Strafrecht Allgemeiner Teil für Dummies (German Edition) [2. ed.] 3527720715, 9783527720712

Haben Sie sich schon mal gefragt, wer schuldig ist, wenn Anton versucht, Bert zu erstechen, der Krankenwagen, in dem der

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Strafrecht Allgemeiner Teil für Dummies (German Edition) [2. ed.]
 3527720715, 9783527720712

Table of contents :
Titelblatt
Impressum
Über den Autor
Über dieses Buch
Begriffe, die in diesem Buch verwendet werden
Konventionen in diesem Buch
Was Sie nicht lesen müssen
Törichte Annahmen über den Leser
Wie dieses Buch aufgebaut ist
Wie es weitergeht
Teil I: Wichtige Grundlagen des Strafrechts
Kapitel 1: Die Begründung und Wirkungsweise von Strafrecht und Strafe
Das Verhältnis von Zivilrecht, Öffentlichem Recht und Strafrecht
Der Kern des Strafrechts
Die Begründung und Wirkungsweise der Strafe
Kapitel 2: Begrenzungen des Strafrechts
Das Gesetzlichkeitsprinzip (nullum crimen, nulla poena sine lege)
Verfassungsrechtliche Grenzen des Strafrechts
Prinzipien eines fairen Strafverfahrens
Kapitel 3: Das Straftatsystem – die Vorgehensweise bei der Prüfung von Strafrechtsfällen
Die Struktur des Straftatsystems
Die Tatbestandsmäßigkeit
Die Rechtswidrigkeit
Die Schuld
Exkurs: Die Strafe bei mehreren Straftaten – Konkurrenzen
Teil II: Die Elemente des Tatbestandes: Handlung, Erfolg, Zurechnung, Vorsatz
Kapitel 4: Der objektive Tatbestand – Einstiegsvoraussetzung: Handlung
Der wissenschaftliche Streit um den Handlungsbegriff
Gesicherte Fallgruppen des Nichthandelns
Grenzfall: Automatisierte Handlungsweisen
Kapitel 5: Die Feststellung des tatbestandsmäßigen Erfolgs
Die Beweismittel vor Gericht, Beweiswürdigung und Urteilsfindung
Die Auslegung des Strafgesetzes und seine Grenzen
Kapitel 6: Ursache und Wirkung – Handlung und Erfolg (Kausalität)
Prüfung der Kausalität
Die Bedingungs- oder Äquivalenztheorie
»Kranke Fälle« der Kausalität
Kapitel 7: Die Lehre von der objektiven Zurechnung
Der Kerngedanke der objektiven Zurechnung – Überschreitung des erlaubten Risikos
Risikozusammenhang: Riskante Handlung und Erfolg
Fallgruppen des Ausschlusses der objektiven Zurechnung
Kapitel 8: »Nichtstun« als strafbares Verhalten – die Unterlassungsdelikte
Der Unterschied von echten und unechten Unterlassungsdelikten
Die Garantenstellung
Kapitel 9: Der objektive Tatbestand der Unterlassungsdelikte
Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen
Die »Ursächlichkeit« des Unterlassens
Die physisch-reale Möglichkeit zu einer Rettungshandlung
Die Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen
Kapitel 10: Der subjektive Tatbestand strafbaren Verhaltens – Vorsatz
Die beiden Elemente des Vorsatzes: Wissen und Wollen
Die Grade des Vorsatzes
Bedingter Vorsatz (dolus eventualis) oder bewusste Fahrlässigkeit (luxuria)
Die Absicht als »überschießende Innentendenz«
Teil III: Strafbarkeit bei Verletzung von Sorgfaltspflichten – Fahrlässigkeit
Kapitel 11: Die Bestrafung von fahrlässigem Verhalten
Die Vorsatztat als Regelfall, die Fahrlässigkeitstat als Sonderfall strafbaren Verhaltens
Die Unterschiede von Vorsatzunrecht und Fahrlässigkeitsunrecht
Grade der Fahrlässigkeit
Das Wesen des Fahrlässigkeitsunrechts
Kapitel 12: Felder fahrlässigen Verhaltens: Medizin und Straßenverkehr
Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Behandlungsfehler in der Medizin
Gefahrenzone Straßenverkehr
Teil IV: Rechtfertigung/Keine Strafe ohne Schuld
Kapitel 13: Grundgedanken und Konstellationen der Rechtfertigung
Grundgedanke der Rechtfertigung
Rechtfertigungsgründe im BGB
Rechtfertigungsgründe in der Strafprozessordnung und im Polizeirecht
Kapitel 14: Voraussetzungen und Grenzen der Notwehr (§ 32 StGB)
Die Notwehrlage
Zulässige Verteidigungshandlungen
(Sozialethische) Einschränkungen des Notwehrrechts
Überschreitung der Notwehr – Notwehrexzess (§ 33 StGB)
Kapitel 15: Rechtfertigung in Notstandslagen
Die Notstandslage in § 34 StGB
Zulässige Notstandshandlungen
Abwägung/Angemessenheit
Kapitel 16: Einwilligung in die Verletzung
Zulässigkeit der Einwilligung und ihre Grenzen
Drei Beispielsfelder: Einwilligung in Medizin, Sport und Sex
Kapitel 17: Irrtümer über die Rechtfertigung
Der Erlaubnis(grenz)irrtum
Der Erlaubnistatbestandsirrtum
Kapitel 18: Keine Strafe ohne Schuld
Schuld als Vorwerfbarkeit
Defizite der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit
Vorsätzliche Herbeiführung der Schuldunfähigkeit – actio libera in causa
Fehlende Verbotskenntnis (Verbotsirrtum)
Sogenannte Gewissenstäter
Handeln in Lagen außergewöhnlicher Bedrängnis
Irrtum über Entschuldigungsgründe
Teil V: Täterschaft und Teilnahme
Kapitel 19: Die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme
Abgrenzung nach der Willensbeziehung zur Tat (subjektive Theorie)
Abgrenzung nach der Rolle im Geschehensablauf (Tatherrschaft)
Kapitel 20: Mittelbare Täterschaft und Mittäterschaft
Der mittelbare Täter – ein Marionettenspieler
Der Mittäter – auf gute Zusammenarbeit
Kapitel 21: Anstiftung
Das Bestimmen einer anderen Person zur Tat
Aufstiftung, Abstiftung und Umstiftung
Der Doppelvorsatz des Anstifters
Kapitel 22: Beihilfe
Keine Beihilfe ohne vorsätzliche rechtswidrige Haupttat
Die Hilfeleistung
Der doppelte Gehilfenvorsatz
Kapitel 23: Irrtümer im Rahmen der Tatbeteiligung
Der »error in persona« des angestifteten Täters
Irrtümer des mittelbaren Täters
Teil VI: Versuch und Rücktritt vom Versuch
Kapitel 24: Stadien einer Straftat und Voraussetzungen eines strafbaren Versuchs
Die Strafbarkeit des versuchten Verbrechens
Idee – Entschluss – Vorbereitung – Versuch
Die Voraussetzungen des strafbaren Versuchs
Versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen
Kapitel 25: Der Rücktritt vom Versuch
Der fehlgeschlagene Versuch
Der Rücktritt vom unbeendeten Versuch
Der Rücktritt vom beendeten Versuch
Rücktritt bei fehlender Verhinderungskausalität
Besonderer Fall: Rücktritt bei mehraktigem Geschehen
Rücktritt vom Versuch bei mehreren Tatbeteiligten
Teil VII: Der Top-Ten-Teil
Kapitel 26: Zehn Tipps, wie Sie eine Strafrechtsklausur bewältigen
Schummeln Sie nicht
Lesen Sie den Sachverhalt sehr sorgfältig
Verwenden Sie einen Schmierzettel
Erstellen Sie eine Lösungsskizze
Haben Sie die Zeit im Blick
Lassen Sie sich nach der Klausur nicht von Panik-Panthern irritieren
Einsen und Zweien sind die Seltenheit im Jurastudium
Schreiben Sie im Gutachtenstil
Schauen Sie sich das nun folgende kurze Fallbeispiel an
Üben Sie die Lösung von Fällen mit »Strafrecht Fälle und Schemata für Dummies«
Kapitel 27: Zehn wichtige Probleme aus dem Strafrecht Allgemeiner Teil
Wenn es auf die Auslegung des Gesetzes ankommt – die Wortlautgrenze
Wenn es auf den Ursachen-Wirkungs-Zusammenhang ankommt – Kausalität und objektive Zurechnung
Wann ein Täter die Tat mit Eventualvorsatz begeht
Wann Unachtsamkeit zur Bestrafung wegen Fahrlässigkeit führt
Wann man berechtigt ist, sich gegen einen Angriff zu wehren
Wann der Versuch einer Straftat beginnt
Wann und wie man von dem Versuch einer Straftat zurücktreten kann
Wann man Täter und wann man Teilnehmer einer Straftat ist
Wann und wie man als mittelbarer Täter einen anderen Menschen zu seinem Werkzeug machen kann
Wann man keine Schuld an einer Straftat hat
Stichwortverzeichnis
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Strafrecht Allgemeiner Teil für Dummies

Schummelseite Der richtige Aufbau ist die halbe Miete!

A. VORSÄTZLICHES VOLLENDETES BEGEHUNGSDELIKT I. Tatbestand a. Objektiver Tatbestand 1. Erfolg 2. Handlung 3. Kausalität 4. Objektive Zurechnung b. Subjektiver Tatbestand 4. Tatbestandsvorsatz 5. Subjektive Unrechtselemente II. Rechtswidrigkeit III. Schuld IV. Ergebnis

B. VERSUCHTES DELIKT I. Vorprüfung a. Nichtvollendung der Tat b. Strafbarkeit des Versuchs

II. Tatbestand [ACHTUNG: Die Prüfungsreihenfolge kehrt sich um!] a. Subjektiver Versuchstatbestand (= Tatentschluss) b. Objektiver Versuchstatbestand (= Unmittelbares Ansetzen zur Tat) III. Rechtswidrigkeit IV. Schuld

RÜCKTRITT VOM VERSUCH [ACHTUNG: Als persönlicher Strafaufhebungsgrund nach der Schuld zu prüfen] a. Beim fehlgeschlagenen Versuch: kein Rücktritt b. Beim unbeendeten Versuch: Rücktritt durch Aufgabe der Tat c. Beim beendeten Versuch: Rücktritt durch Verhinderung der Vollendung d. Bei fehlender Verhinderungskausalität: freiwilliges und ernsthaftes Bemühen der Verhinderung

C. VORSÄTZLICHES UNECHTES UNTERLASSUNGSDELIKT I. Tatbestand a. Objektiver Tatbestand 1. Erfolg 2. Unterlassen 3. Quasi-Kausalität 4. Objektive Möglichkeit der Erfolgsabwendung 5. Garantenstellung 6. Entsprechungsklausel 7. Zumutbarkeit

b. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz II. Rechtswidrigkeit III. Schuld IV. Ergebnis

D. FAHRLÄSSIGES ERFOLGSDELIKT I. Tatbestand a. Handlung, Erfolg, Kausalität b. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung c. Objektive Vorhersehbarkeit des Erfolgs d. Pflichtwidrigkeitszusammenhang e. Schutzzweck der Norm II. Rechtswidrigkeit III. Schuld a. Allgemeine Voraussetzungen b. Fahrlässigkeitsvorwurf: Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung und subjektive Vorhersehbarkeit c. Mögliche Entschuldigungsgründe, insbesondere Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens

E. ANSTIFTUNG I. Tatbestand a. Objektiver Tatbestand 1. Vorsätzlich begangene Haupttat 2. Bestimmen zu der Tat b. Subjektiver Tatbestand

1. Vorsatz bezüglich der Vollendung der Haupttat 2. Vorsatz bezüglich des Bestimmens II. Rechtswidrigkeit III. Schuld IV. Ergebnis

F. BEIHILFE I. Tatbestand a. Objektiver Tatbestand 1. Vorsätzlich begangene rechtswidrige Haupttat 2. Hilfeleisten b. Subjektiver Tatbestand 1. Vorsatz bezüglich der Vollendung der Haupttat 2. Vorsatz bezüglich des Hilfeleistens II. Rechtswidrigkeit III. Schuld IV. Ergebnis

OHNE RICHTIGE SUBSUMTIONSTECHNIK KEIN ÜBERZEUGENDES ERGEBNIS 1. Bilden Sie unter Bezug auf die angewandte gesetzliche Regelung eine Ausgangshypothese für Ihr Gutachten. Hierfür benutzen Sie bitte den Konjunktiv (= Es könnte so sein). Zum Beispiel: »A könnte sich einer Körperverletzung strafbar gemacht haben, indem er dem B mit der Faust ins Gesicht schlug.« 2. Beginnen Sie die Überprüfung, ob Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes der Körperverletzung (§ 223 StGB) im konkreten Fall einschlägig sind oder nicht. Diese Überprüfung vollzieht sich in vier

Schritten. Am Beispiel des Tatbestandsmerkmals »körperlich misshandelt«: »Dann müsste A den B körperlich misshandelt haben« (Hypothese). »Als körperliche Misshandlung wird jede üble unangemessene Behandlung bezeichnet, die entweder das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt« (Definition). »Durch den Faustschlag ins Gesicht von B hat A dem B erhebliche Schmerzen bereitet. Folglich wurde B erheblich in seinem körperlichen Wohlbefinden beeinträchtig« (Subsumtion). »Der Schlag von A in das Gesicht von B stellt somit eine körperliche Misshandlung dar und erfüllt damit den objektiven Tatbestand der Körperverletzung gemäß § 223 I StGB« (Ergebnis). 3. Beachten Sie jedoch, dass der Gutachtenstil nur dann anzuwenden ist, wenn der Sachverhalt eine Information enthält, die eine solche genaue Prüfung erforderlich macht.

EINIGE UNVERZICHTBARE DEFINITIONEN Kausalität: Eine Handlung ist nach der Conditio-sine-qua-non-Formel für den Erfolgseintritt kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. Objektive Zurechnung: Ein Erfolg ist dann objektiv zurechenbar, wenn der Täter durch seine Handlung ein rechtlich missbilligtes Risiko schafft, welches sich im konkreten Erfolg realisiert. Vorsatz/Eventualvorsatz: Vorsatz ist der bei Begehung der Tat vorliegende Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis all seiner Tatumstände. Der Vorsatz setzt sich also aus einem Willens- und einem Wissenselement zusammen. Der Eventualvorsatz stellt die schwächste Form der geistigen Beziehung zu einer Tat dar. Er liegt dann vor, wenn es der Täter ernsthaft für möglich hält, dass sein Verhalten einen Straftatbestand verwirklichen wird, und sich damit billigend abfindet. Garantenstellung: Wegen Unterlassens ist im Rahmen der unechten Unterlassungsdelikte (§ 13 StGB) nur derjenige strafbar, der als Garant eine

Schutzpflicht für das betroffene Rechtsgut hat. Man unterscheidet zwischen Beschützergaranten, die ein bestimmtes Rechtsgut schützen müssen (zum Beispiel Eltern die Gesundheit ihrer Kinder) und Überwachergaranten, die eine bestimmte Gefahrenquelle zu überwachen haben (zum Beispiel der Besitzer eines Kampfhundes). Notwehrlage: Auf Notwehr (§ 32 StGB) kann sich berufen, wer von einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff betroffen wird. Ein Angriff ist eine unmittelbare Bedrohung rechtlich geschützter Güter und Interessen. Rechtswidrig ist ein Angriff dann, wenn er objektiv die Rechtsordnung verletzt. Gegenwärtig ist der Angriff, wenn er unmittelbar bevorsteht, bereits stattfindet oder noch andauert. Tatbestand des Versuchs: Aus dem Wortlaut des § 22 StGB folgt zwingend, dass sich die Reihenfolge der Prüfung von objektivem und subjektivem Tatbestand umkehrt. Zunächst ist subjektiv zu prüfen, welche Vorstellung der Täter von seiner Tat hatte (= Tatentschluss). Erst dann sind seine objektiven Handlungen nach dem Maßstab des unmittelbaren Ansetzens zur Tatbestandsverwirklichung zu prüfen. Fehlgehender, unbeendeter und beendeter Versuch: Ein fehlgehender Versuch liegt vor, wenn der Täter mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Tat (im Sinne tatsächlicher Unmöglichkeit) nicht mehr verwirklichen kann. Von einem solchen Versuch kann nicht zurückgetreten werden. Ein unbeendeter Versuch liegt vor, wenn nach dem Vorstellungsbild des Täters noch nicht alles Mögliche und Erforderliche getan worden ist, um die Tat zu vollenden. Von einem solchen Versuch kann der Täter durch Aufgeben der Tat zurücktreten. Ein beendeter Versuch liegt dann vor, wenn sich der Täter vorstellt, alles Erforderliche für die Tatvollendung getan zu haben und den Erfolgseintritt für möglich hält. In diesem Fall kann der Täter nur dadurch von der Tat zurücktreten, indem er den Erfolgseintritt verhindert.

Strafrecht Allgemeiner Teil für Dummies Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2. Auflage 2023 © 2023 WILEY-VCH GmbH, Boschstraße 12, 69469 Weinheim, Germany Wiley, the Wiley logo, Für Dummies, the Dummies Man logo, and related trademarks and trade dress are trademarks or registered trademarks of John Wiley & Sons, Inc. and/or its affiliates, in the United States and other countries. Used by permission. Wiley, die Bezeichnung »Für Dummies«, das Dummies-MannLogo und darauf bezogene Gestaltungen sind Marken oder eingetragene Marken von John Wiley & Sons, Inc., USA, Deutschland und in anderen Ländern. Das vorliegende Werk wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autoren und Verlag für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisen und Ratschlägen sowie eventuelle Druckfehler keine Haftung. Coverfoto: © Gina Sanders – stock.adobe.com

Korrektur: Dr. Johanna Rupp, Walldorf Print ISBN: 978-3-527-72071-2

ePub ISBN: 978-3-527-84242-1

Über den Autor Felix Herzog (Jg. 1959) wurde 1992 als seinerzeit jüngster Professor seines Fachs an die Juristische Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin berufen. Er ist damit seit 25 Jahren in der strafrechtlichen Lehre und Forschung aktiv. In dieser Zeit hat er zahlreiche Aufsätze und Bücher veröffentlicht und Vorträge im Inund Ausland gehalten. Nach dem Wechsel an die Universität Bremen 2005 war Felix Herzog mehrere Jahre stellvertretender Vorsitzender des Justizprüfungsamtes. Er ist somit mit den Anforderungen und Maßstäben von Prüfungen bestens vertraut. Die Lehrveranstaltungen von Felix Herzog sind all die Jahre in den studentischen Evaluationen immer mit Höchstnoten ausgezeichnet worden.

Inhaltsverzeichnis Cover Titelblatt Impressum Über den Autor Über dieses Buch Begriffe, die in diesem Buch verwendet werden Konventionen in diesem Buch Was Sie nicht lesen müssen Törichte Annahmen über den Leser Wie dieses Buch aufgebaut ist Wie es weitergeht

Teil I: Wichtige Grundlagen des Strafrechts Kapitel 1: Die Begründung und Wirkungsweise von Strafrecht und Strafe Das Verhältnis von Zivilrecht, Öffentlichem Recht und Strafrecht Der Kern des Strafrechts Die Begründung und Wirkungsweise der Strafe

Kapitel 2: Begrenzungen des Strafrechts Das Gesetzlichkeitsprinzip (nullum crimen, nulla poena sine lege) Verfassungsrechtliche Grenzen des Strafrechts Prinzipien eines fairen Strafverfahrens

Kapitel 3: Das Straftatsystem – die Vorgehensweise bei der Prüfung von Strafrechtsfällen Die Struktur des Straftatsystems Die Tatbestandsmäßigkeit

Die Rechtswidrigkeit Die Schuld Exkurs: Die Strafe bei mehreren Straftaten – Konkurrenzen

Teil II: Die Elemente des Tatbestandes: Handlung, Erfolg, Zurechnung, Vorsatz Kapitel 4: Der objektive Tatbestand – Einstiegsvoraussetzung: Handlung Der wissenschaftliche Streit um den Handlungsbegriff Gesicherte Fallgruppen des Nichthandelns Grenzfall: Automatisierte Handlungsweisen

Kapitel 5: Die Feststellung des tatbestandsmäßigen Erfolgs Die Beweismittel vor Gericht, Beweiswürdigung und Urteilsfindung Die Auslegung des Strafgesetzes und seine Grenzen

Kapitel 6: Ursache und Wirkung – Handlung und Erfolg (Kausalität) Prüfung der Kausalität Die Bedingungs- oder Äquivalenztheorie »Kranke Fälle« der Kausalität

Kapitel 7: Die Lehre von der objektiven Zurechnung Der Kerngedanke der objektiven Zurechnung – Überschreitung des erlaubten Risikos Risikozusammenhang: Riskante Handlung und Erfolg Fallgruppen des Ausschlusses der objektiven Zurechnung

Kapitel 8: »Nichtstun« als strafbares Verhalten – die Unterlassungsdelikte Der Unterschied von echten und unechten Unterlassungsdelikten Die Garantenstellung

Kapitel 9: Der objektive Tatbestand der Unterlassungsdelikte Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen Die »Ursächlichkeit« des Unterlassens Die physisch-reale Möglichkeit zu einer Rettungshandlung Die Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen

Kapitel 10: Der subjektive Tatbestand strafbaren Verhaltens – Vorsatz Die beiden Elemente des Vorsatzes: Wissen und Wollen Die Grade des Vorsatzes Bedingter Vorsatz (dolus eventualis) oder bewusste Fahrlässigkeit (luxuria) Die Absicht als »überschießende Innentendenz«

Teil III: Strafbarkeit bei Verletzung von Sorgfaltspflichten – Fahrlässigkeit Kapitel 11: Die Bestrafung von fahrlässigem Verhalten Die Vorsatztat als Regelfall, die Fahrlässigkeitstat als Sonderfall strafbaren Verhaltens Die Unterschiede von Vorsatzunrecht und Fahrlässigkeitsunrecht Grade der Fahrlässigkeit Das Wesen des Fahrlässigkeitsunrechts

Kapitel 12: Felder fahrlässigen Verhaltens: Medizin und Straßenverkehr Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Behandlungsfehler in der Medizin Gefahrenzone Straßenverkehr

Teil IV: Rechtfertigung/Keine Strafe ohne Schuld Kapitel 13: Grundgedanken und Konstellationen der Rechtfertigung Grundgedanke der Rechtfertigung

Rechtfertigungsgründe im BGB Rechtfertigungsgründe in der Strafprozessordnung und im Polizeirecht

Kapitel 14: Voraussetzungen und Grenzen der Notwehr (§ 32 StGB) Die Notwehrlage Zulässige Verteidigungshandlungen (Sozialethische) Einschränkungen des Notwehrrechts Überschreitung der Notwehr – Notwehrexzess (§ 33 StGB)

Kapitel 15: Rechtfertigung in Notstandslagen Die Notstandslage in § 34 StGB Zulässige Notstandshandlungen Abwägung/Angemessenheit

Kapitel 16: Einwilligung in die Verletzung Zulässigkeit der Einwilligung und ihre Grenzen Drei Beispielsfelder: Einwilligung in Medizin, Sport und Sex

Kapitel 17: Irrtümer über die Rechtfertigung Der Erlaubnis(grenz)irrtum Der Erlaubnistatbestandsirrtum

Kapitel 18: Keine Strafe ohne Schuld Schuld als Vorwerfbarkeit Defizite der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit Vorsätzliche Herbeiführung der Schuldunfähigkeit – actio libera in causa Fehlende Verbotskenntnis (Verbotsirrtum) Sogenannte Gewissenstäter Handeln in Lagen außergewöhnlicher Bedrängnis Irrtum über Entschuldigungsgründe

Teil V: Täterschaft und Teilnahme Kapitel 19: Die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme

Abgrenzung nach der Willensbeziehung zur Tat (subjektive Theorie) Abgrenzung nach der Rolle im Geschehensablauf (Tatherrschaft)

Kapitel 20: Mittelbare Täterschaft und Mittäterschaft Der mittelbare Täter – ein Marionettenspieler Der Mittäter – auf gute Zusammenarbeit

Kapitel 21: Anstiftung Das Bestimmen einer anderen Person zur Tat Aufstiftung, Abstiftung und Umstiftung Der Doppelvorsatz des Anstifters

Kapitel 22: Beihilfe Keine Beihilfe ohne vorsätzliche rechtswidrige Haupttat Die Hilfeleistung Der doppelte Gehilfenvorsatz

Kapitel 23: Irrtümer im Rahmen der Tatbeteiligung Der »error in persona« des angestifteten Täters Irrtümer des mittelbaren Täters

Teil VI: Versuch und Rücktritt vom Versuch Kapitel 24: Stadien einer Straftat und Voraussetzungen eines strafbaren Versuchs Die Strafbarkeit des versuchten Verbrechens Idee – Entschluss – Vorbereitung – Versuch Die Voraussetzungen des strafbaren Versuchs Versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen

Kapitel 25: Der Rücktritt vom Versuch Der fehlgeschlagene Versuch Der Rücktritt vom unbeendeten Versuch Der Rücktritt vom beendeten Versuch Rücktritt bei fehlender Verhinderungskausalität

Besonderer Fall: Rücktritt bei mehraktigem Geschehen Rücktritt vom Versuch bei mehreren Tatbeteiligten

Teil VII: Der Top-Ten-Teil Kapitel 26: Zehn Tipps, wie Sie eine Strafrechtsklausur bewältigen Schummeln Sie nicht Lesen Sie den Sachverhalt sehr sorgfältig Verwenden Sie einen Schmierzettel Erstellen Sie eine Lösungsskizze Haben Sie die Zeit im Blick Lassen Sie sich nach der Klausur nicht von Panik-Panthern irritieren Einsen und Zweien sind die Seltenheit im Jurastudium Schreiben Sie im Gutachtenstil Schauen Sie sich das nun folgende kurze Fallbeispiel an Üben Sie die Lösung von Fällen mit »Strafrecht Fälle und Schemata für Dummies«

Kapitel 27: Zehn wichtige Probleme aus dem Strafrecht Allgemeiner Teil Wenn es auf die Auslegung des Gesetzes ankommt – die Wortlautgrenze Wenn es auf den Ursachen-Wirkungs-Zusammenhang ankommt – Kausalität und objektive Zurechnung Wann ein Täter die Tat mit Eventualvorsatz begeht Wann Unachtsamkeit zur Bestrafung wegen Fahrlässigkeit führt Wann man berechtigt ist, sich gegen einen Angriff zu wehren Wann der Versuch einer Straftat beginnt Wann und wie man von dem Versuch einer Straftat zurücktreten kann Wann man Täter und wann man Teilnehmer einer Straftat ist

Wann und wie man als mittelbarer Täter einen anderen Menschen zu seinem Werkzeug machen kann Wann man keine Schuld an einer Straftat hat

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Über dieses Buch Sie haben sich entschlossen, dieses Buch als Einführung in den Allgemeinen Teil des Strafrechts zu wählen. Das freut mich sehr! Es gibt unzählige Lehrbücher zu den Grundlagen (also zum Allgemeinen Teil) des Strafrechts. Einige haben einen Umfang von 200 Seiten, andere umfassen zwei Bände und weit über 1000 Seiten. Manche darunter halte ich für gut oder sehr gut, andere würde ich nicht empfehlen. Es ist aber natürlich immer eine Frage der Chemie zwischen einem Buch und seinem Leser, mit welcher Art von Darstellung Sie am besten arbeiten können. Sicher kann Strafrecht Allgemeiner Teil für Dummies kein großes Lehrbuch ersetzen. Aber fast alles, was Sie dort ausführlich und unter Darstellung aller hierzu vertretenen wissenschaftlichen Theorien dargestellt finden, wird auch in diesem Buch als Problem aufgegriffen und mit einem Lösungsvorschlag versehen. Mit diesem Buch verfolge ich das Ziel, alle wesentlichen Probleme des Strafrechts Allgemeiner Teil in anschaulicher und einprägsamer Weise zu präsentieren, Schneisen durch den Theoriendschungel zu schlagen, Wege zu einer angemessenen und vertretbaren argumentativen Bearbeitung und Lösung von Problemen aufzuzeigen. Beim Strafrecht geht es zunächst einmal um die grundlegenden Fragen: Was darf überhaupt bestraft werden? Was ist eine gerechte Strafe? Welche Wirkungen darf man von der Bestrafung auf den Täter und die Gesellschaft erwarten?

Auf der nächsten Ebene der Problembehandlung geht es um die einzelnen Schritte der Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit: Wenn Sie auf eine Rechtsgüterverletzung mit Strafe reagieren, müssen Sie sich ernste Gedanken darüber machen, wer überhaupt als der Verursacher einer Verletzung anzusehen ist. Es macht einen Unterschied, ob jemand einen anderen Menschen mit Vorsatz verletzt hat oder ob ihm die Verletzung nur fahrlässig unterlaufen ist. Es macht auch einen Unterschied, ob jemand einen anderen Menschen ertränkt oder unbeteiligt zusieht, wie er ertrinkt. Das eine nennt man ein Tun, das andere ein Unterlassen. Für die Strafbarkeit des Unterlassens gelten besondere, differenzierte Regeln. Eine wichtige und schwierige Konstellation im Strafrecht ist das Recht, sich gegen rechtswidrige Angriffe zu verteidigen (Notwehr, § 32 StGB). Das Strafrecht regelt auch Ihre Rechte bei der Abwehr von Gefahren (Notstand, § 34 StGB). aIm Strafrecht ist es wie im wirklichen Leben: In allen möglichen Zusammenhängen irren sich Menschen, erliegen Missverständnissen und glauben etwas zu tun, das nicht der Realität entspricht. Das ist folgenreich für die strafrechtliche Verantwortlichkeit. Die Verhängung von Strafe setzt nach dem obersten Prinzip des Strafrechts Schuld voraus. Die Schuld wird als eine vorwerfbare Entscheidung gegen das Recht unter der Option, sich rechtstreu zu verhalten (Anders-handeln-Können), definiert. Dies ist ein sehr voraussetzungsreiches Problemfeld. Das Strafrecht hat es natürlich nicht nur mit einzelnen Tätern zu tun, sondern das Gesetz beschreibt eine Reihe von unterschiedlichen Rollen bei Straftaten: So gibt es mittelbare Täter und Mittäter, Anstifter und Gehilfen. In diesem Geflecht entstehen viele schwierige Fragen der Rechtsanwendung.

Schließlich sind in vielen Fällen Straftäter gar nicht mit ihrer Tat erfolgreich; sie haben die Tat dann nur versucht. Häufig ist der Versuch einer Straftat bereits strafbar. In einer Situation, in der es nicht zum Erfolg der Straftat gekommen ist, ermöglicht das Gesetz aber auch einen strafbefreienden Rücktritt vom Versuch. Der Versuch und der Rücktritt vom Versuch sind vielschichtige Problemfelder des Allgemeinen Teils mit zuweilen überraschenden Rechtsregeln. Der Allgemeine Teil des Strafrechts ist gerade in Deutschland mit enormer Gründlichkeit und viel Liebe zum Detail von der Wissenschaft und den Gerichten geformt und durchdacht worden. Unter den Jura-Studierenden hierzulande gilt dieser Stoff als die erste große Herausforderung für das juristische Denken im Studium. Die Klausuren und Hausarbeiten Strafrecht Allgemeiner Teil werden oft als kolossale Denksportaufgaben wahrgenommen und treiben den Studierenden die Schweißperlen auf die Stirn. Das muss nicht sein! Mit Strafrecht Allgemeiner Teil für Dummies haben Sie einerseits ein Nachschlagewerk für alle wichtigen Fragen zur Hand, andererseits möchte ich Ihnen empfehlen, einmal das ganze Buch von vorne bis hinten durchzulesen. Das Strafrecht behandelt in seinem Allgemeinen Teil alle grundlegenden Fragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in einer sachlogischen Ordnung. Diese Ordnung prägt die Struktur und Gliederung der von Ihnen anzufertigenden Falllösungen bis ins Detail. Wenn Sie sich in dieser Ordnung auskennen, dann können Sie die Einzelprobleme auf den richtigen Ebenen unterbringen und die Zusammenhänge erkennen. Die Übungsarbeiten im Studium werden Ihnen viel leichter fallen. Ich habe versucht, die komplexe Materie und die Fälle aus der Rechtsprechung mit einer gewissen Leichtigkeit und Ironie darzustellen. Ohne den Wert der Wissenschaft herabsetzen zu wollen, kann man sagen, dass die Wirklichkeit des Rechts von der

Rechtsprechung geprägt wird. Sie werden deswegen in diesem Buch zahlreiche Fälle und Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) in Strafsachen finden, denn ich habe mich oft an den dort vorgeschlagenen Problemlösungen orientiert. Ich möchte Ihnen für dieses Buch und überhaupt für das gesamte Jura-Studium empfehlen, häufig Entscheidungen der höchsten Gerichte zu lesen. Mein herzlicher Dank für ihre Hilfe und Anregungen gilt Shirin Dirks, Mohamad El-Ghazi und Patrique-Robert Noetzel. Bei der 2. Auflage hat mich meine Mitarbeiterin Selma Sarilmaz tatkräftig unterstützt.

Begriffe, die in diesem Buch verwendet werden Das Lektorat des Verlags (danke, Frau Neuendorf!) hat mich schon früh und mit freundlichem Nachdruck davon abgehalten, allzu häufig ins Juristendeutsch zu verfallen. Dabei gehen keine Inhalte verloren, sondern sie werden häufig sogar deutlicher. Sie müssen sich also keine Sorgen machen: Wenn in diesem Buch die Leitgedanken von bestimmten Theorien viel einfacher formuliert sind, als Sie das aus einem anderen Lehrbuch kennen, habe ich nichts vereinfacht. Nur wenn es auf eine Formulierung »genau so« ankommt oder wenn es sich um eine feststehende Formel aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung handelt, habe ich mich genau daran gehalten. An einigen Punkten dieses Buches war es unvermeidbar, Begriffe aus dem Juristenlatein zu verwenden. Ich führe diese Begriffe dann jeweils mit deutscher Übersetzung ein. Zuweilen ist es aber so, dass sich der lateinische Begriff als der Fachbegriff durchgesetzt hat und die deutsche Übersetzung kaum verwendet wird. Das habe ich dann kenntlich gemacht.

Dass dieses Buch in der Dummies-Reihe erscheint, bedeutet nicht, dass ich am intellektuellen Niveau und an der juristischargumentativen Qualität Abstriche gemacht hätte. Strafrecht Allgemeiner Teil für Dummies ist kein »Kinderbuch« über Strafrecht, sondern soll jedem Studierenden helfen, einen Weg durch den Dschungel der schwierigen Grundlagenfragen des Strafrechts zu finden. Es eignet sich deswegen sowohl für diejenigen, die im Dschungel verloren gegangen sind und Hilfe suchen, als auch für diejenigen, die sich gut zurechtfinden und sich die Wege noch einmal einprägen möchten. Aber vor allen Dingen auch für diejenigen, die zum ersten Mal den Dschungel betreten wollen.

Konventionen in diesem Buch Jeder Abschnitt in diesem Buch beginnt mit einer Vorstellung der wesentlichen Problemfelder, die sodann in den Kapiteln behandelt werden. Auch die Kapitel beginnen jeweils mit einer Einführung, in der die einzelnen Sektoren des Problemfelds vorgestellt werden. Sie können das Buch gezielt als Nachschlagewerk benutzen; dabei hilft Ihnen das Stichwortverzeichnis am Ende. Sinnvoll erscheint es mir jedoch, wenn Sie das Buch einmal im Zusammenhang durchgelesen haben, bevor Sie es in dieser Funktion benutzen. Um im Bild zu bleiben: Wenn Sie das Buch als Dschungelführer benutzen, ist ja nicht nur die Frage »Welche giftigen Schlangen gibt es im Dschungel?« entscheidend, sondern Sie möchten überhaupt die Gefahren des Dschungels kennenlernen. Im Strafrecht Allgemeiner Teil gibt es wegen der sachlogischen Zusammenhänge viele (zum Teil überraschende) Verknüpfungen zwischen den Themenbereichen. Immer wenn dies der Fall ist, finden Sie im Text einen Querverweis. Sie sollten diesen Verweisen nachgehen, um die Zusammenhänge zu verstehen.

Was Sie nicht lesen müssen Jeder Autor hat ein Konzept für sein Buch und möchte einen roten Faden durch den Text spannen. Es fällt mir deswegen schwer, Ihnen eine Empfehlung dafür zu geben, was Sie nicht lesen müssen. Die in diesem Buch dargestellten Probleme können nach meiner Erfahrung sämtlich in den Klausuren und Hausarbeiten im Strafrecht für Studienanfänger vorkommen und sind später erst recht Gegenstand von Prüfungen bis hin zum Staatsexamen. Wenn die Gerüchtelage ganz gesichert ist, dass bei Professor X nur Rechtfertigung drankommt, können Sie vielleicht das Wagnis eingehen, nur diesen Abschnitt zu lesen. Ich würde Ihnen von einem solchen »Mut zur Lücke« abraten.

Törichte Annahmen über den Leser Dieses Buch ist nicht nur wichtig für Studierende des Rechts an den Universitäten, sondern auch für Studierende an den Hochschulen der Polizei, die sich intensiv mit den strafrechtlichen Zusammenhängen ihres Dienstes befassen müssen, für die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, die mit strafrechtlichen Fragen in Berührung kommen, alle diejenigen Menschen (und das sind viele), die sich für das Strafrecht interessieren oder zuweilen darüber schimpfen, weil sie seine Funktionsweise nicht verstehen. Manche sind vielleicht auch einfach nur neugierig auf die zahlreichen Fälle aus der Praxis des Strafrechts, die in diesem Buch vorgestellt und gelöst werden. Auch ein gutes Motiv, dieses Buch zu kaufen, denn Sie werden sehen: In der

Wirklichkeit geschehen Dinge, die man sich kaum ausdenken könnte. Wie bereits erwähnt, ist dies kein Kinderbuch über Strafrecht Allgemeiner Teil. Ich werde Ihnen die Probleme nicht auf einem Sandkastenniveau erklären. Sie haben dieses Buch gekauft, um die Dinge noch einmal einfach und verständlich erklärt zu bekommen. Das kann unterschiedliche Gründe haben – und keiner davon bedeutet, dass Sie zu dumm sind, um das Strafrecht zu verstehen. Die wenigsten Menschen haben so etwas wie ein Naturtalent für juristisches Denken, Sprechen und schon gar nicht für Schreiben. »Juristisch« muss man wie eine – ziemlich komplizierte – Fremdsprache lernen, nicht nur Vokabeln, sondern ganze Argumentationsstrukturen. Juristisch Schreiben ist ein Prozess des Erlernens von Stil und Form, der sich über Jahre erstreckt.

