unabhängigen Variablen (feste Effekte)

Modellterm

Koeffizient

95% Konfidenzintervall

Standard Fehler

t

Sig. Unterer Wert

Oberer Wert

344,969

709,385

Konstanter Term

527,177

92,6950

5,687

,000

Buchstaben

29,555

14,0379

2,105

,036

1,961

57,149

Frequenz=1

124,751

65,1579

1,915

,056

-3,328

252,830

-148,547

61,279

.

.

13,289

98,537

.

. 294,908

Frequenz=2

-43,634

53,3728

-,818

,414

Frequenz=348

0

.

.

.

Flexion=1

55,913

21,6842

2,578

,010

Flexion=2

0

.

.

.

Position_im_Test=1

195,622

50,5102

3,873

,000

96,336

Position_im_Test=2

160,182

50,2333

3,189

,002

61,439

258,924

Position_im_Test=3

89,541

49,8531

1,796

,073

-8,453

187,536

Position_im_Test=4

128,991

50,1135

2,574

,010

30,485

227,498

Position_im_Test=5

72,925

50,0320

1,458

,146

-25,421

171,272

Position_im_Test=6

75,265

50,0573

1,504

,133

-23,131

173,661

Position_im_Test=7

4,581

50,0012

,092

,927

-93,705

102,867

Position_im_Test=8

10,412

50,8770

,205

,838

-89,595

110,419

Position_im_Test=9

-48,758

50,8024

-,960

,338

-148,618

51,103

Position_im_Test=10

0

.

.

.

.

.

|| 47 Beim Vergleich der Versionen gilt: Je kleiner der AIC-Wert ist, desto besser ist die Modellgüte. 48 Bei allen Variablen, die nicht metrisch skaliert sind, stellt die unterste Merkmalsausprägung in dieser Tabelle (z.B. Frequenz=3) die Referenzkategorie dar, weshalb in diesen Zeilen keine Werte für Koeffizienten usw. aufgeführt werden.

Psycholinguistische Evidenz | 89

Tab. 31: Gesamteffekte der Variablen ‚Buchstaben‘, ‚Frequenz‘, ‚Flexion‘ und Position im Test‘

Quelle

F

Sig.

Korrigiertes Modell

4,883

,000

Buchstaben

4,433

,036

Frequenz

3,829

,023

Flexion

6,649

,010

Position_im_Test

5,189

,000

Wahrscheinlichkeitsverteilung: Normal

Als ‚zufälliger Effekt‘ wurde ‚Person‘ integriert, sodass die individuelle Lesegeschwindigkeit der ProbandInnen keinen verzerrenden Einfluss auf das Ergebnis hat. Außerdem wurde ‚Substantiv‘ als ‚zufälliger Effekt‘ aufgenommen, damit nicht nur Aussagen über die Stichprobe der 15 getesteten Substantive gemacht werden können, sondern auch Verallgemeinerungen mit Blick auf die Grundgesamtheit der peripheren Substantive möglich sind. Bei SPR-Experimenten ist es prinzipiell möglich, dass sich Verarbeitungsschwierigkeiten verzögert auswirken und sich erst in einem nachkritischen Segment niederschlagen, z.B. bei besonders großem Verarbeitungsaufwand oder wenn zu schnell geklickt wird (vgl. Just, Carpenter & Woolley 1982: 232). Ein solcher spill over-Effekt war im hier beschriebenen Experiment nicht zu beobachten. Keine Variable, die sich auf eine Eigenschaft des kritischen Segments bezieht, hatte einen signifikanten Einfluss auf die Lesezeiten der Segmente, die auf die kritischen Segmente folgen (jeweils p > 0,05). Auch Suppressionseffekte, die auf Kollinearitätsprobleme zurückzuführen wären, waren nicht zu beobachten. Ebenso ohne signifikanten Einfluss blieb eine zusätzlich integrierte Variable, mit der der mögliche Einfluss von als ungewöhnlich wahrgenommenen Strukturen und ggf. daraus resultierendem metasprachlichem Bewusstsein kontrolliert wurde: Bei der Erfassung der Metadaten aller ProbandInnen im Anschluss an die Durchführung des Experiments wurde auch erfragt, ob die Versuchspersonen sprachliche Strukturen im SPR-Task als ungewöhnlich empfunden hatten. Dabei nahmen zwei Versuchspersonen (also ca. 4 % der TeilnehmerInnen) Bezug auf die Schwankung im Genitiv. Diese Information wurde in einer eigenen Variable erfasst. Diese hatte keinen signifikanten Einfluss auf die Lesezeiten (p > 0,05). Auch mögliche Interaktionen zwischen dem Faktor ‚Flexion‘ und allen anderen unabhängigen Variablen wurden getestet. Bei keiner Kombination ließ sich ein signifikanter Einfluss nachweisen (jeweils p > 0,05). Ebenso erwies sich der in

90 | Competing Motivations

Tab. 29 dargestellte Anteil genitiv-s-loser Formen der Substantive nicht als signifikanter Einfluss (jeweils p > 0.05). Die Güte des statistischen Modells veranschaulicht schließlich Abb. 9. Hier werden die tatsächlichen gemessenen Werte (x-Achse) mit den Werten in Verbindung gesetzt, die auf der Basis aller integrierten Variablen vorhergesagt werden (y-Achse). Je eher alle Datenpunkte auf einer Halbgerade liegen, die diagonal zu beiden Achsen verläuft und den Nullpunkt schneidet (also der Winkelhalbierenden zwischen x- und y-Achse), desto präziser werden die beobachteten Werte auf der Grundlage aller berücksichtigten Faktoren vorhergesagt.

Abb. 9: Vorhergesagte und gemessene Werte

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass periphere Substantive signifikant schneller verarbeitet werden, wenn sie ohne Genitiv-s verwendet werden. Der Lesezeit-Unterschied zwischen Strukturen mit und ohne Genitiv-s geht dabei über den Einfluss, den eine um ein Zeichen verlängerte Zeichenkette hat, hinaus.

Psycholinguistische Evidenz | 91

3.6.3 Diskussion Indem nachgewiesen wurde, dass periphere Substantive im Genitiv dann schneller gelesen und verarbeitet werden, wenn sie nicht flektiert sind, konnte die Gültigkeit einer wichtigen Prämisse bestätigt werden, auf der die Annahme des funktionalen Vorteils der morphologischen Schemakonstanz basiert. Hätte sich herausgestellt, dass periphere Substantive ohne Genitiv-s nicht schneller gelesen werden (z.B. weil das kongruierende Flexiv eine Dekodierhilfe darstellt und deren Fehlen sich negativ auf die Verarbeitung der Nominalgruppe auswirkt), hätte das eindeutig gegen die oben vorgestellte Argumentation gesprochen. So unterstützen die Ergebnisse aber die These, dass die konkurrierenden Motivationen (Schemakonstanz vs. systemkonforme saliente Kodierung grammatischer Informationen) je nach Substantiv unterschiedlich gewichtet werden: Bei peripheren Substantiven, deren Erkennung ohnehin mit einem erhöhten Aufwand einhergeht, wird auf die Realisierung des Flexivs verzichtet, damit die Worterkennung nicht durch wortspezifische Eigenschaften und Flexion erschwert wird. Dass die Auslassung des Flexivs mit einem Verarbeitungsvorteil einhergeht, konnte hier gezeigt werden. Bei zentralen Mitgliedern des substantivischen Bereichs liegen hingegen keine besonderen wortspezifischen Eigenschaften vor, die den lexikalischen Zugriff erschweren, weshalb hier die systemkonforme saliente Kodierung grammatischer Informationen stärker gewichtet werden kann als Schemakonstanz. Inwiefern auch die Erkennung nativer Appellative von morphologischer Schemakonstanz profitieren würde, konnte hier nicht empirisch untersucht werden, da entsprechende Formen ohne Flexiv zweifelsohne ungrammatisch sind, was maßgeblich deren Lesezeiten bestimmt und andere Faktoren überlagert hätte. Die Annahme, dass die Motivationen je nach Substantiv unterschiedlich gewichtet werden, hat allerdings auch unabhängig von dieser offenen Frage ihre Berechtigung: Entweder führt morphologische Schemakonstanz nicht zu einem Verarbeitungsvorteil bei prototypischen deutschen Substantiven, dann spielt morphologische Schemakonstanz hier überhaupt keine Rolle und Kongruenz wird zwangsläufig stärker gewichtet; oder es gibt einen solchen Verarbeitungsvorteil, dann müsste man davon ausgehen, dass die konkurrierende Motivation sich komplett durchsetzt, da der morphologischen Schemakonstanz hier keine hohe Priorität zukommt, weil keine wortspezifischen Eigenschaften vorliegen, die die Worterkennung erschweren. Dass morphologische Schemakonstanz im Gegensatz dazu bei peripheren Substantiven eine wichtige Rolle spielt, wird üblicherweise angenommen – und zwar sowohl mit Blick auf schriftliche als auch auf mündliche Kommunikation

92 | Competing Motivations

(vgl. Nübling 2005: 50). Inwiefern die hier erzielten Ergebnisse auf mündliche Kommunikation übertragbar sind, muss allerdings künftiger Forschung vorbehalten bleiben. Es ist durchaus denkbar, dass sich beide Kommunikationsformen hinsichtlich des funktionalen Vorteils der morphologischen Schemakonstanz unterscheiden. Insofern wäre ein Vergleich der beiden Modalitäten (z.B. anhand eines zusätzlichen Self-Paced-Listening-Experiments) sicher lohnenswert.

4 Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen Wie in Kapitel 2 gezeigt wurde, gibt es erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen Substantivgruppen hinsichtlich der Tendenz zur s-Losigkeit im Genitiv Singular. Die veranschlagten Gruppen wurden dabei verhältnismäßig weit gefasst und z.B. Clippings (z.B. Akku), lautierte Buchstabenkurzwörter (z.B. RAM) und buchstabierte Buchstabenkurzwörter (z.B. RBB) unter der Kategorie der Kurzwörter subsumiert.1 Dies ermöglichte es, einen ersten Überblick über divergierende Verhaltensweisen unterschiedlicher Substantive zu geben und die wichtigsten Tendenzen herauszuarbeiten, die dann in Kapitel 3 erörtert wurden. Aufgrund der geringen Tokenfrequenz spezieller Substantivgruppen (in der Stichprobe mit 5000 Genitivbelegen waren z.B. nur elf Tokens lautierter Buchstabenkurzwörter enthalten) war es darüber hinaus aber nicht möglich, fundierte Aussagen über Unterschiede und Tendenzen innerhalb der veranschlagten Substantivgruppen (Kurzwörter, Eigennamen und Fremdwörter) zu machen. Im Folgenden sollen nun diese drei Gruppen einer genaueren Untersuchung unterzogen werden. Dabei geht es nicht primär darum, eine erschöpfende Liste aller Faktoren zu erstellen, die die Variation im Detail beeinflussen, sondern darum, anhand von Auffälligkeiten innerhalb der Gruppen generelle Tendenzen zu verdeutlichen und Aspekte zu beleuchten, die über die hier behandelte Genitiv-Variation hinaus von grammatiktheoretischem und/oder sprachwandeltheoretischem Interesse sind. Weiterhin sollen die im weiteren Verlauf diskutierten Beobachtungen zu einem besseren Verständnis der bereits präsentierten Korpusdaten beitragen.

4.1 Fremdwörter Im Vergleich zu Kurzwörtern und Eigennamen weist die Gruppe der Fremdwörter insgesamt einen relativ geringen Anteil an s-Losigkeit auf (vgl. Abschnitt 2.4.1.1). Dieser Befund lässt sich darauf zurückführen, dass sich Fremdwörter sehr heterogen verhalten: Während einige zu dieser Gruppe gehörende Wörter sehr stark zur s-Losigkeit neigen, werden andere kaum oder gar nicht ohne Genitiv-s verwendet. Diese Unterschiede hängen stark mit dem Integrationsstand eines Wortes zusammen – je etablierter ein Wort in der Nehmersprache Deutsch ist, desto eher wird es mit Genitiv-s verwendet. Die Genitivflexion zählt

|| 1 Zur Terminologie und zur Unterscheidung der Gruppen siehe Abschnitt 4.3.1. https://doi.org/10.1515/9783110557442-004

94 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

also zu denjenigen Bereichen, die vom Integrationsprozess eines Substantivs betroffen sind. Zu diesen Bereichen zählen außerdem phonologische und graphematische Merkmale sowie mit der Pluralbildung eine weitere morphologische Eigenschaft. Sobald ein entlehntes Wort alle Fremdheitsmerkmale verloren hat, ist es vollkommen integriert und hat fortan nicht mehr den Status eines Fremdworts, sondern den eines Lehnworts. Da sich dieser Übergang nicht abrupt vollzieht, ist die Klassifizierung eines Wortes mitunter nicht trivial bzw. eine eindeutige Kategorisierung oft einfach nicht möglich. Bei nicht eindeutigen Fällen wurde für die Kodierung, die der in Kapitel 2 thematisierten Korpus-Studie zugrunde liegt, auf die Kategorisierung des Duden-Bands 5, Das Duden-Fremdwörterbuch (92009), zurückgegriffen. Die im Folgenden thematisierten Fremdwörter weisen alle mindestens ein Fremdheitsmerkmal auf und sind deshalb zweifelsfrei als solche zu charakterisieren. Obwohl Fremdheitsmerkmale unterschiedlicher sprachlicher Ebenen häufig korrelieren und sich an der Gesamtheit aller Fremdheitsmerkmale der Integrationsstatus eines Wortes ablesen lässt, ist es wichtig, zwischen phonologischen und graphematischen Abweichungen vom Kernsystem des Deutschen auf der einen Seite und morphologischen Besonderheiten von Fremdwörtern auf der anderen Seite zu unterscheiden, da die Gründe für Abweichungen vom Kernsystem nicht deckungsgleich sind: Besonderheiten auf der phonologischen und sekundär auch auf der graphematischen Seite sind auf Transferenz zurückzuführen. Das bedeutet, dass Merkmale der Gebersprache übernommen werden, die nicht mit dem System des Deutschen kompatibel sind. Ein einfaches Beispiel dafür sind Unterschiede bezüglich der Phoneminventare zweier Sprachen: Das im 18. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnte Balkon (vgl. Pfeifer 21993: 91) endet in der Gebersprache auf den Nasalvokal [õː] bzw. [ɔ͂ ], also einen Laut, der nicht zum deutschen Inventar gehört. In seiner phonologisch nicht integrierten Form behält das deutsche Fremdwort diesen Nasalvokal bei. Das Fremdheitsmerkmal resultiert also aus der Inkongruenz zweier Lautsysteme und der beibehaltenen Ähnlichkeit eines Fremdworts in der Nehmersprache mit seinem Vorbild in der Gebersprache. Im Gegenwartsdeutschen wird der Nasalvokal allerdings sehr häufig nicht (mehr) realisiert. Eine Möglichkeit der lautlichen Integration besteht in der Aussprache als [balkɔŋ].2 Der Nasalvokal wird

|| 2 Diese Variante dominiert vor allem im nördlichen Teil des deutschen Sprachgebiets. Im Süden ist [balkoːn] üblicher. Nasalvokale werden in allen Teilen des deutschsprachigen Gebiets realisiert, stellen aber insgesamt die am wenigsten frequente Option dar (vgl. hierzu die

Fremdwörter | 95

ersetzt durch zwei im deutschen System verwendete Laute, nämlich den Vokal [ɔ] und den Konsonanten [ŋ]. Das so ausgesprochene Wort enthält nun kein Segment mehr, das nicht dem phonologischen Kernsystem des Deutschen entspricht.3 Auf graphematischer Ebene bleibt das Fremdheitsmerkmal aber erhalten, da das [ŋ] als verschriftlicht wird, was nicht den Graphem-PhonemKorrespondenz-Regeln des deutschen Kernsystems entspricht.4 Den Fremdheitsmerkmalen von entlehnten Wörtern können also Unterschiede zwischen Gebersprache und Nehmersprache zugrunde liegen, sofern Fremdwörter Merkmale, die nicht dem Kernsystem der Nehmersprache entsprechen, (zunächst) beibehalten und so ins Deutsche transferieren.5 Im Gegensatz dazu sind morphologische Abweichungen vom Kernsystem des Deutschen nicht immer auf Übertragungen aus der Gebersprache zurückzuführen, sondern häufig als von der Gebersprache weitestgehend unabhängige Integrationsstrategien des Deutschen zu verstehen.6 Oft werden Fremdwörter unabhängig vom flexivischen Verhalten eines Wortes in der Gebersprache unmittelbar nach ihrer Ent-

|| entsprechende Karte im Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards: , zuletzt abgerufen am 26.01.2017). 3 Bei phonologischer Integration muss es sich nicht zwangsläufig um einen langwierigen Sprachwandelprozess handeln. Manche Wörter werden auch sofort integriert. Dies kann entweder auf die Aussprache einzelner SprecherInnen zutreffen, z.B. wenn diese nicht über die relevanten Fremdsprachenkenntnisse verfügen (so werden z.B. Gallizismen von einigen SprecherInnen bereits unmittelbar nach Entlehnung ohne Fremdphoneme artikuliert) oder auf die gesamte Sprachgemeinschaft: Beispielsweise wurden die Adjektive amüsant, elegant und pikant generell sofort ohne Nasalvokale ausgesprochen. Der Grund dafür ist, dass diese fremden Vokale nicht mit der Aussprache der flektierten Formen wie amüsantes kompatibel sind (vgl. Eisenberg 2011: 193). 4 Dieses Fremdheitsmerkmal erübrigt sich bei der vor allem im Süden des deutschsprachigen Gebiets üblichen Aussprache [balkoːn]. Der Status eines Lehnworts ist dennoch nicht erreicht ‒ der Vollvokal in der finalen Silbe des Zweisilbers stellt ein weiteres Fremdheitsmerkmal dar. 5 Eine ausführliche Übersicht über phonologische und graphematische Integrationsprozesse findet sich bei Eisenberg (2011). 6 Während fremde Kasusendungen sehr selten transferiert werden (vgl. z.B. die Reise des Ordinarii, aber auch feste Redewendungen des Typs Das Leiden Christi), ist der Gebrauch mitentlehnter Pluralmarker in einigen Fällen zu beobachten. Vor allem im bildungssprachlichen Bereich ist diese Praxis von Bedeutung, vgl. z.B. das aus dem Italienischen entlehnte Soli zum Singular Solo. Die Verwendung dieser nicht-nativen Formen weist den Sprecher bzw. die Sprecherin als gebildet aus, worin das Prestige dieser Formen begründet ist (vgl. z.B. Wegener 2004: 57). Die fremden Pluralsuffixe werden allerdings nie produktiv und werden in der Regel durch andere Morpheme abgelöst (vgl. z.B. Conti > Kontos > Konten; s. aber auch Zimmer angenommen).

96 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

lehnung ins Deutsche gesondert behandelt, was Wegener (2004: 106) ausführlich für den s-Plural beschrieben hat: Fremdwörter sind zu Beginn ihrer Existenz im fremden Sprachraum noch nicht allgemein bekannt. Eine Pluralform, die die Laut-, Fuß- oder Silbenstruktur des fremden Wortes verändern würde, könnte die Verbreitung des neuen Wortes gefährden: Pizzen lässt die Basis schwerer erkennen als Pizzas […]. Für fremde Wörter ist es wichtig, zunächst einmal in der Zielsprache etabliert zu werden. Strukturbewahrende Pluralformen stellen daher einen Ausgleich für mangelnde Etabliertheit dar. […] Erst wenn das Fremdwort einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hat, erlaubt es die Ausbildung assimilierter Flexionsformen. Es ist also funktional, Fremdwörter (zunächst) gesondert, „schonend“ zu behandeln. (Hervorhebungen im Original)

Dabei ist „[d]ie originale Pluralform […] für den Assimilationsprozess nicht immer relevant, ist sie doch deutschen Sprechern bei Exotismen wie Geisha, Kiosk, Eskimo, auch dem Sumoismus Sauna gar nicht, bei Klassizismen und Italinismen nicht immer bekannt“ (Wegener 2004: 56–57). Die von Wegener (2004) angesprochene Schonung gewährleistet der s-Plural, der dem hörerInnenseitigen Bedürfnis nach guter Erkennbarkeit des Stammes Rechnung trägt. Seine Verwendung kann als Integrationsstrategie verstanden werden, weil die Pluralisierung mit -s häufig nur ein Übergangsstadium darstellt. Sobald sich ein Fremdwort im Deutschen etabliert, kann es zu systemkonformen Pluralmarkern übergehen (vgl. hierzu ausführlich Abschnitt 4.1.2). Der funktionale Vorteil des s-Plurals liegt in seiner Strukturbewahrung; im Gegensatz zu vielen nativen Pluralmarkern verursacht er keine Veränderung der Silbenanzahl, der Silbengrenzen, der Vokale oder Konsonanten, was die Erkennung eines Wortes erleichtert (s. hierzu auch Nowak & Nübling 2017: 119–121). Es wird lediglich ein nichtsilbisches Segment hinzugefügt und die Numerusinformation wird auf diese Weise sehr minimalistisch zum Ausdruck gebracht (vgl. Tab. 32).7

|| 7 Zum Vergleich einer morphologisch integrierten mit einer morphologisch nicht integrierten Variante desselben Fremdworts vgl. Tab. 34 (s. Abschnitt 4.1.2).

Fremdwörter | 97

Tab. 32: Unterschiede zwischen den Pluralmarkern -s und Umlaut + er bzgl. der Wortkörperaffizierung

[buːχ] – [byː.çɐ]

[kɔn.toː] – [kɔn.toːs]

Umlaut



X

Palatalisierung Endkonsonant



X

zusätzliche Silbe



X

Resilbifizierung



X

Plural overt markiert





Dass auch viele Anglizismen mit -s pluralisiert werden, was in der Regel der Pluralisierung in der Gebersprache entspricht, legt auf den ersten Blick die Vermutung nahe, dass es sich bei der Verwendung von s-Pluralen schlicht um Übertragungen aus dem Englischen handelt. Dieser Umstand scheint die Verwendung des s-Plurals zwar zu stützen (vgl. Nübling & Schmuck 2010: 162), ist aber keineswegs die einzige Motivation für seinen Gebrauch. Der s-Plural ist ein zwar relativ spät entstandenes, aber dennoch natives Morphem, das sich wohl aus alten Genitivsuffixen bei Familiennamen und unabhängig von Lehneinflüssen aus dem Englischen entwickelt hat (vgl. Nübling & Schmuck 2010). Von Familiennamen ausgehend weitet sich sein Anwendungsgebiet ab dem 19. Jahrhundert auf weitere schonungsbedürftige Substantive wie Kurzwörter und eben Fremdwörter aus (vgl. Nübling 2014: 117). Erst dann steigt der Einfluss von Anglizismen signifikant an. Fortan unterstützen sich native und nicht-native s-Plurale gegenseitig. Gegen die Annahme, dass Pluralendungen einfach aus dem Englischen übernommen werden, spricht unter anderem die Tatsache, dass auch Anglizismen (unabhängig vom morphologischen Verhalten in der Gebersprache) nur dann den s-Plural aufweisen, wenn er funktional motiviert ist. Lexeme, die auf [s] oder [z] auslauten, erhalten im Deutschen nämlich sofort einen systemkonformen Plural, ohne den Umweg über -es, das phonologisch determiniert im Englischen bei diesen Auslauten realisiert wird, aber eben kein strukturbewahrender Pluralmarker ist. Statt bosses wie im Englischen hatte man im Deutschen gleich Bosse, statt boxes gleich Boxen usw. Entscheidend scheint demnach die Funktion des s-Plurals als strukturbewahrendes Suffix zu sein, weniger das Vorbild in der Gebersprache.8

|| 8 Für einige weitere Aspekte, die zu diesem Themenkomplex gehören, vgl. Bornschein & Butt (1987).

98 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

Die Annahme, dass Fremdwörter unabhängig von der Gebersprache zunächst gesondert behandelt werden, indem sie durch Flexion möglichst wenig affiziert werden, ist bisher vor allem für Pluralmarkierung ausgearbeitet worden. Das Motto „Fremdwörter dürfen nicht verändert werden, solange sie fremd sind“ (Wegener 2002: 109) scheint aber auch für die Kasusmarkierung zu gelten. Auch die Wahl bzw. die Auslassung eines Genitivallomorphs hängt bei Fremdwörtern sehr stark vom Integrationsstatus des Wortes ab. Diese These soll im Folgenden mithilfe einer diachronen Korpus-Studie anhand von Daten aus dem Deutschen Textarchiv (DTA) untermauert werden. Anschließend werden in Abschnitt 4.1.2 (meines Wissens nach erstmals) Korpusdaten besprochen, die Wegeners Ausführungen zur Diachronie der Fremdwortplurale stützen und ergänzen.

4.1.1 Die Genitivmarkierung als Gegenstand morphologischer Integration 4.1.1.1 Korpusbasierte Analyse Für die korpusbasierte diachrone Studie des Flexionsverhaltens von Fremdwörtern wurde das Deutsche Textarchiv (DTA) herangezogen.9 Dieses Korpus stellt eine verhältnismäßig große Menge an systematisch zusammengestellten Texten zur Verfügung, die aus dem Zeitraum von ca. 1600 bis ca. 1900 stammen. Enthalten sind wissenschaftliche (39,3 %), belletristische (31,2 %) und journalistische (12,9 %) Texte sowie Gebrauchsliteratur (16,6 %). Auf derzeit insgesamt 1320 Texte verteilen sich ca. 100 Millionen Textwörter.10 Jedem Text ist ein Publikationsdatum zugeordnet; die Anteile der jeweiligen Textsorten sind über den gesamten Zeitraum, den das Korpus abdeckt, möglichst konstant gehalten (vgl. Abb. 10).

|| 9 Das Korpus ist unter erreichbar (zuletzt abgerufen am 19.08.2016). Dort findet sich auch eine Liste mit allen derzeit im DTA verfügbaren Texten. Die Werke, denen die hier zitierten Korpusbelege entnommen sind, werden nicht gesondert im Quellenverzeichnis aufgeführt. 10 Alle Angaben zur Größe und Zusammenstellung des Korpus beziehen sich auf den Stand zum Zeitpunkt der Datenextraktion, die im Juli 2015 abgeschlossen wurde.

Fremdwörter | 99

Im DTA verfügbare Werke nach Genre und Dekade

125

Werke

100

75

50

25

Belletristik

Gebrauchsliteratur

1901ff.

1891ff.

1881ff.

1871ff.

1861ff.

1851ff.

1841ff.

1831ff.

1821ff.

1811ff.

1801ff.

1791ff.

1781ff.

1771ff.

1761ff.

1751ff.

1741ff.

1731ff.

1721ff.

1711ff.

1701ff.

1691ff.

1681ff.

1671ff.

1661ff.

1651ff.

1641ff.

1631ff.

1621ff.

1611ff.

1601ff.

0

Wissenschaft

Abb. 10: Im DTA verfügbare Werke11

Das Korpus beinhaltet ausschließlich „Texte, die überregional wirksam waren“ (ebd.). Nicht kontrolliert wurde bei der Zusammenstellung der Texte jedoch, aus welchem Teil des deutschsprachigen Raums ein Text stammt. Regional bedingte Verzerrungen können deshalb nicht kategorisch ausgeschlossen werden. Um aus diesem Korpus Daten extrahieren zu können, die Aufschluss darüber geben können, ob Fälle von synchroner und diachroner Variation durch das Phänomen der morphologischen Integration von Fremdwörtern zu erklären sind, mussten zunächst einmal die relevanten Lexeme identifiziert werden. Da es sich bei dem hier thematisierten Wandel nicht um eine generelle Veränderung im Sprachsystem handelt (vgl. z.B. Verlust des Dativ-e), sondern um jeweils einzelne, lexemspezifische Entwicklungen, wurden Lexeme nach bestimmten Kriterien ausgewählt und genauer untersucht und keine reine

|| 11 Diese Grafik ist der Seite entnommen (zuletzt aufgerufen am 16.09.2015) und wird hier unter einer Creative-CommonsLizenz verwendet (vgl. http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/de/legalcode).

100 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

Zufallsstichprobe gezogen. Um die Aussagekraft der Daten zu gewährleisten, wurden die folgenden Kriterien bei der Auswahl der Lexeme angelegt: 1.

Es muss sich um ein Fremdwort handeln.

2.

Es muss eine deutliche Schwankung bzgl. der Genitivendung zu beobachten sein: Beide Varianten (Auslassung vs. Realisierung des Flexivs) müssen mit mindestens 10 % (und 20 Belegen) ausreichend oft belegt sein.

3.

Es muss Belege in mindestens zwei verschiedenen Jahrhunderten geben.

4.

Die Belege müssen von mindestens 15 unterschiedlichen AutorInnen stammen.

Diese Kriterien wurden auf alle Belege angewendet, bei denen auf des oder eines unmittelbar ein Substantiv ohne Flexiv folgt.12 Nicht berücksichtigt wurden Appositionen (z.B. des General Rapp), Monatsnamen (z.B. des Oktober) und Lemmata auf -s (z.B. des Globus), da hier neben dem Fremdwortcharakter des Lexems mindestens ein weiterer Faktor vorliegt, der s-Losigkeit begünstigen kann (vgl. Kapitel 2 und zu Monatsnamen auch Konopka & Fuß 2016: 208–217) und ggf. die hier zu untersuchenden Effekte überlagert. Alle genannten Kriterien erfüllen jene Belege, die die Lexeme Drama, Embryo, Interesse/Jnteresse, Klima/Clima oder Universum enthalten. Die hier zu beobachtende Variation wird im Folgenden eingehend analysiert. Ein ganz eindeutiger Trend lässt sich erkennen, wenn man alle fünf Lexeme zusammennimmt: Die Substantive tendieren zunächst stark zur s-Losigkeit (über 90 %), bevor sich -Ø und -s in einer Übergangsphase annähernd die Waage halten, um dann abschließend eine deutliche Tendenz in Richtung s-Suffix aufzuweisen (vgl. Abb. 11 und die Beispiele in (58) bis (60)). (58)

Schon eine gemeine Beobachtung lehrt uns, bey der Cultur der Gewaͤ chſe, auf die Beſchaffenheit des Klima, auf ſeine Milde oder Strenge merken. Hirschfeld (1782: 31): Theorie der Gartenkunst, Bd. 4

|| 12 Ausgeschlossen wurden neben -s, -es, -en und -n auch fremdsprachige Flexive wie in des Ordinarii.

Fremdwörter | 101

(59)

Jene Mittheilung der Kaͤ lte der Luft an die untern Schichten des Meereswaſſers iſt von der groͤ ßten Wichtigkeit fuͤ r die Milderung des Clima’s der Gegenden am Meere. Brandes (1832: 31): Vorlesungen über die Naturlehre, Bd. 3

(60)

Sicher findet eine Einwirkung des Klimas und der Natur auf Körper und Geiſt des Menſchen in gewiſſem Umfange ſtatt; aber ſie iſt weniger weitgehend, als man bisher oft annahm […]. Schmoller (1900: 144): Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Bd. 1

100% 90% 80% 70% 60% -s

50% 40%

-'s

30%



20% 10% 0% 1760-1795

1796-1830

1831-1865

1866-1900

n=130

n=142

n=573

n=295

Abb. 11: Der Genitiv Singular aller fünf untersuchten Lexeme im Zeitraum von 1760 bis 190013

Alle Lexeme wurden in einem Zeitraum zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert aus dem Lateinischen entlehnt (vgl. Pfeifer 21993). Nach ihrer Entlehnung werden die Wörter also gesondert behandelt und nicht entsprechend nativer

|| 13 Um die vier gleich großen Zeitabschnitte bzgl. ihrer Belegzahlen einigermaßen vergleichbar zu halten, wurde der Zeitraum zwischen 1760 und 1900 gewählt, was pro Zeitabschnitt einigermaßen hohe Belegzahlen gewährleistet. Acht vereinzelte Belege vor 1760 wurden auf diese Weise nicht berücksichtigt, was aber die Aussagekraft der Daten nicht mindert: Alle acht nicht berücksichtigten Belege weisen -Ø auf. Aus dem gleichen Grund wurden auch Belege nach 1900 nicht berücksichtigt (sieben Belege, sechs davon mit -s).

102 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

Lexeme flektiert.14 Diese Sonderbehandlung erübrigt sich dann im Laufe der Zeit ‒ die Fremdwörter werden morphologisch integriert. Diese Beobachtung gilt nicht nur, wenn alle fünf Lexeme in Summe betrachtet werden, sondern auch einzeln, was sich aufgrund der hohen Belegzahl gut anhand von Klima/Clima darstellen lässt (für die anderen Lexeme vgl. Abbildungen 14 bis 18):

100% 80% 60%

-s

40%

-'s

20%



0% 1743-1795

1796-1848

1849-1900

n=63

n=71

n=102

Abb. 12: Der Genitiv Singular von Klima/Clima im Zeitraum von 1743 bis 190015

Die Entwicklung von Klima/Clima ist weiterhin auch besonders von Interesse, da hier deutlich wird, dass morphologische und graphematische Integration Hand in Hand gehen. Abb. 13 veranschaulicht die leichte, aber signifikante Tendenz, dass die ursprüngliche Schreibweise mit , die auf das lateinische Vorbild zurückgeht, eher mit der Auslassung des Flexivs einhergeht als

|| 14 In Belegen aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden Fremdwörter mitunter auch typographisch von nativen Wörtern abgesetzt, so z.B. Interesse (vgl. z.B. Geise 1703: 97). Die typographisch abgesetzten Wörter werden ohne Genitiv-s verwendet, was nicht überraschend ist, da es sich hier um sehr frühe Belege handelt. Die Genitiv-s-Losigkeit ist aber auch in diesem Zeitraum nicht auf typographisch abgesetzte Fremdwörter beschränkt (vgl. z.B. Clima bei Bodmer 1743: 3). Weiterführende Aussagen zum Zusammenhang von Typographie und flexionsmorphologischem Verhalten können aufgrund der sehr niedrigen Belegzahl im relevanten Zeitraum leider nicht getroffen werden. 15 Zur Einteilung der Zeitabschnitte wurde der gesamte Zeitraum, in dem es Genitivbelege des Lexems im DTA gibt, in drei gleich große Zeiträume unterteilt.

Fremdwörter | 103

die graphematisch integrierte Variante mit , die im Gegenwartsdeutschen die einzig noch zulässige Verschriftungsvariante ist (Fisher-Yates-Test: p = 0,021*, odds ratio = 2,210541).16

100% 90% 80% 70% 60% -s

50% 40%

-'s

30%



20% 10% 0% Clima

Klima

n=56

n=180

Abb. 13: Der Zusammenhang von graphematischer und morphologischer Integration bei Klima/Clima

Bei allen Lexemen lässt sich darüber hinaus erkennen, dass die morphologische Integration bzgl. der Verwendung des Genitivsuffixes im Jahre 1900 zwar annähernd, aber noch nicht ganz abgeschlossen ist (s. unten). Kontrastiert man die DTA-Daten eines jeweils bis zum Jahr 1900 reichenden Zeitabschnitts mit Daten aus DECOW2012, zeigt sich, dass sämtliche Lexeme heute einen geringeren Anteil an s-Losigkeit aufweisen (vgl. Abbildungen 14 bis 18).17 Bei aller Zurück-

|| 16 Im Gegensatz zur schwankenden Schreibung bei Clima/Klima ist die Variation bei Interesse/Jnteresse, das auf mittellateinisch interesse zurückgeht, nicht auf Transferenz-Effekte zurückzuführen und deshalb mit Blick auf die Fremdwortintegration nicht relevant. 17 Aufgrund der zum Teil sehr geringen Anzahl an Belegen und weil die Belege sich nicht gleichmäßig auf den zugrundeliegenden Zeitraum verteilen (was wegen der erst allmählich erfolgenden Etablierung der Fremdwörter und der unterschiedlich großen Anzahl an Belegen pro Zeitabschnitt (vgl. Abb. 10) auch nicht zu erwarten war), erscheint es sinnvoll, für den hier intendierten Überblick möglichst wenige Zeitabschnitte einzuteilen. Der gesamte Zeitraum, in dem ein Lexem im DTA belegt ist, wurde demnach in jeweils nur zwei gleich große Zeitabschnitte unterteilt. Dass für jedes Lexem individuelle Abschnitte unterteilt wurden, liegt daran,

104 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

haltung, die beim Vergleich unterschiedlicher Korpora geboten ist, scheint man hier ablesen zu können, dass der Integrationsprozess auch nach 1900 vorangeschritten ist. Mit einem Anteil von unter 2 % s-Losigkeit in DECOW2012 haben Interesse, Klima und Universum das Niveau von nativen Appellativen erreicht (vgl. Kapitel 2). Die beiden Lexeme, die im letzten unterteilten Zeitabschnitt (bis 1900) der DTA-Daten die höchsten Werte für -Ø aufweisen, liegen auch in DECOW2012 über dem Niveau nativer Appellative und dem der anderen drei Lexeme: Embryo bei 6,1 % und Drama bei 4,7 % s-Losigkeit.18 Offenbar ist hier der Integrationsprozess im Vergleich zu den anderen Lexemen damals wie heute weniger weit vorangeschritten.

100% 80% 60%

-s

40%

Apostroph

20%



0% 1759-1831

1832-1903

DECOW 2012-00

n=26

n=173

n=684

Abb. 14: Drama in Genitivkonstruktionen in DTA und DECOW2012-00

|| dass die Fremdwörter nicht ab dem gleichen Zeitpunkt im Korpus belegt sind und hier in erster Linie die individuelle Entwicklung der Lexeme untersucht werden soll. 18 Wegen der geringen Anzahl an Types, die hier untersucht werden können, ist es nicht möglich, zuverlässig Ursachen für die unterschiedlich stark vorangeschrittene Integration zu ermitteln. Als solche kommen unter anderem die Tokenfrequenz, das Ausmaß der Frequenzzunahme (s. zu diesen Aspekten die Ausführungen zu Internet auf S. 135), phonologische Eigenschaften (vgl. hierzu die Analyse der Variation bei Eigennamen in Abschnitt 4.2) und der (nicht immer zweifelsfrei zu identifizierende) genaue Entlehnungszeitpunkt eines Lexems infrage.

Fremdwörter | 105

100% 80% 60%

-s

40%

Apostroph

20%



0% 1764-1833

1834-1903

DECOW 2012-00

n=78

n=374

n=425

Abb. 15: Embryo in Genitivkonstruktionen in DTA und DECOW2012-0019

100% 80% 60%

-s

40%

Apostroph

20%



0% 1691-1798

1799-1905

DECOW 2012-00

n=38

n=138

n=1537

Abb. 16: Interesse/Jnteresse in Genitivkonstruktionen in DTA und DECOW2012-00

|| 19 Den Ablauf der Entwicklung zwischen 1900 und heute korpusbasiert nachzuvollziehen, ist mithilfe der aktuell verfügbaren Korpora leider nicht möglich. Die W-Archive des deutschen Referenzkorpus (DeReKo) vom Institut für deutsche Sprache (IDS) decken einen zu geringen Zeitraum ab und das Archiv der historischen Korpora des IDS liefert für die hier untersuchten Lexeme zu wenige Belege im relevanten Zeitraum. Auch das DWDS-Kernkorpus des 20. Jahrhunderts (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache) liefert nicht genügend Belege, ermöglicht aber einen ersten Eindruck, der mit der oben formulierten Analyse kompatibel ist: Im Zeitraum von 1900 bis 1948 finden sich zehn s-lose Genitive für Embryo nach dem Artikel des (das entspricht 18,2 %), während nach 1948 ausschließlich Genitive mit -s belegt sind.

106 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

100% 80% 60%

-s

40%

Apostroph

20%



0% 1743-1821

1822-1900

DECOW 2012-00

n=87

n=132

n=795

Abb. 17: Klima/Clima in Genitivkonstruktionen in DTA und DECOW2012-00

100% 80% 60% -s

40%



20% 0% 1782-1843

1844-1905

DECOW 2012-00

n=55

n=77

n=4505

Abb. 18: Universum20 in Genitivkonstruktionen in DTA und DECOW2012-00

4.1.1.2 Morphologische Integration und Apostrophe Mit dem Integrationsstatus eines Fremdworts hängen auch die Apostrophschreibungen zusammen (z.B. des Klima’s), die bei den hier untersuchten Lexemen auffällig häufig belegt sind. Hierbei handelt es sich um morphographische Apostrophe, die im Gegensatz zu den älteren und frequenteren phonographischen Apostrophen (oder gleichbedeutend: Auslassungs- bzw. Elisionsapostrophen) nicht die Auslassung eines Graphems anzeigen (z.B. heut’ statt heute), sondern der Wortschonung peripherer Substantive dienen. Diese wortschonende Funktion morphographischer Apostrophe ist bereits gut beschrieben

|| 20 Für Universum ist im gesamten DTA keine Apostrophschreibung im Genitiv belegt.

Fremdwörter | 107

(vgl. Gallmann 1985: 101–103, Scherer 2010: 17, 2013: 85, Nübling 2014: 115 und Nowak & Nübling 2017: 134–140). Sie besteht darin, dass der Wortkörper konstant gehalten und nicht durch Flexion affiziert wird, was seine Erkennung erleichtert. Stattdessen wird die Grenze zwischen Stamm und Flexiv explizit durch ein Syngraphem markiert, was wiederum die Erkennung der morphologischen Struktur befördert.21 Somit kann die Schreibweise mit Apostroph als besonders leserInnenfreundlich gelten. Sie tritt „bei den Wortklassen auf, bei denen ein konstanter und gut erkennbarer Wortstamm aus verschiedenen Gründen besonders wichtig ist. Zu diesen Klassen gehören insbesondere Namen, Fremdwörter und Kurzwörter“ (Scherer 2010: 21). Die Verwendung des Apostrophs hat damit prinzipiell die gleiche Motivation wie die Auslassung des Genitiv-s: die rezipientInnenorientierte Wortkörperschonung peripherer Substantive (vgl. hierzu auch Nübling 2014: 117–121). Allerdings stellt sie eine Art Kompromisslösung dar, indem sowohl die Realisierung eines Kongruenzmarkers als auch Schemakonstanz zu einem gewissen Grad gewährleistet werden. Die Verwendung von Apostrophen als Strategie zur Schonung peripherer Wörter ist besonders im 18. und 19. Jahrhundert äußerst populär. Sie beschränkt sich dabei nicht nur auf Genitivkonstruktionen, die einen Artikel beinhalten, sondern tritt vor allem auch bei artikellos verwendeten Personennamen auf (z.B. Goethe’s Werke). Dort haben morphographische Apostrophe auch ihren Ausgangspunkt (vgl. Klein 2002: 187). Die bereits erwähnten Arbeiten zum morphographischen Apostroph beziehen sich auch in erster Linie auf Genitivkonstruktionen ohne Artikel (Gallmann 1985, Scherer 2010, Nübling 2014). Der Grund dafür ist, dass diesen Arbeiten Korpus-Befunde aus dem Zeitraum ab 1900 zugrunde liegen ‒ morphographische Apostrophe bei Substantiven mit Artikel beschränken sich aber weitestgehend auf das 19. Jahrhundert und spielen nach 1900 kaum mehr eine Rolle. Die Abbildungen 19 und 20 verschaffen einen Eindruck vom signifikanten Frequenzzuwachs dieser Fälle um das Jahr 1800 und auch vom Frequenzeinbruch um 1900.22 Die Abbildungen basieren auf Daten aus dem DTA und dem

|| 21 Inwiefern ein Apostroph entweder die rechte Grenze des Wortstammes, die linke Grenze des Suffixes oder die Grenze zwischen Stamm und Suffix an sich markiert, wird bei Scherer (2013) diskutiert. Während sich im Gegenwartsdeutschen eine Tendenz feststellen lässt, zunehmend (auch) den linken Rand des Suffixes zu markieren, gilt für die hier diskutierten Fälle, dass der rechte Rand des Stammes und die Grenze zwischen Stamm und Suffix markiert werden. 22 Beide Verlaufskurven wurden mithilfe der auf implementierten Funktionalitäten erstellt und werden hier unter einer Creative-Commons-Lizenz verwendet (vgl. http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/de/legalcode).

108 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

DWDS-Kernkorpus des 20. Jahrhunderts.23 Sie geben die relative Häufigkeit (pro 1 Million Tokens) von Belegen an, bei denen auf einen Genitivartikel (des bzw. eines) ein Substantiv mit apostrophiertem Genitiv-s folgt.

Abb. 19: Relative Häufigkeit des Apostrophs in Genitivkonstruktionen mit dem Artikel des24

|| 23 Informationen zu dem letztgenannten Korpus sind unter verfügbar (zuletzt abgerufen am 19.08.2016). Dass die zugrundeliegenden Daten aus zwei Korpora stammen, scheint keinen verzerrenden Einfluss auf die Ergebnisse zu haben: In der Zeit um 1900, in der sich die Daten aus dem DTA und dem DWDS überlappen, zeigen sich keine bedeutsamen Unterschiede zwischen den Korpora; in den DTA-Daten nimmt die Frequenz der Apostrophschreibungen ab ca. 1900 stark ab, was sich mit den Beobachtungen zum Apostrophgebrauch auf der Basis der DWDS-Daten deckt. 24 Bei einem gewissen Prozentsatz der hier berücksichtigten Fälle handelt es sich um Elisionsapostrophe, die eine Verkürzung der Genitivendung im Vergleich zur langen (offenbar als standardnäher empfundenen) Endung -es aufweisen (z.B. des Wein’s), was vor allem in Texten mit strengem Versmaß häufig zu beobachten ist (vgl. auch Klein 2002: 188). In vielen Fällen liegt eine systematische Ambiguität vor, die möglicherweise auch schon Ausgangspunkt der Reanalyse war, die für die Entstehung morphographischer Apostrophe ursächlich ist: Es ist nicht klar, ob mit dem Apostroph eine Kürzung (des Wein’s statt des Weines) angezeigt wird oder die Grenze zwischen Stamm und Flexiv (ebd.). Aufgrund dieser Ambiguität können manche in der Stichprobe enthaltenen Fälle nicht eindeutig als phonographische oder morphographische Apostrophe identifiziert werden. Bei den nicht eindeutigen Belegen handelt es sich ausschließlich um Belege

Fremdwörter | 109

Abb. 20: Relative Häufigkeit des Apostrophs in Genitivkonstruktionen mit dem Artikel eines

Die niedrige Frequenz vor Beginn des 19. Jahrhunderts kann wohl damit erklärt werden, dass Apostrophe erst allmählich einen Funktionszuwachs vom Auslassungs- zu einem Grenzzeichen erfahren und sich die neue Verwendungsweise ab dem 17. Jahrhundert schrittweise von Personennamen auf weitere schonungsbedürftige Substantivklassen ausweitet (vgl. Nübling 2014). Den Frequenzgewinn zu Beginn des 19. Jahrhunderts führt Klein (2002: 189) darüber hinaus ‒ ebenso wie den erheblichen Frequenzverlust um 1900 ‒ auf den normativen Einfluss zeitgenössischer Grammatiker zurück:25

|| mit nativen Appellativen, da die lange Genitivendung bei schonungsbedürftigen Wörtern keine Rolle spielt (vgl. hierzu auch Abschnitt 4.1.3). Native Appellative machen bei insgesamt 1276 Belegen einen Anteil von 17,2 % aus. Bei den übrigen 1057 Fällen mit schonungsbedürftigen Wörtern (63,9 % Fremdwörter, 17,3 % Kurzwörter, 1,6 % Eigennamen, vor allem Toponyme) handelt es sich eindeutig um morphographische Apostrophe. Die absoluten Zahlen in den Abbildungen 19 und 20 sind demnach nur bedingt belastbar. Die Aussagekraft der Daten bezüglich der allgemeinen Entwicklung (morphographische Genitiv-Apostrophe in Konstruktionen mit Artikel sind fast ausschließlich im 19. Jahrhundert belegt) ist aber nicht beeinträchtigt. Eine signifikante Veränderung innerhalb des 19. Jahrhunderts, z.B. hinsichtlich der Anteile von nativen und nichtnativen Substantiven an den Apostroph-Belegen, ist nicht auszumachen. 25 Der Grund dafür, dass der Apostroph gemeinhin geringgeschätzt und stigmatisiert wurde, obwohl der funktionale Nutzen von einigen Grammatikern wie Heyse (51849) und Sanders (1873) bereits erkannt und beschrieben war, geht nach Nübling (2014: 111) „auf sein frühes

110 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

Ausgehend von der phonographischen Argumentation Adelungs und der logographischen Perspektive späterer Grammatiker kam es im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zu einer regelrechten Konjunktur der Verwendung des Stammform-Apostrophs.

Und: Nachhaltig wirkte […] die Ablehnung des Genitiv-Apostrophs von Rudolf Raumer [seit 1875]. Die orthographische Einigung des Deutschen, die mit dem Namen Konrad Duden verbunden ist, führte dann dazu, dass der Genitiv-Apostroph als regelwidrig gebrandmarkt wurde.

Im Gegensatz zu Klein (2002) bestreitet Ewald (2006) auf der Basis einer Sammlung von Belegen mit Personennamen (z.B. Mozart’s) den Einfluss orthographischer Normierungen auf den Gebrauch von Apostrophen: Weder lässt sich die Zunahme grenzmarkierender Verwendungsweisen auf einschlägige Regeln zurückführen, noch vermag es die (gewandelte) Kodifizierung, den Gebrauch des Grenzapostrophs (ein halbes Jahrhundert später) endgültig zu unterdrücken. Der Apostroph erweist sich somit im 18./19. Jahrhundert als eher regelungsresistentes Orthogramm. (Ewald 2006: 157–158)

Während die Ausführungen zur Funktion des Apostrophs sowohl für Konstruktionen mit Artikel als auch für Konstruktionen ohne Artikel ihre Gültigkeit haben, scheint es mir wichtig zu sein, zwischen diesen beiden Typen zu differenzieren, wenn es um den Einfluss normativer Grammatiken geht. Wenn ein Artikel realisiert werden muss, z.B. bei appellativischen Fremdwörtern (vgl. (61) bis (63) vs. (64) und (65)), übernimmt der Artikel den Kasusausdruck, das -s am Substantiv ist redundant (vgl. (61) und (62)). In diesen Fällen kann das -s bei erhöhtem Schonungsbedarf ausbleiben (vgl. (63)).26

|| Stadium als Auslassungszeichen im 17./18. Jahrhundert zurück, da er ‒ zu Zeiten als der Wunsch nach einer überregional gültigen Standardsprache aufkam ‒ dialektale bzw. als substandardsprachlich empfundene, reduzierte Formen der gesprochenen Sprache markierte.“ Vgl. zur Beschreibung des Vorteils von Apostrophen in historischen Grammatiken auch Ewald (2006: 148–150) und zum Apostroph als Markierung von Substandard-Varianten Gallmann (1985: 258–268, 1989: 102–103) und Klein (2002: 176–177). 26 Ein solcher besonderer Schonungsbedarf ist bei Klima mittlerweile nicht mehr gegeben. Das Substantiv ist inzwischen gut integriert und wird heute kaum noch ohne Genitiv-s verwendet. Die Beispiele in (61) bis (63) rekurrieren auf die Daten, die auf S. 100–102 besprochen wurden und beziehen sich somit auf den Zeitraum zwischen 1600 und 1900. Sie wurden deshalb gewählt, weil hier das Nebeneinander der verschiedenen Varianten besonders gut illustriert werden kann. Dass der Satz in (63) heute ungewöhnlich erscheint, hat keine strukturellen Gründe, sondern liegt daran, dass sich Klima mittlerweile im Deutschen etabliert hat. 

Fremdwörter | 111

(61)

Die Auswirkungen d‐es Klima‐s auf den Menschen sind enorm.

(62)

Die Auswirkungen d-es Klima-’s auf den Menschen sind enorm.

(63)

Die Auswirkungen d-es Klima auf den Menschen sind enorm.

(64)

*Klima-s Auswirkungen auf den Menschen sind enorm.

(65)

*Auswirkungen Klima-s auf den Menschen sind enorm.

Wenn kein Artikel realisiert wird, ist das -s am Substantiv nicht redundant und muss realisiert werden (vgl. (66) bis (69)).27 Das gilt sowohl für Eigennamen (diese werden häufig ohne Artikel verwendet werden, vgl. (66) bis (68)) als auch für Appellative, bei denen artikellose Strukturen relativ selten, aber möglich sind (vgl. (69) und Abschnitt 2.4.5). (66)

Manfreds Witz war lustig.

(67)

Manfred’s Witz war lustig.

(68)

*Manfred Witz war lustig.

(69)

*Die Bedeutung ehrenamtlichen Engagement ist groß.

Bei schonungsbedürftigen Wörtern mit Artikel steht neben der Verwendung eines Apostrophs (vgl. (62)) mit -Ø (vgl. (63)) also eine weitere wortschonende Variante zur Verfügung ‒ ohne Artikel ist diese nicht möglich (vgl. (68)). Hierin könnte der Grund liegen, warum die Stigmatisierung des Apostrophs sich zwar bei Konstruktionen mit Artikel auf den Gebrauch ausgewirkt hat ‒ wofür die Ausführungen von Klein (2002) und die erhobenen Daten sprechen ‒ nicht aber bzw. weniger stark bei artikellos verwendeten Eigennamen. Der Wegfall einer Wortschonungsstrategie (den die Verbannung des morphographischen Apostrophs bewirkt bzw. bewirken würde) scheint nur möglich zu sein, wenn eine alternative Strategie bereitsteht. Möglicherweise setzen sich artikellos verwendete Personennamen, bei denen es keine solche Option gibt, deshalb über die Normierung hinweg ‒ andere schonungsbedürftige Wörter wie die Fremdwörter hingegen nicht. Das wäre auch eine mögliche Erklärung für die Verteilung der Apostrophe im Gegenwartsdeutschen. Nach vorausgehendem Artikel sind diese heute sehr selten: In der in Kapitel 2 thematisierten Stichprobe mit 5000 Genitivbelegen mit Artikel finden sich nur acht Belege (alle bei schonungsbedürftigen Substan-

|| 27 Zur Frage, inwiefern es sich bei Konstruktionen des Typs Manfred-s Witz (noch) um Genitivkonstruktionen handelt oder ob das -s hier vielmehr z.B. als Possessivmarker zu analysieren ist, vgl. Ackermann (2018a) und siehe Abschnitt 5.3.1.

112 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

tiven). Das entspricht einem Anteil von 0,2 % der gesamten Stichprobe und einem Anteil von 0,4 % der Belege mit schonungsbedürftigen Substantiven wie Eigennamen, Kurzwörtern oder Fremdwörtern. In der Studie von Bankhardt (2010), die eine Stichprobe von Texten der Zeitung Mannheimer Morgen auf ihren Apostroph-Gebrauch hin untersucht, werden zwar 51 Belege von GenitivApostrophen bei Eigennamen, die nicht auf [s] auslauten, diskutiert; Belege mit Appellativen und/oder mit vorausgehendem Artikel gibt es aber nicht. Scherer (2010), die Apostrophe in Texten aus dem DWDS-Kernkorpus des 21. Jahrhunderts sowie Texten aus der Berliner Zeitung (BZ) und den Potsdamer Neuesten Nachrichten (PNN) untersucht, differenziert ihre Belege nicht nach Artikelgebrauch. Da aber alleine 94,9 % der 2792 von ihr gefundenen Apostrophe auf Personennamen entfallen, die typischerweise (vor allem in Possessivkonstruktionen wie Guido’s Blumenladen) ohne Artikel verwendet werden und bei Artikelgebrauch im Genitiv stark zur s-Losigkeit tendieren (z.B. der Geburtstag des kleinen Michael, s. unten), ist auch hier davon auszugehen, dass Apostrophe nach vorausgehendem Artikel bestenfalls eine marginale Rolle spielen.28 Diese Annahme wird durch eine Studie von Ackermann (2018b) gestützt, die sich der Verwendung von Personennamen widmet. Ihre Stichprobe, die DECOW2012-00 entnommen ist, enthält 1546 Apostrophschreibungen. Diese entfallen allesamt auf determiniererlose Strukturen. Bei pränominal verwendeten Personennamen (Sebastian’s Katze) machen sie einen Anteil von 9,1 % aus, bei postnominaler Verwendung (Die Katze Sebastian’s) einen Anteil von 1,9 %. In Strukturen des Typs die Katze des tierlieben Sebastian(s) sind Apostrophe überhaupt nicht belegt. Hier dominiert -Ø mit einem Anteil von 93,4 % deutlich: die Katze des tierlieben Sebastian. Im Gegenwartsdeutschen ist die Verwendung von ’s als Wortschonungsstrategie nach vorausgehendem Artikel also von untergeordneter Bedeutung, was Resultat einer Entwicklung ist, die sich bereits um das Jahr 1900 anbahnt. Im Gegensatz dazu sind Apostrophe nach wie vor dort frequent, wo sie auch ihren Ausgangspunkt hatten: bei artikellos verwendeten Eigennamen, besonders bei Personennamen (vgl. Bankhardt 2010 und Scherer 2010). Die Ausweitung des Anwendungsbereichs auf andere schonungsbedürftige Wortklassen war im 19. Jahrhundert bereits erfolgt (s. oben), wurde dann aber durch Stigmatisierung und Normierung wieder rückgängig gemacht (was den von Klein 2002 postulierten Einfluss der Grammatiker bestätigt), während sich artikellos verwendete Eigennamen, bei denen keine weitere Wortschonungsstrategie zur

|| 28 Zur Unterscheidung von Possessivkonstruktionen und „echten“ Genitivbelegen siehe Ackermann (2018a) und Abschnitt 5.3.1.

Fremdwörter | 113

Verfügung steht, über die Normierung hinwegsetzen (was wiederum die Grenzen des Einflusses der Grammatiker bestätigt, die Ewald 2006 postuliert). Neben den bisher thematisierten Aspekten des Apostrophgebrauchs scheint eine weitere Beobachtung von Interesse zu sein, die oben bereits kurz angedeutet wurde. Die Distribution der Apostrophe bei den einzelnen Lexemen (s. oben, Abbildungen 14 bis 18) kann man möglicherweise nicht nur damit erklären, dass die Apostrophverwendung in diesen Konstruktionen im 19. Jahrhundert besonders frequent ist, sondern auch mit der individuellen Entwicklung eines Lexems. Apostrophe treten in der Regel nämlich erst dann auf, wenn sich das Genitivsuffix bereits als eine Variante etabliert hat. Hat noch überhaupt keine morphologische Integration stattgefunden, werden auch keine Apostrophe realisiert, was man gut an der Entwicklung von Drama (vgl. Abb. 14, aber auch Embryo oder Klima) ablesen kann: Auch vor dem Jahr 1830 ist die Verwendung von Apostrophen in Genitivkonstruktionen mit Artikel bereits stark angestiegen und z.B. im Zeitraum von 1820-1829 besonders häufig zu beobachten (vgl. Abbildungen 19 und 20) – für Drama, das bis dahin keine Integrationsanzeichen erkennen lässt, lässt sich aber kein einziger Beleg mit Apostroph finden. Erst in dem Zeitabschnitt, der durch beträchtliche Variation gekennzeichnet ist (hier 1832 – 1903), stellt auch ’s eine frequente Option dar. Die Apostrophverwendung scheint demnach eine Art Übergangsstadium im Integrationsverlauf zwischen -Ø und -s darzustellen und vor allem in der Phase aufzutreten, in der große Unsicherheit bzw. Uneinigkeit mit Blick auf die Realisierung der Genitivendung eines Lexems herrscht. Dass die Integration der hier untersuchten Lexeme in den Zeitraum fällt, in dem die Apostrophverwendung als Wortschonungsstrategie besonders häufig auftritt, scheint deshalb nicht der einzige Faktor zu sein, der die Distribution und die Häufigkeit der Apostrophe beeinflusst. Die erhebliche Schwankung, die Unsicherheit und Uneinigkeit bzgl. einer Genitivendung, die sich in den Übergangsstadien während des Integrationsprozesses beobachten lässt und ’s als Kompromisslösung begünstigt, äußert sich sowohl in inter- als auch in intraindividueller Variation. Während einige (wenige) AutorInnen strikt bei einer Variante bleiben, schwankt der Gebrauch der Genitivendung bei einem Lexem in den meisten untersuchten Texten, vgl. (70) bis (72), die allesamt einer einzigen Seite entstammen. Innerhalb der hier zitierten Publikation wird Embryo im Genitiv bei 56 Belegen zu 10,7 % ohne Flexiv, zu 39,3 % mit apostrophiertem Flexiv und zu 50 % mit -s verwendet – was das mögliche Ausmaß an intraindividueller Variation veranschaulicht.

114 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

(70)

Charakteriſtiſch iſt für den ganzen Wirbelthierkreis die ſchon früher angegebene Lagerung des Dotters der Bauchfläche des Embryo’s gegenüber; Vogt (1851:18): Zoologische Briefe, Bd. 2

(71)

von denen eine, die ſogenannte Schafhaut oder das Amnios, überall, wo ſie vorhanden iſt, einen vollſtändigen Sack um den Körper des Embryo bildet […]. Vogt (1851:18): Zoologische Briefe, Bd. 2

(72)

ſobald aus ihr die Zellen hervorgegangen ſind, aus denen ſich die ſämmtlichen Organe des Embryos aufbauen, ſo beginnt die morphologiſche Bildung […]. Vogt (1851:18): Zoologische Briefe, Bd. 2

Die hier kurz anhand von Embryo veranschaulichte Phase erheblicher Variation folgt in der Regel auf eine variationsarme Phase kurz nach Entlehnung eines Wortes, in der das Genitiv-s sehr selten oder gar nicht realisiert wird. Im Anschluss an die variationsreiche Übergangsphase verringert sich das Ausmaß der Schwankung dann wieder, und zwar zugunsten der Realisierung eines Suffixes. Als Grund für diese Entwicklung wurde hier der sich im Laufe der Zeit ändernde Schonungsbedarf genannt. Dass neben sprachinternen Faktoren aber auch präskriptive Bewertungen sprachlicher Varianten einen erheblichen Einfluss auf Sprachwandelphänomene haben können, wurde bereits deutlich: Ohne einen präskriptiven Einfluss wäre der Gebrauch von Apostrophen in Genitivkonstruktionen wohl nicht so stark in seiner rasanten Ausbreitung im 19. Jahrhundert gehemmt bzw. sogar wieder zurückgedrängt worden.29 Analog dazu ist es also durchaus denkbar, dass nicht die sich ändernde Gewichtung von morphologischer Schemakonstanz und syntaktischer Kongruenz den bei den sechs Lexemen beobachteten Übergang von -Ø zu -s erklärt, sondern schlicht eine Stigmatisierung von -Ø zum Übergang zu -s geführt hat. Dass es keinen solchen Einfluss von Grammatikern des 17., 18. und 19. Jahrhunderts gab, der die hier als Integration beschriebenen Übergänge von -Ø zu -s im Genitiv veranlasst hat, soll im Folgenden gezeigt werden.

|| 29 Vgl. z.B. auch Szczepaniak (2014), die dafür argumentiert, dass sowohl die diachrone als auch die synchrone Variation zwischen den starken Genitivendungen -s und -es erheblich durch präskriptive GrammatikerInnen beeinflusst wird.

Fremdwörter | 115

4.1.1.3 Der Einfluss der Grammatikschreibung Adelung (51806: 146), ein außerordentlich einflussreicher Grammatiker des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts (also der mit Blick auf die untersuchten Lexeme relevanten Zeit) beschreibt drei Möglichkeiten, ein Fremdwort im Deutschen zu deklinieren: 1. 2. 3.

„bloß durch den Deutschen Artikel“: z.B. des Adverbium30 „auf Lateinische Art“: z.B. des Adverbii „auf Deutsche Art“: z.B. des Charakters

-Ø wird als eine Möglichkeit genannt, und zwar als einzig uneingeschränkt umsetzbare Variante. Die anderen beiden Varianten seien nur mit Einschränkungen möglich. Fremdwörter sollen „nur im Nothfalle“ (ebd.) auf lateinische Art dekliniert werden. Und um Fremdwörter auf deutsche Art zu deklinieren, also ein Genitiv-s zu realisieren, dafür müssen die Wörter „geschickt seyn, Deutsche Declinations-Zeichen anzunehmen“ (ebd.). Im Weiteren führt Adelung (51806: 156–157) aus: [D]er fremden Biegungssylbe des Nominativs noch eine Deutsche eines anderen Casus anhängen zu wollen, des Adverbiums, des Alumnusses, ist barbarisch […]. Wer mit solchen Wörtern nicht umzugehen weiß, muß sich ihrer enthalten [...] Die aus anderen Sprachen entlehnten Wörter werden auf Deutsche Art declinirt, wenn sie Deutschen Nominativen ähnlich sehen […]. Wo nicht, so läßt man sie unverändert und declinirt sie durch den Artikel oder ein anderes Bestimmungswort: das Adagio, des Adagio, die Adagio. Doch leiden manche wenigstens im Plural Deutsche Biegungssylben […].

Hier finden sich schon einige Bemerkungen, die auf relevante Punkte bei der Analyse der diachronen und auch gegenwartssprachlichen Variation hindeuten. So wird z.B. die in Abschnitt 4.3.2 unter dem Stichwort Relevanzhierarchie behandelte Beobachtung thematisiert, dass schonungsbedürftige Wörter häufiger ohne Kasus-Flexiv verwendet werden als ohne Plural-Suffix. Darüber hinaus wird die marginale Rolle entlehnter Suffixe angesprochen (vgl. Abschnitt 4.1) und außerdem die Auswirkung formseitiger Aspekte des jeweiligen Lexems auf die Realisierung/Auslassung eines Flexivs (vgl. z.B. Abschnitt 4.2). Im vorliegenden Zusammenhang am wichtigsten ist aber die Tatsache, dass s-lose Genitive (Deklination „bloß durch den deutschen Artikel“) keineswegs stigmatisiert werden, sondern vielmehr als eine uneingeschränkt mögliche Option dargestellt und in vielen Fällen sogar empfohlen werden. Dass die hier untersuchten Lexeme gegen Ende des Untersuchungszeitraums einen geringeren Anteil an

|| 30 Die Beispiele stammen von Adelung (51806: 146).

116 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

s-Losigkeit aufweisen als kurz nach ihrer Entlehnung, kann mit einer Stigmatisierung durch Adelung also nicht erklärt werden ‒ im Gegenteil: Indem z.B. das Lexem Embryo, das mehrere Fremdheitsmerkmale aufweist und demnach nicht einem deutschen Substantiv ähnelt, auch schon im 19. Jahrhundert mit Genitiv-s verwendet wird, setzen sich die SprachbenutzerInnen über die Empfehlung Adelungs hinweg. Eine Stigmatisierung der s-losen Formen findet sich auch bei anderen bedeutenden Grammatikern des relevanten Zeitraums nicht (Schottel 1663, Bödiker 1746, Gottsched 1748 und Grimm 21822), weshalb ein entsprechender Einfluss auf die oben beschriebenen Sprachwandelprozesse ausgeschlossen werden kann. Es handelt sich demnach tatsächlich um Integrationsprozesse einzelner Lexeme. Somit konnte gezeigt werden, dass sich das Phänomen der morphologischen Integration nicht auf die Wahl eines Pluralallomorphs beschränkt, sondern auch Schwankungen zwischen -Ø und -s erklären kann. Inwiefern Parallelen zwischen diesen beiden Aspekten morphologischer Integration bestehen, wird im Folgenden auf der Grundlage einer korpusbasierten Analyse diskutiert.

4.1.2 Die Pluralmarkierung als Gegenstand morphologischer Integration Während in der bisherigen Forschung der Variation der starken Genitivendung im Integrationsprozess von Fremdwörtern wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde (vgl. die entsprechenden Kommentare dazu in Scherer 2000: 13 und Eisenberg 2011: 217), wurde der s-Plural in seiner Funktion als wortschonendes Suffix, das im Zuge der morphologischen Integration eines Wortes an Bedeutung verliert und durch systemkonforme Suffixe ersetzt werden kann, ausführlich diskutiert (vgl. vor allem die Aufsätze von Wegener, z.B. 2002, 2004 oder 2010, aber auch Bornschein & Butt 1987 und Eisenberg 2001). Aussagen zur Diachronie der einzelnen Lexeme basieren dabei vorrangig auf den Beschreibungen historischer Grammatiken. Korpus-Studien zu morphologischen Integrationsprozessen gibt es meines Wissens bisher nicht. Dank der Ressourcen, die das DTA bereitstellt, ist es mittlerweile möglich, diese empirische Lücke zu schließen. Die im Folgenden besprochenen Korpusdaten ermöglichen es, die Integration einzelner Lexeme nachzuvollziehen, Parallelen von Kasus- und Numerusflexion aufzudecken und so das Phänomen der morphologischen Integration ganzheitlich und korpusbasiert zu behandeln, was wiederum mit Blick auf das Verhältnis von morphologischer Schemakonstanz und salienter Markierung grammatischer Informationen besonders aufschlussreich ist.

Fremdwörter | 117

Um die erwähnte empirische Lücke schließen zu können, mussten zunächst einmal die Lexeme identifiziert werden, deren Untersuchung relevante Ergebnisse bzgl. morphologischer Integrationsprozesse erwarten lässt. Anders als im Genitiv Singular gibt es bei der Pluralmarkierung üblicherweise keinen quantitativen Unterschied (Realisierung eines Suffixes vs. Auslassung) zwischen peripheren und prototypischen Substantiven, sondern einen qualitativen Unterschied hinsichtlich der Kodierung der grammatischen Information: Peripheren Substantiven wird der Transparenzplural -s zugewiesen, während allen anderen Substantiven ein (in der Regel) stärker strukturaffizierendes Allomorph zugeordnet wird.31 Um Substantive zu identifizieren, die den Transparenzplural -s erhalten bzw. erhielten, wurden zunächst alle Belege aus dem DTA extrahiert, bei denen auf die frequenteste Wortform aller Artikel im Plural, nämlich die, eine auf endende Wortform folgt. Auf der Basis dieser Daten wurde dann eine Liste an Lemmata zusammengestellt, die mit -s pluralisier(t)en.32 Für diese Lemmata wurden anschließend sämtliche Wortformen extrahiert. Diese wurden dann nach den folgenden Kriterien ausgefiltert: 1.

Es muss sich um eine Pluralform handeln.

2.

Bei jedem Lexem muss eine erhebliche Variation bei der Pluralisierung zu beobachten sein (mind. 20 Tokens pro Plural-Type).33

3.

Die Belege müssen von mindestens zehn verschiedenen AutorInnen stammen.

4.

Die Belege müssen aus mindestens zwei unterschiedlichen Jahrhunderten stammen.

Die folgenden Lexeme erfüllen alle Kriterien und wurden der Untersuchung zugrunde gelegt: Balkon/Balcon, Bataillon, Deserteur, General, Gouverneur, Grenadier, Ingenieur/Jngenieur, Kapitän/Capitän/Capitain, Konsul/Consul, Offi-

|| 31 In Abschnitt 4.3.2 gehe ich ausführlicher auf die Unterschiede zwischen Kasus- und Numerusflexion und das dahinterliegende Prinzip der Relevanzhierarchie ein. Dort werden dann auch die seltenen Fälle von Flexiv-Auslassung im Plural diskutiert (z.B. viele AKW-Ø). 32 Dazu wurden manuell alle Singularformen ausgefiltert sowie alle Formen mit einem fremdsprachlichen Suffix, das auf s endet, aber silbisch ist und deshalb nicht als Transparenzplural gelten kann (z.B. das lateinisch flektierte visitator-es). 33 Da das Erkenntnisinteresse darin besteht, synchrone und diachrone Variation zu erklären, werden Fremdwörter, die (z.B. aufgrund mangelnder Bekanntheit) nicht integriert werden, ausgeschlossen.

118 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

zier/Officier, Passagier, Pinguin, Roman, Souverän/Souverain, Vampir/Vampyr.34 Bei diesen Begriffen handelt es sich um Fremdwörter, die zwischen dem 13. (Kapitän) und dem frühen 18. Jahrhundert (Balkon und Vampir) entlehnt wurden. Die Gebersprache ist in den meisten Fällen das Französische, dazu kommen Serbokroatisch (Vampir), Englisch (Pinguin) und Mittellatein (Kapitän) (vgl. Pfeifer 21993). Tab. 33 gibt einen Überblick über die Entwicklung der Lexeme. Der gesamte Zeitraum, in dem ein Lexem im DTA belegt ist, wurde in zwei jeweils gleich große Zeitabschnitte unterteilt. In der Tabelle wird für jedes Lexem der Anteil der s-Plurale an der Gesamtzahl aller Pluralbelege im jeweiligen Zeitraum ausgewiesen. Der Abschnitt mit dem höheren Anteil an s-Pluralen ist grau hinterlegt. Die Gesamtzahl der Pluralbelege pro Zeitabschnitt wird ebenfalls genannt. Angegeben ist außerdem die Differenz zwischen den Anteilen an s-Pluralen des späteren und des früheren Zeitraums (in Prozentpunkten), ein per Fisher-YatesTest errechneter p-Wert, der angibt, ob die beobachtete Differenz statistisch signifikant ist, odds ratios, die die Bedeutsamkeit der signifikanten Unterschiede beziffern, sowie die Anzahl an Belegen pro eingeteiltem Zeitabschnitt.35 Bei elf der 15 untersuchten Wörter wird der s-Plural im späteren Zeitabschnitt signifikant seltener verwendet als im früheren Zeitabschnitt. Das entspricht der These, dass Fremdwörtern zunächst der Transparenz-Plural zugeordnet wird, dass dessen Bedeutung mit steigender Bekanntheit und damit einhergehender Integration im Laufe der Zeit aber abnimmt und er durch systemkonforme Pluralallomorphe (z.B. -e) ersetzt wird. Bei den anderen vier Lexemen ist kein signifikanter Unterschied zwischen den eingeteilten Zeiträumen zu beobachten. Balkon und Pinguin sind mit insgesamt nur 64 bzw. 74 Belegen sehr selten im Plural belegt, was ein Grund dafür zu sein scheint, dass die Unterschiede zwischen den Abschnitten nicht signifikant sind. Die Tendenz, dass die Häufigkeit des s-Plurals sinkt, ist aber auch hier gegeben. Bei den häufiger belegten Lexemen Kapitän und Souverän sind die Unterschiede im Gegensatz dazu tatsächlich sehr gering. Hier scheint im beobachteten Zeitraum keine Integration stattgefunden zu haben.36 || 34 Wenn es nicht explizit um graphematische Aspekte geht, werden im Folgenden der Übersichtlichkeit halber nicht immer alle graphematischen Varianten genannt, sondern nur stellvertretend die heute übliche Variante. 35 Für Deserteur und Vampir konnten keine odds ratios berechnet werden, obwohl die beobachteten Unterschiede signifikant sind, da bei beiden Lexemen in jeweils einem Zeitabschnitt eine Variante überhaupt nicht belegt ist. 36 Inwiefern dieser Befund mit phonologischen Merkmalen der beiden Wörter zusammenhängt ‒ beide enden als einzige Wörter in der gesamten Stichprobe auf ‒ kann hier auf-

Fremdwörter | 119

Tab. 33: Anteil des s-Plurals an allen belegten Pluralformen pro Zeitabschnitt, absolute Belegzahlen des s-Plurals sowie die Differenz zwischen späterem und früherem Zeitabschnitt

Lexem

Deserteur

Abschnitt I

Abschnitt II

100,0%

22,2%

1703-1805

1806-1907

133

36

83,3% General

Ingenieur

1785-1919

84

544

Passagier

1783-1913

60

206

Bataillon

1769-1906

36

275

Gouverneur

1806-1907

128

176

Konsul



-75,6%

< 0,001***

58,87933

-75,2%

< 0,001***

54,36387

-70,4%

< 0,001***

35,71845

-65,8%

< 0,001***

26,41357

-64,6%

< 0,001***

21,12908

-62,0%

< 0,001***

59,57027

18,9%

1682-1792

1793-1902

85

74

65,0%

< 0,001***

23,3%

1703-1805

83,5%

-77,8%

10,2%

1631-1768

89,1%

odds ratio

16,5%

1652-1782

80,6%

p

7,7%

1650-1784

91,7%

Differenz

3,0%

1668-1790

1791-1913

60

807

|| grund der begrenzten Datenmenge nicht untersucht werden, scheint aber eine interessante Fragestellung zu sein.

120 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

Lexem

Grenadier

Abschnitt I

Abschnitt II

55,9%

2,5%

1724-1818

1819-1913

59

80

49,6% Vampir

Balkon

1823-1913

115

20

Pinguin

1831-1918

16

48

Offizier

1768-1903

20

54

Roman

1768-1926

597

2592

Kapitän

1799-1924

502

678

Souverän

-49,6%

< 0,001***



-27,1%

> 0,05



-25,0%

> 0,05



-17,9%

< 0,001***

3,326205

-15,2%

< 0,001***

25,46311

-3,7%

> 0,05



5,7%

> 0,05



60,8%

1631-1765

1766-1900

48

143

18,2%

47,94875

0,7%

1672-1798

64,6%

< 0,001***

10,8%

1609-1767

15,9%

-53,4%

50,0%

1631-1767

28,6%

odds ratio

41,7%

1742-1830

75,0%

p

0,0%

1732-1822

68,8%

Differenz

23,9%

1653-1786

1787-1919

110

310

Die meisten Lexeme durchlaufen eine einstufige Integration: Nach der Entlehnung wird zunächst (hauptsächlich) der s-Plural verwendet, bevor dieser von

Fremdwörter | 121

einem systemkonformen Pluralmarker abgelöst wird, z.B. -e (vgl. (73) > (74) und Abb. 21). (73)

Auff dem Spaniſchen Schiff fuhren als paſſagiers ein Spaniſcher Pfaff vnnd ein anſehenlicher Spanier genant Auguſtino Oſorio […]. Gottfried (1631:10): Newe Welt Vnd Americanische Historien

(74)

Auf dem Promenadedeck liegen verſchiedene Räume für die Paſſagiere, die Wohnung des Capitäns und die Kammern der Officiere […]. Schweiger-Lerchenfeld (1900:386): Im Reiche der Cyklopen

100% 90% 80% 70% 60% 50%

Passagiere

40% Passagiers

30% 20% 10% 0% 1631-1722

1723-1814

1815-1906

n=17

n=88

n=203

Abb. 21: Pluralformen von Passagier im Zeitraum von 1631 bis 1906

Ein Beispiel für mehrstufige Integration ist hingegen General. Hier gibt es auf dem Weg zum heute üblichen Generäle eine Zwischenstufe: Auf Generals folgte zunächst Generale (vgl. (75) bis (77) sowie Abb. 22). (75)

Die Generals des Alexanders haben keine Urſach, aber wohl Gelegenheit gehabt, ſein Reich unter ſich zu theilen […]. Chladni (1752:226-227): Allgemeine Geschichtswissenschaft

122 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

(76)

Die Generale des Kaiſers ſahen ſich unterdeſſen aus Mangel an Truppen und an Geld zu der mißlichen Wahl gebracht, entweder den Koͤ nig von Schweden oder die Deutſchen Reichsſtaͤ nde außer Augen zu laſſen […]. Schiller (1792:192): Geschichte des dreyßigjährigen Kriegs

(77)

[…]keine Schlacht gewinnen würde, der statt der allgemeinen Befehle an die Generäle über die Aufstellung und Verwendung der Truppen, von vornherein Specialbefehle […] geben wollte […]. Roux (1881:71): Der Kampf der Teile des Organismus

100% 90% 80% 70% 60% Generäle

50% 40%

Generale

30%

Generals

20% 10% 0% 1650-1733

1734-1817

1818-1900

n=44

n=173

n=407

Abb. 22: Pluralformen von General im Zeitraum von 1650 bis 1900

Im Laufe der Entwicklung hin zum heute üblichen Plural mit Umlaut und -e nimmt die Intensität der Strukturaffizierung durch den Pluralmarker auf jeder Stufe zu. Auf den Transparenzplural -s folgt -e, das im Gegensatz zum Transparenzplural für eine zusätzliche Silbe und Resilbifizierung sorgt. Als letzter Schritt kommt dann mit dem Umlaut auch Stammmodulation hinzu, indem sich nun die Vokalqualität der Pluralform von der des Singulars unterscheidet. Der Übergang zu Umlaut + -e ist in dem hier dargestellten Zeitraum nur angedeutet; im mittleren und im letzten Abschnitt lässt sich die steigende Frequenz dieser Pluralmarkierung erkennen. Nach dem dargestellten Zeitraum setzt sich diese

Fremdwörter | 123

Markierung dann durch (was anhand von Daten aus dem DTA nicht nachvollzogen werden kann): Im Gegenwartsdeutschen sind sowohl Generals als auch Generale deutlich weniger frequent als Generäle. Diese Entwicklung hin zu einem Pluralmarker, der besonders stark strukturaffizierend ist, ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie morphologische Schemakonstanz und die saliente Markierung grammatischer Information miteinander in Verbindung stehen. Je geringer der Schonungsbedarf eines Wortes ist, desto stärker können Wortformen von der Basiskategorie, dem Nominativ Singular, abweichen.37 Die hier zu beobachtende morphologische Integration verläuft stufenweise und richtet sich nach dem Schonungsbedarf des Fremdworts ‒ voranschreitende Integration bedeutet hier steigende Affizierung des Wortkörpers durch die Pluralmarkierung (vgl. Tab. 34). Die Gewichtung der beiden konkurrierenden Motivationen verschiebt sich nach und nach in Richtung salienter Markierung des Plurals, während kurz nach der Entlehnung des Fremdworts die Priorität zunächst klar auf der morphologischen Schemakonstanz lag. Tab. 34: Unterschiede zwischen der Singularform und verschiedenen Pluralformen des Lexems General38

General ‒ Generals

General ‒ Generale

General ‒ Generäle

Umlaut

X

X



Resilbifizierung

X





zusätzliche Silbe

X





Plural overt markiert







Neben dem zeitlichen Ablauf der einzelnen Integrationsverläufe ist auch hier das Zusammenspiel von graphematischer und morphologischer Integration aufschlussreich. Die beiden Ebenen der Integration scheinen zu korrelieren, was im vorigen Abschnitt auch anhand der Genitivmarkierung von Klima/Clima schon angedeutet wurde. Unter den graphematischen Varianten der hier untersuchten Lexeme sind die folgenden auf die Schreibweise des entsprechenden Wortes in der Gebersprache zurückzuführen: Balcon auf das französische balcon, Capitain bzw. Capitän auf das altfranzösische capitaine (man beachte || 37 Vgl. Wegener (2004: 82) für eine Diskussion der Frage, inwiefern der zusätzliche Umlaut in Generäle funktionale Vorteile hat. 38 Die in Tab. 32 ebenfalls thematisierte Palatalisierung des Endkonsonanten spielt hier keine Rolle.

124 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

beide Merkmale, die zu Variation im Deutschen führen: das initiale sowie ), Consul auf Vorbilder in romanischen Sprachen (die das Substantiv ihrerseits aus dem Mittellateinischen übernommen haben), z.B. das französische consul, Officier auf das französische officier und Souverain auf das ebenfalls französische souverain (Pfeifer 21993).39 Diese aus der Gebersprache entlehnten Schreibweisen konstituieren Graphem-Phonem-Korrespondenzen, die im graphematischen System des Deutschen nicht vorgesehen sind und werden allmählich durch systemkonforme Verschriftungen ersetzt, was zu Variation im Sprachgebrauch führt. Der Stand dieses graphematischen Integrationsprozesses korreliert mit dem Status des jeweiligen Lexems bzgl. der morphologischen Integration: Graphematisch nicht integrierte Tokens werden signifikant häufiger mit -s pluralisiert als ihre graphematisch integrierten Pendants. Das zeigt Tab. 35: Pro graphematischem Fremdheitsmerkmal ist hier jeweils getrennt der Anteil des s-Plurals an der Gesamtzahl der jeweiligen (graphematisch übereinstimmenden) Pluralformen aufgeführt. Daneben wird auch die Gesamtzahl der Pluralbelege für die graphematischen Varianten ausgewiesen. Unter den 112 Pluralbelegen des Lexems Kapitän, die mit verschriftlicht wurden, weisen z.B. 97,3 % den s-Plural auf. Die Prozentangabe der graphematischen Variante mit dem höheren s-Plural-Anteil ist grau hinterlegt. Angegeben sind außerdem die Differenzen zwischen den s-Plural-Anteilen der graphematisch integrierten und der graphematisch nicht integrierten Variante (in Prozentpunkten), ein per FisherYates-Test errechneter p-Wert zur statistischen Signifikanz dieser Differenzen sowie odds ratios, die die Bedeutsamkeit der signifikanten Unterschiede beziffern. Lediglich bei Balkon/Balcon wird die graphematisch nicht integrierte Variante nicht signifikant häufiger mit s-Plural verwendet. Ein sehr starker Unterschied ist interessanterweise bei Kapitän/Capitän/Capitain (bzgl. beider Fremdheitsmerkmale) und Souverän/Souverain zu beobachten ‒ den beiden Lexemen, die über den beobachteten Zeitraum hinweg keine Entwicklung bzgl. des Pluralmorphems erkennen ließen. Obwohl keine solche Entwicklung zu erkennen war, scheint ein Zusammenhang zwischen graphematischer und morphologischer Variation zu bestehen. Offenbar beeinflusst die Anwesenheit oder Abwesenheit bzw. die Anzahl von (in diesem Fall graphematischen) Fremdheitsmerkmalen die Wahl des Pluralmarkers. Es ist also davon auszugehen, dass

|| 39 Graphematische Varianten, die nicht auf die Schreibung des Lexems in der Gebersprache zurückzuführen sind, sind Jngenieur (zu Ingenieur) und Vampyr (zu Vampir).

Fremdwörter | 125

graphematische und morphologische Integration nicht nur parallel ablaufen (können), sondern sich auch direkt beeinflussen.40 Tab. 35: Der Zusammenhang von graphematischer und morphologischer Integration bei fünf Lexemen

Lexem

Kapitän

graphematisch nicht integriert

graphematisch integriert

97,3%

11,4%

Capitain

Kapitän/Capitän

112

79

71,7% Kapitän

Souverän

Offizier

Kapitän

159

32

Konsul

Balkon

odds ratio

-85,9%

< 0,001***

261,5866

-59,2%

< 0,001***

17,4431

-38,2%

< 0,001***

41,0525

-30,7%

< 0,001***

26,33533

-7,2%

< 0,001***

5,803513

2,8%

> 0,05



1,6%

Souverain

Souverän

229

191

32,5%

1,8%

Officier

Offizier

1302

1506

8,8%

p (FisherYates-Test)

12,5%

Capitän/Capitain

39,7%

Differenz

1,6%

Consul

Konsul

683

184

46,2%

49,0%

Balcon

Balkon

13

51

|| 40 Interessant wäre es an dieser Stelle auch, phonologische Integration mit einzubeziehen (z.B. bzgl. der Aussprache-Varianten von Balkon), was ausschließlich mit schriftlichen Daten aber nicht seriös geleistet werden kann.

126 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

4.1.3 Morphologische Integration: Genitiv- und Pluralmarker im Vergleich Im vorigen Abschnitt konnte anhand von Korpusdaten die These von Wegener (z.B. 2004) untermauert werden, dass diachrone und synchrone Variation bzgl. der Pluralmarkierung von Fremdwörtern unter anderem damit zu erklären ist, dass mit steigender Bekanntheit eines Wortes morphologische Integration einsetzt und der zunächst zugewiesene s-Plural nach und nach durch systemkonforme Alternativen ersetzt wird.41 Der s-Plural erweist sich somit häufig als Übergangsplural, dessen Funktionalität darin besteht, die Wiedererkennbarkeit eines Fremdworts zu unterstützen. Sowohl der Variation zwischen -s und -Ø im Genitiv Singular als auch der Variation bzgl. der Pluralmarkierung von Fremdwörtern liegen die gleichen Motivationen zugrunde: Systemkonformität und die saliente Markierung grammatischer Informationen auf der einen Seite und morphologische Schemakonstanz auf der anderen Seite. Die Variation ergibt sich aus der Konkurrenzsituation der beiden nicht miteinander zu vereinbaren Motivationen und diachron aus einem sich verändernden Ranking: Die morphologische Schemakonstanz verliert bei steigender Bekanntheit eines Fremdworts an Bedeutung; Systemkonformität bzw. die saliente Kodierung grammatischer Informationen wird die dominierende Motivation. Bei beiden Phänomenen wurde außerdem deutlich, dass morphologische und graphematische Integrationsprozesse Hand in Hand gehen. Dabei laufen sie nicht nur parallel ab, sondern beeinflussen sich auch gegenseitig. Ein Unterschied zwischen den untersuchten Bereichen besteht bzgl. der Apostrophe. Während die Syngrapheme im Genitiv Singular bei den untersuchten Belegen eine verhältnismäßig wichtige Rolle spielen, sind sie bei den Pluralformen überhaupt nicht belegt. Dies mag daran liegen, dass die Verwendung morphographischer Apostrophe sich erst allmählich von Genitiven auf Pluralformen ausweitet (vgl. Nübling 2014: 106). Dass die beiden eng miteinander verwandten Phänomene bei Fremdwörtern anhand verschiedener Lexeme untersucht werden mussten, liegt an den insgesamt zu geringen Belegzahlen. Die für den Plural untersuchten Lexeme weisen nicht genug Genitivbelege auf und die für den Genitiv untersuchten Lexeme nicht ausreichend Pluralbelege. Die Frage, inwiefern Unterschiede

|| 41 Von einigen Aspekten, etwa dem Einfluss der Phonologie auf diesen Prozess, wurde hier abstrahiert, da auch ohne diese Aspekte die hier maßgebliche Konkurrenzsituation von Systemkonformität und morphologischer Schemakonstanz deutlich wird. Für detailreichere Ausführungen zum s-Plural siehe vor allem Wegener (2004).

Fremdwörter | 127

zwischen den beiden Stichproben ‒ z.B. sind die Genitiv-Lexeme lateinischen und griechischen Ursprungs, während die Plural-Lexeme vor allem aus dem Französischen stammen, hinzu kommen phonologische Unterschiede ‒ Rückschlüsse auf allgemeine Aspekte der Variation zulassen, muss an dieser Stelle aus Mangel an Belegen offenbleiben. Zum Einfluss phonologischer Faktoren auf die Variation siehe aber Abschnitt 4.2. Möglicherweise liegen die relevanten Lexeme schlicht unterschiedlich oft in der jeweiligen Ausprägung vor. Dafür spricht unter anderem, dass sich für die meisten Lexeme auch Variation bzgl. der hier nicht untersuchten Kategorie belegen lässt ‒ aber eben nicht genügend Belege im Korpus zu finden sind (vgl. (78) bis (81)). (78)

Mit dieſer äußeren Entwickelung der Embryos zur Keimpflanze entleeren ſich allmählich die Keimblätter und der Mehlkörper des Samens […]. Krafft (1875:18): Lehrbuch der Landwirthschaft, Bd. 1

(79)

Daher erſcheinen die Embryonen des Menſchen und der Menſchenaffen auch ſpäter noch höchſt ähnlich […]. Haeckel (1899:76): Die Welträthsel

(80)

Ganz ſtill ſetzten ſie ſich auf die ſchmale Steinbank, welche dem Eiſengitter des Balkon entlaͤ ngs lief, und fluͤ ſterten kaum hoͤ rbare Worte. Fouqué (1812:62-63): Magie der Natur

(81)

Endlich aber erſchien einer in unmittelbarer Nähe des Balkons, und reckte den Hals, als ob er etwas ſagen wollte. Fontane (1883:96): Schach von Wuthenow

Ein weiterer Aspekt, der diskussionswürdig erscheint, ist die Tatsache, dass morphologische Integration mehrstufig verlaufen kann, was am Beispiel der Pluralformen von General gezeigt wurde. Die Integration verläuft in zwei, wenn man wie Wegener (2004: 50) die entlehnte Pluralform mitzählt, in drei Stufen: generaux > Generals > Generale > Generäle. Eine solche Mehrstufigkeit scheint es auf den ersten Blick bei der Variation zwischen -s und -Ø im Genitiv Singular nicht geben zu können. Allerdings ergibt sich ein anderes Bild, wenn man auch den Apostroph und die silbische Endung -es mit einbezieht: Die vier Varianten der starken Genitivmarkierung (bzw. Nichtmarkierung) am Substantiv kann

128 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

man entsprechend der Auswirkungen auf den Wortkörper des Substantivs sortieren (vgl. Abb. 23). -Ø stellt die radikalste und effektivste Form der Wortschonung dar. Wird das -s per Apostroph vom Wortstamm abgetrennt, wird dieser auf diese Weise geschont, obwohl ein Flexiv realisiert wird. ’s stellt insofern also eine Kompromisslösung zwischen -Ø und -s dar. Das Flexiv -s, das sich nur graphematisch von ’s unterscheidet, affiziert den Wortkörper stärker als die beiden bisher thematisierten Varianten, aber weitaus weniger als -es, das immer für eine zusätzliche Silbe (und damit einen starken phonologischen Unterschied) sorgt, was sich im Zusammenhang mit der Auflösung der Auslautneutralisierung auch auf die Konsonanten auswirken sowie Resilbifizierung bewirken kann (z.B. Rad [ʁaːt] ‒ des Rads [ʁaːts] vs. des Rades [ʁaː.dəs]). Das silbische -es beeinträchtigt den Wortkörper also am stärksten.



’s

-s

Peripherie:

des Barock

?des Barock’s

des Barocks

*des Barockes

Zentrum:

*des Bild

*des Bild’s

des Bilds

des Bildes

max. Wortschonung

-es

max. Affizierung

Abb. 23: Der Einfluss verschiedener Genitivmarker auf den Wortkörper eines Substantivs42

Die vier Möglichkeiten sind entsprechend des Schonungsbedarfs eines Wortes distribuiert: Nativen Appellativen, die keinen gesonderten Schonungsbedarf aufweisen, wird -s oder -es zugewiesen. Die wortschonenden Varianten -Ø und -’s sind hier nicht motiviert und deshalb ungrammatisch (zur empirischen Fundierung dieses Urteils s. Kapitel 2).43 Auf der anderen Seite werden periphere Substantive, die einen hohen Schonungsbedarf aufweisen, mit -Ø verwendet, siehe z.B. Embryo kurz nach der Entlehnung (s. Abb. 15 in Abschnitt 4.1.1). Bei verringertem Schonungsbedarf wird zunehmend auch -s verwendet. Zusätzlich

|| 42 Ausgeklammert wurden hier die marginalen Marker -(e)ns (z.B. des Herz-ens) und das rein graphematische -’ (z.B. des Rhythmus’). 43 Zu phonologischen Aspekten der Variation zwischen -s und -es vgl. Szczepaniak (2010a), zu außersprachlichen Einflüssen vgl. Szczepaniak (2014); siehe auch Fehringer (2011) und Bubenhofer, Hansen-Morath & Konopka (2014) sowie Konopka & Fuß (2016).

Fremdwörter | 129

bestünde die graphematische Variante mit Apostroph, die ‒ anders als im 19. Jahrhundert ‒ im Gegenwartsdeutschen wohl aus normativen Gründen eine untergeordnete Rolle spielt (vgl. Abschnitt 4.1.1.2). Die am stärksten wortkörperaffizierende Variante -es ist hingegen keine Option für periphere Substantive. Formen wie *des Punkes oder *des Barockes sind aufgrund des Fremdwortstatus des Substantivs (im Gegensatz z.B. zu des Dankes) ungrammatisch.44 Selbst wenn ein peripheres Substantiv auf [s] endet (z.B. Idealismus) und -es die einzige Möglichkeit darstellt, Kasus am Substantiv zu markieren, wird die silbische Genitivendung in aller Regel dispräferiert. Die Vermeidung eines sehr stark wortkörperaffizierenden Flexivs im Sinne der morphologischen Schemakonstanz wird in der Regel also höher gerankt als die saliente und in diesem Falle redundante Markierung grammatischer Informationen ‒ Kasus wird deshalb (übrigens im Einklang mit den Regeln vieler Grammatiken, vgl. z.B. DudenGrammatik 92016: 197) nicht am Substantiv ausgedrückt: des Idealismus statt *des Idealismusses.45 Für native Appellative gilt diese Regelung hingegen nicht, da kein erhöhter Schonungsbedarf vorliegt: *des Ausschuss vs. des Ausschusses (vgl. Tab. 36). Tab. 36: Der Einfluss von [s] als finalem Laut auf die Realisierung eines Flexivs bei nativen Appellativen und peripheren Substantiven

Finaler Laut = [s]

Finaler Laut ≠ [s]

p (FisherYates-Test)

odds ratio

-Ø vs. -es

Anteil von -Ø

-Ø vs. -(e)s

Anteil von -Ø

native Appellative

4|270

1,5%

34|2904

1,2%

> 0,05



periphere Substantive

137|38

78,3%

444|1169

27,5%46

< 0,001***

9,477421

|| 44 Hinzu kommen phonologische Beschränkungen, wie z.B. die Vermeidung von Hiaten, die dafür sorgen, dass manche Fremdwörter nicht die silbische Genitivendung tragen können (z.B. *des Embryo-es). Bei vielen Wörtern spielen diese Beschränkungen aber keine Rolle; hier resultiert die Ungrammatikalität nur aus der hoch gerankten morphologischen Schemakonstanz. 45 Dass die silbische Genitivendung nicht gewählt werden kann, ist ein Fremdheitsmerkmal, das auch bei solchen Wörtern auftritt, deren Grundformen keine Fremdheitsmerkmale aufweisen: Brett ‒ des Brettes aber Tipp ‒ *des Tippes (vgl. Eisenberg 2011: 27). 46 Der Anteil von -Ø ist hier relativ niedrig, weil Fremdwörter den größten Teil der 444 Substantive ausmachen und diese im Vergleich zu Kurzwörtern und Eigennamen die niedrigste Tendenz in Richtung s-Losigkeit aufweisen (vgl. Abschnitt 2.4.1.1).

130 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

Tab. 36 zeigt anhand von Daten der in Kapitel 2 thematisierten Stichprobe, dass der [s]-Auslaut bei nativen Appellativen keinen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit hat, dass das Genitivflexiv ausgelassen wird.47 Bei peripheren Substantiven ist der Einfluss dieses Auslauts zugunsten von -Ø im Gegensatz dazu relativ stark. In diesem Zusammenhang spielen auch Betonungsmuster eine wichtige Rolle: Auf [s] auslautende Fremdwörter, die nicht auf der letzten Silbe betont sind (z.B. Status, Realismus oder Daktylus), neigen sehr stark zur Auslassung des Genitivflexivs. Bei Fremdwörtern mit betonter Endsilbe wird das silbische Flexiv hingegen häufiger realisiert, z.B. des Prozesses (vgl. Duden-Grammatik 9 2016: 197). In diesen Fällen sorgt -es dafür, dass ein degenerierter phonologischer Fuß (also die im Deutschen untypische Betonung der Endsilbe) zu einem Trochäus (ggf. mit Auftakt) erweitert wird.48 Die Entscheidung, ob ein silbisches Flexiv realisiert wird, hängt hier offenbar auch von der phonologischen Struktur des Fremdworts ab, da das -es je nach Lexem entweder einen im Deutschen untypischen bzw. degenerierten phonologischen Fuß verursacht oder „repariert“ (vgl. (82) vs. (83)).49 Trochäen werden im Gegenwartsdeutschen präferiert, andere Fußtypen werden dispräferiert.50 (82)

Nicht endbetont: des (Status) vs. ?(Statuss)es ˈx x

(83)

ˈx x

x

Endbetont: des ?(Prozess) vs. Pro(zesses) x ˈx

x ˈx x

Bei nativen Appellativen ist im Gegensatz dazu die Motivation der systemkonformen salienten Markierung grammatischer Informationen so bedeutsam, dass prosodische Anforderungen keinen Einfluss darauf haben, ob ein Genitivmorphem realisiert wird oder nicht.51 Unabhängig von ihrer phonologischen Struk|| 47 Diese Daten wurden bereits in Abschnitt 2.4.2.1 in Tab. 14 thematisiert, die hier als Tab. 36 wiederholt wird. 48 Terminologisch richte ich mich hier nach Fuhrhop & Peters (2013). 49 Zur Frage, in welchem Zusammenhang diese Beobachtung mit Regularitäten bei der Pluralbildung im Deutschen stehen, vgl. Eisenberg (1991) und Szczepaniak (2010a: 106). 50 Die Frage, inwiefern für das Deutsche überhaupt andere Fußtypen als der Trochäus anzunehmen sind (also Prozess z.B. als Jambus oder als degenerierter Trochäus mit Auftakt zu analysieren ist), wird hier nicht weiterverfolgt. Vgl. dazu z.B. Maas (22006) und Hall (22011). 51 Die phonologische Struktur hat natürlich einen Einfluss auf die Allomorphie (z.B. erhalten trochäische Substantive wie bspw. Vater im Gegenwartsdeutschen immer -s und nie -es) ‒

Fremdwörter | 131

tur erhalten native Appellative mit finalem [s] immer die silbische Endung -es. So werden z.B. auch trochäische native Appellative, die auf [s] auslauten, im Gegensatz zu gleich strukturierten Fremdwörtern mit der silbischen Endung -es versehen: des Ausschuss-es vs. *des Ausschuss. Erst die Kombination aus Schonungsbedarf und Anforderungen bzgl. des Betonungsmusters kann demnach zur verstärkten Auslassung des Flexivs führen; Anforderungen bzgl. des Betonungsmusters allein reichen nicht dazu aus, -Ø zu legitimieren. Bei peripheren Substantiven mit erhöhtem Schonungsbedarf scheinen sich beide Motivationen aber gegenseitig zu stützen, was zu dem besonders hohen Anteil an -Ø bei peripheren Substantiven mit auslautendem [s], die nicht auf der finalen Silbe betont sind, führt. Neben dem Einfluss phonologischer Aspekte zeigt sich bei der Distribution von -s und -es auch der Einfluss des Integrationsstatus eines Wortes. Grundsätzlich gilt, dass Fremdwörter das besonders strukturaffizierende Flexiv -es nicht erhalten. Lediglich bei besonders weit vorangeschrittener Integration wird -es gelegentlich verwendet (vgl. Duden-Grammatik 92016: 197).52 Dies gilt sowohl für Substantive, die auf [s] auslauten als auch für Substantive mit anderem Auslaut (vgl. (84) und (85)).53 Lehnwörter (also Lexeme wie das auf das lateinische discus zurückgehende Tisch, die hinsichtlich phonologischen und graphematischen Merkmalen sowie der Pluralmarkierung keine Fremdheitsmerkmale aufweisen) unterliegen (abgesehen von den phonologischen Merkmalen, denen auch native Appellative unterliegen) keinen Beschränkungen bzgl. der langen Genitivendung (vgl. (86)). (84)

Das beim Aushöhlen des Kürbisses angefallene Fruchtfleisch schmeckt übrigens sehr lecker.

|| prosodische Merkmale alleine können aber nicht dazu führen, dass überhaupt kein Flexiv realisiert wird. 52 Hier spielen auch außersprachliche Gründe eine Rolle, z.B. die „stilistische Aufwertung der langen Genitivendung“ (Szczepaniak 2014: 47). Diese Aufwertung führt wohl dazu, dass schneller und häufiger die lange Endung verwendet wird, ändert aber nichts an der Tatsache, dass zunächst einmal Integration stattfinden muss. 53 Kürbis wurde laut Pfeifer (21993) während der ahd. Periode aus dem Lateinischen entlehnt, Referat zu Beginn des Nhd.

132 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

(85)

Am Ende eines Referates ist es besonders nützlich, eine kleine Zusammenfassung zu geben.

(86)

Seine geballte Faust landete auf dem schweren Holz des Tisches und das Geräusch ließ Hikari erschreckt zusammenfahren.

Mit der Beobachtung, dass Fremdwörter erst bei besonders starker Integration mit der silbischen Genitivendung verwendet werden, gelangen wir nun zurück zur Ausgangsfrage, ob auch bzgl. der Kasusmarkierung eine mehrstufige Integration möglich ist. Wenn man die Endungen -Ø, -s und -es (sowie ggf. die graphematische Variante mit Apostroph) als Etappen einer Entwicklung ansieht, scheint diese Frage mit Ja zu beantworten zu sein, da das (Nicht-)Vorkommen der Flexive immer stark an den Integrationsstatus eines Wortes gekoppelt ist, der sich auch in anderen morphologischen, phonologischen und graphematischen Eigenschaften manifestiert. Die verschiedenen Phasen, die ein Fremdwort durchläuft, sind in der Regel durch (oft auch starke) Variation gekennzeichnet. Die oben vorgeschlagenen Etappen sind deshalb idealisierte Konstrukte, die sich zudem stark überlappen. Nichtsdestoweniger scheint aber die hier vorgeschlagene Phasen-Gliederung eine empirische Fundierung zu haben, und zwar dergestalt, dass die Präferenz für eine bestimmte formseitige Ausprägung des Genitivs pro Lexem jeweils historisch gebunden ist. Abb. 23 (s. oben) hat deshalb bzgl. der Fremdwörter durchaus auch eine diachrone Lesart und veranschaulicht, welche Endungen möglich sind/werden/wurden und wie sich im Laufe der Zeit die Präferenz für eine bestimmte Endung verschieben kann – ohne dabei vorherzusagen, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt keine Variation mehr zu beobachten ist und sich -es gänzlich durchsetzt. Die Sätze in (87) bis (89) veranschaulichen die mögliche Entwicklung eines Lexems. (87)

Zur Pflege des Sport hatten die englischen Officiere einen Club gestiftet, den sie mit indischem Ausdruck Džim-kana nannten. Martens (1873:21): Die preussische Expedition nach Ost-Asien, Bd. 4

(88)

Als Schriftſteller iſt er beſonders auf dem Gebiete des Sports für zahlreiche Blätter tätig, und zahlreiche Reiſen ins Ausland haben ihn in Verbindungen mit den bedeutendſten Sportsleuten gebracht. Brümmer (1913:73): Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten, Bd. 3

Fremdwörter | 133

(89)

Direktor Pastor Hermann Adam hob die Wichtigkeit des Sportes für ein Leben in Vielfalt hervor.

Die hier vorgestellte Skala (vgl. Abb. 23, s. oben) lässt sich nun einreihen in die Vielzahl der anderen Aspekte, die beim Integrationsprozess von Fremdwörtern eine Rolle spielen. Ein solcher komplexer Integrationsprozess kann mithilfe eines Polygons schematisch dargestellt werden (vgl. Abb. 24).54

Abb. 24: Schematische Darstellung des komplexen Integrationsprozesses eines Fremdworts

Jede hier als Pfeil dargestellte Achse steht für eine relevante phonologische (z.B. Fremdlaute, Anzahl der betonbaren Vokale), graphematische (z.B. Fremdgrapheme, Abweichungen von Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln) oder morphologische (z.B. Realisierung des Genitivs, Realisierung des Plurals) Eigenschaft des betreffenden Wortes. Der Integrationsgrad eines Wortes hinsichtlich des jeweiligen Aspekts wird durch einen Punkt auf der entsprechenden Achse dargestellt. Durch die Verbindung dieser Punkte erhält man ein Polygon. Je kleiner die Fläche des Polygons ist, desto besser ist ein Wort integriert. Je größer || 54 Die Darstellungsweise ist an die Visualisierung des Präpositionalitätsgrades junger Präpositionen in Lindqvist (1996: 248) angelehnt.

134 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

die Fläche ist, desto eindeutiger kann ein Wort der Peripherie zugeordnet werden. Die Pfeile deuten in Richtung des lexikalischen Zentrums der betreffenden Sprache. Integrationsprozesse werden hier demnach als Verkleinerung der Polygonfläche dargestellt. Die Achsen sind als stufenlose Skalen zu verstehen. Stufenlosigkeit ist hier deshalb wichtig, weil Wandel nicht abrupt vonstattengeht und Variation berücksichtigt werden soll. Übergänge zwischen verschiedenen Etappen des Integrationsprozesses sind fließend. Pro Achse können mehrere Fremdheitsmerkmale eines Wortes relevant sein (z.B. beide nasalierten Vokale in Chanson: [ʃɑ͂ sɔ͂ ]). Diachrone Entwicklungen in Richtung des Zentrums können (z.B. des Klima > des Klimas), müssen aber nicht zwangsläufig eintreten (z.B. ist es derzeit nicht absehbar, dass Büro den betonbaren Vokal in der Nebensilbe verliert). Wenn diese so weit gehen, dass ein Wort hinsichtlich aller Eigenschaften im Zentrum angelangt ist, da es alle Fremdheitsmerkmale abgelegt hat, handelt es sich bei dem betreffenden Wort nicht mehr um ein Fremdwort, sondern ein Lehnwort. Dies ist z.B. bei Tisch der Fall, das auf das lateinische discus zurückgeht (vgl. Pfeifer 21993).

4.1.4 Aktuell ablaufende Integrationsprozesse Alle Aspekte, die in diesem Kapitel behandelt wurden, untermauern die Bedeutung der morphologischen Schemakonstanz und zeigen, dass mit der Konkurrenz von morphologischer Schemakonstanz und salienter Kodierung grammatischer Informationen ein beträchtlicher Teil der synchronen und diachronen Variation bzgl. der Genitivendung und verwandter Phänomene erklärt werden kann.55 So

|| 55 Die Konkurrenz dieser beiden Motivationen kann natürlich nicht das flexionsmorphologische Verhalten aller Fremdwörter erklären. So werden mehrsilbige, endbetonte Maskulina häufig unmittelbar nach ihrer Entlehnung in die schwache Deklination integriert, vor allem dann, wenn sie das semantische Merkmal [+menschlich] aufweisen (z.B. des Kosovaren und des Journalisten vs. [-belebt]: des Krokants und des Transits). Bei denjenigen Substantiven, die nicht auf Schwa enden, wird mit -en ein besonders strukturaffizierendes Flexiv realisiert (z.B. des Journalist-en). Hier ist morphologische Schemakonstanz also nicht wirksam, obwohl es sich bei den Entlehnungen prinzipiell um schonungsbedürftige Wörter handelt. Die Tendenz, Substantive mit den beschriebenen speziellen semantischen und phonologischen Merkmalen schwach zu deklinieren, setzt sich hier gegen morphologische Schemakonstanz durch. Die Produktivität und auch die Stabilität der Klasse der schwachen Maskulina, die häufig auch im Zusammenhang mit differenzieller Objektmarkierung gesehen wird (vgl. z.B. Dammel & Gill-

Fremdwörter | 135

erklärt z.B. das Phänomen der morphologischen Integration den relativ geringen Anteil an Genitiv-s-Losigkeit bei den in Kapitel 2 besprochenen Fremdwörtern: Viele der dort (z.B. aufgrund phonologischer Merkmale) als Fremdwort klassifizierten Substantive sind morphologisch bereits integriert und werden in der Regel mit Genitiv-s  verwendet.  Wie so oft liefert die Untersuchung von Sprachwandelprozessen auch hier Erklärungen für gegenwartssprachliche Phänomene. Die Feststellung, dass Fremdwörter nach ihrer Entlehnung einen erhöhten Schonungsbedarf aufweisen und zunächst morphologisch gesondert behandelt werden, wurde hier am Beispiel von Fremdwörtern, die zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert entlehnt wurden, diskutiert. Dass dies auch für junge Fremdwörter im Gegenwartsdeutschen Relevanz hat, zeigt die Entwicklung, die das sehr frequente Fremdwort Internet vollzogen hat, was in Abb. 25 anhand von Daten aus dem DeReKo dargestellt wird.56 Der Integrationsprozess ist offenkundig und verläuft überraschend konsequent: Während Internet zunächst ohne Genitivflexiv verwendet wurde, ist der Anteil von -Ø seitdem kontinuierlich (beinahe stetig, selbst wenn man wie hier einzelne Jahre betrachtet) gesunken und liegt mittlerweile unter 5 %. Die Verwendung von -s dominiert inzwischen deutlich. In diesem Sinne ist Internet ein besonders anschauliches Beispiel für morphologische Integration. Repräsentativ für die Geschwindigkeit von Integrationsprozessen ist Internet aber nicht, da die Integration hier sehr viel schneller abläuft als bei anderen Wörtern. Dies hängt mit dem enormen Frequenzzuwachs zusammen, der in Abb. 26 dargestellt ist.57 Als Vergleichswert ist dort auch die Frequenz von Universum abgebildet, um die Dimensionen zu veranschaulichen, in denen sich Internet bewegt.

|| mann 2014: 209–211), wurde bereits ausführlich beschrieben und wird hier deshalb nicht weiter thematisiert (vgl. hierzu z.B. Köpcke 1995, 2000a, 2000b, Thieroff 2003, Eisenberg 2011: 219–222 und Schäfer im Druck). 56 Der Grafik liegen 13.739 Belege zugrunde. Ermittelt wurden alle Belege, in denen Internet oder Internets unmittelbar auf des oder eines folgt. Die Suche wurde in einem manuell erstellten Teilkorpus des Archivs W im DeReKo (2014-II) durchgeführt. Zur Zusammenstellung dieses Teilkorpus siehe S. 157. Alle Belege wurden manuell überprüft. 57 Diese Abbildung beruht auf Daten aus dem Teilkorpus, auf dem auch Abb. 25 basiert und das in Abschnitt 4.2.3 genauer erläutert wird.

136 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

Die Flexion von Internet 90,0% 80,0% 70,0% 60,0% 50,0% 40,0%

Anteil von -Ø

30,0% 20,0% 10,0% 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014

0,0%

Abb. 25: Die Flexion von Internet seit dem Jahr 1995

180 160 140 120 100 Internet 80 Universum

60 40 20

1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014

0

Abb. 26: Die Lemma-Frequenz (pro Millionen Tokens) von Internet und Universum seit 1990

Internet als Bezeichnung eines seit den 1990er Jahren besonders relevanten Konzepts verzeichnete einen extremen Frequenzzuwachs, der sich unmittelbar

Eigennamen | 137

auch auf die Flexion des erst kürzlich entlehnten Wortes auswirkt: Der Schonungsbedarf des immer vertrauter werdenden Wortes sinkt schnell, sodass sich die saliente Markierung grammatischer Informationen zügig als dominante Motivation durchsetzt. In einem Zeitraum von nur zehn Jahren sinkt der Anteil an Genitiv-s-Losigkeit um über 70 Prozentpunkte. Die Entwicklung von Internet zeigt, dass auch ein Teil der aktuell zu beobachtenden Variation im Genitiv Singular mit Sprachwandelprozessen erklärt werden kann und sich der weiter oben ausführlich dargelegte Erklärungsansatz nicht nur hinsichtlich des in Abschnitt 4.1.1 untersuchten Zeitraums seine Gültigkeit hat. Es ist davon auszugehen, dass viele gegenwartssprachliche Schwankungsfälle aus aktuell ablaufendem Sprachwandel resultieren – auch wenn aufgrund einer nicht ausreichenden Datengrundlage nicht immer diachrone Entwicklungen empirisch aufgezeigt werden können.

4.2 Eigennamen Ähnlich wie Fremdwörter unterscheiden sich auch Eigennamen in vielen Aspekten von prototypischen deutschen Substantiven. Diese Unterschiede betreffen phonologische, graphematische, aber auch syntaktische und semantische/semiotische Eigenschaften (vgl. hierzu ausführlich Nübling, Fahlbusch & Heuser 22015: 31–37 bzw. 67–90 und s. Abschnitt 4.2.1). Auch auf morphologischer Ebene zeigen Eigennamen ein divergierendes Verhalten, wobei die Markierung des Genitiv(s) nur einer von mehreren Gesichtspunkten ist. So werden Pluralformen von Eigennamen (heute) in aller Regel mit dem gestaltschonenden Flexiv -s gebildet, sodass zwischen Singular- und Pluralform hier (im Gegensatz zu vielen Appellativen) keine Unterschiede hinsichtlich Silbenanzahl, Silbenstruktur und Qualität der Konsonanten und Vokale bestehen (Eigenname: Koch – Kochs vs. Appellativ: Koch – Köche, vgl. hierzu auch die Ausführungen zum s-Plural bei Fremdwörtern in Abschnitt 4.1). Insofern verhalten sich Eigennamen wie nicht-integrierte Fremdwörter (vgl. Abschnitt 4.1) und Kurzwörter, deren flexionsmorphologisches Verhalten in Abschnitt 4.3 thematisiert wird. Hinsichtlich der Kasusmarkierung von Personennamen hat sich in der Geschichte des Deutschen sowohl syntagmatisch als auch paradigmatisch eine radikale Deflexion eingestellt: Während Personennamen noch im Ahd. reiche Allomorphie aufweisen und neben dem Genitiv – je nach Flexionsklasse – auch Dativ und Akkusativ overt am Eigennamen markiert werden, gibt es heute lediglich noch das -s, dessen Status in seiner typischsten Funktion (z.B. Manfred-s Haus) wohl am ehesten als Possessivmarker und nicht (mehr) als Genitivmarker zu beschreiben ist (vgl. hierzu ausführlich Ackermann 2018a). Die Verwendung

138 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

als „echter“ Kasusmarker ist noch möglich (z.B. der Geburtstag des kleinen Peter-s), gerät aber zusehends außer Gebrauch (der Geburtstag des kleinen Peter-Ø). Dativ und Akkusativ werden im Standarddeutschen nie am Namenkörper markiert.58 Darüber hinaus ist es auffällig, dass Personennamen im Gegensatz zu Appellativen im Diminutiv keinen Umlaut aufweisen (z.B. Paulchen vs. Mäulchen; Nübling 2012: 240). Andere Namenklassen (z.B. Orts- oder Warennamen) verhalten sich prinzipiell wie Personennamen (keine Allomorphie, Dativ59 und Akkusativ werden nie am Namen markiert), weisen bzgl. der „echten Kasusmarkierung“ aber ein höheres Maß an Variation auf.60 Diese Variation schlägt sich in den Daten nieder, die in Kapitel 2 beschrieben wurden. Der Prozentsatz s-loser Formen liegt für die Gesamtheit aller Eigennamen in der dort beschriebenen Stichprobe bei 61,1 % gegenüber 1,2 % für prototypische Substantive. Auch in dieser Hinsicht weichen Eigennamen also von zentralen Mitgliedern des substantivischen Bereichs ab, der Unterschied ist hier aber ein gradueller und kein kategorialer: Die Verwendung von -s als Genitivflexiv am Wortkörper ist bei Eigennamen nicht kategorisch ausgeschlossen, wird dort aber sehr viel seltener verwendet. Eine augenfällige Gemeinsamkeit dieser Beobachtungen zum grammatischen Sonderverhalten von Eigennamen ist die starke Tendenz, den onymischen Wortkörper zu schonen. Dies geschieht entweder auf paradigmatischer Ebene, indem ausschließlich gestaltschonende Morpheme gewählt werden (können), nämlich jeweils nichtsilbisches -s im Gegensatz z.B. zu den Genitivsuffixen -es und -en oder den Pluralmarkern mit Umlaut und/oder silbischen Suffixen wie -er oder -en, oder auf syntagmatischer Ebene, indem am Namenkörper selbst keine grammatische Information overt kodiert wird (z.B. die Unabhängigkeit des Kosovo-Ø). Morphologische oder (z.B. nach Nübling 2005: 50–

|| 58 Auch im Bereich der Appellative sind im Laufe der deutschen Sprachgeschichte Deflexionstendenzen zu beobachten, diese fallen aber weniger radikal aus als bei den Personennamen. Noch heute kann Kasus am Substantiv markiert werden: neben dem Genitiv im Singular auch alle obliquen Kasus der schwachen Maskulina (z.B. Ich traf einen netten Mensch-en). Außerdem gibt es Allomorphie (im Genitiv z.B. -s, -es, -(e)n, -(e)ns). 59 Eine Ausnahme bilden die seltenen Fälle von Eigennamen mit motiviertem appellativischem Letztglied im Plural, bei denen ein Dativ-Plural-n realisiert wird, z.B. in den Niederlande-n, in den Vereinigten Arabischen Emirate-n. 60 Mit „echten Kasusmarkierungen“ sind hier Konstruktionen des Typs die Geschichte des vereinten Deutschland-s gemeint, bei denen zweifelsfrei Kasusmarkierung (an Artikelwort und Substantiv) vorliegt. Diese Konstruktionen müssen von Possessiv-Konstruktionen des Typs Deutschland-s Geschichte unterschieden werden (vgl. Ackermann 2018a; s. auch Abschnitt 5.3.1).

Eigennamen | 139

51) onymische Schemakonstanz spielt offenkundig eine wichtige Rolle – der Wortkörper wird möglichst konstant gehalten, indem besonders wortkörperaffizierende Flexive vermieden werden oder der Wortkörper überhaupt nicht durch Flexion affiziert wird. Der besondere Wortschonungsbedarf von Eigennamen spiegelt sich nicht nur in den hier kurz skizzierten flexionsmorphologischen Besonderheiten wider, sondern z.B. auch in graphematischen Aspekten. In Abschnitt 4.1.1.2 wurde bereits der Apostroph als graphematische Wortschonungsstrategie thematisiert, die bei Eigennamen besonders relevant ist (Typ Goethe’s Werke). Eine weitere häufig angewendete Strategie, den Namenkörper möglichst unbeeinträchtigt und separat von anderen morphologischen Einheiten zu halten, stellen Bindestriche in Komposita dar (z.B. Israel-Lobby, merkel-typisch, vgl. hierzu Nowak & Nübling 2017: 133–134 sowie Schlücker 2018: 281–283). All diese Besonderheiten von Eigennamen lassen sich gut mit dem Streben nach Schemakonstanz zusammenfassen, worüber in der Literatur auch weitestgehend Konsens besteht. Die Gründe dafür, dass die Schemakonstanz hier eine besondere Relevanz hat, wurden bisher allerdings noch nicht im Einzelnen getestet, auch wenn vor allem in den Arbeiten von Nübling (2005: 37–41, 2012: 241–244 und 2014: 119), aber auch bei Gallmann (1989: 105), Eichinger (2013: 150–152) und Eisenberg (42013a: 145) plausible Erklärungsversuche und mögliche Faktoren genannt werden, die den besonderen Schonungsbedarf von Eigennamen zu begründen scheinen. Inwiefern die genannten Aspekte, die im anschließenden Abschnitt genauer erläutert werden, tatsächlich zur Erklärung des erhöhten Schonungsbedarfs von Eigennamen herangezogen werden können und wie diese Faktoren zusammenhängen, soll im Folgenden nun datenbasiert überprüft und analysiert werden. Wie oben bereits kurz angedeutet, stellt die Variation im Genitiv Singular einen Bereich dar, in dem der flexionsmorphologische Unterschied zwischen bestimmten Eigennamentypen und nativen Appellativen nicht kategorisch ist, sondern graduell, da -s immer möglich ist, aber viel seltener als bei nativen Appellativen verwendet wird. Das führt zu dem interessanten Sachverhalt, dass Eigennamen im Genitiv manchmal so gebraucht werden wie native Appellative (der höchste Gipfel des Gebirge-s, der höchste Gipfel des Himalaya-s), manchmal aber auch abweichend (der höchste Gipfel des Himalaya-Ø).61 Um nun Erklärungen für den erhöhten Schonungsbedarf von Eigennamen zu identifizieren,

|| 61 Eine vergleichbare Situation gibt es in anderen Bereichen nicht, so ist z.B. der Plural Bachs ausschließlich bei Eigennamen möglich, Bäche hingegen nur beim Appellativ. Flexionsmorphologische Überschneidungen gibt es hier nicht.

140 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

bietet sich die Analyse dieser Variation an, da man hier beobachten kann, welche Faktoren flexionsmorphologisch abweichendes Verhalten von Eigennamen befördern oder hemmen. In drei Teilstudien (vgl. Abschnitte 4.2.2 bis 4.2.4) werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit verschiedene Aspekte dieser Variation beleuchtet, die mit Blick auf die angestrebte Erklärung des Sonderverhaltens von Eigennamen relevant zu sein scheinen.

4.2.1 Mögliche Gründe für den erhöhten Schonungsbedarf von Eigennamen Folgende Aspekte werden im Zusammenhang mit dem erhöhten Schonungsbedarf von Eigennamen immer wieder genannt (vgl. Eichinger 2013: 150–152, Eisenberg 42013: 145, Gallmann 1989: 105, Nowak & Nübling 2017: 115–118 und Nübling 2012: 241–244, 2014: 119): –

Eigennamen weisen häufig eine (sehr) geringe Tokenfrequenz auf (Engadin, Karakorum)62



SprachbenutzerInnen sind mit vielen Eigennamen nicht vertraut (Engadin, Karakorum)



Eigennamen weisen häufig markierte phonologische Eigenschaften auf, z.B.





mehrere Vollsilben, während native Simplizia mit sehr wenigen Ausnahmen genau eine Vollsilbe haben (Neckar, Mississippi)63



jambische Akzentstruktur, während native typischerweise Trochäen sind (Berlin, Irak)

Simplizia

Eigennamen weisen häufig markierte graphematische Eigenschaften auf, z.B. –

Abweichungen von den Graphem-Phonem-KorrespondenzRegeln des Deutschen ([ʁ] – in Rhein oder [f] – in Euphrat)

|| 62 Die Tendenz, dass Eigennamen eine deutlich niedrigere Frequenz aufweisen als Appellative, wird im Anhang 3 mithilfe stichprobenartiger Korpus-Abfragen etwas näher beleuchtet. 63 Zu diesen Ausnahmen gehören z.B. Arbeit, Nachbar, Forelle und Holunder (Eisenberg 2001: 189).