Wie dieses Buch aufgebaut ist Strafrecht Allgemeiner Teil für Dummies umfasst sieben große Teile. Diese Teile behandeln jeweils ein Problemfeld und sind in Kapitel aufgeteilt, um die einzelnen Sektoren des Problemfelds zu markieren.

Teil I: Wichtige Grundlagen des Strafrechts Sie erfahren in diesem Teil, welchen Stellenwert und welche Aufgabe das Strafrecht in unserer Rechtsordnung hat. Die Anforderungen an die Begründung der Bestrafung von Menschen sind hoch. Es bestehen vielfältige Bezüge zum Verfassungsrecht. Sie müssen sich Gedanken darüber machen, was Sie mit Strafen bei den Bestraften und für die Gesellschaft bewirken wollen. Über die Verhängung von Strafe muss in fairen Verfahren verhandelt werden.

Zur Einhaltung der rechtsstaatlichen Garantien und zur Transparenz der Anwendung von Strafrecht gibt es feststehende Regeln für die Prüfung von Strafrechtsfällen. Die daraus folgende Ordnung nennt man das Straftatsystem. Ich zeige Ihnen, wie in den Schritten Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld geprüft wird, ob ein menschliches Verhalten strafrechtliche Verantwortlichkeit zur Folge hat. Ganz zum Schluss lernen Sie noch ein Problem aus der Praxis der Strafgerichte kennen. In der Realität von Kriminalität kommt es oft vor, dass im Rahmen eines Geschehens mehrere Tatbestände verwirklicht werden. Häufig sind vor Gericht auch mehrere getrennte, im Lauf der Zeit begangene Straftaten zusammen zu beurteilen. In unserer Rechtskultur werden dann nicht einfach die Strafen zusammengezählt, sondern die Straftaten werden nach bestimmten Regeln ins Verhältnis zueinander gesetzt, um eine Strafe zu bestimmen. Dies nennt man die »Konkurrenzen«.

Teil II: Die Elemente des Tatbestandes – Handlung, Erfolg, Zurechnung, Vorsatz Sie lernen, dass es auf der ersten Ebene des Straftatsystems (dem Tatbestand) zunächst darum geht, Geschehnisse auszuscheiden, in denen der Zufall und nicht ein bewusst handelnder Mensch am Werke war. Sodann stehen Sie vor der Frage, ob eine Handlung einen »Erfolg« bewirkt hat. Mit dem Begriff »Erfolg« wird im Strafrecht die Verwirklichung des Tatbestandes bezeichnet. Zwischen der Handlung und dem Erfolg muss ein Ursache-WirkungsZusammenhang bestehen. Im Regelfall können Sie diesen Zusammenhang mit einfachen gedanklichen Schritten begründen. Es gibt jedoch eine Reihe von Fällen, die aus dem Schema fallen.

Als einen besonderen Deliktstyp lernen Sie die Strafbarkeit wegen Unterlassens der Abwendung eines tatbestandsmäßigen Erfolges kennen. Schließlich geht es zum Schluss in Teil II darum, unter welchen Bedingungen Sie sagen können, dass sich ein Täter mit Vorsatz für eine Rechtsverletzung entschieden hat.

Teil III: Strafbarkeit bei Verletzung von Sorgfaltspflichten – Fahrlässigkeit Im Gegensatz zum Vorsatztäter hat sich der Täter beim Fahrlässigkeitsdelikt nicht für die Verletzung eines Rechtsguts entschieden. Er verletzt einen anderen Menschen wegen fehlender Achtsamkeit in seinen Handlungen. Sie werden sehen, dass nicht jeder Unfall auf der Baustelle oder im Straßenverkehr, nicht jede Fehlbehandlung im Krankenhaus mit Personenschäden ein Strafverfahren nach sich zieht. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für einen solchen Erfolg wird dem Täter nur dann auferlegt, wenn er Sorgfaltspflichten verletzt hat, wenn objektiv und subjektiv voraussehbar war, dass dies schlimme Folgen haben kann, und wenn diese Folgen bei entsprechender, ihm möglicher Sorgfalt vermeidbar gewesen wären. Dies erkläre ich Ihnen in Teil III an vielen Beispielen.

Teil IV: Rechtfertigung/Keine Strafe ohne Schuld Wer mit Vorsatz oder fahrlässig einen anderen Menschen verletzt hat, der hat den objektiven und subjektiven Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt. Bei der Fahrlässigkeit sind objektive Sorgfaltspflichten verletzt worden, die der Täter subjektiv erkennen konnte. Es droht ihm, für seine Tat strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Es kann aber sein, dass dieses Ergebnis auf der Ebene der Rechtswidrigkeit korrigiert

werden muss, weil die Person das Recht dazu hatte, den anderen zu verletzen. Rechtfertigungsgründe führen zu einem Unrechtsausschluss. Wer gerechtfertigt gehandelt hat, wird nicht bestraft, obwohl er den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht hat. Auf der Ebene der Schuld wird die Vorwerfbarkeit des Verhaltens behandelt. Nur wer für sein Verhalten etwas kann, verantwortlich ist, das Unrecht erkannt hat und nicht in einem unauflösbaren Konflikt zwischen den Verhaltensanforderungen des Rechts und einer bedrängenden Notstandslage stand, soll mit dem folgenreichen Vorwurf belegt werden, er habe sich schuldig gemacht. Schuld bedeutet, den Vorwurf des Anders-handelnKönnens und der fehlsamen Entscheidung für die Rechtsverletzung zu erheben.

Teil V – Täterschaft und Teilnahme In diesem Teil erhalten Sie einen Überblick, in welchen verschiedenen Rollen Menschen Täter oder Beteiligte einer Straftat sein können. Die Erfahrung lehrt, dass Straftaten oft aus gruppendynamischen Entwicklungen entstehen und in gruppendynamischen Zusammenhängen begangen werden. Menschen geben den Anstoß zu Straftaten anderer, Menschen unterstützen die Straftaten anderer, Menschen überlegen sich gemeinsam die Begehung einer Straftat und führen sie dann auch gemeinsam aus. Natürlich kann es dabei auch enorme Verwicklungen geben. In solchen Fallkonstellationen müssen Sie mit den recht kurzen Rollenbeschreibungen des StGB arbeiten und Sie müssen sich präzise auf eine Rolle festlegen, denn die Rollenzuweisung hat erhebliche Konsequenzen für die Bestrafung der jeweiligen Person. Wie Sie eine treffsichere Rollenzuweisung vornehmen, erfahren Sie in Teil V.

Teil VI: Versuch und Rücktritt vom Versuch

Sie haben bis zu diesem Punkt nur vollendete Straftaten kennengelernt. Der Täter hat eine Vorstellung davon, was er erreichen möchte, und es gelingt ihm, dies in die Tat umzusetzen. Häufig bleiben Taten aber auch im Versuch stecken. Das kann zum Beispiel darin liegen, dass der Täter ein untaugliches Mittel für die Tat benutzt. Die Strafbarkeit des Versuchs liegt darin begründet, dass der Täter immerhin die Vorstellung von einer Tat hatte und zu ihrer Verwirklichung angesetzt hat. Böse Gedanken alleine allerdings werden im Strafrecht ebenso wenig bestraft wie übersinnliche Tatversuche (»verhexen«). Sehr kompliziert ist die Regelung über den Rücktritt vom Versuch. Im Kern geht es darum, dass derjenige, der den Versuch aufgibt, eine strafaufhebende Rücktrittsmöglichkeit erhält. Worauf sich diese Vergünstigung stützt und unter welchen Voraussetzungen sie gewährt werden kann, werden Sie im zweiten Kapitel dieses Abschnitts kennenlernen.

Teil VII: Der Top-Ten-Teil In diesem Teil finden Sie zunächst wichtige Hinweise dazu, wie Sie erfolgreich eine Strafrechtsklausur bewältigen können. Es geht dabei um das richtige Zeitmanagement und die richtige Bearbeitungsstrategie. Schließlich zeige ich Ihnen noch ein Beispiel für die richtige Methode bei der Niederschrift Ihrer Lösung. Das Buch schließt mit den Top Ten der strafrechtlichen Probleme, mit denen Sie in einer Strafrechtsklausur rechnen müssen.

Symbole, die in diesem Buch verwendet werden In diesem Buch verwende ich einige der bekannten DummiesSymbole, um Sie auf wichtige Beispiele und Fälle, umstrittene Probleme, Warnungen und Hinweise sowie Definitionen aufmerksam zu machen.

Hier eine Übersicht: Das Symbol zeigt an, dass Sie sich diese Definition oder diesen Gedanken gut einprägen sollten. Mit diesem Symbol sind die zahlreichen Beispielfälle zu den jeweiligen Problemfeldern gekennzeichnet; in der Mehrzahl handelt es sich um Fälle und ihre Entscheidung aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Die Glühbirne macht Sie darauf aufmerksam, dass hier etwas »auf den Punkt« gebracht wird. Dieses Symbol soll Sie auf etwas besonders aufmerksam machen. Dieses Symbol markiert eine grundlegende juristische Streitfrage, die Konsequenzen für die Lösung eines Falls hat.

Wie es weitergeht Sie wissen ja – ich bin der Meinung, dass Sie dieses Buch zunächst einmal durchlesen und dann erst als Nachschlagewerk benutzen sollten. Sie können aber natürlich erst einmal reinschnuppern und den einen oder anderen Fall lesen. Wenn Sie jedoch jetzt gerade dringend eine Frage klären müssen, hilft Ihnen das Stichwortverzeichnis am Ende. Ohne ein aktuelles Strafgesetzbuch in gedruckter Form oder ohne Nachschlagen der gesetzlichen Regelungen des StGB im Internet kommen Sie mit der Lektüre nicht voran. Alle Entscheidungen, die

in diesem Buch zitiert werden, finden Sie durch Eingabe der Fundstelle bei Google.

Teil I

Wichtige Grundlagen des Strafrechts



IN DIESEM TEIL … Sie erfahren in diesem Teil, welchen Stellenwert und welche soziale Aufgabe das Strafrecht in unserer Rechtsordnung einnimmt. Daraus ergeben sich besondere Anforderungen an die Begründung der Bestrafung von Menschen. Der Einsatz von Strafrecht muss eine verhältnismäßige und angemessene Reaktion auf die Verletzung elementarer Interessen und Rechte sein. Unverzichtbar für eine rechtsstaatliche Umsetzung des Strafrechts auf den Fall ist ein Strafverfahrensrecht mit schützenden Formen und Prinzipien. Zur Einhaltung der rechtsstaatlichen Garantien und zur Transparenz der Anwendung von Strafrecht ist es wichtig, dass die Prüfung von Strafrechtsfällen einer bestimmten Ordnung folgt. Innerhalb dieser Ordnung müssen die Argumente eine bestimmte Form und Qualität besitzen. Diese Ordnung nennt man das Straftatsystem. In den Schritten Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld wird geprüft, ob ein menschliches Verhalten strafrechtliche Verantwortlichkeit zur Folge hat.

Kapitel 1

Die Begründung und Wirkungsweise von Strafrecht und Strafe IN DIESEM KAPITEL Das Verhältnis von Zivilrecht, Öffentlichem Recht und Strafrecht Die Kernaufgabe des Strafrechts Die unterschiedlichen Begründungen für die Bestrafung von Menschen

Strafrecht gilt als ein hervorgehobenes Rechtsgebiet im Dreiklang der großen Rechtsgebiete Zivilrecht, Öffentliches Recht und Strafrecht. Nirgends sonst darf der Staat mit einer solchen Härte in das Leben einer Bürgerin oder eines Bürgers eingreifen. Menschen können zur Fahndung ausgeschrieben und weltweit »gejagt« werden, sie können eingesperrt werden, um ihre Teilnahme an der Gerichtsverhandlung zu sichern, und am Ende kann ein langjähriger Aufenthalt im Gefängnis stehen. Es hat sich deshalb das geflügelte Wort eingebürgert, dass das Strafrecht das »schärfste Schwert des Staates« ist.

Das Verhältnis von Zivilrecht, Öffentlichem Recht und

Strafrecht Wenn sich Menschen zum ersten Mal mit dem Recht beschäftigen, denken sie oft, dass das Strafrecht das wichtigste Rechtsgebiet überhaupt ist. In den Medien spielen Strafrechtsfälle eine große Rolle. In der juristischen Ausbildung dagegen ist das Strafrecht nur eines von mehreren Gebieten und in der Lebenswirklichkeit spielen andere Rechtsgebiete eine deutlich wichtigere Rolle. Ich möchte Ihnen zunächst kurz die drei großen Rechtsgebiete vorstellen.

Zivilrecht Das Zivilrecht betrifft das Verhältnis und die Verpflichtungen der Menschen untereinander. Juristisch spricht man insofern auch von einem Gleichordnungsverhältnis. Natürlich halten sich auch hier Menschen nicht an die Rechtsordnung, verletzen Regeln und suchen ihren Vorteil zum Nachteil von anderen Menschen. Aber sie stellen nicht infrage, dass andere Menschen die gleichen Rechte wie sie selbst haben, und sind bereit, die Entscheidung eines Gerichts über ihren Konflikt zu akzeptieren. Nach den ersten Herbststürmen stellt Kurt fest, dass sein Dach undicht ist. Er beauftragt Dachdecker Schmidt, das Dach zu reparieren. Diese Arbeit wird von Schmidt umgehend durchgeführt. Beim nächsten Sturm tropft es erneut durch die Decke. Kurt ist der Meinung, dass Schmidt die Arbeit mangelhaft durchgeführt hat. Schmidt fühlt sich in seiner Dachdeckerehre gekränkt und bestreitet dies vehement. Da die beiden sich nicht gütlich einigen können, wird letztlich ein Gericht klären müssen, ob und in welcher Form Schmidt nachbessern muss.

Nach dem Tod von Max stellen seine drei Kinder entsetzt fest, dass ihr Vater wenige Tage vor seinem Tod sein ganzes Vermögen der Haushälterin Ursula als Dank für die Betreuung »überschrieben« hat. Ursula ist der Meinung, dass sie das auch verdient hat, und zu keinerlei Aussprache mit den Kindern bereit. Da durch den Tod von Max der sogenannte Erbfall eingetreten ist, wird letztlich ein Gericht zu klären haben, ob Max kurz vor seinem Tod und in dieser Weise über sein Vermögen verfügen konnte. Petra und Klaus haben für ihre Hochzeitsreise zehn Tage ein Zimmer in einem Fünf-Sterne-Hotel auf Korsika gebucht. Als sie dort eintreffen, stellen sie fest, dass gerade circa 70 der 120 Zimmer unter großem Lärm und Staub renoviert werden, dass der Swimmingpool leer ist und dass aus den Wasserhähnen eine rostige, nach Chlor riechende Brühe kommt. Die beiden wollen sofort in ein angemessenes Ersatzhotel umquartiert werden. Der örtliche Vertreter der Reisegesellschaft bietet eine einmalige »Entschädigung« von 100 Euro an und erklärt das Gespräch für beendet. Hier werden sich Petra und Klaus letztlich nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub – vielleicht sogar vor Gericht – weiter mit der Reisegesellschaft streiten müssen. Gerichtliche Entscheidungen in Zivilsachen können gegebenenfalls mit staatlicher Gewalt durchgesetzt werden (Zwangsvollstreckung, Gerichtsvollzieher), Gerichte können auch klare Worte über das Verhalten der Beteiligten an einem Rechtsstreit finden und die finanziellen Folgen für die unterlegene Partei können erheblich sein – es geht aber dabei nicht darum, dass einer Person für ihr Verhalten eine staatliche Strafe droht, sondern um Vertragserfüllung, Nachbesserung, Schadensersatz, die Herstellung der gesetzlichen Erbfolge und so weiter.

Öffentliches Recht Das Öffentliche Recht regelt die Rechte und Pflichten im Verhältnis zwischen Mensch und Staat. Juristisch spricht man auch vom Über-Unterordnungsverhältnis. Das Öffentliche Recht bestimmt für unzählige Bereiche des Lebens gesetzliche Vorgaben, die das Verhältnis der Menschen zur staatlichen Ordnung und die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander betreffen. Man könnte vereinfacht auch sagen, dass das Öffentliche Recht im Kern die öffentliche Sicherheit und das geordnete Leben betrifft. Wiederum drei Beispiele: Kurt hat ein Grundstück im Zentrum von Mannheim erworben. Er möchte dort die Zentrale seines ITUnternehmens errichten. Dafür hat er einen avantgardistischen Architekten gewinnen können. Entsprechend dem Namen seines Unternehmens »Giant Rock« soll das Gebäude mit zerklüfteter Fassade circa 48 Meter hoch die Mannheimer Innenstadt überragen. Die örtliche Baubehörde verweigert unter Hinweis auf ihre Verpflichtung zur Erhaltung der einheitlichen städtebaulichen Erscheinung der Innenstadt eine Baugenehmigung. Kurt möchte das nicht auf sich sitzen lassen und führt seit mehreren Wochen eine »Mahnwache« gegen Behördenwillkür auf der Eingangstreppe der Baubehörde durch. Aufforderungen, diese Mahnwache nicht im Zugangsbereich durchzuführen und dadurch den Publikumsverkehr zu erschweren, kommt Kurt nicht nach. Schließlich ruft der Behördenleiter die Polizei zu Hilfe. Die Polizei erteilt Kurt einen Platzverweis.

Zurückgekehrt zu seinem – im Halteverbot geparkten – Auto, stellt Kurt fest, dass eine Angestellte der städtischen Verkehrsüberwachung gerade dabei ist, ein Abschleppunternehmen zu bestellen. Neben einem Bußgeld von 60 Euro für das Falschparken soll Kurt für diesen Anruf eine Verwaltungsgebühr von 28 Euro zahlen. Gegen Entscheidungen von Behörden kann ein betroffener Mensch Widerspruch einlegen und letztlich auch den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten beschreiten. Das gilt auch für solche Entscheidungen wie zum Beispiel eine polizeiliche Maßnahme, die sofort vollstreckt werden. Hier kann der Betroffene in Nachhinein klären lassen, ob die Staatsgewalt unter Beachtung von Recht und Gesetz gehandelt hat. Behörden können auch Regelverstöße mit Bußgeldern belegen und ihre Entscheidungen mit Zwang durchsetzen. Auch hier gilt jedoch, dass am Ende dieser Verfahren niemals eine Strafe, schon gar nicht eine Freiheitsstrafe, stehen kann.

Strafrecht Das Strafrecht ist ein Teilbereich des Öffentlichen Rechts. Das heißt, auch im Strafrecht ist das Über-Unterordnungsverhältnis zwischen Staat und Mensch betroffen. Das Strafrecht bildet die Summe der Rechtsnormen, die für ein Verhalten, das in besonderer Weise sozialschädlich und für das Zusammenleben der Menschen unerträglich ist, Strafe und/oder sonstige im StGB vorgesehene Maßnahmen (wie die Sicherungsverwahrung) androhen.

Der Kern des Strafrechts Im Kern des Strafrechts geht es um Anerkennung, Respekt und die Ächtung von Gewalt in zwischenmenschlichen Beziehungen.

Für diesen Kernbereich des Strafrechts werden Sie auch häufig den Begriff »Rechtsgüterschutz« finden. Andere benutzen den Begriff »elementare Werte des Gemeinschaftslebens«. Zuweilen ist auch vom »sozialethischen Minimum« die Rede. Gemeinsam ist allen Diskussionen um den richtigen Begriff für den Kernbereich des Strafrechts, dass der Staat nicht einfach alles das, was ihm nicht passt, unter Strafe stellen darf. Vielmehr muss er das Strafrecht als »schärfstes Schwert des Staates« mit Bedacht und Maß benutzen. Strafrecht ist ultima ratio, ist das letzte verfügbare Mittel, um Rechte der Menschen und Belange der Allgemeinheit zu schützen. Darauf werden wir bei den verfassungsrechtlichen Grenzen des Strafrechts (Kapitel 2) zurückkommen. Doch zunächst drei »klare« Fälle: Anton verachtet Fans des Hamburger SV. Als er dem Hamburger Fan Bert auf dem Bahnhofsvorplatz begegnet, reißt er ihm den Fan-Schal vom Hals. Als Bert protestiert, schlägt ihm Anton mit den Worten »Halt's Maul, du Arschloch« mit der Faust ins Gesicht. Kurt hat sich wahnsinnig über seinen Chef Max geärgert. Aus Rache lockert er die Radmuttern an dessen Auto. Auf dem Heimweg verliert Max deswegen die Kontrolle über das Fahrzeug und fährt in den Straßengraben. Max wird erheblich verletzt, das Auto erleidet einen Totalschaden.

Die alleinerziehende Mutter Karin hat eine 11-jährige Tochter Sarah. Zwischen ihrem Freund Peter und Sarah entwickelt sich eine sehr enge Beziehung. Als Karin eines Tages von der Arbeit nach Hause kommt, hört sie aus dem Badezimmer quietschende Geräusche. Sie erwischt Peter und Sarah nackt in der Badewanne. Peter ist sichtbar sexuell erregt. Und nun drei »unklare« Fälle. Wie ist es damit? Die 15-jährige Christine gibt sich in Internet-Chat-Rooms als »Heisse_Simone19« aus und chattet mit anderen Teilnehmern über sexuelle Themen. Der 22-jährige Ralf verabredet sich mit »Simone« für eine Live-Begegnung. Obwohl sie ihm für 19 Jahre reichlich jung vorkommt, verdrängt er diesen Gedanken und hat mit ihr einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Kurt ist immer noch voller Ärger über seinen Chef Max und sinnt auf Rache. Da kommt ihm die Idee, ein Bestattungsunternehmen zum Haus von Max zu bestellen. Als es dort an der Tür klingelt, stehen vor Max zwei Männer von der Pietät und auf der Straße ein Leichenwagen. Bert verkauft über eBay minderwertige Handtaschen mit Chanel-Symbol für einen Preis von 79 Euro. Der Einkaufspreis beträgt knapp 7 Euro. In der Warenbezeichnung heißt es »Stylebag Chanel-Type« Auf dem Foto ist gut erkennbar, dass es sich um ein schlecht verarbeitetes Produkt aus Plastik handelt. Nadine kauft eine solche Tasche und ist höchst erbost. Sie zeigt Bert wegen Betruges an.

Das Bundesverfassungsgericht führt in ständiger Rechtsprechung (zuletzt eindringlich in BVerfGE 133, 168 [198]) zum Wesen und der Aufgabe der Strafe aus: »Die Strafe muss in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen. In diesem Sinne hat die Strafe die Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein … Die Strafe ist im Gegensatz zur reinen Präventionsmaßnahme dadurch gekennzeichnet, dass sie − wenn nicht ausschließlich, so doch auch − auf gerechte Vergeltung für ein rechtlich verbotenes Verhalten abzielt. Mit der Strafe wird dem Täter ein sozialethisches Fehlverhalten vorgeworfen«. Nähern Sie sich mit diesen bedeutungsschweren Begriffen – Gerechtigkeit, Schuld, Vergeltung und Vorwurf – einmal den gerade vorgestellten Fällen an. Müssten bei Ihnen nicht in dem einen oder anderen Fall Zweifel daran entstehen, ob und in welchen Grenzen eine Strafe »verdient« ist? Wir kommen darauf in Kapitel 2 zurück. Zuvor möchte ich jedoch diese Begriffe in einer anderen Weise aufgreifen. Schuld – Vergeltung – Prävention bezeichnen zugleich den Kern einer seit Jahrhunderten geführten juristischen und philosophischen Debatte mit dem Namen »Straftheorien«.

Die Begründung und Wirkungsweise der Strafe Für das Verständnis des Rechts müssen Sie nicht Latein können, aber da unsere Rechtsordnung auf eine sehr lange Tradition zurückblickt und wichtige Wurzeln im alten Rom liegen, macht es zuweilen Sinn, einen Gedanken einmal im Original zu präsentieren. Sie können daran auch sehen, dass es im Recht oft um ewige Menschheitsfragen zur Gerechtigkeit und damit um

philosophische Grundfragen geht. In seinen Betrachtungen über den Zorn (De Ira) hat der römische Philosoph Seneca (* etwa im Jahre 1 vor Christus; † 65 nach Christus) vor über 2000 Jahren unter Berufung auf den griechischen Philosophen Platon die beiden Grundpositionen bezeichnet, die noch heute in der Debatte über Sinn und Zweck der Strafe vertreten werden: Nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur. Kein kluger Mensch straft, weil gefehlt worden ist, sondern damit nicht gefehlt werde, so Seneca. Modern gesprochen: Strafe soll nicht rückwärtsgewandt der Vergeltung dienen, sondern vorwärtsblickend künftigen Rechtsverletzungen vorbeugen. In der feststehenden begrifflichen Einteilung der strafrechtswissenschaftlichen Debatte geht es damit um die Unterscheidung von absoluten und relativen Straftheorien.

Strafrecht als Vergeltung von Unrecht (absolute Theorien) In seiner grundlegendsten Form findet sich der Vergeltungsgedanke bereits im alttestamentarischen Gedanken der spiegelnden Bestrafung des Verbrechers (Talionsprinzip). Im 3. Buch Mose, Kapitel 24, Vers 17–21 heißt es: »17 Wer irgendeinen Menschen erschlägt, der soll des Todes sterben. (2. Mose 21.12) 18 Wer aber ein Vieh erschlägt, der soll‘s bezahlen, Leib um Leib. 19 Und wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat, (2. Mose 21.23–25) 20 Schade um Schade, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie er hat einen Menschen verletzt, so soll man ihm wieder tun. 21 Also dass, wer ein Vieh

erschlägt, der soll‘s bezahlen; wer aber einen Menschen erschlägt, der soll sterben.« Auch wenn Ihnen das auf den ersten Blick martialisch erscheinen mag und die Todesstrafe nicht mehr unserem humanistischen Verständnis entspricht, sollten Sie wissen, dass in diesem biblischen Gesetz bereits eine Strafbegrenzung enthalten ist. Zuvor hatten Rechtsverletzungen zu unendlichen Fehden und völlig unverhältnismäßigen Reaktionen geführt. Mit dem Talionsprinzip ist allgemein formuliert klargestellt: Es muss eine Verhältnismäßigkeit zwischen Unrecht und Strafen geben. Dieser Gedanke war über Jahrhunderte sehr wirkungsmächtig und ist es auch noch heute. Philosophisch weiterentwickelt wurde er in der deutschen Geistesgeschichte von den bedeutenden Philosophen Kant und Hegel. So hat Kant in der Metaphysik der Sitten (1797) ausgeführt: »Richterliche Strafe […] kann niemals bloß als Mittel sein, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muss jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat.« Und diese These hat er in seinem berühmten Insel-Beispiel wie folgt zugespitzt: »Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinanderzugehen, und sich in alle Welt zu zerstreuen), müsste der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind

[…] Hat er aber gemordet, so muss er sterben. Es gibt kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit.« Wesentlich abstrakter, aber im Kern ebenso auf die Herstellung von Gerechtigkeit bedacht, hat Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) ausgeführt: »Die Verletzung, die dem Verbrecher widerfährt, ist nicht nur an sich gerecht, als gerecht ist sie zugleich sein […] Recht. […] Dass die Strafe darin als sein eigenes Recht enthaltend angesehen wird, darin wird der Verbrecher als Vernünftiges geehrt. – Diese Ehre wird ihm nicht zuteil, wenn aus seiner Tat selbst nicht der Begriff und der Maßstab seiner Strafe genommen wird.« Bis zu einer berühmten Schrift aus dem Jahr 1968 mit dem Titel »Abschied von Kant und Hegel« waren diese beiden Philosophen Leitsterne der Diskussion über die Begründung der Strafe. Wenn Sie sich an das Eingangszitat von Seneca erinnern, waren sie aus seiner Sicht keine klugen Denker. Denn die absoluten Straftheorien kümmern sich nicht um mögliche positive Effekte der Strafe für die Zukunft einer Gesellschaft, sondern wollen das in der Vergangenheit Geschehene vergelten, um »die Gerechtigkeit wieder herzustellen«. Strafe dient somit nicht dazu, beim Täter etwas zu bewirken, die soziale Stabilität zu sichern und künftige Straftaten zu verhindern. Jedoch: Vergessen Sie nicht, dass die absoluten Straftheorien die wichtige Mahnung enthalten, dass Unrecht der Tat und Strafe in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen müssen – dass es im Strafrecht also nicht alleine um gesellschaftliche Effekte, sondern auch um Gerechtigkeit geht.

Strafrecht als Abschreckung (negative Generalprävention)

Dem Vorwurf der Maßlosigkeit sehen sich vor allem solche Theorien ausgesetzt, die sich von der Bestrafung einen Abschreckungseffekt erwarten. Eine sehr populäre und auch beim Gesetzgeber häufig anzutreffende Auffassung geht dahin, dass man die Kriminalitätsbelastung einer Gesellschaft durch harte Strafen beeinflussen kann. So werden dann beim Auftreten neuer sozialschädlicher Verhaltensweisen sogleich harte neue Strafgesetze gefordert; und die Ausbreitung bereits strafbarer Verhaltensweisen soll gestoppt werden, indem die Strafen deutlich verschärft werden. Man nennt diese Theorie über die Wirkungsweise des Strafrechts Generalprävention. Das heißt, die Allgemeinheit soll davon abgeschreckt werden, Straftaten zu begehen. Auch hierfür macht es Sinn, sich einmal den wesentlichen Gedanken am Ursprung dieser Theorie im 19. Jahrhundert anzusehen. Der Strafrechtsgelehrte und geistige Vater des Bayerischen Strafgesetzbuches von 1813 Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775–1833) nannte seinen Ansatz Theorie des psychologischen Zwangs und führte dazu 1801 aus: »Alle Übertretungen haben einen psychologischen Entstehungsgrund, in der Sinnlichkeit, inwiefern das Begehrungsvermögen des Menschen durch die Lust an oder aus der Handlung zur Begehung derselben angetrieben wird. Dieser sinnliche Antrieb wird dadurch aufgehoben, dass jeder weiß, auf seine Tat werde unausbleiblich ein Übel folgen, welches größer ist, als die Unlust, die aus dem nichtbefriedigten Antrieb zur Tat entspringt … I. Der Zweck der Androhung der Strafe im Gesetz ist Abschreckung aller Bürger als möglicher Beleidiger von Rechtsverletzungen. II. Der Zweck der Zufügung derselben ist die Begründung der Wirksamkeit der gesetzlichen Drohung, inwiefern ohne sie diese Drohung eine leere (unwirksame) Drohung sein würde.«

Was ist daran bemerkenswert? 1. Im Hintergrund dieser Theorie steht ein eher pessimistisches Menschenbild: Würden die Menschen nicht durch Drohungen in Schach gehalten werden, dann würde sich ihr »Begehren« auf Rechtsverletzungen richten. 2. Das Menschenbild ist (zeittypisch) rationalistisch: Ein potenzieller Straftäter wägt zwischen der »Lust« der Tatbegehung und dem »Übel« der drohenden Strafe ab. Diese wesentlichen Annahmen sind heute durch kriminologische Forschungen stark infrage gestellt: Für den großen und wichtigen Bereich von gewaltförmigen Übergriffen gilt, dass die Drohungen des Gesetzes häufig gar nicht im Geschehen präsent sind, sondern übermächtige aggressive Impulse die Situation beherrschen. Wie zum Beispiel Forschungen aus den USA zeigen, haben die Androhung und der Vollzug der Todesstrafe im Vergleich der verschiedenen Bundesstaaten keinen Einfluss auf die Häufigkeit von Tötungsdelikten. Bei als intelligent und abwägend geltenden Tätern findet im Bereich der organisierten und der Wirtschaftskriminalität die Rationalität auf ganz anderen Bahnen statt. Solche Täter glauben an die Überlistung von Kontrolle, Verhinderung der Entdeckung und einen glimpflichen Ausgang möglicher Strafverfahren durch ihr Wissen, ihr Geld und ihre Macht. Zwei abschreckende Faktoren des Strafrechtssystems hingegen gelten als relativ gesichert: Drakonische Strafen auch für relativ geringfügige Delikte haben einen abschreckenden Effekt. So wird der weitverbreitete Pferdediebstahl im »Wilden Westen« der USA auch deswegen zurückgedrängt worden sein, weil die Strafe »durch den Strang« nach »kurzem Prozess« drohte.

Entscheidend ist für die meisten Täter aber nicht die drohende Strafe, sondern die Entdeckungswahrscheinlichkeit. So lässt sich etwa die Häufigkeit von Ladendiebstählen nicht abstrakt durch die Anhebung der Strafen, sondern konkret sehr erfolgreich durch die Erhöhung des Kontrollpersonals und der technischen Sicherungen steuern. Damit werden aber auch zwei kritische Schlaglichter auf die Abschreckungstheorie geworfen: Sie kann dazu führen, dass die Strafen das gerechte Maßverhältnis zwischen Tat und Strafe deutlich überschreiten. Und ein erfolgreiches Strafrechtssystem durch Abschreckung setzt eine starke Präsenz von Kontrollpersonen und eine effektive, möglichst lückenlose (technische) Überwachung voraus. Manche sagen deswegen, dass ein auf Abschreckung ausgerichtetes Strafrechtssystem die Menschenwürde (Art. 1 GG) verletzt, und der Philosoph Hegel hat einmal über Feuerbach gesagt: »Es ist mit der Begründung der Strafe auf diese Weise, als wenn man gegen einen Hund den Stock erhebt, und der Mensch wird nicht nach seiner Ehre und Freiheit, sondern wie ein Hund behandelt.«

Strafrecht als Stärkung der Rechtstreue (positive Generalprävention) Angesichts der vielen tatsächlichen (empirischen) und wertorientierten (normativen) Zweifel, die man an einer Begründung von Strafe durch ihre abschreckende Wirkung haben kann, hat sich seit circa 40 Jahren immer mehr eine Auffassung von der Wirkung des Strafrechts etabliert, die positive

Generalprävention genannt wird. Diese Auffassung wird in sehr vielen Facetten und mit unterschiedlichen Begründungen vertreten, hat aber einen gemeinsamen Kern: Die Bereitschaft, die Strafgesetze zu beachten und sich entsprechend zu verhalten, würde geschwächt, wenn Verletzungen der Gesetze folgenlos blieben. Im Sinne der Erhaltung und Verstärkung des Vertrauens der Menschen in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung »muss Strafe sein«. Die Wirkungsweise dabei sei nicht »Abschreckung«, sondern »Einübung in Rechtstreue« durch den »Vertrauenseffekt«, wenn die Menschen sehen, dass sich das Recht gegenüber dem Unrecht durchsetzt. Mein verehrter verstorbener akademischer Lehrer und ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Winfried Hassemer hat einem solchen Ansatz auch im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Strafrecht in der Demokratie einen besonderen Wert bescheinigt als (2010) »eine Vorstellung vom Sinn der Strafe, die den Menschen nicht als Gefahrenherd, nicht als Gegenstand einer gewaltförmigen Konditionierung, sondern als Bürger versteht, als jemanden, der die Strafgesetze im demokratischen Prozess ja schließlich gemacht und deshalb auch zu verantworten hat«. Sie können daran sehen, dass es dieser Theorie um eine Wirkung auf die Allgemeinheit (»General«) geht, die helfen soll, zukünftige Gesetzesbrüche zu verringern und zu verhindern (»Prävention«). Diese Wirkung soll jedoch nicht durch »Abschreckung«, sondern durch Strafrecht als Teil der gesellschaftlichen Kommunikation über die wichtigen und unverzichtbaren Normen des Zusammenlebens entstehen. Strafrechtliche Normen definieren die Grenze zwischen Recht und Unrecht; die Höhe der

Strafdrohung und die Verurteilung drücken den Schweregrad der Verletzung der Rechte anderer Menschen aus; in Strafverfahren wird über die Gründe für die Normverletzung und die Wichtigkeit der Normbeachtung verhandelt. Enthalten ist in diesem Konzept auch der Gedanke, dass wir dem Opfer in unserem Strafrechtssystem eine immer wichtigere Rolle zubilligen: Natürlich darf das Opfer einer Straftat vom Staat verlangen, dass es als Verletzter einer Unrechtstat anerkannt wird und dass der Staat gegenüber dem Täter mit einem spürbaren und sichtbaren Tadel reagiert. Der australische Kriminologe Braithwaite hat in seinem Konzept der Restaurative Justice (»Wiederherstellende Gerechtigkeit«) weiterhin dem Ausgleich zwischen Täter und Opfer und der Scham des Täters über das Geschehene (»re-integrative shaming«) einen wichtigen Stellenwert zuerkannt.

Die Resozialisierung des Straftäters (positive Spezialprävention) Wenn die Strafe auf den Zweck der Verhinderung zukünftiger Straftaten bezogen wird, dann kommen neben gesellschaftlichen Lernprozessen natürlich auch Lernprozesse des Straftäters selbst in den Blick. Wenn es gelänge, aus ihm einen »besseren Menschen« zu machen, dann könnte man erwarten, dass er sich an die Gesetze hält (das nennt man in der juristischen Sprache Legalbewährung) und sich in ein friedliches Miteinander in der Gesellschaft integriert (Resozialisierung). Solche Vorstellungen von der Begründung und inhaltlichen Ausfüllung der Einsperrung von Straftätern sind erstmals vor gut 500 Jahren verfolgt worden. Christliche Sozialreformer wollten den mittelalterlichen Umgang mit straffälligen Menschen (»ab in den Kerker«) überwinden und den Sündern wieder auf die Beine helfen. Der Leitsatz des Benediktiner-Ordens »Bete und arbeite« (»Ora et labora«) fasst den Kern des Konzepts zusammen: Den Menschen sollen

seelischer Halt (Gebete) und eine Struktur für ihr Leben (Arbeit) gegeben werden. Durch den Fortschritt der Humanwissenschaften (Pädagogik und Psychologie) ist dieses Konzept einer Besserung von straffälligen Menschen immer weiter entwickelt und verfeinert worden. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht schon vor vielen Jahrzehnten dem Ziel der Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft, seiner Resozialisierung, Verfassungsrang eingeräumt (in ständiger Rechtsprechung, zuletzt BVerfGE 98, 169, 199): »Die Verfassung gebietet, den Strafvollzug auf das Ziel der Resozialisierung der Gefangenen hin auszurichten … Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gebot aus dem Selbstverständnis einer Rechtsgemeinschaft entwickelt, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt ihrer Wertordnung stellt und dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet ist. Dem Gefangenen sollen die Fähigkeit und der Wille zu verantwortlicher Lebensführung vermittelt werden. Er soll sich in Zukunft unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch behaupten, ihre Chancen wahrnehmen und ihre Risiken bestehen können. Die Resozialisierung dient auch dem Schutz der Gemeinschaft selbst: Diese hat ein unmittelbares eigenes Interesse daran, dass der Täter nicht wieder rückfällig wird und erneut seine Mitbürger und die Gemeinschaft schädigt.« In diesen Leitsätzen des Bundesverfassungsgerichts werden natürlich auch Reizpunkte des Resozialisierungskonzepts sichtbar: Ist es nicht ein Widerspruch in sich, dass ein Mensch unter den Bedingungen der Einsperrung lernen soll, wie er in der Freiheit Chancen wahrnehmen und Risiken bestehen soll? Weiß man nicht aus vielerlei Quellen von der Literatur über

Medien bis zur Wissenschaft, dass das Gefängnis von Subkulturnormen geprägt, eine »Schule des Verbrechens«, ja ein Ort der Gewalt ist? Können Strafgefangene wirklich auf ein Interesse »der Gesellschaft« an ihrer Wiedereingliederung hoffen? Gibt es nicht Straftäter, bei denen eine günstige Prognose ausgeschlossen erscheint und es alleine um den Schutz der Gesellschaft vor diesen Personen geht (dazu gleich)? Wenn Sie noch einmal zu den absoluten Straftheorien zurückgehen, stellt sich auch kritisch die Frage: Wie soll eigentlich in diesem Konzept die zeitliche Begrenzung der Strafe, das Strafmaß, begründet werden? Es erscheint doch denkbar, dass eine eher geringfügige Straftat (wiederholter Diebstahl) als Indikation für eine langzeitige Besserungsmaßnahme anzusehen ist, während ein aus geordneten Lebensverhältnissen plötzlich und unerwartet auftretender Gewaltausbruch (versuchte Tötung des Lebenspartners) als eine nicht weiter behandlungsbedürftige Beziehungstat anzusehen ist. Kritiker der Spezialprävention geben deswegen mit guten Gründen zu bedenken, dass bei der Bestimmung der Strafe der Schuldausgleich nicht auf der Strecke bleiben darf. Und abschließend und aus aktuellem Anlass noch die Frage: Wie will man Überzeugungstäter in »gute Menschen« verwandeln? Wie würde etwa die »Besserung« eines Menschen aussehen, der wegen Mitgliedschaft in einer dschihadistischen terroristischen Vereinigung verurteilt worden ist?

Strafrecht als Mittel des Schutzes vor unverbesserlichen Straftätern (negative Spezialprävention) Sie kennen sicherlich die öffentliche Diskussion, ob es »gefährliche Straftäter« gibt und wie man mit ihnen umgehen soll.

Das betrifft sehr unterschiedliche Kriminalitätsphänomene vom »Kinderschänder« über den »Intensivtäter« bis hin zum »Serienkiller« und ist besonders in den Medien ein gern behandeltes Thema. Eine große Zahl von Hollywood-Filmen beschäftigt sich mit Figuren wie Hannibal Lecter aus »Das Schweigen der Lämmer«. Der berühmte deutsche Strafrechtsgelehrte Franz von Liszt (1851–1919) hat in seinem Marburger Programm (1883) eine an der »Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher« und »Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher« orientierte Strafrechtspflege gefordert. Wörtlich heißt es dort: »Gegen die Unverbesserlichen muss die Gesellschaft sich schützen; und da wir köpfen und hängen nicht wollen und deportieren nicht können, so bleibt nur die Einsperrung auf Lebenszeit (bzw. auf unbestimmte Zeit).« Dies ist die unmissverständliche Kernaussage der negativen Spezialprävention. Gesetzlich hat dieser Gedanke vor allen Dingen in der Zweispurigkeit der strafrechtlichen Reaktionen seinen Ausdruck gefunden: Neben der Strafe kennt das StGB Maßregeln der Besserung und Sicherung und darunter an prominenter Stelle die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§§ 66 – 66 c StGB). Es sollte zu denken geben, dass die Einführung der Sicherungsverwahrung eine der ersten »Strafrechtsreformen« der Nationalsozialisten nach der Machtergreifung durch das »Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher« vom 24. November 1933 war. Im Gegensatz zur Strafe geht es bei der Sicherungsverwahrung nicht um eine gerechte Vergeltung der Tat, sondern alleine um die künftige Gefährlichkeit des Straftäters für die Allgemeinheit. Dies

bedeutet, dass es bei dieser Reaktion neben der Anlasstat um einen Blick in die Zukunft, um eine Gefährlichkeitsprognose, geht. Im schlechtesten Fall für den Betroffenen verläuft die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung damit von ungünstiger zu ungünstiger Prognose auf ein ungewisses Ende hinaus. Natürlich sind in diesem System rechtstaatliche Sicherungen vorgesehen: Im Jahrestakt, beginnend mit dem ersten Tag der Unterbringung, muss geprüft werden, ob weiterhin die Gefahr besteht, dass der Täter außerhalb des Vollzugs rechtswidrige Taten begehen wird (vgl. § 67 e II StGB). Die Unterbringung ist nach zehn Jahren zu beenden, sofern nicht die Gefahr besteht, dass vom Untergebrachten infolge seines Hanges erhebliche Straftaten drohen, durch die die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden (vgl. § 67 d III StGB). Doch wie erkennt man einen »Hangtäter«? Hierzu hat der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung (etwa in einem Urteil aus dem Dezember 2009 – BGH 3 StR 399/09) folgende Leitlinie vorgegeben: »Hangtäter ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, ebenso wie derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag. Der Hang als ›eingeschliffenes Verhaltensmuster‹ bezeichnet einen aufgrund umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten gegenwärtigen Zustand.«

Das möchte ich einmal so stehen lassen, weil es hier ja nicht um Kriminologie für Dummies gehen soll. Nur so viel: Das zukünftige Verhalten eines Menschen kann man nicht kristallklar und zweifelsfrei in einer Glaskugel erkennen; in den Psychowissenschaften sind die Prognosemethoden umstritten und das richterliche Urteil kann fehlgehen. Bei der Orientierung einer strafrechtlichen Reaktion an künftiger Gefährlichkeit müssen Sie also wissen, dass Sie für das Ziel der Sicherheit vor »gefährlichen Straftätern« möglicherweise einen hohen Preis für die Freiheit zahlen. Wie und warum das »scharfe Schwert des Strafrechts« in einer problembewussten und rechtsstaatlich kontrollierten Weise verwendet werden muss, soll uns im nächsten Kapitel zunächst an zwei Fragestellungen beschäftigen: Warum muss gewährleistet werden, dass jeder Mensch wissen kann, was ihm eigentlich unter Strafdrohung verboten ist? Warum darf der Staat nicht jedes beliebige Verhalten unter eine beliebige Strafe stellen?

Kapitel 2

Begrenzungen des Strafrechts IN DIESEM KAPITEL Das Gesetzlichkeitsprinzip: nullum crimen, nulla poena sine lege Die Vorgaben des Grundgesetzes für das Strafrecht Einführung in die wesentlichen Prinzipien eines fairen Strafverfahrens

Die Bestrafung eines Menschen ist eine massive Einschränkung seiner Freiheit und seiner Rechte. Die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe kann die ganze Existenz eines Menschen in den Grundfesten erschüttern: Sie führt regelmäßig zum Verlust des Arbeitsplatzes, zwischenmenschliche Beziehungen zerbrechen darüber, Freundeskreise können sich in nichts auflösen, der gute Ruf kann nachhaltig ruiniert sein. Vielleicht werden manche sagen: Aber das hat ein Verbrecher doch verdient. Bedenken Sie: Es gibt Falschbeschuldigungen, es können Fehlurteile ergehen. Wir wissen alle, dass Strafrecht – besonders unter Bedingungen autoritärer Herrschaft – missbraucht werden kann, um nicht angepasste Menschen mundtot zu machen, ja ihr Leben zu zerstören. Strafrecht muss also gegen Missbrauch geschützt werden, seine Grenzen müssen klar bestimmt sein, es muss sich – in unserer Rechtsordnung – an die Vorgaben des Grundgesetzes halten und darf Menschenrechte nicht verletzen.

Das Gesetzlichkeitsprinzip (nullum crimen, nulla poena sine lege) Man muss nicht Latein beherrschen, um das Strafrecht zu verstehen, aber manchmal bringt die lateinische Fassung eines Gedankens die Sache sehr gut auf den Punkt, so ist es auch beim Gesetzlichkeitsprinzip: Nichts soll als Verbrechen gelten (nullum crimen) und keine Strafe soll verhängt werden (nulla poena), wenn dies nicht vorher durch ein Gesetz bestimmt worden ist (sine lege) – nullum crimen, nulla poena, sine lege. Das Verbot der Strafe ohne Gesetz ist zentral für die Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit der Sanktionen. Es soll dem Ausschluss staatlicher Willkür gegenüber den Bürgern dienen. Historisch markiert dieses Prinzip den Übergang von Strafrecht als Herrschaftsinstrument zur Strafgesetzlichkeit im Sinne einer Beschränkung von Macht und Willkür des Staates. Es soll nicht mehr je nach Laune des Herrschers einmal das eine und dann das andere als Straftat gelten und mit einer beliebigen Strafe belegt werden können. Diese Forderung von Feuerbach (den Sie ja eben schon als Vater der Theorie der Generalprävention kennengelernt haben) stellt einen Leitstern einer aufgeklärten und freiheitlichen Strafrechtsordnung dar. Jeder Mensch muss vorher wissen, was ihm der Staat verbietet und welche Strafe ihm beim Verstoß gegen diese Verbote droht. Die wichtigste und zugleich nicht einfach einzulösende Komponente der Strafgesetzlichkeit ist das Bestimmtheitsgebot (lex certa), das den Gesetzgeber zur Genauigkeit bei der Ausgestaltung von Strafrechtsnormen verpflichtet. Wann ein Verhalten strafbar ist, muss so konkret und erkennbar wie möglich

beschrieben sein. Tragweite und Anwendungsbereich der Strafgesetze müssen sich möglichst unmittelbar, spätestens jedoch im Wege der Auslegung ermitteln lassen. Es gilt dabei ein Analogieverbot (lex stricta) zulasten des Beschuldigten. Die Bestrafung darf nur auf geschriebenes Recht (lex scripta) und nicht auf Gewohnheitsrecht gestützt werden. Weiterhin unterliegen die Gesetze einem Rückwirkungsverbot (lex praevia), um die Menschen vor einer willkürlichen Ausübung der Strafgewalt zu schützen. Ein vorher nicht verbotenes Verhalten darf nicht für die Vergangenheit für strafbar erklärt werden und die Strafen dürfen nicht rückwirkend verschärft werden. Die zentralen Garantien für ein rechtsstaatliches Strafrecht sind also: das Bestimmtheitsgebot (lex certa) das Analogieverbot (lex stricta) das Rückwirkungsverbot (lex praevia) Die Bedeutung dieser Prinzipien ist in Deutschland und in der europäischen Rechtskultur an exponierter Stelle anerkannt. Das Prinzip »Keine Strafe ohne Gesetz« (nullum crimen, nulla poena sine lege) finden Sie in Art. 103 II GG, in § 1 StGB und in Art. 7 I der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Das Bestimmtheitsgebot (lex certa) Schauen Sie sich die einzelnen Elemente des Prinzips nullum crimen/nulla poena nun einmal an Fällen an. In der Düsseldorfer Altstadt sind am Wochenende Tausende von Menschen zum Feiern unterwegs. Der Eindruck in der Öffentlichkeit und bei der Polizei ist, dass viele darunter über die Maßen trinken und dann aus der Rolle fallen. Nicht nur, dass gegrölt und in die Ecken gepinkelt wird,

berichtet wird auch von einer aggressiven Stimmung, der Belästigung von Frauen und fehlendem Respekt gegenüber einschreitenden Polizeibeamten. Eine vom Bürgermeister eingesetzte Taskforce beschließt einen Maßnahmenplan. Unter anderem soll ab sofort folgender »Straftatbestand« für die Justiz im Stadtgebiet von Düsseldorf gelten: Trunkenheit in der Öffentlichkeit Absatz 1: Wer sich öffentlich sinnlos betrinkt und dabei den Anstand verletzt, wird mit einer Geldstrafe bestraft. Absatz 2: Wer wiederholt betrunken angetroffen wird, wird mit einer spürbaren Freiheitsstrafe bestraft. Dieser »Straftatbestand« scheitert verfassungsrechtlich schon daran, dass es sich nicht um eine »gesetzliche Bestimmung« der Strafbarkeit handelt. Nach der Kompetenzzuweisung unserer Rechtsordnung bedeutet der Vorbehalt des Gesetzes, dass nicht der Bürgermeister, eine Taskforce oder die Polizei Straftatbestände erlassen dürfen, sondern dass die Kompetenz zum Erlass von Gesetzen beim Parlament als dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber (Legislative) liegt. Dieser Tatbestand unterliegt aber auch durchgreifenden Bedenken im Hinblick auf seine inhaltliche Bestimmtheit. Zunächst stellt sich etwa die Frage, ob und wie ein Unterschied zwischen »sinnlosem« und »sinnvollem« Alkoholkonsum gemacht werden soll. Mit dem Begriff »Betrinken« kann eigentlich nur übermäßiger Alkoholkonsum gemeint sein. Soll sich das Übermaß wie im Straßenverkehr aus einem bestimmten Promillewert oder im Rückschluss aus dem Verhalten der Person ergeben? Was ist unter einer »Verletzung des Anstands« zu verstehen? Sind schon alkoholtypische Verhaltensweisen wie lautes Sprechen, enthemmtes Verhalten, schwankender Gang für sich genommen unanständig oder muss die Benutzung obszöner Worte und

Gesten, das Begrabschen von Personen und provozierendes Anrempeln hinzukommen? Völlig unbestimmt sind die angedrohten Strafen und die Voraussetzung der Strafschärfung »wiederholt betrunken« ist vage. Die Festlegung »spürbare« Freiheitsstrafe lässt alles offen.

Analogieverbot (lex stricta) Unter dem Analogieverbot versteht man das Verbot, aus einem Ähnlichkeitsschluss zwischen strafbarem Verhalten und vergleichbarem soziallästigen Verhalten die Strafbarkeit eines Verhaltens zu begründen. So könnten Sie zum Beispiel aus dem Vergleich von existierenden Strafbestimmungen wie zum Beispiel über Beleidigung, Körperverletzung und (sexueller) Nötigung den Schluss ziehen, dass es der Strafrechtsordnung um einen respektvollen und gewaltfreien Umgang miteinander geht und dass folglich alle Formen der sexuellen Belästigung bestraft werden sollten. Entdecken Sie dann im Hinblick auf diese Verhaltensweisen »Gesetzeslücken«, könnten Sie als Rechtsanwender versucht sein, diese Lücken durch einen Analogieschluss zu füllen. Im rechtsstaatlichen Strafrecht ist eine solche Vorgehensweise verboten, weil sie die Garantiefunktion der Straftatbestände aushebelt. In § 90 StGB ist Folgendes geregelt: Verunglimpfung des Bundespräsidenten (1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Bundespräsidenten verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Unter Verunglimpfung ist eine besonders schwere Form der Beleidigung zu verstehen. Wenn etwa der Vorsitzende des rechtsextremen »Reichsbundes der Soldaten« angesichts

der Befürwortung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr durch den Bundespräsidenten öffentlich erklärt, »der Bundespräsident schickt junge Deutsche in den Tod – er ist ein Soldatenmörder«, dann ist der Tatbestand erfüllt. Erklärt der Vorsitzende genau das Gleiche über die Bundesverteidigungsministerin, dann ist das unter den allgemeinen Ehrschutzdelikten zu prüfen, die Vorschrift des § 90 StGB ist dagegen unter keinen Umständen anwendbar – schon gar nicht mit der Begründung, es gehe doch um die gleiche Absicht des Täters, gegen wichtige Staatsorgane zu hetzen. Dies wäre eine verbotene Analogie. Wohin die Aufhebung des Analogieverbotes führt, kann man an einer der wesentlichen Änderungen sehen, die im Nationalsozialismus am Strafgesetzbuch vorgenommen wurde. Das Analogieverbot wurde durch das »Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs« vom 28. Juni 1935 aufgehoben und stattdessen in § 2 des Reichsstrafgesetzbuches (RStGB) Folgendes geregelt: »Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft«. Die Meinung, dass es gegenüber einem als sozialschädlich eingestuften Verhalten immer irgendeine strafrechtliche Handhabe geben muss, auch wenn sich im Gesetz nichts Genaues finden lässt, wurde also vom nationalsozialistischen Herrschaftssystem in Gesetzesform gegossen. Damit wurde einer terroristischen Anwendung des Strafrechts Tür und Tor geöffnet. Letztlich lief die entsprechende Strafrechtspraxis auf das Prinzip »Wer Volksschädling ist, wird bestraft« hinaus.

Rückwirkungsverbot (lex praevia) Auch die Bedeutung des Rückwirkungsverbotes lässt sich an einem unrühmlichen Kapitel des Strafrechts im NS-Staat zeigen. Beim Rückwirkungsverbot geht es im Kern um Folgendes: Ein strafrechtliches Gesetz darf nicht rückwirkend ein Verhalten unter Strafe stellen. Ein Richter darf nicht ein Gesetz auf Taten anwenden, die vor Inkrafttreten dieses Gesetzes begangen wurden. Artikel 103 II GG, § 1 StGB verlangt, dass »die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde«. Damit sind die Strafbarkeit als solche sowie Art und Höhe der Strafe vom Rückwirkungsverbot erfasst. Am 27. Februar 1933 ging das Reichstagsgebäude in Berlin in Flammen auf. Die Einzelheiten des Tathergangs sind bis heute ungeklärt. Namhafte Historiker halten es auch für möglich, dass von den Nazis selbst das Feuer gelegt wurde, um einen Vorwand für den folgenden Terror zu haben. Als Haupttäter wurde sehr bald der holländische Kommunist Marinus van der Lubbe präsentiert und angeklagt. Im sogenannten Leipziger Reichstagsbrandprozess wurde van der Lubbe vom Reichsgericht wegen Hochverrats und Brandstiftung am 23. Dezember 1933 zum Tode verurteilt. Er wurde am 10. Januar 1934 unter dem Fallbeil hingerichtet. Am 6. Dezember 2007 hat die deutsche Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe das Todesurteil gegen van der Lubbe »von Amts wegen« aufgehoben. Grundlage für diesen förmlichen Akt ist das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998. Begründet wurde die Aufhebung des Urteils gegen van der Lubbe damit, dass

dieses auf der Grundlage zweier NS-Unrechtsvorschriften zur Durchsetzung der Naziherrschaft zustande gekommen war. Damit sind wir beim Thema: Das Hitlerkabinett hatte am Tag nach der Festnahme van der Lubbes im brennenden Reichstagsgebäude die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat erlassen. Sie legte in Paragraph 5 fest, dass eine Reihe von Verbrechen, darunter Hochverrat und Brandstiftung, die bis dahin mit lebenslangem Zuchthaus bedroht waren, fortan mit dem Tode zu bestrafen sind. Damit war das Rückwirkungsverbot noch nicht durchbrochen. Um van der Lubbe zum Tode verurteilen zu können, wurde am 29. März 1933 das Gesetz über die Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe (auch Lex van der Lubbe genannt) erlassen, das ausschließlich auf den Holländer zielte. Danach waren die Strafschärfungen der Notverordnung vom 28. Februar 1933 auch auf Taten anzuwenden, die zwischen dem 30. Januar und dem 28. Februar 1933 begangen worden waren. Dies ist kein Einzelfall in der mörderischen Geschichte des NSStrafrechts. Weil es dem ausdrücklichen Willen von Adolf Hitler im Zusammenhang mit seiner »Autobahnpolitik« entsprach, dass die Täter von Raubüberfällen auf Autofahrer mit dem Tode bestraft werden, wurde im Juni 1938 folgendes Gesetz verkündet: Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen vom 22. Juni 1938. Wer in räuberischer Absicht eine Autofalle stellt, wird mit dem Tode bestraft. Dieses Gesetz tritt mit Wirkung vom 1. Januar 1936 in Kraft.

Besondere Konstellation: Die Verfolgung von Staatsunrecht Indes: Da das Rückwirkungsverbot ein Schutzschild gegen staatliche Willkür ist, sind menschenrechtswidrige

Rechtfertigungsgründe, die der Legalisierung der Herrschaft eines Unrechtsregimes dienen, nicht schutzwürdig im Sinne des Rückwirkungsverbotes. Das betrifft die Mauerschützen-Fälle. Natürlich existierten für das Grenzsicherungssystem der DDR Regelungen, die den Schusswaffengebrauch gegenüber Flüchtlingen für rechtens erklärten. Diejenigen, die unter dieser Rechtslage geschossen oder das Schießen befohlen haben, können sich aber gegen ihre heutige Strafverfolgung nicht mit dem Argument wehren, dass sie zum Tatzeitpunkt im Einklang mit dem Recht gehandelt haben. Wie der Strafrechtsgelehrte, Rechtsphilosoph und ehemalige Justizminister in der Weimarer Republik Gustav Radbruch in seinem berühmten Aufsatz »Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht« (1946) dargelegt hat, gibt es Situationen, in denen Gesetze als »Unrecht« gegenüber der Gerechtigkeit als »übergesetzlichem Recht« weichen müssen, weil ihr Widerspruch zur Gerechtigkeit ein unerträgliches Maß erreicht. In einer solchen Situation kann derjenige, der sich darauf beruft, nach diesen Gesetzen gehandelt zu haben, und deswegen den Schutz aus dem Rückwirkungsverbot begehrt, nicht gehört werden. Das Vertrauen in den Bestand solcher Rechtsverhältnisse verdient keinen Schutz. In den Worten des Bundesverfassungsgerichts in seinem »Mauerschützen-Urteil« (BVerfGE 95, 96 [Leitsatz 3]): »An einer solchen besonderen Vertrauensgrundlage fehlt es, wenn der Träger der Staatsmacht für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit durch Rechtfertigungsgründe ausschließt, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht auffordert, es begünstigt und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise missachtet.

Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 GG muss dann zurücktreten«.

Verfassungsrechtliche Grenzen des Strafrechts Die Staatsgewalt ist in einem Rechtsstaat an die Beachtung der Grundrechte gebunden. Die Ausübung der Strafgewalt darf nicht grenzenlos, sondern muss verhältnismäßig sein. Dies gilt für den Umfang des Strafrechts, also die Summe all dessen, was der Staat unter der Androhung von Strafe verbietet. Das gilt für die Folgen, die der Staat für die Verletzung von Strafrechtsnormen androht. Das gilt für die Verfahren, in denen über die Verhängung von Strafrechtsfolgen entschieden wird. Und das gilt für die Gestaltung des Strafvollzugs. Das Bundesverfassungsgericht hat für das Strafrecht immer wieder die herausragende Bedeutung von Verhältnismäßigkeitsgebot und Übermaßverbot betont (ständige Rechtsprechung; vgl. BVerfGE 90, 145 [172] – Cannabis-Entscheidung). Danach sind strafrechtliche Eingriffe »…im Allgemeinen nur zulässig, wenn der Schutz anderer oder der Allgemeinheit dies unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfordert. Nach diesem Grundsatz muss ein grundrechtseinschränkendes Gesetz geeignet und erforderlich sein, um den erstrebten Zweck zu erreichen. Ein Gesetz ist geeignet, wenn mit seiner Hilfe der erstrebte Erfolg gefördert werden kann; es ist erforderlich, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel hätte wählen können. Ferner muss bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des

Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit für die Adressaten des Verbots gewahrt sein. Die Maßnahme darf sie mithin nicht übermäßig belasten (Übermaßverbot oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne)«. Aus dem Quellenhinweis wissen Sie, dass dieses Zitat aus der Cannabis-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stammt. Ich möchte hier nicht auf die seit Jahrzehnten juristisch und politisch geführte Debatte eingehen, ob Cannabis legalisiert werden sollte. Es geht hier alleine um den Bezug zu den verfassungsrechtlichen Grenzen des Strafrechts. Diese Entscheidung musste unter anderem deswegen getroffen werden, weil Strafgerichte an vielen Orten der Bundesrepublik der Meinung waren, dass die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes (§ 29 BtMG) im Hinblick auf den Umgang mit Cannabis verfassungswidrig sind und folglich Vorlagebeschlüsse zum Bundesverfassungsgericht ergingen: Art. 100 Abs. 1 GG Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichtes des Landes, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen … Es ging dabei um Fälle wie die beiden folgenden:

Annegret besucht in der Justizvollzugsanstalt Lübeck ihren Ehemann, der sich dort wegen des Vorwurfs, gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen zu haben, in Untersuchungshaft befindet. Bei der Begrüßung umarmt Annegret ihren Ehemann und steckt ihm dabei ein Briefchen mit 1,12 Gramm Haschisch zu. Hans, der nach seiner glaubhaften Aussage zuvor lediglich alle vier Monate auf Partys Haschisch geraucht hatte, kaufte in der Zeit von Juli bis Anfang September in Abständen von ein bis zwei Wochen je ein 100er- oder 150er-Piece, einmal auch ein 200er-Piece Haschisch. Ein 100er-Piece entsprach dabei 8,5 Gramm Haschisch. In beiden Fällen war es durch die Amtsgerichte in erster Instanz zu Verurteilungen gekommen, in der Berufungsinstanz hielten die Landgerichte die angewendeten Vorschriften des BtMG für verfassungswidrig und setzten die Verfahren aus, um eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 GG herbeizuführen. Solche Vorlagebeschlüsse müssen begründet werden. Ich möchte Ihnen nur eine Auswahl der Gründe vorstellen, die die Landgerichte für ihre Ansicht vorgetragen haben, dass die anzuwendenden Strafvorschriften verfassungswidrig sind: Die Strafbarkeit der Abgabe von Cannabisprodukten, die dem Eigenkonsum dienen, sei unvereinbar mit Art. 2 Abs. 1 GG. Zu den grundlegenden Elementen menschlicher Selbstbestimmung gehöre die verantwortliche Entscheidung darüber, welche Nahrungs-, Genuss- und Rauschmittel der Bürger zu sich nehme. Der Rausch gehöre zu den fundamentalen Bedürfnissen des Menschen. Das »Recht auf Rausch« sei daher durch Art. 2 Abs. 1 GG als zentraler Sektor menschlicher Selbstbestimmung geschützt.

Die Strafandrohung sei auch nicht erforderlich, um den Umgang mit Cannabisprodukten zu regulieren. Im Hinblick auf deren verhältnismäßig geringe Gefährlichkeit reiche eine entsprechende Aufklärung als weniger einschneidende Maßnahme aus. In jedem Fall stehe die Strafbarkeit derjenigen, die Cannabisprodukte ausschließlich zum Eigenkonsum erwerben oder besitzen oder die Cannabis in einer Menge abgeben, die lediglich dem Eigenkonsum diene, in keinem angemessenen Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung des hier berührten Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. An dem Zitat aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und den Argumenten der vorlegenden Landgerichte können Sie sehen, dass es bei der Prüfung der Grenzen des Strafrechts um die Eignung, die Erforderlichkeit und die Angemessenheit des Einsatzes von strafrechtlichen Verboten und Verfahren zur Lösung von sozialen Problemen geht. Fraglich kann auch sein, was überhaupt das zu schützende Rechtsgut sein soll und ob gleich gelagerte Probleme auch gleichbehandelt werden. Eine strafrechtliche Strategie darf stets nur letztes Mittel (ultima ratio) des Rechtsgüterschutzes sein. Es lohnt sich, die eine oder andere in diesem Buch zitierte Entscheidung einmal gründlich zu lesen. Sie lernen dadurch auf einem hohen Niveau die Verwendung der juristischen Sprache und die juristische Argumentationsweise kennen. Gerade an der Cannabis-Entscheidung können Sie auch sehen, wie Juristen ihre Meinungsverschiedenheiten austragen. Eine Richterin und ein Richter waren

abweichender Meinung gegenüber der Mehrheit des Senats; solche dissenting opinions werden mit dem Urteil der Mehrheit zusammen veröffentlicht.

Prinzipien eines fairen Strafverfahrens Der Altmeister der deutschen Strafrechtswissenschaft Claus Roxin hat den Ausspruch geprägt »Das Strafverfahren ist der Seismograph der Staatsverfassung!« An der Art und Weise, wie Strafverfahren durchgeführt werden, an den Rechtsregeln für ihren Ablauf können Sie demnach erkennen, wie es um die Rechtskultur und die Bürgerrechte in einem Staat bestellt ist. Das Strafverfahrensrecht ist ein eigenes hochkomplexes Rechtsgebiet, das in der juristischen Ausbildung in eigenen Lehrbüchern und Veranstaltungen behandelt wird. Es würde einen eigenen Dummies-Band füllen, um Ihnen dieses Rechtsgebiet zu erklären. Auf wesentliche Prinzipien eines fairen Strafverfahrens möchte ich trotzdem hier kurz eingehen. Man spricht davon, dass sich das Strafrecht im Strafverfahren verwirklicht. Was im Gesetzbuch steht, wird dort auf den »Fall« angewendet: Es wird untersucht, ob das, was geschehen ist, »den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt«. Die Staatsanwaltschaft entscheidet nach Abschluss der Ermittlungen, ob sie es für wahrscheinlich hält, dass das Gericht den Beschuldigten verurteilen wird. In diesem Fall erhebt sie Anklage, ansonsten stellt sie das Verfahren ein. Das Gericht prüft die Anklage und entscheidet über die Eröffnung des Verfahrens vor Gericht.

In der Hauptverhandlung muss sich das Gericht anhand der Aussagen und Beweismittel eine Überzeugung davon bilden, ob der Anklage zu folgen und ob und wie die angeklagte Person zu verurteilen ist.

Legalitätsprinzip Für die Frage, ob ermittelt wird, gilt das Legalitätsprinzip. Nicht der »Polizeichef«, der »Oberstaatsanwalt«, der »Justizminister« oder gar der »Bürgermeister« entscheiden über die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens, sondern das »Gesetz«. Nach dem Legalitätsprinzip ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, ihr zur Kenntnis gelangte Straftaten zu verfolgen und bei hinreichendem Tatverdacht Anklage zu erheben.

Das Prinzip der materiellen Wahrheit Das Prinzip der materiellen Wahrheit (auch Untersuchungsgrundsatz genannt) verpflichtet das Gericht zur Aufklärung des wahren Sachverhaltes von Amts wegen. Dies bedeutet, dass das Gericht auch ohne Antrag des Verteidigers oder Staatsanwaltes Beweise erheben muss, um den Sachverhalt zu erforschen. Das Gericht muss sich selbst eine Überzeugung über die angeklagten Geschehnisse bilden.

Recht auf Verteidigung/Schweigerecht Das Recht eines jeden Beschuldigten auf Hinzuziehung eines Verteidigers in jeder Lage des Verfahrens ist in § 137 I StPO geregelt. Gemäß § 136 I StPO ist dem Beschuldigten »… bei Beginn der ersten Vernehmung … zu eröffnen, welche Tat ihm zu Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, dass es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache

auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen.« In Art. 6 III Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) wird dies weiter präzisiert: (3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte: a) innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden; b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben; c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist; d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten; e) unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.

Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit des Verfahrens Mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit ist gemeint, dass das Gericht sich nur aufgrund des unmittelbaren persönlichen

Eindrucks, den es vom Angeklagten und den Beweismitteln in der Hauptverhandlung gewinnt, sein Urteil über Schuld und Strafe bilden darf. Nach dem Grundsatz der Mündlichkeit darf nur der mündlich vorgetragene Prozessstoff in der Hauptverhandlung dem Urteil zugrunde gelegt werden. Alles, was für das Verfahren wesentlich ist, etwa die Vernehmung des Angeklagten, die Beweisaufnahme, die Plädoyers, muss danach mündlich erfolgen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass nichts hinter dem Rücken von Verfahrensbeteiligten geschieht und alle Verfahrensbeteiligten aus der Hauptverhandlung entnehmen können, was Gegenstand des Urteils sein wird.

Grundsatz der Öffentlichkeit Nach dem Öffentlichkeitsgrundsatz muss die Hauptverhandlung an einem Ort und in einem Raum stattfinden, zu dem während der Hauptverhandlung jedem der Zutritt offensteht. Der Grundsatz der Öffentlichkeit gilt als Kernprinzip eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Er beruht auf der geschichtlichen Erfahrung, dass »Geheimprozesse« und Gerichtsverhandlungen hinter »verschlossenen Türen« ein starkes Anzeichen für den Missbrauch der Justiz zu politischen Zwecken sind. Heute kann der Vorsitzende des Gerichts nur in besonderen Einzelfällen die Öffentlichkeit ausschließen, etwa wenn besonders schutzwürdige Belange (wie der Schutz der Privatsphäre eines Zeugen) dies ausnahmsweise erfordern. Für den Ausschluss der Öffentlichkeit können auch die Art des Tatvorwurfs und das Alter von betroffenen Zeugen bedeutsam sein. So bestimmt § 171 b Absatz 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG): »Die Öffentlichkeit soll ausgeschlossen werden, soweit in Verfahren wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 bis 184h des Strafgesetzbuchs) oder gegen das Leben (§§ 211 bis 222 des Strafgesetzbuchs), wegen Misshandlung von

Schutzbefohlenen (§ 225 des Strafgesetzbuchs) oder wegen Straftaten gegen die persönliche Freiheit nach den §§ 232 bis 233a des Strafgesetzbuchs ein Zeuge unter 18 Jahren vernommen wird.«

Unschuldsvermutung und »Im Zweifel für den Angeklagten« Die Unschuldsvermutung zählt zu den Justizmenschenrechten und findet sich in Art. 11 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948: »Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist so lange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.« Daraus folgt, dass nicht der Angeklagte seine Unschuld beweisen muss, sondern umgekehrt das Gericht ihm nachweisen muss, dass er schuldig ist. Weiter folgt daraus, dass das Gericht den Angeklagten nur dann bestrafen darf, wenn es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zu der Überzeugung gelangt, dass er schuldig ist. Eine hohe Wahrscheinlichkeit (»er wird das schon irgendwie gewesen sein«) genügt für eine Verurteilung nicht. Jeder begründete Zweifel an der Schuld des Angeklagten muss vielmehr zu seinem Freispruch führen – im Zweifel für den Angeklagten (lateinisch: in dubio pro reo). Die angeklagte Person ist und bleibt damit unschuldig. Eine Unterteilung in »Freisprüche 1. Klasse« wegen »erwiesener Unschuld« und »Freisprüche 2. Klasse« wegen »Zweifeln an der Schuld« gibt es zwar in der Bewertung von Freisprüchen durch die Medien und die Öffentlichkeit. Das Strafrecht aber kennt

keinen Freispruch 1., 2. oder 3. Klasse. Es spielt rechtlich keine Rolle, ob wegen erwiesener Unschuld oder mangels Nachweis der Tat freigesprochen wird.

»Gesetzlicher Richter« In Art. 101 I S. 2 GG heißt es: »Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden«. Dies bedeutet, dass jeder Anspruch auf eine allgemeine, im Voraus festgelegte und hinterher überprüfbare Regelung hat, welches Gericht welchen Fall erhält. So soll verhindert werden, dass bestimmte Richter und Gerichte für bestimmte Fälle oder gar angeklagte Personen gezielt ausgewählt werden können. Diese allgemeine Bestimmbarkeit wird durch eine jährlich festgelegte Geschäftsverteilung der Berufsrichter und die Wahl und Auslosung der Schöffen gewährleistet. Durch den »gesetzlichen Richter« soll schon der Verdacht ausgeschlossen werden, dass für bestimmte Fälle oder Angeklagte ein besonders nachsichtiges oder strenges Gericht zusammengestellt wird.

Kapitel 3

Das Straftatsystem – die Vorgehensweise bei der Prüfung von Strafrechtsfällen IN DIESEM KAPITEL Die Struktur des Straftatsystems Die Stufe der Tatbestandsmäßigkeit Die Stufe der Rechtswidrigkeit Die Stufe der Schuld Exkurs: Die Strafe bei mehreren Straftaten

Damit sich Juristen über die Lösung von Strafrechtsfällen miteinander verständigen können, müssen sie sich darüber einigen, in welcher Sprache sie miteinander reden wollen. Vereinfacht gesagt, einigen sie sich darauf, dass Juristisch – also eine Fachsprache – verwendet werden soll. Weiter müssen sie sich darauf verständigen, welche Argumente zulässig sein sollen. Das sind solche Argumente, die sich aus den gesetzlichen Regeln und den Lehrsätzen des Strafrechts ableiten lassen – man nennt dies Strafrechtsdogmatik. Schließlich ist es für den Austausch und die Überprüfbarkeit der Gedankenführung sehr wichtig, dass die Lösung in einer bestimmten Ordnung präsentiert wird, sodass zu erkennen ist, wo das geführte Argument anzusiedeln ist. Diese Ordnung der Prüfung nennt man Deliktsaufbau oder Straftatsystem. Wenn Sie diese Regeln nicht beachten, dann wird

Ihre »Lösung« eines Falls – auch wenn das Ergebnis nach »dem Bauchgefühl« richtig ist – nicht akzeptiert werden. In einem Exkurs werde ich Ihnen noch erklären, wie Sie die Strafe bestimmen, wenn ein Täter mehrere Straftaten begeht.