Eigennamen | 141

Diese Aspekte betreffen verschiedene Namenklassen und darüber hinaus nicht nur Namen von Entitäten, die im deutschsprachigen Raum kaum eine oder keine Relevanz haben, sondern – wie auch die Beispiele zeigen – unter anderem auch Namen von Orten innerhalb des deutschsprachigen Raums. Dass diese Eigenschaften den erhöhten Schonungsbedarf begründen, ist plausibel, da man davon ausgehen kann, dass sie zu einer erschwerten/langsameren Worterkennung führen (was so aber selten explizit gemacht wird, vgl. z.B. Eichinger 2013: 150–152). In der psycholinguistischen Literatur sind diese Faktoren – teilweise unter anderer Terminologie und zum Teil mit anderem Fokus – ausführlich beschrieben worden. Wohl am besten nachgewiesen ist die Tatsache, dass eine geringe Tokenfrequenz zu einer langsameren Worterkennung und -verarbeitung führt (vgl. z.B. Balota, Yap & Cortese 22006: 312, Kuperman, Stadthagen-Gonzalez & Brysbaert 2012: 978). Eng mit diesem Aspekt verwandt ist der Faktor familiarity (vgl. hierzu ausführlich Gernsbacher 1984). Die Idee hinter dieser Variable ist, dass die Tokenfrequenz in großen Korpora zwar oft sehr gute Anhaltspunkte liefert, aber nicht unbedingt vollkommen verlässlich beschreibt, wie oft ein Individuum tatsächlich mit einem Token konfrontiert wird bzw. wie oft ein Token von einem Individuum verwendet wird. Das liegt unter anderem an der offenkundigen Tatsache, dass der individuelle Sprachgebrauch (gerade was den Wortschatz und Verwendungshäufigkeiten betrifft) durch eine Vielzahl an außersprachlichen Faktoren determiniert wird, man denke z.B. an Fachsprachen. Neben fachlicher Spezifizierung sind auch Alter, soziale Faktoren, persönliche Interessen, regionale Unterschiede usw. ausschlaggebend. Während diese Aspekte bei Funktionswörtern eine geringere Rolle spielen sollten, sind gerade im unteren Frequenzbereich und bei peripheren Substantiven besonders hohe Vertrautheitsunterschiede zwischen einzelnen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft zu erwarten. Ob man mit Wörtern wie RAM, iPhone oder Provider vertraut ist, hängt maßgeblich von außersprachlichen Faktoren ab. Viele SprachbenutzerInnen werden wohl selten mit diesen Begriffen konfrontiert, manche werden sie überhaupt nicht kennen – an den Vorkommenshäufigkeiten in allgemeinen Korpora lässt sich das aber nicht erkennen. Es ist anzunehmen, dass in vielen Fällen eine kleine Gruppe von SprachbenutzerInnen einen Begriff häufig verwendet und wahrnimmt, was für eine zumindest einigermaßen hohe Tokenfrequenz sorgt, während andere Gruppen von SprachbenutzerInnen denselben Begriff – trotz dieser vergleichsweise hohen Frequenz – nie verwenden, nicht wahrnehmen und ggf. sogar nicht kennen (vgl. auch Gernsbacher 1984: 277). Hinzu kommt, dass Korpora logischerweise nur eine sehr kleine Stichprobe der tatsächlich getätigten Äußerungen darstellen, meist vorwiegend eine be-

142 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

stimmte Textsorte enthalten und die Stichprobe mit Blick auf den tatsächlichen Sprachgebrauch nicht repräsentativ sein kann. So ist anzunehmen, dass einige im Alltag sehr geläufige Wörter (z.B. Teller, Kissen und Gabel, vgl. Tab. 37) in Korpora unterrepräsentiert sind, weil sie keinen typischen Gegenstand schriftlicher Texte darstellen und/oder typischerweise nicht Gegenstand der in mündlichen Korpora erfassten Kommunikation sind. Tab. 37 liefert diesbezüglich einige exemplarische Anhaltspunkte mit Daten aus DECOW14A01.64 Tab. 37: Lemma-Frequenzen in DECOW14A01

Lemma

Lemma-Frequenz in DECOW14A01

iPhone

52028

RAM

11231

Provider

9581

Teller

7789

Kissen

4894

Gabel

4839

Die Frequenz in Korpora ist ein Anhaltspunkt dafür, wie häufig ein Sprachbenutzer oder eine Sprachbenutzerin mit einem bestimmten Wort konfrontiert wird. Die tatsächliche Vertrautheit oder familiarity eines Individuums mit einem Wort lässt sich aber nicht unbedingt daraus ableiten. Um diesen Aspekt zusätzlich zur einfach zu operationalisierenden Frequenz berücksichtigen zu können, sind in verschiedenen Studien die individuell wahrgenommene Vertrautheit mit zu testenden Wörtern (z.B. Toglia & Battig 1978) oder Einschätzungen zur subjektiven Frequenz erhoben worden (z.B. Balota, Pilotti & Cortese 2001). Dabei stellte sich familiarity bzw. subjective frequency als unabhängiger Faktor heraus, der z.B. einen signifikanten Einfluss auf die Worterkennung in lexical decision tasks hat: Je vertrauter die Versuchspersonen mit einem Wort sind, desto schneller wird es erkannt (s. z.B. Balota, Pilotti & Cortese 2001: 645–646).

|| 64 Bei DECOW14 handelt es sich um eine neuere Generation der DECOW-Korpora, die hier verwendet werden konnte (vgl. Schäfer 2015). Diese ist umfangreicher und stellt mehr Metadaten zur Verfügung als die ältere Generation. Die Korpuserstellung basiert bei beiden Generationen aber auf den gleichen Prinzipien.

Eigennamen | 143

Neben geringer Frequenz und Unvertrautheit mit einem Wort ist bzgl. der Worterkennungsgeschwindigkeit auch relevant, inwiefern markierte formseitige Merkmale vorliegen. Studien zum Faktor neighborhood density zeigen, dass Wörter, die in ihrer Struktur stark von der Struktur anderer Wörter im Lexikon abweichen, langsamer gelesen und verarbeitet werden. Die Abweichung von der prototypischen Struktur im Lexikon wird in der psycholinguistischen Literatur als orthographic oder phonological neighborhood operationalisiert. Der entsprechende Wert ergibt sich aus der Anzahl der Wörter, die aus dem zur Debatte stehenden Wort abgeleitet werden können, indem genau ein Buchstabe (orthographic neighborhood, vgl. Coltheart et al. 1977: 544 und für einen Überblick Andrews 1997) oder genau ein Phonem (phonological neighborhood, vgl. Yates, Locker Jr. & Simpson 2004) verändert wird oder indem genau ein Element eingefügt, gelöscht oder ersetzt wird (Levenshtein distance, vgl. Levenshtein 1966 und Yarkoni, Balota & Yap 2008). Je größer die Anzahl an direkten Nachbarn ist, desto schneller wird ein Wort erkannt (vgl. Andrews 1997, Yarkoni, Balota & Yap 2008).65 Das gilt in dieser Weise allerdings nur für visuelle Worterkennung, die in den hier zitierten Untersuchungen getestet wurde. Der dort gemessene Effekt lässt sich wahrscheinlich nicht eins zu eins auf auditive Worterkennung übertragen. Hier gibt es sogar Hinweise darauf, dass eine hohe neighborhood density zu einer verlangsamten Worterkennung führen kann, was möglicherweise mit der modalitätsspezifischen Wahrnehmung von Wörtern erklärt werden kann (vgl. Yates, Locker Jr. & Simpson 2004). Da die in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden Genitive gerade auch ein schriftsprachliches Phänomen sind, wird der Aspekt der erschwerten visuellen Worterkennung durch eine geringe neighborhood density hier weiterverfolgt. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass modalitätsspezifische Unterschiede denkbar sind. Eine künftige Untersuchung, inwiefern sich diese möglichen Unterschiede auswirken und ob es weitere modalitätsspezifische Besonderheiten gibt, ist deshalb lohnenswert. Die in Abschnitt 2.4.7 analysierten Daten lassen leider keine Schlüsse in dieser Hinsicht zu, da z.B. Eigennamen im Genitiv in dem untersuchten Korpus gesprochener Sprache viel zu selten belegt sind. Während nun prototypische deutsche Substantive eine hohe neighborhood density aufweisen, ist dieser Wert bei vielen Eigennamen, die in ihren phonologischen und/oder graphematischen Eigenschaften von einem Großteil des Lexikons abweichen, erheblich geringer.66 Im Einklang mit den zahlreichen Experimenten,

|| 65 Bzgl. des Einflusses der Frequenz unmittelbar benachbarter Wörter gibt es keinen Konsens. Hier reichen die Ergebnisse von beschleunigenden bis zu verlangsamenden Effekten hoher Frequenzen der Nachbarwörter (vgl. Andrews 1997 und Yarkoni, Balota & Yap 2008). 66 Vgl. hierzu Anhang 4.

144 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

die gezeigt haben, dass eine geringe neighborhood density – zumindest bei visueller Wahrnehmung – zu einer verlangsamten Worterkennung führen, ist auch hier davon auszugehen, dass die Worterkennung langsamer verläuft als bei prototypischen Substantiven. Dieser Effekt ist bei niederfrequenten Wörtern besonders stark ausgeprägt (vgl. z.B. Yarkoni, Balota & Yap 2008: 977), was wiederum die Verarbeitungsunterschiede zwischen Appellativen und den insgesamt tendenziell weniger frequenten Eigennamen verstärkt (vgl. Anhang 3). Neben den bislang vorgestellten Faktoren, die sich unmittelbar auf die Worterkennungsgeschwindigkeit auswirken, werden im Zusammenhang mit der Erklärung des Schonungsbedarfs von Eigennamen auch diese weiteren Aspekte genannt, die im weiteren Verlauf näher erläutert werden: Eigennamen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer semiotischen Eigenschaften von Appellativen; die auf vielen sprachlichen Ebenen gegebenen Unterschiede zwischen Namen und Appellativen werden refunktionalisiert, um den Eigennamenstatus von Onymen formal zu markieren, und darüber hinaus scheint die Belebtheitshierarchie eine Rolle zu spielen. Die grundlegenden semiotischen Unterschiede zwischen Eigennamen und Appellativen sind in Abb. 27 dargestellt (nach Nübling 2000b: 277).

Ausdruck

Appellativ

Eigenname

Inhalt

Inhalt

Klasse von

Ausdruck

Objekt

Objekten

Abb. 27: Semiotische Unterschiede zwischen Eigennamen und Appellativen (nach Nübling 2000b: 277, basierend auf Ogden & Richards 1923)

Appellative haben eine Bedeutung und referieren auf eine Klasse von Objekten, wobei ein Bezug zu einem speziellen Objekt durch Mehraufwand hergestellt werden muss, z.B. via Deixis, Relativsatz oder definiter Beschreibung. Im Gegensatz dazu haben Eigennamen keine Bedeutung. Häufig (noch) vorhandene appellativische Bestandteile eines Namens (symbolisiert durch die gestrichelte

Eigennamen | 145

Linie auf der linken Seite des Eigennamen-Dreiecks in Abb. 27) spielen bei der Referenzleistung keine Rolle, auch wenn sie transparent sind bzw. erscheinen (symbolisiert durch die durchgestrichene Linie auf der rechten Seite des Eigennamen-Dreiecks in Abb. 27). Dass die Semantik der appellativischen Bestandteile blockiert ist, erkennt man gut an den viel zitierten Beispielen wie Düsseldorf und Nürnberg, die eben kein Dorf und keinen Berg bezeichnen, sondern Städte. Stattdessen leisten Eigennamen Direktreferenz: Der Ausdruck wird unmittelbar einem Denotat zugeordnet. Diese Zuordnung muss für jede benannte Entität einzeln gelernt werden. In der Terminologie von Kripke (1980) handelt es sich bei Eigennamen deshalb um rigide (also starre) Designatoren. In diesem besonderen Bezug von Ausdrucksseite und Denotat und der direkten Referenz ohne den Umweg über die Inhaltsseite wird der Grund dafür gesehen, dass der Ausdruck, der eins zu eins einem Denotat zugeordnet ist, möglichst stabil gehalten werden sollte. Deshalb bezeichnet z.B. Mayerthaler (1981: 187) die Stabilität eines Eigennamens im Sinne der Natürlichkeitstheorie als ikonisch. Auch Nübling (z.B. 2012: 244) geht davon aus, dass die semiotischen Besonderheiten der Namen deren hohen Schonungsbedarf (mit-)begründen. Ein weiterer möglicher Grund für das flexionsmorphologische Sonderverhalten der Eigennamen besteht darin, dass ausdrucksseitige Abweichungen vom Kernsystem refunktionalisiert werden, um den Eigennamenstatus formal zu kennzeichnen: „Dass dem Hörer auf irgendeine Weise unmissverständlich signalisiert werden muss, wie er ein Substantiv zu interpretieren hat, ist in der Literatur unumstritten“ (Nübling 2005: 27). Ein Bedarf, den onymischen Status genau auf diese Weise zu kennzeichnen, besteht, da das Deutsche den Eigennamenstatus zum einen nicht strikt syntagmatisch markiert. Ein Beispiel für diese Strategie wären nach Hockett (1967: 230–231, 311–312) bestimmte Fidschi-Sprachen, die Eigennamen und Appellative mithilfe entsprechender Morpheme differenzieren, z.B. na vanua levu (‚die/eine große Insel‘) vs. ko vanua levu als Eigenname der größten Insel der Fidschis.67 Zum anderen verfährt das Deutsche aber auch nicht strikt paradigmatisch, hat also keine separaten Inventare für Eigennamen und Appellative. Lediglich das Rufnamensystem kommt diesem Prinzip im Deutschen (und einigen weiteren Sprachen) nahe (Nübling 2005). Hier gibt es nur wenige Ausnahmen, also solche Wörter, die sowohl Eigenname als auch Appellativ sein können, z.B. Heide.

|| 67 Inwiefern Hocketts Beschreibung zutrifft, ist mittlerweile umstritten (vgl. z.B. Finney 2001: 163– ). Nichtsdestoweniger illustrieren die Beispiele ein (zumindest denkbares) Extrem hinsichtlich der formalen Markierung von Eigennamen.

146 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

Anstatt nun strikt einer dieser beiden extremen Möglichkeiten zu folgen, stellt das Deutsche (wie die meisten anderen Sprachen auch) einen Mischtyp dar: Viele verschiedene Strategien finden Anwendung, um den onymischen Status von Wörtern anzuzeigen. Dazu werden die auf sehr vielen sprachlichen Ebenen vorhandenen Unterschiede genutzt: phonotaktische Abweichungen vom substantivischen Kernsystem (z.B. der Familienname Gstrein), Abweichungen von den Graphem-Phonem-Korrespondenz-Regeln (z.B. – [foːgt]), abweichende syntaktische Abfolgepräferenzen (Manfreds Auto vs. das Auto des Mannes) und neben einigen weiteren Eigenschaften (vgl. hierzu ausführlich Nübling 2005) eben auch die flexionsmorphologischen Besonderheiten von Eigennamen. „Bei der Flexion handelt es sich meist um nicht onymische grammatische Informationen, die in spezifischer Weise an EN [Eigennamen; CZ] realisiert werden können und genau dadurch an der Anzeige von Onymizität mitwirken (implizite Anzeige)“ (Nübling 2005: 37). Die ursprünglich nicht durch die Notwendigkeit der formalen Onymizitätsanzeige, sondern durch erhöhten Schonungsbedarf motivierten flexionsmorphologischen Besonderheiten der Eigennamen werden hier also refunktionalisiert. Der onymischen Wortschonung kommt eine sekundäre Funktion zu, die möglicherweise die flexionsmorphologische Differenzierung von Eigennamen und Appellativen stützt oder ggf. sogar weiter vorantreibt. Schließlich scheinen sowohl synchrone als auch diachrone Variation bzgl. des Sonderverhaltens von Eigennamen in einem engen Zusammenhang mit der (erweiterten) Belebtheitshierarchie zu stehen.68 Zwei Beobachtungen sind hier zunächst relevant. Erstens gilt es festzuhalten, dass Eigennamen in den gängigen Versionen der Belebtheitshierarchie höher eingestuft werden als Appellative (vgl. Abb. 28, oberer Teil und z.B. Croft 22003: 130). Und zweitens kann man auch die Klasse der Eigennamen hinsichtlich ihrer Lokalisierung auf der Belebtheitshierarchie differenzieren, wobei grammatische Unterschiede zwischen den onymischen Unterkategorien die Positionierung auf der Belebtheitshierarchie widerspiegeln (Nübling, Fahlbusch & Heuser 22015: 99–106). Während z.B.

|| 68 Während die klassische Belebtheitshierarchie sich lediglich auf tatsächliche semantische Belebtheit bezieht und vor allem zwischen den Merkmalen [+/-menschlich] und [+/-belebt] unterscheidet, bezieht die erweiterte Belebtheitshierarchie weitere Dimensionen mit ein. Die miteinander in engem Zusammenhang stehenden Hierarchien bzgl. der grammatischen Kategorie Person (3. Person > 1./2. Person) und der Referenzleistung (Appellative > Eigennamen > Pronomen) werden hier mit der ursprünglichen Belebtheitshierarchie fusioniert (Croft 22003: 128–132). Wenn im weiteren Verlauf von der Belebtheitshierarchie die Rede ist, ist damit immer die erweiterte Belebtheitshierarchie gemeint, ohne dass weiterhin explizit darauf hingewiesen wird.

Eigennamen | 147

Personennamen, also Mitglieder der am höchsten auf der Belebtheitshierarchie positionierten Subkategorie, im Genitiv äußerst selten mit Suffix am Wortkörper verwendet werden und sich demnach grammatisch von (nativen) Appellativen unterscheiden, gilt für auf der Hierarchie weiter unten angesiedelte Namen wie z.B. Praxonyme (Ereignisnamen) das Gegenteil: Hier ist (ebenso wie bei nativen Appellativen) die Verwendung des Genitivsuffixes die Regel (vgl. Abb. 28, unterer Teil).69 Je höher die Einstufung auf der Belebtheitshierarchie ist, desto stärker fällt der grammatische Unterschied zu den (generell niedriger als Eigennamen eingestuften) Appellativen aus.70

Pronomen

Eigennamen

Gattungsnamen

Personennamen

Toponyme

des kleinen Peter-Ø

des neuen Berlin-Ø

?des kleinen

des neuen Berlin-s

Peter-s

Stoffnamen

Abstrakta

sonstige Namen ?des Zweiten

Weltkrieg-Ø

des Zweiten Weltkrieg-s

Abb. 28: Die Belebtheitshierarchie unter besonderer Berücksichtigung der Eigennamen (vgl. Nübling, Fahlbusch & Heuser 22015: 101–106)

Auf der Belebtheitshierarchie zwischen Personennamen und Phänonymen angesiedelt sind Toponyme. Diese Klasse ist durch starke Variation bzgl. der Genitivendung gekennzeichnet: Sowohl -s als auch -Ø sind frequent und oft auch gleichermaßen akzeptabel (vgl. hierzu z.B. die Akzeptabilitätswerte und Kor-

|| 69 Bei dem Beispiel Zweiter Weltkrieg handelt es sich um einen Gattungseigennamen, da appellativische Bestandteile des Namens motiviert sind. Das motivierte appellativische Letztglied des Eigennamens trägt auch dazu bei, dass der Eigenname weitestgehend appellativisch flektiert wird. Dennoch kann mit ihm gut der Einfluss der Belebtheitshierarchie auf die Flexion illustriert werden, da der Belebtheitsgrad eines Eigennamens mit seiner formalen Ausprägung korreliert: Je niedriger ein Eigenname auf der Belebtheitshierarchie angesiedelt ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gattungseigenname vorliegt, was wiederum die Wahrscheinlichkeit eines tendenziell eher appellativischen Flexionsverhaltens erhöht (vgl. Nübling, Fahlbusch & Heuser 22015: 44–45, 105, Van Langendonck 2007: 202–210, Duden-Grammatik 9 2016: 201). 70 Zur Flexion von Personennamen siehe Ackermann (2018a).

148 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

pusdaten zu den Toponymen Himalaya, Iran, Orinoko und Tiber in Tab. 29 in Abschnitt 3.6.1). Auch Grammatiken und Sprachratgeber stigmatisieren keine der beiden Varianten (vgl. z.B. Duden-Zweifelsfälle 82016: 379 und DudenGrammatik 92016: 201). Es handelt sich hier in vielen Fällen im Sinne der Definition von Klein (2003: 7) um echte sprachliche Zweifelsfälle.71 Aus diesem Grund bieten sich Toponyme besonders an, um die vorgestellten Thesen zur Erklärung des flexionsmorphologischen Sonderverhaltens von Eigennamen zu testen. Indem untersucht wird, welche Möglichkeit (-s oder -Ø) von SprachbenutzerInnen intuitiv gewählt wird, ohne dass eine Variante normativ bevorzugt wird, und indem geprüft wird, welche Faktoren diese Wahl determinieren, können Rückschlüsse auf die Gründe der onymischen Wortschonung gezogen werden. Mithilfe der Variation im Genitiv soll nun beobachtet werden, was dazu führt, dass SprachbenutzerInnen einen Eigennamen entweder genauso verwenden wie ein Appellativ (des Himalaya-s wie des Gebirge-s) oder im Sinne der onymischen Schemakonstanz von der appellativischen Flexion abweichen (des Himalaya-Ø vs. des Gebirge-s), was nicht nur mit Blick auf die hier untersuchte Genitiv-Variation Relevanz haben sollte, sondern auch für andere Bereiche der onymischen Wortschonung, die nicht ohne Weiteres datenbasiert untersucht werden können. In den Abschnitten 4.2.2 und 4.2.3 wird anhand unterschiedlicher Datenquellen das grammatische Verhalten von Toponymen in Genitivkonstruktionen analyisiert, wobei zunächst eine Vielzahl von Aspekten untersucht wird, bevor der Fokus in Abschnitt 4.2.3 auf den Faktoren Frequenz und Vertrautheit liegt. In Abschnitt 4.2.4 werden dann anschließend der bis dahin noch nicht im Detail analysierte Einfluss des semiotischen Sonderstatus von Eigennamen und die Bedeutung der (indirekten) formalen Markierung von Onymizität thematisiert.

4.2.2 Fallstudie I: Formseitige Eigenschaften, Frequenz und Vertrautheit Der Einfluss der Faktoren, die im Allgemeinen für eine langsamere Verarbeitungszeit von Eigennamen sorgen (phonologische und graphematische Markiertheit, geringe Tokenfrequenz und Unvertrautheit) sowie die Bedeutung der

|| 71 Es ist davon auszugehen, dass gerade manche normbewusste SprecherInnen (im Prinzip hyperkorrekt) grundsätzlich eher zur Markierung des Kasus durch -s neigen. Umso interessanter ist es, dass manche Eigennamen so gut wie immer flexivlos verwendet werden. Diese Faktoren herauszuarbeiten, die auch zur Hyperkorrektur neigende SprecherInnen zur s-Losigkeit veranlassen, ist Gegenstand der folgenden Abschnitte.

Eigennamen | 149

Belebtheitshierarchie sollen in diesem Abschnitt überprüft werden. Dazu werden Daten aus DECOW2012 herangezogen und die Auswirkungen aller Variablen auf die Anwesenheit oder Abwesenheit eines Flexivs interferenzstatistisch ausgewertet. Um gewährleisten zu können, dass die Datenanalyse tatsächlich Aufschluss über den Einfluss einzelner Variablen auf das grammatische Sonderverhalten der Eigennamen geben kann, müssen zunächst zwei Probleme gelöst werden: die Operationalisierung der zu untersuchenden Motivationen sowie die Entwirrung miteinander verstrickter Faktoren. Dies kann mithilfe des folgenden Beispiels veranschaulicht werden. Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull im Jahr 2010 sorgte dafür, dass der europäische Luftraum kurzfristig gesperrt werden musste – weshalb der Eyjafjallajökull für eine kurze Zeit in den Medien präsent und Gesprächsthema war. Unschwer zu erkennen ist, dass Eyjafjallajökull keine native Struktur darstellt, weder graphematisch noch phonologisch. Außerdem weist das Wort (abgesehen von wenigen Wochen im Jahr 2010) eine äußerst geringe Tokenfrequenz auf und muss auch als unvertraut klassifiziert werden. Der Großteil der Bevölkerung im deutschsprachigen Raum kannte den Vulkan zuvor nicht. Aufgrund dieser Eigenschaften, von denen in der Literatur angenommen wird, dass sie den Schonungsbedarf von Eigennamen begründen (hinzu kommen hier auch noch die verhältnismäßig niedrige Einstufung auf der Belebtheitshierarchie (s. unten, Abb. 29) sowie der semiotische Sonderstatus der Eigennamen), überrascht es nicht, dass Eyjafjallajökull in der Regel ohne Genitiv-s verwendet wird (vgl. (90)). In DECOW2012 werden 98 % der 334 Genitivbelege ohne Flexiv verwendet. (90)

Seit dem Ausbruch des Eyjafjallajökull sind die Fluggastrechte wieder in aller Munde.

Wenn man nun quantitativ analysieren möchte, welche Merkmalsausprägungen den hohen Anteil s-loser Formen hervorrufen oder begünstigen, muss zunächst das erste Problem gelöst werden: die Operationalisierung der zu untersuchenden Motivationen. Das stellt sich vor allem beim äußerst vagen Konzept der Vertrautheit als schwierige Aufgabe heraus: Dass Eyjafjallajökull den meisten SprachbenutzerInnen unvertraut ist, ist intuitiv nachvollziehbar. Die Messbarmachung, die auch nötig ist, um unterschiedliche Grade an Vertrautheit vergleichen zu können, ist aber keineswegs trivial. In einer ersten Annäherung wurden hierzu geographische Informationen herangezogen und die Onyme in die drei Gruppen

150 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

deutschsprachiger Raum (z.B. Rhein), nichtdeutschsprachiges Europa (z.B. Tiber) und nichteuropäischer Rest der Welt (z.B. Mekong) eingeteilt. Die zugrunde liegende Annahme ist hier, dass die Wahrscheinlichkeit, mit etwas vertraut zu sein, bei räumlicher Nähe größer ist als bei großer Distanz. Inwiefern Vertrautheit so operationalisierbar ist, wird weiter unten ausführlicher diskutiert. Weniger problematisch ist die Messbarmachung des mit Vertrautheit verknüpften Konzepts der Frequenz. Die Onyme wurden auf der Basis ihrer LemmaFrequenz in DECOW2012-00 in niederfrequent (< 500 Tokens; z.B. Aconcagua), mittelfrequent (< 2500 Tokens, z.B. Senegal) und frequent (> 2500 Tokens, z.B. Rhein) eingeteilt.72 Bezüglich markierter phonologischer Eigenschaften wurde die Anzahl an vollen Silben pro Onym zugrunde gelegt. Die Beschränkung auf maximal eine Vollsilbe pro Simplex gilt im appellativischen Bereich im Deutschen beinahe ausnahmslos. Abweichungen von dieser Struktur sind sehr salient, wobei man davon ausgehen kann, dass ein Wort umso untypischer ist, je mehr Vollsilben gegeben sind (vgl. z.B. Niger vs. Kongo vs. Mississippi). Darüber hinaus spielt das Akzentmuster eines Wortes eine Rolle, das als Trochäus (z.B. Ätna) vs. Abweichung vom Trochäus (z.B. Jambus: Irak) in einer eigenen Variable kodiert wurde. Nicht-native Laute spielen bei den infrage kommenden Onymen in der im deutschsprachigen Raum üblichen Aussprache hingegen keine Rolle, weshalb keine entsprechende Variable veranschlagt wurde. Im Deutschen nicht übliche Graphemkombinationen sowie Abweichungen von den Graphem-Phonem-Korrespondenz-Regeln des Deutschen waren die Grundlage für die Klassifizierung in markiert vs. nicht-markiert bzgl. der Graphematik. Schließlich konnte auch ein Aspekt berücksichtigt werden, der im Zusammenhang mit der Belebtheitshierarchie relevant ist, da selbst die Klasse der Toponyme in sich noch einmal strukturiert ist und Mitglieder dieser Klasse unterschiedlich auf der Hierarchie positioniert sind. Nach Van Langendonck (2007: 207–210) sind Siedlungsnamen am höchsten zu positionieren gefolgt von Staatennamen vor den anderen Namen wie Gebirgs- und Flussnamen (vgl. Abb. 29). Grundlage für diese Einordnung sind Parameter wie Interaktion mit (bzw. Relevanz für) Menschen, Bewohnbarkeit, Anwesenheit/Abwesenheit von Administration und Abgrenzbarkeit. Hinsichtlich dieser Eigenschaften ergeben sich deutliche Unterschiede zwischen Staatennamen auf der einen Seite und anderen Namentypen wie Gebirgs- und Flussnamen auf der anderen Seite, die

|| 72 Hinsichtlich ihrer Gebrauchsfrequenz sind Aconcagua (65 Tokens in DECOW2012-00), Senegal (1169 Tokens) und Rhein (13.677 Tokens), die hier exemplarisch für die FrequenzKategorien genannten Eigennamen, vergleichbar mit den Appellativen Cymbal (42 Tokens), Embargo (1218 Tokens) und Jacke (13.817).

Eigennamen | 151

zur unterschiedlichen Positionierung auf der Belebtheitshierarchie führen. Um zu überprüfen, inwiefern die Positionierung auf der Hierarchie sich auf das grammatische Verhalten der Namen auswirkt und ob dies mit den bereits erwähnten Beobachtungen zur Belebtheitshierarchie in Einklang zu bringen ist, wurden die in die Stichprobe integrierten Namen entweder als Staatenname oder als sonstiger Name klassifiziert. Siedlungsnamen spielen an dieser Stelle keine Rolle: Indem lediglich Namen, die mit primärem Artikel verwendet werden, in die Stichprobe integriert wurden (also z.B. Der Senegal ist ein Staat in Westafrika), wurden Siedlungsnamen systematisch ausgeschlossen73 (vgl. z.B. (*Das) Berlin ist die Hauptstadt von Deutschland).74

Personennamen

Toponyme

Namen von Siedlungen

Namen von Staaten

andere Namen

andere Toponyme (z.B. GebirgsN, FlussN, …)

Abb. 29: Die Belebtheitshierarchie unter besonderer Berücksichtigung der Toponyme75

|| 73 Mit primärem Artikel verwendete Siedlungsnamen (z.B. der Wedding) stellen eine sehr seltene Ausnahme dar. 74 Diese Entscheidung beruht auf der Tatsache, dass sekundäre Artikel im Deutschen eher marginal sind und generell sehr selten vorkommen. Deshalb hätte eine Beschränkung auf diese Konstruktionen, die nicht ohne Weiteres mit den hier untersuchten Belegen vergleichbar sind, eine ausreichend große Stichprobe unmöglich gemacht. Nicht ohne Weiteres vergleichbar sind die beiden Typen, da sie sich syntaktisch unterscheiden: Sekundäre Artikel treten im Gegensatz zu primären Artikeln nur dann auf, wenn es der syntaktische Kontext erfordert, z.B. wenn der Eigenname attribuiert ist (z.B. das heutige Berlin, vgl. Duden-Grammatik 92016: 301). 75 Fraurud (2000) schlägt in ihrer Studie zur Genusvergabe bei Eigennamen im Schwedischen eine Klassifikation vor, die weitestgehend mit dem Vorschlag von Van Langendonck (2007) übereinstimmt. Im Gegensatz zu Van Langendoncks Klassifikation werden hier lediglich Namen von Staaten und Siedlungen derselben Kategorie zugeordnet. Wie weiter unten erklärt werden wird, ist dieser Unterschied für die vorliegende Studie nicht relevant, sodass die Anordnung der im Folgenden untersuchten Eigennamen hinsichtlich der Belebtheitshierarchie mit beiden genannten Arbeiten im Einklang steht.

152 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

Neben der (mitunter schwierigen) Operationalisierung der potentiellen Motivationen muss ein weiteres Problem gelöst werden, das wiederum gut an Eyjafjallajökull veranschaulicht werden kann: Hier sind nämlich gleich mehrere potentielle Gründe für morphologische Schemakonstanz gegeben. Deshalb ist es nicht ohne Weiteres auszumachen, welche Eigenschaft oder welche Eigenschaften nun tatsächlich ausschlaggebend dafür sind, dass Eyjafjallajökull so häufig ohne Genitiv-s verwendet wird und welche Eigenschaften ebenfalls gegeben sind, die mit Blick auf das grammatische Verhalten des Wortes aber irrelevant sind: Ist die Unbekanntheit entscheidend oder die auffällige Struktur? Oder beides? So verhält es sich auch mit sehr vielen weiteren Eigennamen, da die in der Literatur genannten Faktoren stark korrelieren. Je exotischer/ unvertrauter ein Wort ist, desto seltener wird es üblicherweise verwendet und desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass markierte phonologische oder graphematische Eigenschaften vorzufinden sind. In der Regel sind bei Eigennamen also gleich mehrere potentielle Gründe für morphologische Schemakonstanz gegeben – der Status und die Relevanz der einzelnen Motivationen bleiben deshalb zunächst unklar. Die Entwirrung der miteinander verstrickten Faktoren stellt das zweite zu lösende Problem dar, wenn man Aussagen über die Bedeutung einzelner Faktoren und deren Verhältnis zueinander treffen möchte. Um diese Entwirrung bewerkstelligen zu können, musste die Liste an Onymen, die in der zu untersuchenden Stichprobe enthalten sein sollen, ganz gezielt zusammengestellt werden. Damit Aussagen über den Einfluss eines einzelnen Faktors möglich sind, wurden solche Namen aufgenommen, die sich in genau einem hier relevanten Aspekt unterschieden. Infolgedessen übersteigt die Korrelation der unabhängigen Variablen die Grenze von |0,5| nicht – die Aussagekraft bzgl. der Effektstärke der einzelnen Faktoren in der weiter unten beschriebenen statistischen Analyse ist demnach gegeben und wird nicht durch den Effekt der Multikollinearität eingeschränkt (vgl. Backhaus et al. 102003: 88–91). Es kann in der Stichprobe also nicht von der einen Merkmalsausprägung (z.B. markierte Phonologie) auf die Merkmalsausprägung einer anderen Variablen geschlossen werden (z.B. geringe Frequenz). Tab. 38 veranschaulicht die beschriebene Methode der StichprobenZusammenstellung anhand derjenigen Variablen, die ohne entsprechende Gegenmaßnahme stark miteinander korreliert hätten. Grau hinterlegt sind die Merkmalsausprägungen, die zwischen den jeweiligen zwei Zeilen distinktiv sind. Die gesamte Liste an Onymen befindet sich in Tab. 39. Integriert wurden 42 Onyme und pro Onym jeweils 100 randomisiert ausgewählte Genitivbelege,

Eigennamen | 153

was zu einer Stichprobengröße von insgesamt 4200 Belegen führt.76 Gattungseigennamen (z.B. Feldberg) wurden nicht integriert, da die Anwesenheit des appellativischen Letztglieds im transparenten Kompositum die Wahrscheinlichkeit von -s – unabhängig von den anderen hier zu untersuchenden Faktoren – extrem erhöht. Tab. 38: Darstellung der Methode zur Zusammenstellung der Stichprobe an Toponymen

untypische Merkmale Beispiele phonologisch Jemen, Niger

Irak, Kongo

Senegal, Iran

Himalaya, Euphrat

Kosovo, Vatikan Eyjafjallajökull, Aconcagua Sudan, Libanon

Neckar, Spessart

graphematisch

geringe Frequenz

nichtdeutschsprachiges Gebiet

































































|| 76 Hier (und wenn nicht anders ausgewiesen auch im weiteren Verlauf dieses Kapitels) haben die Genitivbelege die folgende Struktur: Definitartikel + adjazentes Substantiv, also z.B. des Iraks.

154 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

Tab. 39: In die Stichprobe integrierte Toponyme

Aconcagua

Himalay/ja

Jemen

Mekong

Orient

Südsudan

Atlantik

Hindukusch

Karakorum

Mississippi

Orinok/co

Tiber

Ätna

Hunsrück

Kongo

Neckar

Pazifik

Tschad

Balkan

Inn

Kosovo

Niger

Rhein

Uluru

Engadin

Irak

Lech

Nil

Senegal

Ural

Euphrat

Iran

Libanon

Okzident

Spessart

Vatikan

Eyjafjallajökull

Jangtse

Main

Oman

Sudan

Vesuv

Die so zusammengestellte Stichprobe wurde mit einer binären logistischen Regression analysiert, um den Einfluss der unabhängigen Variablen auf die Ausprägung der abhängigen Variablen, also die Anwesenheit/Abwesenheit eines Flexivs, zu ermitteln.77 Der Nagelkerke-R2-Wert von 0,337 sowie die Konfusionstabelle in Tab. 40 zeigen, dass die Ausprägung der abhängigen Variable relativ gut anhand der berücksichtigten Faktoren vorhergesagt werden kann (vgl. Backhaus et al. 102003: 442). Tab. 40: Konfusionstabelle

Vorhergesagt Beobachtet Flexiv

kein Flexiv

Anteil korrekter Vorhersagen (in %)

Flexiv

1221

625

66,1

kein Flexiv

379

1975

83,9 76,1

In Tab. 41 sind alle Variablen zusammengefasst, die einen signifikanten Einfluss auf die Merkmalsausprägung der abhängigen Variable haben. Aufgeführt sind die Anzahl der Freiheitsgrade pro Variable (degrees of freedom, df), der p-Wert, auf dessen Basis entschieden werden kann, ob eine Variable einen signifikanten Einfluss hat, sowie der jeweilige Effekt-Koeffizient samt Konfidenzintervall.

|| 77 Zur Beschreibung dieses statistischen Modells und zur Erläuterung der im Folgenden verwendeten statistischen Fachbegriffe und Werte siehe Abschnitt 2.3 und 2.4.

Eigennamen | 155

Tab. 41: Übersicht über die Variablen mit signifikantem Einfluss

Variable und Merkmalsausprägungen

df

Sign.

Effekt-Koeffizient

Konfidenzintervalle (95%) für den Effekt-Koeffizienten

Anzahl der Vollvokale

3

0,000

2

1

3

1

0,000

1,449

1,180

1,780

0,730

0,961

0,767

1,205

>3

1

0,000

5,846

4,222

8,095

Kontrastkategorie: 1 Vollvokal Geographie

2

Europa

1

0,000 0,000

2,782

2,161

3,583

Welt

1

0,000

5,674

4,535

7,099

Kontrastkategorie: Deutschsprachiges Gebiet Frequenz

2

0,000

mittel

1

0,000

2,662

2,168

3,269

niedrig

1

0,000

4,464

3,598

5,540

3,476

2,873

4,205

Kontrastkategorie: hohe Frequenz Benannte Entität: Staat

1

0,000

Kontrastkategorie: Andere Entität (z.B. Fluss oder Gebirge)

Keinen signifikanten Einfluss haben die beiden binären Variablen bzgl. der graphematischen Fremdheitsmerkmale und der Akzentstruktur (jeweils p > 0,05). Sie verbessern die Vorhersage hinsichtlich der Ausprägung der abhängigen Variablen nicht und wurden deshalb aus dem statistischen Modell entfernt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich der prognostizierte Einfluss der Mehrzahl der in der Literatur genannten Aspekte verifiziert, wobei jeweils auch die Richtung des Einflusses mit den Erwartungen übereinstimmt: Je vertrauter (hier zunächst grob über geographische Nähe operationalisiert) und je frequenter ein Name ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein -s verwendet wird. Auch der Unterschied hinsichtlich des grammatischen Verhaltens von Staatennamen und den anderen integrierten Namen entspricht den Erwartungen, da die Wahrscheinlichkeit von -s bei den generell belebteren Staatennamen größer ist als bei den anderen, weniger belebten Namenkategorien. Für die phonologische Variable der Anzahl an Vollvokalen gilt grundsätzlich: Je mehr Vollvokale gegeben sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Wort unflektiert bleibt. Allerdings gibt es eine unerwartete Ausnahme: Die Merkmalsausprägung 3 Vollvokale (z.B. bei Libanon) weicht nicht signifikant von der Merkmalsausprägung 1 Vollvokal (z.B. bei Niger) ab, was zu erwarten

156 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

gewesen wäre, da Wörter mit drei Vollvokalen in auffälliger Art und Weise vom prototypischen deutschen Simplex abweichen. Alle anderen Merkmalsausprägungen stellen sich wie erwartet dar: Die Wahrscheinlichkeit von -Ø ist bei einem Vollvokal am geringsten, 1,449-fach höher bei zwei Vollvokalen und bei einem Koeffizienten von 5,846 für Wörter mit mehr als drei Vollvokalen relativ hoch. Die Effekt-Koeffizienten der übrigen signifikant von der Kontrastkategorie abweichenden Merkmalsausprägungen liegen zwischen diesen Werten von 1,449 und 5,846. Demzufolge kann man festhalten, dass die relevanten Faktoren (zumindest bei der hier vorgenommenen Operationalisierung und Kodierung der verschiedenen Aspekte) alle in etwa gleichermaßen zur Realisierung/ Auslassung des Flexivs beitragen. Bedeutsam sind also Frequenz, Vertrautheit, die Unterschiede zwischen belebteren Staatennamen und weniger belebten anderen Namen sowie markierte phonologische Merkmale, wobei hier die Anzahl der Vollvokale ausschlaggebend ist. Die Akzentstruktur und graphematische Merkmale haben hingegen keinen maßgeblichen Einfluss. Besonders interessant ist der Einfluss des Faktors Vertrautheit, der hier erst einmal auf sehr grobe Art als geographische Nähe operationalisiert wurde. Unabhängig z.B. von geringer Frequenz und phonologischen Fremdheitsmerkmalen, den Faktoren also, die normalerweise mit nicht gegebener Vertrautheit korrelieren, verhalten sich Namen von Entitäten, die geographisch (und deshalb meist auch konzeptuell?) weit von einer Sprachgemeinschaft entfernt sind, anders als Namen von geographisch nahen und deshalb tendenziell vertrauteren Entitäten. Veranschaulicht wird diese Beobachtung in Tab. 42, in der Engadin und Hindukusch gegenübergestellt werden. Der zu erwartende Einfluss auf den Anteil s-loser Formen wird durch die Pfeile dargestellt (niedrigere Frequenz erhöht z.B. die Wahrscheinlichkeit s-loser Formen, was durch das  in der Frequenz-Zelle von Engadin ausgedrückt wird). Tab. 42: Engadin vs. Hindukusch (Daten aus DECOW2012)

DECOW2012

n

Anteil von -Ø

Vollvokale

Lemma-Frequenz (DECOW2012-00)

Staat?

Deutschsprachiges Gebiet?

Engadin

137

31,4%

3

221 (niedrig) ()

 ()

 ()

Hindukusch

227

94,7%

3

1684 (mittel) ()

 ()

 ()

Eigennamen | 157

Der Anteil an s-Losigkeit unterscheidet sich stark zwischen den beiden Toponymen.78 Der einzige Faktor, der erklären kann, warum Engadin so viel häufiger mit -s verwendet wird, ist die geographische Nähe zur Sprachgemeinschaft79 bzw. Vertrautheit: Die beiden Wörter unterscheiden sich nicht bzgl. der relevanten phonologischen Merkmale, Hindukusch ist nicht belebter als Engadin und die Tatsache, dass Hindukusch eine höhere Tokenfrequenz aufweist, würde eigentlich für einen im Vergleich zum Engadin niedrigeren Anteil s-loser Formen sprechen. Dieser niedrigere Anteil s-loser Formen ist aber nicht zu beobachten, sondern ganz im Gegenteil ein weitaus höherer Anteil, was die Relevanz von geographischer Nähe und Vertrautheit unterstreicht. Im folgenden Abschnitt sollen diese Aspekte und deren Einfluss auf das morphologische Verhalten von Eigennamen präziser analysiert werden, wobei auch das Verhältnis von Frequenz und Vertrautheit näher beleuchtet wird.

4.2.3 Fallstudie II: Vertrautheit und Frequenz Wie die Daten im vorigen Abschnitt zeigen, spricht einiges dafür, dass der Faktor Vertrautheit einen signifikanten Einfluss auf das Flexionsverhalten bestimmter Wörter hat. Erste Hinweise dafür liefert die grobe, dreistufige Kodierung der Toponyme nach geographischer Nähe zur Sprachgemeinschaft. Um zu überprüfen, ob die über die geographische Nähe operationalisierte Vertrautheit auch innerhalb des deutschsprachigen Raums zur Erklärung der GenitivVariation beitragen kann, wurden Daten aus dem DeReKo (Release 2014-II) extrahiert (Institut für Deutsche Sprache 2014).80 Die untersuchten Texte stammen aus 105 Zeitungen aus den drei Hauptzentren des deutschsprachigen Ge-

|| 78 Die Differenz ist signifikant (χ2 = 165,9959, p < 0,001***) und bedeutsam (Φ = 0,6753018). Hier und auch bei allen im weiteren Verlauf der Arbeit vorgestellten χ2-Tests wurde keine Kontinuitätskorrektur nach Yates durchgeführt, da die mithilfe dieses Tests analysierten Stichproben n = 60 nicht unterschreiten (vgl. hierzu z.B. Gries 2008: 161). 79 Die Einteilung in deutschsprachiges Gebiet vs. nichtdeutschsprachiges Gebiet, die z.B. in Tab. 42 zu erkennen ist, orientiert sich an nationalstaatlichen Grenzen, was die linguistische Situation in der Schweiz natürlich nicht präzise abbildet. Da an dieser Stelle die geographische Nähe zur Sprachgemeinschaft relevant ist, erscheint mir diese etwas vereinfachende Einteilung dennoch sinnvoll. Der Kontrast von Engadin als einem Gebiet, das zu einem auch deutschsprachigen Land gehört vs. Hindukusch sollte hier seinen Zweck hinsichtlich geographischer Aspekte erfüllen. 80 Informationen zu diesem Korpus und dem hier verwendeten Release sind unter verfügbar (zuletzt abgerufen am 19.08.2016).

158 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

biets: aus Deutschland, Österreich und der Schweiz (vgl. Abb. 30).81 Eine Liste mit allen herangezogenen Zeitungen befindet sich im Anhang 5.

Abb. 30: Herkunft der untersuchten Texte

Die Tatsache, dass für jeden hier berücksichtigten Text der Entstehungsort bekannt ist, erlaubt es, präzisere Analysen zur Auswirkung geographischer Aspekte durchzuführen. Berücksichtigt wurde der Redaktionssitz der jeweiligen Zeitung.82

|| 81 Die Texte aus Deutschland stammen dabei ausschließlich aus regionalen Zeitungen. Um ausreichend Daten für Österreich und die Schweiz zu erhalten, wurden für diese beiden Länder auch überregionale Zeitungen berücksichtigt. Zwischen den regionalen und überregionalen Texten lässt sich kein signifikanter Unterschied hinsichtlich der s-Losigkeit beobachten (Fisher-Yates-Test: p > 0,05 bei allen hier untersuchten Toponymen). 82 Das bedeutet, dass man wohl mit einer Streuung von ca. 100 Kilometern rechnen muss, da manche Texte nicht am Redaktionssitz, sondern in dessen näherer Umgebung verfasst werden, was bzgl. der weiter unten gezeigten Tendenzen aber von untergeordneter Bedeutung sein sollte, da jeweils großflächigere Gebiete miteinander verglichen werden. Da die hier untersuch-

Eigennamen | 159

Um nun analysieren zu können, inwiefern geographische Nähe die Flexion eines Eigennamens beeinflusst, wurde zunächst die Anwesenheit/Abwesenheit eines Flexivs in Abhängigkeit vom Ort der benannten Entität und dem Entstehungsort des Textes erfasst. Abb. 31 veranschaulicht eine solche Analyse am Beispiel von Engadin.

Engadin

CH

D/AT

n

807

214

Anteil von -Ø

3,0%

45,3%

Abb. 31: Die Flexion von Engadin: Schweiz vs. Deutschland/Österreich

Hier ist deutlich zu sehen, dass der Name in dem Land, in dem sich die benannte Entität befindet, deutlich häufiger mit -s verwendet wird als in den anderen deutschsprachigen Ländern.83 Geographische Aspekte beinflussen demnach das morphologische Verhalten eines Wortes. Wenn man davon

|| ten Texte auch keinen Aufschluss über einen Dialekt oder Regiolekt geben sollen, ist auch die möglicherweise gegebene Mobilität von JournalistInnen unproblematisch. 83 χ2 = 290,4398, p < 0,001***, Φ = 0,5333535

160 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

ausgeht, dass SprachbenutzerInnen in der Schweiz mit Engadin vertrauter sind als SprachbenutzerInnen in den anderen Ländern, zeigt sich hier, dass Vertrautheit mit einem Namen tendenziell dazu führt, einen Namen nicht gesondert zu behandeln, sondern wie ein prototypisches Appellativ zu flektieren.84 In den anderen Ländern ist der Anteil an s-Losigkeit wesentlich höher; man kann davon ausgehen, dass die dort gegebene geringere Bekanntheit und die geringere Vertrautheit mit dem Engadin dafür verantwortlich sind. Das identische Muster zeigt sich für Tessin. Auch für Entitäten in den anderen beiden Ländern bestätigt sich die oben beschriebene Tendenz: In deutschen Texten wird Harz seltener ohne Genitivflexiv verwendet als in Texten aus den südlichen Nachbarländern. In österreichischen Texten weist Großglockner den niedrigsten Anteil an s-Losigkeit auf (vgl. Tab. 43).85 Tab. 43: Geographische Einflüsse auf die Flexion von Eigennamen

Onym

Texte aus gleichem Land

Texte aus den anderen Ländern

n

Anteil von -Ø

n

Anteil von -Ø

Land

p (FisherYates-Test)

odds ratio

Tessin

CH

1963

1,8%

390

44,1%

< 0,001***

43,32925

Engadin

CH

807

3,0%

214

45,3%

< 0,001***

26,89764

Großglockner

AT

1382

3,0%

391

19,7%

< 0,001***

8,007276

Harz

DE

1974

5,5%

63

19,0%

< 0,001***

4,016937

|| 84 Das Verhältnis von Tokenfrequenz und Vertrautheit wird im weiteren Verlauf ausführlich thematisiert (vgl. S. 162‒167). 85 Die Menge an Toponymen, die im vorliegenden Zusammenhang aufschlussreich sind, ist leider nicht besonders groß, da nur maskuline und neutrale Toponyme mit primärem Artikel untersucht werden können und die benannten Entitäten nur in einem Land und idealerweise nicht im Grenzgebiet zu finden sein sollten, aber dennoch häufig genug in Texten aller drei Länder zu finden sein müssen. Außerdem werden auch hier Gattungseigennamen (z.B. Erzgebirge) ausgeschlossen, da diese in ihrem Flexionsverhalten stark von Nichtgattungsnamen abweichen, indem sie stark zu -s neigen und kaum Variation unterliegen (vgl. z.B. DudenGrammatik 92016: 201). Viele prinzipiell interessante Namen können hier aufgrund dieser notwendigen Einschränkungen nicht aufgenommen werden (z.B. Rhein, Donau, Spessart, Allgäu, Erzgebirge, Schwarzwald, Zugspitze, Uckermark, Maifeld, …).

Eigennamen | 161

Dass die Unterschiede bzgl. des Anteils s-loser Formen zwischen Texten aus dem gleichen Land und Texten aus den anderen Ländern nicht bei allen Lexemen vergleichbar groß sind, hat zwei Gründe. Zum einen weisen Texte aus der Schweiz prinzipiell eine etwas stärkere Tendenz in Richtung Verwendung des Flexivs auf als Texte aus Österreich oder Deutschland, weshalb die Differenzen bei den schweizerischen Toponymen Engadin und Tessin größer ausfallen als bei Großglockner und Harz. Zum anderen gibt es auch innerhalb eines Landes Unterschiede hinsichtlich der Vertrautheit mit einem Toponym, was sich aufgrund der größeren Fläche Deutschlands besonders in der Flexion von Entitäten, die (auch) hier zu finden sind, niederschlägt. Die flexionsmorphologischen Auswirkungen von Vertrautheit sind nicht an nationalstaatliche Grenzen gebunden, was in Abb. 32 demonstriert wird.

Inn

Passau

Sonstiges D

n

2153

351

Anteil von -Ø

20,6%

46,2%

Abb. 32: Die Flexion von Inn: Passau vs. sonstiges Deutschland

Geographische Aspekte, die sich auf die Flexion eines Namens auswirken, sind auch hier zu beobachten, ohne dass dabei nationalstaatliche Grenzen eine Rolle spielen. Der Fluss Inn mündet in Passau in die Donau (vgl. Abb. 32). Der Fluss

162 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

ist hier – anders als in vielen anderen deutschen Gebieten – besonders prominent, was sich unter anderem in der hohen Tokenfrequenz von Inn in Texten der Passauer Neuen Presse widerspiegelt. Die Vertrautheit mit Inn schlägt sich dann auch in seinem flexionsmorphologischen Verhalten nieder: In Texten aus Passau ist der Anteil s-loser Formen signifikant geringer als in allen anderen Texten aus Deutschland.86 Passau ist die einzige deutsche Stadt, die im Sample enthalten ist und durch die der Inn fließt. Daneben liegt auch das österreichische Innsbruck am gleichen Fluss. Hier zeichnet sich ein ähnliches Bild ab: In der Stadt, in der der Fluss präsent ist, wird sein Name weniger gesondert behandelt als im restlichen Land (vgl. Tab. 44). Der Unterschied zwischen Innsbruck und dem sonstigen Österreich ist ebenfalls signifikant, fällt aber geringer aus als der Unterschied zwischen Passau und dem sonstigen Deutschland, was aufgrund der geringeren Distanzen zwischen den Redaktionssitzen der jeweils berücksichtigten Zeitungen zu erwarten war:87 Die Entfernung zwischen Innsbruck und den anderen österreichischen Städten ist im Schnitt wesentlich geringer als die Entfernung zwischen Passau und den anderen deutschen Städten.88 Tab. 44: Die Flexion von Inn: Innsbruck vs. sonstiges Österreich

Inn

Innsbruck

Sonstiges AT

n

300

781

Anteil von -Ø

27,7%

38,8%

All diese Daten untermauern, dass die schlichte Tokenfrequenz in einem großen Korpus zwar einen wichtigen Aspekt darstellt, der einen Teil der Variation erklären kann, aber viele interessante Aspekte verdeckt bleiben, wenn man sich auf Tokenfrequenz beschränkt und Vertrautheit außer Acht lässt. So sagt die absolute Tokenfrequenz im gesamten DeReKo hinsichtlich der Menschen, die in Passau wohnen, wenig über deren Vertrautheit mit dem Inn aus, weshalb die aus Vertrautheitsunterschieden resultierende Variation mit dieser Datengrundlage nicht erklärt werden kann. Gleichzeitig spiegelt sich die Vertrautheit mit dem Inn in einer entsprechenden Tokenfrequenz in Texten aus Passau wider. || 86 χ2 = 107,7544, p < 0,001***, Φ = 0,2074438 87 χ2 = 11,6949, p < 0,001***, Φ = 0,1040125 88 Hinzu kommt, dass der Inn in Österreich wohl generell bekannter ist als in Deutschland, wozu unter anderem auch Landschaftsbezeichnungen wie Innviertel beitragen.

Eigennamen | 163

Dies berücksichtigend ist eine sehr viel genauere Analyse der Variation im Gesamt-Korpus möglich. Dabei ist es auf der Basis der bisher vorgestellten Ergebnisse allerdings denkbar, dass sich Vertrautheit als separater Faktor erübrigt, wenn man nur präzise genug Frequenzen erhebt und zwar z.B. für eine spezielle (wie auch immer definierte) community of practice. Je kleiner die zu untersuchende SprecherInnengruppe ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich Vertrautheit komplett durch Frequenz abbilden lässt, wodurch diese obsolet würde. Für alle oben thematisierten Datenpunkte gilt, dass geographische Nähe, die sich – so die vorläufige These – in Vertrautheit niederschlägt, stark mit der Tokenfrequenz des Namens in den in der Nähe der benannten Entität entstandenen Texten korreliert. Dass sich Vertrautheit als eigenständiges Konzept aber dennoch nicht erübrigt, auch wenn man Tokenfrequenzen sehr präzise für kleine(re) SprecherInnengruppen definiert, wird in Tab. 45 gezeigt: Tab. 45: Engadin und Kosovo in Texten aus der Schweiz

n

Anteil von -Ø

Lemma-Frequenz in Texten aus der Schweiz

Engadin

807

3,0%

25571

Kosovo

2006

72,0%

55851

Obwohl Kosovo eine im Vergleich zu Engadin mehr als doppelt so hohe LemmaFrequenz in den untersuchten schweizerischen Zeitungstexten aufweist, wird Kosovo sehr viel häufiger ohne -s verwendet, während Engadin sich flexionsmorphologisch im Prinzip wie ein natives Appellativ verhält.89 Dieser enorme Unterschied von fast 70 Prozentpunkten kann neben der hier offenkundig nicht ausschlaggebenden Frequenz auch nicht mit der Anzahl an Vollvokalen oder einem der anderen oben vorgestellten Faktoren (Semiotik, formale Markierung des Eigennamenstatus) erklärt werden, da hier keine Unterschiede zwischen den beiden Namen bestehen. Lediglich Unterschiede hinsichtlich der Belebtheit zwischen Engadin, das ein Tal bzw. eine Region bezeichnet und dem Kosovo, der von etwas mehr als der Hälfte der UN-Mitgliedsstaaten als souveräner Staat

|| 89 χ2 = 1098,375, p < 0,001***, Φ = 0,6248712

164 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

anerkannt wird, sind denkbar.90 Tab. 46 zeigt allerdings, dass etwaige Belebtheitsunterschiede nicht für die flexionsmorphologischen Unterschiede ausschlaggebend sind. Hier sind lediglich Texte berücksichtigt, die vor der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Jahr 2008 (vgl. z.B. Parameswaran 2008: 172) verfasst wurden. In den hier untersuchten Texten handelt es sich also sowohl bei Engadin als auch bei Kosovo um Namen von besiedelten Gebieten – Belebtheitsunterschiede, die auf den Status der beiden Gebiete zurückzuführen sind, können demnach ausgeschlossen werden.91 Auf den flexionsmorphologischen Unterschied zwischen Engadin und Kosovo hat diese Beschränkung auf Texte von vor 2008 keinen Einfluss, sodass auch etwaige Belebtheitsunterschiede zwischen den Namen die große Differenz hinsichtlich der s-Losigkeit nicht erklären können.92 Tab. 46: Engadin und Kosovo in Texten aus der Schweiz, die vor 2008 verfasst wurden

n

Anteil von -Ø

Lemma-Frequenz in Texten aus der Schweiz

Engadin

405

2,5%

9862

Kosovo

1177

74,8%

22437

Somit verbleibt lediglich Vertrautheit als mögliche Erklärung für die flexionsmorphologischen Unterschiede. SprachbenutzerInnen in der Schweiz sind mit Engadin vertraut, was den Schonungsbedarf verringert. Kosovo ist trotz mittlerweile vergleichsweise hoher Frequenz hingegen weniger vertraut, was sich im flexionsmorphologischen Verhalten widerspiegelt: Das Genitiv-s wird selten verwendet.

|| 90 Eine Liste mit Staaten, die den Kosovo anerkennen, findet sich auf der Homepage des Außenministeriums des Kosovo: ; letzter Zugriff am 16.12. 2015. 91 Durchaus denkbar wäre hingegen, dass der Kosovo als agentiver wahrgenommen wird als das Engadin, was wiederum relevant in Bezug auf die Belebtheitshierarchie wäre. Solche Unterschiede und den ggf. resultierenden Einfluss auf die Variation im Genitiv zum Gegenstand künftiger Forschung zu machen, erscheint deshalb lohnenswert. 92 Die relevanten statistischen Kennwerte bleiben im Vergleich zu Tab. 45 konstant: χ2 = 640,0075, p < 0,001***, Φ = 0,6360471. Die Unterschiede bzgl. des χ2-Werts resultieren aus den unterschiedlichen Stichprobengrößen. Das stichprobengrößenunabhängige Effektstärkemaß bleibt von der Beschränkung auf Texte von vor 2008 im Prinzip unverändert.

Eigennamen | 165

Grundsätzlich lässt sich also festhalten, dass Vertrautheit und Frequenz stark miteinander verflochten sind und Vertrautheit relativ gut über die Tokenfrequenz erhoben werden kann, besonders wenn man diese für kleine(re) Gruppen an SprachbenutzerInnen definiert. Allerdings ist das Konzept der Vertrautheit nicht obsolet, da Vertrautheitsunterschiede unabhängig von der Tokenfrequenz relevant sein können. Hier spielen offenbar geographische Aspekte insofern eine Rolle, als geographische Nähe zu einer benannten Entität mit höherer Vertrautheit einhergeht. Darüber hinaus ist es plausibel, dass auch der Zeitpunkt, zu dem ein Wort erworben wird, sich im Hinblick auf Vertrautheit und demzufolge auch grammatische Aspekte auswirkt. Dieser Gesichtspunkt wird in der psycholinguistischen Literatur unter dem Schlagwort Age of Acquisition (AoA) behandelt (für einen Überblick s. Juhasz 2005). Ein wichtiger Aspekt dieses Konzepts besteht darin, dass nicht nur relevant ist, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, heute mit einem bestimmten Wort konfrontiert zu werden (was relativ gut über aktuelle Tokenfrequenzen abgedeckt wird), sondern auch die über ein Leben hinweg kumulierte Kontakt-Frequenz mit einem Wort. Je früher man ein Wort erwirbt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer hohen kumulierten Kontakt-Frequenz. Am Beispiel von Kosovo und Engadin veranschaulicht: Obwohl Kosovo heute frequenter ist, muss man davon ausgehen, dass Engadin für SprachbenutzerInnen in der Schweiz eine höhere kumulative Kontakt-Frequenz aufweist, weil Engadin als ein in der Schweiz relevantes Konzept wohl früher erworben wird als der Name einer mehr als 1000 Kilometer entfernten Region. Hinzu kommt, dass der Kosovo erst ab einem bestimmten Zeitpunkt prominenter Diskussionsgegenstand im deutschsprachigen Raum und erst seitdem im Deutschen häufiger erwähnt wird. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Mehrheit der SprachbenutzerInnen Kosovo vor dem Ende der 1980er Jahre noch nicht gehört oder verwendet hat. All das wirkt sich auf die kumulierte Kontakt-Frequenz aus. Dass AoA ein linguistisch relevantes Konzept ist und der Zeitpunkt des Erwerbs auch über die kumulierte Kontakt-Frequenz hinaus die Worterkennung beeinflusst, zeigen viele Studien (vgl. Juhasz 2005). Später erworbene Wörter werden langsamer erkannt als früher erworbene Wörter. Damit hat spätes Erwerbsalter einen vergleichbaren Effekt auf die Worterkennung wie z.B. der oben genannte Faktor der geringen Tokenfrequenz. Dass AoA ebenso wie dieser Aspekt mit Blick auf den Schonungsbedarf von Eigennamen und anderen peripheren Substantiven relevant ist, erscheint deshalb mehr als plausibel. Vor dem Hintergrund all der in diesem Kapitel thematisierten Aspekte wäre es womöglich sinnvoll, nicht von einem Nebeneinander der Variablen Frequenz und Vertrautheit auszugehen, sondern von einem komplexen Konzept Ver-

166 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

trautheit, das sich über mehrere Variablen operationalisieren lässt. Dazu könnte zunächst die Tokenfrequenz gezählt werden, die möglichst für eine nach den relevanten Aspekten definierte SprecherInnengruppe erhoben wird. Im Prinzip ist es ja nichts anderes als die individuelle Kontakt-Häufigkeit mit einem Wort, die per Tokenfrequenz erhoben werden soll.93 Außerdem könnte man auch geographische (oder allgemeiner, aber schwerer zu operationalisieren: konzeptuelle) Nähe sowie Erwerbsalter hinzuzählen. Vertraut ist ein Wort dann, wenn es einem Individuum seit Langem häufig begegnet und das Konzept durch Nähe zum Individuum gekennzeichnet ist. Unter dieser Perspektive scheint mir Vertrautheit ein sehr nützlicher Gedanke zu sein, der mit Blick auf die stark gewichtete Schemakonstanz bei Eigennamen besonders relevant ist.94 Dass Vertrautheit nach wie vor ein Begriff ist, der durch eine gewisse Vagheit gekennzeichnet ist und nicht zu 100 % operationalisiert werden kann, liegt in der Natur der Sache, da er auf ein subjektives Verhältnis eines Individuums zu einem Wort oder Konzept abhebt. Nichtsdestoweniger glaube ich, dass man diesem subjektiven Verhältnis und dessen Einfluss auf die Grammatik über die oben vorgeschlagene Konzeptualisierung sehr nahekommen kann. Dass der Aspekt Vertrautheit in diesem Kapitel zum Sonderverhalten der Eigennamen ausführlich behandelt wird, ist darin begründet, dass er anhand der Toponyme besonders gut untersucht werden kann, da hier z.B. kleinere SprecherInnengruppen einfach mithilfe geographischer Aspekte definiert werden können und sich Unterschiede zwischen diesen Gruppen gut zeigen lassen. Dass der Aspekt hier thematisiert wird, heißt aber nicht, dass sich die Bedeutung der Vertrautheit auf Eigennamen beschränkt. Es ist durchaus plausibel, auch bei den anderen peripheren Substantivgruppen von einem entsprechenden Einfluss auszugehen, auch wenn er dort schwieriger nachzuweisen ist. Einen Anhaltspunkt für einen vergleichbaren Effekt bei Kurzwörtern liefert Tab. 47. Hier wird das flexivische Verhalten des Kurzwortes PC thematisiert und dabei zwischen Texten aus einer Computer-Fachzeitschrift (der Computer Zeitung) und Texten aus den Zeitungen, die weiter oben bereits untersucht wurden, unterschieden. Da über das DeReKo nur die Jahrgänge 1993 bis 1998 der Computer Zeitung zugänglich sind, werden auch nur die entsprechenden Jahrgänge der

|| 93 Eine Alternative hierzu wären subjektive Frequenz-Einschätzungen, wie sie von Balota, Pilotti & Cortese (2001) vorgeschlagen werden (s. S. 141). 94 Diese Ausrichtung des Begriffs Vertrautheit lehnt sich somit an den psycholinguistischen Terminus familiarity an, erweitert ihn aber um wesentliche Aspekte.

Eigennamen | 167

Tageszeitungen herangezogen.95 Der Anteil an Flexivlosigkeit ist in den Tageszeitungen wesentlich höher als in der Fachzeitschrift, was auch mit einer höheren relativen Lemma-Frequenz von PC in der Computer Zeitung einhergeht.96 Da es plausibel ist, dass AutorInnen der Computer Zeitung mit dem Konzept PC vertrauter sind als AutorInnen der Tageszeitungen (zumal im untersuchten Zeitraum von 1993 bis 1998), sind die hier aufgezeigten Unterschiede als Hinweise auf Auswirkungen des Faktors Vertrautheit zu werten. Tab. 47: Flexion von PC: Computer Zeitung vs. Tageszeitungen (Jahrgänge 1993 – 1998)

Lemma-Frequenz (pro 1 Million Wortformen)

n

Anteil von -Ø

Tageszeitungen

309

72,2%

102,2

Computer Zeitung

239

9,2%

834,4

Nachdem nun ausführlicher geographische Aspekte, Vertrautheit, Tokenfrequenz, AoA und im vorigen Abschnitt auch markierte phonologische und graphematische Merkmale sowie die Belebtheitshierarchie thematisiert wurden, stehen noch zwei weitere Gesichtspunkte aus, die im anschließenden Abschnitt im Fokus stehen: die semiotischen Besonderheiten sowie die Refunktionalisierung des morphologischen Sonderverhaltens von Eigennamen.

4.2.4 Fallstudie III: Differenzierungsbedarf und semiotischer Sonderstatus Während in den vorigen beiden Abschnitten jeweils verschiedene Eigennamen bzw. Eigennamenklassen miteinander verglichen wurden, werden im Folgenden Eigennamen und Appellative gegenübergestellt. Nur auf diese Weise kann untersucht werden, ob sich der semiotische Sonderstatus von Eigennamen auf deren Flexionsverhalten auswirkt, da alle Eigennamen gleichermaßen den semiotischen Sonderstatus aufweisen. Um dabei ausschließen zu können, dass formseitige Aspekte, die bei Eigennamen – wie oben gezeigt – bedeutsam sein können, die hier interessierenden Effekte überdecken, bietet es sich an, homo-

|| 95 Darüber hinaus beschränke ich mich auf eines der vier großen Archive im DeReKo (nämlich W), da so die Gesamt-Belegzahlen von PC in der Computer-Zeitung und den Tageszeitungen vergleichbar sind. 96 χ2 = 216,1238, p < 0,001***, Φ = 0,6280021

168 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

nyme Wörter miteinander zu vergleichen. Tab. 48 dokumentiert, inwiefern sich das flexionsmorphologische Verhalten von homonymen Eigennamen und Appellativen unterscheidet. Verglichen wird jeweils der Name einer Zeitschrift mit seinem appellativischen Pendant (vgl. auch (91) und (92)). (91)

Nach Informationen des Spiegel rügte Merkel die Minister Jung und Schäuble hinter verschlossenen Türen mehrfach.

(92)

Die Vergrößerungsleistung des Spiegels ist einwandfrei, das Licht aber leider nur schwach und meiner Meinung nach nicht ausreichend.

Tab. 48: Die Flexion von (jeweils homonymen) Eigennamen und Appellativen in DECOW201297

Anteil von -Ø | n χ2

p

Φ

64,2% | 581

601,9402

< 0,001***

0,6794193

Appellativ

Eigenname

Spiegel

1,8% | 723

Stern

2,3% | 433

80,8% | 172

408,7046

< 0,001***

0,8219153

Kicker

2,4% | 41

68,2% | 293

62,3714

< 0,001***

0,4719693

Playboy

6,7% | 15

52,4% | 63

10,2967

= 0,001333**

0,3633307

Alle untersuchten Eigennamen weisen einen hohen Anteil an Flexivlosigkeit auf. Im Gegensatz dazu ist bei den Appellativen die Verwendung des Flexivs die Regel: Lediglich das wenig integrierte Fremdwort Playboy übersteigt den Anteil von 3 % Flexivlosigkeit. Der Unterschied zwischen Eigennamen und Appellativen ist signifikant und bedeutsam. Neben den bei Homonymen irrelevanten formseitigen Aspekten können auch Frequenzunterschiede nicht für diese sehr eindeutige flexionsmorphologische Unterscheidung von Eigennamen und Appellativen verantwortlich sein: Wie in Tab. 48 zu erkennen ist, weisen die Zeitschriftennamen Kicker und Playboy eine

|| 97 Die Daten für Spiegel und Stern stammen aus DECOW2012-00, die Daten für Kicker und Playboy wegen der zu geringen Belegzahlen in nur einem Teilkorpus aus DECOW2012-00 und DECOW2012-01.

Eigennamen | 169

höhere Frequenz auf als deren appellativische Entsprechungen. Dennoch werden die Appellative wesentlich häufiger mit Flexiv verwendet. Dass die semiotischen Besonderheiten der Eigennamen der Grund für die hier zu beobachtende flexionsmorphologische Trennung von Eigennamen und Appellativen sind, erscheint plausibel. Allerdings kommen auch einige bereits behandelte Aspekte infrage: Möglicherweise sind die Zeitschriftennamen weniger vertraut (z.B. da sie wohl später erworben werden) und auch der Einfluss der Belebtheitshierarchie kann nicht ausgeschlossen werden. Schließlich muss der Name einer Zeitschrift (z.B. Spiegel) hier höher eingestuft werden als das entsprechende Appellativ. Hinzu kommt, dass der Dissoziierungsbedarf hier besonders ausgeprägt ist, da Homonyme vorliegen. Weil der Eigenname und das Appellativ formseitig identisch sind, ist es besonders wichtig, den Eigennamenstatus indirekt zu markieren. Hierzu trägt auch die flexionsmorphologische Unterscheidung bei. Die Daten in Tab. 49 untermauern diese Annahme. Hier wird die Flexion zweier Eigennamen verglichen, nämlich die der formseitig ähnlichen Spiegel und Tagesspiegel. Dass Tagesspiegel trotz starker formseitiger Ähnlichkeit mit Spiegel einen signifikant geringeren Anteil an Flexivlosigkeit aufweist, kann wohl damit erklärt werden, dass Tagesspiegel kein homonymes appellativisches Pendant hat und deshalb einen geringeren Dissoziierungsbedarf aufweist.98 Tab. 49: Die Flexion von Spiegel vs. Tagesspiegel in DECOW2012-00

n

Anteil von -Ø

Tagesspiegel

173

41,0%

Spiegel (Eigenname)

581

64,2%

Die Unterschiede bzgl. des Dissoziierungsbedarfs schlagen sich auch anderweitig nieder, z.B. in graphematischen Aspekten. Spiegel wird häufig durchgängig mit Majuskeln geschrieben (), um den Namen vom Appellativ abzugrenzen, Tagesspiegel hingegen selten, was in Tab. 50 anhand einer Stichprobe mit jeweils 500 Tokens gezeigt wird.99

|| 98 χ2 = 29,5322, p < 0,001***, Φ = 0,1979075 99 Cramér’s V (s. rechte Spalte in Tab. 50) ist das Äquivalent zu Φ, das hier berechnet werden muss, da mehr als ein Freiheitsgrad vorliegt (df > 1). Dieses Effektstärkemaß beziffert die Bedeutsamkeit eines Unterschieds. Alle möglichen Werte liegen zwischen 0 und 1. Je näher ein Wert an 1 liegt, desto größer ist die Bedeutsamkeit des Unterschieds (vgl. z.B. Gries 2014).

170 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

Tab. 50: Majuskelschreibungen von Tagesspiegel vs. Spiegel

n

Spiegel | SPIEGEL (Eigenname) 500

Anteil durchgängiger Großschreibung

χ2

p

Cramér’s V

26,6%

Tagesspiegel | TAGESSPIEGEL

500

1,6%

Spiegel | SPIEGEL (Appellativ)

500

0,4%

253,7117 < 0,001***

0,4112677

Dabei können die hier beschriebenen Unterschiede nicht auf die OriginalTypografie der Ergonyme zurückgeführt werden: Sowohl Spiegel als auch Tagesspiegel werden in der Original-Typografie mit Majuskeln geschrieben (s. und , zuletzt abgerufen am 22.08.2016). Neben den semiotischen Unterschieden zwischen Eigennamen und Appellativen kommen hier mit dem besonderen Dissoziierungsbedarf, der Belebtheitshierarchie und möglichen Vertrautheitsunterschieden also auch weitere Aspekte infrage, die für die in Tab. 48 gezeigten flexionsmorphologischen Unterschiede zwischen den homonymen Eigennamen und Appellativen ursächlich sein können. Es zeigt sich jedenfalls, dass etwas jenseits der Form und der konkreten Gebrauchshäufigkeit ausschlaggebend sein muss. Ein Zusammenwirken der oben genannten Faktoren erscheint plausibel. Der Nachweis, inwiefern ein einzelner dieser Aspekte zum flexionsmorphologischen Verhalten beiträgt, kann hier aber nicht datenbasiert erfolgen, weil die infrage kommenden Faktoren sowohl miteinander zusammenhängen und nicht einzeln getestet werden können als auch schwer zu greifen sind (z.B. Vertrautheit und der semiotische Sonderstatus), was dazu führt, dass die Menge an Wörtern, die sich genau in einem relevanten Aspekt unterscheiden und deren Vergleich deshalb lohnen würde, sehr beschränkt ist. Man stößt bei der Ausdifferenzierung der einzelnen Motivation hier also an methodische Grenzen. Dass man hier methodisch an Grenzen stößt und dass auch schon die Entwirrung der korrelierenden Faktoren in den vorigen Abschnitten aufwendig war, ist kein Zufall und inhaltlich begründet. Die verschiedenen Aspekte stützen und bedingen einander und die entsprechenden Korrelationen liegen deshalb in der Natur der Sache. Bei genauerer Analyse zeigt sich, dass in erster Linie der semiotische Sonderstatus von Eigennamen nicht bloß ein Aspekt unter vielen ist, sondern die Basis der hier relevanten Faktoren. Das soll im folgenden Abschnitt eingehend erläutert werden.

Eigennamen | 171

4.2.5 Resümee der Fallstudien Die abweichende Referenzleistung ist der Grund dafür, dass sich Eigennamen in den hier beschriebenen Eigenschaften von Appellativen unterscheiden. So resultiert die tendenziell niedrigere Frequenz von Eigennamen aus deren Monoreferenz. Während Appellative auf Klassen von Entitäten referieren, leisten Eigennamen Direktreferenz auf ein einziges Denotat. Logischerweise wird ein Appellativ deshalb häufiger verwendet, da es immer dann genutzt werden kann, wenn von irgendeinem Mitglied der bezeichneten Klasse die Rede ist und nicht nur dann, wenn auf ein einziges Mitglied der Klasse referiert wird. Dass z.B. Berg häufiger verwendet wird als Großglockner, Zugspitze, Dufourspitze oder Montblanc, ist deshalb nicht überraschend. Ein Appellativ ist gewissermaßen universeller einsetzbar. Hinzu kommt, dass nur wenige mit einem Eigennamen versehene Entitäten für die gesamte Sprachgemeinschaft Relevanz haben. Man denke hier etwa an die weiter oben besprochenen Toponyme Harz, Engadin oder Karakorum. Einzelne Denotate bzw. deren Eigennamen haben – da sie nicht zu Klassen von Denotaten zusammengefasst werden – mit Blick auf die gesamte Sprachgemeinschaft also eine besonders niedrige Frequenz, was sich wiederum auch in geringer Vertrautheit niederschlägt. Auch der Aspekt der (geographischen) Nähe ist offenkundig mit der Referenzleistung verknüpft. Während wohl für alle Mitglieder der deutschen Sprachgemeinschaft gilt, dass sie mehr oder weniger in der Nähe eines Flusses leben, gilt nur für einen geringen Anteil, dass sie in der Nähe des Inn leben. Die Vertrautheit mit dem Appellativ ist demnach (sehr wahrscheinlich) größer als die Vertrautheit mit einem speziellen Vertreter der Klasse Fluss, auf den mit einem Eigennamen referiert wird.100 All das spiegelt sich auch im Spracherwerb wider. Während einige Eigennamen bereits früh erworben werden, wird ein großer Teil des Onomastikons erst nach Abschluss des allgemeinen Spracherwerbs erlernt. Das mentale Lexikon wird im Erwachsenenalter nur noch vergleichsweise geringfügig ergänzt, wohingegen viele Eigennamen, also 1:1-Beziehungen von Zeichen zu Denotaten, auch noch im hohen Alter erlernt werden. „Als einzige ‚Wortart‘ werden Namen lebenslang in großer Zahl erworben (man muss nur eine Zeitung lesen, um mit Dutzenden neuer Namen konfrontiert zu sein)“ (Nübling, Fahlbusch & Heuser 2 2015: 12). Auch deshalb gilt es zwar als Bildungsdefizit, wenn man z.B. das

|| 100 Dass überhaupt ein Name vergeben wird, setzt voraus, dass die benannte Entität mindestens für einige – aber eben nicht für alle – SprachbenutzerInnen relevant ist und frequent versprachlicht wird (vgl. hierzu Nübling 2000b: 278, 2005: 27).

172 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

Wort Himalaya nicht kennt, keineswegs aber als sprachliches Defizit (vgl. Nübling 2005: 27).101 Somit stehen die drei Aspekte von Vertrautheit (Frequenz, Nähe und Erwerbsalter) also in direktem Zusammenhang mit der Referenzleistung. Ebenso geht auch der Dissoziierungsbedarf von Eigennamen auf deren besondere semiotische Eigenschaften zurück: Dass dem Hörer auf irgendeine Weise unmissverständlich signalisiert werden muss, wie er ein Substantiv zu interpretieren hat, […] basiert auf den zentralen Funktionsunterschieden zwischen EN [Eigennamen; CZ] und APP [Appellativen; CZ] […]: EN leisten die Monoreferenz auf einen Einzelgegenstand, APP nutzen das semantische Potential, um auf eine Klasse ähnlicher bzw. gleicher Gegenstände zu referieren (Polyreferenz) […]. (Nübling 2005: 27)

Formale Unterschiede zwischen den beiden Klassen tragen also nicht bloß dazu bei, homonyme Wortpaare zu disambiguieren (z.B. Schneider als Appellativ vs. Familienname), sondern dienen in erster Linie dazu, anzuzeigen, welche grundlegende semiotische Strategie verfolgt werden muss, um das Denotat zu identifizieren, auf das referiert wird: Direktreferenz (bei Eigennamen) oder Referenz via Bedeutung (bei Appellativen).102 Zu diesen formalen Unterschieden gehören die flexionsmorphologischen Besonderheiten von Eigennamen (s. Abschnitt 4.2.1). In diesem Zusammenhang sind aber auch weitere, z.B. phonologische Abweichungen vom prototypischen Substantiv relevant (vgl. Abschnitt 4.2.2). Auch sie werden genutzt, um Eigennamen von Appellativen abzuheben, was wichtig ist, um anzuzeigen, welches semiotische Dekodierungsverfahren angemessen ist. Diese z.B. phonologischen Abweichungen konstituieren nun das, was weiter oben mit markierten formseitigen Eigenschaften von Eigennamen bezeichnet wurde. Hinzu kommt, dass Eigennamen als rigide Designatoren in gewisser Weise auch vom appellativischen Bereich abgekoppelt sind, da sie keiner Normierung oder Standardisierung unterliegen. Viele formseitige Eigenschaften von Namen haben einen dialektalen Ursprung, werden bei der Ver-

|| 101 Einen empirischen Beleg für diese intuitiv nachvollziehbare Annahme in Form auf breiter Basis erhobener AoA norms für einzelne Wörter gibt es nicht. In den Listen, die lexikalische Angaben zu AoA, familiarity und weiteren Variablen beinhalten, sind Eigennamen nicht vertreten (vgl. z.B. Gilhooly & Logie 1980, Kuperman, Stadthagen-Gonzalez & Brysbaert 2012). Das liegt in der Natur der Sache, denn der Zeitpunkt des Erwerbs bestimmter Eigennamen schwankt stark von Individuum zu Individuum, sodass kein überindividueller Zeitraum, in dem ein bestimmter Eigenname erworben wird, ausgemacht werden kann. 102 Dieser Aspekt ist bei homonymen Appellativen nicht relevant – was die besondere Bedeutung des hier gegebenen Dissoziierungsbedarfs unterstreicht.

Eigennamen | 173

wendung in der Standardsprache aber nicht an diese angepasst, da aufgrund der Direktreferenz die Stabilität des Wortkörpers von besonderer Bedeutung ist (s. z.B. die Apokope in Waldkirch; vgl. Nübling 2000b: 282). Eigennamen sind darüber hinaus die einzigen Wörter neben Interjektionen, die keiner orthographischen Normierung unterliegen (aber dennoch nicht variabel schreibbar sind)103 und auch von ansonsten sehr konsequent durchgeführten Sprachwandelprozessen unberührt bleiben können, z.B. der Nebensilbenabschwächung: Während vollvokalische Nebensilben im appellativischen Bereich (Fremdwörter ausgenommen) die absolute Ausnahme darstellen, sind sie im Onomastikon durchaus häufig anzutreffen, z.B. Fulda, Goslar, Pankow, Christian usw. (vgl. auch Nübling 2000b: 276, 283). Unter anderem diese formseitigen Besonderheiten heben Eigennamen von den übrigen Substantiven im Deutschen ab und tragen somit zu ihrer erschwerten Erkennung bei, was wiederum den Schonungsbedarf dieser Wörter erhöht. Auch diesem Umstand liegt der semiotische Sonderstatus der Eigennamen zugrunde, da die spezielle Referenzleistung auch formal gekennzeichnet werden muss und die Widerstandsfähigkeit der Eigennamen gegen Wandel und Standardisierung wohl in ihrem Wesen als rigiden Designatoren begründet ist. Schließlich ist auch die Einordnung der Eigennamen auf der Belebtheitshierarchie eng mit dem semiotischen Sonderstatus verknüpft. Neben den klassischen semantischen Merkmalen wie z.B. [+/- belebt] berücksichtigt die hier zugrunde gelegte erweiterte Belebtheitshierarchie unter anderem auch die Referenzleistung. Exakt dieser Aspekt ist es, auf dessen Basis Eigennamen höher eingestuft werden als Appellative (vgl. Croft 22003: 130). Hinzu kommt, dass Eigennamen als rigide Designatoren im Gegensatz zu Appellativen inhärent definit sind und Definitheit wiederum stark mit der erweiterten Belebtheitshierarchie zusammenhängt (vgl. Croft 22003: 132). Der semiotische Sonderstatus der Eigennamen ist also ausschlaggebend für die hohe Einstufung der Eigennamen auf der Belebtheitshierarchie (vgl. hierzu auch Ackermann 2018a und Nübling, Fahlbusch & Heuser 22015: 98–101). Somit lässt sich festhalten, dass alle Faktoren, die das grammatische Sonderverhalten von Eigennamen (direkt oder indirekt) hervorrufen und deren

|| 103 Diese Gegebenheit, die im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter relevant ist, da graphematische Besonderheiten von Eigennamen nicht zu einem höheren Anteil von -Ø beitragen (s. S. 154), aber dennoch gut die besondere Invarianz von Eigennamen aufzeigen, kann man anhand rezenter Phänomene veranschaulichen, z.B. wurde Nußbaum durch die Orthographiereform von 1996 zu Nussbaum, während der homonyme Familienname aber weiterhin mit ß verschriftlicht wird.

174 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

Einfluss hier empirisch nachgewiesen werden konnte, im semiotischen Sonderstatus der Eigennamen begründet sind. Abb. 33 fasst diese Annahme graphisch zusammen und systematisiert die einzelnen Einflussgrößen.

Geringe Vertrautheit •

Distanz



Geringe Frequenz



Hohes Erwerbsalter

Hoch gerankte Erschwerte Wort-

Semiotischer

Markierte phonologische

Sonderstatus

Merkmale

Schemakonstanz

erkennung Sonderverhalten

Dissoziierungsbedarf

Hohe Einstufung auf der Belebtheitshierarchie

Abb. 33: Gründe für das grammatische Sonderverhalten von Eigennamen

Die Abbildung veranschaulicht Folgendes: Der semiotische Sonderstatus von Eigennamen ist die Grundlage für häufig gegebene geringe Vertrautheit, markierte phonologische Merkmale sowie die hohe Einstufung auf der Belebtheitshierarchie und Anlass für den Dissoziierungsbedarf von Appellativen. Die markierten phonologischen Merkmale sowie zwei Aspekte geringer Vertrautheit, nämlich geringe Frequenz und hohes Erwerbsalter, führen zu einer erschwerten bzw. verlangsamten Worterkennung, was der Grund für die hoch gerankte Schemakonstanz ist. Hinzu kommt die ggf. vorliegende (geographische) Distanz. Die hoch gerankte Schemakonstanz führt wiederum zum grammatischen Sonderverhalten der Eigennamen. Dieses Sonderverhalten wird verstärkt durch den Dissoziierungsbedarf, wobei hinsichtlich des Dissoziierungsbedarfs nicht ausschlaggebend ist, dass der Namenkörper möglichst konstant gehalten wird, sondern, dass eine wie auch immer geartete Differenz zu Appellativen besteht. In diesem Sinne werden die grammatischen Abweichungen von anderen Sub-

Eigennamen | 175

stantiven, die durch die hoch gerankte Schemakonstanz hervorgerufen werden, genutzt, refunktionalisiert und verstärkt. Hinzu kommt der Einfluss der Belebtheitshierarchie. Während bei den zuvor genannten Faktoren bereits dargelegt wurde, inwiefern mit ihnen das grammatische Sonderverhalten der Eigennamen funktional motiviert werden kann, konnte eine funktionale Begründung des Einflusses, der auf die Belebtheitshierarchie zurückgeht, bislang nicht in gleicher Weise gegeben werden. Festzuhalten ist jedenfalls, dass Eigennamen sich hinsichtlich ihrer Belebtheit von Appellativen unterscheiden und flexionsmorphologische Unterschiede innerhalb der Eigennamenklasse die These stützen, dass das onymische Sonderverhalten im Zusammenhang mit der Hierarchie zu sehen ist: Je höher der Eigenname positioniert ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er sich via angestrebter Wortschonung grammatisch von Appellativen unterscheidet. Wenn man davon ausgeht, dass die innerhalb der Eigennamen an der Spitze der Belebtheitshierarchie stehenden Personennamen den prototypischen Namentyp darstellen und z.B. Phänonyme eher als periphere Eigennamen einzuordnen sind, gilt demnach, dass ein Eigenname sich grammatisch umso stärker von Appellativen abhebt, je prototypischer er ist (vgl. Ackermann 2018a).104 Schließlich ist noch festzuhalten, dass Abb. 33 generell Aussagen zu Tendenzen und Wahrscheinlichkeiten schematisch darstellt, aber keine kategorialen Aussagen macht. So führt z.B. der semiotische Sonderstatus natürlich keineswegs dazu, dass alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft mit einem bestimmten Eigennamen unvertraut sind. Die Tatsache, dass ein Name vergeben und verwendet wurde/wird, ist ganz im Gegenteil ein eindeutiges Indiz dafür, dass zumindest manche SprachbenutzerInnen mit dem Denotat vertraut sind und es oft versprachlichen, sonst würde die Kompetenzbelastung, die mit der Verwendung eines Eigennamens einhergeht, nicht lohnen. Vielmehr soll hier ausgesagt werden, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass ein beliebiges Mitglied der Sprachgemeinschaft mit einem Wort unvertraut ist, wenn es sich um einen Eigennamen handelt, der via Direktreferenz auf nur ein einzelnes Denotat referiert. Die einzelnen Aspekte repräsentieren darüber hinaus jeweils graduelle Eigenschaften. Eine relevante Eigenschaft kann also stark oder weniger stark ausgeprägt oder ggf. gar nicht vorhanden sein, man denke hier z.B. an die Anzahl an phonologischen Fremdheitsmerkmalen oder die Tokenfrequenz. Je

|| 104 Die hier vorgestellten Ergebnisse zum Sonderverhalten von Eigennamen stehen grundsätzlich im Einklang mit der kurzen Darstellung dieser Substantivgruppe in Konopka & Fuß (2016: 207–208, 224–228), gehen aber weit über diese hinaus.

176 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

mehr relevante Eigenschaften schwach ausgeprägt oder gar nicht gegeben sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Eigenname sich tendenziell eher wie ein Appellativ verhält (z.B. Rhein); je mehr Eigenschaften stark ausgeprägt sind, desto stärker ist der Kontrast zu Appellativen (z.B. Karakorum).

4.3 Kurzwörter Wie Fremdwörter und Eigennamen verhalten sich auch Kurzwörter flexionsmorphologisch keineswegs homogen. Ein Großteil der zu beobachtenden Variation innerhalb dieser Gruppe kann mit den unterschiedlichen Wortbildungstypen erklärt werden, die in den vorigen Kapiteln unter dem Oberbegriff Kurzwort zusammengefasst wurden. Die Unterschiede zwischen diesen Typen und auch einzelne Gesichtspunkte, die zu Unterschieden zwischen Vertretern desselben Typs führen, werden im Folgenden anhand von Stichproben mit einer Gesamtgröße von 67.747 Tokens und jeweils fünf Types pro Kurzworttyp illustriert.105 Anschließend wird in Abschnitt 4.3.2 thematisiert, inwiefern sich die Untersuchung von Kurzwörtern anbietet, um Erkenntnisse hinsichtlich des Relevanzprinzips (nach Bybee 1985, 1994) zu generieren.106

4.3.1 Das flexionsmorphologische Verhalten verschiedener Kurzworttypen Terminologisch richte ich mich in diesem Kapitel weitestgehend nach der Kurzwort-Klassifikation von Fleischer & Barz (42012), die in den wesentlichen Punkten mit der Unterteilung in der Duden-Grammatik (92016: 744–746) über-

|| 105 Die Daten wurden in DECOW2012 erhoben. Die Suchanfrage hatte folgende Struktur: [des, eines, jenes, dieses, keines, meines, deines, seines, unseres, eures oder ihres] + eines von 25 zuvor ausgewählten Kurzwörtern (je fünf Lexeme pro Kurzworttyp). Alle möglichen Kombinationen von Majuskeln und Minuskeln wurden berücksichtigt (also z.B. und ). Alle Belege wurden manuell gefiltert, um Fehlbelege (z.B. getrennt geschriebene Komposita: des LKW Anhängers), Appositionen (z.B. des AKW Mülheim-Kärlich) und mit Kurzwörtern homonyme Vollformen (z.B. Pin ‚Kegel‘ oder ‚Stecknadel‘) auszusortieren. Kurzwörter, die auch als Eigenname zu klassifizieren sind (z.B. DFB zu Deutscher Fußball-Bund), wurden nicht berücksichtigt, da hier mehrere Gründe für besonderen Schonungsbedarf miteinander verwoben sind. 106 Bei den Kurzwörtern spielen auch Faktoren eine Rolle, die in den vorangegangenen Abschnitten bereits ausführlich diskutiert wurden (z.B. Vertrautheit). Um Redundanzen zu vermeiden, liegt der Fokus in diesem Abschnitt auf kurzwortspezifischen Aspekten. Für bereits behandelte Faktoren wird auf andere Abschnitte verwiesen, weshalb Abschnitt 4.3 etwas kürzer ausfällt als die Abschnitte 4.1 und 4.2.

Kurzwörter | 177

einstimmt.107 Die hier relevanten Gesichtspunkte dieser Klassifikation werden in Abb. 34 schematisch dargestellt und an den entsprechenden Stellen weiter unten jeweils kurz kommentiert.108

Kurzwörter

multisegmental

unisegmental z.B. Abo

Silben-/Mischkurzwort

Buchstabenkurzwort

z.B. Azubi lautiert

buchstabiert

z.B. PIN

z.B. AKW

Abb. 34: Kurzwort-Klassifikation (nach Fleischer & Barz 42012)

Alle Kurzwörter haben eine spezifische Eigenschaft gemein: Es handelt sich hier um Wortbildungsprodukte, die geschaffen wurden, um die formale Gestalt eines bereits bestehenden Ausdrucks zu optimieren. Die Optimierung besteht vor allem in der Kürzung des Ausdrucks, umfasst aber auch andere lautliche Kriterien (vgl. Ronneberger-Sibold 2007). Es liegt nun auf der Hand, dass ein Kurzwort, dessen Existenzgrund in seiner optimierten formalen Struktur liegt, nun „so wenig wie möglich durch Flexion entstellt“ (Ronneberger-Sibold 2007: 287) und auf diese Weise geschont und nicht beeinträchtigt wird. Das äußert sich in der Wahl bzw. der Auslassung der Flexive: Kurzwörter erhalten den gestalt-

|| 107 Für einen Überblick über weitere Kurzworttypologien sowie terminologische Überlegungen vgl. Kobler-Trill (1994: 33–97) und Steinhauer (2000: 29–42). 108 Partielle Kurzwörter, die aus einem gekürzten und einem unveränderten Teil einer Vollform bestehen (z.B. H-Milch, V-Mann; vgl. Duden-Grammatik 92016: 746) richten sich flexionsmorphologisch nach dem unveränderten Letztglied und sind deshalb hier irrelevant. Außerdem werden Schreibabkürzungen (z.B. Dr.) und genormte Kürzel (z.B. m für Meter) ausgeschlossen, da sie in vollem Wortlaut gesprochen werden und keinen Wortstatus haben (Fleischer & Barz 42012: 280). Im Gegensatz zu Nübling & Duke (2007) werden hier auch Kurzwörter berücksichtigt, die als solche aus anderen Sprachen entlehnt sind (z.B. PC aus personal computer). Hier koexistieren zwar nicht immer Kurz- und Vollform im Deutschen, allerdings weisen diese Wörter formseitig kurzworttypische Eigenschaften auf, die im vorliegenden Zusammenhang relevant sind. Der Status von entlehnten Kurzwörtern sowie das Verhältnis von Kurzform und Vollform wird im Folgenden wiederholt thematisiert (s. z.B. S. 183).

178 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

schonenden s-Plural oder werden gänzlich ohne Pluralmarker verwendet (s. unten, Abschnitt 4.3.2). Das Pluralallomorph der Vollform spielt dabei keine Rolle (z.B. Atomkraftwerk-e aber AKW-s vs. *AKW-e). Interessanterweise findet hier im Gegensatz zu den Fremdwörtern keine Integration statt (Pizzas > Pizzen aber Fotos vs. *Foten usw., vgl. Ronneberger-Sibold 2007: 282), was gemeinsam mit dem oft möglichen Ø-Plural als Ausdruck des besonders großen Schonungsbedarfs gewertet werden kann. Aufgrund des s-Plurals kann auch kein Dativ-Plural-n realisiert werden (*Fotosn) und auch das Genitiv-s wird häufig nicht realisiert, was im weiteren Verlauf ausführlich erörtert wird. Schwach flektierte Kurzwörter gibt es meines Wissens nicht. Als weitere Motivation für dieses Sonderverhalten kommt hinzu, dass manche Kurzwörter als markiert (im Sinne von ‚ungewöhnlich‘) und als nicht vollwertige Substantive wahrgenommen werden und sich auch deshalb flexionsmorphologisch von solchen Wörtern abheben, die als „normale, vollwertige Wörter“ (also als nicht-periphere Substantive) wahrgenommen werden (vgl. hierzu auch Ronneberger-Sibold 2007: 279). Diese Aspekte sind bei verschiedenen Kurzworttypen unterschiedlich stark ausgeprägt, was im Folgenden anhand der verschiedenen Stichproben aufgezeigt wird. Zunächst zu den unisegmentalen Kurzwörtern: Hierbei handelt es sich um Wörter, die im Gegensatz zu den anderen Kurzworttypen aus nur einem Segment der Vollform bestehen (z.B. Abo aus Abonnement vs. AKW aus Atomkraftwerk). Unisegmentale Kurzwörter werden gebildet, indem ein Teil der Vollform gekappt wird, weshalb sie häufig auch als Clippings bezeichnet werden. Die Daten in Tab. 51 zeigen, dass Clippings vergleichsweise häufig mit Genitiv-s verwendet werden. Da sie keine Binnenmajuskeln (anders als z.B. in oder ) aufweisen und phonetisch gebunden realisiert werden (anders als z.B. LKW als [ˈɛlkaːveː]), haben sie keine graphematischen und/oder phonologischen Merkmale, die den Kurzwort-Status erkennen lassen. Die phonologische Struktur der Wörter ist häufig nicht systemkonform, eine solche Form (z.B. Vollvokal in der Nebensilbe bei Auto) tritt häufig aber auch bei Eigennamen und Fremdwörtern auf. Clippings werden deshalb häufig nicht als Kurzwörter wahrgenommen. Das Wort Zoo geht zwar diachron auf die Vollform zoologischer Garten zurück, synchron spielt das aber kaum eine Rolle und ist vielen SprachbenutzerInnen nicht bekannt.109 Dementsprechend schwach wirken sich die oben beschriebenen kurzwortspezifischen Motivationen für mor-

|| 109 Zum Phänomen der „Verselbstständigung“ von der Vollform inklusive semantischen Aspekten vgl. z.B. Michel (2011: 135–136).

Kurzwörter | 179

phologische Schemakonstanz aus: Clippings werden nicht in dem Maße als schonungsbedürftige, formoptimierte und markierte Substantive wahrgenommen wie andere Kurzwörter, vor allem im Vergleich zu Buchstabenkurzwörtern (z.B. AKW). In vielerlei Hinsicht ähneln sie Fremdwörtern, was weiter unten noch genauer beleuchtet wird. Tab. 51: Clippings

Lexem

n

Anteil -Ø

Vollform

Lemma-Frequenz DECOW2012-00 Kurzwort

Auto

35200

1,0%

Automobil

217022

Vollform

Verhältnis Kurzform /Vollform

3518

61,7

Zoo

2805

3,0%

zoologischer Garten

8215

598

13,7

Abo

1048

3,5%

Abonnement

6785

3378

2,0

Abi

154

8,4%

Abitur

4741

12129

0,4

15,1%

Zivildienst, Zivildienstleistender

1896

3909

0,5

Zivi

146

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Variation innerhalb des Clipping-Samples. Das Verhältnis der Tokenfrequenzen von Kurzform und Vollform liefert Hinweise dazu, inwiefern die Kurzform etabliert ist, diese sich ggf. gegenüber der Vollform durchgesetzt hat und möglicherweise nicht (mehr) als optimierte Variante einer Vollform wahrgenommen wird. Tab. 51 zeigt, dass der Anteil von -Ø umso höher ist, je häufiger die Vollform im Verhältnis zur Kurzform verwendet wird. Rein synchron kann man demnach davon ausgehen, dass Auto den Status eines gut etablierten Fremdworts hat und entsprechend häufig flektiert wird, während die kurzwortspezifischen Gründe für die starke Gewichtung der morphologischen Schemakonstanz bei Abi und Zivi eher gegeben sind. Hier ist die Vollform frequenter als das Kurzwort. Hinzu kommt, dass Auto und Zoo auch generell häufiger verwendet werden als Abi und Zivi. Dass Frequenz alleine aber nicht zu vollständiger Integration führt, wird weiter unten anhand frequenter Buchstabenkurzwörter gezeigt (z.B. PKW), die aufgrund formseitiger Eigenschaften nach wie vor häufig unflektiert bleiben. In vielen Punkten mit Clippings vergleichbar sind multisegmentale Silbenund Mischkurzwörter, die ebenfalls phonetisch gebunden realisiert werden, aber aus mehreren Segmenten der Vollform bestehen, nämlich aus „silbenartigen Elementen“ (Trafo aus Transformator) oder Silben (Mofa aus Motorfahrrad) oder im Falle der Mischwörter zusätzlich auch aus einzelnen Buchstaben (Azubi

180 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

aus Auszubildender) der Vollform (Fleischer & Barz 42012: 278). Auch diese Substantive werden häufig nicht mehr als Kurzwörter wahrgenommen (z.B. Mofa), wozu neben der phonetisch gebundenen Realisierung auch beiträgt, dass der Kurzwortcharakter der Wörter anders als bei Buchstabenkurzwörtern in der Regel nicht graphematisch durch Majuskeln sichtbar gemacht wird. Allerdings wird gelegentlich das zweite Segment des Kurzworts durch eine Majuskel hervorgehoben (z.B. bei ). Multisegmentale Silben- und Mischkurzwörter neigen in ähnlicher Weise wie Clippings zur Realisierung des Genitiv-s (vgl. Tab. 52). Der vergleichsweise hohe Wert für -Ø bei HiWi und Azubi könnte neben deren geringer Frequenz und der Tatsache, dass die Wörter wohl eindeutig als Kurzwörter empfunden werden, auch dadurch motiviert sein, dass es sich bei den jeweiligen Vollformen um schwach flektierte Substantive handelt (des Auszubildend-en und des Hilfswillig-en) und -s als Morphem der starken Deklination hier deshalb tendenziell häufiger gemieden wird als bei Kurzwörtern von stark flektierenden Vollformen.110  Tab. 52: Multisegmentale Silben- und Mischkurzwörter

Lemma-Frequenz DECOW2012-00

Lexem

n

Anteil -Ø

Vollform

Trafo

1196

4,3%

3006

Transformator

Schiri

1726

5,4%

10901

Schiedsrichter

Mofa

209

8,6%

1118

Motorfahrrad

Azubi

381

15,7%

4231

Auszubildender

HiWi

16

25,0%

397

Hilfswissenschaftler /Hilfswilliger

Von den bisher thematisierten Typen sind schließlich die Buchstabenkurzwörter abzugrenzen. Diese bestehen aus einzelnen Buchstaben ihrer Vollformen. Zu unterscheiden sind lautierte, also phonetisch gebunden realisierte Buchstabenkurzwörter (z.B. PIN zu personal identification number, [pɪn]), und buchstabierte Buchstabenkurzwörter (z.B. PKW zu Personenkraftwagen, [ˈpeːkaːveː] oder [peːkaːˈveː]). Auch bei Buchstabenkurzwörtern ist die zugehörige Vollform häufig unbekannt (z.B. MRT oder RAM), der Kurzwortstatus wird in den allermeisten Fällen

|| 110 Gleiches gilt für Zivi und Zivildienstleistender weiter oben.

Kurzwörter | 181

aber graphematisch markiert111 und ist im Falle der buchstabierten Buchstabenkurzwörter auch phonologisch eindeutig erkennbar. Unter anderem deshalb neigen Buchstabenkurzwörter stärker zur Flexivlosigkeit als die bisher thematisierten Typen – der Gebrauch schwankt hier in vielen Fällen sehr stark; man hat es mit echten Zweifelsfällen zu tun. Tab. 53 gibt zunächst Aufschluss über das Flexionsverhalten von lautierten Buchstabenkurzwörtern. Tab. 53: Lautierte multisegmentale Buchstabenkurzwörter

Anteil -Ø

Lemma-Frequenz DECOW2012-00

Lexem

n

Vollform

UFO

498

10,6%

4223

unidentified flying object

PIN112

72

30,6%

4088

personal identification number

RAM

919

38,8%

10306

random access memory

W-LAN113

1350

44,7%

16605

wireless local area network

BIP

7050

94,9%

3284

Bruttoinlandsprodukt

|| 111 Die Schreibung mit durchgängigen Majuskeln überwiegt im Korpus bei allen hier besprochenen Buchstabenkurzwörtern, auch bei UFO/Ufo (zu 69,8 % Majuskelschreibung in DECOW2012-00) und – entgegen der Empfehlung der Duden-Rechtschreibung (252009: 788) – bei PKW/Pkw (59,5 %). Interessanterweise lässt sich dabei eine etwas stärkere Tendenz zur Großschreibung beobachten, wenn ein Plural- oder Genitiv-s realisiert wird: PKW/Pkw weist zu 67,7 % Großschreibung auf, wenn das Wort in flektierter Form (also mit -s) verwendet wird und 58,8 % ohne -s (n = 14428, χ2 = 32,1997, p < 0,001***, Φ = 0,04724139). Offenbar wird die Großschreibung im Sinne der Schemakonstanz auch dazu genutzt, die Grenze zwischen Wortkörper und Flexiv zu markieren und/oder um den Übergang von der syllabischen zur alphabetischen Schreibung anzuzeigen (s. hierzu S. 182). 112 Die geringe Belegzahl von PIN kann unter anderem damit erklärt werden, dass diesem Kurzwort (der Vollform entsprechend) häufig feminines Genus zugewiesen wird, hier aber nur Formen mit maskulinem Genus berücksichtigt werden, was durch die Formulierung der Suchanfrage gesteuert wird. 113 In die Suchanfrage wurde neben der graphematischen Variante mit Bindestrich auch diejenige ohne Bindestrich integriert (also und ). Bei diesem Lexem handelt es sich um eine Mischform zwischen buchstabiertem (W) und lautiertem (LAN) Buchstabenkurzwort. Entscheidend ist hier (auch hinsichtlich der Flexion) der zweite Bestandteil, der phonetisch gebunden realisiert wird. Da es sich bei LAN nicht um eine ungekürzte Vollform handelt, ist W-LAN darüber hinaus auch nicht als partielles Kurzwort (wie z.B. H-Milch) zu klassifizieren und kann insofern hier berücksichtigt werden.

182 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

Den insgesamt höchsten Anteil an s-losen Formen weisen mit einigem Abstand die buchstabierten Buchstabenkurzwörter auf (s. Tab. 54).114 Tab. 54: Buchstabierte multisegmentale Buchstabenkurzwörter

n

Anteil -Ø

Lemma-Frequenz DECOW 2012-00

WC

309

52,4%

3898

watercloset

AKW

1400

69,6%

4932

Atomkraftwerk Magnetresonanztomogramm

Lexem

Vollform

MRT

390

86,7%

2651

PKW

11073

87,1%

14825

Personenkraftwagen

FSJ

699

93,4%

565

freiwilliges soziales Jahr

Ein wichtiger Grund dafür ist, dass es sich hier um den einzigen Kurzworttyp handelt, der nicht phonetisch gebunden realisiert wird und bei dem der Kurzwortstatus in der Regel auch graphematisch durch durchgehende Majuskelverwendung formseitig eindeutig markiert ist. Auf diese Weise heben sich buchstabierte Buchstabenkurzwörter sehr stark von prototypischen deutschen Substantiven ab und sind deshalb eindeutig der Peripherie zuzuordnen. Neben diesen Aspekten kommt hier eine weitere spezifische Motivation für das Ausbleiben des Flexivs hinzu, die im Bereich der Graphematik angesiedelt ist: In Wortformen wie AKWs finden unterschiedliche „Schreibtechniken“ Anwendung, und zwar syllabische Schreibung () und alphabetische Schreibung () (Gallmann 1989: 105). Diese Mischung von „Schreibtechniken“ innerhalb einer Wortform wird dispräferiert und kann durch die Auslassung des Flexivs vermieden werden. Gallmann (1989: 105) spricht in diesem Zusammenhang vom „Einfluß des graphematischen Prinzips“.115 Da bei lautierten Buchstabenkurzwörtern keine solche Mischung vorliegt, sondern ausschließlich alphabetische Schreibung Anwendung findet, kann die bei buchstabierten Kurzwörtern zu

|| 114 Dieser Kurzworttyp ist in der Stichprobe von 5000 Genitivbelegen, die in Kapitel 2 analysiert wurde, am häufigsten vertreten und sorgt dort für den insgesamt hohen Anteil an s-Losigkeit bei Kurzwörtern (s. z.B. Abschnitt 2.4.1.2), wobei besonders auch die buchstabierten Buchstabenkurzwörter, die gleichzeitig als Eigenname zu klassifizieren sind (z.B. DFB), eine wichtige Rolle spielen. 115 Gallmann (1989: 105) bezieht sich auf die Motivation für Apostrophschreibungen (z.B. des IQ’s). Seine Ausführungen können meines Erachtens aber problemlos auf die Auslassung des Flexivs übertragen werden (z.B. des IQ).

Kurzwörter | 183

beobachtende stärkere Tendenz zu -Ø (auch) mit dem ausschließlich hier gegebenen Einfluss des „graphematischen Prinzips“ erklärt werden. Allerdings ist das „graphematische Prinzip“ keineswegs der einzige Faktor, der zur Auslassung des Flexivs führt. Dies ist unter anderem daran zu erkennen, dass auch lautierte Buchstabenkurzwörter einigermaßen stark zu -Ø tendieren, obwohl hier ein Einfluss dieses Prinzips ausgeschlossen werden kann.116 Zu den bisher thematisierten Aspekten kommen weitere Gründe für die starke Gewichtung der morphologischen Schemakonstanz, die auch bei anderen peripheren Substantiven bedeutsam sind und in den entsprechenden Abschnitten bereits erläutert und dargestellt wurden (weshalb sie hier nur kurz illustriert werden). Diese betreffen alle Kurzworttypen gleichermaßen. So ist allen peripheren Substantiven gemein, dass sie zu -Ø neigen, wenn es sich um ein wenig etabliertes, unvertrautes und als ungewöhnlich empfundenes Wort handelt. Die Auslassung des Flexivs erhöht unter anderem die Wiedererkennbarkeit und erleichtert die ohnehin erschwerte Worterkennung. Je länger ein peripheres Wort Bestandteil einer Sprache ist und je häufiger es verwendet wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich auch grammatisch dem Zentrum und somit dem Verhalten der prototypischen Substantive annähert. Diese nicht-kurzwortspezifischen Aspekte sind der Grund dafür, dass auch Kurzwörter, die nicht als solche wahrgenommen werden, einen erhöhten Schonungsbedarf aufweisen: Ähnlich wie kürzlich entlehnte Fremdwörter sind auch neu gebildete (oder auch entlehnte) Kurzwörter noch kein etablierter Bestandteil des Sprachgebrauchs und können dementsprechend peripher und nicht integriert sein. Häufig (aber nicht zwangsläufig, s. z.B. FSJ) spielen dabei Fremdwortcharakter und Kurzwortstatus zusammen. Viele Kurzwörter sind nicht im Deutschen entstanden, sondern sind aus anderen Sprachen entlehnt (z.B. die meisten Beispiele in Tab. 53). Inwiefern der Kurzwortstatus bei diesen Entlehnungen einen Einfluss auf das flexionsmorphologische Verhalten hat, hängt in erster Linie von seiner Salienz ab, die maßgeblich durch den Wortbildungstyp determiniert ist: Während der Kurzwortstatus auch bei entlehnten buchstabierten Buchstabenkurzwörtern offenkundig und flexionsmorpholo|| 116 Man beachte, dass sämtliche Genitivbelege des jeweiligen Kurzworts aus allen acht Teilkorpora von DECOW2012 berücksichtigt wurden. Die Angaben zur Lemma-Frequenz beziehen sich hingegen nur auf die Anzahl der entsprechenden Belege in einem Teilkorpus (DECOW2012-00), da sie lediglich einen Anhaltspunkt zur Häufigkeit des Lexems geben sollen und es hier nicht nötig ist, möglichst viele Tokens zu berücksichtigen. Deshalb ist es möglich, dass die Anzahl der Genitiv-Belege die Angabe zur Lemma-Frequenz übersteigt (s. z.B. FSJ: 699 ‒ 565).

184 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

gisch bedeutsam ist (z.B. PC), ist er ansonsten tendenziell eher unbekannt und von untergeordneter Bedeutung (z.B. UFO/Ufo). Bei einem entsprechenden Frequenz-Anstieg integrieren sich auch Kurzwörter schrittweise, was in Abb. 35 anhand der Mikrodiachronie von PC gezeigt wird.117

100% 90% 80% 70% 60% 50%

-s

40%



30% 20% 10% 0% bis 1994

1995-1999

2000-2004

2005-2009

2010-2014

n=25

n=415

n=2216

n=2747

n=1634

Abb. 35: Die Ausprägung des Genitivs von PC diachron (Daten aus DeReKo)

Der Verlauf ähnelt stark dem Integrationsmuster einiger Fremdwörter, die in Abschnitt 4.1 besprochen werden. Allerdings verläuft die Integration hier wesentlich zügiger: In einem Zeitraum von nur 20 Jahren halbiert sich der Anteil der flexivlosen Formen von 80 % auf ca. 40 %. Diese rasche Entwicklung wird durch den deutlichen Frequenzanstieg von PC nach seinem Einzug in den Sprachgebrauch ermöglicht und erinnert insofern an die Integration von Internet, der ebenfalls ein deutlicher Frequenzanstieg im Zuge der technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen am Ende des 20. und am Anfang des 21. Jahrhunderts zugutekam (vgl. Abschnitt 4.1.4). Allerdings ist auffällig, dass PC am Ende des betrachteten Zeitraums nach wie vor einen beachtlichen Teil an

|| 117 Die hier zugrundeliegenden Daten wurden entsprechend der Stichprobe zu Internet zusammengestellt (s. Abschnitt 4.1.4).

Kurzwörter | 185

flexivlosen Formen aufweist, während Internet gleichzeitig fast ausschließlich in flektierter Form belegt ist; der Anteil von -Ø liegt dort unter 5 % (s. Abschnitt 4.1.4). In diesem Unterschied manifestieren sich die oben beschriebenen kurzwortspezifischen Gründe für eine starke Gewichtung der morphologischen Schemakonstanz, die gerade bei multisegmentalen buchstabierten Buchstabenkurzwörtern wie PC besonders stark ausgeprägt sind. Steigende bzw. über einen längeren Zeitraum hohe Gebrauchsfrequenzen sorgen demnach dafür, dass sich ein Wort nach und nach etabliert, was sich auch im flexionsmorphologischen Verhalten niederschlägt, erübrigen aber nicht den speziell bei Kurzwörtern gegebenen Schonungsbedarf. Das gilt in erster Linie für Buchstabenkurzwörter, weshalb diese, auch wenn sie gebräuchlich sind, nicht ausschließlich mit -s verwendet werden. Das trifft z.B. auch auf PKW und WC zu, die zwar bei weitem nicht so frequent wie PC, aber schon seit Längerem im Deutschen gebraucht werden (vgl. Tab. 54, s. oben).118 Kurzwörter, bei denen die kurzwortspezifischen Gründe für erhöhten Schonungsbedarf hingegen nicht so ausgeprägt sind (Clippings und multisegmentale Silben- und Mischkurzwörter), tendieren im Gegensatz dazu stark in Richtung -s, sobald sie etabliert sind (z.B. Auto, vgl. Tab. 51, s. oben).

4.3.2 Kurzwörter und das Relevanzprinzip (nach Bybee 1985, 1994) Die Tatsache, dass der Wortkörper etablierter buchstabierter Buchstabenkurzwörter auch bei hoher Frequenz und trotz gegebener Vertrautheit der Sprachgemeinschaft mit dem Wort häufig unverändert bleibt, macht diese Gruppe, die im Übrigen auch den häufigsten Kurzworttyp darstellt (vgl. Duden-Grammatik 9 2016: 746), besonders interessant. Der Einfluss der Motivationen, die für formseitige Invarianz sorgen, ist hier so groß, dass nicht nur das Genitiv-s häufig ausgelassen wird, sondern auch der Pluralmarker (vgl. (93)) – was diesen Kurzworttyp deutlich von anderen Substantiven, z.B. Fremdwörtern, abhebt (vgl. (94) vs. (95)). (93)

Beide Pkw waren nach dem Unfall nicht mehr fahrbereit.

|| 118 Die Lemma-Frequenz von PC in DECOW2012-00 beträgt 111.343 und übersteigt die von PKW/Pkw (14.825) und WC (4278) deutlich.

186 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

(94)

Eine kleine Geschichte des Shitstorm

(95)

*viele Shitstorm

Da sowohl der Genitiv als auch der Plural ausschließlich mit -s markiert werden können, ergibt sich hier eine interessante Konstellation, die es ermöglicht, die jeweiligen der morphologischen Schemakonstanz entgegenwirkenden Motivationen genauer zu testen und die entsprechenden Unterschiede zwischen den beiden Kategorien herauszuarbeiten. Da die Flexive formseitig identisch sind und deshalb im Sinne der morphologischen Schemakonstanz gleichermaßen dispräferiert werden, lassen Unterschiede hinsichtlich der Häufigkeit der realisierten Flexive Rückschlüsse auf die Relevanz der kodierten morphologischen Information zu: Wird tendenziell eher auf die saliente Kodierung der Kasusinformation oder auf die der Pluralinformation verzichtet? Mit dem Begriff der Relevanz beziehe ich mich hier auf Bybee (1985), die die Relevanz grammatischer Kategorien folgendermaßen definiert: „A meaning element is relevant to another meaning element if the semantic content of the first directly affects or modifies the semantic content of the second” (Bybee 1985: 13; Hervorhebungen im Original).

Die Relevanz einer grammatischen Kategorie ergibt sich demnach daraus, wie stark sie die Semantik der Basis affiziert. Aus dieser Definition schlussfolgert Bybee für den verbalmorphologischen Bereich die Relevanzhierarchie in (96). Ein wichtiger Grund für diese Klassifizierung ist die Unterscheidung zwischen denjenigen Kategorien, die die Verbalhandlung an sich betreffen (z.B. Valenz) und den Kategorien wie Numerus und Person, die sich auf die nominalen Argumente beziehen (für genauere Erläuterungen s. Bybee 1985: 13–24, 1994: 2559, Dammel & Nübling 2004: 179–180, Dammel & Gillmann 2014: 176–177 sowie einführend Nübling et al. 42013: 70–72). (96)

Valenz > Diathese > Aspekt > Tempus > Modus > Numerus > Person [+relevant]

[-relevant]

Der an dieser Stelle relevante Transfer der von Bybee ursprünglich anhand verbaler Kategorien aufgestellten Definition und der sich daraus ableitenden Hierarchie auf den nominalmorphologischen Bereich wird von Dammel & Gillmann

Kurzwörter | 187

(2014: 175–189) ausführlich beschrieben (s. auch Bybee 1985: 34, 1994: 2559 und Nübling et al. 42013: 69–70). Die dort vorgeschlagene Relevanzhierarchie der nominalen Flexionskategorien findet sich in (97). Diese bemisst sich wie beim Verb nach dem Einfluss, den ein grammatisches Zeichen auf die Bedeutung seiner substantivischen Basis ausübt. […] Der Numerus ist für die Bedeutung des Nomens hochrelevant. Zwar verändert er nicht die interne Struktur des Konzepts, modifiziert aber die Anzahl der Referenten. […] Kasus wirkt sich dagegen nicht auf das Konzept des Referenten selbst aus, vielmehr erfüllt diese Kategorie rein relationale Funktion […]. (Dammel & Gillmann 2014: 185–187)

Kasus hat somit die niedrigste Relevanz aller nominalen Flexionskategorien.119

(97)

Numerus [+relevant]

>>

Definitheit

>>

Kasus

[-relevant]

Die beiden Relevanzhierarchien, die auf semantischen Aspekten basieren, spiegeln sich in formseitigen Eigenschaften wider, die den Ausdruck der jeweiligen Flexionskategorien und deren Verhältnis zueinander betreffen. Die Relevanz (und damit die Funktion) einer Kategorie hat maßgeblichen Einfluss auf ihre formseitige Realisierung: Je relevanter sie ist, desto stärker fusioniert sie mit dem lexikalischen Stamm (Dammel & Gillmann 2014: 177). Bei geringer Relevanz ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass die Information an der Peripherie eines Wortes ausgedrückt oder in die Syntax ausgelagert wird. Werden mehrere Kategorien ausgedrückt, entspricht die Reihenfolge der Marker der Relevanzhierarchie. Diese Aspekte werden zusammenfassend als Relevanzprinzip bezeichnet. Für die Gültigkeit dieses Prinzips sprechen zahlreiche Beobachtungen zur Synchronie und Diachronie des Deutschen: So gibt es zwar viele Pluralformen mit Umlaut, einem stammaffizierenden Verfahren (z.B. Mutter – Mütter), aber keine stammaffizierenden Kasusmarker (mehr). Diese wurden in der Geschichte des Deutschen systematisch abgebaut (z.B. ahd. lambNOM.SG, lembiresGEN.SG > lambiresGEN.SG). Kasusmarker sind im Deutschen immer an der rechten Peripherie des Substantivs zu finden, und zwar stets weiter vom lexikalischen Stamm entfernt als ein ggf. zusätzlich realisiertes Pluralmorphem (z.B. mit vielen Tier-ePlural-nDativ). Während einige nominale Kasusmarker phonologischen Wan-

|| 119 Zu den Kategorien Definitheit und Genus, die im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle spielen, siehe Dammel & Gillmann (2014: 186–187).

188 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

delprozessen zum Opfer gefallen sind, wurden viele formseitig identische Pluralmarker verschont oder restituiert (s. z.B. die unterschiedlichen Auswirkungen der e-Apokope auf Plural-e und Dativ-Singular-e, Dammel & Gillmann 2014: 202). Deshalb sind Nullplurale im Deutschen heute die Ausnahme, lediglich der Pluralmarker bei Mehrsilblern auf Reduktionssilbe wird nicht restituiert (z.B. die Lehrer). Die alleinige Kasusanzeige durch einen Artikel ist hingegen aber die Regel. Der Ausdruck der weniger relevanten Kategorie Kasus wurde weitestgehend an Begleiter ausgelagert (dem Manne > dem Mann-Ø), während relevanzgesteuerter Wandel dazu geführt hat, dass die relevantere Numerusinformation weiterhin fusionierender ausgedrückt wird (die Tage vs. *die Tag). Zahlreiche weitere Aspekte des nominalmorphologischen Bereichs thematisieren Dammel & Gillmann (2014); zum verbalmorphologischen Bereich siehe Dammel & Nübling (2004). Typologische Evidenz für die Bedeutsamkeit des Relevanzprinzips im verbalmorphologischen Bereich liefert Bybee (1985) anhand eines Samples von 50 Sprachen (s. hierzu auch Dammel & Nübling 2004). Eine entsprechende Studie für den nominalmorphologischen Bereich steht bislang noch aus, allerdings stützen verschiedene Beobachtungen und Analysen die Annahme, dass auch die nominale Relevanzhierarchie typologisch fundiert ist. So steht sie z.B. im Einklang mit Greenbergs (21966: 95) Universalie Nr. 39: „Where morphemes of both number and case are present and both follow or precede the noun base, the expression of number always comes between the noun base and the expression of case.”120 Sprachsystem und Sprachgeschichte des Deutschen sowie die Typologie untermauern also die Bedeutsamkeit und die Gültigkeit des Relevanzprinzips. Inwiefern sich das Relevanzprinzip auch in synchroner Variation im Deutschen niederschlägt, soll im Folgenden überprüft werden. Entsprechend der Relevanzhierarchie ist zu erwarten, dass -s als Kasusmorphem eher ausgelassen wird als in seiner Funktion als Pluralmarker: Es sollte eher toleriert werden, dass der Ausdruck der weniger relevanten Kategorie gänzlich an die Syntax bzw. Begleiter ausgelagert wird als der Ausdruck der relevantesten nominalen Kategorie, der typischerweise stark fusionierend realisiert wird. Die Motivation, die mit dem salienten Ausdruck grammatischer Informationen konkurriert, ist die morphologische Schemakonstanz. Diese wird bei einem Wort im Singular und im Plural gleichermaßen angestrebt; da Plural-s und Genitiv-s formseitig identisch sind, ergeben sich hier keine Unterschiede. Der Wortkörper von PKW ist in die PKWs ebenso beeinträchtigt wie in des PKWs.

|| 120 Siehe auch Dammel & Gillmann (2014: 188–189) und die weiteren Literaturhinweise dort.