Die Struktur des Straftatsystems Nur von strafrechtsgeschichtlichem Interesse ist die Tatsache, dass sehr lange wissenschaftlich darüber gestritten worden ist (und bis heute immer einmal wieder gestritten wird), in welcher Weise das Straftatsystem strukturiert werden soll. Durchgesetzt hat sich ein dreigliedriger Aufbau, dem dieses Buch folgt: Tatbestandsmäßigkeit Rechtswidrigkeit Schuld Ich benutze gerne das Bild von Ebenen: Wenn ein Strafrechtsfall geprüft werden soll, dann muss auf der ersten Ebene zunächst geklärt werden, ob ein Verhalten der Beschreibung eines verbotenen Verhaltens im Tatbestand eines Strafgesetzes entspricht. Wenn ein Mensch einem Tatbestand entsprechend gehandelt hat, nennt man das Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens. In der Alltagspraxis des Strafrechts ist die Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit meist keine große Herausforderung. Wenn sich jedoch erst aus einer Auslegung des Gesetzes ergibt, was eigentlich als tatbestandsmäßige Handlung eines Strafgesetzes anzusehen ist, dann kann es kompliziert werden.

Hans und Simone geraten in einen heftigen Beziehungsstreit, der zunächst verbal ausgetragen wird. Als Simone Hans vorhält, ständig fremdzugehen, spuckt Hans Simone ins Gesicht. Es stellt sich hier die Frage, ob Anspucken den Tatbestand der Körperverletzung im Sinne von § 223 StGB erfüllt. Darüber streiten die Gerichte schon seit über einem Jahrhundert. Wenn Sie sich den Tatbestand anschauen, dann ist die Körperverletzung als körperliche Misshandlung oder Gesundheitsschädigung des Opfers definiert. Gesundheitsschädigung meint die Herbeiführung eines pathologischen (krankhaften) Zustandes beim Opfer. Dies ist als Folge von Anspucken auszuscheiden. Bleibt also die körperliche Misshandlung. Der BGH hat erst jüngst in einem Urteil aus dem August 2015 (BGH – 3 StR 289/15) dazu ausgeführt: »Seelische Beeinträchtigungen als solche genügen nicht zur Verwirklichung des Merkmals der körperlichen Misshandlung i.S.d. § 223 StGB. Nötig sind vielmehr körperliche Auswirkungen, weshalb nicht die bloße Erregung von Ekelgefühlen, jedoch das Hervorrufen von Brechreiz das Tatbestandsmerkmal in objektiver Hinsicht erfüllt.« Es wäre also jetzt zu klären, ob Simone das Anspucken einfach nur eklig fand; dann läge keine körperliche Misshandlung vor. Hätte dagegen das Anspucken bei ihr einen Brechreiz ausgelöst, dann läge eine körperliche Misshandlung vor. In Zeiten von Corona gewinnt das Anspucken jedoch eine ganz andere Bedeutung. Wenn beispielsweise eine mit dem Coronavirus infizierte Person eine andere Person anspuckt, dann besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Person auch ansteckt.

Das AG Braunschweig (Urteil vom 29. Oktober 2020 – 112 C 1262/20) hat hierzu wie folgt entschieden: »Das Anhusten gegen das Gesicht während der CoronaPandemie, bei dem unweigerlich körperliche Aerosole freigesetzt werden, ist geeignet, das körperliche Wohlbefinden und die Gesundheit zu beeinträchtigen. Die Gesundheitsbeeinträchtigung resultiert hierbei aus den potentiellen Viren in den körpereigenen Aerosol-Partikeln.« In diesem Zusammenhang ergeben sich aber Beweisschwierigkeiten, insbesondere die Kausalität (Ursächlichkeit) wird in meisten Fällen schwierig sein. Es muss zunächst festgestellt werden, ob der Täter an Corona erkrankt ist oder nicht. Ist er erkrankt, muss wiederum danach gefragt werden, ob er von seiner Erkrankung weiß. Schließlich ist es auch wichtig, ob das Opfer bereits an Corona erkrankt ist oder nicht. Und wenn es nicht erkrankt ist, muss geprüft werden, ob es zeitlich nachfolgend erkrankt und ob diese Erkrankung auf das »Anhusten« zurückzuführen ist. In den Fällen des vorsätzlichen Anspuckens ist auch immer an eine Strafbarkeit wegen einer Beleidigung (§ 185 StGB) zu denken, da der Täter durch sein Verhalten zumeist eine Missbilligung und Herabwürdigung seines Opfers ausdrücken möchte. Haben Sie nun die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens festgestellt, sagt dies aber grundsätzlich noch nichts darüber aus, ob es sich auch um strafwürdiges Unrecht gehandelt hat. Sie prüfen auf dieser Ebene nur, ob sich eine Person so verhalten hat, dass der Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt ist. Es kann aber gute Gründe dafür geben, dass sich die Person so verhalten durfte, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Diese Gründe nennt man Rechtfertigungsgründe und man prüft

auf der zweiten Ebene des Straftatsystems, ob sich solche Gründe für das Verhalten finden lassen. Ein klassischer Rechtfertigungsgrund ist die Notwehr: Wenn ich von einem anderen Menschen rechtswidrig angegriffen werde, darf ich mich dagegen zur Wehr setzen und diese Person im extremen Fall sogar töten. Ich habe dann tatbestandsmäßig gehandelt, zum Beispiel den Tatbestand des Totschlags (§ 212 StGB) erfüllt, aber ich habe damit nicht im Widerspruch zur Rechtsordnung gehandelt. Damit entfällt meine Strafbarkeit auf der Ebene der Rechtswidrigkeit. Anton schlägt Peter eine Bierflasche auf den Kopf. Das erfüllt ohne jeden Zweifel den Tatbestand der Körperverletzung. Die Ermittlungen fördern aber folgende Vorgeschichte zutage: Anton und Peter hatten einen verbalen Streit. Plötzlich hat Peter ein Messer gezogen und Anton mit den Worten »Verschwinde hier, sonst steche ich dich ab« vor die Brust gehalten. Daraufhin hat Anton Peter die Bierflasche auf den Kopf geschlagen. Anton durfte sich gegen den rechtswidrigen Messerangriff von Peter so zur Wehr setzen, dass seine körperliche Unversehrtheit (ja vielleicht sein Leben) nicht weiter bedroht wird. Er hat in Notwehr (§ 32 StGB) gehandelt und ist gerechtfertigt. Seine tatbestandsmäßige Körperverletzungshandlung scheidet auf der Ebene der Rechtswidrigkeit aus dem Straftatsystem aus. Jedoch darf nur für eine schuldhaft begangene Straftat eine Strafe verhängt werden. Nur wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat schuldfähig war und ihm sein Verhalten vorgeworfen werden kann, tritt ihm die Rechtsordnung mit dem Vorwurf entgegen, dass er sich für das Unrecht entschieden hat. Bleiben wir bei der Auseinandersetzung zwischen Anton und Peter – und bilden wir zwei Fallvarianten:

Peter hat Anton nicht bedroht, vielmehr hat ihm Anton grundlos die Bierflasche auf den Kopf geschlagen. Als die Polizei am Ort des Streits eintrifft, haben die Beamten den Eindruck, dass Anton erheblich alkoholisiert ist. Es wird eine Blutentnahme angeordnet und eine Blutalkoholkonzentration von 3,4 Promille festgestellt. Peter hat Anton wahrheitsgemäß erzählt, dass dessen Frau einen Geliebten hat. Anton hat dies als Lüge und eine schwere Kränkung seiner Ehre angesehen und war der Meinung, dass er sich gegen eine solche Ehrkränkung körperlich zur Wehr setzen darf. Im Fall der Volltrunkenheit fehlte Anton infolge der Wirkungen des Alkohols die Fähigkeit zur Einsicht in das Unrecht seiner Tat und die Fähigkeit, sein Verhalten zu steuern. Schuldunfähige bleiben straflos, § 20 StGB. Im Fall der »Ehrverteidigung« irrt sich Anton über die Existenz eines Erlaubnissatzes für sein Verhalten. Ein solcher »Erlaubnisirrtum« ist wie ein Verbotsirrtum nach den Regeln des § 17 StGB zu behandeln. Das heißt, ein solcher Irrtum entschuldigt nur, wenn er für den Täter unvermeidbar war. Hat ein Täter nicht genug nachgedacht und sein Gewissen befragt, dann entschuldigt ein solcher Irrtum nicht. So wird das bei der impulsiven Reaktion von Anton gewesen sein. Wenn Sie auf der ersten Ebene der Straftatsystems festgestellt haben, dass das Verhalten des Täters den Tatbestand erfüllt, wenn Sie auf der zweiten Ebene keinen Grund finden, der das Verhalten des Täters rechtfertigt, wenn Sie auf der dritten Ebene keine Anhaltspunkte für eine Schuldunfähigkeit oder Entschuldigungsgründe für den Täter

finden, dann haben Sie nach dem Durchgang des Straftatsystems festgestellt, dass gegen den Täter eine Strafe verhängt werden kann. Schauen Sie sich jetzt einmal die einzelnen Stufen genauer an.

Die Tatbestandsmäßigkeit Der Tatbestand eines Strafgesetzes meint die Beschreibung einer Situation, von Handlungsweisen und deren Folgen, die zu der Rechtsfolge einer Bestrafung führen. Diese Beschreibungen des gesetzlichen Tatbestandes stehen unter der Anforderung, sehr vielgestaltige Situationen und Handlungsweisen in möglichst allgemeiner Form »auf den Punkt« zu bringen. Dabei muss die verfassungsrechtliche Anforderung der Bestimmtheit von Strafgesetzen (Art. 103 II GG) beachtet werden. Sie erinnern sich, es geht um die Garantiefunktion der Gesetze. Das heißt, die Bürgerinnen und Bürger müssen erkennen können, welches Verhalten den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt und die Gerichte müssen durch das Gesetz klare Anhaltspunkte für ihre Beurteilung von Fällen erhalten. Wie kann es da sein, dass schon die Frage, ob Anspucken eine Körperverletzung ist, zu unterschiedlichen Entscheidungen führt? Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 126, 170 [194 f.]) hat das Problem, bestimmte Strafgesetze zu schaffen, wie folgt beschrieben: »Allerdings muss der Gesetzgeber auch im Strafrecht in der Lage bleiben, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden. Müsste er stets jeden Straftatbestand bis ins Letzte ausführen, anstatt sich auf die wesentlichen für die Dauer gedachten Bestimmungen über Voraussetzungen, Art und Maß der Strafe zu beschränken, bestünde die Gefahr, dass die Gesetze zu starr und kasuistisch würden und dem

Wandel der Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalls nicht mehr gerecht werden könnten. Wegen der gebotenen Allgemeinheit und der damit zwangsläufig verbundenen Abstraktheit von Strafnormen ist es unvermeidlich, dass in Einzelfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht.« Das bedeutet für Sie auf sehr unterschiedlichem Schwierigkeitsniveau, dass Sie bei der Anwendung von Straftatbeständen in der Tatbestandsmäßigkeit mit Auslegungsschwierigkeiten konfrontiert sein können und nach einer Lösung suchen müssen. Zum Beispiel: Ist marktschreierische Werbung (»CleopatraVerjüngungsbad«) eine Täuschung im Sinne des Betrugstatbestandes (§ 263 StGB)? Ist das Abrasieren des Bartes im Schlaf eine Körperverletzung (§ 223 StGB)? Ist die Drohung mit dem Outen der Homosexualität des Arbeitsgebers, um eine Lohnerhöhung zu erhalten, eine Erpressung (§ 253 StGB)? Macht sich diejenige wegen Datenveränderung (§ 303 a StGB) strafbar, die heimlich vom Smartphone ihres Freundes anlässlich der Trennung gemeinsame Selfies löscht? Übt derjenige Gewalt (§ 240 StGB) aus, der sich im Rahmen einer Demonstration blockierend auf eine Straßenkreuzung setzt? Wie Sie bei der Auslegung eines gesetzlichen Tatbestandes vorgehen, werde ich mit Ihnen am Ende von Kapitel 5 besprechen. Hier nur so viel: Bedenken Sie immer, worauf ich Sie in Kapitel 2 hingewiesen habe. Für ein rechtsstaatliches Strafrecht ist seine Begrenzung zentral und nicht seine grenzenlose

Ausdehnbarkeit. Auch wenn Sie es vielleicht eine »Riesensauerei« finden, dass jemand unbefugt Fotos vom Handy löscht, sollte es nicht Ihr Ziel sein, noch irgendeinen Auslegungsdreh zu finden, um das in den Bereich strafbaren Verhaltens zu bekommen. Neben dem objektiven Tatbestand prüfen Sie auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit noch den subjektiven Tatbestand. Ausführlich informiere ich Sie dazu in Kapitel 10. Es geht im subjektiven Tatbestand im Kern darum, ob die Vorstellungen des Täters mit dem übereinstimmen, was im objektiven Tatbestand als Voraussetzungen und als Geschehensablauf festgestellt worden ist. Wenn Anton Peter eine Bierflasche über den Kopf schlägt, dann ist das jedenfalls eine körperliche Misshandlung und wird regelmäßig auch eine Gesundheitsschädigung sein, weil dies zu Verletzungen der Kopfhaut und des darunterliegenden Gewebes führen wird. Es besteht also kein Zweifel daran, dass dieses Verhalten von Anton den objektiven Tatbestand einer Körperverletzung erfüllt. Im subjektiven Tatbestand fragen Sie nun, ob Anton bei dem Schlag mit der Bierflasche auch weiß, dass er Peter damit misshandelt und ihm höchstwahrscheinlich Kopfverletzungen zufügt. Und Sie fragen weiter nach der Willensbeziehung von Anton zu seiner Verhaltensweise: Wollte Anton bei dem Schlag mit der Flasche Peter verletzen? Wissen und Wollen sind die beiden konstituierenden Elemente der inneren Tatseite. Bei einigen Straftatbeständen kommen noch weitere, die innere Tatseite steigernde Willenselemente hinzu. Das können Sie gut am Tatbestand des Diebstahls (§ 242 StGB) sehen. Der Tatbestand beschreibt zunächst eine äußere Situation. Der Täter nimmt eine fremde Sache weg. Diese beiden Momente müssen in seiner Vorstellung präsent sein. Erstens: Ich weiß,

dass mir diese Sache nicht gehört. Zweitens: Trotzdem will ich diese Sache wegnehmen. Weiter heißt es dann im Diebstahlstatbestand: »in der Absicht (…), die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen.« Dies bedeutet, dass das Geschehen von einem bestimmten Willen geprägt sein muss – nämlich für sich oder einen anderen Besitz von der Sache zu ergreifen. Diese Stufe in der Strafbarkeitsprüfung weist zuweilen enorme Schwierigkeiten auf. Sie können nicht sehen, was sich hinter der Stirn eines Täters abspielt. Wenn ein Beschuldigter hierzu keine Aussagen macht, müssen Sie versuchen, aus dem äußeren Tatgeschehen Rückschlüsse auf die inneren Vorstellungen des Täters zu ziehen. Klar ist, dass sich gerade bei schweren Tatvorwürfen Täter auf die Verteidigungslinie zurückziehen, dass sie entweder nicht wussten, was sie da taten, oder nicht wollten, was als Folge ihrer Handlungen eingetreten ist.

Die Rechtswidrigkeit Auch wenn ein Verhalten dem äußeren Geschehensablauf (objektiver Tatbestand) wie der inneren Haltung des Täters (subjektiver Tatbestand) nach alle Elemente aufweist, um den Tatbestand eines Strafgesetzes zu erfüllen, bedeutet dies noch nicht zwingend, dass es sich um Unrecht handelt. Es ist schon aus der allgemeinen Moral bekannt, dass es kaum eine Verhaltensregel gibt, die nicht auch Ausnahmen kennt. Dies gilt selbst für ein so unbedingtes Prinzip wie »Du sollst nicht töten«. Hier sind zum Beispiel als Ausnahmen anerkannt: »Es sei denn, dass du als Soldat in einem Verteidigungskrieg einen Feind tötest oder einen rechtswidrigen Angriff auf deine Person nicht anders abwehren kannst.«

So kann es auch gute Gründe dafür geben, eine demente Person am Verlassen ihrer Wohnung zu hindern (Freiheitsberaubung, § 239 StGB), einem jähzornigen Menschen seine Waffe wegzunehmen (Diebstahl, § 242 StGB) oder einen betrunkenen Freund vor Schlimmerem zu bewahren, indem man sein Auto vor der Tür der Gastwirtschaft lahmlegt (Sachbeschädigung, § 303 StGB). In der Regel wird man auch sagen können, dass eine Handlung, die der Betroffene selber will, kein Unrecht sein kann. Wenn Sie sich die Nase in einem kosmetisch-chirurgischen Eingriff richten lassen, dann ist das ein blutiger und schmerzhafter Eingriff, der den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt. Wenn Sie diesen Eingriff aber selber gewünscht haben, vom operierenden Arzt aufgeklärt worden sind und dem Eingriff dann zugestimmt haben, dann ist nicht zu begründen, warum dies ein Unrecht sein soll. Freilich enthält das Gesetz (§ 228 StGB) die Einschränkung, dass eine Einwilligung nur dann rechtfertigend wirkt, wenn es sich nicht um ein Geschehen handelt, das gegen die guten Sitten verstößt. Dies wirft zum Beispiel die sehr spannende Frage auf, ob sich Hooligans miteinander zu einer Schlägerei verabreden können und das ganze Geschehen unter dem Gesichtspunkt der Einwilligung straflos ist. Zu solchen sogenannten »Dritten Halbzeiten« hat der Bundesgerichtshof in einem Urteil aus dem Jahre 2013 (BGH 1 StR 585/12) erklärt: »Findet die Tat unter Bedingungen statt, die den Grad der aus ihr hervorgehenden Gefährlichkeit für die körperliche Unversehrtheit oder gar das Leben des Verletzten begrenzen, führt dies regelmäßig dazu, die Körperverletzung als durch die erklärte Einwilligung gerechtfertigt anzunehmen. Fehlt es dagegen an derartigen Regularien, ist eine Körperverletzung trotz der erteilten Einwilligung grundsätzlich sittenwidrig.«

In den Bereich der Rechtswidrigkeit gehört auch die Frage, in welcher Weise sich betroffene Frauen und Kinder gegen sogenannte Haustyrannen, die mit Gewalt und sexuellen Übergriffen herrschen, zur Wehr setzen dürfen. Es gibt so vielfältige Situationen und so unterschiedliche Gründe, durch die das Unrecht einer Tat infrage gestellt werden kann, dass ich Ihnen später in den Kapiteln 14 bis 17 nur eine Auswahl der wichtigsten Probleme vorstellen kann. Ich darf Ihnen aber versprechen, dass Sie dabei eine besonders spannende Materie kennenlernen werden – spannend auch deswegen, weil hier das »Bauchgefühl« und die juristische Bewertung weit auseinanderliegen können.

Die Schuld »Schuld« ist ein Begriff mit vielen Bedeutungen und Verwendungszusammenhängen. Die Redewendung »du bist schuld« wird im Alltag in allen möglichen Zusammenhängen benutzt: Du bist schuld daran, dass es mir schlecht geht, weil du mich betrogen hast; du bist schuld daran, dass ich friere, weil du keinen Pullover für mich eingepackt hast; du hast selber schuld daran, dass du die Prüfung nicht bestanden hast und so weiter. »Schuld« spielt auch eine große Rolle in der Ethik und in vielen Glaubenslehren: So kann man Schuld auf sich laden, weil man eine ethische Pflicht – zum Beispiel die Wahrhaftigkeit – durch eine Lüge verletzt, oder man kann schwere Schuld auf sich laden, wenn man sich von Gott abwendet und nicht mehr seinen Geboten folgt. Im Strafrecht geht es auf der Ebene der Schuld darum, ob dem Täter ein Vorwurf für sein Handeln gemacht, ob ihm die Tat zur Last gelegt werden kann und damit ein Tadel in Gestalt der Strafe berechtigt ist. Wenn ich einen Menschen für etwas bestrafe, dann setzt dies nach unserem Verständnis von Gerechtigkeit voraus, dass dieser Mensch etwas für sein Verhalten kann. Anders ausgedrückt, dass er die Freiheit hatte, sich zwischen der

Befolgung und der Verletzung des strafrechtlichen Verbots zu entscheiden. In den Worten der klassischen Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Begriff der Schuld (BGHSt 2, 194 [200]): »Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfes liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden.« Diese Definition würde zahlreiche sehr grundlegende Fragen nach der Willensfreiheit und Selbstbestimmung aufwerfen, wenn im Straftatsystem auf der Ebene der Schuld jedes Mal positiv festgestellt werden müsste, dass sich der Täter frei für die Begehung eines Unrechts entschieden hat. Die methodische Vorgehensweise ist aber umgekehrt: Es wird auf der Ebene der Schuld im Normalfall von der Vorwerfbarkeit des Verhaltens ausgegangen und nur nach einem Ausschlussmodell gefragt, ob Gründe für eine fehlende Vorwerfbarkeit des Verhaltens vorliegen könnten. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn der Täter von den strafrechtlichen Verboten und ihrer Bedeutung für sein Verhalten in der Situation wegen Intelligenzminderung, Geisteskrankheit, schweren Rauschzuständen und so weiter (vgl. § 20 StGB) nicht erreicht werden konnte. Wenn ich die Kontrolle über meinen Verstand und mein Verhalten verloren habe, dann bin ich nicht mehr in der Lage, mich »für das Recht und gegen das Unrecht« zu entscheiden.

Auch außerhalb von geistigen Störungen kann es sein, dass ich mir bei meinen Handlungen nicht bewusst bin, dass ich mich für Unrecht entschieden habe. Diese Situation wird im Strafrecht unter die Regelung über den sogenannten Verbotsirrtum (§ 17 StGB) gefasst. Dabei geht es um Situationen wie diese: Der 83-jährigen Martha geht es von Tag zu Tag schlechter, ihr Hausarzt geht davon aus, dass sie keine sechs Monate mehr leben wird. Martha wird von der häuslichen Krankenpflegerin Simone betreut. Martha bittet Simone flehentlich, ihr eine tödliche Dosis eines Schlafmittels zu spritzen. Simone ist der Meinung, dass eine aktive Sterbehilfe unter diesen Umständen erlaubt ist, und tötet Martha durch eine Überdosis. Tatsächlich ist die Rechtslage so, dass das Verhalten von Simone als Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) strafbar ist. Es steht völlig außer Frage, dass der Tatbestand erfüllt ist: Simone hat Martha durch die Injektion einer Überdosis getötet und ist dabei mit vollem Bewusstsein und Willen vorgegangen. Es ist auch nicht erkennbar, dass es gute rechtfertigende Gründe für ihre Tat gibt; eine Einwilligung in die eigene Tötung ist in der deutschen Rechtsordnung nicht anerkannt. Freilich hat das Bundesverfassungsgericht in einem aufsehenerregenden Beschluss vom 26. Februar 2020 (BvR 2347/15 u.a.) die rechtliche Dimension der gesellschaftlichen Diskussion über die Sterbehilfe nachhaltig verändert. Sie erinnern sich bestimmt noch an meine Ausführungen zur Anbindung des Strafrechts an das Grundgesetz. Das strafrechtliche Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung durch den im Jahre 2015 eingeführten § 217 StGB hat das BVerfG für nichtig erklärt. Dazu hat das Gericht das Folgende ausgeführt:

»Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs.1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. b) Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. c) Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.« Mit dieser fundamentalen Begründung hat der Zweite Senat entschieden, dass das in § 217 des Strafgesetzbuchs (StGB) normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gegen das Grundgesetz verstößt und nichtig ist, weil es die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung faktisch weitgehend ausschließe. Der BGH hat kürzlich einen Beschluss (vom 28. Juni 2022, 6 StR 68/21) erlassen, in der eine entsprechende verfassungskonforme Auslegung des § 216 StGB sichtbar wird. Nach dem BGH hat die Abgrenzung wie folgt zu erfolgen: »Täter einer Tötung auf Verlangen ist, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht, auch wenn er sich damit einem fremden Selbsttötungswillen unterordnet. Entscheidend ist, wer den lebensbeendenden Akt eigenhändig ausführt. Gibt sich der Suizident nach dem Gesamtplan in die Hand des anderen, um duldend von ihm den Tod entgegenzunehmen, dann hat dieser die Tatherrschaft. Behält der Sterbewillige dagegen bis zuletzt die freie Entscheidung über sein Schicksal, dann tötet er

sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe. Dies gilt nicht nur, wenn die Ursachenreihe von ihm selbst, sondern auch, wenn sie vom anderen bewirkt worden war. Solange nach Vollzug des Tatbeitrags des anderen dem Sterbewilligen noch die volle Freiheit verbleibt, sich den Auswirkungen zu entziehen oder sie zu beenden, liegt nur Beihilfe zur Selbsttötung vor« Danach muss also die Abgrenzung einer strafbaren Tötung auf Verlangen von strafloser Beihilfe zur Selbsttötung anhand einer wertenden Betrachtung vorgenommen werden. Dabei ist wichtig, ob das Opfer, auch wenn ein anderer die Ursachenreihe setzt, noch die volle Freiheit hat, sich den Auswirkungen zu entziehen. Auf der Ebene der Schuld stellt sich die Frage, ob man Simone ihr Verhalten zum Vorwurf machen kann, wenn sie erklärt, dass sie aktive Sterbehilfe nicht für verboten hielt. Man kann zwar nicht erwarten, dass jeder Mensch die Regelungen des Strafrechts im Einzelnen kennt; man wird aber am Beispiel sagen können, dass ein Mensch in der Krankenpflege eine Vorstellung von für seine Tätigkeit wichtigen Strafrechtsnormen haben sollte. Auch wird man auf die ständige gesellschaftliche Diskussion über Sterbehilfe hinweisen müssen, in der gerade das Verbot aktiver Tötung immer wieder hervorgehoben wird. Vor diesem Hintergrund erscheint es sehr zweifelhaft, dass sich Simone über das Verbot der aktiven Sterbehilfe irren konnte. Der Bundesgerichtshof hat in der gerade zitierten Entscheidung zur Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums ausgeführt: »(Der Täter hat sich) bei allem, was er zu tun im Begriff steht, bewusst zu machen, ob es mit den Sätzen des rechtlichen Sollens in Einklang steht. Zweifel hat er durch Nachdenken oder Erkundigung zu beseitigen. Hierzu bedarf es der Anspannung des Gewissens, ihr Maß richtet sich nach den Umständen des Falles und nach dem Lebensund Berufskreis des Einzelnen. Wenn er trotz der ihm

danach zuzumutenden Anspannung des Gewissens die Einsicht in das Unrechtmäßige seines Tuns nicht zu gewinnen vermochte, war der Irrtum unüberwindlich, die Tat für ihn nicht vermeidbar. In diesem Falle kann ein Schuldvorwurf gegen ihn nicht erhoben werden.« Nach diesen Leitsätzen wird Simone also nicht durch einen Verbotsirrtum in der Schuld entlastet und hat sich einer Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) strafbar gemacht. Schließlich können sich Gründe für eine Entschuldigung des Täters noch aus einer Bedrängnis ergeben. Es kann Situationen geben, in denen man weiß, dass man ein Gesetz verletzt. In denen es klar ist, dass Gründe für eine Rechtfertigung des Verhaltens nicht zu finden sind. Aber man kann nicht tatenlos zusehen und handelt nach dem lutherschen Motto: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir.« Ein Güterzug droht wegen falscher Weichenstellung in einen Bahnhof zu rasen und auf einen mit über 200 Menschen vollbesetzten stehenden Personenzug aufzuprallen. Ein Weichensteller erkennt im Stellwerk diese Gefahr und leitet im letzten Moment den Güterzug auf ein Nebengleis um. Er weiß zwar, dass dort eine Gruppe von fünf Gleisarbeitern ist, hält aber das drohende Unglück für die Passagiere für gewichtiger. Drei der fünf Gleisarbeiter kommen ums Leben. Durch die Umstellung der Weiche sind diese drei Menschen zu Tode gekommen. Dem Weichensteller war dies als mögliche Folge seines Handelns auch bewusst. Er wollte zwar nicht die Gleisarbeiter töten, nahm aber deren Tod billigend in Kauf. Es sind auch keine Rechtfertigungsgründe für seine Tat ersichtlich. Der Weichensteller hat bei klarem Verstand gehandelt. Er hat sich auch nicht darüber geirrt, dass die Tötung von Menschen verboten ist.

Gleichwohl stellt sich die Frage, ob es als angemessen und gerecht erscheint, dem Weichensteller sein Verhalten strafrechtlich zum Vorwurf zu machen. Wenn (siehe oben) der Kern des Schuldvorwurfs im »Anders-handeln-Können« besteht und man sich in die Situation des Weichenstellers versetzt, dann war diese nicht so beschaffen, dass man von ihm eine anspruchsvolle und umfassende ethische Abwägung verlangen konnte – er hatte gar nicht die Zeit, groß nachzudenken. Zwar gilt in unserer Rechtsordnung der Grundsatz, dass Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden dürfen. Man darf die Tötung von Menschen nicht als Mittel zur Rettung anderer Menschen benutzen. Gleichwohl ist es gut nachvollziehbar, dass der Weichensteller in der konkreten Lage etwas Gutes und nichts Böses tun wollte und nur die Alternative hatte, tatenlos dem Ablauf einer Katastrophe zuzusehen. Er wird in der Verarbeitung der Ereignisse noch genug mit eigenen Schuldgefühlen zu tun haben und es ist überflüssig, ihm auch noch einen strafrechtlichen Vorwurf zu machen. Auf die Einzelheiten der Prüfungsstufe der Schuld werde ich in Kapitel 18 zurückkommen.

Exkurs: Die Strafe bei mehreren Straftaten – Konkurrenzen In der Realität von Kriminalität kommt es oft vor, dass im Rahmen eines Geschehens mehrere Tatbestände verwirklicht werden.

Anton will später am Abend in eine Villa einbrechen. Deswegen schaut er sich schon einmal nach einem Auto für den Abtransport der Beute um und entwendet schließlich gegen 23 Uhr einen Kombi. Er fährt damit zu der Villa. Um in das Haus zu gelangen, muss Anton einen hohen Zaun um das Grundstück überwinden. An der Rückseite der Villa angekommen, bricht Anton die Terrassentür mit einem Schraubenzieher auf und verursacht einen Schaden von circa 300 Euro. Er nimmt dann Schmuck und eine chinesische Vase im Wert von circa 15.000 Euro mit. Häufig sind vor Gericht auch mehrere getrennte, im Lauf der Zeit begangene Straftaten zusammen zu beurteilen. Bert hatte den ganzen Winter über keine Arbeit und zu wenig Geld. Er hat deswegen mehrfach Bekleidungsstücke und Lebensmittel an verschiedenen Tagen und Orten gestohlen. In der Gerichtsverhandlung sind nun aus diesem Zeitraum neun Diebstähle und drei Diebstahlsversuche zu verhandeln und bestrafen. Erfüllt ein Täter mehrere Tatbestände, so ist die Frage zu klären, in welchem Verhältnis diese Straftaten zueinander stehen und wie die Strafe zu bestimmen ist. Dafür enthält das Gesetz zwei Regelungen. § 52 StGB (Tateinheit) bestimmt: 1. Verletzt dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze oder dasselbe Strafgesetz mehrmals, so wird nur auf eine Strafe erkannt. 2. Sind mehrere Strafgesetze verletzt, so wird die Strafe nach dem Gesetz bestimmt, das die schwerste Strafe androht. Sie darf nicht milder sein, als die anderen anwendbaren Gesetze es zulassen.

In § 53 StGB (Tatmehrheit) heißt es: 1. Hat jemand mehrere Straftaten begangen, die gleichzeitig abgeurteilt werden, und dadurch mehrere Freiheitsstrafen oder mehrere Geldstrafen verwirkt, so wird auf eine Gesamtstrafe erkannt. Die wichtigste Weiche bei der Prüfung von Konkurrenzen ist gleich zu Beginn zu stellen. Es geht um die Frage, ob Sie es mit einer Handlung (§ 52 StGB) oder mehreren Handlungen (§ 53 StGB) zu tun haben. Wie Sie gleich sehen werden, ist diese Frage kompliziert. Eine Handlung liegt nicht nur dann vor, wenn zum Beispiel Anton Bert mit einem Schuss tötet. In bestimmten Konstellationen können auch mehrere Handlungen zu einer Handlung im Rechtssinne verbunden sein. In der universitären Ausbildung ist diese komplizierte Materie mangels praktischer Anschauung regelmäßig nur schwer zu vermitteln. Häufig wird in den Klausuren bei der Behandlung dieses Themas geraten. Die folgenden Begrifflichkeiten und Regeln sollten Sie unbedingt lernen, weil der Gesetzestext nicht genug hergibt, um das Problem »nach dem Text« ordentlich zu bearbeiten.

Handlungseinheit Bei der Tateinheit (§ 52 StGB) geht es darum, dass dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze oder mehrmals dasselbe Strafgesetz verletzt. Verletzt eine Handlung mehrere Strafgesetze, spricht man von ungleichartiger Idealkonkurrenz; verletzt dagegen eine Handlung ein Strafgesetz mehrfach, dann spricht man von gleichartiger Idealkonkurrenz. Von einer Handlung im natürlichen Sinne spricht man, wenn ein Willensentschluss in genau einer Handlung umgesetzt wird. Wenn Anton mit dem Willen, Bert zu töten, genau einmal in dessen Hals sticht, dann stellen sich überhaupt keine Konkurrenzfragen.

Davon zu unterscheiden ist die natürliche Handlungseinheit. Hier sind zwar mehrere Handlungen zu erkennen, aber das Geschehen wird von einem einheitlichen Willen bestimmt, die Handlungen weisen einen im Wesentlichen gleichartigen Charakter auf und finden in einem engen räumlich-zeitlichen Zusammenhang statt. Wenn Anton zunächst Bert mit einem Seil erdrosseln will, dann ein Messer zunächst in den Hals und dann in den Rücken sticht, um Bert zu töten, dann stellt sich das als ein zusammenhängendes Geschehen dar. Es wäre natürlich möglich, von einem Tötungsversuch durch Erdrosseln plus Tötungsversuch durch den Messerstich in den Hals plus Tötungsversuch durch den Messerstich in den Rücken auszugehen. Man würde hierdurch jedoch ein Geschehen durch scharfsinnige rechtliche Betrachtungen sezieren und der natürlichen Betrachtungsweise nicht gerecht werden. Auch hier stellen sich keine Konkurrenzfragen, weil es sich um einen eskalierenden Tötungsversuch handelt. Manchmal enthält bereits die Tatbestandsbeschreibung eine Verschmelzung von einzelnen Handlungen zu einer tatbestandlichen Handlungseinheit. Das gilt zum Beispiel für ein zweiaktiges Delikt wie den Raub (§ 249 StGB). Der Raubtatbestand (§ 249 StGB) besteht aus dem Einsatz des Nötigungsmittels Gewalt oder Drohung mit dem Ziel, eine Sache wegzunehmen. Zerlegt man diesen Tatbestand, dann macht sich der Räuber einer Nötigung (§ 240 StGB) und eines Diebstahls (§ 242 StGB) strafbar. Durch § 249 StGB werden diese beiden Handlungen jedoch zu einer rechtlich-sozialen Bewertungseinheit zusammengefasst. Sehr lange hat sich die Rechtsprechung (bis zur Entscheidung BGHSt 40, 138) einer pragmatischen Lösung bedient, um Serienstraftaten vereinfacht erfassen zu können. Wenn von einem Gesamtvorsatz (»Ich werde ab sofort eine Reihe von Betrugstaten bei eBay begehen«), einer gleichartigen Deliktsverwirklichung (»Ich biete Produktfälschungen als Originale an«) und einer Angriffsrichtung gegen dasselbe Rechtsgut

(»Vermögensschädigung«) auszugehen war, konnten zahlreiche Taten zu einer fortgesetzten Tat zusammengefasst werden. Dies ist von der Rechtsprechung aufgegeben worden. Einige Konstellationen dieser Art werden nunmehr durch die Figur der natürlichen Handlungseinheit erfasst.

Gesetzeskonkurrenz Hat man im ersten Schritt geklärt, ob Handlungseinheit oder Handlungsmehrheit vorliegt, ist die daraus folgende grundsätzliche Einordnung als Tateinheit oder Tatmehrheit nunmehr einer Art Gegenprobe zu unterziehen. Es ist nämlich möglich, dass gar nicht alle Straftatbestände, die Sie auf den Fall anwenden konnten, in die rechtliche Beurteilung des Gesamtgeschehens eingehen. Wie kann das sein? Im Rahmen der Gesetzeskonkurrenz prüfen Sie, ob die verwirklichten Gesetze nicht miteinander konkurrieren. Es kann sein, dass eine Strafvorschrift begriffsnotwendig alle Merkmale einer anderen enthält und darüber hinaus noch zusätzliche weitere Merkmale (Spezialität), eine Strafvorschrift bestimmt, dass diese nur nachrangig anzuwenden ist, wenn nicht eine andere Norm einschlägig ist (formelle Subsidiarität ), der weniger intensive Rechtsgutangriff gegenüber dem weitreichenderen Rechtsgutsangriff zurücktritt (materielle Subsidiarität), eine Strafvorschrift den Unrechtsgehalt anderer Delikte mit umfasst (Konsumtion). Der Vorrang der Spezialnorm gegenüber dem allgemeineren Gesetz (Spezialität) besteht zum Beispiel im Verhältnis von Totschlag (§ 212 StGB) zur Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB). Wenn der todkranke Fred seinen engsten Freund Georg inständig

bittet, ihm ein tödliches Gift zu verabreichen, dann handelt es sich nach den Merkmalen des Grundtatbestandes um einen Totschlag. Jedoch wird diese Tat durch den Umstand, dass Georg auf ernsthaftes Bitten von Fred hin handelte, im Unrecht wesentlich anders eingestuft und durch den Tatbestand des § 216 StGB privilegiert. Dieses Gesetz geht nach dem Prinzip der Spezialität vor. Ein besonders wichtiges und klar erkennbares Beispiel für die formelle Subsidiarität ist der Tatbestand der Unterschlagung (§ 246 StGB). Dort heißt es: »Wer eine fremde bewegliche Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zueignet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.« Damit teilt das Gesetz mit, dass die Unterschlagung als ein sogenannter Auffangtatbestand anzusehen ist. Der Tatbestand greift nur dann ein, wenn nicht andere Eigentums- oder Vermögensdelikte auf die Zueignung der fremden Sache anwendbar sind. Umgekehrt ausgedrückt: § 246 StGB ist subsidiär zu allen gleichzeitig begangenen Eigentums- oder Vermögensdelikten. Die materielle Subsidiarität orientiert sich an verschiedenen Stadien und einer verschiedenen Angriffsintensität. Daraus folgt zum Beispiel, dass der Versuch gegenüber der Vollendung einer Straftat zurücktritt. Die leichtere Beteiligungsform der Beihilfe ist gegenüber der Anstiftung subsidiär. Die Körperverletzung als Durchgangstat tritt gegenüber der Tötung zurück. Die Konsumtion tritt zum Beispiel beim Einbruchsdiebstahl (§ 243 StGB) gegenüber den regelmäßig mitverwirklichten Taten der Sachbeschädigung (§ 303 StGB) und des Hausfriedensbruchs (§ 123 StGB) zurück, da der Bestrafung wegen dieser Taten angesichts des Strafrahmens für den besonders schweren Fall

des Diebstahls (§ 243 StGB, bis zu zehn Jahre) keine Bedeutung mehr zukommt. Hat der Täter die verwirklichten Delikte in Handlungsmehrheit begangen, so kann es sein, dass gleichwohl die Bestimmung der Strafe nicht nach der Regelung des § 53 StGB erfolgt, weil die Einbeziehung von Handlungen an folgenden Arten der Gesetzeskonkurrenz scheitert: Mitbestrafte Vortat: Unter einer mitbestraften Vortat versteht man ein selbstständig strafbares Verhalten, das der späteren Verwirklichung eines anderen Tatbestandes vorausgeht und dessen Unrechtsgehalt mit in die Bestrafung für diese Tat aufgenommen wird. Wer sich durch Diebstahl oder Unterschlagung einen Autoschlüssel verschafft, um später das dazugehörige Auto zu stehlen, dessen Autoschlüsseldiebstahl kommt gegenüber dem Autodiebstahl keine gesonderte Bedeutung zu. Mitbestrafte Nachtat: Wenn die Verwirklichung eines Tatbestandes regelmäßig eine nachfolgende Verwertungshandlung mit einschließt, dann liegt ein Fall der mitbestraften Nachtat vor. Wohnungseinbrecher wollen die entwendeten Sachen natürlich nicht sammeln, sondern zu Geld machen. Wenn sie ihre Beute an einen Hehler verkaufen, machen sie sich durch diese Verwertungshandlung nicht noch der Hehlerei (§ 259 StGB) strafbar.

Teil II

Die Elemente des Tatbestandes: Handlung, Erfolg, Zurechnung, Vorsatz



IN DIESEM TEIL … Wann davon gesprochen werden kann, dass ein Mensch gehandelt hat und nicht der Zufall am Werke war; wie Sie feststellen können, ob eine Handlung einen tatbestandsmäßigen Erfolg verursacht hat Wie Sie angesichts der Frage, ob ein Tatbestand auf das Geschehen anwendbar ist, vorgehen müssen – Gesetzesauslegung Strafbares Unterlassen: welche besonderen Zurechnungsregeln für die Strafbarkeit wegen »Nichtstuns« gelten Der subjektive Tatbestand: unter welchen Voraussetzungen gesagt werden kann, dass sich ein Täter mit Vorsatz für eine Rechtsverletzung entschieden hat

Kapitel 4

Der objektive Tatbestand – Einstiegsvoraussetzung: Handlung IN DIESEM KAPITEL Der wissenschaftliche Streit um den Handlungsbegriff Gesicherte Fallgruppen des Nichthandelns Die Einordnung sogenannter automatisierter Verhaltensweisen

Das Strafrecht kann sinnvollerweise nur auf solche Ereignisse reagieren, die sich als ein Werk des menschlichen Willens darstellen. Geschehensabläufe, die sich als eine unglückliche Verkettung von Umständen ohne Mitwirkung des Bewusstseins und Willens von Menschen vollziehen, werden von dem Appell des Strafrechts, sich an die Regeln zu halten, nicht erreicht. Mit dem Vorwurf des Anders-handeln-Könnens kann man da niemanden belegen. Der Einstieg in jede Strafbarkeitsprüfung ist also die Frage, ob von einem Menschen gehandelt worden ist.

Der wissenschaftliche Streit um den Handlungsbegriff Über die Einzelheiten des Handlungsbegriffs wird in der deutschen Strafrechtswissenschaft seit über 150 Jahren intensiv und fundamental gestritten. Dieser Streit hat seinen Hintergrund in den Anstrengungen der Strafrechtswissenschaft, für das

Straftatsystem (siehe Kapitel 3) trennscharfe Begriffe zu entwickeln, und in der Vorstellung, dass der Handlungsbegriff dabei der Ausgangsbegriff sein sollte. Folglich wurde um diesen Ausgangsbegriff besonders gerungen. Sie müssen diesen Streit nicht in Einzelheiten kennen, aber Sie müssen eine grobe Idee von diesem Streit haben, um systematisches Strafrechtsdenken zu verstehen. In der Tradition hat Strafrechtsdenken eine intensive Beziehung zur Philosophie. Generell bedeutet das Ringen um Begriffe in der Philosophie, dass man sich nicht mit Fällen und Beispielen für eine Sache zufriedengibt, sondern durch eine Verstandesleistung das Allgemeine und Gemeinsame einer Vielzahl von Erscheinungen herausarbeiten möchte. Wenn man dies auf die Strafrechtstheorie überträgt, geht es also um die Frage, was das Wesen von strafrechtlich relevanten Handlungen ist. Es gibt drei grundsätzliche Handlungsbegriffe: 1. Kausaler Handlungsbegriff: Man kann den Handlungsbegriff auf einen naturalistischen Kern reduzieren. Eine typische Definition lautet dann, dass Handlung die »willkürliche Verursachung oder Nichthinderung einer Veränderung in der Außenwelt ist«. 2. Finale Handlungslehre: Hier wird der Handlungsbegriff mit Wertkategorien verknüpft. Dann kommt es für die Definition der Handlung auf die Zielvorstellungen an. Die Definition lautet danach »ein vom zwecktätigen Willen beherrschtes, final – auf ein Ziel – gesteuertes Geschehen«. 3. Personaler Handlungsbegriff: Handlung kann man auch als »eine Persönlichkeitsäußerung, die der geistig-seelischen Kontrolle des Menschen unterliegt«, definieren. Darüber hinaus gibt es noch unzählige weitere »Handlungsbegriffe«, die zwar in ihrer Darlegung eine beachtliche intellektuelle Leistung darstellen, aber leider wenig zur Lösung von tatsächlichen Problemen der Feststellung von strafrechtlicher

Verantwortlichkeit beigetragen haben. Studierende können nach meiner Erfahrung diese ganze wissenschaftliche Debatte nur schwer nachvollziehen. Praktisch kommt dem Handlungsbegriff nur eine geringe Bedeutung zu. Er hat lediglich eine negative Abgrenzungsfunktion als »erste Prüfstelle der Strafbarkeit zur Ausgrenzung des Zufalls« (Hassemer). Es ist klar, dass man niemanden für etwas zur Verantwortung ziehen kann, was nicht sein Werk ist, sondern unglücklicherweise so geschehen ist. Fälle, in denen das in Rede steht, kommen selten vor.

Gesicherte Fallgruppen des Nichthandelns Nach mittlerweile herrschender Auffassung wird unter einer Handlung das willensgetragene Verhalten eines Menschen verstanden. Dieses Verhalten kann darin bestehen, etwas zu tun oder etwas zu unterlassen (vgl. § 13 StGB). Dies bedeutet für die Bearbeitung strafrechtlicher Fälle Folgendes: Unbewusste Körperbewegung: Sicher keine Handlungen sind unbewusste Körperbewegungen, wie zum Beispiel im Schlaf.

Simone nimmt ihren Säugling Max mit ins Bett. Sie bewegt sich sehr heftig im Schlaf und bricht ihrem Sohn durch ein Überrollen mehrere Rippen. Lageveränderungen im Schlaf sind unbewusst und nicht vom Willen gesteuert. Simone wird am nächsten Morgen selber

erschüttert sein, weil sie von alledem nichts mitbekommen hatte. Es liegt keine auf eine Körperverletzung zielende Handlung vor. In diesem Fall würde man jedoch darüber nachdenken müssen, ob sich Simone der fahrlässigen Körperverletzung strafbar gemacht hat, indem sie Max überhaupt mit ins Bett genommen hat – vor allen Dingen dann, wenn sie wusste, dass sie sehr unruhig schläft. Reflexbewegung: Ebenfalls keine Handlung ist eine Reflexbewegung. Unter einem Reflex versteht man die unmittelbare Überleitung eines von außen kommenden Reizes von den sensorischen auf die motorischen Nerven.

Anton besucht Doktor Schmidt zur Generaluntersuchung. Er sitzt auf dem Stuhl mit übereinandergeschlagenen Beinen und Doktor Schmidt prüft mit einem Hämmerchen den Kniereflex. Der hochschnellende Fuß trifft Doktor Schmidt schmerzhaft gegen das Schienbein. Übermächtige Gewalt: Schließlich handelt auch nicht, wer durch die übermächtige Gewalt (vis absoluta) eines Dritten »geschubst« wird und dadurch etwas verursacht.

Der große und kräftige Kurt packt den schmächtigen Hans an den Schultern und schubst ihn mit voller Kraft in das Schaufenster eines Blumengeschäfts. Dadurch geht das Glas zu Bruch. Natürlich wird man nicht Hans wegen Sachbeschädigung (§ 303 StGB) strafrechtlich zur Verantwortung ziehen, sondern gegebenenfalls Kurt, wenn dieser Hans in das Schaufenster schubste, um es zu zerstören.

Grenzfall: Automatisierte Handlungsweisen Die einzige Fallgruppe, bei der sich die Rechtspraxis bisher mit der Abgrenzung von Handlung zur Nichthandlung befassen musste, sind die automatisierten Handlungsweisen. Dazu der einschlägige Fall: Robert fährt an einem Sommertag mit seinem Auto durch die Stadt. Er hat das Seitenfenster geöffnet. Plötzlich befindet sich eine Biene im Wageninneren und summt um den Kopf von Robert. Da Robert Angst vor einem Bienenstich hat, konzentriert er sich nicht auf das Steuern des Autos, sondern fuchtelt herum, um die Biene abzuwehren. Dabei kommt er von der Straße ab und gerät auf den Bürgersteig. Er fährt eine Passantin an, die in Folge des Unfalls stirbt. Die Frage ist nun, ob die Passantin durch eine strafrechtlich relevante Handlung von Robert zu Tode gekommen ist. Man kann sicherlich nicht sagen, dass sich Robert ohne Rücksicht auf Verluste mit der Biene beschäftigt und das Steuern vernachlässigt hat. Vielleicht würden Sie sagen, dass das Auto durch einen Reflex von Robert auf den Bürgersteig geraten ist. Sie erinnern sich: Unter einer Reflexbewegung wird die unmittelbare Überleitung eines von außen kommenden Reizes von den sensorischen auf die motorischen Nerven verstanden. Allerdings hat die Biene Robert nicht gestochen, sodass bei ihm kein Reiz von außen vorlag, der von den sensorischen zu den motorischen Nerven übergeleitet wurde. Das Summen der Biene als einen solchen Reiz zu betrachten, erscheint sehr weit hergeholt. Derartige Abwehrreaktionen bezeichnet man als automatisierte Verhaltensweisen. Darunter wird ein – meist durch ständiges Wiederholen – eingeübtes Verhalten verstanden. Fuchtelnde Abwehrbewegungen gegen Insekten stellen ein solches

eingeübtes Verhalten dar. Fraglich ist, ob die »automatisierte Verhaltensweise« eine Handlung darstellt. Zum Teil wird vertreten, dass ein solches Verhalten zwar kein Reflex ist, sich aber unterhalb der Schwelle des Bewusstseins abspielt. Aber auch wenn diese Verhaltensweisen in aller Regel schnell und ohne viel Nachdenken ablaufen, bedeutet das nicht, dass es sich um ein Verhalten ohne Beteiligung des Willens handelt. Ich kann mich beherrschen und am Steuer eines fahrenden Autos Ruhe bewahren. Die Beurteilung durch die Rechtsprechung ist folglich, dass das Verreißen des Steuers in einer solchen Situation als eine Handlung und damit als Ausgangspunkt für die weitere Prüfung der Strafbarkeit anzusehen ist.

Kapitel 5

Die Feststellung des tatbestandsmäßigen Erfolgs IN DIESEM KAPITEL Beweismittel, Beweiswürdigung und Urteil Auslegung der Gesetze

In der Regel wird es Ihnen ohne große Probleme gelingen, neben der tatbestandsmäßigen Handlung auch den vom Tatbestand vorausgesetzten Erfolg festzustellen. Wenn Anton an der Theke eines voll besetzten Lokals mit geballter Faust in das Gesicht von Bert schlägt, liegen die Dinge einfach. Es gibt Zeugen für Antons Schlag, dafür, dass Bert taumelte und die Nase geblutet hat. Wahrscheinlich werden die eintreffenden Polizisten auch dafür sorgen, dass Bert in der Notaufnahme untersucht wird. Vielleicht wird dabei durch den Arzt der Bruch des Nasenbeins festgestellt. Der Fall liegt damit auf dem Präsentierteller für eine Prüfung der Strafbarkeit von Anton wegen Körperverletzung (§ 223 StGB). Manchmal gibt es aber keine Zeugen, keine zeitnahen ärztlichen Untersuchungen und Anzeigen erst nach geraumer Zeit. Das ist zum Beispiel häufig so bei Fällen der häuslichen Gewalt gegen Frauen und Kinder und bei Sexualdelikten. Dann muss von der Staatsanwaltschaft und nach der Anklage vom Gericht festgestellt

werden, was tatsächlich geschehen ist. Erschwerend kommt hinzu, dass häufig Aussage gegen Aussage steht. In diesem Kapitel möchte ich Ihnen deswegen zunächst einen kurzen Blick in die Welt der Beweismittel und der Beweiswürdigung eröffnen. Weiter soll es in diesem Kapitel um die Situation gehen, dass die Tatsachen feststehen und unstreitig sind, aber infrage steht, ob das Geschehen der Beschreibung eines Straftatbestandes von Handlung und Erfolg entspricht. Wenn sich die 15-jährige Sophie heimlich die Haare blondiert und der autoritäre Vater Klaus ihr im Schlaf die Haare abschneidet, weil seine Tochter nicht »wie eine Hure aussehen« soll, dann stellen sich Rechtsanwendungsprobleme, bei welchem Straftatbestand dieses Verhalten einzuordnen ist. Kann das als Körperverletzung (§ 223 StGB) bestraft werden? Dies führt zu der wichtigen Grundlagenfrage: Nach welcher Methode sind Gesetze auszulegen? Dazu möchte ich Ihnen später in diesem Kapitel einige Beispiele aus der Rechtssprechungspraxis vorstellen.

Die Beweismittel vor Gericht, Beweiswürdigung und Urteilsfindung Nach unserem Rechtsverständnis (Kapitel 2) gilt für das Strafverfahren die Unschuldsvermutung. Dies bedeutet, dass eine beschuldigte und angeklagte Person bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig zu gelten hat. Sie steht zwar unter Verdacht, aber sie muss nicht an ihrer eigenen Überführung und

Verurteilung mitwirken. Eine beschuldigte Person hat das Recht, zu den Vorwürfen zu schweigen, und sie darf vor Gericht die Unwahrheit sagen, um ihre Verurteilung abzuwenden. Es ist die Aufgabe der Strafjustiz, ihr eine Tat nachzuweisen, und hierfür stehen dem Gericht Beweismittel zur Verfügung. Die Strafprozessordnung nennt als zulässige Beweismittel Zeugen, Sachverständige, Urkunden und Augenschein.

Zeugen Zeugen machen Aussagen. Gegenstand dieser Aussagen sind ihre Wahrnehmungen von einem Geschehen. Nicht gefragt sind ihre Vermutungen, Bewertungen und Schlüsse, die sie auf Grundlage anderer Beobachtungen ziehen. Harry ist angeklagt, seine Frau Anita schwer misshandelt zu haben. Nachbar Klaus wohnt im Erdgeschoss, Harry mit seiner Frau im 5. Stock des Hauses. Klaus hat an dem Tag der mutmaßlichen Misshandlungen nichts von der Tat gehört und gesehen. Er berichtet aber dem Gericht, dass er Harry schon immer für einen »Grobian« gehalten habe und Harrys Frau in der Woche danach an der Haustür begegnet sei; sie habe einen »verstörten Eindruck« gemacht. Eine solche Aussage ist für die Überführung von Harry wertlos. Sie enthält Rückschlüsse von einer nicht wahrgenommenen Tat auf die aggressive Persönlichkeit von Harry, gibt eine laienpsychologische Deutung über die innere Verfassung der Frau und zieht daraus den Schluss, dass Harry so eine Tat zuzutrauen ist.

Ein Zeuge muss sich auf seine Tatsachenwahrnehmungen beschränken und hat nicht die Aufgabe, Werturteile über den Angeklagten abzugeben. Ein Zeuge ist verpflichtet, wahrheitsgemäß auszusagen, ansonsten macht er sich strafbar (nach §§ 153 ff. StGB). Interessant an unserem Fall ist, dass auch das Opfer einer Straftat Zeugin im Verfahren ist. Die Besonderheit ist hier, dass die Opferzeugin zugleich die Ehefrau des Angeklagten ist. Die Strafprozessordnung enthält sogenannte Zeugnisverweigerungsrechte, darunter auch das Recht von Ehegatten (§ 52 I Nr. 2 StPO), mit Rücksicht auf diese enge persönliche Beziehung zum Angeklagten die Aussage zu verweigern. Auch wenn vermutet werden darf, dass häufig hinter der Zeugnisverweigerung der Druck des Partners steht, führt dies nicht zu einer Einschränkung dieses Rechts. Tatsächlich ist man in der Praxis der Strafrechtspflege immer wieder damit konfrontiert, dass misshandelte Frauen in der Verhandlung die Aussage verweigern.

Sachverständige Nehmen wir aber einmal an, es gibt in unserem Fall eine Untersuchung und einen Befund der Verletzungen von Anita. Dies könnte Anlass für die Bestellung eines Sachverständigen durch das Gericht sein. Ein Sachverständiger muss über eine besondere Kompetenz zur Begutachtung und Bewertung bestimmter Tatsachen verfügen. Wenn Harry zum Beispiel erklärt, die Verletzungen und Blutergüsse seiner Frau stammten von einem Haushaltsunfall (Sturz von der Leiter), dann wird ein Gerichtsmediziner die Verletzungsmuster als Folgen stumpfer Gewalteinwirkung erkennen sowie Beurteilungen über die Art und Kraft der Schläge abgeben können. Genau wie der Zeuge ist ein Sachverständiger zur Wahrheit verpflichtet und soll in seinen Einordnungen und Bewertungen bei den Tatsachen und gegenüber dem Angeklagten sachlich bleiben.

Augenschein Augenschein bedeutet, dass sich das Gericht durch sinnliche Wahrnehmung ein »Bild« von bestimmten Dingen macht: von Fotos und Videos, von Zeichnungen, Tonaufnahmen, manchmal auch durch einen Termin am Tatort oder eine Rekonstruktion des Tathergangs.

Urkunden Urkunden sind nicht in einem engen juristischen Sinne zu verstehen, sondern meinen alle Schriftstücke, die als Beweismittel in der Verhandlung dienen. So kann es sich zum Beispiel um die Protokolle von abgehörten Telefongesprächen oder um die Buchführung eines Unternehmens handeln. Dem Grundsatz der Mündlichkeit nach müsste alles dies in der Verhandlung verlesen werden (§ 249 I StPO); weil dies in umfangreichen Verfahren zu einer enormen Verfahrensdauer führen würde, lässt § 249 II StPO das sogenannte Selbstleseverfahren zu. Das heißt, das Gericht und alle anderen Beteiligten verständigen sich darüber, was in das Verfahren Eingang finden soll und lesen es dann für sich.

Beweiswürdigung bei Aussage gegen Aussage In diesem Zusammenhang sollten Sie eine besondere Konstellation kennen. Immer wieder kann in einem Strafverfahren Aussage gegen Aussage stehen. Nehmen Sie einmal für unseren Fall an, dass Harry steif und fest behauptet, seine Frau habe ein Alkoholproblem und sei beim Gardinenaufhängen von der Leiter gefallen. Anita dagegen sagt aus und berichtet sehr detailreich und plastisch, wie sie von ihrem Mann drangsaliert worden ist. In Fällen häuslicher Gewalt und bei Sexualdelikten sind Gerichte häufig mit dieser Situation konfrontiert. Nehmen Sie einmal an, dass es schwierig erscheint zu entscheiden, welche der beiden Aussagen die tatsächlichen

Geschehnisse wahrheitsgemäß wiedergibt. Dann könnten Sie vielleicht denken, dass eigentlich – wenn es sonst keine Zeugen oder Indizien gibt – nach dem Grundsatz in dubio pro reo freizusprechen ist. Freilich darf das Gericht hier nicht so schnell aufgeben, sondern muss die Aussage des Opfers als einzigem Belastungszeugen besonders gründlich auf ihre Glaubhaftigkeit hin überprüfen. Häufig werden hierzu auch psychologischpsychiatrische Gutachter zu bestellen sein. Natürlich ist es in der Konstellation Aussage gegen Aussage möglich, der Aussage des Opfers Glauben zu schenken und die Aussage des Täters als Schutzbehauptung zu beurteilen.

Urteil Nach dem Abschluss der Hauptverhandlung muss das Gericht aus allen Dingen, die dort zur Sprache gekommen sind, diejenigen Tatsachen herausarbeiten, an die seine Urteilsgründe geknüpft werden sollen. Das Gesetz spricht in § 261 StPO von der »freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung«. Dies sollten Sie nicht falsch verstehen: Das Urteil muss auf einer Tatsachengrundlage stehen. Unter Überzeugungen sind nichtsubjektive Ansichten zu verstehen. Das Urteil muss den Regeln logisch-vernünftiger Argumentation folgen, in sich widerspruchsfrei sein und darf nicht gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntnisse negieren. Das Ergebnis der umfassenden Beweiswürdigung kann natürlich auch sein, dass das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass der Angeklagte keine tatbestandliche Handlung begangen und keinen tatbestandlichen Erfolg bewirkt hat. Dann ist der Angeklagte freizusprechen.

Die Auslegung des Strafgesetzes und seine Grenzen Definitionen von strafbarem Verhalten und die angedrohten Strafen müssen gesetzlich genau bestimmt sein (siehe Kapitel 2).

Wann ein Verhalten strafbar ist, muss so konkret und erkennbar wie möglich beschrieben sein. Nehmen Sie die Fragestellung, ob Anspucken den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt (siehe Kapitel 4). Der Tatbestand der Körperverletzung nennt als Erfolg der Handlung des Täters eine »körperliche Misshandlung« oder »Gesundheitsbeschädigung« des Opfers. Gerichte halten sich an den Wortlaut des Gesetzes und fragen, ob eine körperliche Wirkung durch das Anspucken eintritt: Deshalb wird mehr als die bloße Erregung von Ekelgefühlen, sondern das Hervorrufen von Brechreiz verlangt. Was ist mit dem Fall, dass der autoritäre Vater Klaus seiner Tochter Sophie im Schlaf die Haare abschneidet, weil er mit deren wasserstoffblonder Färbung nicht einverstanden ist? Eine Gesundheitsschädigung besteht im Hervorrufen, Aufrechterhalten oder Steigern eines pathologischen Zustandes. Auch wenn Sophie am nächsten Tag entsetzt und unglücklich sein wird, ist durch das Abschneiden der Haare kein krankhafter Zustand hervorgerufen worden. Es scheidet also mit Bezug auf dieses Tatbestandsmerkmal eine Strafbarkeit des Vaters wegen Körperverletzung aus. Das Abschneiden der Haare könnte aber eine körperliche Misshandlung von Sophie durch ihren Vater sein. Als körperliche Misshandlung wird jede üble unangemessene Behandlung bezeichnet, die entweder das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt. Einer Person aus »erzieherischen Gründen« heimlich die Haare abzuschneiden, ist eine respektlose unangemessene Behandlung in der Absicht, ihr ein Übel zuzufügen. Ob auch das körperliche Wohlbefinden hiervon beeinträchtigt ist, kann dahinstehen. Da die Haare zur Substanz des Körpers gehören und das Haupthaar durch die Aktion verunstaltet wird, ist jedenfalls die körperliche Unversehrtheit verletzt. Obwohl Sie in den Lehrbüchern und Kommentaren immer noch verschiedene Auffassungen zu diesem Fall finden, ist es in der

Rechtsprechung durchgängig anerkannt, dass solche und ähnliche Fälle (Kahlscheren des Kopfes, Abschneiden der Zöpfe, Verunstaltung des Bartes) als Körperverletzung einzuordnen sind.

Auslegung unter Beachtung der Wortlautgrenze Sie haben an den beiden Fällen zur Körperverletzung kennengelernt, dass die Auslegungsmethode der ersten Wahl die Orientierung an der Bedeutung der Worte in einem Tatbestand ist. Man nennt diese Methode auch die grammatische Auslegung eines Gesetzes. Grundsätzlich folgt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf dem Boden des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebotes (Art. 103 II GG) eine strenge Bindung der richterlichen Auslegung an den Wortlaut des Gesetzes. In BVerfGE 92, 1 heißt es dazu, dass » […] jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht, (unzulässig ist). Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation«. Versuche, in das Gesetz unter Berufung auf einen »Sinn und Zweck« irgendetwas hineinzulesen (sogenannte teleologische Auslegung), was sich nicht im Wortlaut wiederfindet, verletzen die verfassungsrechtlich gesicherte Garantiefunktion des Strafgesetzes. Manchmal muss sogar das Bundesverfassungsgericht eingreifen, um die Auslegung eines strafrechtlichen Tatbestandsmerkmals zu beenden, die nicht durch den Wortlaut des Gesetzes gedeckt ist.

Dazu eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem September 2008 (BVerfG NJW 2008, 3627). Dabei geht es darum, ob ein Auto als »Waffe« im strafrechtlichen Sinne angesehen werden kann: »Der allgemeine Sprachgebrauch bezeichnet […] Gegenstände als Waffen, wenn ihre primäre Zweckbestimmung darin liegt, im Wege des Angriffs oder der Verteidigung zur Bekämpfung anderer eingesetzt zu werden, oder wenn eine solche Verwendung zumindest typisch ist – etwa bei Hiebwaffen wie Keulen oder bei Messern […] Die bloße Möglichkeit, einen Gegenstand auch in zweckentfremdender Benutzung zur Bekämpfung von Zielen zu verwenden, genügt zur Begründung der Waffeneigenschaft danach jedenfalls nicht. Eine derart weite Definition […] würde den Begriff der Waffe auch uferund konturenlos machen; praktisch jeder Gegenstand lässt sich nämlich in entsprechenden Umständen auch gegen Menschen, Tiere oder Gegenstände einsetzen[…]. Ein Kraftfahrzeug kann unter Anlegung dieser Maßstäbe nicht als Waffe angesehen werden, da es weder von der Zweckbestimmung noch von einem typischen Gebrauch her zur Bekämpfung anderer oder zur Zerstörung von Sachen eingesetzt wird […].« Sie erinnern sich bestimmt an die Ausführungen zum Bestimmtheitsgebot zurück: Wenn das Grundgesetz dem Gesetzgeber aufgibt, Gesetze so zu formulieren, dass für jeden Menschen vorhersehbar ist, welches Verhalten mit welcher Strafe bedroht ist, dann darf dies nicht durch eine Auslegung der Gesetze, die sich von der allgemeinen Bedeutung der Begriffe löst, ausgehebelt werden.

Auslegung unter Beachtung anderer gesetzlicher Regelungen Da eine Rechtsordnung widerspruchsfrei sein sollte und einen Begriff nicht einmal in dieser und dann in einer anderen Bedeutung verwenden sollte, hilft es für die Auslegung auch, einen Blick auf andere Regelungen des Rechts zu werfen, die gleiche Begriffe verwenden. Diese Herangehensweise nennt man die systematische Auslegung eines Gesetzes. Dazu folgendes Beispiel aus einem bayerischen Skigebiet: Alois und Franz reiten im März 1978 durch Wald und Wiesen. Dabei überqueren sie mehrfach eine Skilanglaufspur (Loipe), die frisch angelegt wurde. Auf einer Strecke von circa 20–30 Metern hinterlassen sie eine Vielzahl tiefer Hufeindrücke. Sie wurden in der Konsequenz wegen gemeinschädlicher Sachbeschädigung (§ 304 StGB) angeklagt. Das erstinstanzliche Amtsgericht hat die beiden freigesprochen, vom Landgericht wurden sie verurteilt, das oberste bayerische Gericht (BayObLG) wiederum hat freigesprochen. Wie kann das sein? Bei der Sachbeschädigung geht es – wie der Name schon sagt – um die Beschädigung oder Zerstörung einer Sache. Es musste also geklärt werden, ob eine Langlaufloipe überhaupt eine Sache ist. Nach unserem natürlichen Sprachverständnis haben wir bei dem Einwerfen einer Scheibe, einem Säureattentat auf ein Gemälde oder dem Aufstechen eines Reifens sicherlich überhaupt kein Problem, von einer Sachbeschädigung zu sprechen. Eine Loipe weicht hingegen deutlich von unserem normalen Verständnis einer Sache ab. Es ist also nun die Frage zu klären, ob mit dem Begriff der Sache im Gesetz auch eine Loipe gemeint sein kann.

Dazu stellt nun die Entscheidung des BayObLG folgende Überlegungen an und wird dabei zum Schluss fast poetisch (BayObLG NJW 1980, 132): »Der strafrechtliche Sachbegriff schließt sich an den des bürgerlichen Rechts an. Nach § 90 BGB sind Sachen körperliche Gegenstände. Das Wesen der Körperlichkeit verlangt, dass der Gegenstand ein individuelles Dasein aufweist […] Um körperlich zu sein, muss ein Gegenstand schließlich auch eine Begrenzung aufweisen […] Unter Anwendung dieser Grundsätze ist der frei umherliegende Schnee genauso wenig wie das fließende Wasser, die frei atmosphärische Luft oder das Grundwasser eine Sache im Sinne des BGB bzw. des StGB […] Ist aber eine Loipe […] keine Sache im Sinne der §§ 303, 304 StGB, so kann sie nicht dem strafrechtlichen Schutz dieser Bestimmungen unterliegen.« Es kann folglich offenbleiben, ob die Hufabdrücke die Loipe beschädigt oder zerstört haben. Der Wortlaut des § 303 StGB gibt eine Bestrafung wegen Sachbeschädigung nicht her, da es bereits an der Sacheigenschaft der Loipe fehlt.

Kapitel 6

Ursache und Wirkung – Handlung und Erfolg (Kausalität) IN DIESEM KAPITEL Die Grundvoraussetzung strafrechtlicher Verantwortlichkeit – der ursächliche Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg Das übliche Instrument zur Feststellung von Kausalität – die Conditio-sine-qua-non-Formel Kritik und Alternativen zu dieser Formel Besondere Konstellationen der Kausalität

Wenn Sie einen strafrechtlichen Fall prüfen, stellen Sie zunächst fest, welcher Straftatbestand Ihr Ausgangspunkt sein soll. Sodann schauen Sie sich an, welche tatbestandsmäßige Handlung und welche Beschreibung des tatbestandsmäßigen Erfolgs dort zu finden sind. Jetzt geht es darum, diese Handlung und den Erfolg in einen Zusammenhang zu stellen.

Prüfung der Kausalität Bei der Kausalität wird das erste bei der Prüfung von strafrechtlicher Verantwortlichkeit auftretende Problem behandelt: Sie müssen prüfen, ob einer Person der Eintritt des in einem Straftatbestand beschriebenen Erfolges oder der dort

beschriebenen Gefahr als die Folge ihres Handelns zugerechnet werden kann.

Erfolgsdelikte Für wesentliche Erfolgsdelikte des Strafrechts können Sie die Fragestellung leicht erkennen: Tötungsdelikte (§§ 211 StGB ff.): Hat das Opfer durch eine entsprechende Tötungshandlung des Täters sein Leben verloren? Körperverletzungsdelikte (§§ 223 StGB ff.): Ist das Opfer durch eine Handlungsweise des Täters körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt worden? Sachbeschädigung (§ 303 StGB): Ist die Sache durch eine entsprechende Handlung des Täters zerstört oder unbrauchbar gemacht worden? Erfolgsdelikte beschreiben in ihrem Tatbestand als Voraussetzung für die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer Person meist schlicht einen Erfolg, ohne dass sich der Tatbestand über das zum Erfolg führende Verhalten weiter auslässt. So heißt es zum Beispiel: in § 212 StGB (Totschlag) – »Wer einen Menschen tötet«, in § 222 StGB (Fahrlässige Tötung) – »Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht«, in § 223 StGB (Körperverletzung) – »Wer eine andere Person … an der Gesundheit schädigt«, in § 227 StGB (Körperverletzung mit Todesfolge) – »Ist durch die Körperverletzung der Tod des Verletzten verursacht worden«. Die Zurechnung strafrechtlicher Verantwortung fragt hier auf der Ebene des objektiven Tatbestandes zunächst einmal nicht

subjektiv »Wollte der Täter diesen Erfolg?«, sondern: Kann zwischen dem festgestellten Erfolg (das Opfer ist verletzt oder sogar tot, sein Kaffeeservice liegt in Scherben auf dem Boden und so weiter) und einer Handlung des Täters (der Täter hat mit der Faust ins Gesicht geschlagen, einen Messerstich in den Hals geführt, den Kaffeetisch umgestürzt und so weiter) ein ursächlicher Zusammenhang hergestellt werden? Liegt Kausalität vor?

Konkrete Gefährdungsdelikte Für konkrete Gefährdungsdelikte und erfolgsqualifizierte Delikte gilt Entsprechendes: Tatbestand der Straßenverkehrsgefährdung (§ 315 c): Leib oder Leben eines anderen Verkehrsteilnehmers oder ein bedeutender Sachwert müssen zum Beispiel durch das riskanter Überholmanöver oder das falsche Verhalten an einem Zebrastreifen in konkrete Gefahr geraten sein. Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB): Das vorsätzliche Grunddelikt (Köperverletzung) muss zu der besonderen Folge (Tod) führen, und zwar in der Weise, dass sich in der Todesfolge die Gefahr des Körperschadens (= sogenannter Unmittelbarkeitszusammenhang) verwirklicht. Schließlich spielt die Kausalität für die Verknüpfung einzelner Etappen eines Tatbestands bis hin zur Tatbestandsverwirklichung eine Rolle: Beim Betrug (§ 263 StGB) erfolgt zunächst eine Täuschung des Opfers durch den Täter, diese Täuschung muss die Ursache für einen Irrtum des Opfers sein, durch diesen Irrtum muss es zu einer Vermögensverfügung und dadurch zu einem Vermögensschaden kommen. Man spricht insofern davon, dass die Tatbestandsmerkmale des Betrugs in einem durchlaufenden Ursachenzusammenhang miteinander stehen müssen.

Irrelevanz der Kausalität für die Tätigkeitsdelikte Bei sogenannten Tätigkeitsdelikten spielt die Kausalität keine Rolle. Der Tatbestand wird hier durch ein Tätigwerden erfüllt, ohne dass es für die Strafbarkeit auf Folgen der Handlung in der Umwelt (= einen Erfolg) ankäme. Dazu zwei Beispiele: Falsche uneidliche Aussage (§ 154 StGB): Hier ist es unerheblich, ob der falschen Aussage irgendeine Wirkung auf die Urteilsfindung zukommt, es muss also nicht der »Erfolg« eintreten, dass irgendjemand an die Falschaussage glaubt. Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB): Es macht sich auch derjenige strafbar, der niemanden während seiner Trunkenheitsfahrt konkret in Gefahr gebracht hat.