Kurzwörter | 189

Um Unterschiede im Gebrauch der beiden Flexive zu untersuchen, wurde ein Sample von fünf maskulinen/neutralen buchstabierten Buchstabenkurzwörtern zusammengestellt und deren Flexionsverhalten in Genitiv Singular und Plural verglichen. Folgende Lexeme wurden aufgenommen: AKW (Atomkraftwerk), MG (Maschinengewehr), PC (personal computer), PKW/Pkw (Personenkraftwagen) und WC (water closet). Es mussten möglichst frequente Kurzwörter ausgewählt werden, um ausreichend Belege in beiden Formen zu erhalten, sowie ausschließlich zählbare Appellative, um genügend Pluralbelege zu gewährleisten. Bei der Zusammenstellung wurde außerdem darauf geachtet, dass die Lexeme auf verschiedene Buchstaben enden und auf Vollformen mit unterschiedlichen Pluralallomorphen zurückgehen. Die Daten wurden in DECOW2012 erhoben, pro Lexem wurden je 500 randomisierte Plural- und Genitivbelege in das Sample aufgenommen, lediglich bei WC (309 Genitivbelege) und MG (206) kam diese Anzahl an Genitivbelegen nicht zustande.121 Es wurden solche Pluralbelege berücksichtigt, in denen die Pluralinformation im syntaktischen Kontext eindeutig durch einen entsprechend flektierten Artikel (vgl. (98)), einen Quantor bzw. eine Kardinalzahl (vgl. (99) und (100)), durch NumerusKongruenz (vgl. (101)) oder andere Indikatoren (Pronomen, Auslassung des Artikels usw., vgl. (102)) markiert ist, und zwar unabhängig davon, ob ein Flexiv realisiert ist oder nicht. Andere Belege wurden nicht berücksichtigt, da in diesen Fällen einerseits nicht immer klar ist, ob es sich überhaupt um einen Pluralbeleg handelt und um andererseits Vergleichbarkeit mit der Variation im Genitiv zu gewährleisten, da Genitivbelege ohne kongruierendes Artikelwort – also ohne overte Kasusanzeige im syntaktischen Kontext des Substantivs (z.B. die Bedeutung ehrenamtlichen Engagements) – generell äußerst selten und in der Stichprobe gar nicht enthalten sind. (98)

Das Campusmagazin besuchte die WCs der Hochschule Darmstadt und verlieh den besten "stillen Örtchen" die goldene Klobürste.

|| 121 Die Suchanfragensyntax für Genitiv-Belege wurde beibehalten, vgl. die Beschreibung in Fußnote 105 in Abschnitt 4.3.1. Die Pluralbelege wurden manuell aus allen Belegen herausgefiltert, die das jeweilige Lexem mit oder ohne -s enthalten (z.B. [PC|PCs]).

190 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

(99)

Wir haben ziemlich viele WC angesteuert, obwohl ich eigentlich nicht musste, nur zu meiner Sicherheit.

(100)

Die neue Fähre konnte 60 Pkw oder 15 Lastwagen tragen.

(101)

Auf dem Dach des Gefängnisses sind MG postiert.

(102)

Absurd, jetzt AKW, die gut funktionieren, abzuschalten.

Abb. 36 zeigt, dass das -s bei allen untersuchten Lexemen im Plural seltener ausgelassen wird als im Genitiv Singular.

Anteil an -Ø 100% 90% 80% 70% 60% 50%

Plural

40%

Genitiv

30% 20% 10% 0% PC

MG

WC

AKW

PKW/Pkw

Abb. 36: Die Flexion buchstabierter Buchstabenkurzwörter: Plural vs. Genitiv Singular

Die Unterschiede sind jeweils signifikant (vgl. Tab. 55).

Kurzwörter | 191

Tab. 55: Die Flexion buchstabierter Buchstabenkurzwörter: Plural vs. Genitiv Singular

Plural

Genitiv Singular

Lexem n

Anteil -Ø

n

χ2

p

Φ

0,2612152

Anteil -Ø

PC

500

14,2%

500

37,0%

68,2334

< 0,001***

MG

500

26,0%

206

43,2%

20,18

< 0,001***

0,1690669

WC

500

34,2%

309

52,4%

26,1978

< 0,001***

0,1799526

AKW

500

38%

500

70,2%

104,3859

< 0,001***

0,3230881

PKW/Pkw

500

73,6%

500

88,0%

33,4158

< 0,001***

0,1828

Denkbar wäre es, dass diese Differenzen durch syntaktische Unterschiede zwischen den beiden Kategorien hervorgerufen werden, z.B. dadurch, dass die Genitivbelege immer mit einem entsprechend flektierten Artikel kongruieren und auf diese Weise der Genitiv Singular auch ohne nominalen Kasusmarker salient kodiert ist, während die Pluralanzeige außerhalb des Substantivs nicht nur durch Artikel, Quantor oder Kardinalzahl, sondern auch wesentlich weniger salient kodiert sein kann, z.B. durch Auslassung des Artikels und/oder Numerus-Kongruenz mit einem (ggf. auch rechts von einem Substantiv stehenden) Verb (vgl. (103)). (103)

Dass trotz des ständigen Unfallrisikos, der ungelösten Entsorgungsfrage und der massiven Umweltschäden beim Uranabbau AKW überhaupt betrieben werden, ist nicht nur ein fortgesetzter Skandal für uns ist es auch ein Zeichen, dass in unserer Gesellschaft etwas grundsätzlich nicht stimmen kann.

Vorstellbar wäre es also, dass SprachbenutzerInnen immer dann besonders zur Realisierung des Pluralmarkers -s neigen, wenn kein salienter Numerusmarker (Artikel, Quantor oder Kardinalzahl) im syntaktischen Kontext verwendet wird. Das ist aber nicht der Fall. Wie Tab. 56 zeigt, gibt es hinsichtlich der Häufigkeit von -s keinen signifikanten Unterschied zwischen Belegen mit diesen Numerusmarkern gegenüber allen anderen Fällen. Im Falle von WC ist der Anteil von -Ø hier sogar höher.

192 | Genitiv-s-los verwendete Substantivgruppen

Tab. 56: Einfluss des syntaktischen Kontexts auf die Realisierung des Plural-s

Lexem

PC

Belege mit Artikel/ Quantor/Kardinalzahl

Sonstige Belege

n

Anteil -Ø

n

245

13,5%

255

χ2

p

Φ

0,2105

> 0,05



> 0,05

Anteil -Ø 14,9%

MG

263

28,1%

237

23,6%

13,168

WC

207

26,1%

293

39,9%

103,321 0,001307**

– 0,1437504

AKW

291

38,8%

209

37,0%

0,169

> 0,05



PKW/Pkw

237

74,7%

263

72,5%

0,2996

> 0,05



Die an dieser Stelle thematisierten Aspekte sprechen demnach dafür, dass das Verhältnis von Form und Funktion auch hier eine Rolle spielt. -Ø  ist  zwar sowohl im Genitiv Singular als auch im Plural möglich, die relevantere Information Numerus setzt sich aber tendenziell eher gegen morphologische Schemakonstanz durch als die weniger relevante Kasusinformation. Somit liefert auch die hier untersuchte synchrone Variation Evidenz für die Gültigkeit des Relevanzprinzips und ergänzt somit die Argumente aus Sprachsystem, Sprachwandel und Typologie.

5 Theoretische Implikationen Dass zahlreiche maskuline und neutrale Substantive im Genitiv Singular regelmäßig ohne Flexiv verwendet werden, ist bisher sowohl in Arbeiten zum Flexionsklassensystem des Deutschen als auch in allgemeinen theoretischen Arbeiten weitestgehend unberücksichtigt geblieben, was auch für solche Ansätze gilt, die ihre Aussagen (in erster Linie) auf Erkenntnissen zum Deutschen aufbauen. Ein Grund dafür ist, dass die s-Losigkeit im Genitiv Singular ausschließlich periphere, nicht prototypische Substantive betrifft und einige Arbeiten sich (explizit oder implizit) auf die Untersuchung des grammatischen Kernsystems beschränken, dabei die Peripherie gänzlich unbeachtet lassen, aus dem Untersuchungsgegenstand ausschließen und/oder Phänomene der Peripherie als Ausnahmen klassifizieren und somit bei allen Systematisierungsversuchen unberücksichtigt lassen. Hinzu kommt, dass beinahe ausnahmslos alle Substantive, die von der s-Losigkeit betroffen sind, auch mit -s verwendet werden und die resultierende Variation grundlegende Aussagen zu einem Flexionssystem erschwert, da sich diese Wörter einer eindeutigen Klassifizierung entziehen. Nicht zuletzt spielt sicher auch eine Rolle, dass zahlreiche Beschreibungen der deutschen Deklination auf einer Kreuzklassifizierung von Genus und Flexionsklasse basieren. Dies ermöglicht eine systematische und ökonomische Beschreibung fast aller Daten, ist mit der s-Losigkeit im Genitiv Singular neutraler und maskuliner Substantive aber nicht kompatibel. Wie weiter unten im Detail gezeigt wird, sind s-lose Belege in vielerlei Hinsicht unerwartet und widersetzen sich einer eindeutigen Klassifizierung. Gerade das macht sie theoretisch relevant: s-lose Genitive maskuliner und neutraler Substantive stellen sowohl allgemeine Annahmen zur Organisation von Deklinationssystemen infrage als auch Beschreibungen des deutschen Systems – so unterschiedlich diese auch ausfallen. Diese theoretischen Implikationen der Variation im Genitiv werden im Folgenden ausführlich beschrieben und diskutiert. Dabei wird zunächst aufgezeigt, inwiefern s-lose Genitive nicht mit Beschreibungen des deutschen Deklinationssystems kompatibel sind und welche Fragen das Phänomen hinsichtlich sprachübergreifender und theoretischer Aspekte aufwirft. Dazu werden wichtige Grundbegriffe wie Deklinationsklasse, Makroklasse und Genus erörtert. Anschließend werden verschiedene Möglichkeiten diskutiert, wie die betroffenen Substantive in eine adäquate Beschreibung des Deutschen integriert werden können, was wiederum relevant ist mit Blick auf die theoretischen und sprachübergreifenden Aspekte.

https://doi.org/10.1515/9783110557442-005

194 | Theoretische Implikationen

5.1 Genitiv-s-Losigkeit und das deutsche Deklinationssystem Die vermeintlich triviale Zuordnung eines Wortes zu einer Deklinationsklasse ist bei maskulinen und neutralen Substantiven, die regelmäßig ohne Flexiv im Genitiv Singular verwendet werden, mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. So stellt sich z.B. die Frage, wie periphere Substantive wie AKW, Ferrari oder Tango zu klassifizieren sind. Ein Grund dafür, dass eine eindeutige Zuordnung dieser Wörter nicht möglich ist, liegt im stark schwankenden Flexionsverhalten der einzelnen Lexeme. Auf diesen Punkt komme ich weiter unten wieder zurück (vgl. Abschnitt 5.3.2). Zunächst wird hier aber von dieser Beobachtung abstrahiert und festgestellt, dass diese Lexeme mehrheitlich nach dem Muster -Ø im Genitiv Singular und -s im Plural flektieren: Für alle drei Lexeme gilt, dass sie im Genitiv Singular häufiger ohne Flexiv als mit Flexiv (vgl. (104) und (105) sowie die Korpusdaten im Anhang 6) und im Plural mit -s verwendet werden, was im weiteren Verlauf des Kapitels folgendermaßen notiert wird: Ø|s.1 (104)

'Ungeschickt' und 'stur' habe sich Sloweniens Aufsichtsbehörde verhalten, meinte der Vorstandschef des AKW.

(105)

Rund 140 AKWs stehen allein in den Staaten der EU.

Dieses Muster an sich ist mit den meisten aktuellen Beschreibungen des Deutschen kompatibel und wird in der Regel als eine zwar verhältnismäßig schwach besetzte, aber dennoch nicht zu vernachlässigende Flexionsklasse beschrieben (vgl. z.B. Wurzel 1994: 34, Duden-Grammatik 92016: 219–220). Zugeordnet werden dieser Flexionsklasse allerdings ausschließlich feminine Substantive des Typs Airline. Die oben genannten maskulinen und neutralen Substantive werden dieser Klasse nicht zugerechnet, obwohl sie nach dem entsprechenden Muster flektieren. Der Grund dafür ist die Kreuzklassifizierung nach zwei im Prinzip unabhängigen Eigenschaften, die im Deutschen und vielen anderen Sprachen allerdings stark miteinander verwoben sind: Genus und Flexionsklas-

|| 1 Von den beiden Kennformen Genitiv Singular und Nominativ Plural lassen sich im Gegenwartsdeutschen alle anderen nominalen Flexionsformen ableiten, sodass mit der entsprechenden Notation das Flexionsverhalten eines Substantivs ausreichend charakterisiert ist. Im Folgenden wird häufig zwischen Feminina und Nichtfeminina unterschieden, die auf diese Weise flektieren, weshalb diese Genusunterscheidung ggf. mitgeliefert wird, z.B. Ø|s (mask./neut.).

Genitiv-s-Losigkeit und das deutsche Deklinationssystem | 195

se. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen beiden Klassifikationssystemen liegt darin, dass Genus sich nicht am Substantiv selbst, sondern über Kongruenz mit anderen Wörtern der Nominalgruppe manifestiert, während Flexionsklasse sich ausschließlich am Substantiv selbst zeigt. Entsprechend der Definition von Hockett (1958: 231: „Genders are classes of nouns reflected in the behaviour of associated words“)2 lässt sich das Genus von Mensch in (106) an Artikel (Akkusativ: mask. einen vs. fem. eine oder neut. ein, vgl. (106) bis (108)) und Adjektiv (mask. lieben vs. fem. liebe oder neut. liebes) erkennen. (106)

MASKULINUM: Ich kenne einen lieben Mensch-en.

(107)

FEMININUM: Ich kenne eine liebe Person-Ø.

(108)

NEUTRUM: Ich kenne ein liebes Tier-Ø.

Artikel und Adjektiv, die selbst kein inhärentes Genus haben, kongruieren mit dem Substantiv. Das Genus-Merkmal trägt also das Substantiv, es manifestiert sich aber ausschließlich via Kongruenz an den begleitenden Wörtern. Im Gegensatz dazu hat die Flexionsklasse keinerlei Einfluss auf die kongruierenden Wörter. Dass es sich bei Mensch in (106) um ein schwach flektierendes Wort handelt, ist hier ausschließlich an der Akkusativ-Endung des Substantivs, nämlich -en, festzumachen. Flexionsklasse und Genus korrelieren im Deutschen stark miteinander, z.B. ist aufgrund der schwachen Akkusativ-Endung -en des Substantivs zwangsläufig klar, dass es sich bei Mensch um ein Maskulinum handelt, da ausschließlich Maskulina im Akkusativ Singular ein Flexiv erhalten können. Diese Korrelation ist allerdings nicht perfekt, da man nicht immer zwangsläufig von Genus auf Flexionsklasse oder von Flexionsklasse auf Genus schließen kann, weshalb die Trennung der beiden Klassifikationssysteme im Deutschen nicht obsolet ist. So können Feminina z.B. nach dem Muster Ø|UL+e oder Ø|(e)n flektieren (z.B. Künste vs. Malereien) und Mitglieder der Flexionsklasse, die durch (e)s|e gekennzeichnet ist, können entweder Maskulina oder Neutra sein (z.B. Hund vs. Pferd). Dass der Zusammenhang zwischen Genus und Flexionsklasse im Deutschen zwar nicht perfekt, aber dennoch sehr eng ist, führt dazu, dass Substantive häufig kreuzklassifiziert werden, was sich auch in der Bezeichnung von Klassen (z.B. schwache Maskulina) niederschlägt. In diese Kreuzklassifizierungen, die sich in Anbetracht des Kernsystems anbieten, lassen sich die regelmäßig ohne Genitiv-s gebrauchten peripheren Substantive allerdings nicht ohne Wei-

|| 2 Zur Definition von Flexionsklasse siehe weiter unten, Abschnitt 5.3.

196 | Theoretische Implikationen

teres integrieren, was ein wichtiger Grund dafür ist, dass Beschreibungen des deutschen Deklinationssystems mit solchen peripheren Substantiven inkompatibel sind. Dieser Sachverhalt wird im Folgenden anhand exemplarisch ausgewählter Beschreibungen des deutschen Deklinationssystems aufgezeigt. Aus der Vielzahl an Vorschlägen, die gemacht wurden, werden hier vor allem auch solche behandelt, die auf irgendeine Weise eine Extremposition einnehmen, sodass möglichst das ganze Spektrum an Entwürfen deutlich wird. Dabei wird es im Wesentlichen um drei Aspekte gehen, hinsichtlich derer sich die Vorschläge unterscheiden: 1.

das Spannungsfeld zwischen angestrebter Beschreibungsökonomie und größtmöglicher Differenzierung sowie die Frage, wie ähnlich Wörter sein müssen/können, um sie zu einer Klasse zusammenzufassen

2.

die Bedeutung, die das Genus bei Systematisierungsversuchen einnimmt

3.

die Frage, ob einheitliche oder jeweils nach Numerus getrennte Paradigmen pro Substantiv angenommen werden sollten

Eine Extremposition hinsichtlich des ersten Aspekts stellt der Vorschlag von Simmler (1998) dar, der sich durch „eine maximale Differenzierung, die einer ökonomischen Systematisierung widerstrebt“ (Harnisch & Koch 2009: 398), von anderen Vorschlägen abhebt. Die systematische Zusammenfassung verschiedener Paradigmen zu Makroklassen (z.B. den Ansatz von Carstairs 1987, s. Abschnitt 5.2.2) lehnt Simmler explizit ab: Die für den Ansatz von Makroklassen und Makroparadigmen bemühte Ökonomie der Beschreibung steht in Widerspruch zu den Prinzipien der Identifikation und Distinktion und den darauf beruhenden der Klassenbildung und kann daher keinen Fortschritt in der Erfassung der Phänomene darstellen. (Simmler 1998: 219)

Simmler (1998) setzt 13 Deklinationsklassen an, von denen eine nur ein Mitglied (Herz) und eine andere zwei Mitglieder hat (Tochter, Mutter). Diese 13 Deklinationsklassen werden nach verschiedenen Kriterien (Genus, Umlaut, phonologische Kriterien usw.) in insgesamt 72 verschiedene Subgruppen unterteilt (vgl. hierzu auch Harnisch & Koch 2009: 396–398). Periphere Substantive, die regelmäßig -Ø im Genitiv erhalten, werden allerdings nicht berücksichtigt. Das Muster Ø|s wird explizit als eine Deklinationsklasse, in der ausschließlich Feminina enthalten sind, gekennzeichnet (Simmler 1998: 218). „Insgesamt gibt es keine Klasse, in der alle drei Genera des Deutschen enthalten sind“ (Simmler 1998: 217).

Genitiv-s-Losigkeit und das deutsche Deklinationssystem | 197

Grundsätzlich anders geht Eisenberg (42013b) bei der Beschreibung der deutschen Deklination vor. Er nimmt keine nur einfach besetzten Klassen an, lässt demnach also Ausnahmen zu, geht von unterspezifizierten Paradigmen aus und fasst die zu beobachtenden Muster soweit es geht zusammen, was einer stark ausgeprägten Beschreibungsökonomie zugutekommt. Er beschreibt sechs Flexionstypen, die mit Genus korreliert werden können, vgl. Tab. 57, die Eisenberg (42013b: 162) entnommen ist.3 Tab. 57: Flexionstypen des Deutschen nach Eisenberg (42013b: 162)

MASK

NEUT

FEM

unmarkiert

es/e 1

es/e

en 2

markiert

en/en 3

es/er“ 4

e“ 5

s-Flexion

s/s 6

s/s

s

„Die Darstellung enthält das Minimum an Informationen, das man zur Rekonstruktion der obligatorisch kasus- und numerusmarkierten Formen benötigt“ (Eisenberg 42013b: 161). Phonologisch konditionierte Allomorphe werden als nicht flexionsklassenkonstituierend erachtet und (in größerem Ausmaß als bei Simmler) zu jeweils einem Flexionstyp zusammengefasst.4 Pro Zelle sind jeweils die Genitiv-Singular-Endung (falls vorhanden) und die Pluralmarkierung angegeben. Das “-Symbol steht für Umlaut. Genus und Flexionstyp müssen laut Eisenberg nicht zwangsläufig korreliert werden, durch diese Darstellungsform werde aber „ein weiterer struktureller Aspekt […] deutlich“ (Eisenberg 42013b: 162). s-lose Genitive maskuliner und neutraler Substantive sind auch mit dieser Darstellung nicht kompatibel, vor allem solche Belege, bei denen -Ø nicht

|| 3 „markiert“ wird in dieser Übersicht im Sinne von ‚untypisch‘ gebraucht. 4 Von untergeordnetem Interesse ist an dieser Stelle die Frage, wie sich die Vorschläge im Detail unterscheiden. Stattdessen sollen hier grundsätzliche Herangehensweisen aufgezeigt und die Kompatibilität der Vorschläge mit der Variation im Genitiv überprüft werden.

198 | Theoretische Implikationen

(auch) phonologisch konditioniert ist (vgl. z.B. des Sozialismus).5 Dieser Umstand ist wohl der bewussten Entscheidung geschuldet, Ausnahmen und schwach besetzte Klassen bei der Beschreibung unberücksichtigt zu lassen. Einzelne weitere Substantive (Herz, Name, Buchstabe usw.) sowie gemischt flektierende Substantive mit -(e)s im Genitiv Singular und -(e)n im Plural (Autor, Ende, See usw.) werden von dieser Übersicht ebenfalls nicht abgedeckt. Auch Thieroff & Vogel (2008) sind bestrebt, die Beschreibung des Flexionsverhaltens deutscher Substantive möglichst übersichtlich zu halten. Im Gegensatz zu Eisenberg (42013b) finden hier die gemischt flektierenden Substantive Berücksichtigung, die eine von fünf „Deklinationsklassen“ darstellen. Die anderen vier „Deklinationsklassen“ sind die starken Nichtfeminina (z.B. Berg, Segel, Mann), die schwachen Maskulina (Mensch, Affe), die Nichtfeminina mit s-Plural (Uhu, Auto) sowie die Feminina (Frau, Hand, Oma; vgl. Thieroff & Vogel 2008: 44–45). Der Begriff Deklinationsklasse wird hier sehr weit gefasst und weicht von der weiter unten gegebenen Definition ab (vgl. Abschnitt 5.3), da verschiedene, nicht phonologisch konditionierte Plural-Allomorphe zu einer Deklinationsklasse zusammengefasst werden (z.B. -e und UL + er in der Klasse der starken Nichtfeminina: Berge vs. Männer). Darüber hinaus werden Kasusmarkierung, Pluralmarkierung und Genus kreuzklassifiziert, sodass Substantive wie AKW, die neutrales Genus haben und mehrheitlich nach dem Muster Ø|s flektieren, sich auch hier nicht unterbringen lassen. Neben der bei Simmler (1998), Eisenberg (42013b) und Thieroff & Vogel (2008) unterschiedlich beantworteten Frage, welche Charakteristika als klassenkonstituierend erachtet werden sollten und welche Gruppen von Wörtern demnach zu einer Klasse zusammengefasst werden können, gibt es mit der Bedeutung, die dem Genus beigemessen wird, und der Frage nach der Einheitlichkeit der Paradigmen zwei weitere grundlegende Aspekte, die bei der Beschreibung des Systems bedeutsam sind. Diese sind miteinander verwoben, was weiter unten deutlich wird. Zunächst zum Genus: Bei den bisher vorgestellten

|| 5 Dass Eisenberg (42013b: 162) den Flexionstyp 6 als „genusunabhängig“ beschreibt, ist wohl damit zu erklären, dass er sich hier ausschließlich auf den genusübergreifend genutzten s-Plural bezieht und die Kasusmarkierung vernachlässigt. Die Möglichkeit genitiv-s-loser Maskulina und Neutra scheint jedenfalls nicht der Grund für diese Beschreibung zu sein, da diese flexionsmorphologischen Varianten – anders als z.B. die Schwankung zwischen -s und -es im Genitiv Singular – bei der Charakterisierung von Flexionstypen unberücksichtigt bleiben (vgl. Eisenberg 42013b: 152–163). Eine Abgrenzung von Feminina (keine Kasusmarkierung) und Nichtfeminina (-s im Genitiv Singular) ist schließlich auch innerhalb von Flexionstyp 6 zu erkennen, auch wenn die Zellen hier nicht graphisch voneinander getrennt werden (vgl. Tab. 57).

Genitiv-s-Losigkeit und das deutsche Deklinationssystem | 199

Ansätzen liegen zwar jeweils Kreuzklassifizierungen vor, allerdings ist die Genus-Information dabei nicht zwangsläufig ein relevantes Einteilungskriterium. Hätte man Genus gänzlich ignoriert, hätte man aufgrund der berücksichtigten Realisierungen von Kasus und Numerus zur gleichen Einteilung kommen können. Am deutlichsten wird das bei Eisenberg (42013b: 162): Indem die GenusInformation zusätzlich zur Flexionstypen-Einteilung gegeben wird, werden Zusammenhänge zwischen den beiden Klassifikationssystemen aufgedeckt, die Einteilung der Flexionstypen ändert sich dadurch aber nicht. Im Gegensatz dazu richten Bittner (1994) und Wiese (2000, 2006) ihre Beschreibungen der deutschen Deklination maßgeblich nach der Genus-Information aus: „Dem Aufbau der Flexionsparadigmen liegt ein favorisiertes Strukturmuster zugrunde, das besagt, sowohl die Singular-(Kasus-)flexion als auch die Plural(Numerus-)flexion sind implikativ an das Genus des Substantives geknüpft“ (Bittner 1994: 72). Aus femininem Genus können nach Bittner per Default -Ø im Genitiv Singular und -(e)n im Plural abgeleitet werden sowie aus nichtfemininem Genus -(e)s im Genitiv Singular und -e im Plural (vgl. Bittner 1994: 69). Darüber nicht abgedeckte Pluralformen werden als lexikalisch gespeicherte Abweichungen (z.B. UL + -e bei femininen Substantiven wie Kunst, Maus) behandelt oder mithilfe von spezifischen (Sub-)Regularitäten modelliert, z.B.: Maskulina auf /e/ werden schwach flektiert (Bittner 1994: 69–75). Diese Regularitäten sind (mit Ausnahme des s-Plurals, der zwar häufiger, aber nicht ausschließlich bei Nichtfeminina anzutreffen ist, vgl. fem. Allee-n vs. neut. Komitee-s, aber auch Avocado-s) „auf einen der beiden Genusbereiche eingeschränkt bzw. [es] sind genusspezifische Modifizierungen gegeben“ (Bittner 1994: 70). Ø|s als nicht genusspezifisches Muster wird nicht behandelt und ist vor allem für die grundlegende Differenzierung von Feminina und Nichtfeminina problematisch, von der aus das weitere Flexionsverhalten abgeleitet werden soll. Eine ähnlich zentrale Rolle wie bei Bittner nimmt das Genus eines Substantivs bei Wiese (2000; 2006) ein: „Die Untersuchung des Zusammenhangs von Flexionsklassen und Genera stützt die Auffassung, daß die nhd. Substantivflexion einen systemhaften Bau zeigt. Das substantivische Flexionssystem spiegelt (mit gewissen ‚Unschärfen‘) das Genussystem“ (Wiese 2000: 152). Er definiert vier grundlegende Deklinations(makro-)typen, bei denen über das Genus des Substantivs ein spezifisches Flexionsmuster abgeleitet werden kann. Allerdings werden die schwache Flexion, die der adjektivischen Flexion zugeordnet wird, sowie der s-Plural, der als Sonderplural eingestuft und deshalb ausgeblendet wird, nicht in diese Systematik integriert (Wiese 2000: 161; 2006: 29), sodass Ø|s hier von vornherein als nicht zum Untersuchungsgegenstand gehörig definiert wird.

200 | Theoretische Implikationen

Das Genus spielt auch bei der letzten oben eingeführten grundsätzlichen Frage eine wichtige Rolle: Ob man (entgegen der üblichen Auffassung) getrennte Singular- und Pluralparadigmen annimmt, hängt auch davon ab, welche theoretische Bedeutung man dem Genus beimisst. Das zeigt z.B. der Ansatz von Wurzel (1994), der explizit dafür argumentiert, die Einheitlichkeit von Singularund Pluralparadigma beizubehalten und nicht von zwei voneinander unabhängigen Paradigmen pro Substantiv auszugehen. Der maßgebliche Grund dafür ist, dass zwar beide Ansätze die Deklination des Deutschen korrekt beschreiben könnten, aber nur ein einheitliches Paradigma die implikativen Zusammenhänge der Flexion in Singular und Plural berücksichtigen kann. Diese Zusammenhänge können zu einer ökonomischen Beschreibung bzw. Modellierung des Systems genutzt werden, die gerade aufgrund ihres Ökonomie-Vorteils aus psycholinguistischer Sicht plausibler sei als eine Modellierung auf der Basis getrennter Paradigmen. „Wenn wir voraussetzen, daß im Rahmen beider Varianten das Kriterium einer korrekten Erfassung der Fakten gleichermaßen zu erfüllen ist, dann ist diejenige Variante angemessener, die weniger Flexionsmerkmale im Lexikon benötigt“ (Wurzel 1994: 31–32). Die geringere Anzahl an Flexionsmerkmalen im Lexikon kommt dadurch zustande, dass Wurzel von implikativ aufgebauten Paradigmen ausgeht. Das heißt, dass aus einer „Kennform“ – ein Konzept, das unter dem Schlagwort principal parts in der neueren Literatur wieder aufgegriffen wurde (vgl. z.B. Finkel & Stump 2007, 2009 und s. Abschnitt 5.2.1) – und „außermorphologischen“ Eigenschaften der lexikalischen Grundform alle anderen Flexionsformen abgeleitet werden können. Zu den „außermorphologischen“ Eigenschaften zählt Wurzel z.B. das Genus sowie phonologische und/oder „semantisch-syntaktische“ Merkmale (aber nicht etwas, das mit besonderer Bedeutung der morphologischen Schemakonstanz o.ä. vergleichbar wäre).6 Eine entsprechende „Paradigmenstrukturbedingung“ für das Deutsche findet sich in (109) (aus Wurzel 1994: 38): (109)

Wenn ein Substantiv ein Nichtfemininum ist und im Plural den Marker -e/-Ø, -er oder -s hat, dann hat es -s im Genitiv Sg.

Entscheidend ist, daß bei der Annahme von einheitlichen Flexionsparadigmen keinerlei Flexionsmerkmale für den Singular notwendig sind. Dort, wo die Singularflexion eines Wortes sich nicht schon aus den Eigenschaften der Grundform ergibt, ist sie aufgrund der Pluralbildung prädiktabel. Es ist evident, daß sich dadurch die Anzahl der notwendigen Flexionsmerkmale stark reduziert. (Wurzel 1994: 39)

|| 6 Zum Begriff „außermorphologische Eigenschaften“ siehe Wurzel (22001: 117–119).

Genitiv-s-Losigkeit und das deutsche Deklinationssystem | 201

An die Stelle vieler theoretisch notwendiger Lexikoneinträge, die das Flexionsverhalten von Substantiven bestimmen, treten also regelhafte Paradigmenstrukturbedingungen, deren Anzahl darüber hinaus weiter reduziert werden kann, wenn man davon ausgeht, dass ausschließlich die Nicht-Default-Fälle einen spezifischen Lexikoneintrag benötigen (Wurzel 1994: 40–44). Diese geringere Anzahl an Flexionsmerkmalen ist für Wurzel (1994) das entscheidende Argument gegen jeweils getrennte Singular- und Pluralparadigmen. Auch dieses Konzept stellt das Flexionsmuster Ø|s vor massive Probleme, da es zeigt, dass die wichtigste Grundannahme von Wurzels Theorie im Deutschen keine uneingeschränkte Gültigkeit hat: Die Vorhersagbarkeit der Singularform aufgrund der Kombination von „außermorphologischen Eigenschaften“ und der Pluralform ist bei Ø|s nicht gegeben. So verstößt z.B. das Substantiv Tango gegen Wurzels Paradigmenstrukturbedingung in (109), wenn man davon ausgeht, dass hier mehrheitlich das Muster Ø|s gegeben ist (also die Grundschritte des Tango; wir tanzten viele Tangos). Von der Pluralform (-s) und dem Genus (Maskulinum) kann hier (im Gegensatz zu besser integrierten Lexemen wie Auto) nicht auf die Genitiv-Singular-Form -s geschlossen werden. Allerdings sind auch solche Darstellungen nicht immer mit endungslosen Genitiven maskuliner und neutraler Substantive kompatibel, die jeweils Singular- und Pluralparadigmen entkoppeln, da hier in der Regel die Genitivendung im Singularparadigma abhängig vom Genus des Substantivs dargestellt wird und -Ø im Genitiv Singular den Feminina vorbehalten bleibt, vgl. z.B. Helbig & Buscha 2002: 211–214. Interessanterweise werden endungslose Genitive hier erwähnt (z.B. die Eroberung des Kosmos, die Religion des Islam(s)), aber als Untergruppe von Typ S 1 (-s im Genitiv Singular, z.B. Lehrer) klassifiziert und nicht zu Typ S 3 (-Ø im Genitiv Singular, z.B. Frau) gezählt, was wiederum die enge gedankliche Verknüpfung von Genus und Flexionsklasse aufzeigt. Im Gegensatz dazu finden sich bei Darski (1980) und Admoni (1970) (der Tradition der sowjetischen Germanistik folgend) getrennte Numerus- und Pluralparadigmen, die darüber hinaus nicht zwangsläufig an das Genus des Substantivs gekoppelt werden. Bei Darski (1980: 66–67) werden z.B. buchstabierte Buchstabenkurzwörter wie PKW, Fremdwörter auf -s „sowie ein offenes Corpus von Fremdwörtern wie: der Abrasch, der Academy-award“ usw., das insgesamt mehr als 400 Types umfasst, gemeinsam mit den Feminina zur endungslosen Deklination zusammengefasst – allerdings mit dem mir nicht ganz schlüssigen Fazit, dass man „aufgrund des grammatischen Geschlechts feststellen [kann], zu welcher Deklination jedes beliebige Substantiv gehört“ (Darski 1980: 68). Die beiden letztgenannten Arbeiten stellen unter der Vielzahl an Vorschlägen zur Beschreibung des deutschen Deklinationsklassensystems eine Aus-

202 | Theoretische Implikationen

nahme dar, indem sie s-lose Genitive maskuliner und neutraler Substantive prominent thematisieren und integrieren. Der Nachteil solcher Beschreibungen ist, dass systematische Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften anderer (vor allem auch zentraler) Mitglieder des substantivischen Bereichs des Deutschen unberücksichtigt bleiben, da Singular und Plural getrennt betrachtet werden und keine Verallgemeinerungen bzgl. des Zusammenhangs von Genus und Flexionsklasse gemacht werden können. Alle anderen Arbeiten, die die fraglos vorhandenen Zusammenhänge von Genus, Kasus- und Numerusmarkern beschreiben oder betonen, lassen das Muster Ø|s (mask./neut.), das Verallgemeinerungen erschwert, weitestgehend außer Acht oder deklarieren entsprechende Belege als Ausnahmen oder Sonderfälle. Das gilt auch für die deskriptive Übersicht in der vorletzten Auflage der Duden-Grammatik (82009: 221) (vgl. ähnlich dazu auch Nübling 2008: 298, deren Übersicht in der aktuellen Auflage der Duden-Grammatik (92016: 219–220) wiedergegeben wird), die in keinem der hier besprochenen Punkte eine Extremposition einnimmt und die wenig umstritten ist (sie weist weniger Klassen als Simmler 1998, aber mehr als Eisenberg 42013b und Thieroff & Vogel 2008 auf, Genus wird als Information genannt, ist aber nicht maßgeblich strukturgebend und es wird keine grundsätzliche Trennung von Singular- und Pluralparadigmen vorgenommen).7 Es zeigt sich also, dass Ø|s (mask./neut.) bisher bei der Beschreibung des deutschen Systems nachrangig behandelt wurde (inwiefern dies berechtigt ist, wird weiter unten thematisiert, s. Abschnitt 5.3.1) und auch nicht ohne Weiteres in die bisherigen Systematisierungen integriert werden kann, zumindest nicht bei Beibehaltung grundsätzlicher Aspekte vieler Beschreibungen des Deutschen. Über diese Aspekte hinaus, die die Analyse des deutschen Deklinationssystems betreffen, hat Ø|s (mask./neut.) aber auch theoretische Relevanz für die allgemeine morphologische Theorie, da es grundlegende Annahmen zur Struktur und zum Umfang von morphologischen Systemen infrage stellt. In diesem Zusammenhang werden im Folgenden drei Aspekte näher beleuchtet, denen im Bereich der theoretischen Morphologie in den vergangenen Jahren viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde: der implikative Aufbau von Paradigmen, das Paradigm Economy Principle und das No Blur Principle (vgl. z.B. Baerman 2012; Blevins 2004; Cameron-Faulkner & Carstairs-McCarthy 2000; CarstairsMcCarthy 1994, 2000a, 2010; Enger 2013, 2016; Finkel & Stump 2007, 2009;

|| 7 Numerus- und Kasusflexion werden hier zwar zunächst getrennt voneinander beschrieben (vgl. Duden-Grammatik 82009: 180–220), dies mündet dann aber in eine Darstellung von Klassen, denen sowohl Numerus- als auch Kasusmarker zugrunde liegen (Duden-Grammatik 82009: 180–220).

Genitiv-s-Losigkeit und das deutsche Deklinationssystem | 203

Müller 2007; Noyer 2005). Dabei wird auch erörtert, inwiefern sich Ø|s (mask./neut.) ggf. nur auf den ersten Blick als problematisch für einzelne theoretische Verallgemeinerungen erweist.

5.2 Allgemeine Organisationsprinzipien morphologischer Systeme 5.2.1 Der implikative Aufbau von Paradigmen Die Annahme, dass Paradigmen implikativ aufgebaut sind, wurde oben bereits kurz erläutert. Sie spielt vor allem im theoretischen Konzept von Wurzel (z.B. 22001) und darauf aufbauenden Arbeiten (z.B. Bittner 1994) eine entscheidende Rolle und wurde zuletzt von Finkel & Stump (2007, 2009) aufgegriffen und dort ausführlich behandelt. Die im Rahmen der Natürlichkeitstheorie formulierte Verallgemeinerung, dass im Deutschen alle Flexionsformen aus der Kombination von „außermorphologischen“ Merkmalen und einer „Kennform“ des Substantivs abgeleitet werden können, steht im Widerspruch zu s-losen Genitiven maskuliner oder neutraler Substantive. Von der Pluralform -s lässt sich auch in Kombination mit den von Wurzel (22001: 117–119) als „außermorphologisch“ beschriebenen Merkmalen nicht eindeutig auf eine GenitivSingular-Form schließen: -s und -Ø sind möglich (vgl. (110)). (110)

die Auto-s – des Auto-s Aber: die AKW-s – des AKW-s oder des AKW-Ø

Diese Beobachtung ist vor allem für die Beschreibung des Deutschen relevant. Mit der Grundannahme des implikativen Aufbaus aller flexionsmorphologischen Systeme konfligiert sie allerdings nicht – wenn man davon ausgeht, dass Paradigmen auch mehr als eine Kennform haben können. So kann man – darin ist der Sinn der Notation Ø|s begründet – anhand der Kennformen -Ø im Genitiv Singular und -s im Plural alle anderen Formen ableiten, nämlich -Ø in allen Singularformen und -s in allen Pluralformen. Der implikative Aufbau des Paradigmas ist auch hier gegeben, man benötigt lediglich neben dem Nominativ Plural auch die Form des Genitiv Singular, um alle anderen Formen ableiten zu können. Ø|s ist demnach kein Argument gegen die These, dass Paradigmen implikativ aufgebaut sind. Die Anzahl der Kennformen (oder principal parts), die nötig sind, um alle anderen Formen eines Paradigmas zu erschließen, ist nach Finkel & Stump (2009) allerdings ein relevanter Aspekt des typologischen

204 | Theoretische Implikationen

Profils einer Sprache, was erneut die Bedeutung von Ø|s bei der einzelsprachlichen Beschreibung des Deklinationssystems unterstreicht.8

5.2.2 Das Paradigm Economy Principle Weniger leicht zu lösen als der (scheinbare) Konflikt zwischen s-losen Genitiven und der Annahme implikativer Paradigmen ist das Problem, das solche Belege für das Paradigm Economy Principle (PEP) darstellen. Dieses Prinzip geht auf Carstairs (1987) zurück und definiert eine Obergrenze für die maximale Anzahl von Makroklassen innerhalb eines flexionsmorphologischen Systems. Es folgt der Grundidee, dass Morphe in natürlichen Sprachen nicht völlig frei verteilt sind und auf diese Weise unzählige Flexionsklassen konstituieren, sondern gewissen Regularien folgen, die die Anzahl an Flexionsklassen beschränken. Die unter Annahme einer völlig freien Distribution der Morphe theoretisch mögliche Anzahl an Flexionsklassen (z.B. bei vier Morphen und fünf Zellen im Paradigma = 45 = 1024 Flexionsklassen) wird nie erreicht. Stattdessen ist stets eine sehr viel geringere Anzahl an Klassen zu beobachten. Dieser Sachverhalt ist Ausgangspunkt für die Überlegung, wie genau sich die maximale Anzahl von Flexionsklassen pro System ermitteln lässt, die von Carstairs (1987: 51) mit dem PEP folgendermaßen beantwortet wird: Paradigm Economy Principle When in a given language L more than one inflexional realisation is available for some bundle or bundles of non-lexically determined morphosyntactic properties associated with some part of speech N, the number of macroparadigms for N is no greater than the number of distinct ‚rival‘ macroinflexions available for that bundle which is most generously endowed with such rival realisations.

|| 8 An dieser Stelle muss berücksichtigt werden, dass sich die Arbeiten von Wurzel (1994, 22001) und Finkel & Stump (2007, 2009) trotz ähnlichem Ausgangspunkt in wichtigen Aspekten unterscheiden, z.B. bleiben bei Finkel & Stump außermorphologische Merkmale weitestgehend unberücksichtigt und principal parts werden dynamisch definiert, müssen also nicht immer der gleichen Paradigmenposition entstammen – wodurch insgesamt je nach Ansatz unterschiedliche Aussagen zur Anzahl der Kennformen resultieren. Die Annahme, dass die Anzahl der benötigten Kennformen bzw. principal parts typologisch relevant ist, kann meiner Meinung nach aber auch theorieübergreifend (also unabhängig davon, ob diese dynamisch oder statisch definiert werden sowie mit oder ohne Berücksichtigung der „außermorphologischen“ Eigenschaften) Anspruch auf Gültigkeit erheben und beträfe somit auch die Ermittlung der nötigen Kennformen nach Wurzel (also auch unter Einbezug der außermorphologischen Eigenschaften), die oben skizziert wurde.

Allgemeine Organisationsprinzipien morphologischer Systeme | 205

Zentral innerhalb dieser Definition ist der Begriff der Makroklasse, der folgendermaßen definiert wird: A macroparadigm consists of: (a) any two or more similar paradigms all of whose inflexional differences either can be accounted for phonologically, or else correlate consistently with differences in semantic or lexically determined syntactic properties; or (b) any paradigm which cannot be thus combined with other paradigm(s). (Carstairs 1987: 69)

Lexikalisch determiniert sind Formunterschiede dann, wenn sie mit GenusUnterschieden einhergehen. Formunterschiede zwischen solchen Paradigmen, die klar nach Genus getrennt werden können, sind demnach nicht makroklassenkonstituierend. Wichtig ist außerdem, dass sich die Aussagen von Carstairs ausschließlich auf Affixe beziehen, stammaffizierende Verfahren wie z.B. Umlaut werden von der Betrachtung ausgeschlossen (s. z.B. Carstairs 1987: 236). Das PEP besagt also, dass die Anzahl an Makroklassen einer Sprache nicht die Anzahl der Allomorphe (-Ø eingeschlossen) übersteigt, die zum Ausdruck derjenigen Kategorie (oder desjenigen Kategorienbündels, z.B. Nominativ Plural) dienen, in der es die meisten Allomorphe gibt. Dabei werden Paradigmen, deren Formunterschiede anhand von Genus, phonologischen und/oder semantischen Merkmalen vorhersagbar sind, zu einer Makroklasse zusammengefasst. Stammalternationen bleiben unberücksichtigt. Diese Aussage kann man anhand der abstrakten Beispiele in den Tabellen 58 und 59 verdeutlichen. Die römischen Ziffern bezeichnen die Makroklassen, die arabischen Zahlen stehen für Kategorien(bündel) und die Buchstaben repräsentieren Morphe. Die nach PEP maximale Anzahl an Makroklassen ergibt sich aus der Anzahl an Allomorphen des allomorphiereichsten Kategorienbündels, in diesem Fall also Zeile 3. Diese beträgt sowohl in Tab. 58 als auch Tab. 59 jeweils vier: Das Kategorienbündel 3 wird jeweils durch die Allomorphe c, d, e und b ausgedrückt. Bei den Makroparadigmen in Tab. 58 handelt es sich also um ein System, das dem PEP entspricht, weil die Anzahl an Makroklassen (= vier) die Anzahl der Allomorphe in der allomorphiereichsten Zeile (ebenfalls vier) nicht übersteigt. Im Gegensatz dazu entspricht das System in Tab. 59 nicht dem PEP, da hier maximal vier Allomorphe zu beobachten sind, aber fünf Makroklassen.

206 | Theoretische Implikationen

Tab. 58: PEP-kompatibles System

I

II

III

IV

1

a

a

a

a

2

b

b

a

b

3

c

d

e

b

Tab. 59: Nicht-PEP-kompatibles System

1

I

II

III

IV

V

a

a

a

a

a

2

b

b

a

b

a

3

c

d

e

b

b

Wenn man nun die Variablen in den Tabellen 58 und 59 durch tatsächliche Morphe und die Bezeichnungen der Kategorienbündel ersetzt, wird deutlich, dass hier in abstrakter Weise die deutsche Deklination dargestellt ist (vgl. Tabellen 60 und 61). Die Tabellen enthalten alle hier relevanten Kategorienbündel. Der Nominativ Plural ist immer mit Genitiv Plural und Akkusativ Plural homonym, die Realisierung des Dativ Plural ist phonologisch determiniert, die Realisierung von Dativ und Akkusativ Singular lassen sich aus der Realisierung des Genitiv Singular ableiten und es gibt kein Kategorienbündel, das durch mehr Allomorphe realisiert wird als der Nominativ Plural. Die Makroklassen kommen zustande, indem nach Carstairs (1987) phonologisch (z.B. Klasse III: Plural Frau-en und Blume-n), semantisch (aufgrund von [+/- Belebtheit], z.B. Klasse III: Genitiv Singular Bär-en und Dorn-s)9 und lexikalisch, also via Genus (z.B. Klasse I: Genitiv Singular Hände und Gäste) „konditionierte“ Paradigmen zusammengefasst und Umlaute ignoriert werden (z.B. Klasse I: Plural Tage und Bärte). Da verschiedene Paradigmen, deren Unterschiede mit einem dieser Merkmale korrelieren, zu einem Makroparadigma zusammengefasst werden, haben Makroparadigmen keine einheitliche formale Realisierung. Die in den Tabellen 60 und 61 angegebenen Formen repräsentieren jeweils nur den häufigsten im Makroparadigma vertretenen Typ, andere Realisierungen sind ggf.

|| 9 Für eine ausführlichere Diskussion von Beispielen, die gegen die Annahme dieser Makroklasse sprechen, siehe Abschnitt 5.2.3.

Allgemeine Organisationsprinzipien morphologischer Systeme | 207

möglich, aber via Genus, Phonologie oder Semantik vorhersagbar (z.B. Genitiv Singular Hand-Ø und Tag-es in Klasse I). Nähere Erläuterungen zum Zustandekommen der Makroklassen und entsprechende Beispiele befinden sich im Anhang 7 (vgl. außerdem Carstairs 1987: 234–251). Tab. 60: PEP-kompatibles System

Nom. Sg.

I

II

III

IV

Ø

Ø

Ø

Ø

Gen. Sg.

s

s

Ø

s

Nom. Pl.

e

er

n

s

Tab. 61: Nicht-PEP-kompatibles System

Nom. Sg.

I

II

III

IV

V

Ø

Ø

Ø

Ø

Ø

Gen. Sg.

s

s

Ø

s

Ø

Nom. Pl.

e

er

n

s

s

Das Interessante an den Übersichten in den Tabellen 60 und 61 ist die Tatsache, dass die Berücksichtigung von Ø|s zu einer Anzahl an Makroparadigmen führt, die nicht mit dem PEP vereinbar ist.10 Wenn man (entsprechend traditioneller Beschreibungen des Deutschen) ausschließlich Feminina diesem Muster zuordnet, kann man alle Substantive mit s-Plural der Makroklasse IV zuordnen, da die Ausprägung des Genitiv Singular per Genus vorhersagbar ist. „There is no problem […] in recognising Gender-based macroparadigms […] embracing Uhu and Mutti” (Carstairs 1987: 240). Schreibt man allerdings auch maskulinen und neutralen Substantiven das Muster Ø|s zu (wofür zahlreiche Beobachtungen in den vorigen Kapiteln sprechen), muss man ein separates Makroparadigma annehmen, da die Ausprägung des Genitiv Singular dann nicht aufgrund von Genus vorhersagbar ist: Maskulina und Neutra gehören so entweder in die Klasse mit -Ø im Genitiv Singular (z.B. AKW) oder in die Klasse mit -s (z.B. Auto). Auch aufgrund der anderen von Carstairs (1987) vorgeschlagenen Merkmale, || 10 Relevant ist in diesem Zusammenhang natürlich, ob man diesem Muster Flexionsklassenstatus zuspricht oder nicht. Dies wird weiter unten ausführlich diskutiert (vgl. Abschnitt 5.3).

208 | Theoretische Implikationen

also phonologischen oder semantischen Kriterien, lässt sich die Makroklassenzugehörigkeit hier nicht eindeutig ableiten (vgl. hierzu die in Kapitel 2 empirisch überprüften Faktoren), sodass eine eigene Makroklasse für Ø|s (mask./ neut.) angenommen werden muss. Dass für den s-Plural zwei Makroparadigmen angenommen werden müssen, führt zwangsläufig zu einer Überschreitung der nach dem PEP zulässigen Höchstzahl an Makroklassen ‒ unabhängig davon, wie viele Pluralallomorphe ansonsten als makroklassenkonstituierend angesehen werden (denkbar wäre z.B. eine zusätzliche Makroklasse mit Ø-Plural). Eine Möglichkeit, diesen Konflikt zwischen PEP und dem Muster Ø|s zu lösen, besteht in der bereits weiter oben beschriebenen Methode, getrennte Singular- und Pluralparadigmen anzunehmen. Diese Möglichkeit ist in Carstairs’ „Slab Codicil“ angelegt (Carstairs 1987: 81). Allerdings führt diese Methode, mit der das beobachtete System in Einklang mit dem PEP gebracht werden kann, dazu, dass das PEP erheblich an Aussagekraft einbüßt. Dies gilt gerade mit Blick auf das Deutsche, da auf diese Weise kein Zusammenhang zwischen den beiden relevantesten Kategorien(bündeln), dem Genitiv Singular und dem Plural, hergestellt wird.11 Eine konsequente Trennung von Singular und Plural ist dann auch nicht das, was Carstairs (1987: 234–251) bei der Beschreibung des Deutschen vornimmt: Grundsätzlich behandelt er beide Bereiche gemeinschaftlich, trennt sie aber lediglich an einer Stelle, an der ein Konflikt mit dem PEP nicht auf andere Weise gelöst werden kann,12 was die Frage aufwirft: „is this simply a technical trick?“ (Enger 2013: 352). Es gibt durchaus auch Argumente dafür, diese Frage mit Nein zu beantworten. Wenn man andere Sprachen als das Deutsche in den Blick nimmt, zeigt sich, dass es zahlreiche Systeme gibt, bei denen die Numerus-Opposition mit einer deutlichen morphologischen Zäsur einhergeht, was durchaus rechtfertigen könnte, grundsätzlich von zwei unterschiedlichen Domänen auszugehen. Enger (2013: 353) nennt in diesem Zusammenhang „the Bosnian/Croatian/Serbian noun oko ‚eye‘, which is neuter in the singular, feminine in the plural“. Gegen die Trennung der beiden Bereiche sprechen allerdings unter anderem die größtenteils gültigen Beobachtungen von

|| 11 Von grundsätzlich getrennten Paradigmen geht Müller (2004) aus, dessen „Inflection Class Economy Theorem“ (vgl. Müller 2007) auch darüber hinaus sehr viel weniger restriktiv ist als das PEP, auf dem es aufbaut. Die maximale Anzahl an Plural- bzw. Singularklassen liegt nach diesem Prinzip bei 2n-1, wobei n für die Anzahl an unterschiedlichen Morphen in den Zellen eines Bereichs (also Singular oder Plural) steht. Bei fünf Morphen läge die maximale Anzahl an Klassen demnach bei 16. 12 Hierbei handelt es sich um gemischt deklinierende Substantive wie Insekt, Autor oder Ende mit -s im Genitiv Singular und -en im Plural. Dieser Aspekt wird weiter unten wieder aufgegriffen (s. Abschnitt 5.2.3).

Allgemeine Organisationsprinzipien morphologischer Systeme | 209

Wurzel (1994) zu den implikativen Zusammenhängen von Singular- und Pluralteilparadigmen im Deutschen. Festzuhalten bleibt also, dass s-lose Genitive neutraler und maskuliner Substantive eine Herausforderung für das PEP darstellen, zu deren Bewältigung mit der Trennung von Singular- und Pluralparadigmen eine Zusatzannahme gemacht werden muss, die kontrovers ist. Das Gleiche gilt für das No Blur Principle (NBP), das von Carstairs-McCarthy (1994) entwickelt wurde und durchaus Ähnlichkeiten mit dem PEP aufweist, aber als separates Prinzip gesehen werden muss, das auch andere Voraussagen macht als das PEP (vgl. Carstairs-McCarthy 1994: 754–757). Dieses Prinzip wird im Folgenden thematisiert.

5.2.3 Das No Blur Principle Während das PEP sich in erster Linie auf die Quantität von Makroklassen in einem System bezieht, zielt das NBP auf die Beschreibung möglicher Strukturen von Makroklassen ab.13 Carstairs-McCarthy (1994) leitet dieses Prinzip von Clarks (1987: 2) allgemeinem „Principle of Contrast“ ab, dem große Bedeutung beim Erstspracherwerb beigemessen wird („Every two forms contrast in meaning“), und bezieht es auf Flexionsaffixe.14 Der extralinguistische Informationsgehalt von verschiedenen Allomorphen sei zwar jeweils identisch (z.B. Pluralität oder Vergangenheit), diese unterscheiden sich aber hinsichtlich des intralinguistischen Informationsgehalts (z.B. Zugehörigkeit zu einer Flexions- bzw. Makroklasse). Solche intralinguistischen Aspekte dem Informationsgehalt eines Affixes zuzuschreiben, ermöglicht die Annahme, dass auch Flexionsaffixe Clarks Principle of Contrast unterliegen. Dies ist mit Blick auf eine Frage relevant, die von Vertretern verschiedener morphologischer Theorien unterschiedlich beantwortet wird und die bei der Unterscheidung dieser Theorien eine wichtige Rolle einnimmt (für einen Überblick s. z.B. Enger 2016). Sie lautet: Haben Affixe eine eigenständige Bedeutung? Eine Herausforderung für diejenigen Ansätze, die diese Frage bejahen, stellt || 13 Ein ähnliches Ziel verfolgt Noyer (2005), der seinen „Interclass Syncretism Constraint“ aus theorieinternen Regeln des Distributed Morphology-Ansatzes ableitet, dabei allerdings keine Gültigkeit für periphere bzw. variationsreiche Phänomene beansprucht (vgl. Noyer 2005: 273– 276). 14 Das Prinzip „Vocabular Clarity” (VC) von Carstairs-McCarthy (2010: 226–227) wird auf etwas andere Art extern motiviert als das NBP, macht aber die gleichen Vorhersagen. Die folgenden Ausführungen treffen also sowohl auf VC als auch auf das NBP zu (vgl. z.B. auch Enger 2013, der vom „NBP/VC-approach“ spricht).

210 | Theoretische Implikationen

Allomorphie dar: Wenn man mit Clark (1987: 2) davon ausgeht, dass Unterschiede auf der Formseite immer mit einem Bedeutungsunterschied (im weitesten Sinne) einhergehen, stellt sich die Frage, inwiefern zwei Allomorphe – wenn man sie als eigenständige Bedeutung tragende Einheiten versteht – unterschiedliche Bedeutung haben. Dieses Problem versucht Carstairs-McCarthy (1994) nun zu lösen, indem er dem Informationsgehalt eines Affixes auch eine intralinguistische Komponente zuschreibt und schlussfolgert, dass Allomorphe nicht synonym sind. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Affixe tatsächlich jeweils eine spezifische intralinguistische Information tragen, die sie von ihren Allomorphen unterscheiden. Genau das besagt das NBP, das folgendermaßen lautet: Within any set of competing inflectional affixal realizations for the same paradigmatic cell, no more than one can fail to identify inflection class unambiguously. (CarstairsMcCarthy 1994: 742)

Flexionssysteme sind demnach so aufgebaut, dass Allomorphe entweder „class identifier“ sind, pro morphosyntaktischer Funktion also nur in einer Klasse vorkommen, oder als „class-default“ pro morphosyntaktischer Funktion in mindestens zwei Klassen vorkommen. Der gesamte Informationsgehalt eines Affixes wäre demnach z.B. „Nominativ Plural, Klasse II“. Der intralinguistische Anteil besteht dabei entweder darin, das Lexem einer bestimmten Klasse zuzuordnen oder das Affix als Default einer bestimmten Zelle im Paradigma auszuweisen.15 Ausgeschlossen werden Systeme, in denen mehr als zwei „classdefaults“ vorhanden sind, da sich die entsprechenden Allomorphe dann nicht hinsichtlich ihres Informationsgehalts unterscheiden würden. Berücksichtigt werden wieder nur Affixe, keine stammaffizierenden Verfahren. Die Tabellen 62 und 63 veranschaulichen das NBP. Das System in Tab. 62 steht im Einklang mit dem NBP, da pro Zeile (also pro Kategorie oder Kategorienbündel, z.B. Nominativ Plural) alle Morphe entweder „class identifier“ sind (c, d in Zeile 2; a, e, f, g in Zeile 3) oder „class-default“ (die grau hinterlegten || 15 An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass der Begriff Default je nach Theorie in sehr unterschiedlicher Art und Weise verwendet bzw. definiert wird. Hier wird das Allomorph als Default angesehen, das in den meisten Flexionsklassen vorkommt. Wurzel (z.B. 1994: 40–41) definiert den Default im Gegensatz dazu über Typenfrequenz, Clahsen (1999) über Produktivität (s. hierzu z.B. auch Eisenberg 42013b: 158–159 und Gaeta 2008: 81–85). Meines Erachtens hat jede dieser Sichtweisen ihre Berechtigung. Wichtig ist nur zu erkennen, dass die unterschiedlichen Ansätze Aussagen zu unterschiedlichen Aspekten eines Flexionsklassensystems machen, in der Regel an eine gewisse Perspektive gebunden und deshalb oft auch mit anderen Perspektiven unvereinbar sind (z.B. Synchronie, Diachronie, Psycholinguistik usw.).

Allgemeine Organisationsprinzipien morphologischer Systeme | 211

Zellen). Ob einzelne Morphe zum Ausdruck verschiedener Kategorien(bündel) genutzt werden (z.B. a in Zeile 1 und 3), spielt keine Rolle. Nicht im Einklang mit dem NBP steht das System in Tab. 63, da hier in Zeile 3 zwei Morphe in jeweils mehr als einer Klasse vorkommen (g und h). Tab. 62: NBP-kompatibles System

I

II

III

IV

V

VI

VII

1

a

a

a

a

a

a

a

2

b

b

b

c

b

d

b

3

e

a

f

h

h

h

g

Tab. 63: Nicht-NBP-kompatibles System

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

1

a

a

a

a

a

a

a

a

2

b

b

b

c

b

d

b

a

3

e

a

f

h

h

h

g

g

Auch die abstrakten Systeme in den Tabellen 62 und 63 repräsentieren die deutsche Deklination. Die Darstellung entspricht der Analyse von CarstairsMcCarthy (1994: 744–745). Wenn man die Variablen durch tatsächliche Morphe ersetzt, erhält man die Systeme in den Tabellen 64 und 65. Auch hier gilt, dass es pro Zelle weitere Allomorphe geben kann, deren Auftreten lexikalisch, phonologisch oder semantisch konditioniert ist, weshalb sie keine separate Makroklasse konstituieren und hier der Übersichtlichkeit halber nicht gesondert aufgeführt werden.16 Eine ausführlichere Darstellung befindet sich im Anhang 8.

|| 16 In Klasse IV sind Feminina (mit Ø im Genitiv Singular) wesentlich typenfrequenter als Nichtfeminina (mit n oder s im Genitiv Singular). Da die Nichtfeminina dieser Klasse im weiteren Verlauf relevanter sind, ist aus Gründen der anschaulicheren Darstellung die typenfrequenteste Realisierung der Nichtfeminina für den Genitiv Singular angegeben (n).

212 | Theoretische Implikationen

Tab. 64: NBP-kompatibles System

I

II

III

IV

V

VI

VII

Nom. Sg.

Ø

Ø

Ø

Ø

Ø

Ø

Ø

Gen. Sg.

s

s

s

n

s

ns

s

Nom. Pl.

e

Ø

er

n

n

n

s

Tab. 65: Nicht-NBP-kompatibles System

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

Nom. Sg.

Ø

Ø

Ø

Ø

Ø

Ø

Ø

Ø

Gen. Sg.

s

s

s

n

s

ns

s

Ø

Nom. Pl

e

Ø

er

n

n

n

s

s

Im Vergleich zu den Darstellungen in den Tabellen 60 und 61 – dort ist Carstairs’ (1987: 234–251) Analyse des Deutschen wiedergeben, die er im Zusammenhang mit dem PEP durchführt – werden hier im Kontext des NBP weniger Klassen zu Makroklassen zusammengefasst, da die Klassen II, V und VI kein Problem für das NBP darstellen. Laut Carstairs-McCarthy (1994: 745) könnten diese aber auch anderen Makroklassen zugeordnet werden. Während die Zusammenlegung der Klassen I und II in den Tabellen 64 und 65 dank der phonologischen Vorhersagbarkeit des Ø-Plurals durchaus plausibel ist, können die Klassen IV, V und VI allerdings nicht ohne Weiteres zusammengelegt werden. Da dieser Aspekt besonders relevant für den Status von Ø|s ist, was weiter unten deutlich wird, gehe ich hier kurz auf diese Klassen ein. Eine Makroklasse anzunehmen, die die Klassen IV, V und VI vereinigt, wäre gerechtfertigt, wenn sich die Ausprägung des Genitiv Singular bei Wörtern mit (e)n-Plural mithilfe einer Kombination aus Genus, semantischen und phonologischen Merkmalen vorhersagen ließe. Das ist allerdings nicht der Fall, was im Folgenden gezeigt werden soll: Abb. 37 zeigt eine komplexe Modellierung, die versucht, die Flexionsklassenzugehörigkeit von Wörtern mit (e)n-Plural aus Genus, semantischen und phonologischen Merkmalen abzuleiten.

Allgemeine Organisationsprinzipien morphologischer Systeme | 213

Substantive mit (e)n-Plural

Feminina  -Ø Maskulina /

z.B. Frau, Zitrone

Neutra

endet auf [ə]

endet nicht auf [ə]

[+belebt]

[-belebt]

[+belebt]

[-belebt]

 -n

 -ns

 -s

z.B. Löwe, Kongolese

z.B. Name, Gedanke

z.B. Staat, Strahl

endet nicht auf or

endet auf or

 -en

 -s

z.B. Mensch, Journalist

z.B. Autor, Sponsor

Abb. 37: Zur Vorhersagbarkeit des Genitiv Singular bei Wörtern mit (e)n-Plural

Die Modellierung basiert auf Carstairs (1987: 241–250), ist aber um eine zusätzliche Komponente erweitert (Endung auf or), sodass sich zahlreiche potentielle Gegenbeispiele erübrigen (z.B. Doktor, Autor, Sponsor, Direktor, Lektor, Juror usw.). Sie ist in der Lage, das Verhalten der meisten Substantive abzubilden, allerdings gibt es (wenige) Beispiele, die zeigen, dass dieser Versuch das System nicht zu 100 % abdecken kann. Dazu zählen Insekt, Untertan, Papagei und Vetter. Hierbei handelt es sich um Maskulina/Neutra, die nicht auf Schwa enden, etwas Belebtes bezeichnen, nicht auf or enden, aber dennoch (entgegen der Modellierung in Abb. 37) -s im Genitiv Singular aufweisen.17 Somit können schwache und gemischte Flexion, die in den Tabellen 64 und 65 als Klassen IV || 17 Zu berücksichtigen ist hier auch das schwankende flexionsmorphologische Verhalten einiger Lexeme. So wird z.B. Autor mitunter auch schwach flektiert: Das Buch des Autoren (vgl. z.B. Köpcke 1995: 175–176). Hier kann die Genitivform ebenfalls nicht aus dem Pluralallomorph abgeleitet werden, da im Genitiv sowohl -en als auch -s verwendet werden.

214 | Theoretische Implikationen

und V bezeichnet werden, auf der Basis des hier vorgenommenen Modellierungsversuchs nicht zu einer Makroklasse zusammengefasst werden, da nicht zwangsläufig von der Kombination aus Genus, Semantik und Phonologie auf das Verhalten im Genitiv Singular geschlossen werden kann.18 Da es meines Wissens auch keine andere mögliche Modellierung gibt, die das leisten kann, gehe ich davon aus, dass gemischte und schwache Flexion nicht zu einer Makroklasse zusammengefasst werden können.19 Dieser Sachverhalt ist es auch, der neben dem Muster Ø|s für das PEP problematisch ist: Wenn man zwei Makroklassen für den (e)n-Plural ansetzen muss, übersteigt die Anzahl an Makroklassen die Anzahl der Plural-Allomorphe, auch ohne dass zwei Makroklassen für den s-Plural angesetzt werden. Deshalb zieht Carstairs (1987: 244– 246) im Zusammenhang mit dem PEP die Annahme getrennter Paradigmen in Erwägung. Für das NBP, das Carstairs-McCarthy (1994: 756) wegen dessen externer Motivation als dem PEP übergeordnet bezeichnet, sind mehrere Makroklassen mit (e)n-Plural aber unproblematisch – sofern man Ø|s (mask./neut.) unberücksichtigt lässt. Setzt man auch für den s-Plural zwei Makroklassen an (vgl. Klassen VII und VIII in Tab. 65; s. auch Abschnitt 5.2.2), erhält man ein System, das als „blurred“ zu bezeichnen wäre, da es mit -s und -(e)n zwei Allomorphe enthält, die in mehr als einer Klasse zum Ausdruck der identischen Funktion verwendet werden. Dies entspricht nicht dem NBP, weil -s und -(e)n im System in Tab. 65 keinen spezifischen Informationsgehalt haben, da beide

|| 18 Bezüglich der Gegenbeispiele könnte man zunächst plausibel argumentieren, dass Insekt und Papagei zwar [+belebt] sind, auf der Belebtheitshierarchie im Gegensatz zu Menschen und anderen Säugetieren aber verhältnismäßig niedrig einzustufen sind, und zwar unterhalb der grammatisch relevanten Schwelle, weshalb sie zu den unbelebten Entitäten gruppiert werden könnten (vgl. hierzu z.B. Köpcke 2000a: 114–115) und deshalb kein Gegenargument gegen die Modellierung in Abb. 37 sind. Weiterhin könnte man aus diachroner Perspektive vermuten, dass die übrigen Gegenbeispiele in Zukunft obsolet sein werden, da Vetter stark an Frequenz eingebüßt hat und möglicherweise aus dem Wortschatz schwindet und Untertan zwischen gemischter und schwacher Flexion schwankt (vgl. Schäfer im Druck). Allerdings tendiert Untertan diachron keineswegs in Richtung schwache Flexion, sondern ist aus der schwachen in die gemischte übergegangen, bzw. geht aktuell in diese über. Ähnliches gilt auch für Ahn und Veteran. Die Anzahl der Gegenbeispiele wächst hier also an. Für einen bevorstehenden Wechsel dieser Wörter in die starke Flexion gibt es derzeit keine Anzeichen (?viele Untertane; ?viele Veterane). 19 Allein das Gegensatzpaar Vetter (gemischte Flexion) vs. Bauer (schwache Flexion) veranschaulicht, dass man hier anhand von Genus (beide mask.), Phonologie (beide enden auf er) und Semantik (beide [+menschlich]) schwerlich die Zugehörigkeit zu einer Flexionsklasse ableiten kann.

Allgemeine Organisationsprinzipien morphologischer Systeme | 215

nicht eindeutig eine Makroklasse identifizieren, aber auch nicht gleichzeitig als Default analysiert werden können.20 Auch hier scheint die einzige Möglichkeit, das deutsche System trotz der Berücksichtigung von Ø|s (mask./neut.) mit einem allgemeinen Prinzip in Einklang zu bringen, darin zu bestehen, getrennte Singular- und Pluralparadigmen anzusetzen, was aber nicht Carstairs-McCarthys (1994: 744–745) ursprünglicher Analyse des Deutschen vor dem Hintergrund des NBP entspricht.

5.2.4 Zwischenfazit Was bedeuten diese Beobachtungen zur deutschen Deklination nun für PEP und NBP? Und was bedeuten umgekehrt PEP und NBP für die Beobachtungen zur deutschen Deklination? Die Ausführungen zum Muster Ø|s (mask./neut.) haben gezeigt, dass sowohl PEP als auch NBP bei Berücksichtigung dieses Musters in ihrer ursprünglichen Form nicht mit dem Deutschen kompatibel sind. Um die Kompatibilität wiederherzustellen, benötigt man Zusatzannahmen, z.B. die Trennung von Singular- und Pluralparadigmen, die kontrovers ist und die Aussagekraft der Prinzipien massiv einschränkt. Diese Zusatzannahme benötigt man auch für (wenige) andere Sprachen, vor allem solche, deren Flexionssystem besonders komplex ist (vgl. die Ausführungen zum Isländischen und Polnischen von Carstairs-McCarthy 2010 und Engers (2013) Analyse des Färöischen). Darüber hinaus gibt es mit Nuer, einer west-nilotischen Sprache, die im SüdSudan und in Äthiopien gesprochen wird, auch mindestens ein System, das selbst bei Zuhilfenahme von Zusatzannahmen nicht in Einklang mit NBP und PEP zu bringen ist (Baerman 2012).21 Wenn man beide Prinzipien aber nicht als

|| 20 Dieser Sachverhalt ist im Übrigen auch problematisch für Wurzels (1994) Analyse des Deutschen, da hier auch nicht bei Zuhilfenahme von „außermorphologischen Eigenschaften“ von der Pluralform auf den Genitiv Singular geschlossen werden kann. 21 Neben der Anführung von Gegenbeispielen gab es in den vergangenen Jahren auch – durchaus gut begründete – Kritik am grundsätzlichen Konzept des NBP, unter anderem daran, dass stammaffizierende Verfahren ignoriert werden, oder an der Art und Weise, wie Makroklassen definiert werden. Vgl. z.B. Blevins (2004: 77): „The fact that one might be able to construct blur-free descriptions of inflectional systems arguably reveals more about the descriptive flexibility that is gained by recognizing diverse types of macroparadigms and by granting various kinds of exemptions than it does about the organization of inflection classes“. Diese Punkte sollen hier nicht diskutiert werden. Vielmehr wird das NBP als deskriptive Generalisierung verstanden, mithilfe derer ungewöhnliche bzw. unerwartete Aspekte eines Systems identifiziert werden können.

216 | Theoretische Implikationen

uneingeschränkt für alle Sprachen gültige Universalien versteht, sondern als starke Tendenzen, machen die Gegenbeispiele die Prinzipien nicht obsolet (vgl. z.B. Noyer 2005: 304–306 und Enger 2013: 365). Stattdessen sagen NBP und PEP unter dieser Perspektive etwas über die Gegenbeispiele aus, nämlich, dass es sich hier um seltene und bemerkenswerte Ausnahmen zu einer in aller Regel zutreffenden Verallgemeinerung handelt. Diese Ausnahmen zu PEP und NBP sind aus funktionalen Gesichtspunkten nachteilig, da sie Kennzeichen eines besonders kompetenzbelastenden Systems sind; in diesem Punkt sind sich die Vertreter verschiedener theoretischer Frameworks einig (vgl. z.B. CarstairsMcCarthy 1994: 738, 784–785 und Noyer 2005: 306).22 Deshalb überrascht es nicht, dass aus PEP und NBP auch Implikationen für (bevorstehenden) Sprachwandel abgeleitet werden. Die Prognose lautet dabei, dass Aspekte eines Systems, die nicht mit den beiden Prinzipien konformgehen, auf längerfristige Sicht abgebaut werden (vgl. z.B. Carstairs-McCarthy 2010: 232). Dass das Muster Ø|s (mask./neut.) PEP und NBP vor Herausforderungen stellt, unterstreicht seine Ungewöhnlichkeit aus sprachvergleichender Perspektive. Aber auch sprachintern stellt dieses Muster eine deskriptive Herausforderung dar, da es systeminternen Verallgemeinerungen zum deutschen Deklinationssystem hinsichtlich des Zusammenhangs von Genus, Numerus und Kasus entgegensteht, was weiter oben demonstriert wurde (vgl. Abschnitte 5 und 5.1). Unklar geblieben ist bislang, inwiefern Maskulina und Neutra, die mehrheitlich nach dem Muster Ø|s flektieren, nun ausreichend Evidenz dafür liefern, die beschriebenen Verallgemeinerungen zu verwerfen oder zu modifizieren. Das beträfe vor allem den Zusammenhang von Numerus und Kasus im Deutschen (was, wie oben gezeigt, dann auch relevant für NBP und PEP wäre) sowie den Zusammenhang von Genus und Kasus mit allen theoretischen und deskriptiven Implikationen. Um diese Frage beantworten zu können, muss der Status von Ø|s (mask./neut.) geklärt werden, wobei zentral ist, inwiefern es sich bei dem, was bisher als Muster bezeichnet wurde, um eine eigene Flexionsklasse handelt bzw. handeln kann. Dieser Aspekt wird im Folgenden zunächst ausführlich behandelt, woraufhin schließlich die oben gestellte Frage nach der Bedeutsamkeit von Ø|s (mask./neut.) für Theorie und Beschreibung des Deutschen diskutiert werden wird.

|| 22 Sowohl Carstairs-McCarthy (1994: 738, 784–785) als auch Noyer (2005: 306) gehen davon aus, dass Verstöße gegen das NBP den Spracherwerb erschweren. Verstöße gegen das PEP gehen mit einem (ebenfalls den Spracherwerb erschwerenden) besonders komplexen Flexionssystem einher.

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 217

5.3 Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem Wie oben ausführlich gezeigt wurde, stellt sich die Frage, inwiefern bzw. auf welche Weise Ø|s (mask./neut.) sich in eine adäquate Beschreibung des deutschen Deklinationsklassensystems integrieren lässt und ob dafür die ansonsten gültigen Zusammenhänge und Verallgemeinerungen aufgegeben werden müssen. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, ob Ø|s bei maskulinen/neutralen Substantiven eine eigene Flexionsklasse konstituiert oder nicht. Um diese Frage und damit zusammenhängende Probleme diskutieren zu können, werden zunächst einige Definitionen dieses grundlegenden morphologischen Konzepts der Flexionsklasse besprochen und anschließend in Bezug zu anderen damit verwandten Konzepten gesetzt. Ein zentrales Charakteristikum einer Flexionsklassen-Definition besteht darin, wie restriktiv formale Einheitlichkeit der morphologischen Realisierungen innerhalb einer Klasse eingefordert wird. Aufgrund dieses Charakteristikums können restriktive (oder „enge“ bzw. „harte“) von weniger restriktiven (oder „weite“ bzw. „weiche“) Definitionen unterschieden werden (vgl. Kü rschner 2008: 21–23, Dammel 2010: 23–30). Eine restriktive Definition stammt von Wurzel (22001: 66–67): Eine Sprache Li hat eine Flexionsklasse FKj, wenn für eine Gruppe von Wörtern WGj jede abgeleitete morphologische Kategorie Kk (jedes abgeleitete Kategorienbündel Kkl … Kkm) i n f o r m a l e i n h e i t l i c h e r W e i s e s y m b o l i s i e r t wird und die Gesamtheit der abgeleiteten Flexionsformen von der Gesamtheit der abgeleiteten Flexionsformen aller anderen Wortgruppen f o r m a l d i s t i n k t ist. Formale Distinktivität liegt vor, genau dann wenn (i) wenigstens eine Kategorie Kl (ein Kategorienbündel Kll … Klm) so symbolisiert wird, daß sich ihre Symbolisierung von den Symbolisierungen aller anderen Gruppen von Wörtern in Kl (Kll … Klm) phonologisch unterscheidet; (ii) Fall (i) nicht gilt, doch eine Kategorie Kl (ein Kategorienbündel Kll … Klm) phonologisch übereinstimmend mit der Wortgruppe WGp und abweichend von der Wortgruppe WGq sowie eine Kategorie Kr (ein Kategorienbündel Krl … Krm) phonologisch übereinstimmend mit der Wortgruppe WGq und abweichend von der Wortgruppe WGp symbolisiert wird. (Hervorhebungen im Original)

Eine Flexionsklasse hebt sich demnach von anderen Flexionsklassen dadurch ab, dass entweder mindestens eine Paradigmenposition durch eine spezifische (von den funktionsgleichen morphologischen Realisierungen der anderen Klassen unterschiedliche) morphologische Realisierung besetzt ist (z.B. -(e)n im Dativ Singular der schwachen Maskulina wie im Mensch-en) oder dass morpho-

218 | Theoretische Implikationen

logische Realisierungen, die auch in anderen Klassen vorkommen, in spezifischer Weise gemischt sind (z.B. -(e)s im Genitiv Singular und -(e)n im Plural der gemischten Deklination wie des Staat-es und die Staat-en). Zu einer „engen“ Definition wird diese Begriffsbestimmung durch die Formulierung „in formal einheitlicher Weise“. Eine vergleichbare Passage („the same set of inflectional realizations“) findet sich bei Aronoff (1994: 64): An inflectional class is a set of lexemes whose members each select the same set of inflectional realizations. […] Let us call the pairing of a morphosyntactic property array and a realization a realization pair. The set of realization pairs for all possible morphosyntactic property arrays of a given lexeme is the inflectional class of that lexeme. (Hervorhebungen im Original)

Im Gegensatz zu diesen „engen“ Definitionen (zu denen Kü rschner 2008: 22 auch die Vorschläge von Carstairs-McCarthy 1998: 323 und Haspelmath 2002: 115 zählt), zeichnen sich „weite“ Definitionen dadurch aus, dass das Kriterium der formalen Einheitlichkeit aller morphologischen Realisierungen (also der Morphe und/oder stammaffizierenden Verfahren) weniger restriktiv gehandhabt wird. An die Stelle absoluter formaler Identität tritt z.B. bei Enger (1998: 140) das Kriterium der Ähnlichkeit: An inflection class is defined as a group of words that inflect in the same or a similar fashion […].

Dieses Kriterium wird zwar erläutert, aber nicht exakt definiert (was zu einem gewissen Grad in der Natur der Sache liegt): „The question is how to delimit similarity. Where does similarity stop? The question is in one way unanswerable, since the concept is fuzzy“ (Enger 1998: 144). Der Flexionsklassendefinition von Enger (1998) sehr ähnlich ist die von Dammel (2010: 29): Eine Flexionsklasse ist eine Gruppe von Wörtern, deren Flexionsformen auf gleiche oder ähnliche Weise gebildet werden und die damit in Opposition zu mindestens einer weiteren Gruppe von Wörtern derselben Wortart steht. Die Klassenzugehörigkeit manifestiert sich nur im Wort selbst, ist also ohne Einfluss auf das Flexionsverhalten abhängiger Konstituenten.

Ebenso plädiert Werner (1994: 13) dafür, „daß wir auch beim Begriff des Flexionsparadigmas statt von einer strengen, engen Definition lieber von einem Prototyp ausgehen sollten“. Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen von Definitionen beziehen sich also auf die Frage, wie viel formale Variation innerhalb einer Flexionsklas-

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 219

se zugelassen werden soll. Auf diesen Aspekt komme ich weiter unten wieder zurück (vgl. Abschnitt 5.3.4). Einigkeit besteht demgegenüber weitestgehend bei der Annahme, dass phonologisch konditionierte Allomorphie nicht flexionsklassenkonstituierend ist (vgl. z.B. Haspelmath 2002: 116 und Dammel 2010: 17), wovon ich im Folgenden auch ausgehen werde. Das betrifft im Deutschen z.B. die Ausprägung der Dativ Singular-Endung der schwachen Maskulina, die bei Wörtern mit finalem Schwa nichtsilbisch ausfällt (z.B. dem Löwe-n) und bei allen anderen Wörtern dieser Klasse silbisch ist (dem Mensch-en). Diese Variation wird in aller Regel nicht nur bei Annahme einer „weiten“ Definition als flexionsklassenintern eingestuft, sondern auch bei Annahme einer „engen“ Definition.23 Die Frage nach klasseninterner Variation ist dann auch bei anderen mit Flexionsklasse verwandten Konzepten relevant. So wird z.B. Deklinationsklasse gelegentlich verwendet, um einen (nominalen) Flexionstyp zu bezeichnen, der im Gegensatz zur restriktiv verstandenen Flexionsklasse mehr klasseninterne Variation zulässt, im Grunde also mehrere „eng“ definierte Flexionsklassen vereint. So fassen z.B. Thieroff & Vogel (2008: 44; s. auch Abschnitt 5.1) stark flektierende Nichtfeminina ungeachtet der unterschiedlichen Plural-Realisierungen zu einer Deklinationsklasse zusammen, lediglich solche mit s-Plural werden hier nicht integriert: Männ-er, Berg-e, Gäst-e, Segel-Ø  usw. Dieser Begriffsverwendung schließe ich mich nicht an, sondern verwende Deklinationsklasse mit der (wohl auch üblicheren) Bedeutung ‚Flexionsklasse eines Substantivs‘, parallel zur Konjugationsklasse als ‚Flexionsklasse eines Verbs‘. Insofern werden die Begriffe Flexionsklasse und Deklinationsklasse hier als weitestgehend gleichbedeutend erachtet, letzterer spezifiziert lediglich, dass es sich um nominale Flexion handelt. Auch der Begriff Paradigma wird unterschiedlich verwendet. Ich schließe mich hier der Definition von Carstairs-McCarthy (2000b: 596) an, der (am Beispiel der deutschen Deklination) folgende Begriffsklärung vornimmt:

|| 23 Selbst Wurzel (22001: 68) fasst die schwachen Maskulina als eine Klasse auf, in der Wörter mit und ohne auslautendes Schwa vertreten sind. Das Schwa im Nominativ Singular analysiert er als ein Morphem (also Has-e), sodass für alle obliquen Kasus formal einheitliche Morphe angenommen werden können (z.B. des Bär-en aber auch des Has-en). Da seine Definition lediglich Einheitlichkeit bei der Realisierung der „abgeleiteten“ Formen und nicht bei der Grundform voraussetzt, ist die Annahme einer einzigen Flexionsklasse somit mit der Flexionsklassendefinition kompatibel. Meines Erachtens ist das e in Hase nicht als Flexiv zu interpretieren. Da ich aber davon ausgehe, dass phonologisch determinierte Variation generell nicht klassenkonstituierend ist, sehe ich schwache Maskulina mit und ohne Schwa dennoch als zu einer Klasse gehörend an.

220 | Theoretische Implikationen

[A] substantive is a lexeme which normally contains eight grammatical words, each identified by its combinations of properties from the two morphosyntactic categories case (nominative, genitive, dative, accusative) and number (singular, plural) […]. These eight case-number combinations constitute the paradigm for the word-class of substantives in German. There is no generally accepted term for the individual properties and combinations which constitute a paradigm, but cell seems more suitable than the ambiguous slot or position (in German, the standard term is Stelle ‚place‘). (Hervorhebungen im Original)

Wenn vom Paradigma eines Lexems die Rede ist, bezeichnet das die Gesamtheit aller Wortformen eines Lexems, beim Substantiv folglich das spezifische Muster, das die acht Numerus/Kasus-Realisierungen eines Wortes konstituieren, also die individuelle Füllung der Zellen des Paradigmas (vgl. auch CarstairsMcCarthy 2000b: 597). Davon abzugrenzen ist die weitestgehend synonyme Verwendung von Paradigma und Flexionsklasse (ebd.; s. z.B. das Zitat von Werner oben). In der hier verwendeten Terminologie gehören Substantive also der gleichen Flexionsklasse (oder Deklinationsklasse) an, wenn die morphologischen Realisierungen in allen Zellen im Paradigma übereinstimmen – diese Wörter haben also deckungsgleiche Paradigmen, gehören aber nicht demselben Paradigma an. Wie genau „deckungsgleich“ dabei auszulegen ist, wird weiter unten diskutiert und hängt davon ab, ob man eine „enge“ oder eine „weite“ Flexionsklassendefinition zugrunde legt. In Flexions- oder Deklinationsklassen werden demnach Substantive gruppiert, die die Paradigmen-Zellen auf gleiche oder ähnliche Weise realisieren. Flexions- oder Deklinationsklassen können selbst wiederum gruppiert werden und zwar z.B. zu Makroklassen, die weiter oben bereits definiert wurden (s. Abschnitt 5.2.2). Die Ausführungen in diesem Kapitel zeigen, dass der Analyse eines Flexionssystems zahlreiche Entscheidungen zugrunde liegen. Diese Entscheidungen sind nicht nur terminologischer Natur, sondern haben auch inhaltlich einen Einfluss auf das Analyseergebnis, z.B. auf die Anzahl der Flexionsklassen, die in einem System veranschlagt werden. Das erklärt zum einen, warum es bei größtenteils unstrittiger Sachlage hinsichtlich der empirischen Befunde so viele unterschiedliche Vorschläge zur Klassifikation der deutschen Substantive gibt bzw. geben kann, und verdeutlicht zum anderen, dass Klassifikationen immer auch etwas Arbiträres haben. Das bedeutet nicht, dass jede erdenkliche Klassifikation möglich und gleichermaßen plausibel ist, eine einzig richtige Analyse gibt es aber genauso wenig. Die Sachlage ermöglicht in der Regel einen gewissen Spielraum, in dem sich unterschiedliche (aber ggf. gleichermaßen plausible) Analysen bewegen, wobei die Unterschiede auf methodischen Entscheidungen und diese wiederum meist auf unterschiedlichen Erkenntnisinteressen oder

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 221

Perspektiven beruhen. Vor diesem Hintergrund kann man Enger (1998: 142) nur zustimmen, der mit Blick auf sich unterscheidende Klassifikationen konstatiert: „[D]ifferent classifications lead to different generalisations. It would therefore be silly to insist on only one classification, and dismiss the others, together with the significant generalisations they lead to”. In diesem Sinne ist es nicht Ziel der folgenden Diskussion, die einzige gültige Klassifikation deutscher Substantive aufzustellen (oder zu ernennen), sondern vielmehr verschiedene Möglichkeiten durchzuspielen und Arten von Klassifikationen gegenüberzustellen, um zu testen, auf welche Weise die empirischen Befunde der vorigen Kapitel am besten abgebildet werden können. Das kann dann – aus einer Perspektive, die Variation und Phänomene der Peripherie ernst nimmt – Argumente für die eine oder gegen die andere Art der Klassifikation liefern. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie bzw. ob sich maskuline/neutrale Substantive, die regelmäßig ohne Genitiv-s gebraucht werden, in eine Beschreibung der deutschen Deklination integrieren lassen, was wiederum von Interesse ist mit Blick auf die oben vorgestellten Prinzipien sowie den Zusammenhang von Genus, Numerus und Kasus und allgemeine Aspekte wie Produktivität von Klassen, Wandel und Variation. Im Folgenden bespreche ich vier grundlegende Möglichkeiten, wie man mit Ø|s (mask./neut.) umgehen könnte: Man könnte das Muster … a)

als Ausnahme deklarieren und nicht in eine Systematik integrieren

b)

als eigenständige Klasse neu einführen

c)

einer bereits bestehenden Klasse zuordnen, und zwar Ø|s (Feminina)

d)

einer bereits bestehenden Klasse zuordnen, und zwar s|s

5.3.1 Möglichkeit 1: Nicht in die Systematik integrieren In Darstellungen des deutschen Deklinationssystems werden maskuline/neutrale Substantive, die im Normalfall kein Genitiv-s erhalten, in aller Regel entweder nicht erwähnt (vgl. z.B. Wurzel 1994, Simmler 1998 und Thieroff & Vogel 2008) oder als Ausnahmen aufgelistet und nicht in die vorgenommene Systematik integriert (vgl. z.B. Helbig & Buscha 2002: 213 und Duden-Grammatik 82009: 200–206, 221). Üblicherweise werden Belege wie des LKW bei der Auflistung und Charakterisierung deutscher Deklinationsklassen also ignoriert. Das ist in vielen Fällen nachvollziehbar und dem Zweck einer Darstellung oder dem zugrundeliegenden Erkenntnisinteresse geschuldet, z.B. dann, wenn aus didaktischen Gründen die Übersichtlichkeit einer Darstellung ein wichtiges Kriterium ist (z.B. in Gebrauchsgrammatiken und Lehrbüchern). Häufig werden dort auch andere Ausnahmen

222 | Theoretische Implikationen

und divergierende Kleingruppen ausgeblendet. Das gilt auch für eine Reihe von wissenschaftlichen Publikationen, die explizit „das zentrale System“ untersuchen und keine Aussagen zu peripheren Phänomenen und/oder Variation machen möchten (vgl. z.B. Augst 1979: 224–227, der das „zentrale Pluralsystem“ beschreibt, oder Müller 2002: 126–128). Gerade in wissenschaftlichen Beschreibungen, die Anspruch auf Vollständigkeit erheben, überrascht aber das Fehlen des Musters Ø|s (mask./neut.), vgl. z.B. Simmler (1998). Da in dieser Arbeit die Auffassung vertreten wird, dass gerade periphere Phänomene sowie synchrone und diachrone Variation aufschlussreich und interessant sein können (vgl. Kapitel 1, aber auch Abschnitt 5.1), soll Ø|s (mask./neut.) nicht von vornherein von der Systematik der deutschen Deklinationsklassen ausgeschlossen werden. Stattdessen scheint es sinnvoll, Kriterien zu überprüfen, die für oder gegen eine Berücksichtigung des Musters sprechen. Hier bieten sich die Kriterien an, die auch sonst üblicherweise herangezogen werden, wenn zur Diskussion steht, ob einem Wort oder einer kleinen Gruppe von Wörtern Flexionsklassenstatus zugesprochen werden soll. Dazu zählen in erster Linie die Typenfrequenz, aber auch Produktivität und Tokenfrequenz. Die Definitionen, die weiter oben besprochen wurden, enthalten alle keine Mindestanzahl von Typen, ab der man von einer Flexionsklasse sprechen kann. Wurzel (22001: 67) thematisiert diese Frage allerdings an anderer Stelle: Was die notwendige Größe solcher Wortgruppen betrifft, so kann (will man nicht einfach willkürlich verfahren) wohl keine Zahl genannt werden, die die unterste Begrenzung für Flexionsklassen gegenüber ,Einzelfällen‘ bildet. […] Klar ist dagegen, daß wirkliche idiosynkratische Einzelfälle, wie etwa die deutsche Kopula sein, keine Flexionsklassen konstituieren, da ja jeweils Gruppen von Wörtern vorausgesetzt sind. (Hervorhebungen im Original)

Ähnlich argumentieren Enger (1998: 155–156) und Haspelmath (2002: 116). Über eine Untergrenze von mindestens zwei Mitgliedern pro Flexionsklasse besteht also weitestgehend Konsens (s. aber auch Simmler 1998: 218, der eine Klasse mit Herz als einzigem Mitglied veranschlagt). Diese Untergrenze kann aber kaum als (quantitativ) hinreichende Bedingung verstanden werden. Wenn sie nur knapp überschritten wird, ergibt sich ein gewisser Spielraum. So entscheidet sich z.B. Nübling (2008: 298) dazu, „Kleinstgrüppchen wie Mütter/Töchter […] nicht als Klasse“ zu zählen. Vor diesem Hintergrund soll nun überprüft werden, inwiefern mangelnde Typenfrequenz ein Argument dafür sein kann, das Muster Ø|s (mask./neut.) als Ausnahme einzustufen, statt ihm Flexionsklassenstatus einzuräumen. Die Ermittlung der Typenfrequenz erweist sich hier allerdings als schwierig, da es keine maskulinen/neutralen Substantive gibt, die ausschließlich nach dem

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 223

Muster Ø|s flektieren: -s im Genitiv Singular ist zwar bei manchen Wörtern äußerst selten, aber nie ungrammatisch. Auf diesen Punkt komme ich weiter unten wieder zurück (s. Abschnitt 5.2.3). Zunächst widme ich mich der Typenfrequenz von Substantiven, die in der Regel oder zumindest häufig ohne Flexiv im Genitiv Singular und mit -s im Plural verwendet werden – denkbar wäre ja z.B., dass diese Wörter zwischen zwei Flexionsklassen schwanken, was ja auch auf andere Substantive im Deutschen zutrifft (z.B. gemischte Flexion: des Veteran-s vs. Flexion der schwachen Maskulina: des Veteran-en). Zu den maskulinen/ neutralen Substantiven, die (auch) nach dem Muster Ø|s flektieren, gehören zunächst eine ganze Reihe von buchstabierten Buchstabenkurzwörtern (vgl. Abschnitt 4.3): AKW, BH, CT, FÖJ, FSJ, IC, ICE, IM, KFZ, KO, KZ, LKW, MB, MG, MRT, OB, PC, PKW, TV, WC usw., daneben auch einige Fremdwörter wie Anime, Buddha, Burnout, Chateau, Flamenco, Manga, Muezzin, Punk, Rabbi, Samurai, Shaolin, Sumo, Tango, Triathlon, Tsunami und Vietcong/Vietkong (vgl. (111) und (112)); weiterhin zahlreiche Warennamen, z.B. aus dem Telekommunikationsbereich (iPad, iPhone, MacBook, Nokia, Samsung) oder dem Automobilbereich: Audi, BMW, Ferrari, Fiat, Ford, Honda, Hyundai, Kia, Lada, Lamborghini, Maserati, Mazda, Mini, Mitsubishi, Nissan, Opel, Peugeot, Porsche, Renault, Saab, Seat, Skoda, Smart, Subaru, Suzuki, Toyota, Volvo, VW (vgl. (113) und (114)). (111)

Nach seinen Ausführungen bat er um Spenden für die Opfer des Tsunami.

(112)

Der Pessimist wird sich vorher informieren wie oft diese Tsunamis auftreten können.

(113)

Die 18-Jährige saß ohne Fahrerlaubnis am Steuer eines Mitsubishi.

(114)

Die kleinen Mitsubishis sind schon wirklich gut, besonders wenn man den Preis dabei beachtet.

Allein mit dieser Auflistung – hier besteht keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit – gelangt man zu einer Typenfrequenz von 58 Wörtern, die häufiger

224 | Theoretische Implikationen

ohne Genitiv-s als mit Genitiv-s sowie mit Plural-s verwendet werden. Zählt man auch solche Substantive hinzu, die im Genitiv Singular zu einem Anteil von 25 % bis 50 % -Ø aufweisen, ergeben sich 69 Typen. Ein Überblick über die Verwendung der oben genannten Lexeme befindet sich im Anhang 6.24 Darüber hinaus gibt es auch gute Argumente dafür, neben Warennamen auch zahlreiche weitere Namen(typen) dem Muster Ø|s (mask./neut.) zuzuordnen (vgl. hierzu auch Zimmer eingereicht). Allerdings liegt eine solche Zuordnung nicht so sehr auf der Hand wie bei Warennamen: Ein wichtiger Unterschied zwischen Warennamen und anderen Namentypen liegt darin, dass erstere nicht strikt monoreferent sind und deshalb sehr viel häufiger im Plural vorkommen als alle anderen Namenklassen.25 Diese äußerst niedrige Frequenz des Plurals der anderen Namen, die semiotisch bedingt ist, erschwert deren Zuordnung zu einer Deklinationsklasse: Wenn ein Wort selten oder nie im Plural verwendet wird, ist das Pluralallomorph nicht offenkundig. Dieses wäre (neben dem Genitivmorphem) aber ausschlaggebend bei der Zuordnung zu einer Deklinationsklasse. Dass der Plural hier (sehr) selten ist, heißt aber nicht, dass er nie benötigt wird und/oder nicht gebildet werden kann. Bei Toponymen resultiert ein solcher Benennungsbedarf z.B. dann, wenn eine bereits benannte Entität geteilt wird, z.B. im Fall von (Nord- und Süd-)Korea (vgl. (115)).26 (115)

Wie vor vier Jahren betreten beide Koreas unter einer Fahne das Oval.

|| 24 Die Frage, inwiefern es sich hierbei um ein diachron stabiles Muster handelt, wird weiter unten thematisiert. 25 Da Monoreferenz generell als ein sehr wichtiges Kriterium bei der Unterscheidung Eigenname vs. Appellativ gilt, ist in der Literatur umstritten, ob es sich bei Warennamen überhaupt um Eigennamen handelt – die nicht gegebene Monoreferenz ist ein eindeutiges Argument gegen eine solche Klassifikation. Als Argument für den Eigennamenstatus wird allerdings angeführt, dass Warennamen (anders als Appellative) in der Regel nicht auf ähnliche Objekte referieren, sondern auf identische. Gerade mit Blick auf die oben genannten Warennamen scheint dieses Argument nur eingeschränkte Gültigkeit zu haben, da z.B. BMW auf sehr unterschiedliche Fahrzeuge referieren kann (unterschiedliche Farben, verschiedene Modelle usw.). Da die Frage nach dem Eigennamenstatus dieser Wörter mit Blick auf ihre Deklinationsklassenzugehörigkeit unerheblich ist, wird diese Diskussion hier nicht weiterverfolgt (vgl. dazu Nübling, Fahlbusch & Heuser 22015: 48–49 und die dort zitierte Literatur). 26 Für entsprechende Hörbelege vgl. (zuletzt abgerufen am 29.08.2016).

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 225

In solchen Belegen wird häufig ein Plural-s verwendet. Dieses Morph konkurriert mit dem seltener gebrauchten Ø-Plural, vgl. Tab. 66, die die Flexionsformen verschiedener Toponyme unmittelbar nach beide oder beiden in DECOW2012 darstellt.27 Tab. 66: Plural von Toponymen nach beide/beiden in DECOW2012

Toponym

n

Anteil s-Plural

Anteil Ø-Plural

Sonstige

Amerika

175

76,6%

23,4%



Berlin

5

40,0%

60,0%



China

17

82,4%

17,6%



Deutschland

132

55,3%

31,1%

Deutschländer: 12,1%, Deutschlande: 1,5%

Frankfurt

7

71,4%

14,3%

Frankfurte 14,3%

Kongo

16

68,8%

31,2%



Korea

122

91,0%

9,0%



Sudan

8

87,5%

12,5%



Vietnam

5

100,0%





Das Gleiche gilt für die Flexion von Personennamen: Wenn auf mehrere (zufällig) gleich benannte Personen referiert wird, geschieht das in der Regel auch mit Plural-s oder (seltener) ohne Pluralkennzeichnung am Namen (vgl. (116) und (117) sowie dazu ausführlich Ackermann 2018a). (116)

Trainer Eric Abel hofft, dass er bis auf die beiden Michaels (Collignon und Krieg) wieder auf alle Mann zurückgreifen kann.

|| 27 Nübling (2012) interpretiert die hier zu beobachtende Schwankung als Hinweise auf einen bevorstehenden gänzlichen Abbau von Numerusmarkern am Namenkörper, wofür aus diachroner Sicht mit der syntagmatischen und paradigmatischen Deflexion tatsächlich auch einiges spricht. Aktuell überwiegt allerdings (noch) der s-Plural gegenüber -Ø. Dieser Sachverhalt steht in diesem synchron ausgerichteten Kapitel im Vordergrund.

226 | Theoretische Implikationen

(117)

Die beiden Müllers waren jedenfalls am späten Freitagabend froh, dass die Partie vorbei war.

Im Singular ist die Sachlage etwas komplexer. Hier müssen zunächst „echte“ Genitive von Possessiv-Konstruktionen unterschieden werden. Verschiedene AutorInnen haben in den vergangenen Jahren plausibel dafür argumentiert, dass es sich bei Belegen des Typs Walters Arbeit bzw. Berlins Sehenswürdigkeiten nicht um Genitive handelt. Das -s in solchen, historisch auf Genitive zurückgehenden, Konstruktionen sei synchron nicht als Kasusmarker, sondern vielmehr als „possessive-s“ oder „klitischer Possessivmarker“ zu analysieren. Dafür spricht unter anderem die Genus- bzw. Sexusunabhängigkeit des s-Markers (vgl. dazu ausführlich Fuß 2011, Scott 2014a, Ackermann 2018a und 2018b). Neben solchen Possessiv-Konstruktionen sind gleichzeitig auch „echte“ Genitivkonstruktionen möglich. Diese Fälle sind wesentlich seltener und setzen primären (z.B. die Unabhängigkeit des Kosovo) oder sekundären (z.B. der Charme des wiedervereinigten Berlin, der Geburtstag des kleinen Florian, die Werke des jungen Goethe) Artikelgebrauch voraus. Possessiv-Konstruktionen und „echte“ Genitive unterscheiden sich hinsichtlich der geforderten Marker: Während z.B. Michaela bei vorausgehendem Artikel nicht mit Genitiv-s verwendet werden kann (*das Buch der kleinen Michaelas), ist der Possessivmarker obligatorisch (*Michaela Buch). Beide Strukturen sind hinsichtlich der Markerverwendung also inkompatibel. Im Folgenden wird deshalb ausschließlich die Struktur mit vorausgehendem Artikel als Grundlage für die Zuordnung zu einer Deklinationsklasse herangezogen, da es sich hierbei zweifelsfrei um Genitivbelege und somit Fälle von Kasusgebrauch handelt (vgl. auch Ackermann 2018a). In solchen Konstruktionen schwankt die Genitivendung stark – sowohl -s als auch -Ø werden häufig verwendet, was Tab. 67 anhand von Daten aus DECOW2012 zeigt. Dargestellt ist hier die Ausprägung verschiedener Toponyme in Konstruktionen mit vorausgehendem (sekundärem) Artikel im Genitiv (des) und einem Adjektiv (vgl. (118)). Ähnlich verhalten sich Toponyme mit primärem Artikel (z.B. des Kosovo(s), s. hierzu Abschnitt 4.2) und auch bei Rufnamen dominieren Genitivbelege ohne Flexiv (z.B. der Geburtstag des kleinen Michael, s. hierzu Ackermann 2018a). Lediglich feminine bzw. weibliche Namen schwanken im Singular nicht – hier ist (im Genitiv) ausschließlich -Ø möglich: die Flagge der Schweiz, der Geburtstag der kleinen Michaela, die Werke der jungen Jelinek. 

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 227

(118)

Ein Kuriosum des geteilten Berlin waren drei U- bzw. S-Bahnlinien, welche durch Ost-Berlin führten, jedoch nur von West-Berlinern genutzt werden konnten.

Tab. 67: Flexion von Toponymen im Genitiv mit sekundärem Artikel in DECOW2012

Toponym

n

Anteil -Ø

Toponym

n

Anteil -Ø

Toponym

n

Anteil -Ø

Asien

156

34,6%

München

63

49,2%

Kanada

94

60,6%

Irland

133

36,8%

Indien

583

49,2%

Köln

184

62,0%

Argentinien

48

39,6%

Berlin

868

49,9%

Österreich

258

62,8%

Griechenland

929

40,4%

Frankreich

575

49,9%

Frankfurt

106

64,2%

England

289

40,5%

Japan

483

52,6%

Peking

35

65,7%

Spanien

342

40,6%

Brasilien

106

52,8%

Brüssel

9

66,7%

Europa

5379

42,7%

Belgien

85

52,9%

Athen

172

67,4%

Hamburg

51

43,1%

Moskau

49

53,1%

China

1130

67,5%

Russland

693

44,4%

Korea

88

55,7%

Warschau

25

68,0%

Deutschland

4990

45,6%

Vietnam

71

56,3%

Guinea

10

70,0%

Australien

64

46,9%

London

200

56,5%

Washington

20

70,0%

Zypern

32

46,9%

Prag

53

58,5%

Kopenhagen

7

71,4%

Bern

17

47,1%

Madrid

10

60,0%

Luxemburg

12

75,0%

Rom

1234

47,4%

Amerika

796

60,2%

Jemen

46

76,1%

Italien

455

48,8%

Wien

171

60,2%

Kongo

59

79,7%

Afrika

1239

48,8%

Tschechien 58

60,3%

Sudan

101

82,2%

Polen

419

49,2%

Dänemark

33

60,6%

Amsterdam

23

91,3%

Sofern man also davon ausgeht, dass es sich bei den hier thematisierten „echten“ Genitivbelegen um die für die Deklinationsklassenzuordnung relevanten Strukturen handelt, wofür in der jüngeren Vergangenheit gute Gründe angeführt wurden (s. oben), und außerdem das -s als dominanten Pluralmarker bei Eigennamen ansieht (dafür sprechen die Daten weiter oben, s. Tab. 66), dann scheint es gerechtfertigt zu sein, neben den bereits aufgelisteten Warennamen auch viele weitere Namen dem Muster Ø|s (mask./neut.) zuzuschreiben. Vor allem der Plural ist bei solchen Namen selten. Wenn er aber realisiert wird, dann in der Regel mit -s oder alternativ (aber seltener) ohne Pluralflexiv. Auch mit Blick auf Namen, deren Flexionsverhalten im Plural hier aufgrund man-

228 | Theoretische Implikationen

gelnder Frequenz nicht datenbasiert untersucht werden konnte, ist anzunehmen, dass vor allem -s und -Ø als Pluralmarker infrage kommen. Theoretisch denkbar wäre z.B. eine gedankliche Gegenüberstellung des Hochgebirge- und des Ebenen-Teils von Österreich: Optisch unterscheiden sich die beiden Österreichs vs. ?die beiden Österreich vs. ?die beiden Österreiche stark. Über die tatsächliche Akzeptabilität dieser Varianten müssten Fragebogenstudien Aufschluss geben; -s scheint mir hier allerdings die beste Option zu sein. Wie im Plural schwankt das Flexionsverhalten der Namen auch in („echten“) Genitivbelegen. Dank der gegenüber dem Plural höheren Kategorienfrequenz können hier aber wesentlich einfacher verlässliche Aussagen zur Realisierung gemacht werden: -Ø ist hier dem Genitiv-s mindestens gleichgestellt.   Diese Ausführungen zum Flexionsverhalten von Anthroponymen und Toponymen zeigen, dass auch (neutrale und maskuline) Mitglieder dieser Klassen nach dem Muster Ø|s flektieren und bei der Ermittlung der Typenfrequenz dieses Musters berücksichtigt werden können. Hierher gehören Rufnamen (des kleinen Michael/Paul/Peter/…), Familiennamen (des jungen Goethe/Schiller/ Bach/…) und wie gezeigt auch mindestens die Toponyme, die gelegentlich im Plural verwendet werden (Amerika, Berlin, China, Deutschland, Frankfurt, Kongo, Korea, Sudan, Vietnam). Ob diese Toponyme mit (der Kongo) oder ohne primären Artikel (Korea) verwendet werden, ist an dieser Stelle unerheblich. Die Anzahl an maskulinen/neutralen Substantiven, die mehrheitlich oder zu mindestens 25 % nach dem Muster Ø|s flektieren, liegt demnach mit den oben aufgelisteten 69 Types (Kurzwörter, Fremdwörter, Ergonyme), den männlichen Rufnamen, den Familiennamen von männlichen Personen und einigen neutralen oder maskulinen Toponymen im dreistelligen Bereich.28 Mangelnde Typenfrequenz ist somit kein valides Argument dafür, dem Muster Ø|s (mask./ neut.) keinen Deklinationsklassenstatus einzuräumen, denn mit dieser Typenfrequenz liegt Ø|s (mask./neut.) deutlich über der von Mustern, deren Klassenstatus umstritten ist, denen dieser Status aber mitunter zugeschrieben wird (z.B. ns|n; Name) und auch über der Typenfrequenz von kleinen Deklinationsklassen, über deren Klassenstatus weitgehender Konsens herrscht (z.B. Ø|UL+e; Stadt). Dies verdeutlicht Tab. 68. Die hier angegebene Typenfrequenz basiert auf den Angaben im WahrigRechtschreibwörterbuch (82011): Um Angaben über die Größe der Klassen zu erhalten, wurden der gesamte Band ausgewertet und alle Substantive zusam-

|| 28 Andere Namentypen wurden nicht untersucht, da in den Korpora keine bzw. nicht genügend Belege für Phänonyme (z.B. Orkantief Lothar), Praxonyme (z.B. der Zweite Weltkrieg) und Zoonyme (z.B. Hasso) im Genitiv Singular und im Plural gefunden werden konnten.

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 229

mengetragen, die dort einer der hier relevanten kleineren Klassen zugeschrieben werden.29 Dies war nötig, weil andere Übersichten hinsichtlich der absoluten Größe der Klassen nur bedingt aussagekräftig sind: So basiert z.B. die Darstellung in Pavlov (1995), die unter anderem auch der Übersicht in Nübling (2008: 298) zugrunde liegt, die wiederum in der aktuellen Auflage der DudenGrammatik (92016: 219–220) wiedergegeben wird, zwar ebenfalls auf einer Auszählung der damals aktuellen Auflage des Wahrig-Rechtschreibwörterbuchs, berücksichtigt allerdings nur ein „Drittel des Gesamtumfangs des Wörterbuchs“ (Pavlov 1995: 40). Mugdan (1977), dessen Arbeit z.B. der Übersicht in der Duden-Grammatik (82009: 221) zugrunde liegt, beschränkt sich auf die Auswertung eines „Grundwortschatzes“ von 957 Wörtern (vgl. Mugdan 1977: 99) und lässt dabei den für die Pluralbildung relevanten Umlaut außer Acht, sodass beide Arbeiten zwar interessante Anhaltspunkte zur relativen Typenfrequenz der Klassen liefern, für eine Ermittlung der absoluten Typenfrequenz der hier relevanten Klassen aber kaum geeignet sind. Tab. 68: Typenfrequenz kleiner Deklinationsklassen

Flexive

Genus

Beispiele

Typenfrequenz

FlexionsklassenStatus bei

ens | en

Neut.

Ø | UL

Fem.

Herz

1

Simmler 1998

Mutter, Tochter

2

u.a. Duden 2009

ns | n

Mask.

Name, Gedanke

6

u.a. Wurzel 1994

(e)s | UL

Mask./Neut.

Bruder, Kloster

29

u.a. Nübling 2008

Ø | UL + e30

Fem.

Kunst, Stadt

52

u.a. Nübling 2008

(e)s | UL + er31

Mask./Neut.

Mann, Kalb

108

u.a. Duden 2009

|| 29 Die Liste dieser Substantive befindet sich im Anhang 9. 30 Die fast ausnahmslos besonders niederfrequenten Substantive mit einer Pluralform ohne Umlaut, deren morphologische Eigenschaften ansonsten aber mit denen der hier beschriebenen Substantive übereinstimmen (z.B. Sphinx – Sphinxe), bleiben hier unberücksichtigt – was dem Vorgehen z.B. von Nübling (2008: 298) entspricht. 31 Die hierher gehörigen, aber nicht umlautfähigen Substantive (z.B. Rind – Rinder) wurden bei der Beschreibung dieser Klasse berücksichtigt, was dem Vorgehen z.B. von Nübling (2008: 298) entspricht. Man könnte durchaus diskutieren, ob es sinnvoll ist, umlautunfähige Substantive unterschiedlich zu klassifizieren (hier werden sie berücksichtigt, bei den starken Feminina hingegen nicht). Allerdings ist dieser Aspekt hier nicht von Belang, da lediglich ermittelt werden soll, wie groß bzw. klein üblicherweise veranschlagte Flexionsklassen sind – zunächst einmal unabhängig von den zugrunde gelegten sonstigen Kriterien.

230 | Theoretische Implikationen

Die in Tab. 68 aufgeführte Typenfrequenz umfasst alle Substantive, die im Wahrig-Rechtschreibwörterbuch der entsprechenden Klasse zugeordnet werden, auch solche, deren Flexionsverhalten schwankt und die deshalb mehreren Klassen zugeordnet wurden (z.B. weist Bösewicht neben Bösewichter auch die Pluralform Bösewichte auf). Außerdem wurden auch alle Regionalismen bzw. Austriazismen/Helvetismen berücksichtigt, so z.B. Wörter oder morphologische Eigenschaften, die explizit als „österreichisch“ ausgewiesen sind (z.B. die Pluralform Pölster zu Polster) sowie fachsprachliche (z.B. Trum ‚Zweig eines Mineralgangs‘ und der Plural Örter zu Ort), umgangssprachliche (das Wanst ‚kleines Kind‘) und archaische (z.B. die Pluralform Schlüchte zu Schlucht) Lexeme und Verwendungsweisen. Lediglich einige wenige offenkundige Fehler wurden aussortiert (z.B. Latino, das dem Flexionsmuster von Bruder zugeordnet wurde: (e)s|UL). Komposita wurden der gängigen Praxis entsprechend nicht als eigener Type gezählt, da sich die Flexion hier nach dem Letztglied richtet. Leberwurst, Bratwurst, Extrawurst usw. wurden also dem Type Wurst zugerechnet. Substantive, die ausschließlich im Singular verwendet werden, wurden nicht berücksichtigt (z.B. Flagellantentum). Wenn man nun die in Tab. 68 dargestellten Typenfrequenzen mit der weiter oben ermittelten Typenfrequenz des Musters Ø|s (mask./neut.) vergleicht, muss berücksichtigt werden, dass an dieser Stelle den Wörterbuch-Daten (zur Typenfrequenz anderer kleiner Gruppen) eigene empirische Ergebnisse zur Typenfrequenz dieses Musters gegenübergestellt werden. Trotz dieser unterschiedlichen Quellen sollte die Vergleichbarkeit der Frequenzen gewährleistet sein. Selbst bei Auswertung eines kompletten Wörterbuchs kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass Wörter einer Klasse nicht erfasst werden, da sie nicht (oder falsch) im Wörterbuch verzeichnet sind, man kann aber davon ausgehen, dass dieser Umstand hier maximal von marginaler Bedeutung ist. Typischerweise bleiben nämlich gerade junge Fremdwörter, Abkürzungen und vor allem Eigennamen in Wörterbüchern unberücksichtigt. Solche peripheren Wörter selegieren in der Regel gestaltschonende Flexive und werden ohne Umlaut pluralisiert – die oben dargestellten Muster/Klassen kommen hier deshalb nicht infrage und auch bei morphologischer Integration gehen periphere Wörter normalerweise nicht in eine dieser Klassen/Muster über; hierbei handelt es sich größtenteils um geschlossene, also nicht produktive Muster (vgl. z.B. Nübling 2008: 298 zu Ø|UL+e und (e)s|UL+er sowie Gaeta 2008: 75). Die Wörterbuchdaten sollten also eine weitestgehend vollständige Zusammenstellung der Substantive ermöglichen, die einer der in Tab. 68 dargestellten Kleinklassen angehören. Für die Zusammenstellung der Wörter, die (auch) nach dem Muster Ø|s (mask./neut.) flektieren, sind hingegen Korpusdaten nötig, da dieses Muster im Wahrig-Wörterbuch

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 231

zum einen nicht systematisch berücksichtigt wird – es taucht z.B. nicht in den ansonsten sehr differenzierten Deklinationstabellen auf (Wahrig-Rechtschreibung 82011: 1223–1227) – und zum anderen auch viele hierher gehörende Substantive nicht verzeichnet sind (z.B. viele Ergonyme wie Opel). Bei den Wörtern, die Ø|s (mask./neut.) aufweisen, handelt es sich ja gerade um junge Fremdwörter, Kurzwörter und Eigennamen, also solche Lexeme, die üblicherweise zu einem großen Teil nicht in einem Wörterbuch enthalten sind. Vergleicht man nun die oben ermittelte Typenfrequenz von Ø|s (mask./ neut.) mit der Größe der hier dargestellten Klassen, zeigt sich, dass dieses Muster eine höhere Typenfrequenz aufweist als zahlreiche in der Literatur veranschlagte Klassen. Selbst wenn man Toponyme und Anthroponyme sowie Substantive, deren Ø-Anteil im Genitiv sich auf unter 50 % beläuft, unberücksichtigt lässt, liegt Ø|s (mask./neut.) mit mindestens 58 Types (s. oben) im Bereich der starken Feminina (Typ Stadt) und oberhalb der vier kleineren Flexionsmuster/Klassen (Typ Bruder, Name, Mutter, Herz, vgl. Tab. 68 oben). Mangelnde Typenfrequenz ist also kein gutes Argument dafür, Ø|s (mask./neut.) als Ausnahme zu klassifizieren, zu ignorieren und/oder ihm den Klassenstatus zu verwehren. Und auch der zweite wichtige Aspekt, der in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt, spricht nicht für ein solches Vorgehen: die Produktivität des Musters. Dieses Konzept beschreibt Wurzel (22001: 153) folgendermaßen: Das entscheidende Charakteristikum von Flexionsklassen, die normalerweise als produktiv aufgefaßt werden, ist ihre ‚Offenheit‘: Produktive Flexionsklassen unterscheiden sich von unproduktiven darin, daß die Anzahl der ihnen zugehörigen Wörter nicht begrenzt ist; sie erhalten Neuzugänge. Dagegen sind unproduktive Klassen in diesem Sinne ‚geschlossen‘; die Zahl ihrer Wörter verringert sich.

Als Kennzeichen „typischer produktiver Klassen“ ergänzt Wurzel (22001: 154) Folgendes: Sie… ‒ werden durch Neuwörter, d. h. Entlehnungen und Neubildungen, aufgestockt; ‒ nehmen Wörter aus anderen Flexionsklassen auf; ‒ verlieren selbst keine Wörter durch Übertritt in andere Flexionsklassen.

Das erste dieser drei Kennzeichen ist bei Ø|s (mask./neut.) zweifelsohne gegeben. Sowohl Entlehnungen (z.B. Tsunami) als auch Neubildungen (z.B. FÖJ oder Grexit) flektieren nach diesem Muster, was in den Sätzen (119) bis (124) veranschaulicht wird.

232 | Theoretische Implikationen

(119)

Die ganze Welt spendete für die Opfer des Tsunami, auch die deutsche Rockband Tote Hosen.

(120)

Der Großteil aller Tsunamis wird durch Seebeben verursacht.

(121)

Die Wahrscheinlichkeit eines Grexit ist in ihren Augen so hoch wie nie.

(122)

Leider sprechen die Grexits und Brexits dieser Tage eine andere Sprache.

(123)

Während des FÖJ ist es üblich, sich einem speziellen Projekt zu widmen.

(124)

Die Teilnahme an mehreren FÖJs oder an einem FÖJ und einem FSJ ist nicht möglich.

Die Offenheit für „Neuwörter“ ist ein wichtiges Charakteristikum des Musters Ø|s (mask./neut.) und ist in der hier in besonderem Maße gegebenen morphologischen Schemakonstanz begründet. Es ist funktional, den Wortkörper von unbekannten, wenig frequenten und unvertrauten Wörtern (zunächst) möglichst wenig zu affizieren. Der Zusammenhang von Flexionsverhalten und Entlehnungszeitpunkt wird in Abschnitt 4.1 ausführlicher thematisiert, die Gründe für die Bedeutsamkeit der morphologischen Schemakonstanz in den Kapiteln 3 und 4. Wichtig zu betonen ist an dieser Stelle, dass Fremdwörter zwar periphere Vertreter des Wortschatzes, aber bereits Bestandteile des Systems sind. Sie werden nicht als fremdsprachliches Material zitiert, sondern als (periphere) Mitglieder des Deutschen verwendet. Den Substantiven ist bereits ein (in aller Regel sehr stabiles) Genus zugewiesen, sie können in allen Kasus und syntaktischen Umgebun-

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 233

gen verwendet werden und weisen ein Pluralallomorph auf, wodurch sie sich von Fremdwörtern in einigen anderen Sprachen unterscheiden.32 -Ø im Genitiv ist demnach nicht Ausdruck der Inkompatibilität von Geber- und Nehmersprache, sondern eine mögliche Realisierung, die im System angelegt ist (und z.B. ja auch von nativen Feminina selegiert wird) und dem Schonungsbedarf der jungen Entlehnungen Rechnung trägt. Im Gegensatz z.B. zu buchstabierten Buchstabenkurzwörtern, die ihren peripheren Status in der Regel beibehalten (vgl. Abschnitt 4.3), ist es häufig zu beobachten, dass sich diejenigen Fremdwörter, die sich etablieren, auch morphologisch dem zentralen System des Deutschen annähern (vgl. Abschnitt 4.1), sich also die Wahl der Morpheme ändert (z.B. im Genitiv: -Ø > -s > -es oder im Plural: -s > -e > UL + -e). Dieser Aspekt ist hinsichtlich des dritten von Wurzel (22001: 154) genannten Kennzeichens „typischer produktiver Klassen“ relevant (sie „verlieren selbst keine Wörter durch Übertritt in andere Flexionsklassen“). Denn Ø|s (mask./neut.) erweist sich insgesamt als sehr durchlässig: Es ist einerseits offen für „Neuwörter“, verliert aber gleichzeitig auch häufig Mitglieder an andere Klassen. Sowohl die Genitiv- als auch die Pluralmarkierung sind Gegenstand morphologischer Integrationsprozesse. Übergänge z.B. von Ø|s (mask./ neut.) zu s|s sind an der Tagesordnung (vgl. z.B. Embryo, dessen diachrone Entwicklung in Abschnitt 4.1.1.1 beschrieben wird). Weniger eindeutig als bei den beiden bereits behandelten Aspekten ist die Sachlage hinsichtlich des zweiten Kennzeichens (sie „nehmen Wörter aus anderen Flexionsklassen auf“, Wurzel 22001: 154). Hier muss zwischen Appellativen und Eigennamen differenziert werden. Dass Appellative zunächst nach einem anderen Muster flektieren und dann zu Ø|s (mask./neut.) übergehen, konnte bislang nicht nachgewiesen werden. Nähme man allerdings Ø|Ø als eigenständiges Muster oder als eigenständige Klasse an (s. Abschnitt 5.3.2), wäre ein Wechsel von ebendiesem Muster zu Ø|s (mask./neut.) vorstellbar. Man denke hier an die buchstabierten Buchstabenkurzwörter, die (synchron betrachtet) häufiger im Genitiv flexivlos auftreten als im Plural (z.B. AKW, s. Abschnitt 4.3.2). Dies könnte ein Reflex eines solchen Wandels sein, der allerdings anhand von Daten aus DECOW nicht genauer nachzuvollziehen ist.33 Dass auch

|| 32 Im Italienischen werden viele Fremdwörter z.B. überhaupt nicht flektiert (z.B. i coyote ‚Kojoten‘ oder i fan ‚Fans‘, vgl. Gaeta 2009: 48). 33 Dieser Aspekt ist auch mit Daten aus dem DeReKo nicht systematisch zu untersuchen, weil hier nur für einen sehr kurzen Zeitabschnitt (ca. 1990 bis heute) ausreichend Daten vorliegen. In Korpora mit älteren Texten und einer größeren Zeitspanne (z.B. dem DTA) sind wiederum buchstabierte Buchstabenkurzwörter äußerst selten.