»Herstellung« von Kausalität – ein kurzer erkenntnistheoretischer Exkurs Herstellung von Kausalität? Vielleicht fragen Sie sich, wie man von »Kausalität herstellen« sprechen kann, liegt sie nicht einfach vor? Ich habe bewusst das Wort »Herstellung« benutzt. Man könnte auch formulieren, dass der Erfolg eine Wirkung der Handlung als Ursache ist – so, als handele es sich um die bloße Feststellung eines Faktums. Dies wird in vielen Konstellationen der Fall sein: Wenn Anton Bert mit dem Messer in den Hals sticht und Bert innerhalb von Minuten verblutet, so ist dies eine klar feststellbare und zurechenbare Ursache und ihre Wirkung. Anders verhält es sich hingegen in komplexen Fällen: Wenn Anton ein Imprägnierspray für Schuhe benutzt und dann im Laufe des Tages plötzlich Atemnot erleidet oder bei einem Unfall stirbt, nachdem bei hoher Geschwindigkeit ein Autoreifen platzt. Fälle der sogenannten strafrechtlichen Produkthaftung haben deutlich gemacht, dass in einem solchen multifaktoriellen Geschehen einfache Zurechnungsformeln an ihre Grenzen stoßen. Hinzu kommt, dass Erkenntnisse der Physik, Überlegungen der philosophischen Erkenntnistheorie und Beobachtungen der Psychologie Anlass zu Zweifeln daran geben, ob eindeutige Verknüpfungen zwischen Ursache und Wirkung überhaupt naturwissenschaftlich möglich und den

menschlichen Verstandesleistungen entsprechend sind. Das können Sie sich an dem Beispiel eines Flugzeugabsturzes mit vielen Todesopfern klarmachen. Die häufige Aussage, dass die Unglücksursache »menschliches Versagen« war, ist letztlich eine Konstruktion des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung. Aus einer Unzahl von Faktoren, die für das Funktionieren des Systems »Fliegen« bedeutsam sind, wird das Verhalten des menschlichen Faktors (das aber wieder mit unzähligen physikalisch-technischen Faktoren zusammenhängt) herausgeschnitten. Zurechnung ist so oft Reduktion von Komplexität und eine Entscheidung dafür, eine Wirkung mit genau dieser einen Ursache zu erklären. Doch genug der Reflexionen, die den Alltag des juristischen Handwerks vielleicht allzu sehr erschüttern könnten. Nach Auffassung des berühmten Rechtssoziologen Niklas Luhmann ist es ja gerade Aufgabe des Rechts, Komplexität zu reduzieren und dadurch Fälle entscheidbar zu machen.

Die Bedingungs- oder Äquivalenztheorie Die Reduktion der Komplexität des Kausalitätsproblems ist in einer genialen Vereinfachung im 19. Jahrhundert durch die sogenannte Bedingungs- oder Äquivalenztheorie (Conditio-sinequa-non-Formel) geleistet worden, die noch heute Ausgangspunkt jeder Zurechnungsprüfung ist. Meint das Gleiche, wird unterschiedlich bezeichnet.

Die Conditio-sine-qua-non-Formel Geprüft wird mithilfe der Conditio-sine-qua-non-Formel: Eine Handlung (conditio = Ursache) ist für den Erfolgseintritt kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele (lateinisch sine qua non). In einfachen Fällen kann mit dieser Formel ein Ergebnis umstandslos begründet werden.

Anton setzt eine geladene Pistole an die Schläfe von Bert und drückt ab. Das Projektil zerstört lebenswichtige Teile des Gehirns. Bert ist innerhalb weniger Sekunden tot. Klar: Antons Schuss kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass Bert noch leben würde. Aber betrachten Sie einmal die folgenden Varianten: Als Bert die Waffe an seiner Schläfe spürt, lässt er sich geistesgegenwärtig fallen. Dadurch kommt es nur zu einem an sich harmlosen Streifschuss. Gleichwohl kommt Bert zu Tode, weil er ein Bluter ist – das hört sich noch einfach an, der Rettungswagen, der ihn ins Krankenhaus bringen soll, verunglückt – das erscheint schon schwieriger, weil bei der Behandlung der Wunde im Krankenhaus nach Tagen eine Wundinfektion wegen unzureichender hygienischer Verhältnisse eintritt – da wird es kompliziert. Oder: Als Bert die Waffe an seiner Schläfe spürt, erschrickt er sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode. Muss man mit so einem Verlauf rechnen? In jeder dieser Varianten lässt sich die Verhaltensweise von Anton (Ursache) nicht hinwegdenken, ohne dass der Tod von Bert (Wirkung) entfiele – aber wollen wir in jedem Falle Anton einfach so den Erfolg zurechnen?

Einwände gegen die Bedingungstheorie Doch zunächst zwei grundlegende Einwände gegen die Bedingungstheorie: Die Conditio-sine-qua-non-Formel ist ein klassischer Fall des Zirkelschlusses. Die Zurechnung nach dieser Formel ist uferlos. Die Formel ist ein Zirkelschluss, weil sie das Ergebnis, das sie zu liefern vorgibt, schon voraussetzt. An die Verknüpfung von Erfolg und Handlung wird bereits mit einem Vorverständnis über die Beziehung von Ursachen und ihren Wirkungen (»das kommt davon«) herangegangen. Dies ist in den Fällen unproblematisch, in denen gesichertes Erfahrungswissen existiert (Kopfschüsse sind regelmäßig tödlich), es kann aber Konstellationen geben (dazu später), in denen man diese Beziehung erst definieren muss. Zudem ist die Formel von der conditio sine qua non uferlos. Sie erinnern sich, die Bedingungstheorie heißt auch Äquivalenztheorie, deswegen nämlich, weil sie von der Gleichwertigkeit (=Äquivalenz) aller Bedingungen für einen Erfolg ausgeht. Präzise lautet ihre Zurechnungsformel: Jede Handlung ist kausal, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. Folglich führt diese Formel streng genommen zu weitreichenden Zurechnungen:

Auch Hans-Peter, der die Tatwaffe an Anton verkauft hat, auch Paul, der die Tatwaffe produziert hat, auch der Zeugungsakt der Eltern von Anton (um die Theorie ad absurdum zu führen) sind nicht hinwegzudenken, ohne dass der Mordanschlag von Anton auf Bert entfiele. Die Äquivalenztheorie wird damit verteidigt, dass sie für die Zurechnung im objektiven Tatbestand äußerst handlich sei, da der objektive Tatbestand von normativen Erwägungen reingehalten werden könne, und dass in Fällen von »zu weiter« Zurechnung eine Korrektur auf späteren Stufen des Straftatsystems möglich sei. Also: Die Zeugung eines Menschen erfolge nicht mit Vorsatz und sei auch nicht fahrlässig, was dessen spätere Karriere als Mörder betreffe. Die Produktion von Waffen lasse zwar objektiv erwarten, dass diese auch zur Tötung eines Menschen benutzt werden könnten, bei Einhaltung aller gesetzlichen Regelungen handele es sich aber um ein erlaubtes Risiko und der Produzent habe auch nicht den Vorsatz, dass genau mit dieser Waffe genau dieser Mensch getötet werden soll. Gleiches soll für den Verkäufer gelten, wohl mit der Einschränkung, dass er dann wegen fahrlässiger Tötung haften könnte, wenn ihm beim Verkauf klar sein musste, dass sein Kunde die Waffe für ein Tötungsdelikt erwirbt. Mit diesen Korrekturen lassen sich wohl regelmäßig vernünftige Ergebnisse erzielen. Es sind aber auch durchaus Fälle konstruierbar, in denen die Korrektur der weit gefassten Kausalität auf späteren Argumentationsstufen misslingt.

Die Adäquanztheorie als Alternative zur Bedingungstheorie

Überlegen Sie sich einmal folgenden Lehrbuchfall, der die Bedingungstheorie und ihre Verteidiger ins Straucheln bringt: Anton spendiert Bert einen Flug nach Brasilien in der Hoffnung, dass Bert mit dem Flugzeug abstürzen wird und zu Tode kommt. Der Zufall ist Anton hold: Das Flugzeug stürzt ab und Bert stirbt dabei. Nach der Conditio-sine-qua-non-Formel ist hier an der Zurechnung nicht zu rütteln. Hätte Anton Bert nicht den Flug spendiert, dann wäre Bert nicht an Bord der abgestürzten Maschine gewesen. Anton hatte auch genau die Vorstellung, dass Bert bei einem Flugzeugabsturz auf diesem Flug umkommen sollte. Es ist das eingetreten, was Anton mit seiner Einladung von Bert zu einer Flugreise bewirken wollte. Dass Anton nun den Tatbestand des Totschlags (§ 212 StGB) verwirklicht haben soll, nur weil ihm wider alle Statistik der Zufall zu Hilfe gekommen ist, mutet sehr befremdlich an. Die Strafrechtsprechung, die der Conditio-sine-qua-non-Formel mit ganz geringen Einschränkungen seit über 100 Jahren folgt, weist solche Einwände zurück, da es sich um in der Praxis niemals vorkommende Lehrbuchfälle handele. Das vermag als Replik nicht zu überzeugen. Sie werden nämlich in diesem Buch noch viele Fälle aus der Praxis kennenlernen, die man nie für möglich halten würde. Eine Zurechnungstheorie sollte nach meiner Meinung alle denkbaren Fallkonstellationen konsistent und mit gerechten Ergebnissen lösen können. Die BGH-Rechtsprechung in Zivilsachen und die Zivilrechtslehre lehnen deswegen zur Vermeidung inkonsistenter Ergebnisse die Bedingungstheorie (Äquivalenztheorie) ab und legen die sogenannte Adäquanztheorie zugrunde (eine Theorie, die übrigens auch in der Strafrechtswissenschaft namhafte Anhänger gefunden hat).

Nach der Adäquanztheorie ist eine Ursache im Rechtssinne nur eine tatbestandsadäquate Bedingung. Bedingungen, die nur zufällig den Erfolg ausgelöst haben, sollen rechtlich irrelevant sein. Aus dem Definitionselement »im Rechtssinne« können Sie ablesen, dass diese Theorie bei gegebener Kausalität im Sinne der Conditio-sine-qua-non-Formel normativ korrigierend fragt, ob dieses Ergebnis auch als angemessen (= adäquat) angesehen werden kann. Sie erinnern sich an meine grundsätzlichen Anmerkungen zur »Herstellung« von Kausalität. Die Adäquanztheorie stellt sich dem Problem, dass in der Prüfung von Kausalität auch ein Wertungsakt enthalten sein kann und es nicht bloß um »blinde« Zusammenhänge von Ursache und Wirkung geht. So soll bei der Adäquanztheorie aufgrund objektivnachträglicher Prognose im jeweils konkreten Fall festgestellt werden, ob die Handlung nach allgemeiner Lebenserfahrung vom Standpunkt des kundigen Richters aus geeignet war, diesen Erfolg herbeizuführen oder nicht. Zurück zu unserem Flugreise-Fall: Eine wertende Betrachtung der Annahme, Anton habe den Tod von Bert dadurch verursacht, indem er ihm das Flugticket spendiert hat, wird jedes Gericht zu der Feststellung führen, dass die Einladung zu einer Flugreise nach allgemeiner Lebenserfahrung kein geeignetes Mittel ist, um einen anderen Menschen zu töten. Es fehlt also nach der Adäquanztheorie an einer Handlung des Anton, die im Rechtssinne als Ursache dafür gelten könnte, dass Bert jetzt tot ist. Die Strafrechtsprechung und die herrschende Lehre halten scharf dagegen, dass die Adäquanztheorie überhaupt gar keine Kausalitätstheorie sei: Sie leugne einen Kausalzusammenhang, wo in Wahrheit nur dessen haftungsbegründende Relevanz zu verneinen sei. Auf diese Weise würden Verursachung und

Zurechnung des Erfolgs, naturwissenschaftliche Kategorien und normative Kriterien vermischt. Wieder einmal lernen Sie an dieser Stelle ein Charakteristikum juristischer Theoriebildung kennen: Wenn zwei Meinungen zur Lösung eines Problems vertreten werden, die sich scharf gegenüberstehen, tritt alsbald eine Theorie auf den Plan, die nach einer Vermittlung zwischen den Lagern sucht. In diesem Falle ist dies die sogenannte Relevanztheorie.

Die Relevanztheorie Die Relevanztheorie schlägt ein zweistufiges Zurechnungsverfahren vor: 1. Ermitteln Sie auf Basis der Äquivalenztheorie zunächst vollständig alle Kausalfaktoren und damit bestimmte Anknüpfungshandlungen als Erfolgsursachen. 2. Untersuchen Sie diese danach im Hinblick auf ihre Relevanz und zwar nach den Kriterien der Adäquanztheorie. Nur solche Handlungen, die kausal und tatbestandlich relevant sind, könnten strafrechtliche Haftung begründen. Die Relevanztheorie bildet die Grundlage für die heute wohl herrschende Lehre von der objektiven Zurechnung, die die tatbestandliche Zurechnung trotz Kausalität von Handlung und Erfolg in bestimmten Fällen ausscheiden lässt. Dazu werden wir im nächsten Kapitel kommen. Zuvor möchte ich Ihnen jedoch noch besondere Kausalitätsprobleme auf dem Boden der herrschenden Bedingungstheorie vorstellen.

»Kranke Fälle« der Kausalität Kranke Fälle der Kausalität bezeichnen Fälle, in denen sich entweder die Ursachen überstürzen, überlagern, verwirren oder

sonst fraglich werden, oder Situationen, in denen die Dinge nicht so ablaufen, wie der Täter sich das vorgestellt hat.

Besondere Konstellationen des realen Verlaufs Ich beginne mit Problemen, die sich in der Realität von Kausalabläufen abspielen können:

Mehrfachkausalität Bei der alternativen Kausalität – auch Mehrfachkausalität genannt – treffen mehrere unabhängig voneinander gesetzte Ursachen im Erfolg zusammen. Jede Ursache hätte aber auch für sich alleine den Erfolg herbeigeführt. Schauen Sie sich einmal folgenden Fall an: Anton und Bert vergiften unabhängig voneinander das Essen von Dietmar mit je einer tödlich wirkenden Dosis Gift. Wenige Minuten nach dem Verzehr stirbt Dietmar. Die Gerichtsmediziner können aber keine Aussage darüber treffen, ob eine der beiden Giftgaben vor der anderen gewirkt hat, also welche konkrete Giftgabe den Tod herbeigeführt hat. Fest steht aber, dass jede Dosis für sich allein tödlich bemessen war. Der Tod ist jedenfalls nicht durch die »Doppeldosis« eingetreten. Sowohl Antons als auch Berts Handlung können alternativ hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg entfällt. Wendet man die Conditio-sine-qua-non-Formel »blind« in diesen Fällen an, kommt man zu dem absurden Ergebnis, dass von einem Erfolg ohne Ursache auszugehen ist. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, wird die Formel modifiziert und lautet:

Von mehreren Bedingungen, die zwar alternativ, aber nicht zugleich hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele, ist jede erfolgsursächlich.

Kumulative Kausalität Anders verhält es sich in Fällen der kumulativen Kausalität. Hier bewirken mehrere unabhängig voneinander gesetzte Bedingungen erst durch ihr Zusammentreffen den Erfolg. Dann sind beide Ursachen schon nach der einfachen Conditio-Formel zurechenbar für den Erfolg, wie Sie im folgenden Fall sehen können: Anton und Bert vergiften unabhängig voneinander das Essen von Dietmar mit einer Giftdosis, die jeweils für sich alleine nicht tödlich ist und nur zur Übelkeit führen würde. Nur durch das Zusammenwirken (die Kumulation) der beiden Giftmengen kommt es zum Tod von Dietmar. Beide Handlungen sind nach der Conditio-sine-qua-non-Formel kausal für den Tod des Dietmar. Denn weder die Giftgabe von Anton noch diejenige von Bert kann hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg entfiele. Anton und Bert werden sich freilich vehement damit verteidigen, dass sie das Gift genau dosiert hatten, auf keinen Fall den Tod von Dietmar wollten und dass die gleichzeitige Vergiftungstat des anderen ein völlig ungewöhnlicher Verlauf war, mit dem niemand rechnen konnte. Somit stellt sich die Frage, ob sie gleichwohl für den objektiven Verlauf einzustehen haben und wie das Ergebnis gegebenenfalls korrigiert werden kann. Darauf werden wir im nächsten Kapitel über die Lehre von der objektiven Zurechnung und sogleich bei der Behandlung von Irrtümern über den Kausalverlauf zurückkommen.

Atypischer Kausalverlauf Ein ähnliches Problem stellt sich bei Fällen eines atypischen Kausalverlaufs. Der Erfolg tritt hier durch eine an die Handlung anknüpfende andere Ursache an. Anton vergiftet das Essen von Dietmar mit einer nicht tödlichen Dosis Gift. Gleichwohl muss Dietmar der Magen ausgepumpt werden. Hierbei unterläuft dem Arzt Dr. Murx ein Kunstfehler, wodurch Dietmar zu Tode kommt. Die Handlung von Dr. Murx knüpft an die Handlung von Anton an. Sie hat möglicherweise (Kunstfehler) eine selbstständige strafrechtliche Verantwortlichkeit von Dr. Murx zur Folge. Die Handlung des Dr. Murx ist im Sinne der Bedingungstheorie durch die Handlung von Anton verursacht. Denn würde man die Handlung von Anton hinwegdenken, wäre keine Behandlung von Dietmar durch Dr. Murx erforderlich gewesen, und es hätte im Rahmen der Behandlung nicht zu dem tödlichen Kunstfehler kommen können. Man kann hier sagen, dass Anton die Ausgangsgefahr für das Leben von Dietmar geschaffen hat, und muss nunmehr fragen, ob man ihm die Realisierung der Gefahr durch das Handeln eines Dritten (des Dr. Murx) noch zurechnen will. Manche wollen diesen Fall in der objektiven Zurechnung lösen, andere auf der Ebene von Vorsatz und Fahrlässigkeit, also im subjektiven Tatbestand. Auch auf diese Fallkonstellation werde ich zurückkommen.

Hypothetischer Kausalverlauf Von einem hypothetischen Kausalverlauf (= Einwand von Reserveursachen) spricht man, wenn zur Verteidigung vorgebracht wird, dass eine andere Ursache als die reale Handlung des Täters ebenfalls den Erfolg bewirkt hätte.

Anton vergiftet das Essen des todkranken Dietmar mit einer tödlichen Dosis Gift. Der Gerichtsmediziner führt aus, dass Dietmar auch ohne diese Vergiftung in derselben Nacht an einer Lungenembolie gestorben wäre. Konkrete Todesursache sei aber die Giftgabe. Hier ist eine weitere Präzisierung der Conditio-sine-qua-nonFormel erforderlich: Es kommt auf die Ursächlichkeit der Handlung für den Erfolg in seiner konkreten Gestalt an, also auf den tatsächlichen Ablauf der Dinge und nicht darauf, wie sich der weitere Verlauf dargestellt hätte. Hypothetische andere Ursachen werden in der Kausalitätsprüfung nicht berücksichtigt. Der Tod von Dietmar ist also insoweit eindeutig das Werk von Anton, auch wenn Dietmar in derselben Nacht sowieso gestorben wäre, denn konkret ist Dietmar eines Vergiftungstodes gestorben.

Abgebrochene und überholende Kausalität Andere Ursachen werden im Verlauf von Geschehnissen dann nicht nur hypothetisch, sondern real wirksam, wenn sie eine erste Kausalkette abbrechen und eine völlig neue Kausalkette in Gang setzen, die den zu erwartenden Erfolgseintritt der ersten Kausalkette überholt. Man spricht hier von Fällen der abgebrochenen und überholenden Kausalität. Anton vergiftet das Essen von Dietmar mit einer tödlich wirkenden Dosis Gift. Vor Eintritt der tödlichen Wirkung wird Dietmar von Bert in Unkenntnis der Vergiftung und völlig unabhängig von Antons Tat erschossen. Hier stehen die erste Kausalkette, die auf den Eintritt des Todes durch Vergiftung hinausläuft, und die zweite Kausalkette (Tötung durch Erschießen) in einem völlig unvermittelten Verhältnis zueinander. Für den Erfolg in seiner konkreten Gestalt wird nur

die am Beginn der zweiten Kausalkette, nicht aber die am Anfang der ersten Kausalkette stehende Handlung kausal. Die erste Kausalkette wird also abgebrochen – das Gift kann seine tödliche Wirkung nicht mehr entfalten. Die zweite Kausalkette – der Schuss von Bert mit tödlichen Folge für Dietmar – überholt den ersten Kausalverlauf. Es handelt sich hier im Ergebnis um eine Gunst des Zufalls für Anton, denn er kann nur wegen versuchter Tötung bestraft werden. Bert ist dagegen zweifelsfrei wegen vollendeter Tötung zu bestrafen. Sie erinnern sich: Bert kann sich nicht mit dem hypothetischen Kausalverlauf – Dietmar wäre sowieso im Verlauf an der Vergiftung gestorben – herausreden, es kommt auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt an und Dietmars Tod ist real durch Berts Schuss eingetreten. Im Hinblick auf ähnlich gelagerte Fälle eines vermittelten Kausalverlaufs werden kontroverse Auffassungen vertreten: Die Lehre vom Fortwirkungskriterium will beide Akteure für den Erfolg haften lassen. Die Lehre vom Regressverbot will die Zurechnung einer Ersthandlung dagegen prinzipiell ausschließen, wenn ein anderer vorsätzlich in den Ablauf einer Kausalkette eintritt. Das ist reichlich abstrakt. Denken Sie sich einmal in folgenden Fall hinein:

Anton vergiftet Dietmar mit einer tödlichen Dosis. Als die Wirkungen des Giftes einzusetzen beginnt, erschießt Bert Dietmar, um ihm einen qualvollen Todeskampf zu ersparen. Hier wirkt die Handlung der ersten Kausalreihe (Vergiftung) als Ursache für die zweite Kausalreihe (Erschießung) fort. Nach der Lehre vom Fortwirkungskriterium ist demnach nicht nur Berts

Schuss, sondern auch Antons Giftgabe für Dietmars Tod kausal. Beide haften wegen vorsätzlicher Tötung. Nach der Lehre vom Regressverbot beginnt aufgrund des Dazwischentretens eines anderen vorsätzlich Handelnden grundsätzlich eine völlig neue Kausalkette. Die neue Tatherrschaft des Dazwischentretenden verbietet ein Verantwortlichmachen des zuvor Handelnden für den Erfolg in seiner konkreten Gestalt. Also haftet Anton hier nur für den Versuch der Tötung, Bert für die vollendete Tötung. Dieses Ergebnis ist radikal, aber nicht ohne jede Vernunft. Freilich handelt es sich nicht um eine Kausalitätstheorie, sondern um eine wertende Beurteilung, die – wie wir gleich sehen werden – ähnlich auch in der Lehre von der objektiven Zurechnung vertreten wird.

Abweichungen des wirklichen vom vorgestellten Kausalverlauf Bei den Abweichungen des wirklichen vom vorgestellten Kausalverlauf lernen Sie nun gleich vier unterschiedliche Konstellationen kennen: Irrtum über den Kausalverlauf error in persona vel objecto aberratio ictus dolus generalis Kennzeichnend für alle diese Konstellationen ist, dass die Dinge einen Verlauf nehmen, der sich so nicht in der Vorstellungswelt des Täters widerspiegelt.

Irrtum über den Kausalverlauf Auf der Prüfungsstufe des subjektiven Tatbestandes geht es um die Feststellung, ob sich alles, was sich im objektiven Tatbestand ereignet hat, auch in der Vorstellung des Täters wiederfindet. Nach der grundlegenden Vorsatzdefinition ist Vorsatz das

»Wissen und Wollen in Bezug auf die wesentlichen Elemente des objektiven Tatbestandes«. Dem Täter muss klar sein, dass die Handlung den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt, und er muss erkennen, auf welchen Erfolg diese Handlung hinausläuft. Bei den Erfolgsdelikten ist auch die Kausalität zwischen Handlung und Erfolg ein wesentliches objektives Tatbestandsmerkmal. Folglich ist im Vorsatz zu prüfen, mit welchem Bewusstsein und Willen hinsichtlich der Bewirkung des Erfolgs der Täter handelte. Wenn eine Differenz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit vorliegt, bezeichnet man dies als Irrtum über den Kausalverlauf. Anton will Dietmar auf der Stelle durch Beilhiebe auf den Kopf töten. Der Tod von Dietmar tritt aber erst später durch eine Wundinfektion der schweren Verletzungen ein. Anton hatte sich also vorgestellt, dass Dietmar bereits durch die Hiebe auf den Kopf zu Tode kommen würde. Dietmar hat aber diese Attacke zunächst überlebt und ist erst geraume Zeit später an den Folgen des Angriffs gestorben. Nach der herrschenden Meinung kann ein Irrtum über den Kausalverlauf – Anton hatte sich vorgestellt, Dietmar auf der Stelle zu erschlagen – nur dann relevant sein, wenn es sich um eine wesentliche Abweichung des wirklichen vom vorgestellten Kausalverlauf handelt. Wesentliche Abweichungen sind solche, die nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht vorhersehbar waren und nicht vom Verwirklichungswillen des Täters getragen sind. Folglich liegt hier keine wesentliche Abweichung vor: Es liegt völlig im Rahmen der allgemeinen Lebenserfahrung, dass Beilhiebe auf den Kopf, wenn sie dann nicht sofort zum Tode führen, jedenfalls durch die erheblichen Verletzungen tödliche Folgewirkungen haben können. Es ist ferner davon auszugehen, dass, wenn Anton Dietmar mit Beilhieben töten

will, auch ein derart »verspäteter Erfolgseintritt« von seinem Willen umfasst ist. Da die Differenz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit also unwesentlich ist, wird hierdurch nicht der Vorsatz infrage gestellt. Nach einer von vielen vertretenen Gegenauffassung können diese Fälle schon auf der Ebene der objektiven Zurechnung (siehe Kapitel 7) eindeutig entschieden werden. Fragt man nämlich dort, ob sich das von dem Täter mit seinem Handeln geschaffene Risiko realisiert hat, kommt es nur noch auf das Bewusstsein der geschaffenen Risikolage und nicht mehr auf genaue Vorstellungen von der Realisierung des Risikos an.

Error in persona Beim error in persona vel objecto (der Verwechslung der Person beziehungsweise des Tatobjekts) trifft der Täter mit seiner Handlung die anvisierte Person (beziehungsweise das anvisierte Objekt), stellt sich dabei aber darunter eine andere Person (beziehungsweise ein anderes Objekt) vor. Der Killer Anton hat den Auftrag, Dietmar zu töten. In der Annahme, es handele sich dabei um Dietmar, erschießt Anton jedoch Paul. Diese Abweichung von Wirklichkeit und Vorstellung ist nach einhelliger Auffassung unbeachtlich. Anton unterliegt nur einem Motivirrtum – er schießt auf Paul, weil er ihn für Dietmar hält. Er weiß aber sicher, dass er auf einen Menschen schießt, um ihn zu töten. Das getroffene und das vorgestellte Objekt sind in ihrer Qualität, Menschen zu sein, gleichwertig. Folglich ist in diesem Fall Anton der vorsätzlichen Tötung von Paul strafbar, denn er wollte ihn als Menschen, den er für Dietmar hielt, töten.

Abweichungen von Wirklichkeit und Vorstellung über das Tatobjekt können dagegen für den Vorsatz relevant werden, wenn die verwechselten Objekte nicht gleichwertig sind. Anton ist auf der Jagd. Ein Rascheln im Gebüsch lässt ihn dort ein Wildschwein vermuten. Anton schießt auf den Busch in der Vorstellung, ein Wildschwein zu erlegen. Zu seinem Entsetzen findet er dann dort Dietmar, der von ihm erschossen wurde. Anton hatte nach seiner Vorstellung auf ein Wildschwein geschossen, dies war ein schrecklicher Irrtum. Tatsächlich hat er einen Menschen getroffen. Diese Objekte sind von wesentlich unterschiedlicher Qualität. Folglich wird durch den Irrtum der Vorsatz, einen Menschen zu töten, ausgeschlossen. Anton kann nur wegen fahrlässiger Tötung von Dietmar gem. § 222 StGB strafbar sein (zu den Fahrlässigkeitsvoraussetzungen kommen wir dann in Teil III, Kap 11).

Aberratio ictus Die aberratio ictus (das Fehlgehen der Tat) beschreibt eine Fallkonstellation, in der ein Täter ungewollt sein Zielobjekt verfehlt (»Fehlschuss«) und zugleich ein anderes Ziel trifft, ohne dass er hieran auch nur gedacht hat. Der Killer Anton liegt mit einem Präzisionsgewehr mit Zielfernrohr auf der Lauer, um aus dem Hinterhalt Dietmar zu erschießen. Anton ist in seiner Laufbahn noch nie ein Fehlschuss unterlaufen. Im Moment des Schusses bückt sich Dietmar nach einem Euro auf dem Boden. Durch diesen unglaublichen Zufall geht der Schuss fehl. Jedoch wird der zuvor von Dietmar verdeckte Hans-Peter tödlich getroffen.

Nach der herrschenden Meinung ist dieser Fall klar vom error in persona zu unterscheiden. Anton wollte Dietmar erschießen und hatte auf ihn gezielt; Hans-Peter hatte er überhaupt nicht »auf dem Schirm«. Der Fall ist also weit entfernt von einer Personenverwechslung. Anton wäre danach für den fehlgehenden Schuss auf Dietmar wegen versuchter Tötung und für den Schuss auf Hans-Peter wegen fahrlässiger Tötung zu bestrafen. Eine beachtliche Mindermeinung will diesen Fall jedoch unter der Voraussetzung der Gleichwertigkeit von anvisiertem und getroffenem Objekt wie einen error in persona behandeln. Das Kernargument lässt sich hören: Wer einen Menschen töten will und infolge der Abirrung einen anderen Menschen tötet, macht sich einer vorsätzlichen vollendeten Tötung auch des Zufallopfers strafbar, weil der Tatbestand des Totschlags (§ 212 StGB) nur eine Konkretisierung der Tötungshandlung auf »einen Menschen«, nicht aber auf einen »konkreten Menschen« verlangt. Die Behandlung dieses Problems finden Sie in unzähligen Übungsfällen zum Allgemeinen Teil des Strafrechts. Es ist eine derjenigen Problemkonstellationen, zu denen es nicht die richtige Lösung gibt, sondern bei denen Sie problembewusst argumentieren müssen. Wir werden darauf beim Thema Vorsatz (Kapitel 10) wieder zurückkommen.

Dolus generalis Unter dem Begriff dolus generalis wurden lange Zeit solche Fälle diskutiert, in denen der Täter den Erfolg schon in einem ersten Handlungsakt erreicht zu haben glaubt, tatsächlich der Erfolg aber erst in einem zweiten Handlungsakt eintritt. Das heißt, die Dinge laufen nicht »schief«, sondern es »kommt anders, als man

denkt«. Hierzu gibt es zahlreiche Fälle, deren berühmtester der sogenannte Jauchegrube-Fall (BGHSt 14, 193) ist: Anna stopfte Birgit mit bedingtem Tötungsvorsatz zwei Hände voll Sand in den Mund, um sie am Schreien zu hindern. Als sie regungslos dalag, hielt Anna Birgit für tot und warf sie zur Leichenbeseitigung in die Jauchegrube. Wie sich bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung herausstellte, war Birgit zum Zeitpunkt des Wurfs in die Jauchegrube jedoch noch am Leben und starb erst durch Ertrinken in der Gülle. Zur Lösung dieses Falles wurde früher die von mir favorisierte Theorie vom dolus generalis vertreten. Danach würde es sich hier um ein Handlungsgeschehen mit zwei Akten handeln. Das gesamte Handlungsgeschehen ist von Anfang an von Annas Vorstellung bestimmt, Birgit »zum Schweigen« zu bringen, auch wenn dies deren Tod bedeuten würde, also unter billigender Inkaufnahme ihrer Tötung. Sie denkt, dies im ersten Akt erreicht zu haben, und nimmt im zweiten Akt irrtümlicherweise an, eine Leiche zu beseitigen. Dies beseitigt jedoch nicht die Verkettung von Ereignissen, die von Beginn an darauf hinausliefen, dass Anna der Tod von Birgit nicht unerwünscht war. Anna ist danach also wegen vorsätzlicher Tötung strafbar. Früher war die Lehre vom dolus generalis herrschend, heute wird sie aber praktisch nicht mehr vertreten.

Nach einer Mindermeinung muss man das Geschehen in zwei Handlungszusammenhänge auflösen. Danach liege im ersten Handlungszusammenhang (Vollstopfen des Mundes mit Sand bis zur Bewusstlosigkeit) der Versuch einer Tötung vor; der zweite Handlungsstrang dagegen (»Entsorgen« der vermeintlichen Leiche in der Jauchegrube) sei als eine fahrlässige Tötung zu bewerten. Wer in der Vorstellung und mit dem Willen handelt, eine Leiche zu beseitigen, der gehe natürlich nicht davon aus, dass er jetzt etwas tue, was den Tod eines Menschen bewirkt. Die heute herrschende Meinung will den Fall nach den Grundsätzen des Irrtums über den Kausalverlauf lösen. Birgits Tod ist danach von Annas Verwirklichungswillen getragen. Sie nahm es billigend in Kauf, dass Birgit zu Tode kam, sei es nun durch Ersticken oder Ertrinken. Der reale Tatverlauf bewegt sich im Übrigen in den Grenzen, was nach allgemeiner Lebenserfahrung voraussehbar ist. Es liege also keine wesentliche, den Vorsatz ausschließende Abweichung des vorgestellten vom tatsächlichen Geschehensablauf vor.

Die Lehre von der objektiven Zurechnung In der Begründung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auf der objektiven Ebene kommt man mit der Kausalität zwar immer irgendwie zurecht, man muss aber auch zuweilen sehr angestrengte Überlegungen anstellen, um ein Kausalitätsergebnis nach der »blinden« Conditio-sine-qua-non-Formel, das einem als unangemessen erscheint, doch noch zu korrigieren. Häufig gelingt das erst im subjektiven Tatbestand durch Überlegungen zum Vorsatz des Täters. Die Lehre von der objektiven Zurechnung verfolgt das Ziel, die Erfolgszurechnung von abenteuerlichen Überlegungen frei zu halten und Verursacher von tatbestandsmäßigen Erfolgen

möglichst früh aus dem Strafbarkeitsbereich herauszunehmen, soweit ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht als sachgerecht erscheint. Dieses Bemühen ist vielfältiger Kritik ausgesetzt und wird von der Rechtsprechung nur in einigen Konstellationen geteilt. Ein Kollege hat einmal dramatisch formuliert, dass die Lehre von der objektiven Zurechnung den »Effekt eines den gesamten objektiven Tatbestand an sich reißenden und in sich ertränkenden Strudels« habe.

Kapitel 7

Die Lehre von der objektiven Zurechnung IN DIESEM KAPITEL Der Kerngedanke der objektiven Zurechnung – Überschreitung des erlaubten Risikos Der Zusammenhang des Erfolgs mit der riskanten Handlung (Risikozusammenhang) Fallgruppen des Ausschlusses der objektiven Zurechnung

Die formelhafte Kausalitätszurechnung hat einige Unzulänglichkeiten (siehe Kapitel 6). Die Lehre von der objektiven Zurechnung sucht nach Regeln, um die Unzulänglichkeiten zu überwinden.

Der Kerngedanke der objektiven Zurechnung – Überschreitung des erlaubten Risikos Nach dem Kerngedanken der Lehre von der objektiven Zurechnung soll bereits im objektiven Tatbestand der Zusammenhang von Handlung (Ursache) und Erfolg (Wirkung) so bearbeitet werden, dass der Unterschied von »Unrecht« und »Unglück«/»Zufall« sichtbar wird:

Die Grundformel der objektiven Zurechnung lautet, dass dem Täter ein Erfolg zugerechnet werden kann, wenn er durch seine Handlung ein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen beziehungsweise erhöht hat (Überschreiten des erlaubten Risikos) und sich gerade dieses Risiko in einem tatbestandsmäßigen Erfolg konkret realisiert hat (Risikozusammenhang). Dabei verlangt die objektive Zurechnung immer zwei Schritte: 1. Feststellung der Kausalität nach der klassischen Conditio-sine-qua-non-Formel 2. die wertende Betrachtung des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung In der Vorgehensweise wird Sie das an die in Kapitel 6 angesprochene Relevanztheorie erinnern.

Risikozusammenhang: Riskante Handlung und Erfolg Der für die objektive Zurechnung erforderliche Risikozusammenhang zwischen Handlung und Erfolg besteht, wenn sich das vom Täter geschaffene rechtlich relevante Risiko und nicht ein anderes Risiko im Erfolg realisiert hat. Der Risikozusammenhang entfällt dagegen, wenn sich in dem konkreten Erfolg ein anderes als das vom Täter geschaffene Risiko verwirklicht.

Anton schlägt Bert ins Gesicht. Anton ist nicht bekannt, dass Bert Bluter ist. Bei Bert setzt infolge des Schlages heftiges Nasenbluten ein, das wegen seiner Vorerkrankung nicht gestillt werden kann. Bert verblutet. Diesen Fall könnte man auf der Ebene des subjektiven Tatbestandes so lösen, dass Anton beim Schlag ins Gesicht von Bert der Tötungsvorsatz fehlte. Er hatte nämlich keine Vorstellung davon, dass sein Schlag tödliche Folgen haben könnte, und er verfolgte auch nicht das Ziel, Bert zu töten. Der Tod von Bert war aus Antons Sicht ein Unglück.

Zwei weitere Lösungswege Lehre von der objektiven Zurechnung: Ein Schlag ins Gesicht einer anderen Person stellt unter normalen Umständen kein Risiko dafür dar, dass der Tod dieser Person eintritt. Im Tod von Bert realisiert sich das in seiner Person liegende Risiko, Bluter zu sein. Adäquanztheorie: Nach der Adäquanztheorie soll aufgrund objektivnachträglicher Prognose im jeweils konkreten Fall festgestellt werden, ob die Handlung nach allgemeiner Lebenserfahrung vom Standpunkt des kundigen Richters aus geeignet war, diesen Erfolg herbeizuführen oder nicht. Betrachtet man die Auseinandersetzung zwischen Anton und Bert nachträglich aus objektiver Perspektive, dann war nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht zu erwarten, dass der Schlag ins Gesicht zum Tod von Bert führen würde.

Jetzt schauen wir uns einmal eine geringfügige Variante an und Sie werden sehen, dass die Lehre von der objektiven Zurechnung gegenüber der klassischen Vorgehensweise nicht immer zu klareren Lösungen führt. Sie erinnern sich an unseren Fall aus dem vorigen Kapitel:

Anton hält eine Waffe an die Schläfe von Bert, um ihn zu erschießen. Als Bert die Waffe an seiner Schläfe spürt, lässt er sich geistesgegenwärtig fallen. Dadurch kommt es nur zu einem an sich harmlosen Streifschuss. Dennoch kommt Bert zu Tode, weil er ein Bluter ist.

Die Klarheit der klassischen Lösung Dieser Fall kann nach den Lehrsätzen zum Irrtum über den Kausalverlauf gut und folgerichtig entschieden werden. Anton hatte den Vorsatz, Bert durch eine Schussverletzung zu töten. Nach der herrschenden Meinung kann ein Irrtum über den Kausalverlauf – Anton hatte sich vorgestellt, dass er Bert auf der Stelle durch einen Kopfschuss tötet – nur dann relevant sein, wenn es sich um eine wesentliche Abweichung des wirklichen vom vorgestellten Kausalverlauf handelt. Wesentliche Abweichungen sind solche, die nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht vorhersehbar waren und nicht vom Verwirklichungswillen des Täters getragen sind. Folglich liegt hier keine wesentliche Abweichung vor: Es liegt im Rahmen der allgemeinen Lebenserfahrung, dass Schüsse auf den Kopf lebensgefährlich sind. Es ist ferner davon auszugehen, dass, wenn Anton den Bert derart brutal töten will, auch ein solcher atypischer Verlauf von seinem Willen umfasst ist. Da die Differenz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit also unwesentlich ist, wird hierdurch nicht der Vorsatz infrage gestellt.

Im Konzept der Lehre von der objektiven Zurechnung müsste man jetzt mit dem Begriff des Risikozusammenhangs argumentieren: Hat sich im Tod von Bert die konkrete Art des von Anton gesetzten Risikos »Schuss auf den Kopf« realisiert? Wie ist demgegenüber das aus der Sphäre von Bert stammende Risiko zu gewichten, auch durch an sich nicht lebensgefährliche Verwundungen zu sterben? Spielt das zielgerichtete Vorgehen Antons schon in der objektiven Zurechnung eine Rolle?

Fallgruppen des Ausschlusses der objektiven Zurechnung Es herrscht mehr oder weniger große Einigkeit darüber, dass man mit den Maßstäben der Lehre von der objektiven Zurechnung in den folgenden Fallgruppen mit guten Argumenten zu angemessenen Ergebnissen kommt (wobei sich jedoch an mancher Stelle kritische Fragen nicht vermeiden lassen): Risiko außerhalb des menschlichen Beherrschungsvermögens Risikoverringerung Berücksichtigung des nicht risikosteigernden Alternativverhaltens Dazwischentreten einer anderen Person/Verlauf der Gefahrrealisierung Fall der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des Opfers

Risiko außerhalb des menschlichen Beherrschungsvermögens Erinnern Sie sich an den Fall mit dem Flugzeugabsturz (siehe Kapitel 6): Anton schenkt Bert ein Flugticket in der Hoffnung, das Flugzeug möge abstürzen und Bert dabei sterben. Der Zufall ist Anton hold, das Flugzeug stürzt ab, Bert kommt zu Tode. Dieser Fall lässt sich mit der objektiven Zurechnungsformel zwanglos lösen, denn Anton konnte hier das allgemeine Risiko (oder besser: die geringe Wahrscheinlichkeit) eines Flugzeugabsturzes weder für sich instrumentalisieren noch für Bert erhöhen. Wird Bert von Anton zu einer Flugreise eingeladen, so ist das mit jeder Flugreise verbundene Absturz- und damit

Lebensrisiko nicht gerade durch Antons Handlung erhöht worden. Da aufseiten der Risikosetzung keine rechtlich missbilligte Handlung steht, kann überhaupt kein Risikozusammenhang zu Berts Tod durch den Flugzeugabsturz bestehen. Es handelt sich um ein Unglück, das sich Anton zwar gewünscht und über dessen Eintritt er sich gefreut hat. Aber im Strafrecht haftet man für böse Taten und nicht für moralisch verwerfliche Fantasien und Gefühle. Schwieriger wird es dann schon in Fällen, in denen von der Verwirklichung des allgemeinen Lebensrisikos gesprochen wird. Als selbstverständlich außerhalb der objektiven Zurechnung stehend gilt der folgende Fall: Anton ist stark erkältet. Er weiß, dass er andere Menschen nicht direkt anhusten oder anniesen sollte, weil eine Übertragungsgefahr durch Tröpfcheninfektion besteht. Er weiß auch, dass die öffentlichen Verkehrsmittel zur Rushhour so drängend gefüllt sind, dass es praktisch unmöglich ist, den notwendigen Abstand zu anderen Menschen zu halten. So kommt es auch: Anton niest Bert direkt ins Gesicht. Bert ist am übernächsten Tag stark erkältet. Sehen Sie bitte einmal von allen Beweisfragen ab und nehmen Sie den Fall so wie er ist. »Was soll denn das für ein Strafrechtsfall sein? Klar kann man sich im Winter überall anstecken: im Bus, der U-Bahn, beim Shoppen«, werden Sie sagen. Versuchen Sie das Argument juristisch zu formulieren, dann sagen Sie damit, dass es zum allgemeinen Lebensrisiko gehört, sich an Erkältungskrankheiten anzustecken, und dass es ein sozialadäquates Verhalten ist, sich mit einer Erkältungskrankheit in die Öffentlichkeit zu begeben und zu husten und niesen. Jetzt schauen Sie sich einmal diesen geringfügig variierten Fall an:

Anton findet in der Enge doch noch einen Sitzplatz neben der alten, sichtlich gebrechlichen Oma Dorothea. Es kann als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, dass gerade bei solchen Menschen erhebliche Komplikationen durch einen an sich banalen Infekt auftreten können. Anton muss niesen und hält sich nicht die Hand vor. Am übernächsten Tag ist Dorothea krank, drei Tage später verschlechtert sich das Krankheitsbild dramatisch zu einer Lungenentzündung. Dorothea muss ins Krankenhaus. Was sagen Sie jetzt? Anton ist Träger einer Virusinfektion; er hat Dorothea frontal angeniest; Dorothea ist mit genau diesem Virus infiziert worden; von Dorothea zur Rede gestellt, hat Anton frech gesagt: »Ist mir doch egal, ob ich Sie angesteckt habe.« Es kann nach dieser Lage der Dinge nicht bestritten werden, dass Antons Verhalten rücksichtslos ist und einen Tadel verdient. Aber kann man das Anniesen nach den Regeln der Lehre von der objektiven Zurechnung als Überschreitung des erlaubten Risikos ansehen? Sie können hieran gut sehen, wie groß der Einfluss wertender Überlegungen auf die Zurechnung wird. Einerseits könnten Sie mit der Erfahrung zunehmender Rücksichtslosigkeit im sozialen Leben argumentieren und sagen, dass es heute nun einmal zum allgemeinen Lebensrisiko gehört, dass sich Menschen beim Niesen nicht abwenden und die Hand vorhalten. Andererseits könnten Sie auf die Risikoerhöhung durch das konkrete Verhalten Antons und seine tadelnswerte Haltung dabei (»ist mir doch egal«) abstellen. Wie komplex die Argumentation mit dem Begriff »Risiko« und der Beherrschung und Verteilung von Risiken werden kann, mögen Sie sich bitte abschließend an folgender (schon in weitere Fallgruppen reichender) Fallgestaltung überlegen:

Anton ist ohne Krankheitsanzeichen mit einer schweren Krankheit infiziert. Kontakte mit seinem Blut oder anderen Körperflüssigkeiten sind mit einem hohen Risiko der Ansteckung behaftet. Als Anton einen Verkehrsunfall erleidet, leistet Bert auf Antons Bitte Erste Hilfe. Es ist klar, dass Bert dabei in Kontakt mit Antons Blut kommt. Anton weist Bert nicht auf das Infektionsrisiko hin, weil er versorgt werden möchte und im Falle einer Information fürchtet, dass Bert seine Hilfeleistung einstellt. Anton hofft dabei inständig darauf, dass es nicht zu einer Infektion von Bert kommen möge. Diese Infektion stellt sich jedoch Monate später bei einer Routineuntersuchung Berts heraus. Sicherlich führen hier Argumente, es sei eine unglückliche Verkettung von Umständen außerhalb des menschlichen Beherrschungsvermögens gewesen oder es gehöre in den Zeiten von AIDS zum allgemeinen Lebensrisiko, in so eine Situation zu geraten, nicht weiter. Man wird auch nicht sagen können, wegen Antons nachvollziehbaren Interesses an seiner Versorgung habe er ein tolerierbares oder gar erlaubtes Risiko für Bert geschaffen. Zuweilen wird auch der Gedanke des Handelns auf eigene Gefahr ins Spiel gebracht: Danach soll man in bestimmten erkennbaren Situationen eines erhöhten Risikos als möglicherweise Betroffener selbst zu Abschirmungsmaßnahmen verpflichtet sein – also zum Beispiel Erste Hilfe nur mit Schutzhandschuhen leisten. Ich möchte Ihnen hier keinen Vorschlag zu einer Lösung des Falls unterbreiten. Sie werden die AIDS-Problematik in Kapitel 8 weiterverfolgen können, wenn es im subjektiven Tatbestand darum geht, unter welchen Umständen HIV-positive Menschen beim ungeschützten (Sexual-)Kontakt mit anderen Menschen einen Verletzungsvorsatz haben.

Risikoverringerung

Lassen Sie uns jetzt erst einmal eine sehr viel einfachere Konstellation mit klarer Lösungsstruktur betrachten. Es gibt Situationen, in denen eine Person in ein Geschehen eingreift und dadurch den Geschehensablauf entscheidend zum Guten verändert. Anders ausgedrückt kommt es durch das Eingreifen nicht zu dem ursprünglich im Verlauf angelegten schweren Erfolg, gleichwohl kommt es aber zu einem anderen, geringeren tatbestandsmäßigen Erfolg. Die Handlung bewirkt also eine Risikoverringerung – wie im folgenden Fall: Anton hält eine Pistole an die Schläfe von Bert und ist im Begriff abzudrücken. Durch das Eingreifen Carolas wird Antons Pistole zwar aus der Ziellinie gestoßen, es löst sich aber gleichzeitig ein Schuss, der Bert in die Schulter trifft. An der Kausalität der Handlung Carolas für die Schulterverletzung von Bert ist nach der Conditio-sine-quanon-Formel nicht zu zweifeln. Ihr Eingreifen kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt (Schulterverletzung) entfallen würde. Genau diese Handlung hat aber auch dazu geführt, dass die Gefahr eines weitaus schwereren Erfolges (Tod) verringert worden ist. Die Lehre von der objektiven Zurechnung scheidet die Zurechnung der Körperverletzung hier schon im objektiven Tatbestand nach der Formel »keine Tatbestandsverwirklichung eines Erfolgsdelikts durch risikoverringernde Handlungen« aus.

Berücksichtigung des nicht risikosteigernden Alternativverhaltens In bestimmten Situationen will die Lehre von der objektiven Zurechnung doch die Berücksichtigung von hypothetischen Kausalitätserwägungen zulassen. Sie vergleichen dann das

konkrete riskante Verhalten mit einem Verhalten, das sich in den Grenzen des erlaubten Risikos bewegt. Wenn der Erfolg hier wie dort eingetreten wäre, dann entfällt die Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit. Klassischer Anwendungsbereich sind hierfür Fälle aus dem Straßenverkehr: Anton fährt mit überhöhter Geschwindigkeit durch ein Wohngebiet. Plötzlich und unerwartet springt zwischen zwei parkenden Fahrzeugen der fünfjährige Konrad auf die Fahrbahn und wird von Antons Fahrzeug erfasst. Konrad kommt bei dem Unfall zu Tode. Nach dem unbestreitbaren Gutachten des Unfallsachverständigen hätte Anton auch bei Einhaltung der erlaubten Geschwindigkeit sein Fahrzeug nicht mehr zum Stehen bringen und den Tod des Kindes vermeiden können. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit entfällt hier schon auf der Ebene des objektiven Tatbestandes. Das entscheidende Argument ist: Das pflichtwidrige Verhalten des Täters (Geschwindigkeitsüberschreitung) stellt mit Blick auf das Verhalten des Opfers keine Risikoerhöhung gegenüber einer Situation unter Einhaltung des erlaubten Risikos dar.

Dazwischentreten einer anderen Person/Verlauf der Gefahrrealisierung Die Fälle, die in der Kausalitätstheorie unter den Begriffen abbrechende und überholende Kausalität, Fortwirkungskriterium und Lehre vom Regressverbot diskutiert werden – Fälle des Dazwischentretens Dritter also, versucht die Lehre von der objektiven Zurechnung mit dem Kriterium der Gefahrrealisierung zu lösen.

Anton fügt Bert mit Tötungsvorsatz einen Messerstich in den Hals zu. Der in Todesgefahr schwebende Bert wird am Tatort vorläufig versorgt. Bei der Fahrt ins Krankenhaus verunglückt der Notarztwagen. Bert wird bei dem Unfall getötet. In diesem Fall hat sich nach der Lehre von der objektiven Zurechnung nicht die spezielle, durch den Messerstich geschaffene Todesgefahr, sondern eine andere Gefahr realisiert, die man als das allgemeine Lebensrisiko, Unfallopfer im Straßenverkehr zu werden, bezeichnen kann. Die Auswirkungen solcher allgemeiner Lebensrisiken hat jeder selbst zu tragen, sie können deshalb nicht anderen als deren Werk zugerechnet werden. Bedenken Sie jedoch: Die Abgrenzung der unterschiedlichen Risikosphären ist nicht immer eindeutig möglich und häufig ein Wertungsakt mit erheblichem Argumentationsaufwand. Sicher sollen zum Beispiel nach der Lehre von der objektiven Zurechnung folgende Geschehensabläufe im Risikobereich eines lebensgefährlichen Messerstichs liegen: Bert erbricht sich auf dem Krankentransport und erstickt am Erbrochenen. Nach Einlieferung ins Krankenhaus versagt bei der Notfallbehandlung ein medizinisches Gerät, das die Lebensfunktion von Bert aufrechterhält.

Zusammengefasst lässt sich die Lösungsstrategie über das Kriterium der Gefahrrealisierung auf folgende Formel bringen: Die objektive Zurechnung verlangt die Feststellung, dass ein Zusammenhang zwischen Gefahrschaffung/-erhöhung und Gefahrrealisierung besteht. Dieser Zusammenhang wird

aufgelöst, sobald ein Dritter in das Geschehen eintritt und ein neues Risiko schafft. Ebenso wird dieser Zusammenhang aufgehoben, wenn sich plötzlich und unvorhersehbar ein im Opfer selbst angelegtes Risiko zeigt. In beiden Konstellationen realisiert sich dann im Erfolg nicht mehr die eigentümliche Gefahr des Erstrisikos.

Die eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers Damit sind wir bei der letzten wichtigen, auch in der Rechtsprechung anerkannten (BGHSt 32, 262) Fallgruppe angelangt: Fälle der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des Opfers. Im Fall der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung verlagert sich die Zurechnung des Erfolgs in die Verantwortungssphäre des Opfers. Die alltägliche Zurechnungsregel »Daran bist du selber schuld« lautet in der Sprache der Theorie: Die Verantwortung für den Eintritt eines Erfolgs liegt beim Opfer, wenn sich darin dessen eigenverantwortliche Entscheidung für die Eingehung eines Risikos realisiert. Die Leitentscheidung der Rechtsprechung betrifft folgende Fallkonstellation:

Anton traf Bert. Beide waren sich seit Langem freundschaftlich verbunden. Bert sagte Anton, er habe Heroin, »das man zusammen drücken könne«. Anton entschloss sich, die erforderlichen Spritzen zu besorgen, als Bert, der als Konsument harter Drogen bekannt war, ihm erklärte, er bekomme »nirgends mehr eine Spritze«. Nachdem Anton drei Einwegspritzen gekauft hatte, gingen er und Bert auf die Toilette einer Gaststätte. Bert besorgte einen Löffel und brachte »drei Hunderter-Hit« in diesem Löffel »zum Aufkochen«. Den »aufgekochten Stoff« füllte Bert in zwei Spritzen und überließ eine davon Anton. Alsbald nach der Injektion des Stoffes, der neben Heroin auch Koffein enthielt, wurden Bert und Anton bewusstlos. Lokalbesucher veranlassten nach einiger Zeit die Öffnung der Toilettentür und die Verständigung des Notarztes. Als der Arzt eintraf, war Bert bereits tot. Die Injektion hatte zu Atemstillstand und Herz-Kreislauf-Versagen geführt. Anton überlebte.

Lösung nach der klassischen Kausalitätstheorie Unter Anwendung der Conditio-sine-qua-non-Formel bestehen an der Zurechnung keine Zweifel: Anton hat mit dem Besorgen der Spritzen (Handlung) eine nicht hinwegzudenkende Ursache für den Tod von Bert (Erfolg) gesetzt. Es handelt sich auch um eine Ursache für den Erfolg in seiner konkreten Gestalt: Bert hätte die Heroinspritze nicht in genau dieser Art, an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt setzen können, wenn Anton nicht die Spritzen besorgt hätte. Deswegen wurde Anton zunächst vom erstinstanzlichen Gericht wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) verurteilt, denn klar ist, dass Anton die Spritzen nicht in der Vorstellung und mit dem Ziel besorgte, Bert zu töten. Zu den Abgrenzungen von Vorsatz und Fahrlässigkeit kommen wir gleich im nächsten Kapitel.

Lösung nach der Lehre von der objektiven Zurechnung Die Lehre von der objektiven Zurechnung und in diesen Konstellationen auch die Rechtsprechung des BGH dagegen schließen eine strafrechtliche Verantwortlichkeit schon auf der Ebene des objektiven Tatbestandes aus. Die Begründung müssen Sie sorgfältig nachvollziehen. Bert hat sich in eigener Verantwortung dafür entschieden, eine Handlung vorzunehmen (Heroinkonsum), deren Lebensgefährlichkeit ihm bewusst sein musste. Ihm fehlte jedoch die Spritze, um diese Handlung begehen zu können. In diesem Sinne hat Anton durch die Beschaffung der Spritzen eine Bedingung für den tödlichen Erfolg gesetzt. Das Zubereiten des Heroins, Aufziehen der Spritzen und die Injektion sind dann wieder von Bert vorgenommen worden. Das heißt, die Risikosphäre wird nach Herbeischaffung der Spritzen durch Anton wieder vollständig von Bert beherrscht. Deshalb kann man nicht davon sprechen, im Tod von Bert habe sich das Herbeischaffen der Spritzen durch Anton realisiert. Es bleibt in diesem Zusammenhang noch eine Frage zu klären:

Feststellung der Eigenverantwortlichkeit Die Frage betrifft das Kriterium der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung. Sie könnten erwägen, diese Eigenverantwortlichkeit für einen offenbar geübten abhängigen Heroinkonsumenten infrage zu stellen. Aber auch ein langjähriger Drogenkonsument dürfte wissen, dass es sich dabei um ein extrem gesundheitsschädigendes und lebensgefährliches Verhalten handelt. Zur Feststellung der Eigenverantwortlichkeit gibt es zwei mögliche Lösungen: Das Exkulpationsmodell: Man geht im Regelfall von der Eigenverantwortlichkeit aus und verneint diese nur

ausnahmsweise, nämlich bei unreifen jungen Menschen i.S.v. § 3 JGG und bei geistigen Erkrankungen, Intelligenzminderungen und seelischen Störungen i.S.v. von § 20 StGB. Das Einwilligungsmodell: Ähnlich wie bei einer Einwilligung in eine Operation wird gefragt, ob die Person »nach ihrer geistigen und sittlichen Reife« die Bedeutung und Tragweite der Entscheidung richtig erkennen und sachgerecht beurteilen konnte. Wie Sie wahrscheinlich schnell erkannt haben, stellt das Einwilligungsmodell die strengeren Maßstäbe auf. Natürlich können auch Menschen über 14 Jahren und ohne erhebliche psychische Krankheiten und Defizite zu »kindischen« und unvernünftigen Entscheidungen gelangen. In der Praxis ist der Unterschied der Konzepte meist irrelevant. Klar ist zum Beispiel, dass einfältige, hochgradig alkoholisierte Personen nicht in der Lage zu tragfähigen Einwilligungen sind, sie fallen aber auch unter den Anwendungsbereich des § 20 StGB über die Schuldunfähigkeit wegen tiefgreifender Bewusstseinsstörungen.

Kapitel 8

»Nichtstun« als strafbares Verhalten – die Unterlassungsdelikte IN DIESEM KAPITEL Der Unterschied von echten und unechten Unterlassungsdelikten Pflicht zur Hilfe in Not Untätigbleiben als Unterlassungsdelikt? Beschützer- und Überwachergaranten

Die Strafbarkeit des Unterlassens war in der Strafrechtstheorie nicht immer eine ausgemachte Sache. Schließlich lässt sich hiergegen der einfache, aber in der philosophischen Begründung durchaus anspruchsvolle Gedanke vorbringen, dass ein Unterlassenstäter nichts bewirkt, sondern nur den Dingen ihren Lauf lässt. Wenn Anton vom Seeufer aus tatenlos zusieht, wie Bert mit seinem Segelboot kentert und ertrinkt, dann entspricht das nicht unbedingt unserer Vorstellung von einem Tötungsdelikt. Anton kann ganz unterschiedliche Gründe für sein Nichtstun haben: Bert kann Antons verhasster Bruder und Anton froh über sein Schicksal sein. Anton kann Nichtschwimmer sein. Oder Anton kann sich angesichts des ihm völlig unbekannten Bert sagen: »Was geht mich das an?«

Soll derjenige, der einen Menschen ertrinken lässt, genauso bestraft werden wie derjenige, der einen Menschen ertränkt? Soll es auf das Verhältnis der beteiligten Personen zueinander ankommen? Macht es einen Unterschied, ob der Ertrinkende ein Angehöriger oder ein Fremder ist? Muss ich auch Risiken für mein eigenes Leben eingehen, um einen anderen Menschen zu retten? Den theoretischen Streit hat der Gesetzgeber durch die allgemeine Regelung des § 323 c StGB über die unterlassene Hilfeleistung und durch die Regelung des § 13 StGB über die Begehung durch Unterlassen entschieden. Jeden Menschen trifft unter den Voraussetzungen des § 323 c StGB die Pflicht zur Hilfeleistung in Not. Der Begehung einer Straftat durch Unterlassen macht sich dagegen nur derjenige strafbar, bei dem die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind: Der Betreffende muss das Geschehen tatsächlich aufhalten können (also zum Beispiel schwimmen oder einen Rettungsschwimmer herbeirufen können); er muss zu dem Betroffenen in einem besonderen Nähe- oder Schutzverhältnis stehen (also zum Beispiel der Bruder des Ertrinkenden oder der zuständige Rettungsschwimmer am Seeufer sein); er muss sich seiner Pflicht zum Handeln bewusst sein und sich dafür entscheiden, gleichwohl den Dingen ihren Lauf zu lassen (»dann soll der mal ertrinken«); und schließlich muss normativ beurteilt werden, ob im konkreten Fall das Unterlassen der Erfolgsabwendung der Verursachung des Erfolgs durch Tun gleichwertig ist. Als eine Art Sicherheitsventil räumt § 13 II StGB dem Gericht die Möglichkeit der Strafmilderung ein, wenn es das

Unterlassungsunrecht gegenüber einer entsprechenden Handlung als geringer einstufen möchte.

Der Unterschied von echten und unechten Unterlassungsdelikten Echte Unterlassungsdelikte nennt man solche Tatbestände, die ausdrücklich ein Untätigbleiben unter Strafe stellen. Das Gesetz erhebt damit die Forderung an jeden Menschen, in einer bestimmten Situation etwas zu tun. Wenn Sie etwa davon erfahren, dass bestimmte schwere Straftaten geplant sind, dann werden Sie gemäß § 138 StGB bestraft, wenn Sie es unterlassen, dies den zuständigen Behörden oder dem Bedrohten anzuzeigen. Einen Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) können Sie auch dadurch begehen, dass Sie in einem Gebäude ohne Berechtigung verweilen. Kardinalbeispiel des echten Unterlassungsdelikts ist die Unterlassene Hilfeleistung (§ 323 c StGB). Danach wird derjenige mit Strafe bedroht, der es unterlässt, bei Unglücksfällen, gemeiner Gefahr oder Not die erforderliche und ihm den Umständen nach zumutbare Hilfe zu leisten. Diese Regelung verkörpert damit das Ideal der mitmenschlichen Solidarität in Notlagen und stellt die Verletzung dieser Solidarität unter Strafe. Bemerkenswert ist, dass bei dieser Strafrechtsnorm Ideal und Wirklichkeit weit auseinanderliegen. Aus der sozialwissenschaftlichen Forschung ist das Bystander-Phänomen bekannt: Notlagen rufen eher unzählige Gaffer als entschlossene Helfer auf den Plan und je mehr Menschen einen Unglücksfall sehen, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch hilft, weil jeder die Verantwortung hierfür auf den anderen schiebt. Häufig müssen sich Polizei und Rettungskräfte am Unglücksort erst den Weg durch die Gaffer bahnen. Weil die Polizei dann

Wichtigeres zu tun hat, als die Personalien der untätigen Gaffer festzustellen, sind Strafverfahren wegen unterlassener Hilfeleistung relativ selten. Unechte Unterlassungsdelikte entstehen dadurch, dass die als Begehungsdelikte formulierten Tatbestände des Besonderen Teils mit der Regelung des § 13 I im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches zusammengelesen werden. Nehmen Sie das Beispiel Totschlag: Der Tatbestand des Totschlags (§ 212 StGB) lautet: »Wer einen Menschen tötet, …« Der Tatbestand des Totschlags durch Unterlassen (§§ 212, 13 I StGB) heißt danach: »Wer es unterlässt, den Tod eines Menschen abzuwenden, wird bestraft, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Tod nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung durch ein Tun entspricht.« Es gibt also Menschen, die in besonderer Weise dazu verpflichtet sind, für das Leben anderer Menschen Sorge zu tragen. Diese Menschen können das Gebot »Du sollst nicht töten« nicht nur durch aktive Tötung verletzen, sondern auch dadurch, dass sie einen anderen Menschen im Stich lassen. Annemarie pflegt schon seit vielen Jahren ihre alte demente Mutter. Sie hat kaum mehr Kraft und Geduld hierfür. Lange schon hat sie darüber nachgedacht, dass sie ihre Mutter mit dem Kopfkissen ersticken könnte. Als bessere Idee fällt ihr ein, sich nicht mehr darum zu kümmern, dass ihre Mutter trinkt. Tatsächlich verstirbt ihre Mutter nach einer Woche an Dehydrierung.

Dies ist eine durchaus realistische Fallgestaltung. Rechtsmediziner vermuten in der Pflege alter Menschen ein großes Dunkelfeld von Tötungen durch das Unterlassen lebenserhaltender Maßnahmen. Schauen Sie sich nun in den nächsten Abschnitten Schritt für Schritt an, wann die Voraussetzungen für eine Strafbarkeit wegen Totschlags durch Unterlassen (§§ 212, 13 I StGB) vorliegen.

Die Garantenstellung Aus § 13 I StGB ergibt sich, dass nur derjenige für die Nichtabwendung eines Erfolges strafrechtlich haftet, der »rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt«. Diese Formulierung des Gesetzes wird auf einen Begriff gebracht, den Sie vielleicht aus anderen rechtlichen Zusammenhängen kennen: Man nennt diese besondere Rechtspflicht Garantenstellung. Aus dieser Garantenstellung gegenüber anderen Menschen ergibt sich eine Grundverantwortlichkeit für deren Wohl und Wehe und im Fall, dass deren Leben, körperliche Unversehrtheit oder sonst ein Rechtsgut in Gefahr steht, eine Handlungspflicht zur Abwehr des Schadens. Klassisch sind entsprechende Fälle im Verhältnis von Ehegatten und Eltern und Kindern zueinander anzutreffen. Ein Ehegatte (Lebenspartner) ist zum Beispiel dafür verantwortlich, dass drohende Lebensgefahren vom Partner abgewendet werden und darf diesen in einer solchen Lage nicht im Stich lassen. Anita hat eine Garantenstellung gegenüber ihrem Ehemann Bernd. Wenn in der gemeinsamen Wohnung nachts ein Schwelbrand ausbricht, darf Anita nicht nach dem Motto »Rette sich, wer kann« ins Freie stürmen, sondern muss sich auch um die Rettung von Bernd kümmern.

In unserem Ausgangsfall ist das Verhältnis von Eltern und Kindern betroffen. So wie die Mutter von Annemarie in ihrer Jugend eine Garantenstellung gegenüber dem Kind hatte und Annemarie nicht verhungern lassen durfte, hat Annemarie nun eine Garantenstellung gegenüber ihrer Mutter und darf sie nicht verdursten lassen. Die Garantenstellungen lassen sich in zwei große Gruppen aufteilen: Beschützergaranten, die bestimmte Personen vor Verletzungen schützen müssen, Überwachergaranten, die eine bestimmte Gefahrenquelle eröffnet und nunmehr zu überwachen haben.

Beschützergarantenstellungen Beschützergarantenstellungen können sich ergeben aus: enger natürlicher (zum Teil gesetzlich geregelter) Verbundenheit Lebens- oder Gefahrengemeinschaft von einigem Gewicht freiwilligen Schutzpflichten

Enge natürliche Verbundenheit Gesetzlich geregelte enge Verbundenheit bedeutet, dass beispielsweise Ehegatten zum gegenseitigen Beistand verpflichtet sind oder Eltern für ihre Kinder beziehungsweise große Kinder auch für ihre Eltern einzustehen haben. Dies versteht sich eigentlich schon aus unseren kulturellen und religiösen Traditionen und Normen, findet sich aber auch in einfachen und klaren Worten im Gesetz. So heißt es in § 1618 a BGB: »Eltern und Kinder sind einander Beistand und Rücksicht schuldig«,

§ 1626 BGB: »Die Eltern haben die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge)«, § 1353 BGB: » Die Ehegatten sind einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet; sie tragen füreinander Verantwortung«, § 2 Lebenspartnerschaftsgesetz: »Die Lebenspartner sind einander zu Fürsorge und Unterstützung sowie zur gemeinsamen Lebensgestaltung verpflichtet. Sie tragen füreinander Verantwortung.« Eine wichtige und umstrittene Frage ist es in diesem Zusammenhang, wie sich die tatsächliche Zerrüttung von solchen auf Verbundenheit und Beistand konzipierten Verhältnissen auf die gesetzlichen Pflichten auswirkt. Nach Jahren eines Ehemartyriums voller Gewalt und Demütigung flüchtet Simone aus der gemeinsamen Wohnung ins Frauenhaus. Als ihr Mann wenige Monate später volltrunken auf einem Fahrrad an ihr vorbeifährt, unternimmt sie keinerlei Anstalten, ihn aufzuhalten. Einige Hundert Meter weiter erleidet er einen schweren selbst verschuldeten Unfall mit erheblichen Verletzungen. Angesichts der tiefgreifenden Veränderungen der Formen menschlichen Zusammenlebens und unseres Wissens darum, dass sich hinter der Fassade mancher Ehe albtraumartige Verhältnisse verbergen können, kann eine rein formale Betrachtungsweise heute nicht mehr die Leitlinie dafür sein, ob Sie von einer Beziehung ausgehen können, die weitreichende strafrechtliche Konsequenzen hat. Vielmehr müssen Begriffe wie Beistand, Sorge, Rücksicht und Lebensgemeinschaft inhaltlich betrachtet werden. So können Ehepaare zwar getrennt leben, aber innerlich in tiefer Freundschaft verbunden sein; umgekehrt kann gemeinsames Leben ohne jede Gemeinsamkeit, ja sogar ohne jedes Gespräch und voller Rohheit stattfinden. Kinder

können einen großen Abstand zu Eltern haben, deren Erziehungsmethoden durch Gewalt gekennzeichnet sind. Geschwisterliebe und Geschwisterhass liegen eng beieinander. Eine solche Zerrüttung der natürlichen Verbundenheit bedeutet zwar nicht, dass auch das Gebot allgemeiner mitmenschlicher Solidarität aufgehoben ist, es fehlt aber dann der innere Grund dafür, den beteiligten Menschen kontrafaktisch ein Garantenverhältnis aufzuerlegen.

Lebens- und Gefahrensgemeinschaften Eine Garantenstellung kann sich auch aus einer Lebens- oder Gefahrengemeinschaft von einigem Gewicht ergeben. Dies wird bei einer reinen Zweckwohngemeinschaft auf überschaubare Zeit nicht der Fall sein, wohl aber bei einem Paar, das langfristig (»eheähnlich«) zusammenlebt. Auch der Zusammenschluss zu einem gemeinsamen Party-Urlaub auf Mallorca wird das notwendige Niveau der Verbundenheit nicht erreichen. Wohl aber sind sich Bergsteiger, Taucher oder Teilnehmer an einer SaharaDurchquerung zum gegenseitigen Beistand verpflichtet, weil sie dieses Wagnis gerade im Vertrauen auf den Beistand ihrer Mitmenschen eingehen.

Freiwillige Schutzpflichten Eine Garantenstellung erlangt auch, wer freiwillig oder auf vertraglicher Basis Schutzpflichten übernimmt, wobei es auf die tatsächliche Übernahme der Pflicht ankommt, die zivilrechtliche Wirksamkeit der Übernahme dagegen unerheblich ist. Solche Schutzpflichten können sich zum Beispiel aus dem ärztlichen Behandlungsvertrag, aus dem Auftrag für eine Bergführung, aus der Erklärung der Bereitschaft, auf ein Kleinkind aufzupassen (Babysitter) oder aus der nachbarschaftlichen oder professionellen Altenpflege ergeben.

Letztlich kommt es in allen Gruppen des Beschützergaranten als Gemeinsames darauf an, ob sich ein Mensch mit guten Gründen in Sicherheit wähnt, weil er auf die Hilfe und Einsatzbereitschaft eines anderen Menschen vertraut und die berechtigte Erwartung hat, dass dieser Mensch bemüht sein wird, Schaden von ihm abzuwenden.

Überwachergaranten: Verantwortung für die Gefahrenquelle Wer die Verantwortung für eine Gefahrenquelle trägt, hat als Überwachergarant dafür zu sorgen, dass sich daraus keine weiteren Schäden für andere Menschen ergeben, weil er untätig bleibt. Eine solche Verantwortlichkeit kann sich ergeben aus: pflichtwidrigem Vorverhalten (dies nennt man Ingerenz) der Verantwortlichkeit für andere Personen Geschäftsherrenhaftung Verkehrssicherungspflichten

Garantenstellung aus Ingerenz Die Garantenstellung aus Ingerenz lässt sich am besten an einem Beispiel aus dem Straßenverkehr zeigen. Abstrakt bedeutet Ingerenz ein pflichtwidriges Vorverhalten eines Menschen, aus dem die nahe Gefahr eines Schadenseintritts für Rechtsgüter anderer Menschen folgt.

Ralf überholt ein am Zebrastreifen haltendes Fahrzeug und fährt dadurch den Fußgänger Fritz an (pflichtwidriges Vorverhalten). Auf den Zusammenprall mit Fritz reagiert er nicht, sondern verlässt fluchtartig den Unfallort. Durch sein Vorverhalten befindet er sich jetzt jedoch in der Position eines Überwachergaranten für Leib und Leben von Fritz. Mit seiner Weiterfahrt macht sich Ralf nicht nur wegen unerlaubtem Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB) strafbar. Vielmehr hat er rechtlich dafür einzustehen (§ 13 StGB), dass die Verletzungen von Fritz versorgt werden oder gar Lebensgefahr von Fritz abgewendet wird. Die Rechtsprechung hat in zahlreichen Fällen unfallflüchtige Täter, deren Unfallopfer in Lebensgefahr gerieten, wegen versuchter Tötung durch Unterlassen beziehungsweise im Todesfall wegen Totschlags durch Unterlassen verurteilt. Zwar ist das Anfahren der anderen Person in diesen Fällen nur eine fahrlässige Körperverletzung; wenn der Täter das Opfer in dieser Lage bewusst im Stich lässt, verwandelt sich das Geschehen jedoch in ein vorsätzliches Unterlassungsdelikt. Die Überwachergarantenstellung aus Ingerenz setzt nicht voraus, dass das pflichtwidrige Vorverhalten vorsätzlich begangen wurde, sondern auch ein fahrlässiges Vorverhalten reicht aus.

Verantwortung für andere Personen Grundsätzlich endet im Strafrecht die Verantwortung als Täter dort, wo die Eigenverantwortlichkeit eines anderen Menschen beginnt. So ist zum Beispiel ein Ehegatte nicht Überwachergarant dafür, dass sein Partner keine Straftat begeht. Ausnahmsweise ergibt sich jedoch eine Garantenstellung für das Verhalten einer anderer Personen als »Gefahrenquelle«, wenn eine besondere Autoritäts- oder Aufsichtsstellung vorliegt. In diesem Sinne verantwortlich sind zum Beispiel Eltern für ihre minderjährigen Kinder, Lehrer für ihre Schüler, militärische Vorgesetzte für ihre

Untergebenen oder Krankenpfleger für ihre psychisch gestörten Patienten. Simone weiß, dass ihr Sohn Henry ein sehr hohes Aggressionspotenzial hat und auf Kränkungen nicht nur beleidigt, sondern gewalttätig reagiert. Bei der Rückkehr aus der Schule berichtet Henry, dass ihn Fred beleidigt hat und das »mit seinem Leben bezahlen« wird. Simone benachrichtigt weder die Schule noch die Eltern von Fred. Sie unternimmt auch nichts, um Henry zu beruhigen. Am nächsten Tag nimmt Henry ein Jagdmesser mit in die Schule und verletzt Fred damit schwer. Sie können an die Stelle von Simone auch den Klassenlehrer von Henry mit demselben Ergebnis einsetzen. Wenn die beiden um die Gefährlichkeit von Henry wussten und es für möglich hielten, dass Henry Fred körperlich angreift, kommt eine strafrechtliche Haftung für die Verletzung von Fred unter dem Gesichtspunkt der Unterlassung in Betracht.