234 | Theoretische Implikationen

Kurzwörter zu einem gewissen Grad Gegenstand morphologischer Integration sein können, wurde exemplarisch in Abschnitt 4.3 gezeigt. Ein solcher Wandel würde diesem Schema folgen: Ø|Ø > Ø|s > s|s. Da der formbedingte Schonungsbedarf erhalten bleibt, sind bei buchstabierten Buchstabenkurzwörtern allerdings stets alle drei Varianten möglich, sodass es sich hier maximal um eine Verschiebung von Präferenzen bzw. Tendenzen handeln könnte, die z.B. durch einen signifikanten Frequenzanstieg verursacht sein kann. Ein Klassenwechsel im eigentlichen Sinne (vgl. z.B. Mhd.: der weize aber *der weizen vs. Nhd.: *der Weize aber der Weizen) ist hier nicht gegeben. Neben diesem kurzwortspezifischen Aspekt wäre auch eine andere Entwicklung denkbar, nämlich der Übergang zu Ø|s (mask./neut.) infolge eines massiven Frequenzverlusts von Appellativen, die zuvor mit Genitiv-s verwendet wurden (z.B. des Cembalos > des Cembalo ?). Hier könnte der kulturbedingte Frequenzwandel dazu führen, dass ein Konzept und das entsprechende Wort zunehmend als exotisch wahrgenommen werden und vielen SprachbenutzerInnen unvertraut sind, in dieser Hinsicht kürzlich entlehnten Fremdwörtern ähneln und sich auch flexionsmorphologisch entsprechend verhalten, also einen höheren Anteil an -Ø im Genitiv Singular aufweisen als zu Zeiten größerer Relevanz des Konzepts. Der empirische Nachweis einer solchen Entwicklung steht allerdings noch aus (für eine erste Pilot-Studie s. Zimmer angenommen). Bei Rufnamen ist der Übergang von s|s zu Ø|s (mask./neut.) hingegen bereits gut beschrieben und auch empirisch nachgewiesen (vgl. Nübling 2012, Ackermann 2018a und 2018b). Im Zuge der Eigennamendeflexion verlieren diese Substantive ihr Genitiv-s, was mit dem vielzitierten Unterschied zwischen den beiden Auflagen von Goethes Werther veranschaulicht werden kann: Die Erstauflage von 1774 trägt den Titel „Die Leiden des jungen Werthers“, die zweite Auflage von 1787 heißt hingegen „Die Leiden des jungen Werther“ ohne Genitiv-s und entspricht damit dem grammatischen Muster, das im Laufe der Zeit die Verwendung des Genitiv-s bei Personennamen ablöst (für Details s. Ackermann 2018a) und heute deutlich dominiert. Somit kann festgehalten werden, dass das Muster Ø|s (mask./neut.) nicht nur für „Neuwörter“ offen ist, sondern diachron auch Mitglieder aus anderen Flexionstypen hinzugewonnen hat und möglicherweise immer noch hinzugewinnt. Ø|s (mask./neut.) kann also zweifelsfrei als produktiv bezeichnet werden, da das „entscheidende“ Kriterium der Offenheit für „Neuwörter“ erfüllt ist (s. auch Dressler 1997 und Gaeta 2009: 50 für eine Hierarchisierung von Produktivitätsmerkmalen, die diese Annahme stützt). Darüber hinaus weist Ø|s (mask./neut.) zwei der drei Eigenschaften auf, die Wurzel (22001: 154) als „Merkmale typischer produktiver Klassen“ nennt. Von diesem von Wurzel an-

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 235

genommenen Prototyp einer produktiven Klasse unterscheidet sich Ø|s (mask./ neut.) aufgrund des Verlusts von Mitgliedern, der sehr charakteristisch für dieses Muster ist. Ø|s (mask./neut.) kann bei vielen (aber nicht allen) Wörtern als Durchgangsstation im Prozess der morphologischen Integration beschrieben werden. Mangelnde Produktivität und damit aus diachroner Perspektive ein absehbarer gänzlicher Verlust des Musters können aber nicht konstatiert werden und eignen sich daher ebenfalls nicht als Argument dafür, Ø|s (mask./neut.) als marginale Ausnahme zu klassifizieren, dem Muster den Klassenstatus nicht anzuerkennen oder es zu ignorieren. Ein weiteres Kriterium, das in diesem Zusammenhang herangezogen werden könnte, das üblicherweise aber nicht explizit als Argument für oder gegen den Klassenstatus eines Musters genannt wird, ist die Tokenfrequenz der entsprechenden Wörter. Es erscheint plausibel, Flexionsmuster, deren Mitglieder extrem selten verwendet werden, eher zu marginalisieren als frequente Muster. Wie auch schon bei der Typenfrequenz stellt sich hier allerdings die Frage nach einem Grenzwert, die wohl noch schwieriger als hinsichtlich der Typenfrequenz und kaum zufriedenstellend beantwortet werden kann. Jede Festlegung wäre zwangsläufig völlig arbiträr. Unabhängig von einem solchen Grenzwert zeigt ein Vergleich mit den oben (Tab. 68) aufgeführten Flexionstypen, dass auch die Tokenfrequenz kein gutes Argument gegen den Klassenstatus von Ø|s (mask./neut.) liefert. Zwar ist es ein wichtiges Charakteristikum dieses Musters, dass zahlreiche Substantive, die auf diese Weise flektieren, eine geringe Tokenfrequenz aufweisen – gerade dadurch ist dieses Flexionsverhalten oft (auch) motiviert (vgl. z.B. Abschnitt 4.2), geringe Tokenfrequenz ist aber keineswegs eine Voraussetzung für dieses Verhalten. Neben vielen seltener verwendeten Substantiven gehören auch frequentere und zum Teil auch sehr frequente Wörter hierher, da vor allem bei Kurzwörtern und Eigennamen der Schonungsbedarf nicht (nur) in deren geringer Frequenz begründet ist. Zu den frequenten Substantiven zählen iPhone, PC, WC, Deutschland, Berlin usw. So gut wie jede Deklinationsklasse hat auch wenig frequente Mitglieder (für Beispiele vgl. die Tabellen im Anhang 9).34 Neben frequenten Wörtern auch wenig frequente Wörter zu beinhalten, kann also nicht gegen den Klassenstatus eines Musters sprechen. Von den drei Aspekten, die hier diskutiert wurden und deren Behandlung naheliegt bei der Frage, ob eine Klasse veranschlagt werden soll oder nicht, liefert also keiner eindeutig ein Argument gegen die Veranschlagung einer Klas-

|| 34 Eine Ausnahme stellt hier die Gruppe der sechs Maskulina dar, die im Genitiv Singular -ns aufweisen (vgl. Tab. 82 in Anhang 9).

236 | Theoretische Implikationen

se für Substantive, die nach dem Muster Ø|s (mask./neut.) flektieren. Die drei Fragen (Ist das Flexionsmuster: a) ausreichend typenfrequent b) produktiv und c) ausreichend tokenfrequent?) konnten zwar alle nicht eindeutig mit Ja beantwortet werden, dennoch überwiegen die Gründe dafür, alle drei Fragen zu bejahen gegenüber den Argumenten dafür, sie zu verneinen. Ø|s (mask./neut.) ist zwar verhältnismäßig klein und hat weniger Mitglieder als viele Deklinationsklassen (z.B. die schwachen Feminina, Typ Frau oder die starken Maskulina/Neutra mit e-Plural, Typ Jahr), gleichzeitig aber auch mehr Mitglieder als viele andere häufig angenommene Klassen. Weiterhin verliert Ø|s (mask./neut.) zwar ständig Mitglieder, ist gleichzeitig aber offen für Entlehnungen und Neuschöpfungen und gewinnt Mitglieder aus anderen Flexionstypen. Schließlich flektieren viele infrequente Substantive nach diesem Muster, gleichzeitig aber auch einige frequente Wörter. Zunächst spricht also erst einmal nichts dagegen, dieses einigermaßen typen- und tokenfrequente sowie produktive Muster als eigenständige Deklinationsklasse anzusehen. Diese Möglichkeit wird im anschließenden Abschnitt diskutiert.

5.3.2 Möglichkeit 2: Eine eigene Kleinstklasse veranschlagen Wenn man eine eigene, neue Deklinationsklasse für Substantive des Typs AKW, Tsunami und Opel annehmen würde, wäre diese durch die Abwesenheit eines Genitivmorphems und -s als Pluralmarker gekennzeichnet. Die identischen nominalen Flexionsmerkmale weist die Deklinationsklasse femininer Substantive mit s-Plural auf, die in zahlreichen Übersichten zum Deklinationssystem des Deutschen berücksichtigt wird. Hierher gehören Lexeme wie Oma, Avocado oder Airline. Während diese beiden Typen von Substantiven die identischen Flexive wählen, unterscheiden sie sich hinsichtlich des Genus und damit durch die Flexion der kongruierenden Wörter, z.B. der Artikel (z.B. Genitiv: der Airline vs. des Tsunami und des AKW). Zwei unterschiedliche Deklinationsklassen für Feminina und Nichtfeminina anzusetzen, obwohl diese hier dieselben Flexive selegieren, entspräche nicht der traditionellen Trennung von Genus und Deklinationsklasse. Den klassischen Definitionen gemäß manifestiert sich Deklinationsklasse (ausschließlich) am Substantiv selbst, während Genus sich nicht am Substantiv selbst, sondern (ausschließlich) an kongruierenden Wörtern zeigt (s. auch oben, Abschnitt 5.1). Die zwei Deklinationsklassen Ø|s (Feminina) einerseits und Ø|s (Maskulina/Neutra) andererseits anzunehmen, wäre demnach nicht gerechtfertigt. Allerdings gibt es gute Gründe dafür, beide Muster dennoch nicht zu einer Klasse zusammenzufassen (die im anschließenden Abschnitt besprochen wer-

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 237

den), sodass die Vermischung von Genus und Flexionsmerkmalen hier zwar als ein Argument, nicht aber als das entscheidende Argument gegen die Annahme einer Kleinklasse des Typs Ø|s (mask./neut.) angesehen wird. Andere Aspekte sind meines Erachtens in diesem Zusammenhang gewichtiger. Dazu zählt – was bisher ausgeklammert wurde – die Variation, der alle Substantive unterliegen, die für die zur Debatte stehende Klasse infrage kommen. Bislang wurden Substantive, die auch oder vor allem nach dem Muster Ø|s (mask./neut.) flektieren, als potentielle Mitglieder einer entsprechenden Klasse behandelt. Das erscheint sinnvoll, da auch andere Deklinationsklassen durch starke Variation gekennzeichnet sind, was in der Regel nicht als Gegenargument gegen deren Klassenstatus angeführt wird. Das Paradebeispiel in dieser Hinsicht sind die schwachen Maskulina. Dieser Flexionstyp ist sowohl synchron als auch diachron durch erhebliche Variation gekennzeichnet, z.B. des Fink-en vs. des Fink-s. Schwankungen des Flexionsverhaltens werden dabei als Reflexe des Übergangs von der schwachen zur gemischten (oder sogar starken) Flexion interpretiert (vgl. z.B. Köpcke 1995). Synchron betrachtet gehören demnach zahlreiche Substantive zwei Klassen an, z.B. den schwachen Maskulina und der gemischten Deklination. Hierzu zählen z.B. Artist, Fink, Garant, Gepard, Leopard, Titan, Untertan, Veteran, Zar usw. (vgl. Schäfer im Druck). Allerdings gibt es auch Substantive, die ausschließlich schwach flektiert werden, z.B. Genosse (*des Genosses, *des Genossens), Rivale, Gehilfe, Hirte usw. (ebd.).35 In diesem Punkt unterscheidet sich die Klasse der schwachen Maskulina von Ø|s (mask./neut.), da kein einziges Lexem ausschließlich nach dem letztgenannten Muster flektiert. -s im Genitiv Singular ist hier immer möglich. Selbst bei Substantiven, die in aller Regel ohne Genitiv-s verwendet werden, ist die Verwendung des Flexivs nicht ungrammatisch: während des FSJ aber auch während des FSJs. Somit gäbe es kein einziges Lexem, das ausschließlich der hier zur Debatte stehenden Deklinationsklasse Ø|s (mask./neut.) angehören würde. Diese Variation scheint darüber hinaus ein inhärentes und stabiles Charakteristikum der hierher gehörigen Substantive zu sein, da Schwankungen nicht ausschließlich auf Übertritte in andere Klassen (oder aus anderen Klassen) zurückgeführt werden können. Vor allem die Schwankung einiger Kurzwörter scheint diachron stabil zu sein. Selbst bei einem starken Frequenzanstieg erübrigt sich -Ø dort (anders als z.B. bei vergleichbaren Fremdwörtern) nicht, siehe hierzu die Ausführungen zu PC in Abschnitt 4.3.1.

|| 35 Die meisten dieser Wörter entsprechen dem von Köpcke (1995) beschriebenen Prototyp I, der folgende Eigenschaften vereint: [+menschlich], maskuline Genuszuweisung, auslautendes Schwa, Penultimabetonung und Mehrsilbigkeit.

238 | Theoretische Implikationen

Das bedeutet, dass allein die Tatsache, dass das Flexionsverhalten von Mitgliedern der hypothetisch angenommenen Deklinationsklasse Ø|s (mask./neut.) schwankt, kein Alleinstellungsmerkmal ist und nicht gegen den Deklinationsklassenstatus des Musters spricht. Dass aber das Flexionsverhalten im Genitiv Singular ausnahmslos aller Mitglieder schwankt und diese Variation nicht (immer) auf Flexionsklassenwechsel zurückzuführen und diachron zum Teil stabil zu sein scheint, hebt dieses Muster von allen anderen Deklinationsklassen ab. Würde man nun dafür argumentieren, trotzdem eine Deklinationsklasse Ø|s (mask./neut.) anzunehmen, müsste man konsequenterweise auch eine Reihe weiterer Deklinationsklassen veranschlagen, die sich aus Schwankungsfällen ergeben und üblicherweise als klasseninterne Variation eingestuft werden. Auch hier ist eine bestimmte Variante zwar möglich, diese konkurriert aber immer mit einer anderen Realisierung, die nie ungrammatisch ist. Das gilt z.B. für -Ø (vs. -(e)n) im Dativ und Akkusativ Singular einiger schwacher Maskulina (vgl. (125) vs. (126) und (127) vs. (128)), -Ø (vs. -s) im Plural buchstabierter Buchstabenkurzwörter (vgl. (129) vs. (130)) und -es (vs. -s) im Genitiv Singular einiger starker Nichtfeminina (vgl. (131) vs. (132)). Bei der Schwankung zwischen -s und -es im Genitiv handelt es sich um nicht ausschließlich phonologisch konditionierte Variation. Bei bestimmten Lexemen ist aus phonologischen Gründen zwar nur eine der beiden Ausprägungen möglich, z.B. -es bei auslautendem [s] wie in Haus oder -s bei trochäischen Zweisilblern wie Vater, aber es gibt auch zahlreiche Lexeme, die beides erlauben (vgl. z.B. Szczepaniak 2010a, 2014 sowie Bubenhofer, Hansen-Morath & Konopka 2014, Konopka & Fuß 2016 und auch Dammel & Gillmann 2014: 178, 215). (125)

Du hast den Bär verscheucht.

(126)

Wie? Ich hab den Bären verscheucht?

(127)

Ansonsten gehts dem Bär aber blendend!

(128)

Er wollte sich dem Bären nähern.

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 239

(129)

Stehen die parkenden Pkw immer dort?

(130)

Insgesamt soll die Zahl der weltweit verkauften Pkws nach Expertenschätzungen in diesem Jahr um gut zwei Millionen auf rund 70 Millionen steigen.

(131)

Was sich also ändern muss, ist das Image des Berufes und auf lange Sicht auch das Männerbild und die Berufsorientierung von Jungen.

(132)

Eine Anzeigepflicht bei Wechsel des Studienfachs oder des Berufs besteht nicht.

Hier jeweils zwei Deklinationsklassen anzusetzen, zwischen denen die Lexeme schwanken, hätte zahlreiche, bislang üblicherweise nicht angenommene Klassen zur Folge, von denen einige in Tab. 69 dargestellt sind. Dass die entsprechende Variation zur Kenntnis genommen, aber nicht als klassenkonstituierend erachtet wird, ist in der Regel durch Klammernotation gekennzeichnet, z.B. dem Bär(-en) (vgl. z.B. Eisenberg 42013b: 154) oder des Beruf-(e)s (vgl. z.B. Nübling 2008: 298). Tab. 69: Flexionsmorphologische Varianten und Deklinationsklassen

Nom. Sg.

Bär

Bär

Beruf

Huhn

LKW

LKW

Gen. Sg.

Bär-en

Bär-en

Beruf-es

Huhn-es

LKW

LKW-s

Dat. Sg.

Bär

Bär-en

Beruf

Huhn

LKW

LKW

Akk. Sg.

Bär

Bär

Beruf

Huhn

LKW

LKW

Nom. Pl.

Bär-en

Bär-en

Beruf-e

Hühn-er

LKW

LKW

Gen. Pl.

Bär-en

Bär-en

Beruf-e

Hühn-er

LKW

LKW

Dat. Pl.

Bär-en

Bär-en

Beruf-e

Hühn-er

LKW

LKW

Akk. Pl.

Bär-en

Bär-en

Beruf-e

Hühn-er

LKW

LKW

240 | Theoretische Implikationen

Eine solche sehr feingliedrige Beschreibung der deutschen Deklination würde zwar vollkommen dem Grundsatz der formal einheitlichen Realisierung aller Flexionsformen innerhalb einer Deklinationsklasse und damit auch jeder restriktiven Deklinationsklassendefinition entsprechen (s. oben, Abschnitt 5.3), würde aber gleichzeitig mehr Fragen aufwerfen als deskriptive Probleme lösen. In welche(n) Klasse(n) würde man z.B. LKW verorten? Ist es eine angemessene Beschreibung des Flexionsverhaltens, wenn man annimmt, dass dieses Wort zwischen vier Deklinationsklassen schwankt: Ø|Ø, Ø|s, s|Ø und s|s (vgl. Tab. 70)? Tab. 70: Theoretisch denkbare Deklinationsklassen von LKW

Nom. Sg.

LKW

LKW

LKW

LKW

Gen. Sg.

LKW-s

LKW

LKW-s

LKW

Dat. Sg.

LKW

LKW

LKW

LKW

Akk. Sg.

LKW

LKW

LKW

LKW

Nom. Pl.

LKW-s

LKW-s

LKW

LKW

Gen. Pl.

LKW-s

LKW-s

LKW

LKW

Dat. Pl.

LKW-s

LKW-s

LKW

LKW

Akk. Pl.

LKW-s

LKW-s

LKW

LKW

Selbst bei der Interpretation eines konkreten Belegs wäre nicht zu entscheiden, welcher Klasse das vorliegende Token zuzuordnen wäre, so z.B. der Beleg in (133), der sowohl als zur Klasse Ø|s (mask./neut.) als auch zur Klasse s|s zugehörig beschrieben werden könnte. (133)

Viele LKWs verfügen über einen Geschwindigkeitsbegrenzer, der große Geschwindigkeitsüberschreitungen vermeiden kann.

Hier gibt es (abgesehen von statistischen Wahrscheinlichkeiten zur Ausprägung des Genitivs) keinerlei Anhaltspunkte für oder gegen die eine oder die andere Klassifizierung.36 Meines Erachtens handelt es sich bei solch feingliedrig konzi-

|| 36 Auch bei anderen Lexemen kann man nicht immer aus einer Form alle anderen ableiten. So kann z.B. der Pluralmarker -en mit verschiedenen Ausprägungen des Genitiv Singular einher-

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 241

pierten, idealisierten Deklinationsklassen ohne jegliche klasseninterne Variation um theoretische Konstrukte, denen jegliche empirische Fundierung fehlt. Das trifft sowohl auf die in Tab. 69 dargestellten (hypothetischen) Klassen zu als auch auf die hier zur Debatte stehende hypothetische Deklinationsklasse Ø|s (mask./neut.), was gegen die Annahme einer solchen Kleinstklasse spricht. Nachdem im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, dass es gute Argumente dafür gibt, Ø|s (mask./neut.) nicht als marginale Ausnahme zu deklarieren oder gänzlich zu ignorieren, sprechen die hier besprochenen Aspekte nun also auch dagegen, dieses Flexionsmuster als eigene Deklinationsklasse zu beschreiben. Somit bleibt nur eine Möglichkeit, Wörter wie Tsunami oder LKW dennoch in eine Beschreibung des deutschen Deklinationsklassensystems zu integrieren. Sie besteht darin, die Substantive einer bereits bestehenden Klasse zuzuordnen. Diese Möglichkeit soll im Folgenden besprochen werden. Dabei werden zwei Varianten diskutiert: Zunächst wird eine potentielle Zuordnung zur Klasse der Feminina mit s-Plural (Typ Avocado) in Erwägung gezogen, anschließend eine mögliche Zuordnung zur Klasse der Nichtfeminina mit s-Plural und Genitiv-s (Typ Auto).

5.3.3 Möglichkeit 3: Zuordnung zu Ø|s (Feminina) Eine Zuordnung der maskulinen und neutralen genitiv-s-losen Substantive mit s-Plural (Typ Tsunami) zur Deklinationsklasse der Feminina mit s-Plural (Typ Avocado) erscheint aufgrund des übereinstimmenden Flexionsverhaltens der beiden Typen naheliegend. Die Fusion dieser beiden Typen entspräche dann auch den klassischen Definitionen von Deklinationsklasse („manifestiert sich im Flexionsverhalten des Substantivs“) und Genus („manifestiert sich an kongruierenden Begleitwörtern“), da die Klassenzugehörigkeit hier ausschließlich durch das Flexionsverhalten des Substantivs begründet wäre und GenusUnterschiede als irrelevant eingestuft würden. Insofern spricht einiges für diese Lösung und tatsächlich handelt es sich hier wohl um die einzige gut begründbare Möglichkeit, die auch mit den weiter oben vorgestellten „engen“ Deklinationsklassendefinitionen kompatibel ist (vgl. Abschnitt 5.3).

|| gehen, beispielsweise -s (Staat) oder -Ø (Frau). Der Unterschied zum oben beschriebenen Fall liegt darin, dass die Unkenntnis des Genitiv-Singular-Markers und somit der Deklinationsklasse bei Wörtern wie LKW nicht in der Unkenntnis des Lexems und seines Flexionsverhaltens begründet ist, sondern in der Schwankung dieses Substantivs.

242 | Theoretische Implikationen

Allerdings gibt es auch Aspekte, die gegen diese Möglichkeit sprechen. So würde man mit der Fusion der beiden Substantivgruppen die einzige Deklinationsklasse des Deutschen veranschlagen, der sowohl Feminina als auch Nichtfeminina angehören. Die ansonsten uneingeschränkt gültige „+/- FemininSchranke“ (oder kurz: Genusschranke, vgl. hierzu auch Abschnitt 3.3), die ein grundsätzliches Charakteristikum der deutschen Flexionsmorphologie darstellt, wäre somit obsolet bzw. würde ihren Status als ausnahmslose Verallgemeinerung verlieren. Diese Tatsache an sich spricht zunächst einmal nicht gegen die Fusion der beiden Gruppen: Den Gültigkeitsbereich dieser deskriptiven Verallgemeinerung einzuschränken, wäre fraglos geboten, wenn diese Einschränkung ausreichend empirisch fundiert wäre. Denkbar wäre es z.B., die Genusschranke für den Kernbereich des Deutschen beizubehalten bzw. auf diesen zu beschränken (zu dieser und anderen Möglichkeiten, mit grammatischen Ausnahmen umzugehen, vgl. Simon & Wiese 2011). Entsprechendes wird häufig in der Phonologie praktiziert, wo zwischen Lauten oder Lautkombinationen (und auch den entsprechenden Regeln) unterschieden werden kann, die für native Wörter charakteristisch sind und solchen, die (ausschließlich) bei nicht-nativen Wörtern zu finden sind, z.B. aus dem Französischen entlehnte Nasalvokale wie [õː] bzw. [ɔ̃ ː] (Chanson). Die deskriptive Regel „Es gibt im Deutschen keine Nasalvokale“ kann beibehalten werden, sie gilt aber ausschließlich für das Kernsystem. Ausnahmen zu einer solchen Verallgemeinerung werden in der Peripherie, also außerhalb des Kernsystems, toleriert (vgl. z.B. Eisenberg 2011). Im Prinzip müsste die Verallgemeinerung also lauten: „Im Kernsystem des Deutschen gibt es keine Nasalvokale, in der Peripherie hingegen schon.“ Auf die Flexionsmorphologie übertragen könnte man formulieren: „Im Kernsystem des Deutschen teilen sich Feminina und Nichtfeminina nie eine Flexionsklasse, in der Peripherie hingegen schon.“ Allerdings untermauern nicht nur sämtliche deutsche Deklinationsklassen außer Ø|s, sondern auch das Flexionsverhalten der gesamten nominalen Wortgruppe die Bedeutung der Genusschranke – und zwar sowohl im Kernsystem als auch in der Peripherie. Da Kasus im Deutschen kooperativ ausgedrückt wird und Genitiv-s-Losigkeit bei maskulinen und neutralen Substantiven ohnehin nur möglich ist, wenn ein Artikelwort vorausgeht, kommt diesem Aspekt hier besondere Bedeutung zu. Die enge Verbindung von Maskulinum und Neutrum sowie deren Abgrenzung zum Femininum ist selbst bei identischem Flexionsverhalten des Substantivs offenkundig, wenn man die gesamte nominale Wortgruppe betrachtet (vgl. z.B. (134)). Das häufige gemeinsame Auftreten von Artikelwörtern, die mit maskulinen/neutralen Substantiven im Genitiv kongruieren (z.B. des oder eines) und dem Genitiv-s ist auch für die analogische Ausbreitung

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 243

des Flexivs bei Fremdwörtern verantwortlich (z.B. des Klima > des Klimas) und somit sprachwandelrelevant (vgl. hierzu auch Abschnitt 3.3). Femininum: Maskulinum: Neutrum:

(134)

die Größe die Größe die Größe

der des des

Avocado LKW AKW

Homonymie bei der Artikelflexion ist zwischen Maskulinum und Neutrum im Genitiv und Dativ Singular zu beobachten, in Nominativ und Akkusativ Singular hingegen nicht. Im Plural gibt es keine Genus-Unterscheidung. Somit flektieren Artikel im Maskulinum und Neutrum zwar nicht identisch, weisen aber sehr viel mehr Ähnlichkeiten untereinander auf als mit Artikeln im Femininum. Homonymien zwischen Femininum und Maskulinum oder Neutrum gibt es (im Singular) nicht (vgl. Tab. 71). Tab. 71: Homonymien in der Artikelflexion

Femininum

Maskulinum

Neutrum

Nom. Sg.

d-ie

d-er

d-as

Gen. Sg.

d-er

d-es

d-es

Dat. Sg.

d-er

d-em

d-em

Akk. Sg.

d-ie

d-en

d-as

Nom. Pl.

d-ie

Gen. Pl.

d-er

Dat. Pl.

d-er

Akk. Pl.

d-en

Diese Bemerkungen zur Artikelflexion gewinnen nun an Bedeutung, wenn man dem kooperativen Kasusausdruck in deutschen Nominalgruppen Beachtung schenkt: Der Kasusausdruck am Substantiv wurde im Lauf der Zeit immer synkretistischer, sodass heute mit dem Genitiv-s, dem Dativ-Plural-n und dem -en der schwachen Maskulina in allen obliquen Kasus nur noch drei produktive Kasusmarker übrig geblieben sind. Die Mehrheit der Kasusunterschiede am Substantiv ist verlorengegangen, die meisten Feminina haben z.B. überhaupt keine Kasusmarker mehr. Der Kasusausdruck ist weitestgehend an den Artikel ausgelagert worden. Dieser Umstand und die Tatsache, dass Artikel seit dem Mhd. weitestgehend obligatorisch sind, hat zu dem Vorschlag geführt,

244 | Theoretische Implikationen

Endungen der pronominalen Flexion in die Paradigmen des Substantivs aufzunehmen, was in Tab. 72 veranschaulicht wird (vgl. Ágel 1996 und Thieroff 2006).37 Tab. 72: „Periphrastische Substantivformen“ (nach Ágel 1996 und Thieroff 2006)

Femininum

Maskulinum

Neutrum

Femininum

Maskulinum

Neutrum

Nom. Sg.

e Frau

r Tag

s Tier

e Avocado

r Tsunami

s AKW

Gen. Sg.

r Frau

s Tages

s Tieres

r Avocado

s Tsunami

s AKW

Dat. Sg.

r Frau

m Tag

m Tier

r Avocado

m Tsunami

m AKW

Akk. Sg.

e Frau

n Tag

s Tier

e Avocado

n Tsunami

s AKW

Nom. Pl.

e Frauen

e Tage

e Tiere

e Avocados

e Tsunamis

e AKWs

Gen. Pl.

r Frauen

r Tage

r Tiere

r Avocados

r Tsunamis

r AKWs

Dat. Pl.

n Frauen

n Tagen

n Tieren

n Avocados

n Tsunamis

n AKWs

Akk. Pl.

e Frauen

e Tag

e Tiere

e Avocados

e Tsunamis

e AKWs

Dieser Vorschlag sieht (im Gegensatz zu traditionelleren Konzeptionen) vor, dass auch Maskulina und Neutra aufgrund der unterschiedlichen pronominalen Suffixe in Nominativ und Akkusativ Singular nicht einer gemeinsamen Klasse zugeordnet werden. Allerdings ist auch in der Übersicht in Tab. 72 unverkennbar, dass sich Maskulina und Neutra viele Flexionseigenschaften teilen und sich von den Feminina abheben. Das gilt auch für die hier zur Debatte stehenden Substantive mit dem Flexionsmuster Ø|s (mask./neut.) in den drei grau hinterlegten Spalten ganz rechts in der Tabelle. Unabhängig von der Frage, ob pronominale Suffixe tatsächlich in die substantivischen Paradigmen aufgenommen werden sollten oder nicht, verdeutlicht und betont der oben vorgestellte Vorschlag den Sachverhalt der kooperativen Kasusanzeige des Deutschen: Dieser ist hinsichtlich seiner empirischen

|| 37 Darüber hinaus gibt es auch viele Übersichten zur Deklination des Deutschen, die pro paradigmatischem Slot nicht nur nominale Flexive und ein substantivisches Beispiel anführen, sondern auch einen flektierten Artikel (vgl. z.B. Helbig & Buscha 2002: 211). Diese Darstellungsweise entspricht im Prinzip dem hier beschriebenen Vorschlag, wobei der Einbezug des Artikels oft nicht explizit thematisiert wird. Ein Unterschied zur Übersicht in Tab. 72 besteht darin, dass diese Übersicht keine konkrete Form (z.B. den Definitartikel) aufführt, sondern mit allen pronominal flektierten Elementen kompatibel ist, da hier lediglich die Endungen aufgeführt werden.

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 245

Gültigkeit vollkommen losgelöst von der theoretischen Frage nach der Integration der pronominalen Flexion ins Paradigma. Feminina gemeinsam mit Nichtfeminina einer gemeinsamen Deklinationsklasse zuzuordnen, erscheint vor diesem Hintergrund nicht als optimale Lösung, da auf diese Weise die hier besprochenen empirischen Befunde und grundlegende flexionsmorphologische Züge des Deutschen verdeckt werden. Hinzu kommt, dass bei Beibehaltung einer „engen“ Deklinationsklassendefinition weitere Probleme ungelöst bleiben, so z.B. die bereits im vorigen Abschnitt thematisierte Frage nach der Klassenzugehörigkeit von Wörtern wie LKW, die in Plural und Genitiv Singular schwanken und somit gleich vier Klassen zugerechnet werden könnten/müssten: Ø|Ø, s|Ø, Ø|s und s|s (s. auch Abschnitt 5.3.2). Somit gibt es zwar kein Argument, das eindeutig gegen eine genusübergreifende Deklinationsklasse Ø|s spricht, aber dennoch einige Aspekte, die zeigen, dass die Einführung dieser Klasse mit Nachteilen verbunden ist. Das ist Anlass genug, eine letzte Möglichkeit zu besprechen und zu überprüfen, ob diese mit weniger Nachteilen verbunden ist. Hierbei handelt es sich um die Option, maskuline und neutrale genitiv-s-lose Substantive mit s-Plural (Typ Tsunami) der Klasse der Nichtfeminina mit Genitiv- und Plural-s zuzurechnen (Typ Auto).

5.3.4 Möglichkeit 4: Zuordnung zu s|s Die letzte hier zu besprechende Möglichkeit, Wörter des Typs Tsunami, AKW oder iPhone in eine Beschreibung des deutschen Deklinationsklassensystems zu integrieren, besteht darin, diese Wörter der Deklinationsklasse zuzuordnen, die durch -s im Genitiv Singular und im Plural gekennzeichnet ist (Typ Auto). Dieser Vorschlag ist offenkundig nicht mit den oben vorgestellten „engen“ Deklinationsklassendefinitionen vereinbar, da das Flexionsverhalten der so zu einer Klasse zusammengeführten Lexeme nicht als „formal einheitlich“ (vgl. Wurzel 2 2001: 66) beschrieben werden kann. So wird z.B. PKW innerhalb der oben besprochenen Stichprobe aus DECOW2012-00 (vgl. Abschnitt 4.3) zu über 80 % ohne Genitiv-s verwendet, Auto hingegen so gut wie nie (s. Abschnitt 4.3.1). Darüber hinaus schwankt AKW auch im Plural zwischen -Ø und -s, Auto allerdings nicht. Diese (und alle anderen entsprechend flektierenden) Lexeme einer Deklinationsklasse zuzuordnen, würde also bedeuten, klasseninterne Variation zuzulassen. Man müsste demnach also von einer „weiten“ Deklinationsklassendefinition ausgehen und z.B. Engers (1998: 134) Vorschlag zugrunde legen: „An inflection class can be defined as a group of words or stems that inflect in the

246 | Theoretische Implikationen

same or a similar fashion”. Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Lösungsvorschlägen würde man hier dann auch davon ausgehen, dass Substantive, die häufig sowohl mit als auch ohne Genitiv-s verwendet werden, nicht zwei Deklinationsklassen angehören oder zwischen diesen schwanken, sondern auch pro Lexem eine gewisse Variabilität innerhalb der Klasse zulassen. Eine solche Flexionsklassenkonzeption liegt bereits den meisten Übersichten zum deutschen Deklinationsklassensystem zugrunde, diese wird häufig nur nicht expliziert. So sind Klammernotationen wie das häufig anzutreffende -(e)s Ausdruck dieses Verständnisses. Wie oben bereits erwähnt ist die Schwankung zwischen -es und -s zwar teilweise, aber keineswegs gänzlich phonologisch determiniert – bei vielen Wörtern gibt es zwar eine phonologisch motivierte Tendenz, aber auch einen gewissen Spielraum hinsichtlich der Endung (vgl. z.B. Szczepaniak 2010a, 2014 sowie Bubenhofer, Hansen-Morath & Konopka 2014, Konopka & Fuß 2016) – und dürfte gemäß einer „engen“ Definition somit nicht als klasseninterne Variation eingestuft werden.38 Die sehr übliche Praxis, die Variation zwischen -s und -es als nicht klassenkonstituierend zu erachten, wird in aller Regel aber nicht hinterfragt und kann als Konsens gelten. Auch andere Schwankungsfälle entsprechend zu behandeln, bietet sich meines Erachtens an. Das gilt nicht nur für -s vs. -Ø im Genitiv Singular, sondern auch für -s vs. -Ø im Plural buchstabierter Buchstabenkurzwörter (viele LKW/LKWs) und -(e)n vs. -Ø im Dativ und Akkusativ Singular schwacher Maskulina (dem Bären/Bär, den Bären/Bär). Damit kann vermieden werden, zahlreiche neue Kleinstklassen zu definieren, wogegen die in Abschnitt 5.3.2 besprochenen Argumente sprechen, ohne dabei die belegbaren und zum Teil sehr frequenten flexionsmorphologischen Varianten zu ignorieren. Mit Blick auf genitiv-s-los verwendete Substantive würde man darüber hinaus umgehen, Feminina und Nichtfeminina in einer Klasse zu vereinen (vgl. Abschnitt 5.3.3). Das hätte unter anderem auch den Vorteil, keine arbiträren Schwellen definieren zu müssen: Ab welchem Anteil s-loser Genitive würde man nämlich Substantive (auch) der Deklinationsklasse Ø|s (alle Genera) zuordnen? Ab einem Anteil von 50 %? Oder ab 25, 10, 5, 4 oder 2 %? Hierbei müsste man beachten, dass sich wohl auch je nach Korpus unterschiedliche Werte ergeben und somit stünde man erneut vor der zu beantwortenden Frage: Zu welcher Klasse bzw. welchen Klassen gehört Triathlon (29,5 % s-Losigkeit), Airbag (6,9 % s-Losigkeit) oder Blackout (2,9 %

|| 38 Dammel & Gillmann (2014: 178, 215) argumentieren explizit dafür, hier zwei getrennte Allomorphe anzusetzen.

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 247

s-Losigkeit)?39 Bei der hier vorgeschlagenen Konzeption erübrigt sich dieses Problem, da sämtliche Nichtfeminina, die mit -s (oder ohne Flexiv) pluralisiert werden, einer einzigen Deklinationsklasse zugeordnet würden. Dass auf diese Weise keine arbiträr festgelegten Kriterien/Schwellen definiert werden müssen, spricht meines Erachtens für diese Lösung. Die resultierende Deklinationsklasse wäre folgendermaßen zu charakterisieren: (s)|(s).40 Dass beide Flexionselemente in Klammern notiert werden, verdeutlicht den peripheren Status der Klasse, die starker Variation unterliegt und mit Fremdwörtern, Eigennamen, Kurzwörtern usw. nicht-prototypische Lexeme enthält. Ein offenkundiger Nachteil von „weiten“ Definitionen wie der von Enger (1998) besteht allerdings in deren Vagheit. Im Vergleich z.B. zum Vorschlag von Wurzel (22001: 66–67) ist Engers Definition (1998: 134) sehr viel weniger exakt. Eine klare Abgrenzung von klassenkonstituierender und nicht klassenkonstituierender Variation ist mit ihr nicht zu leisten, was verdeutlicht, dass auch (zu) „weite“ Definitionen problembehaftet sind: Die Definition von Flexionsklassen weist Schwierigkeiten auf, so lange sie entweder zu streng ist und die „natürliche“ Neigung der Sprache zur Variation unberücksichtigt lässt, oder so lange sie zu weit ist und kaum Kriterien für das Erkennen von Grenzen der Zusammengehörigkeit von Flexionsklassen gibt. (Kü rschner 2008: 23)

Es erscheint demnach sinnvoll, einen Mittelweg bzw. einen Kompromiss zwischen den beiden Extremen (zu streng vs. zu vage) anzustreben. Als Ansatzpunkt dafür bietet es sich an, genauer zu fassen, was Enger (1998) als „similar“ und somit zu einer Flexionsklasse gehörend beschreibt. Enger (1998: 140–152) selbst lässt diese Frage allerdings bewusst offen. Wenn man nun aber alle flexionsmorphologischen Unterschiede zwischen denjenigen Lexemen vergleicht, für die hier jeweils eine gemeinsame Deklinationsklasse veranschlagt werden soll (vgl. Tab. 73), zeigt sich, dass diese Fälle von (als klassenintern eingestufter) Variation jeweils gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen.41

|| 39 Die Werte beziehen sich auf den Anteil in Genitivformen (unmittelbar nach des oder eines) in DECOW2012. 40 Denkbar wäre auch ((e)s)|(s). Allerdings spielt die Genitivendung -es bei Substantiven mit s-Plural eine sehr marginale Rolle. Bei vielen Wörtern ist sie aus phonologischen Gründen gänzlich ausgeschlossen (*des Tsunami-es), bei den meisten anderen wird sie wegen der angestrebten Schemakonstanz dispräferiert (?des Punk-es). In Ausnahmefällen wird -es aber verwendet (?des Park-es, die Park-s). 41 Auf phonologisch determinierte Variation gehe ich im Folgenden nur am Rande ein, da ein Konsens darüber besteht, diese nicht als klassenkonstituierend einzustufen.

248 | Theoretische Implikationen

Tab. 73: Deklinationsklassen mit klasseninterner Variation42

(e)n|(e)n43

(e)s|e

Nom. Sg. AKW

Bär

Gen. Sg.

AKW(-s)

Bär-en

Dat. Sg.

AKW

Akk. Sg.

(s)|(s)

(e)s|UL+er

(e)s|(e)n

(e)s|UL+e

Boot

Mann

Staat

Gast

Boot-(e)s

Mann-(e)s

Staat-(e)s

Gast-(e)s

Bär(-en)

Boot

Mann

Staat

Gast

AKW

Bär(-en)

Boot

Mann

Staat

Gast

Nom. Pl.

AKW(-s)

Bär-en

Boot-e

Männ-er

Staat-en

Gäst-e

Gen. Pl.

AKW(-s)

Bär-en

Boot-e

Männ-er

Staat-en

Gäst-e

Dat. Pl.

AKW(-s)

Bär-en

Boot-e-n

Männ-er-n

Staat-en

Gäst-e-n

Akk. Pl.

AKW(-s)

Bär-en

Boot-e

Männ-er

Staat-en

Gäst-e

So gehören den Klassen ausschließlich Substantive an, die nach dem gleichen Muster flektieren können, aber nicht zwingend müssen. AKW kann mit Genitivund Plural-s – und damit genauso wie Auto – verwendet werden, es muss aber nicht so verwendet werden. Das Flexionsverhalten von AKW und Auto überlappt demnach, ist aber nicht hundertprozentig deckungsgleich, da AKW auch -Ø in beiden Slots und somit mehr Variation als Auto zulässt. Die Unterschiede zwischen den Lexemen einer Klasse sind also im variablen Flexionsverhalten einzelner Mitglieder begründet. Darin, diese klasseninterne Variabilität zuzulassen, besteht der Unterschied zu Klassenkonzeptionen, die einer sehr „engen“ Definition folgen. Unterschiedlichen Klassen werden demgegenüber Lexeme zugeordnet, deren Flexionsverhalten nicht überlappt. Dieser Unterschied wird in den Abbildungen 38 vs. 39 veranschaulicht: Während sowohl Auto als auch LKW im Plural (und auch im Genitiv Singular) -s aufweisen können, überschneidet sich das Flexionsverhalten von Boot (starke Flexion: Boot-e) und Staat (gemischte Flexion: Staat-en) nicht: *die Staate und *die Booten. Deshalb werden diese beiden Lexeme hier unterschiedlichen Klassen zugeordnet und keine Deklinations-

|| 42 Denkbar wäre auch, phonologisch determinierte Nullplurale (wie Lehrer oder Magen) in die oben genannten Klassen zu integrieren, die dann z.B. mit (e)s|(e) und (e)s|UL+(e) zu beschreiben wären. Darüber hinaus wäre zu prüfen, ob man auch für Feminina eine Klasse mit interner Variation veranschlagen sollte: Feminine buchstabierte Buchstabenkurzwörter, die auch im Plural vorkommen, sind sehr rar, es gibt aber einzelne Belege und zwar auch solche ohne Plural-s (z.B. viele GmbH). Das könnte man zum Anlass nehmen, die Klasse der Feminina mit s-Plural folgendermaßen zu charakterisieren: Ø|(s). 43 Die Variation zwischen -en und -n ist in allen Klassen phonologisch determiniert.

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 249

klasse des Typs (e)s|e(n) veranschlagt. Wörter, die im Plural nun sowohl -e als auch -en aufweisen (z.B. Magnet), schwanken demnach zwischen zwei Deklinationsklassen. Bei Magnet liegt Variation infolge eines noch nicht abgeschlossenen Flexionsklassenwechsels vor. Diese Schwankung wird nicht als flexionsklassenintern eingestuft.

Auto

LKW



-s

Abb. 38: Überlappendes Flexionsverhalten (Genitiv- und Pluralmarker)

Staat

-en

Magnet

Boot

-e

Abb. 39: Gemischte vs. starke Flexion (Pluralmarker)

Auf diese Weise kann flexionsklasseninterne klar von flexionsklassenüberschreitender Variation abgegrenzt werden: Einer Klasse werden ausschließlich solche Substantive zugeordnet, deren Flexionsverhalten in allen Slots überlappt.44 Die Variabilität einzelner Lexeme findet so Berücksichtigung, ohne dass dabei die Grenzen zwischen Deklinationsklassen vollkommen unscharf werden und verschwimmen.

|| 44 Lediglich nicht überlappendes Flexionsverhalten, das phonologisch determiniert ist, wird – dem traditionellen Vorgehen entsprechend – als nicht flexionsklassenkonstituierend angesehen, so z.B. die Unterschiede zwischen schwachen Maskulina mit finalem Schwa und schwachen Maskulina ohne finales Schwa (z.B. des Matrose-n, *des Matrose-en vs. *des Tyrann-n, des Tyrann-en). In gesprochener Sprache schwinden diese Unterschiede im Zuge der Nebensilbenabschwächung bei vielen Lexemen ohnehin, sodass -n hier als gemeinsames Flexiv der beiden Typen angesehen werden kann: des [mɛnʃn̩].

250 | Theoretische Implikationen

Dieses Konzept baut auf Engers (1998) Überlegungen zu einer weniger restriktiven Flexionsklassendefinition und dem Kriterium der Ähnlichkeit auf. Die Ähnlichkeit der hier zu einer Klasse zusammengefassten Lexeme besteht darin, dass sie auf identische Weise flektiert werden können (aber nicht immer müssen). Formseitige Ähnlichkeit der Flexive ist hier nicht entscheidend. So werden z.B. Boot und Staat aufgrund ihrer Pluralmarker unterschiedlichen Klassen zugewiesen, obwohl sich diese nur in dem nichtsilbischen Element n (Boot-e vs. Staat-en) unterscheiden und somit formseitig eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen. Allerdings weisen die flexionsmorphologischen Varianten eines Lexems, die die hier als klassenintern eingestufte Variabilität konstituieren, alle auch formseitig systematische Gemeinsamkeiten auf. Das variable Flexionsverhalten besteht nämlich immer in der Alternanz zwischen der Anwesenheit und der Abwesenheit eines Elements. Betroffen ist entweder das gesamte Flexiv (-s vs. -Ø in Genitiv Singular und Plural; -(e)n vs. -Ø im Dativ und Akkusativ Singular) oder ein Teil des Flexivs (-es vs. -s). Das Schwanken zwischen zwei vollkommen unterschiedlichen Flexiven ist im Gegensatz dazu immer als klassenüberschreitende Variation einzustufen (z.B. des Veteran-s vs. des Veteran-en oder viele Kiosk-e vs. viele Kiosk-s).45 Die Ähnlichkeit der zu einer Klasse zusammengefassten Lexeme besteht also in überlappendem Flexionsverhalten und dem systematischen Zusammenhang zwischen den miteinander variierenden Flexiven (x vs. Ø). Indem Deklinationsklassen nun auf diese Weise konzeptioniert werden, wird man einer gewissen Variabilität bestimmter Lexeme gerecht, ohne dabei den Flexionsklassenbegriff zu sehr zu verwässern. Angesichts der ausführlich beschriebenen Sachlage erscheint mir diese Lösung unter den vier hier diskutierten Varianten, genitiv-s-los verwendete Nichtfeminina in die Beschreibung des deutschen Deklinationsklassensystems zu integrieren, die sinnvollste zu sein. In einem solchen variableren Deklinationsklassenkonzept hat das schwankende Flexionsverhalten einzelner Lexeme – wenn die oben genannten Kriterien erfüllt sind – dann den gleichen Status wie phonologisch determinierte Variation: Sowohl flexionsmorphologische Variation von Lexemen, deren Flexionsverhalten in allen Slots mit dem aller anderen Klassenmitglieder überlappt

|| 45 Entscheidend ist auch hier das Nichtüberlappen des Flexionsverhaltens der relevanten Lexeme. Veteran muss als zwischen zwei Klassen schwankend eingestuft werden, weil z.B. das Flexionsverhalten von Matrose (des Matrose-n, *des Matrose-s) und Staat (*des Staat-en, des Staat-s) sowie das von Boot (viele Boot-e, viele Boot-s) und Auto (*viele Auto-e, viele Auto-s) nicht überlappt.

Zur Integration s-loser Genitive ins Deklinationsklassensystem | 251

(z.B. des Tsunamis vs. des Tsunami) als auch phonologisch determinierte Variation (z.B. des Bär-en vs. des Affe-n) werden als nicht klassenkonstituierend erachtet und als klasseninterne Variation toleriert. Dieser Vorschlag ist nicht nur für die Beschreibung des deutschen Deklinationsklassensystems relevant, sondern auch für die weiter oben beschriebene Frage nach der Vereinbarkeit von Genitiv-s-losigkeit bei Nichtfeminina und PEP sowie NBP (vgl. Abschnitt 5.2.2). Erachtet man diese Variabilität im Genitiv nämlich (ebenso wie phonologisch determinierte Variation) als klassenintern, muss keine eigene Makroklasse mit den Kennformen Ø|s (mask./neut.) angenommen werden, wodurch sich die Anzahl an Makroklassen reduziert, sodass hier kein Verstoß gegen das PEP vorliegt (vgl. Tabellen 60 und 61 in Abschnitt 5.2.2). Auch die Struktur des Deklinationsklassensystems wäre hiervon betroffen: Wenn keine eigene Makroklasse für Ø|s (mask./neut.) angenommen wird, hat das Plural-s den Status eines class-identifiers, wodurch an dieser Stelle dann auch kein „blurring“ vorliegt (vgl. Tabellen 64 und 65 in Abschnitt 5.2.3). Variation bei gleichzeitig überlappendem Flexionsverhalten aller Klassenmitglieder in allen Slots als nicht klassenkonstituierend anzusehen, wird von Carstairs bzw. Carstairs-McCarthy (z.B. 1987, 1994) nicht selbst explizit vorgeschlagen, scheint aber dennoch in seinem Sinne zu sein: Er erkennt, dass z.B. die Variation zwischen -s und -es im Genitiv Singular nicht ausschließlich phonologisch determiniert ist, veranschlagt aber dennoch keine eigene Makroklasse (vgl. Carstairs 1987: 236 und Carstairs-McCarthy 1994: 744). Folglich könnte man die Aspekte wie phonologische Determiniertheit und Genus, anhand derer Makroklassen bei Carstairs bzw. Carstairs-McCarthy definiert werden, um das oben beschriebene Konzept der klasseninternen Variabilität ergänzen.

5.3.5 Zusammenfassung der Ergebnisse In diesem Kapitel hat sich gezeigt, dass genitiv-s-los verwendete Maskulina und Neutra sowohl einzelsprachliche als auch sprachübergreifende Verallgemeinerungen infrage stellen und insofern von besonderem theoretischem Interesse sind. Solche Belege sind (zumindest auf den ersten Blick) inkompatibel mit allgemeinen Aussagen zur Struktur und maximalen Anzahl von Flexionsklassen innerhalb eines Systems (NBP und PEP), mit Beobachtungen zum Zusammenhang von Genus und Flexionsklasse im Deutschen und insgesamt mit der Mehrzahl aller Beschreibungen des deutschen Deklinationsklassensystems. Allerdings müssen genitiv-s-los verwendete Maskulina und Neutra nicht zum Anlass genommen werden, alle diese ansonsten gut begründbaren Verall-

252 | Theoretische Implikationen

gemeinerungen und Beschreibungen zu verwerfen. Falls man eine gewisse deklinationsklasseninterne Variation zulässt und somit von traditionellen, sehr „engen“ Deklinationsklassendefinitionen wie der von Wurzel (22001) abweicht, können diese Verallgemeinerungen und die empirischen Daten nämlich gut in Einklang gebracht werden. Indem alle Substantive einer Klasse zugeordnet werden, deren Flexionsverhalten nicht in sämtlichen Belegen identisch sein muss, aber in allen Slots überlappt (die klasseninterne Variation betrifft hier dann immer die Anwesenheit/Abwesenheit eines Flexiv(teil)s), können auch ansonsten ignorierte oder marginalisierte flexionsmorphologische Varianten berücksichtigt werden. Dazu müssen weder etliche neue Deklinationsklassen eingeführt werden noch wird eine allzu vage Deklinationsklassenkonzeption angesetzt, da ein klares Kriterium für klasseninterne vs. klassenexterne Variation vorliegt. Die so konzeptionierten variableren Deklinationsklassen sind sowohl hinsichtlich ihrer Anzahl als auch ihrer Struktur mit PEP und NBP vereinbar, ohne dass dafür z.B. getrennte Singular- und Pluralparadigmen angenommen werden müssen. Sie erlauben es darüber hinaus, Verallgemeinerungen zum Zusammenhang von Genus und Flexionsklasse im Deutschen (uneingeschränkt) beizubehalten, die gerade vor dem Hintergrund des kooperativen Kasusausdrucks, an dem pronominal flektierte Wörter und Substantive beteiligt sind, besonders bedeutsam ist. Für diese Konzeption spricht ferner, dass nicht nur genitiv-s-lose Maskulina/Neutra auf diese Weise adäquat in Beschreibungen des Deutschen integriert werden können, sondern auch andere Fälle von flexionsmorphologischer Variation wie Schwankungen im Plural (viele LKW vs. viele LKWs), im Dativ und Akkusativ Singular bei schwachen Maskulina (dem Bär vs. dem Bären und den Bär vs. den Bären) und im Genitiv Singular starker Maskulina (des Berufs vs. des Berufes).

6 Fazit Der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist die Beobachtung, dass Maskulina und Neutra im Gegenwartsdeutschen in der Regel mit Genitiv-s verwendet werden, gelegentlich aber auch ohne dieses Flexiv belegt sind. Um dieses Phänomen adäquat beschreiben und erklären zu können, wurden zahlreiche und zum Teil sehr unterschiedliche Daten herangezogen bzw. erhoben. Auf dieser empirischen Basis aufbauend wurde eine Erklärung der Variation ausgearbeitet. Dabei ergaben sich zahlreiche Anknüpfungspunkte an theoretische Fragestellungen sowie andere Fälle gegenwartssprachlicher Variation, die mitunter ausführlich behandelt wurden. Diese verschiedenen Schwerpunkte der vorliegenden Arbeit sollen im Folgenden kurz resümiert werden. Dabei gehe ich zunächst auf die methodologische Komponente ein, bevor ich mich der Erklärung des Phänomens widme. Abschließend werden die darüber hinausgehenden theoretischen Erkenntnisse rekapituliert, wobei auch Perspektiven für künftige Forschung in diesem Bereich aufgezeigt werden.

6.1 Methodologische Aspekte Um die relevanten Aspekte der untersuchten Variation zielgenau ansteuern zu können, wurden viele verschiedene Methoden angewendet und miteinander kombiniert: Synchrone, diachrone, schriftliche und mündliche Korpusdaten, Akzeptabilitätsurteile und psycholinguistische Daten wurden analysiert. Darüber hinaus wurden auch eine sprachvergleichende Perspektive eingenommen sowie regionale Aspekte der Variation berücksichtigt. Dieser Methodenmix hat sich als besonders gewinnbringend herausgestellt. Ein Phänomen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, ermöglicht ein vertieftes Verständnis des Beobachteten. Das verdeutlicht ein einfaches Beispiel: In den schriftlichen Korpora DeReKo und DECOW weist Internet einen vergleichsweise hohen Anteil s-loser Formen auf. Demnach läge es nahe, -Ø im Gegenwartsdeutschen als gleichberechtigte Variante zur Verwendung des Genitiv-s bei Internet anzusehen. Dies ist allerdings nicht mit den Ergebnissen der Akzeptabilitätsstudie vereinbar: Hier wird die Verwendung des Flexivs präferiert. Diese Diskrepanz zwischen den Korpusdaten und der Bewertung durch die SprachbenutzerInnen, die überhaupt erst mithilfe eines Akzeptabilitätstests (oder Vergleichbarem) aufzudecken war, lässt sich nun wiederum unter Berücksichtigung der Diachronie erklären: Internet hat sich dank des enormen Frequenzzuwachses in

https://doi.org/10.1515/9783110557442-006

254 | Fazit

den vergangenen zwanzig Jahren besonders schnell etabliert und wird nun regelmäßig mit Flexiv verwendet. Die zahlreichen s-losen Formen in den Korpora stammen größtenteils aus den 1990er Jahren. Der durchschnittliche Anteil von -Ø aus Texten der vergangenen zwanzig Jahre ist also nicht repräsentativ für den heutigen Sprachgebrauch, was sich in den Akzeptabilitätsurteilen niederschlägt.1 Erst durch die Betrachtung der Variation aus verschiedenen Blickwinkeln ergibt sich ein kohärentes Bild. Bedeutsam sind diese Ergebnisse, weil sie einen wichtigen Baustein zur Erklärung der Schwankung beitragen: Die Entwicklung von Internet ist ein Indiz dafür, dass Fremdwörter im Allgemeinen und Anglizismen im Speziellen keineswegs den vermeintlichen Verlust der Kasusendung im Deutschen einleiten/unterstützen – so hätte der vergleichsweise hohe Anteil s-loser Belege in den beiden Korpora auf den ersten Blick durchaus interpretiert werden können – sondern vielmehr Gegenstand morphologischer Integration sind und somit die Produktivität und die Stabilität des Systems unter Beweis stellen. Weiterhin konnten durch die methodische Vielfalt Argumentationsbausteine empirisch überprüft werden, deren Gültigkeit bisher zwar angenommen, aber nicht datenbasiert getestet wurde. So hat sich z.B. herausgestellt, dass sich die Realisierung des Genitivsuffixes verlangsamend auf die Verarbeitung peripherer Substantive auswirkt. Dass auf diese Weise ein Erklärungsansatz auf ein empirisches Fundament gestellt werden konnte (vgl. Kapitel 3), zeigt, dass auch die Verknüpfung von Erkenntnissen, die mithilfe von unterschiedlichen und auf den ersten Blick nicht kompatiblen Datentypen generiert wurden, gewinnbringend sein kann. In diesem Fall wurde das Phänomen der morphologischen Integration, das anhand diachroner Korpusdaten untersucht wurde, mit psycholinguistischen Daten aus dem Self-Paced-Reading-Experiment in Verbindung gebracht. Hier konnte man sich zunutze machen, dass in aktuellen sprachlichen Zweifelsfällen in der Regel Sprachwandel greifbar wird, dessen zugrundeliegende Prinzipien und Motivationen gezielt und mit einem großen methodischen Repertoire untersucht werden können. Auf diese Weise konnte die Relevanz der morphologischen Schemakonstanz näher beleuchtet werden –

|| 1 Die Akzeptabilitätsurteile sind sicher auch abhängig vom Alter der Versuchspersonen und der Vertrautheit mit dem Konzept Internet: Möglicherweise tendieren ältere Menschen und vor allem solche, die nicht mit dem Internet vertraut sind, stärker zu -Ø. Die Überprüfung dieser Vermutung bleibt künftiger Forschung vorbehalten. Eine solche Überprüfung würde ein Experiment-Design erforderlich machen, das in der vorliegenden Arbeit nicht angewendet wurde – was wiederum die große Bedeutung methodischer Vielfalt unterstreicht.

Methodologische Aspekte | 255

also einer auch für Sprachwandel bedeutsamen Motivation, die sich auf den funktionalen Vorteil formaler Invarianz bezieht. Bei den Korpus-Studien hat es sich als sinnvoll erwiesen, Stichproben statistisch auszuwerten und dabei auch auf multifaktorielle Verfahren zurückzugreifen, um das Geflecht verschiedener miteinander zusammenhängender Faktoren sauber analysieren zu können (vgl. z.B. Abschnitt 4.2). Bei der Aufbereitung der Daten wurde bewusst auf automatisierte Verfahren verzichtet. Alle Stichproben, die einer multifaktoriellen Analyse unterzogen wurden, wurden manuell gefiltert und annotiert. Dieses Vorgehen ist zwar sehr arbeitsintensiv und geht zwangsläufig mit Einbußen hinsichtlich der Stichprobengrößen einher, hat aber mit Blick auf die Aussagekraft der Daten entscheidende Vorteile: Wie Konopka & Fuß (2016) nachweisen, sind automatisierte Verfahren derzeit nicht in der Lage, genitiv-s-lose Substantive (mit einer akzeptablen Fehlerquote) zu identifizieren und zu annotieren. Die Analyse automatisch aufbereiteter Datensätze kann demnach nicht verlässlich Aufschluss über die hier untersuchte Variation geben. Das gilt insbesondere für die Untersuchung peripherer Substantivgruppen wie Eigennamen, Fremdwörter und Kurzwörter, deren flexionsmorphologisches Verhalten sich als besonders aufschlussreich herausgestellt hat und deshalb in der vorliegenden Arbeit fokussiert wurde. Insofern scheint es gerechtfertigt zu sein, Einbußen bezüglich der Stichprobengröße zugunsten zuverlässiger Ergebnisse in Kauf zu nehmen. Hinsichtlich dieses Aspektes wurde in der vorliegenden Arbeit ein Mittelweg verfolgt: Der hier analysierte Datenumfang liegt – was die Anzahl der berücksichtigten Tokens betrifft – zwischen der Größe des automatisiert aufbereiteten Samples von Konopka & Fuß (2016) und allen anderen bisher untersuchten Belegsammlungen und Stichproben zur Variation zwischen -s und -Ø im Genitiv Singular maskuliner und neutraler Substantive (vgl. Kapitel 2). Indem gezielt verschiedene Stichproben erhoben wurden, konnten alle als relevant erachteten Lexeme, Substantivgruppen und Strukturen untersucht werden. Auf dieser empirischen Grundlage basieren die Argumente, die hinsichtlich der Erklärung und der Einordnung des zu untersuchenden Phänomens von Bedeutung sind. Das gelegentliche Ausbleiben des Genitiv-s wurde in der Literatur bisher meist im Kontext der Reduktion nominaler Kasusmarker im Deutschen und als Anzeichen eines bevorstehenden kompletten Abbaus dieser Flexive gesehen (vgl. Kapitel 1). Verschiedene Aspekte, die in den unterschiedlichen Kapiteln dieser Arbeit zur Sprache kamen, sprechen allerdings gegen diese Erklärung. Inwiefern die präsentierten Daten und Analysen Gegenargumente liefern, wird im folgenden Abschnitt noch einmal gebündelt dargestellt. Die dabei vertretene These, dass es derzeit keine Anzeichen für den bevorste-

256 | Fazit

henden Verlust des Genitiv-s gibt, wirft eine Frage auf, die ebenfalls erörtert wird: Warum ist die Markierung des Genitivs (im Gegensatz z.B. zum DativSingular-e) so stabil?

6.2 Die Stabilität des nominalen Kasusmarkers Sowohl synchrone als auch diachrone Daten sprechen gegen einen unmittelbar bevorstehenden Schwund nominaler Kasusmarker, wie ihn Wurzel (1991) auch aufgrund genitiv-s-loser Belege prophezeit. Solche Belege sind demnach nicht als Vorboten einer generellen Deflexion des Substantivs zu deuten, sondern vielmehr als Sonderverhalten bestimmter Lexeme. Die Analyse der synchronen Daten, die in Kapitel 2 vorgestellt wurde, spricht eindeutig dafür, dass nur eine klar abgrenzbare Gruppe von Substantiven von der s-Losigkeit betroffen ist. Dies sind periphere Substantive, und zwar vor allem Eigennamen, Kurzwörter und nicht-integrierte Fremdwörter. Auch bestimmte Substantivierungen zählen hierzu. Diese sind aber wesentlich weniger frequent – sowohl hinsichtlich der Typen- als auch hinsichtlich der Tokenfrequenz (vgl. z.B. Konopka & Fuß 2016: 178). Anders als bei diesen Substantivgruppen liegt der Anteil genitiv-s-loser Formen bei nativen Appellativen bei weniger als 2 %. Die vereinzelten s-losen Belege sind Ausreißer im statistischen Sinne und werden hier nicht als Reflex eines sich anbahnenden Sprachwandels gedeutet. Dafür ist die Summe der s-losen Wortformen zu gering, zumal die in Kapitel 2 untersuchten Daten aus einem Webkorpus stammen, bei dem über die AutorInnen der jeweiligen Belege nichts bekannt ist, weshalb nicht ausgeschlossen werden kann, dass auch Nicht-MuttersprachlerInnen zu den AutorInnen der Texte zählen. Zudem sind die analysierten Texte in aller Regel nicht lektoriert, sodass ein gewisser Anteil der s-los verwendeten Belege sicher auch auf Performanz- und Tippfehler zurückzuführen ist.2

|| 2 Dass es sich bei s-los verwendeten nativen Appellativen nicht um grammatische Strukturen handelt, legen auch die Ergebnisse eines informellen Akzeptabilitätstests nahe. Im Rahmen der Berliner Langen Nacht der Wissenschaften 2015 wurden 30 Laien unterschiedlichen Alters gebeten, die sprachliche Beschaffenheit des Satzes „Die Eltern des Kind freuten sich über die guten Noten.“ auf einer vierstufigen Skala von 0 („schlecht“) bis 3 („gut“) zu bewerten. Der Satz erhielt im Schnitt 0,1 von 3 Punkten. Dieses Ergebnis spricht meines Erachtens gegen die Annahme, dass es sich bei solchen Belegen um Reflexe eines sich anbahnenden Sprachwandels handelt – in diesem Falle sollte hier zumindest eine gewisse Akzeptabilität gegeben sein. Der Satz „An den Hängen des Himalaya gibt es außerordentlich viel Reis.“, der einen fremden

Die Stabilität des nominalen Kasusmarkers | 257

Dass periphere Wörter wie Eigennamen, Kurzwörter und Fremdwörter gesondert behandelt werden und im Gegensatz zu nativen Appellativen (zunächst) kein Flexiv erhalten, ist auch in anderen Sprachen zu beobachten und wird auch dort keineswegs als Indiz für einen bevorstehenden flexionsmorphologischen Wandel gewertet. In Kapitel 3 wurde das Griechische, das sich als Vergleichsobjekt zum Deutschen anbietet, in dieser Hinsicht etwas näher beleuchtet. Auch im Russischen und im Italienischen ist dieses Phänomen zu beobachten (vgl. z.B. Blevins 2004: 78–79 und Gaeta 2008: 84–85, 104; 2009: 48). Aus diachroner Perspektive gibt es zwei Indizien, die für die Stabilität des jetzigen Systems mit nominalem Kasusmarker im Genitiv Singular sprechen. Erstens: Es ist keine Ausweitung der s-Losigkeit auf Substantivgruppen oder Strukturen zu beobachten, die ursprünglich nicht betroffen waren. Unabhängig von phonologischen und syntaktischen Eigenschaften weisen native Appellative heute einen unerheblichen Anteil s-loser Formen auf. Fremdwörter und Eigennamen sind sowohl in Texten aus früheren Jahrhunderten als auch heute s-los belegt (vgl. Abschnitt 4.1 und 4.3). Kurzwörter kommen in älteren Texten zu selten vor, um über diese Substantivgruppe fundierte Aussagen machen zu können. Zweitens: Es zeigt sich auch keine Tendenz in Richtung -Ø, wenn man einzelne Lexeme fokussiert – ganz im Gegenteil: Alle untersuchten Fremdwörter tendieren diachron zu -s und auch einige Kurzwörter entwickeln sich in diese Richtung (vgl. Abschnitt 4.1 und 4.3). Dass der Anteil genitiv-s-loser Formen bei zahlreichen Substantiven im Laufe der Zeit abnimmt, spricht eindeutig für die Vitalität der nominalen Kasusmarkierung. Stünde der Verlust des Genitiv-s bevor, würden Lexeme, die ursprünglich konsequent ohne dieses Flexiv gebraucht wurden, diachron nicht zur Markierung des Genitivs mit -s übergehen. Hier spielt nach wie vor das Genus eines Substantivs eine entscheidende Rolle: Feminina werden im Singular immer ohne Kasusflexiv verwendet, Maskulina und Neutra weisen in der Regel ein Genitivflexiv auf (-(e)s oder -(e)n). Ausnahmen zu dieser Systematik sind diachron in der Regel nicht stabil, wie die morphologische Integration der Fremdwörter zeigt (z.B. des Klima > des Klimas, vgl. Abschnitt 4.1). Auch die Flexionsklassenwechsel der Wurzelnomina sowie der Substantive der er- und der nt-Stämme (des bruoder > des Bruders vgl. Abschnitt 3.3), die zum Teil bis ins Fnhd. ein schwankendes Flexionsverhalten aufweisen, unterstreichen die Bedeutung des Genus und stärken die Genusschranke.

|| Eigennamen ohne Genitiv-s enthält, erhielt mit 1,9 von 3 Punkten eine im Vergleich dazu wesentlich bessere Bewertung.

258 | Fazit

Insofern hat hier im Großen und Ganzen auch keine „Deflexion […] hinter den Kulissen“ stattgefunden (Nübling 2012: 232). Einen solchen Prozess beschreibt Nübling (2012: 232) anhand der Eigennamen: „Bevor Deflexion – syntagmatisch oder paradigmatisch – stattfindet, kündigt sich dieser Prozess in der Regel durch eine Abwärtsbewegung, eine Abstufung auf der Konditionierungshierarchie für Allomorphe an“. Vormals über Genus, die Flexionsklasse oder lexikalisch konditionierte Allomorphie geht bei einer solchen Entwicklung zu formal konditionierter Allomorphie über. Ein entsprechender Wandel wäre auch denkbar mit Blick auf die Konditionierung von -Ø vs. -s, z.B. indem die Wahl der flexionsmorphologischen Variante durch phonologische Eigenschaften wie die Silbenstruktur oder den Auslaut gesteuert würde. Bei peripheren Substantiven sind solche formalen Zuweisungsprinzipien zum Teil tatsächlich relevant, z.B. der Auslaut von Eigennamen (vgl. Abschnitt 4.2.2).3 Gerade bei Eigennamen ist (im Gegensatz zu Fremdwörtern und auch Kurzwörtern, die diachron jeweils eher in Richtung -s tendieren) eine Entwicklung in Richtung Deflexion auch nicht auszuschließen, bzw. sogar wahrscheinlich (vgl. Nübling 2012 und Ackermann 2018b). Dafür, dass die anderen Substantivgruppen diesem Vorbild folgen, gibt es derzeit aber keine Anzeichen. Bei nativen Appellativen richtet sich das Flexionsverhalten nach wie vor strikt nach dem Genus. Bei peripheren Substantiven ist das Genus zunächst nicht zwingend entscheidend (flexivlose Genitivformen von jungen maskulinen und neutralen Fremdwörtern sind z.B. möglich), im Zuge voranschreitender Integration des Wortes steigt aber auch hier die Bedeutung des Genus. Die hier thematisierten Indizien, die für die Stabilität der Kasusmarkierung im Genitiv Singular sprechen, sind vor dem Hintergrund der generellen Tendenz zur Reduktion nominaler Kasusmarker und der Redundanz des Kasusausdrucks an Artikel und Substantiv überraschend. Es stellt sich die Frage, warum hier überhaupt ein Kasusmarker Bestand hat und warum ausgerechnet der Genitiv formal so hervorgehoben wird. In diesem Zusammenhang ist ein Unterschied zwischen den Kasusmarkern, die in der Geschichte des Deutschen geschwunden sind, und dem Genitiv-s || 3 Auch bei anderen peripheren Substantiven spielen bestimmte formale Eigenschaften eine wichtige Rolle hinsichtlich der Ausprägung des Genitivs. So werden z.B. Fremdwörter mit einem Auslaut auf [s] und einer unbetonten finalen Silbe deutlich häufiger ohne Flexiv verwendet als andere Substantive (z.B. des Sozialismus). Allerdings gilt diese Beobachtung (bezeichnenderweise) ausschließlich für periphere Substantive. Wenn native Appellative diese formalen Kriterien aufweisen, hat dies keinen Einfluss auf die Realisierung des Genitivs (des Ausschusses vs. *des Ausschuss, vgl. Abschnitt 2.4.2.1).

Die Stabilität des nominalen Kasusmarkers | 259

bedeutsam. Erstere sind in aller Regel phonologischen Erosionsprozessen zum Opfer gefallen (vgl. z.B. Szczepaniak 2010b: 129). So ist z.B. der Verlust des Dativ-e maßgeblich phonologisch motiviert (vgl. z.B. Wegera & Waldenberger 2012: 147–148). Im Gegensatz dazu gibt es derzeit keine starke phonologische Entwicklung, die zum Verlust des Genitivflexivs führen könnte. Das hängt auch damit zusammen, dass die Genitivmarkierung bei nativen Appellativen je nach phonologischer Umgebung silbisch oder nichtsilbisch realisiert werden kann und so unter anderem dazu beitragen kann, degenerierte phonologische Füße zu reparieren (vgl. Abschnitt 4.1.3). Bei peripheren Substantiven ist die Genitivendung immer nichtsilbisch und somit phonologisch nicht besonders prominent. Keine relevante Motivation scheint darüber hinaus die potenzielle Einsparung des artikulatorischen Mehraufwands zu sein, mit dem die Realisierung des Flexivs verbunden ist. Dies gilt auch für Sprachwandelmotivationen, die im Zusammenhang mit phonologischen „Präferenzgesetzen“ stehen (vgl. Vennemann 1986: 32–40). Prozesse, die zum Abbau von Verstößen gegen diese Präferenzgesetze führen, sind nicht zu beobachten – im Gegenteil: Die Hinzufügung eines Flexivs geht mit einer aus phonologischer Sicht dispräferierten Komplexitätszunahme in der finalen Silbenkoda und im Extremfall sogar extrasilbischen Elementen einher (z.B. des Internet > des Internets). Einflussreicher ist hier „system pressure“: Via Analogie werden morphologische Sonderfälle eines Systems an prototypische Vertreter angepasst – die systemkonforme Steuerung der Deklination durch Genus wird gestärkt (vgl. Abschnitt 3.3). So wurde das redundante und (vermeintlich) funktionslose Genitivsuffix bei Vater, Bruder usw. wiederhergestellt; Fremdwörter (und zu einem gewissen Grad auch Kurzwörter) tendieren nach wie vor diachron zu -s. Hier setzt sich also eine morphologische Motivation gegen phonologische Motivationen durch. Darüber hinaus ist es durchaus plausibel, dass es sich beim Genitiv-s um eine syntaktische Dekodierhilfe handelt und dass dies seine Stabilität fördert (vgl. Abschnitt 3.3). Außerdem können genitiv-s-lose Maskulina und Neutra als Verstoß gegen das No Blur Principle gedeutet werden (vgl. Abschnitt 5.2). Verstöße gegen dieses Prinzip werden von verschiedenen AutorInnen als Wandelmotivation angesehen (vgl. z.B. Enger 2007 und Carstairs-McCarthy 2010: 232) und kommen auch hier für die Erklärung der morphologischen Integrationsprozesse und der Stabilität der Genusschranke infrage. Als Grund dafür, dass ausgerechnet der in vielen Varietäten des Deutschen geschwundene Genitiv morphologisch so salient ist, wird mitunter die Tatsache genannt, dass es sich hierbei um den einzigen Attribut-Kasus im Deutschen handelt: Es sei funktio-

260 | Fazit

nal, diesen morphologisch besonders zu kennzeichnen (vgl. Kern & Zutt 1977: 75 sowie Ronneberger-Sibold 1997: 333; s. auch Thieroff 2000: 279). In der vorliegenden Arbeit wurde auch die Rolle von Grammatiken und dem Normbewusstsein von SprecherInnen thematisiert. Ein entsprechender Einfluss kann natürlich nicht ganz ausgeschlossen werden, allerdings scheint es sich hierbei nicht um die entscheidende Einflussgröße zu handeln, was am Beispiel der Fremdwörter gezeigt wurde, die bis ins 19. Jahrhundert hinein (auch) genitiv-s-los verwendet wurden, sich dann aber integrieren und zunehmend mit -s verwendet werden, obwohl in Person von Adelung (51806) der einflussreichste Grammatiker der Zeit s-lose Formen nicht stigmatisiert, sondern im Gegenteil als einzige uneingeschränkt mögliche Variante bei Fremdwörtern empfiehlt und auch andere Grammatiker der relevanten Zeitspanne s-lose Formen nicht kritisieren (vgl. Abschnitt 4.1.1.3). Auch im Gegenwartsdeutschen zählt die Genitiv-s-Losigkeit nicht zu den prominentesten Themen der Sprachkritik und wird im Laiendiskurs gelegentlich sogar als Kennzeichen von Fachsprachen gewertet (und somit keineswegs stigmatisiert). Periphere Substantive ohne -s werden schließlich auch in den Akzeptabilitätsurteilen, in denen zu einem gewissen Grad immer auch Normbewusstsein mitschwingt, als gut und in aller Regel nicht signifikant schlechter bewertet als deren s-haltige Pendants (vgl. Abschnitt 3.6.1).4 Während in diesem Abschnitt bisher vor allem mögliche Ursachen für die Stabilität der Kasusmarkierung im Genitiv Singular der Nichtfeminina thematisiert wurden, liegt der Fokus im anschließenden Abschnitt auf der morphologischen Schemakonstanz und somit den Gründen, die gegen die Verwendung des Genitiv-s sprechen. Dabei werden auch die theoretische Relevanz der s-losen Genitive rekapituliert und sich daraus ergebende Forschungsfragen thematisiert.

6.3 Theoretische Anknüpfungspunkte und Ausblick Mit der morphologischen Schemakonstanz wurde eine Motivation ausführlich behandelt, der in der bisherigen Literatur wenig Aufmerksamkeit zuteilwurde. Der Begriff bezeichnet die Konstanthaltung eines Wortkörpers durch die Vermeidung besonders wortkörperaffizierender Elemente zugunsten strukturbe-

|| 4 Siehe auch Scott (2014a: 253–254), der darlegt, dass einige Lexeme sowohl in formeller als auch in informeller Sprache und unabhängig vom Register hinsichtlich der Genitivendung schwanken.

Theoretische Anknüpfungspunkte und Ausblick | 261

wahrender Flexive oder – im radikalsten Fall – durch gänzliches Auslassen von Flexionselementen (vgl. Abschnitt 3.2). Diese Motivation konkurriert mit der salienten Kodierung grammatischer Informationen. Die daraus resultierende synchrone und diachrone Variation bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für allgemeinere und theoretische Fragestellungen. So ist z.B. das Verhältnis von Zentrum und Peripherie des Deutschen und damit zusammenhängend das Phänomen der morphologischen Integration eng mit dem Verhältnis dieser beiden konkurrierenden Motivationen verknüpft: Wenn sich die Gewichtung der beiden Motivationen zugunsten der morphologischen Schemakonstanz verschiebt (z.B. durch Etablierung eines Fremdworts, die sich u.a. an Frequenz, Vertrautheit und phonologischer Integration festmachen lässt), resultiert daraus eine Bewegung des betroffenen Substantivs in Richtung Zentrum des Sprachsystems. Die Konkurrenz von morphologischer Schemakonstanz und der salienten Kodierung grammatischer Informationen determiniert nicht nur die Variation zwischen -s und -Ø im Genitiv Singular, sondern ist auch relevant für andere eng verwandte Schwankungsfälle im Gegenwartsdeutschen. Dazu zählen die Auslassung des Pluralmarkers bei Buchstabenkurzwörtern, die Variation zwischen Plural-s und anderen Pluralmarkern bei Fremdwörtern, die Schwankung zwischen silbischer und nichtsilbischer Genitivendung und ebenso die graphematische Variation hinsichtlich der Apostrophschreibungen.5 Auch das grammatische Sonderverhalten von Eigennamen ist maßgeblich durch die angestrebte Schemakonstanz motiviert. Insofern wurde hier die Bedeutung zweier Motivationen ausgearbeitet und empirisch fundiert, die für die Erklärung zahlreicher Schwankungsfälle im Gegenwartsdeutschen von entscheidender Bedeutung sind. Die übereinzelsprachliche Relevanz dieser Aspekte auf einer breiten Basis zu untersuchen, stellt eine lohnenswerte Perspektive für künftige Studien dar. Außerdem böte es sich an, Parallelen und Unterschiede der Variation im Genitiv zum Abbau des Dativ-e (dem Manne > dem Mann) und zur Schwankung des Dativ-Plural-Flexivs (eine Suppe mit Klöße vs. eine Suppe mit Klößen) in den Blick zu nehmen. Eine solche Untersuchung würde den Status des Deklinationssystems im Deutschen weiter erhellen.   Neben dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie, den Gründen für das grammatische Sonderverhalten von Eigennamen und den Parallelen zu anderen Schwankungsfällen im Deutschen wurden in der vorliegenden Arbeit auch ver-

|| 5 Anhand des empirischen Vergleichs von Plural-s und Genitiv-s konnte dabei gezeigt werden, dass die Relevanzhierarchie von Bybee (1985 bzw. 1994) nicht nur durch typologische, sprachstrukturelle und diachrone Aspekte motiviert werden kann, sondern auch über synchrone Variation.

262 | Fazit

schiedene Theoreme zum Aufbau von Flexionsklassen und Vorschläge zur Beschreibung des deutschen Deklinationsklassensystems diskutiert. Dabei stellte sich heraus, dass genitiv-s-lose Maskulina und Neutra eine Herausforderung für das Paradigm Economy Principle und das No Blur Principle darstellen und darüber hinaus auch nicht mit der großen Mehrheit der Beschreibungen der deutschen Deklination kompatibel sind. Von dieser Beobachtung ausgehend wurden Vor- und Nachteile verschiedener Flexionsklassendefinitionen diskutiert, woraus ein eigener Vorschlag zur Beschreibung der Deklination im Deutschen resultierte. Dieser Vorschlag stellt neben der Beschreibung und Erklärung der Variation mit ihren zahlreichen Facetten und den darauf aufbauenden theoretischen Erkenntnissen ein wesentliches Ergebnis der vorliegenden Arbeit dar und integriert das untersuchte Phänomen in eine empirisch fundierte Beschreibung der Nominalmorphologie des Deutschen.

Anhang Anhang 1: Self-Paced-Reading-Task Anweisung: Bitte lesen Sie die folgenden Sätze zügig und präzise, sodass Sie einfache Verständnisfragen beantworten können. Ihnen werden nacheinander die einzelnen Teile des Satzes präsentiert. Drücken Sie Enter, um das erste Element aufzudecken und um fortzufahren, sobald Sie den sichtbaren Teil gelesen haben. Ein Zurückspringen ist nicht möglich. In unregelmäßigen Abständen werden Ihnen einfache Verständnisfragen gestellt. Beantworten Sie diese bitte, indem Sie entweder auf die grüne Taste drücken (korrekte Aussagen) oder auf die rosa Taste drücken (unkorrekte Aussagen). Wir beginnen mit einer Testphase, in der Sie sich mit der Aufgabe vertraut machen können. Drücken Sie dazu bitte die Leertaste. Testphase: Der kleine Hund | verfolgte | den ängstlichen Postboten | und bellte | dabei laut. Die Lederjacke | hängt | immer noch | in der Garderobe, | weil sie vergessen wurde. Richtig oder falsch: In der Garderobe hängt noch ein Schal. Eine Zitrone | enthält | viel Vitamin C | und weitere | wichtige Nährstoffe. Die Piraten | kaperten | das Schiff | und erbeuteten | Seide und viele Goldbarren. Richtig oder falsch: Das Schiff wurde von Piraten gekapert. Das war die Testphase. Gibt es noch Fragen oder Probleme? Dann wenden Sie sich bitte jetzt an den Versuchsleiter oder die Versuchsleiterin. Wenn Sie bereit sind, drücken Sie bitte die Leertaste, um mit dem eigentlichen Durchlauf zu starten.

https://doi.org/10.1515/9783110557442-007

264 | Anhang

Items (ohne Filler): 1 Das Amt | berechnet | die Höhe | des BaFöG(s) | und informiert | die geduldigen Empfänger. Der Astrologe | untersucht | die Ringe | des Jupiter(s) | und entdeckt | eine unbekannte Strahlung. Der Geologe | beschreibt | die Entstehung | des Himalaya(s) | und zeigt | eine anschauliche Skizze. Der Informatiker | bewundert | die Akkuleistung | des PC(s) | und schreibt | eine positive Kritik. Der Mechaniker | repariert | den Auspuff | des LKW(s) | und vermerkt | den erheblichen Schaden. Der Pressesprecher | veröffentlicht | die Verkaufszahlen | des iPhone(s) | und erklärt | die großen Gewinne. Der Student | liebt | die Literatur | des Barock(s) | und schreibt | eine gute Hausarbeit. Der Urlauber | erblickt | das Ufer | des Tiber(s) | und bemerkt | einen kleinen Steg. Der Vater | kennt | die Gefahren | des Internet(s)| und installiert | eine neue Kindersicherung. Der Wanderer | kennt | die Tücken | des April(s) | und trägt | einen dicken Regenmantel. Die Forschergruppe | untersucht | das Wasser | des Orinoko(s) | und bemängelt | die schlechte Qualität. Die Muslime | feiern | das Ende | des Ramadan(s) | und genießen | die köstlichen Speisen. Die Präsidentin | empfängt | den Botschafter | des Iran(s) | und begrüßt | die vielen Journalisten. Die Tanzschüler | lernen | die Grundschritte | des Tango(s) | und üben | den schwierigen Hüftschwung. Die Touristen | besuchen | den Tempel | des Pharao(s) | und bestaunen | das imposante Gebäude.

|| 1 Die Testitems wurden entweder mit oder ohne Genitiv-s präsentiert. Beide Varianten werden hier aus Platzgründen mithilfe der Klammernotation (s) zusammengefasst.

Anhang 2: Akzeptabilitätsstudie | 265

Anhang 2: Akzeptabilitätsstudie Anweisung: Beurteilen Sie bitte die folgenden Sätze in Bezug auf ihre Akzeptabilität. Es geht dabei ausschließlich um die grammatische Beschaffenheit der Sätze und nicht um ihre Bedeutung. Ein Satz, den Sie als gewöhnlich klingend empfinden, ist mit einer hohen Punktzahl zu bewerten, wohingegen ungewöhnlich klingende Sätze eine niedrige Punktzahl erhalten sollen. Gehen Sie in Ihrer Beurteilung unreflektiert nach Ihrem Gefühl vor und scheuen Sie sich bitte nicht davor, die Endpunkte der Skala voll auszunutzen. Der Fragebogen möchte nicht Ihr Wissen testen, sondern individuelles Sprachempfinden untersuchen – Sie können also nichts falsch machen. Natürlich sind Ihre Angaben anonym und dienen nur als Datengrundlage für unsere wissenschaftliche Studie. Testitems (ohne Distraktoren):2 In den nächsten Tagen wird man die vielen Gesichter des April erleben können. klingt ungewöhnlich











1

2

3

4

5

klingt gewöhnlich

Sie können im Laufe des Aprils mit einer Antwort von uns rechnen. Ziel des BAföG ist es, allen jungen Menschen ein Studium zu ermöglichen. Das Gesetz zur Änderung des BAföGs sieht zahlreiche Verbesserungen vor. Im Zeitalter des Barock war die katholische Kirche eine wichtige Instanz. Im Seminar wurde die Literatur des Barocks behandelt. Das kleine Land am Südhang des Himalaya ist ein beliebtes Ziel für Touristen. Die meisten Flugzeuge fliegen nicht direkt über die höchsten Berge des Himalayas. Die Gefahren des Internet sollte man nicht unterschätzen. Wahrscheinlich sind Videos die Zukunft des Internets. Die Verkaufszahlen des iPhone wurden noch nicht bekannt gegeben. Viele Nutzer des iPhones ärgerten sich über eine deutlich verkürzte Akkulaufzeit.

|| 2 Die Testitems wurden auf drei Fragebögen aufgeteilt, sodass alle TeilnehmerInnen jeweils nur einen Teil der Testitems bewerten mussten. Aus Platzgründen wird die Bewertungsskala nur beim ersten Item mit aufgeführt. Im Gegensatz zur Studie ist die relevante Genitivphrase hier zur besseren Orientierung außerdem fettgedruckt.

266 | Anhang

Die Flagge des Iran ist in ihrer jetzigen Form seit dem 29. Juli 1980 gültig. Die Regierung verhandelt mit Vertretern des Irans über ein Nuklearprogramm. Der Durchmesser des Jupiter ist wesentlich größer als der Durchmesser der Erde. Das Innere des Jupiters ist noch nicht sonderlich gut erforscht. Wir beginnen mit der Beladung des LKW auf der linken Seite. Die Metallstütze des LKWs bohrte sich in den Mercedes und riss die Motorhaube auf. Der Wasserstand des Orinoko schwankt je nach Jahreszeit beträchtlich. Die Reise beginnt in Venezuela und endet am Ufer des Orinokos. Die Maus hat nach dem Herunterfahren des PCs noch geleuchtet. Sie müssen den Bildschirm des PC separat ausschalten. Das Gemälde zeigt das Gesicht des Pharaos im Profil. Auf diesen Abbildungen sehen Sie die Grabkammern des Pharao. Das letzte Drittel des Ramadan ist besonders bedeutsam. Auf der ganzen Welt feiern Muslime heute das Ende des Ramadans. Diese Form des Tango hat sich erst vor zwanzig Jahren in Europa etabliert. Argentinien gilt als Herkunftsland des Tangos. Am Ufer des Tiber fühlt man sich einsam. Rom kämpft derzeit mit den Fluten des Tibers.

Anhang 3: Die Frequenz von Eigennamen vs. Appellativen Die hier vorgestellte stichprobenartige Korpus-Recherche soll die Unterschiede zwischen Eigennamen und Appellativen bezüglich ihrer durchschnittlichen Frequenz etwas näher beleuchten. Verglichen werden hier zwei Zufallsstichproben von jeweils 100 Types. Nicht berücksichtigt wurden Komposita, Kurzwörter, Fremdwörter, mehrteilige Eigennamen und Wörter, bei denen es ein homonymes Appellativ bzw. einen homonymen Eigennamen gibt. Die Zufallsauswahl der Types erfolgte, indem zunächst alle als Appellativ kodierten Wortformen in DECOW14A013 gesucht, zufällig sortiert und dann manuell durchge-

|| 3 Bei DECOW14 handelt es sich um eine neuere Generation der DECOW-Korpora, die hier verwendet werden konnte (vgl. Schäfer 2015). Diese ist umfangreicher und stellt mehr Metada-

Anhang 3: Die Frequenz von Eigennamen vs. Appellativen | 267

sehen wurden, um falsche Kodierungen und die oben genannten Klassen auszuschließen. Für die 100 ersten verwendbaren Types wurde dann die LemmaFrequenz in DECOW14A01 erhoben, die Aufschluss über die Gebrauchshäufigkeit der Wörter gibt. Die Zusammenstellung der Eigennamen erfolgte nach dem gleichen Prinzip. Die Types sowie die ermittelten Tokenfrequenzen im hier verwendeten Sub-Korpus sind in Tab. 74 aufgelistet. Tab. 74: Frequenz von jeweils 100 zufällig ausgewählten Eigennamen vs. Appellativen in DECOW14A01

Eigenname

Frequenz

Appellativ

Frequenz

Deutschland

504147

Jahr

1429151

Berlin

372374

Seite

783856

Hamburg

152097

Beitrag

715729

Europa

149560

Zeit

697260

Google

112026

Mensch

627796

Schweiz

103150

Kind

589916

Österreich

102439

Bild

493492

Christian

72754

Frau

483028

Wolfgang

64201

Land

335691

Frank

57210

Welt

330507

Dresden

55156

Woche

311031

Jesus

54727

Spiel

289086

Robert

51158

Fall

283420

David

45355

Mann

278927

Baden-Württemberg

43227

Weg

272674

Israel

42145

Arbeit

261402

Microsoft

40584

Monat

246097

Werner

38957

Person

239958

London

37973

Herr

234617

Sony

28258

Familie

212017

Otto

27473

Platz

204387

Schleswig-Holstein

26440

Sache

203216

|| ten zur Verfügung als die ältere Generation. Die Korpuserstellung basiert bei beiden Generationen aber auf den gleichen Prinzipien.

268 | Anhang

Eigenname

Frequenz

Appellativ

Frequenz

Griechenland

24238

Titel

196361

Rom

23383

Erfahrung

180840

Basel

22377

Minute

175633

Felix

20798

Antwort

162904

Asien

18911

Sinn

156003

Sachsen-Anhalt

17331

Wasser

153508

Axel

17265

Partner

150795

YouTube

16799

Presse

140467

Salzburg

16438

Gemeinde

135412

Kanada

16175

Schritt

98575

Firefox

15068

Gedanke

97789

Koblenz

13190

Krieg

91111

Eric

12822

Wissenschaft

87169

Ruhrgebiet

10474

Wunsch

84915

Times

9759

Begriff

83681

Bosch

8884

Beruf

82896

Philips

7693

Anlage

81013

Taylor

7274

Gebiet

70861

Stephanie

6301

Jugend

64622

Passau

6262

Katze

63769

Marokko

5987

Pferd

63522

Hoffenheim

5573

Schutz

63465

Olli

4594

Glaube

62855

Viktor

4503

Macht

62312

Schleswig

4096

Vorstellung

61302

Haiti

3873

Prüfung

61226

Ilse

3416

Fenster

59574

Witten

3411

Zweck

58512

Sizilien

3085

Veränderung

57273

Pizarro

3006

Umgebung

56819

Viersen

2934

Brief

56345

Clark

2796

Lauf

54479

Marvel

2519

Bestellung

53884

Kathryn

2490

Führung

53826

Lauren

2442

Wahrheit

52433

Chakotay

2371

Ruhe

48890

Anhang 3: Die Frequenz von Eigennamen vs. Appellativen | 269

Eigenname

Frequenz

Appellativ

Frequenz

Grünau

2371

Vorsitzender

43940

Sinclair

2301

Leiter

40079

Rhön

2299

Schuld

36793

Günzburg

1875

Vertrauen

33788

Carrie

1797

Handlung

32040

Olivia

1551

Laden

30421

Neckermann

1494

Unterkunft

30129

Rhodan

1366

Verbraucher

28791

Kirch

1154

Beweis

26440

Nienburg

1144

Ehe

25403

Schneewittchen

1136

Besitzer

24853

Meran

1110

Träger

24469

Wendy

1089

Erweiterung

24393

Mumbai

1077

Umsatz

23084

Hecker

962

Arm

22089

Milka

863

Hafen

21625

Elba

817

Einstieg

18357

Macy

734

Vermittlung

17688

Mats

728

Kiste

16595

Wallenstein

599

Kuchen

14962

CISMAR

488

Pass

14396

Murcia

368

Pack

9880

hooschi

305

Kanzlei

9600

Kastellaun

273

Flamme

8926

Skydancer

207

Förderer

8107

Fuego

190

Bekenntnis

7259

Ebingen

187

Hemd

6267

Morina

117

Deckung

6169

Vampira

113

Trieb

4482

Solferino

110

Rausch

3786

SniperAndy

91

Fels

3656

transtec

84

Zulieferer

3237

Kohlmeyer

70

Scheune

3188

isabo

14

Neffe

3030

Aktakul

7

Seltenheit

2926

Schilwa

6

Unverständnis

2419

270 | Anhang

Eigenname

Frequenz

Appellativ

Frequenz

Griotte

4

Erlöser

2145

Nadrac

3

Speise

1831

Petropoulos

3

Narr

1723

Araucária

2

Träne

1688

Argosoft

1

Verstrickung

1341

Chellak

1

Geplapper

207

Der Boxplot in Abb. 40 stellt den Mittelwert (drei Pluszeichen: +++), den Median (fette horizontale Linie), oberes und unteres Quartil (Boxen), den dazugehörigen 1,5fachen Interquartilsabstand (gestrichelte Linie samt horizontalen Begrenzungen) sowie Ausreißer der Eigennamen (einzelne Punkte) dar. Da die Ausreißer der Appellative extrem hohe Werte aufweisen, sind diese aus darstellungstechnischen Gründen nicht integriert, können aber anhand der Werte in Tab. 74 nachvollzogen werden. Die Daten untermauern die Annahme, dass es eine prinzipielle Tendenz gibt, dass Eigennamen weniger frequent sind als Appellative. Lediglich einzelne Ausreißer in der Gruppe der Eigennamen erreichen das durchschnittliche Frequenz-Niveau der Appellative.

Abb. 40: Deskriptive Statistik zur Frequenz von jeweils 100 zufällig ausgewählten Eigennamen vs. Appellativen in DECOW14A01

Anhang 4: Die neighborhood density von Eigennamen vs. Appellativen | 271

Anhang 4: Die neighborhood density von Eigennamen vs. Appellativen Anhand der Zufallsstichprobe von jeweils 100 Eigennamen und Appellativen, die auch im Anhang 3 verwendet wurde, sollen im Folgenden auch die Unterschiede hinsichtlich der orthographic density illustriert werden. Dazu werden die Werte zur Anzahl der orthographischen Nachbarn genutzt, die in der lexikalischen Datenbank dlexDB hinterlegt sind und auf dem Kernkorpus des DWDS basierenden (Heister et al. 2011). Es werden jeweils zwei Werte angegeben: ein Wert, der sich nach der Definition orthographischer Nachbarn von Coltheart et al. (1977) richtet und ein zweiter Wert, der auf der Levenshtein distance basiert (vgl. Levenshtein 1966 und Yarkoni, Balota & Yap 2008). Die Unterschiede zwischen Eigennamen und Appellativen sind in den Abbildungen 41 und 42 zu erkennen. Die orthographic density ist bei den Appellativen deutlich höher als bei Eigennamen.4 Tab. 75: Anzahl der orthographischen Nachbarn von jeweils 100 zufällig ausgewählten Eigennamen vs. Appellativen

Eigenname

N N Appellativ (Levenshtein) (Coltheart)

N (Levenshtein)

Rom

13

10

Mann

15

12

Witten

11

10

Sache

15

12

Frank

10

6

Laden

14

11

N (Coltheart)

Werner

10

10

Land

14

12

Mats

9

9

Leiter

12

7

Hecker

6

5

Macht

12

10

Lauren

5

4

Seite

12

10

Basel

4

3

Weg

12

9

Elba

4

4

Zeit

12

11

Macy

4

2

Hafen

10

8

Schweiz

4

4

Kind

10

9 4

Sony

4

3

Ehe

9

Axel

3

3

Fall

9

6

Kirch

3

1

Welt

9

9

|| 4 Zur Erläuterung der Boxplots siehe Anhang 3.

272 | Anhang

N (Levenshtein)

N (Coltheart)

Eigenname

N N Appellativ (Levenshtein) (Coltheart)

Philips

3

1

Jahr

8

7

Robert

3

0

Lauf

8

6

Asien

2

1

Ruhe

8

6

Bosch

2

2

Bild

7

6

Christian

2

0

Frau

7

6

David

2

1

Herr

7

5

Eric

2

1

Pack

7

7

Europa

2

1

Schutz

7

4

Hamburg

2

1

Arm

6

3

Ilse

2

2

Kuchen

6

6

Kanada

2

1

Pass

6

5

London

2

1

Schritt

6

5

Morina

2

2

Besitzer

5

1

Österreich

2

1

Katze

5

2

Viersen

2

1

Kiste

5

4

Wendy

2

2

Schuld

5

5

Berlin

1

0

Sinn

5

3

Cismar

1

0

Wasser

5

3

Clark

1

1

Glaube

4

0

Deutschland

1

0

Hemd

4

2

Griechenland

1

0

Presse

4

2

Israel

1

0

Rausch

4

1

Jesus

1

0

Spiel

4

2

Kathryn

1

1

Titel

4

2

Marokko

1

0

Trieb

4

2

Marvel

1

1

Begriff

3

1

Meran

1

1

Fels

3

3

Microsoft

1

0

Gebiet

3

0

Milka

1

1

Krieg

3

1

Olli

1

1

Monat

3

0

Otto

1

0

Platz

3

2

Passau

1

1

Vertrauen

3

1

Ruhrgebiet

1

0

Woche

3

2

Sizilien

1

0

Anlage

2

0

Times

1

0

Beitrag

2

0

Anhang 4: Die neighborhood density von Eigennamen vs. Appellativen | 273

Eigenname

N N Appellativ (Levenshtein) (Coltheart)

N (Levenshtein)

N (Coltheart)

Viktor

1

1

Beruf

2

0

Wallenstein

1

0

Brief

2

0

Aktakul

0

0

Fenster

2

0

Araucária

0

0

Flamme

2

0

Argosoft

0

0

Führung

2

2

BadenWürttemberg

0

0

Gemeinde

2

0

Carrie

0

0

Partner

2

0

Chakotay

0

0

Scheune

2

1

Chellak

0

0

Träger

2

0

Dresden

0

0

Verbraucher

2

0

Ebingen

0

0

Vorsitzender

2

1

Felix

0

0

Wunsch

2

1

Firefox

0

0

Zweck

2

0

Fuego

0

0

Beweis

1

0

Google

0

0

Erlöser

1

0

Griotte

0

0

Familie

1

0

Grünau

0

0

Gedanke

1

0

Günzburg

0

0

Handlung

1

1

Haiti

0

0

Jugend

1

1

Hoffenheim

0

0

Kanzlei

1

1

hooschi

0

0

Minute

1

0

isabo

0

0

Neffe

1

0

Kastellaun

0

0

Person

1

1

Koblenz

0

0

Pferd

1

0

Kohlmeyer

0

0

Speise

1

0

Mumbai

0

0

Träne

1

0

Murcia

0

0

Umgebung

1

1 0

Nadrac

0

0

Vermittlung

1

Neckermann

0

0

Vorstellung

1

1

Nienburg

0

0

Wissenschaft

1

1

Olivia

0

0

Antwort

0

0

Petropoulos

0

0

Arbeit

0

0

Pizarro

0

0

Bekenntnis

0

0

Rhodan

0

0

Bestellung

0

0

274 | Anhang

Eigenname

N N Appellativ (Levenshtein) (Coltheart)

N (Levenshtein)

N (Coltheart)

Rhön

0

0

Deckung

0

0

Sachsen-Anhalt

0

0

Einstieg

0

0 0

Salzburg

0

0

Erfahrung

0

Schilwa

0

0

Erweiterung

0

0

Schleswig

0

0

Förderer

0

0

SchleswigHolstein

0

0

Geplapper

0

0

Schneewittchen

0

0

Mensch

0

0 0

Sinclair

0

0

Narr

0

Skydancer

0

0

Prüfung

0

0

SniperAndy

0

0

Seltenheit

0

0

Solferino

0

0

Umsatz

0

0

Stephanie

0

0

Unterkunft

0

0

Taylor

0

0

Unverständnis 0

0

transtec

0

0

Veränderung

0

0

Vampira

0

0

Verstrickung

0

0

Wolfgang

0

0

Wahrheit

0

0

YouTube

0

0

Zulieferer

0

0

Anhang 4: Die neighborhood density von Eigennamen vs. Appellativen | 275

Abb. 41: Deskriptive Statistik zur Nachbarschaftsdichte (nach Levenshtein) von jeweils 100 zufällig ausgewählten Eigennamen vs. Appellativen

Abb. 42: Deskriptive Statistik zur Nachbarschaftsdichte (nach Coltheart) von jeweils 100 zufällig ausgewählten Eigennamen vs. Appellativen

276 | Anhang

Anhang 5: Korpus-Studie: Berücksichtigte Zeitungen Tab. 76: Berücksichtigte Zeitungen

Zeitung

Redaktionssitz

Land

DeReKo-Archiv

Aachener Nachrichten

Aachen

D

W2

Aachener Zeitung

Aachen

D

W2

Aar-Bote

Bad Schwalbach

D

W2

Abendzeitung

München

D

W2

Allgemeine Zeitung

Mainz

D

W3

Badische Zeitung

Freiburg

D

W2

Basler Zeitung

Basel

CH

W2

Bayerische Rundschau

Kulmbach

D

W2

Bayerische Staatszeitung

München

D

W2

Berliner Kurier

Berlin

D

W2

Berliner Morgenpost

Berlin

D

W

Berliner Zeitung

Berlin

D

W

Berner Zeitung

Bern

CH

W2

Blick

Zürich

CH

W2

Braunschweiger Zeitung

Braunschweig

D

W

Burgenländische Volkszeitung

Sankt Pölten

AT

W

Coburger Tageblatt

Coburg

D

W2

Darmstädter Echo

Darmstadt

D

W2

Der Bund

Zürich

CH

W2

Der Prignitzer

Perleberg

D

W2

Der Standard

Wien

AT

W4

Der Tagesspiegel

Berlin

D

W4

Die Nordwestschweiz

Aarau

CH

W3

Die Presse

Wien

AT

W

Die Südostschweiz

Chur

CH

W

Döbelner Allgemeine Zeitung

Döbeln

D

W2

Dresdner Neueste Nachrichten

Dresden

D

W2

Format

Wien

AT

W2

Frankfurter Neue Presse

Frankfurt

D

W2

Fränkischer Tag

Bamberg

D

W2

Gelnhäuser Tageblatt

Gelnhausen

D

W2

General-Anzeiger Bonn

Bonn

D

W2

Anhang 5: Korpus-Studie: Berücksichtigte Zeitungen | 277

Zeitung

Redaktionssitz

Land

DeReKo-Archiv

Hamburger Morgenpost

Hamburg

D

W

Hannoversche Allgemeine

Hannover

D

W

Heilbronner Stimme

Heilbronn

D

W2

Hochheimer Zeitung

Hochheim (a.M.)

D

W2

Höchster Kreis-Blatt

Höchst

D

W2

Hofheimer Zeitung

Hofheim

D

W2

Hohenloher Tagblatt

Crailsheim

D

W2

Hohenzollerische Zeitung

Hechingen

D

W2

Kleine Zeitung

Graz/Klagenfurt

AT

W

Kreis-Anzeiger

Nidda

D

W2

Kurier

Wien

AT

W2

Lampertheimer Zeitung

Lampertheim

D

W2

Lausitzer Rundschau

Cottbus

D

W2

Lauterbacher Anzeiger

Lauterbach

D

W2

Leipziger-Volkszeitung

Leipzig

D

W3

Main-Taunus-Kurier

Wiesbaden

D

W3

Mannheimer Morgen

Mannheim

D

W

Märkische Allgemeine

Potsdam

D

W3

Metzinger Uracher Volksblatt

Metzingen

D

W3

Nassauische Neue Presse

Limburg

D

W3

Neue Kärntner Tageszeitung

Klagenfurt

AT

W2

Neue Kronen-Zeitung

Wien

AT

W3, W

Neue Luzerner Zeitung

Luzern

CH

W3

Neue Vorarlberger Tageszeitung

Schwarzach

AT

W3

Neue Westfälische

Bielefeld

D

W3

Neue Württembergische Zeitung

Göppingen

D

W3

Neue Züricher Zeitung

Zürich

CH

W

Neues Volksblatt

Linz

AT

W3

Niederösterreichische Nachrichten

Sankt Pölten

AT

W

Norddeutsche Neueste Nachrichten

Rostock

D

W3

Nordkurier

Neubrandenburg

D

W

Nürnberger Nachrichten

Nürnberg

D

W

Nürnberger Zeitung

Nürnberg

D

W

NZZ am Sonntag

Zürich

CH

W

Oberhessische Zeitung

Alsfeld

D

W3

Oberösterreichische Nachrichten

Linz

AT

W, W4

278 | Anhang

Zeitung

Redaktionssitz

Land

DeReKo-Archiv

Oschatzer Allgemeine Zeitung

Oschatz

D

W3

Osterländer Volkszeitung

Leipzig

D

W3

Passauer Neue Presse

Passau

D

W3

Potsdamer Neuste Nachrichten

Potsdam

D

W3

profil

Wien

AT

W

Reutlinger Nachrichten

Reutlingen

D

W3

Rheinische Post

Düsseldorf

D

W3

Rheinpfalz

Ludwigshafen

D

W

Rhein-Zeitung

Koblenz

D

W

Rundschau für den Schwäbischen Wald

Gaildorf

D

W3

Saale-Zeitung

Bad Kissingen

D

W4

Saarbrücker Zeitung

Saarbrücken

D

W4

Sächsische Zeitung

Dresden

D

W4

Salzburger Nachrichten

Salzburg

AT

W

Schweriner Volkszeitung

Schwerin

D

W4

Sonntag Aktuell

Stuttgart

D

W4

Sonntagsblick

Zürich

CH

W

SonntagsZeitung (Tages-Anzeiger)

Zürich

CH

W4

St. Galler Tagblatt

St. Gallen

CH

W

Stuttgarter Nachrichten

Stuttgart

D

W4

Stuttgarter Zeitung

Stuttgart

D

W4

Südkurier

Konstanz

D

W4

Südwest Presse

Ulm

D

W4

Tauber-Zeitung

Bad Mergentheim

D

W4

Taunus Zeitung

Frankfurt (a.M.)

D

W4

Tiroler Tageszeitung

Innsbruck

AT

W

Torgauer Zeitung

Torgau

D

W4

Trierischer Volksfreund

Trier

D

W4

Usinger Anzeiger

Usingen

D

W4

Vorarlberger Nachrichten

Feldkirch

AT

W

Weltwoche

Zürich

CH

W

Westdeutsche Zeitung

Düsseldorf

D

W4

Wiener Zeitung

Wien

AT

W4

Anhang 6: Nichtfeminina, die (auch) nach dem Muster Ø|s flektieren | 279

Zeitung

Redaktionssitz

Land

DeReKo-Archiv

Wiesbadener Kurier

Wiesbaden

D

W4

Wiesbadener Tagblatt

Wiesbaden

D

W4

Zürcher Tagesanzeiger

Zürich

CH

W

Anhang 6: Nichtfeminina, die (auch) nach dem Muster Ø|s flektieren Die in den folgenden Tabellen aufgeführten Prozentwerte beziehen sich auf den Anteil s-loser Genitivformen des jeweiligen Lexems in Belegen, in denen das Substantiv unmittelbar auf des oder eines folgt. Die Daten stammen aus DECOW2012. Sämtliche Belege wurden einzeln geprüft und Fehlbelege aussortiert. Tab. 77: Genitiv Singular verschiedener buchstabierter Buchstabenkurzwörter

Lexem

n

Anteil -Ø

Vollform

FSJ

619

96,8%

freiwilliges soziales Jahr

KFZ

726

95,6%

Kraftfahrzeug

IM

296

91,2%

inoffizieller Mitarbeiter

FÖJ

193

90,7%

freiwilliges ökologisches Jahr

MB

707

90,5%

Megabyte

ICE

793

89,9%

Intercityexpress(zug)

OB

1609

89,6%

Oberbürgermeister

MRT

383

87,2%

Magnetresonanztomogramm

PKW

8827

85,6%

Personenkraftwagen

TV

2627

77,4%

Tarifvertrag, Television, Turnverein

CT

247

72,1%

Computertomogramm, Computertomograf

AKW

1372

70,2%

Atomkraftwerk

LKW

2268

68,2%

Lastkraftwagen

KZ

642

66,4%

Konzentrationslager

KO

46

60,9%

Knockout

IC

631

56,4%

Intercity(zug)

WC

302

52,6%

(engl.) watercloset

BH

444

44,1%

Büstenhalter

280 | Anhang

Tab. 78: Genitiv Singular verschiedener Fremdwörter

Lexem

n

Anteil -Ø

Shaolin

111

97,3%

Vietk/cong

269

91,1%

Sumo

28

89,3%

Buddha

6079

85,2%

Samurai

717

82,4%

Rabbi

728

74,9%

Punk

1386

74,0%

Flamenco

915

70,1%

Chateau

166

54,8%

Muezzin

658

52,6%

Tango

1567

50,8%

Tsunami

1447

47,5%

Burnout

390

44,6%

Anime

1468

39,2%

Triathlon

593

29,5%

Manga

1849

27,7%

Anhang 6: Nichtfeminina, die (auch) nach dem Muster Ø|s flektieren | 281

Tab. 79: Genitiv Singular verschiedener Ergonyme

Anteil -Ø

Lexem

n

Kia

73

89,0%

BMW

1049

88,6%

VW

392

87,2%

Hyundai

69

87,0%

Subaru

57

86,0%

Seat

106

83,0%

Samsung

307

82,7%

Peugeot

220

80,9%

Suzuki

67

80,6%

Skoda

162

78,4%

Smart

362

77,6%

Maserati

31

77,4%

Lamborghini

68

72,1%

Lada

32

71,9%

Mitsubishi

98

71,4%

Nissan

140

71,4%

Mazda

148

70,9%

Ford

326

69,9%

Saab

34

67,6%

Fiat

174

67,2%

Honda

112

65,2%

Nokia

87

64,4%

Volvo

176

64,2%

Toyota

231

64,1%

Mini

455

63,5%

Porsche

504

63,3%

Audi

640

62,8%

Renault

252

61,5%

Ferrari

390

53,6%

Opel

485

51,3%

iPad

4075

44,9%

iPhone

9061

30,5%

MacBook

481

27,4%

282 | Anhang

Anhang 7: Das Paradigm Economy Principle (PEP) Carstairs (1987) fasst solche Wörter zu einer Makroklasse zusammen, bei denen ein flexivischer Unterschied mit einem bestimmten Genus oder einem phonologischen oder semantischen Unterschied einhergeht. Stammaffizierende Verfahren werden ignoriert. Alle relevanten Aspekte, anhand derer die vier Makroklassen in Tab. 58 (in Abschnitt 5.2.2) definiert werden, sind unten in Tab. 80 abgebildet. Hinzu kommen lediglich durch phonologische Aspekte konditionierte Unterschiede, die üblicherweise als flexionsklasseninterne Variation eingestuft werden und zu deren Kennzeichnung sich die Notation mit eingeklammertem Vokal eingebürgert hat: z.B. (e)n für des Löwe-n vs. des Mensch-en und (e)s für des Vater-s vs. des Fluss-es (aber auch des Ruf-s vs. des Ruf-es). Tab. 80 ist folgendermaßen zu lesen:5 Alle Wörter der Makroklasse I weisen s|e auf, es sei denn, sie sind feminin (dann haben sie Ø im Genitiv Singular, also der Zeile, die hier mit 2 benannt ist) oder enden auf eine Reduktionssilbe (dann haben sie Ø im Plural, also der Zeile, die hier mit 3 benannt ist). Am komplexesten ist Makroklasse III, da hier Kombinationen aus verschiedenen Merkmalen relevant sind. Alle Wörter dieser Makroklasse weisen Ø|n auf, es sei denn, sie sind maskulin und bezeichnen etwas Belebtes (dann haben sie n im Genitiv Singular), sind maskulin, bezeichnen etwas Unbelebtes und enden auf Schwa (dann haben sie ns im Genitiv Singular) oder sind maskulin/neutral, bezeichnen etwas Unbelebtes und enden nicht auf Schwa (dann haben sie s im Genitiv Singular). Die letzte Differenzierung wirft Probleme auf (Gegenbeispiele sind Autor und Papagei), was in Abschnitt 5.2.3 ausführlicher thematisiert wird. Ausschließlich per Genus konditioniert ist Klasse IV: Nichtfeminina haben s im Genitiv Singular, Feminina haben Ø. Dieser Generalisierung widersprechen Belege wie des LKW, bei denen Ø im Genitiv nicht mit femininem Genus einhergehen. Das spricht dafür, die von Carstairs angenommene Makroklasse IV zu spalten, woraus das System in Tab. 59 (in Abschnitt 5.2.2) resultiert, das nicht dem PEP entspricht.

|| 5 Grau hinterlegt ist jeweils die formale Ausprägung, die pro Makroklasse am typenfrequentesten ist und in Abschnitt 5.2.2 stellvertretend für die anderen Flexive aufgeführt wird. G steht Genus, P für Phonologie und S für Semantik.

Anhang 8: Das No Blur Principle (NBP) | 283

Tab. 80: Ausführliche Erläuterung der Makroklassen

I

G

Hund

Kuh

m/n

f

II Hamster

Kalb

III Möwe

Bär

Name

Ende

Auto

Oma

f

m

m

m/n

m/n

f

Schwa

kein Schwa

+belebt

-belebt

-belebt

n

ns

s

s

Ø

Reduktionssilbe

P S 2

s

3

Ø e

s

s

Ø

er

IV

Ø

n

s

Anhang 8: Das No Blur Principle (NBP) Das System in Tab. 81 entspricht dem in Tab. 80, es sind lediglich weniger Klassen zu Makroklassen zusammengefasst (nur Genus wird konsequent berücksichtigt). Auch in dieser Darstellung erweist sich die Makroklasse mit s-Plural als problematisch, da Ø im Genitiv Singular nicht perfekt mit Genus korreliert (des AKW aber des Autos). Die Spaltung dieser Makroklasse führt zu dem in Tab. 65 (in Abschnitt 5.2.3) dargestellten System, das nicht mit dem NBP kompatibel ist. Tab. 81: Ausführlichere Erläuterung der Makroklassen

I Hund

Kuh

1

m/n

f

2

s

Ø

3

e

II

III

Hamster

Kalb

s

s

Ø

er

IV Bär

Möwe

m

f

n

Ø n

V

VI

Ende

Name

s

ns

n

n

VII Auto

Oma

m/n

f

s

Ø s

284 | Anhang

Anhang 9: Die Typenfrequenz kleiner Deklinationsklassen Die im Folgenden aufgeführten Typenfrequenzen basieren auf der Auswertung des Wahrig-Rechtschreibwörterbuchs (82011). Tab. 82: ns | s

ns | n Lexem

Kommentar

Genus

Buchstabe



m

Friede



m

Gedanke



m

Glaube



m

Name



m

Same



m

Wille



m

Tab. 83: (e)s | UL

(e)s | UL Lexem

Kommentar6

Genus

Acker



m

Apfel



m

Boden



m

Bogen



m

Bruder



m

Faden



m

Garten



m

Graben



m

Hafen



m

|| 6 Die in dieser Spalte wiedergegebenen Kommentare betreffen nicht nur das Wort an sich, sondern auch bestimmte flexivische Varianten. So ist z.B. nicht das Substantiv Polster an sich als österr. zu charakterisieren, sondern der Plural Pölster, aufgrund dessen Polster hier verortet wird. Entsprechendes gilt für die Kommentare in den folgenden Tabellen.

Anhang 9: Die Typenfrequenz kleiner Deklinationsklassen | 285

(e)s | UL Lexem

Kommentar6

Genus

Hammer



m

Kasten



m

Kloster



n

Laden



m

Lager

„Kaufmannsspr.“

n

Magen



m

Mangel



m

Mantel



m

Nagel



m

Ofen



m

Polster

österr.

n

Sattel



m

Schaden



m

Schnabel



m

Schwager



m

Stadel

schweiz.

m

Stafel

schweiz.

m

Vater



m

Vogel



m

Wasser

„bei Mineralwasser u. Ä.“

n

286 | Anhang

Tab. 84: Ø | (UL) + e („starke Feminina“)

Ø | (UL) + e („starke Feminina“) Lexem

Kommentar

Lexem

Kommentar

Abkunft



Lust



Angst



Macht



Ankunft



Magd



Ausflucht



Maus



Auskunft



Nacht



Axt



Naht



Bank



Niederkunft



Braut



Not



Brunft



Nuss



Brunst



Pracht

Pl. nur poetisch

Brust



Sau



Faust



Schacht



Fluh

schweiz.

Schlucht

poet. veraltet

Frucht



Schnur



Gans



Stadt



Geschwulst



Sucht



Gruft



Übereinkunft



Hand



Unterkunft



Haut



Waldstatt

schweiz.

Herkunft



Wand



Kraft



Wiederkunft

-

Kuh



Wulst

auch mask.

Kunst



Wurf



Laus



Wurst



Luch

auch neutr.

Zunft



Luft



Zusammenkunft



Anhang 9: Die Typenfrequenz kleiner Deklinationsklassen | 287

Tab. 85: (e)s | UL + er („Hühnerhofklasse”)

(e)s | UL + er („Hühnerhofklasse”) Lexem

Kommentar

Genus

Lexem

Kommentar

Genus

Altertum



n

Irrtum



m

Amt



n

Kalb



n

Amt



n

Kind



n

Bad



n

Kleid



n

Balg

auch neutr.

m

Korn



n

Band



n

Kraut



n

Besitztum



n

Lamm



n

Biest



n

Land



n

Bild



n

Leib



m

Bistum



n

Leichdorn

auch Leichdorne

m

Blatt



n

Licht



n

Bloch

schweiz.

n

Lid



n

Bösewicht

auch Bösewichte

m

Lied



n

Brauchtum



n

Loch



n

Brett



n

Mahl

auch Mahle

n

Buch



n

Mal

auch Male

n

Dach



n

Mann



m

Daus

auch Dause

n

Maul



n

Denkmal



n

Mitglied



n

Ding



n

Mund



m

Dorf



n

Nest



n

Ehrenmal



n

Oberhaupt



n

Ei



n

Ort

Math., Astron., Seew.

m

288 | Anhang

(e)s | UL + er („Hühnerhofklasse”) Lexem

Kommentar

Genus

Lexem

Kommentar

Genus

Eigentum



n

Pfand



n

Erbtum



n

Rad



n

Fach



n

Rand



m

Fass



n

Regiment



n

Feld



n

Reichtum



m

Fürstentum



n

Reis



n

Gehalt



n

Rest

bes. bei Stoffen; auch Reste

m

Geist



m

Rind



n

Geld



n

Ross

auch Rosse

n

Gemach



n

Scheichtum



n

Gemüt



n

Scheit

bair., österr., schweiz.; auch Scheite

n

Geschlecht



n

Scheusal

auch Scheusale

n

Geschmack

auch Geschmäcke

m

Schild



n

Gesicht



n

Schloss



n

Gespenst



n

Schwert



n

Gewand



n

Senntum

schweiz.

n

Glas



n

Spital

schweiz.; auch Spitale

n

Glied



n

Stift

auch Stifte

n

Gott



m

Strauch



m

Grab



n

Tal



n

Grabmal



n

Trum

auch m.; auch Trume

n

Gras



n

Tuch



n

Gut



n

Viech



n

Anhang 9: Die Typenfrequenz kleiner Deklinationsklassen | 289

(e)s | UL + er („Hühnerhofklasse”) Lexem

Kommentar

Genus

Lexem

Kommentar

Genus

Haupt



n

Volk



n

Haus



n

Wald



m

Heiligtum



n

Wams

mundartl.

n

Herzogtum



n

Wanst

ugs., derb, scherzhaft

n

Holz



n

Weib



n

Horn



n

Weistum



n

Hospital

auch Hospitale

n

Wort



n

Huhn



n

Wurm

ugs. auch n

m

Quellen- und Literaturverzeichnis Korpora DECOW14, DECOW2012

DeReKo

DTA

DWDS

FOLK

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Index Age of Acquisition (AoA) 165, 167, 172 agreement siehe Kongruenz Althochdeutsch (Ahd.) 63ff., 131, 137, 187 Akzeptabilitätsstudie 81–83, 267f. Analogie 65f., 244 Anthroponym siehe Eigenname (Personenname) Apostroph 106ff., 126f., 129, 132, 139 Artikelflexion 7, 30, 42–47, 48, 62, 64, 66f., 71ff., 75f., 78, 107, 110ff., 115, 188, 245 Ausnahme 195, 199f., 204, 223f., 233, 237, 244 Belebtheitshierarchie 134, 144, 146–48, 146f., 149, 150–51, 151, 163f., 167, 169f., 173, 175 Clippings siehe unisegmentales Kurzwort concord siehe Kongruenz Dativ-e 6, 62, 261, 263 DECOW14 142 DECOW2012 15, 18, 29, 39, 41ff., 45f., 80, 82, 87, 103ff., 112, 149f., 156, 168f., 176, 179ff., 183, 185, 189, 227ff., 247, 249 Deflexion 77, 137f., 227, 236, 258, 260 Deklinationsklasse 65, 195–205, 219–23, 247–53, 286–91 DeReKo 9, 11, 105, 135, 157, 162, 166f., 184 Direktreferenz siehe Semiotik der Eigennamen DTA 98f., 102ff., 116ff., 123 DWDS 105, 108, 112 Eigenname 20, 24, 26f., 33, 42, 49, 54, 57, 72, 81, 137–76, 268–72, 273–77 – Ortsname 109, 148, 150–154, 157f., 160f., 166, 171, 226–27, 228–30 – Personenname 107, 109ff., 137f., 147, 175, 226–27, 227–28, 236 – Warenname 225–26, 283 Englisch 97 – Altenglisch 75 Ergonym siehe Eigenname (Warenname)

https://doi.org/10.1515/9783110557442-009

familiarity 141f., 148ff., 156f., 160ff., 170ff., 174, 176, 185, 236 Färöisch 72, 76 Flexionsklassenwechsel 64ff., 251 Frühneuhochdeutsch (Fnhd.) 62, 64f. FOLK 50 Fremdwort 20, 24ff., 33f., 42, 54f., 57, 66, 72ff., 81, 93–137, 225, 282 Frequenz – kumulierte Kontakt-Frequenz 165 – Lemma-Frequenz 135f., 142, 144, 150, 153, 155f., 163f., 167, 179ff. – Tokenfrequenz 15, 20, 25, 29, 33, 41f., 44, 48, 54, 57, 65, 81, 87, 89, 93, 104, 140f., 148f., 157, 160, 162f., 165ff., 171f., 175, 236, 237–38, 268–72 – Typenfrequenz 54, 65, 224–33, 286–91 garden path-Satz 60ff. Genitiv-es 35, 57, 69f., 127ff., 133, 240f. Genus 20, 24f., 30, 36f., 41, 59ff., 65, 151, 187, 195ff., 207ff., 214, 216, 218, 223, 228, 231, 234, 238, 243, 245, 253f. Genusschranke 66f., 244, 259, 261 gesprochene Sprache 50–52 getrennte Singular- und Pluralparadigmen 202–4, 210, 216f. graphematische Integration 95, 102f., 123ff., 128, 133, 149, 153, 180ff. graphematisches Prinzip 182 Homonymie-Vermeidung 8f. implikativer Aufbau von Paradigmen 201f., 205, 211 interindividuelle Variation 68 intraindividuelle Variation 2, 51, 68, 113 Isländisch 72, 76 Kasusnivellierung siehe Schwund nominaler Kasusmarker Kennform 196, 202, 205f., 253 Klammerverfahren 59, 62

306 | Index

Kongruenz 7, 48, 59, 61, 66f., 71f., 75f., 78, 83f., 91, 107, 114, 197 Kurzwort 20, 22, 24, 26f., 30, 34, 40, 42, 54, 57, 73, 81, 176–92, 235f. – buchstabiertes Buchstabenkurzwort 181, 182–92, 281 – Kurzwort-Klassifikation 176 – lautiertes Buchstabenkurzwort 180–81 – multisegmentale Silben- und Mischkurzwörter 179–80 – unisegmentales Kurzwort 178–79 Lehnwort 55, 94f., 134 lexikalischer Zugriff 58, 67, 70, 77, 91, 141ff., 165, 174, 183 Luxemburgisch 72 Makroklasse 195, 198, 206ff., 213f., 216f., 222, 253 Mittelhochdeutsch (Mhd.) 62, 64f., 245 morphologische Integration 69, 73, 93–137, 237 morphologische Schemakonstanz 53, 55ff., 66ff., 74, 77, 80, 91, 107, 114, 116, 123, 126, 129, 134, 139, 148, 152, 166, 174f., 179, 181, 183, 185f., 188, 192, 202, 234, 249 neighborhood density 143f., 273–77 Neugriechisch 72ff. Niederländisch 72, 75f. – Mittelniederländisch 75 No Blur Principle (NBP) 211–18, 211ff., 216ff., 253f., 285 Nominalklammer siehe Klammerverfahren

Peripherie 19, 35, 48, 53ff., 68f., 134, 182 Possessivkonstruktion 76, 111f., 137f., 228 Prager Schule 53–55 principal parts 202, 205f. Principle of Contrast 211 Produktivität 233–37 Protogermanisch 5 Regression – binäre logistische Regression 17f., 32f., 35, 37, 40, 154–56 – generalisierte gemischte lineare Regression 85–90 Relevanzhierarchie 115, 117, 185–92, 186ff. Schemakonstanz siehe morphologische Schemakonstanz schwache Maskulina 5, 134, 138, 180 Schwedisch 151 – Altschwedisch 75 Schwund nominaler Kasusmarker 5–7 Selbstkorrekturen 51 Self-Paced-Reading-Experiment 77–92, 265f. Semiotik der Eigennamen 144–45, 167–76, 171ff., 175, 226 Slab Codicil siehe getrennte Singular- und Pluralparadigmen SPR siehe Self-Paced-Reading-Experiment Spracherwerb 67, 165–66, 171–72, 211, 218 system pressure 65, 67 Tokenfreuquenz 54 Toponym siehe Eigenname (Ortsname) überlappendes Flexionsverhalten 250–53

Onymizitätsanzeige 145–46, 167–70, 172, 174

Versprecher 51 Vertrautheit siehe familiarity

Paradigm Economy Principle (PEP) 204, 206– 11, 206ff., 214, 216ff., 253f., 284–85 Paradigma 221–22 partitiver Genitiv 47

Worterkennung siehe lexikalischer Zugriff Zentrum 19, 48, 53ff., 66, 68f., 134, 183