Geschäftsherrenhaftung Eine außerordentlich wichtige Fragestellung des modernen Unternehmens- und Wirtschaftsstrafrechts ist es, ob Personen der Leitungsebene eines Unternehmens Überwachergaranten dafür sind, dass es in ihrem Unternehmen mit rechten Dingen zugeht. Dies wird unter dem Stichwort der Geschäftsherrenhaftung diskutiert. Kein Zweifel kann daran bestehen, dass in vielen Industriebereichen wie etwa der Chemie- und Lebensmittelindustrie von dem Fehlverhalten von Unternehmensangehörigen bedeutende Gefahren zum Beispiel für die Gesundheit Dritter ausgehen können. Wenn bei der Auswahl und Kontrolle der Mitarbeiter und der Einhaltung von Betriebsvorschriften keine Sorgfalt aufgewendet wird und man den Betrieb einfach so laufen lässt, dann wird man von solchen Betrieben als einer Gefahrenquelle sprechen müssen. Natürlich kommt in solchen Fällen eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der

Unternehmensleitung für mangelnde Aufsicht neben der strafrechtlichen Haftung der unmittelbar verantwortlichen Unternehmensangehörigen in Betracht.

Verkehrssicherungspflichten Anders als bei komplexen Fällen einer unverantwortlichen und nachlässigen Unternehmensleitung sind die Verkehrssicherungspflichten völlig unbestritten. Wer etwas betreibt, das eine potenzielle Gefahrenquelle darstellt, muss Vorkehrungen treffen, um mögliche Schäden zu verhindern. Das können Sie sich an einem Jahrmarktsfall klarmachen: Robert betreibt den »Twister«, ein sich schnell drehendes und überschlagendes Karussell. Er muss dafür sorgen, dass nur Personen mit einer Größe von mehr als 140 Zentimetern mitfahren, dass diese Personen nicht betrunken sind und dass sie in den Kabinen mit festgestellten Bügeln gesichert sind. Hierfür muss er ausreichend Personal vorhalten, regelmäßig die Sicherheit des Rückhaltesystems prüfen und vor jeder Fahrt eine Kontrolle der Bügel durchführen lassen. Kümmert sich Robert um diese Dinge nicht, dann trifft ihn im Falle eines Unfalls nicht nur die zivilrechtliche Haftung für die Gesundheitsschäden von Passagieren, sondern gegen ihn wird auch ein Strafverfahren wegen Körperverletzung durch Unterlassen eingeleitet.

Kapitel 9

Der objektive Tatbestand der Unterlassungsdelikte IN DIESEM KAPITEL Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen Die »Ursächlichkeit« eines Unterlassens für einen tatbestandsmäßigen Erfolg Die physisch-reale Möglichkeit zu einer Rettungshandlung Die Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen

Aus der Tatsache, dass bei der Unterlassung ein »Nichtstun« der Anknüpfungspunkt der strafrechtlichen Zurechnung ist, ergeben sich Abweichungen zur Prüfung des objektiven Tatbestandes, die Thema in Kapitel 6 und 7 ist. Die weichenstellende Eingangsprüfung ist zunächst, ob es sich um ein Tun oder ein Unterlassen handelt.

Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen Bevor Sie in die Prüfung eines Unterlassungsdelikts einsteigen, müssen Sie klären, ob Sie der Person ein Tun oder ein Unterlassen zum Vorwurf machen können. Gehen Sie dabei besonders sorgfältig vor, denn die Bestimmung der Verhaltensart hat weitreichende Konsequenzen:

Sie erinnern sich bestimmt: Wegen eines Unterlassungsdelikts kann nur derjenige bestraft werden, der rechtlich dafür einzustehen hat, das heißt Garant dafür ist, dass der Erfolg nicht eintritt. Es kann also nicht jede Person dafür verantwortlich gemacht werden, dass durch ihr Nichtstun zum Beispiel ein anderer Mensch zu Tode gekommen ist. Zudem ist die Bestrafung für die Nichtabwendung eines Erfolges gemäß § 13 II StGB unter Umständen milder als die Bestrafung für die aktive Herbeiführung eines Erfolges. Annerose ist als Tochter Garantin für das Leben ihrer Mutter. Wenn sie ihrer Mutter nichts mehr zu trinken gibt, dann trifft sie die strafrechtliche Verantwortlichkeit für den Tod ihrer Mutter durch Verdursten. Die Reinigungsfrau Gisela, die einmal in der Woche im Haushalt von Annerose ist, steht nicht in einer hinreichend engen Beziehung und hat deswegen keine Garantenstellung für das Leben der Mutter. Selbst wenn Gisela den Eindruck hat, dass Annerose ihre Mutter verdursten lässt und nichts unternimmt, kommt nur eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung in Betracht. Annerose hatte sich als Alternative zum Verdurstenlassen ihrer Mutter vorgestellt, dass sie diese mit dem Kopfkissen ersticken könnte. Hier ist die Frage nach der Abgrenzung von Tun und Unterlassen leicht zu beantworten: Wer ein Geschehen unter Energieeinsatz anstößt, tut etwas, um den Erfolg zu erreichen; wer den Dingen ihren Lauf lässt und nicht in das Geschehen eingreift, unterlässt es, den Erfolg abzuwenden. Wenn Annerose ihre Mutter nicht mehr zum Trinken animiert und ihr beim Trinken hilft, dann setzt der Prozess der schließlich tödlichen Austrocknung des Körpers ein und wird von Annerose nicht aufgehalten; wenn Annerose die Atemwege ihrer Mutter mit

einem Kissen zudrückt, dann führt sie den Erstickungstod aktiv herbei. Wenn sich Gisela entschließen würde, die Familientragödie zu beenden, indem sie Anneroses Mutter mit dem Kissen erstickt, wäre sie – so wie jeder Mensch – für die Tötung der Mutter strafrechtlich verantwortlich. Für die Tötung durch Verdurstenlassen ist jedoch nur Annerose als Beschützergarantin ihrer Mutter strafrechtlich verantwortlich. Solche Fallkonstellationen sind klar und eindeutig zu lösen. Ein Problem der Unterscheidung von Tun und Unterlassen liegt aber manchmal darin, dass man es mit mehrdeutigen Geschehensabläufen zu tun hat. Grundregel ist, dass ein Tun dann vorliegt, wenn eine Handlung das Geschehen beeinflusst, ein Unterlassen dagegen dann, wenn eine objektive gebotene Handlung zur Erfolgsabwendung nicht vorgenommen wurde. Das hört sich gut und überschaubar an, führt aber nicht immer zu klaren Ergebnissen. (nach BGH JR 2004, 33) Der Herzchirurg Dr. Meier leidet unter der hoch ansteckenden, gefährlichen Krankheit Hepatitis B und steckt damit bei Herzoperationen zwölf seiner Patienten an. Es stellt sich heraus, dass er sich keinen Kontrolluntersuchungen unterzogen hat. Die Übertragung der Krankheit erfolgte bei der Durchführung der Operationen. Natürlich steckt in diesem Geschehen ein Aspekt von Unterlassen – Dr. Meier hat keine Vorsorge getroffen, um zu verhindern, dass er Patienten ansteckt. Andererseits erfolgte die Infektion erst durch seine Aktivität – Dr. Meier hat in ansteckendem Zustand operiert und dadurch die Krankheit übertragen.

Chefarzt Dr. Schmidt sieht keine Überlebenschancen mehr für den Komapatienten Baum und schaltet das Beatmungsgerät ab. Nach kurzer Zeit verstirbt Baum, weil seine eigene Atmungsfunktion nicht mehr autonom funktioniert. Stellt man naturalistisch alleine auf das Kriterium des Energieeinsatzes ab, dann ist davon auszugehen, dass Dr. Schmidt wohl irgendeinen Knopf gedrückt hat – Sie müssten den Fall also so bewerten, dass Dr. Schmidt seinen Patienten Baum aktiv getötet hat. Wie Sie intuitiv erkennen können, ist diese Situation aber anders einzuordnen, als wenn Dr. Schmidt mit einer kleinen Fingerbewegung den Abzug einer Pistole betätigt hätte. Viele bewerten deswegen ein solches Verhalten als Unterlassen weiterer Rettungsbemühungen und haben zur systematischen Einordnung den Begriff des Unterlassens durch Tun erfunden. Ein Fall wird nicht nach naturwissenschaftlichen Begriffen und Maßstäben bewertet, sondern es geht im Recht sehr häufig um Wertungsfragen. Bei mehrdeutigen Geschehensabläufen analysiert man daher das Geschehen und die Verhaltensweisen der Beteiligten und fragt dann nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit. Sie können sich das an der Art des Vorwurfs klarmachen: Unterlassen: Warum hast du nichts getan? Tun: Warum hast du das getan? Am Beispiel von Rettungsmaßnahmen werden die beiden Arten von Vorwürfen noch deutlicher: Vorwurf des Unterlassens: wer einem Unglücksfall einfach zusieht, ohne dem Opfer eine Rettungsmöglichkeit zu eröffnen

Vorwurf des aktiven Tuns: wer bereits aufgenommene Rettungsbemühungen wieder aufgibt

Variante A: Die Feuerwehr wird zu einem Hochhaus gerufen, auf dessen Dach der selbstmordgefährdete Kurt absprungbereit steht. Hauptbrandmeister Grewe ordnet an, zunächst abzuwarten und verharrt mit seiner Mannschaft tatenlos am Fuß des Hochhauses. Wenige Minuten später springt Kurt und überlebt den Aufprall nur durch großes Glück. Hier liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit darin, dass es Grewe unterlassen hat, Vorkehrungen für die Rettung von Kurt zu treffen. Nun Variante B: Hauptbrandmeister Grewe lässt sogleich ein Sprungkissen aufblasen und beginnt ein Gespräch mit Kurt. Als ihm das Gespräch und der ganze Einsatz zu lange dauern, entschließt sich Grewe, die Rettungsmaßnahme wieder zu beenden. Kaum ist das Sprungkissen abgebaut, springt Kurt. Hier liegt der Vorwurf darin begründet, dass Grewe Erfolg versprechende Rettungsbemühungen aktiv wieder abgebrochen hat.

Die »Ursächlichkeit« des Unterlassens Ein seit dem Altertum philosophisch diskutiertes Problem ist die Frage, ob ein Unterlassen überhaupt etwas bewirken kann. Streng betrachtet folgt aus Nichtstun nichts. Wer untätig ist, kann nichts bewirken, keinen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang anstoßen, steuern oder stoppen. Die Dinge nehmen ihren Lauf,

der Unterlassungstäter steht daneben. Dem Täter wird vorgeworfen, dass er nichts unternommen hat, um einen Erfolg abzuwenden. Nun ist es aber ja gerade der Kern der Unterlassungsdelikte, dass die strafrechtliche Verantwortung unter der Prämisse zugerechnet wird, dass die Dinge anders gelaufen wären, wenn man seiner Pflicht gemäß eingegriffen hätte. Es ist klar, dass man sich mit dieser Zurechnung in gewisser Weise im Hypothetischen bewegt. Mark bricht beim Eislaufen auf einem See ein und droht zu ertrinken. Sein Bruder Paul betrachtet das mit teuflischer Freude vom Ufer und bleibt untätig. Erst als Mark nicht mehr auftaucht, bekommt Paul Gewissensbisse und ruft mit seinem Smartphone die Polizei. Die Rettungskräfte treffen nach circa zehn Minuten ein. Nach der Bergung von Mark gelingt dem Notarzt die Wiederbelebung nicht. Die Verknüpfung von Unterlassen und Erfolg wird pragmatisch unter dem Stichwort der Quasi-Kausalität vorgenommen. Die Ihnen schon bekannte Conditio-sine-qua-non-Formel (Kapitel 6) wird »gespiegelt« angewendet. Quasi-Kausalität liegt vor, wenn die objektive gebotene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der tatbestandliche Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele. Wenn Mark auf dem Eis einbricht, dann saugt sich seine Kleidung mit Wasser voll, die niedrige Temperatur des Wassers wirkt auf das Herz-Kreislauf-System, der psychische Stress der Situation hat wiederum physische Folgen und so weiter. Bricht jemand auf dem Eis ein, dann kommt ein sehr komplexer Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen in Gang, dessen Verlauf sich schwer prognostizieren lässt. Ein möglicher Endpunkt eines solchen Verlaufs ist, dass sich die Person nicht mehr über Wasser

halten kann und ertrinkt. Dieser Endpunkt kann früher oder später eintreten. Der Vorwurf, der hier gegen Paul erhoben wird, ist, dass er nicht sofort etwas zur Rettung seines Bruders unternommen hat. Paul hat Mark einfach tatenlos ertrinken lassen. Nach der Zurechnungsregel muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass Mark noch leben würde, wenn Paul sofort etwas zu seiner Rettung unternommen hätte. Es gibt sehr viele Konstellationen, in denen einem ein solcher Zusammenhang unmittelbar einleuchtet – etwa wenn ein Vater aus dem brennenden Haus zunächst die Katze rettet und dann erst nach seiner Tochter schaut, die bereits eine Rauchgasvergiftung hat. In vielen Konstellationen bestätigen auch gerichtsmedizinische oder technische Gutachten, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass eine bestehende Rettungschance vergeben wurde. Die Zurechnung des Unterlassens bewegt sich allerdings immer auf dem Feld der hypothetischen Kausalität. Umso wichtiger ist es, dass Sie Zweifel an der Zurechnung nach dem Grundsatz »Im Zweifel für den Angeklagten« (Kapitel 3) berücksichtigen.

Die physisch-reale Möglichkeit zu einer Rettungshandlung An dieser Stelle möchte ich Sie einmal wieder mit einem alten Grundsatz des römischen Rechts bekannt machen: ultra posse nemo obligatur. Unmögliches zu leisten, ist niemand verpflichtet. Für unser Anwendungsfeld bedeutet dies, dass das Recht niemanden unter Strafdrohung dazu verpflichten kann, ihm unmögliche Rettungshandlungen vorzunehmen. Sie müssen daher beim Unterlassungsdelikt immer prüfen, ob es dem Täter physisch-real möglich war, die gebotene Handlung zu leisten. Wenn es dem Nichthandelnden an einer Fähigkeit oder

Möglichkeit mangelt, die zur Rettung nötig gewesen wäre, dann scheidet eine Zurechnung wegen mangelnder objektiver Möglichkeit der Rettungshandlung aus. Mark wird von seiner 76-jährigen Oma Käthe zum Schlittschuhlaufen begleitet. Käthe kann nur mit dem Rollator laufen und besitzt kein Mobiltelefon. Sie kann weder auf das Eis zur Einbruchstelle laufen noch telefonisch Rettungskräfte alarmieren. Käthe fehlt es also physisch-real an einer Möglichkeit, ihren Enkel Mark zu retten. Überschneidungen können sich zwischen diesem Zurechnungskriterium und dem weiteren Zurechnungskriterium der Zumutbarkeit der Handlung ergeben. Dieses Kriterium wird in manchen Lehrbüchern unter dem Gesichtspunkt der Rechtswidrigkeit des Unterlassens oder gar erst in der Schuld geprüft. Die überwiegende und richtige Auffassung ist aber, dass die Zumutbarkeit als ein Tatbestandsmerkmal des Unterlassungsdelikts anzusehen ist. Das Ultra-posse-Prinzip bestimmt auch hier die tatbestandliche Ebene der Handlungspflicht. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für eine unterlassene Rettungshandlung entfällt dann, wenn die objektive mögliche Handlung unzumutbar ist. Unzumutbar ist eine Rettungshandlung dann, wenn durch sie eigene anerkennenswerte Interessen in einem ganz erheblichen Umfang beeinträchtigt würden. Es ist gegeneinander abzuwägen, was dem zu rettenden Menschen droht und mit welchen Risiken die Rettung für den Retter verbunden ist. Niemand ist zur grenzenlosen Selbstaufopferung verpflichtet, um einen anderen Menschen zu retten.

Die zierliche Tonia ist mit ihrem hünenhaften Mann Klaus mit einem Ruderboot unterwegs, als über dem See ein schweres Unwetter aufzieht. Durch den heftigen Wellengang fällt Klaus aus dem Boot. Tonia geht zutreffend davon aus, dass das Boot kentern oder sie ebenfalls über Bord gehen könnte, wenn sie die Hilfe suchende Hand ihres Manns ergreift, um ihn wieder ins Boot zu ziehen. Sie bangt um das Leben ihres Mannes, hält es aber für unzumutbar, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Wer wollte unter diesen Umständen, wenn Klaus ertrinken sollte, Tonia wegen Totschlags durch Unterlassen (§§ 212, 13 StGB) anklagen?

Die Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen Die Regelung des § 13 I StGB verlangt, dass »das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht«. Dieser Entsprechungsklausel kommt keine allzu große Bedeutung zu, sie darf aber in Ihrer Fallbearbeitung nicht fehlen. Wenn der gesetzliche Tatbestand einen bestimmten Erfolg beschreibt, dann ist es gleich, ob dieser Erfolg aktiv bewirkt wird oder durch das Untätigbleiben eines Garanten eintritt. Wenn Karin ihr neugeborenes Kind nicht annehmen und töten will, dann kann sie den Tod des Säuglings dadurch bewirken, dass sie das Kind nach der Geburt erstickt oder dass sie es unversorgt ablegt und den Tod abwartet. Die Meinungen werden möglicherweise darüber auseinandergehen, welche die rohere Handlungsweise ist. Als Totschlag würde man beide Fälle werten, da der Erfolg, dass ein

Mensch getötet wird, hier wie dort eintritt. Ob die unterschiedliche Vorgehensweise für das Kind unterschiedliche Todesqualen bedeutet und ob dies Rückschlüsse auf die Gesinnung der Täterin zulässt, wird über die Strafzumessung beurteilt. Wenn Klaus den Badeunfall seiner Frau Karin spontan nutzt, um sie ertrinken zu lassen, dann ist das Unrecht dieser Tat gewiss anders zu bewerten, als wenn er sie heimtückisch ins tiefe Wasser lockt und dort in brutaler Vorgehensweise ertränkt. Es ist aber zunächst einmal in beiden Fällen ein auf die Tötung von Karin gerichtetes Verhalten. Auch hier können die aufgewandte kriminelle Energie und das heimtückische Vorgehen durch die Einordnung als Mord oder Totschlag und die Strafzumessung Berücksichtigung finden. Ausnahmsweise kann die Formulierung eines Tatbestandes nahelegen, dass dieser nur durch aktives Tun und nicht durch Untätigbleiben verwirklicht werden kann. Der Betrugstatbestand spricht zum Beispiel davon, dass für die Tat durch die »Vorspiegelung falscher Tatsachen … ein Irrtum erregt« werden muss (§ 263 StGB). In Konstellationen, in denen das Opfer einem Garanten gegenübersteht, ist es freilich denkbar, dass sich eine Nichtaufklärung wie eine Vorspiegelung von Tatsachen auswirkt. Paul will seinem ungeliebten Bruder Mark sein Auto verkaufen. Die Folgen eines schweren Unfalls hat Paul in einer Werkstatt nur kosmetisch beseitigen lassen. Dass Paul ihm einen Unfallwagen verkaufen könnte, kommt Mark gar nicht in den Sinn. Folglich fragt er nicht danach und Paul sagt sowieso nichts dazu. Wenn Sie die Handlungspflicht des Garanten als Pflicht, Schaden abzuwenden, begreifen, dann könnten Sie es hier als Pauls konkrete Pflicht ansehen, Mark durch Aufklärung vom Kauf seines Schrottautos abzuhalten.

Ob sich so der Tatbestand des Betruges durch Unterlassen in einer gleichartigen Weise zum üblichen Betrugstatbestand konstruieren lässt, ist umstritten.

Kapitel 10

Der subjektive Tatbestand strafbaren Verhaltens – Vorsatz IN DIESEM KAPITEL Die beiden Elemente des Vorsatzes: Wissen und Wollen Die verschiedenen Vorsatzgrade Die besondere Bedeutung des Eventualvorsatzes Absicht als weiteres subjektives Unrechtsmerkmal

Es leuchtet Ihnen bestimmt sofort ein, dass es einen Unterschied für die strafrechtliche Bewertung und Reaktion macht, ob ich einen Menschen bewusst verletze oder ob mir die Verletzung eines Menschen durch Unachtsamkeit unterläuft. Anton sieht in einiger Entfernung, dass sein Feind Bert gerade die Straße überquert. Anton gibt Gas, um Bert anzufahren. Bert überlebt schwer verletzt. Paul fährt mit knapp 40 km/h durch ein Wohngebiet. Plötzlich kullert ein Ball auf die Straße. Wenige Augenblicke später springt der fünfjährige Max hinterher. Paul kann nicht mehr rechtzeitig bremsen und fährt Max an. Max überlebt schwer verletzt. Die Folgen können in beiden Fällen gleich sein. Bert und Max könnten durch komplizierte Brüche lebenslang gehbehindert bleiben. Gleichwohl würden wir in dem zweiten Fall gegen Paul niemals einen auch nur annähernd so schweren Vorwurf wie

gegen Anton im ersten Fall erheben. Der schwere Vorwurf gegen Anton ist berechtigt, weil er sich dafür entschieden hat, Bert zu verletzen, und entsprechend dieser Entscheidung gehandelt hat: Er will Bert verletzen und gibt deswegen Gas, um ihn anzufahren. Paul hingegen wird über den Lauf der Dinge – er hat ein Kind angefahren, ohne dies zu wollen – wahrscheinlich selber schwer erschüttert sein. Wir befinden uns in der Sprache des Rechts damit bei der Unterscheidung von Vorsatz und Fahrlässigkeit. In diesem Kapitel erfahren Sie zunächst die wesentlichen Definitionsmerkmale des Vorsatzes und die Unterscheidung verschiedener Grade des Vorsatzes. Sodann werden Sie sehen, warum der näheren Bestimmung des Eventualvorsatzes eine so enorme praktische Bedeutung zukommt. Schließlich stelle ich Ihnen noch die Absicht als ein weiteres wichtiges subjektives Unrechtsmerkmal vor.

Die beiden Elemente des Vorsatzes: Wissen und Wollen Viele Delikte des StGB können vorsätzlich und fahrlässig begangen werden, so etwa die Tötung eines Menschen (§ 212/§ 222 StGB), die Körperverletzung (§ 223/§ 229 StGB) oder die Brandstiftung (§ 306/§ 306 d StGB). Andere Delikte dagegen sind nur in ihrer vorsätzlichen Begehung strafbar, nicht strafbar sind etwa die fahrlässige Beleidigung, der fahrlässige Diebstahl oder die fahrlässige Sachbeschädigung. Bei den Delikten, deren Begehung vorsätzlich wie fahrlässig strafbar ist, ist die Strafdrohung für die Fahrlässigkeitstat deutlich geringer als für die Vorsatztat. Vergleichen Sie einmal den Strafrahmen für Totschlag in § 212 I StGB – »Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren

bestraft.« – mit § 222 StGB (Fahrlässige Tötung) »Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.« Die Frage, ob eine Tat mit Vorsatz begangen wurde, entscheidet in manchen Fällen über die Strafbarkeit schlechthin, in anderen Fällen ist diese Frage von entscheidender Bedeutung für die Höhe der Strafe, die der Täter zu erwarten hat.

Das Verhältnis von Wissen und Wollen Der Bundesgerichtshof in Strafsachen (BGHSt 19, 295 (298)) hat den Vorsatz in einer Leitentscheidung wie folgt definiert: »Vorsatz ist der bei der Begehung der Tat vorliegende Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis all seiner Tatumstände; oder anders ausgedrückt: Vorsatz ist Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung.« Schauen Sie sich einmal das nächste Beispiel an. Dafür müssen Sie (vereinfacht) Folgendes über den Tatbestand des Diebstahls wissen: Strafbar macht sich wegen Diebstahls, wer eine fremde bewegliche Sache wegnimmt, um die Sache für sich oder für einen Dritten zu behalten. Nach einer durchtanzten Nacht in der Disco greift sich Peter eine Sonnenbrille vom Tresen, die er für seine hält. Tatsächlich handelt es sich um die Sonnenbrille von Fred.

Wissen − die sogenannte kognitive Komponente des Vorsatzes – setzt voraus, dass ich erkenne und in seinem Bedeutungsgehalt erfasse, was ich da eigentlich tue. Peter müsste also erkennen, dass es sich um eine fremde Sonnenbrille handelt. Er weiß aber nicht, dass er gerade Freds Sonnenbrille weggenommen hat. Nur wenn Peter im Bewusstsein handelt, dass er gerade eine fremde bewegliche Sache wegnimmt, stellt sich die Frage nach dem Wollen – der sogenannten voluntativen Komponente des Vorsatzes. Allgemein: Nur wenn ich erkenne, dass mein Handeln auf die Verwirklichung eines Straftatbestandes gerichtet ist, kann ich mich für oder gegen die Verwirklichung der Tat entscheiden. Erinnern Sie sich an unsere Beispiele zu Abweichungen des wirklichen vom vorgestellten Kausalverlauf zurück (Kapitel 6): Wenn ich nicht weiß, dass ich mein Gewehr auf einen Mensch anlege und dass mein Schuss einen Mensch töten wird, sondern glaube, auf ein Wildschwein zu schießen, dann kann ich mich nicht für die Tötung eines Menschen entscheiden. Für diese Fälle – Unkenntnis/Nichtwissen eines Tatumstandes – bestimmt § 16 StGB den Vorsatzausschluss. Zu prüfen bleibt dann allerdings noch eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung, also die Frage, ob ich meine Sorgfaltspflichten als Jäger bei der Jagd verletzt und dadurch den Tod eines Menschen verursacht habe (dazu gleich Kapitel 11).

Vorsatz bei der Tat Der Vorsatz, eine Straftat zu verwirklichen, muss nach dem sogenannten Koinzidenzprinzip zeitgleich zur Tatbegehung vorliegen. Dieser Zeitpunkt wird durch § 8 StGB als der Zeitpunkt der Handlung bestimmt. Der Täter muss also bei der Handlung das Bewusstsein haben, einen Straftatbestand zu verwirklichen, und sich dafür entschieden haben, dies zu tun. Die Bedeutung

dieses Prinzips erkennen Sie am besten an denjenigen Fällen, die durch dieses Prinzip aus der strafrechtlichen Zurechnung ausgeschlossen werden: Anton hat einmal vor Wochen gesagt, dass er seinen Feind Bert erschießen will. Nun ereignet sich unser Jagdunfall genau zwischen den beiden Feinden. Als Anton zum Gebüsch geht, um nach dem Wildschwein zu sehen, findet er dort den erschossenen Bert. Anton merkt bei der Vernehmung sarkastisch an: »Na, jetzt habe ich das Schwein also doch erschossen.« Seine Aussage, er habe nach seiner Vorstellung auf ein Wildschwein geschossen, lässt sich aber nicht widerlegen. Man spricht in diesen Fällen vom vorangehenden Vorsatz (dolus antecedens). Wenn eine Person irgendwann einmal vor dem Tatgeschehen den Vorsatz geäußert hat, eine bestimmte Tat zu begehen, sagt dies noch nichts darüber aus, dass sie zum Handlungszeitpunkt immer noch diesen Vorsatz hatte. Es muss der Beweis geführt werden, dass genau diese Handlung von diesem Vorsatz zeitgleich begleitet war (Koinzidenz). Deswegen reicht auch nicht der nachfolgende Vorsatz (dolus subsequens) für die strafrechtliche Zurechnung aus: Nach dem Jagdunfall sagt Anton mit offener Freude, dass er Bert schon seit Langem den Tod gewünscht habe und überglücklich darüber sei, dass ihm nun der Zufall geholfen habe. Es genügt also weder der früher einmal, aber nicht mehr bei der Tat vorhandene Tötungswille (dolus antecedens) noch die nachträgliche Billigung des (möglicherweise fahrlässig herbeigeführten) Todes von Bert (dolus subsequens) aus, um die Handlung in eine Vorsatztat zu verwandeln.

Die Grade des Vorsatzes Liegt ein koinzidenter Vorsatz vor, so lautet die nächste Frage, von welchem Grad des Vorsatzes wir sprechen können. Sie kennen bestimmt von »guten Vorsätzen«, wie weit die Dinge auseinanderliegen können: Der Vorsatz, das Gewicht zu reduzieren, kann zu einem genauen Plan und strengster Disziplin führen; es kann aber auch dabei bleiben, dass Sie sich eine unscharfe Vorstellung zurechtlegen, dass Sie zu viel Süßes essen und da mal ein bisschen vorsichtiger sein wollen. Nicht anders verhält es sich bei der Begehung von Straftaten: Wenn Anton Bert töten will, kann er eine Autobombe bauen und genau unter dem Fahrersitz platzieren; Anton kann aber auch die Radmuttern an Berts Auto lösen und hoffen, dass dies irgendwie zu einem tödlichen Unfall führen könnte. Grundsätzlich unterscheidet man im Strafrecht drei Vorsatzgrade: Dolus directus 1. Grades (Absicht): Dem Täter kommt es gerade darauf an, dass der Erfolg eines Straftatbestandes eintritt. Dolus directus 2. Grades (sicheres Wissen): Der Täter weiß oder sieht es als sicher voraus, dass sein Handeln zur Verwirklichung des Tatbestandes führen wird. Dolus eventualis (Eventualvorsatz): Ein Täter hält es ernstlich für möglich, dass sein Handeln zu einer Tatbestandsverwirklichung führen wird und nimmt diese (billigend) in Kauf. In vielen Fällen ist die genaue Bestimmung der Vorsatzart von geringer Bedeutung, da bei den meisten Vorsatzdelikten die schwächste Vorsatzform – der dolus eventualis – als ausreichend für die Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit angesehen wird.

Der dolus directus 1. Grades – Absicht In einigen Tatbeständen wird dagegen ausdrücklich verlangt, dass es dem Täter auf einen bestimmten Erfolg ankommt und eine Absicht vorliegt: Von einem besonders schweren Fall der Körperverletzung spricht das Gesetz in § 226 II StGB dann, wenn der Täter zum Beispiel beabsichtigt, dass das Opfer sein Augenlicht verliert oder erheblich entstellt wird. Eine Strafbarkeit setzt hier voraus, dass es dem Täter gerade darauf ankommt, genau diese Folgen herbeizuführen. Nach vielen Jahren einer Beziehung mit dem gewalttätigen und rasend eifersüchtigen Peter hat sich Sabine getrennt. Peter sinnt auf Rache. Sabine soll ihr »schönes Gesicht« verlieren. Er lauert Sabine abends vor ihrer neuen Wohnung auf und schüttet ihr 96-prozentige Schwefelsäure ins Gesicht. Er beabsichtigt, dass das Gesicht durch die Verätzungen auf Dauer entstellt wird. Absicht ist ein zielgerichteter Erfolgswille: Dem Täter muss es genau auf diesen einen Erfolg ankommen, dessen Herbeiführung das Gesetz mit Strafe bedroht.

Der dolus directus 2. Grades – sicheres Wissen Beim dolus directus 2. Grades dominiert das Wissen des Täters − die kognitive Seite des Vorsatzes. Direkter Vorsatz 2. Grades ist gegeben, wenn der Täter einen bestimmten Erfolg seines Handelns als »sicher« voraussieht und trotzdem den Willen fasst, diese Handlung zu vollziehen.

Anton hat sich ein Präzisionsgewehr mit Zielfernrohr gekauft und liegt mit dem Gewehr im Anschlag auf einem Dach gegenüber von Berts Wohnung. Er hat Bert hinter dem Fenster im Visier. Anton muss jetzt nur noch abdrücken, um Bert zu töten. Wenn Anton jetzt abdrückt, dann kann er als die notwendige und sichere Folge seines Handelns voraussehen, dass Bert (höchstwahrscheinlich tödlich) getroffen wird. Beim dolus directus 2. Grades handelt der Täter im vollständigen Bewusstsein, dass sein Verhalten den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen wird, und in seinem Handeln kommt ein »Ja, das ist es« zum Ausdruck. Eine solche Qualität des Vorsatzes ist überall dort verlangt, wo im StGB von »Wissentlichkeit« oder »wider besseres Wissen« die Rede ist. So macht sich wegen Verleumdung (§ 187 StGB) nur derjenige strafbar, der definitiv weiß, dass er ehrabschneidende Unwahrheiten über einen anderen Menschen verbreitet, wegen Ausstellen eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses (§ 278) nur derjenige Arzt strafbar, der definitiv weiß, dass er einen Gesunden krankschreibt.

Bedingter Vorsatz (dolus eventualis) oder bewusste Fahrlässigkeit (luxuria) Eine der wichtigsten Fragen der Vorsatzdogmatik lautet, wo die untere Grenze des Vorsatzes liegt und wo die Fahrlässigkeit beginnt. Es ist ein erheblicher Unterschied, ob jemand, dessen Handlung den Tod eines Menschen verursacht hat, wegen

Totschlags (§ 212 StGB) oder fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) beziehungsweise Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) bestraft wird. Äußerst bedeutend ist diese Unterscheidung auch für Taten, die nur zu einer Körperverletzung führen, bei denen aber nach dem Tatverlauf in Betracht kommt, dass ein versuchter Totschlag vorgelegen haben könnte. Das Problem der Abgrenzung des dolus eventualis von der bewussten Fahrlässigkeit kann gut an der ersten Entscheidung des BGH (4 StR 311/17) zum sogenannten Berliner-Raser-Fall dargestellt werden: Anton und Bert trafen nachts in der Berliner Innenstadt an einer roten Ampel aufeinander. Sie kannten sich bereits von früheren Zusammenkünften in der Raserszene und wussten voneinander, dass beide bereits an illegalen Rennen teilgenommen hatten. Aufgrund der Ausstattung ihrer Fahrzeuge (Mercedes/Audi) fühlten sie sich auch sicher und überlegen. Spontan verständigten sie sich auf ein Wettrennen durch die Berliner Innenstadt, unter anderem auch über den Kurfürstendamm und die Tauentzienstraße, die zu diesem Zeitpunkt mit Nachtschwärmern sowie Taxen, Bussen und sonstigen Verkehrsteilnehmern noch recht gut besucht waren. Über eine längere Strecke hinweg überfuhren sie mehrfach rote Ampeln. Mit einem leichten Vorsprung näherte sich nun Bert, auf dessen Beifahrersitz Karin saß, bei Rot dem Kreuzungsbereich Tauentzienstraße/Nürnberger Straße. Anton fuhr mit leichtem Vorsprung bei Rot in den Kreuzungsbereich ein, wobei er aufgrund des vollständig durchgetretenen Gaspedals zwischenzeitlich eine Geschwindigkeit von mindestens 160 bis 170 km/h erreicht hatte. Aufgrund der baulichen Gegebenheiten war eine Einsichtnahme nach rechts in die Nürnberger Straße nicht möglich. Zur gleichen Zeit fuhr aufgrund der auf Grün stehenden Ampel das vorfahrtsberechtigte Opfer in die Kreuzung ein und kollidierte mit Anton, der aufgrund der Gegebenheiten nicht mehr in der Lage war zu reagieren. Das Fahrzeug von Anton drehte sich durch den

Zusammenstoß nach links und kollidierte mit dem Fahrzeug von Bert. Bert und Anton, der nicht angeschnallt war, hatten nur leichte oberflächliche Verletzungen. Die Beifahrerin Karin trug mehrere Verletzungen davon. Das Opfer verstarb aufgrund seiner schweren Verletzungen noch am Unfallort. Der BGH führt in diesem Fall zum Vorsatz Folgendes aus: »Dass der Angeklagte andere Unfallkonstellationen unter Beteiligung mehrerer Fahrzeuge beziehungsweise über den Primäraufprall hinausgehende weitere Unfallfolgen für sich oder Dritte für möglich hielt und in Kauf nahm, hat das Landgericht nicht belegt. Es hat ohne weitere Begründung lediglich behauptet, dem Angeklagten sei den Umständen nach klar gewesen, dass die von ihm geschaffenen Gefahren nicht auf die Insassen eines von rechts in die Kreuzung einfahrenden Fahrzeugs beschränkt gewesen seien. Zwar liegen, wie das Landgericht ausgeführt hat, angesichts der enormen Geschwindigkeiten und der Unüberschaubarkeit der Situation weiterreichende Unfallfolgen nahe. Das Landgericht hat aber in anderem Zusammenhang ausdrücklich festgestellt, dass der Angeklagte H (Anton) das über den Primäraufprall hinausgehende Unfallgeschehen – konkret das Auftreffen des vom Angeklagten N (Bert) gesteuerten Fahrzeugs auf der Graniteinfassung des Hochbeets, wodurch das Fahrzeug mehrere Meter durch die Luft katapultiert wurde – nicht erwartet hatte. Vor diesem Hintergrund erschließt sich nicht, dass der Angeklagte H. eine unkontrollierte Ausdehnung des Unfallgeschehens und damit auch eine über die Tötung des unmittelbaren Unfallgegners hinausgehende Gefährdung Dritter erkannte und billigte.« Das LG Berlin hatte für die beiden Raser im Februar 2017 einen bedingten Tötungsvorsatz festgestellt und sie wegen Mordes

verurteilt. Der BGH hob – wie gerade gezeigt – das Urteil wieder auf: Aus seiner Sicht war ein Tötungsvorsatz nicht ausreichend bewiesen. Der Fall wurde zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen. Im März 2019 verurteilte das LG Berlin die beiden Angeklagten erneut wegen Mordes. Wieder gingen die jungen Männer in Revision, der Fall landete erneut in Karlsruhe. In seiner zweiten Entscheidung (4 StR 482/19) am 18. Juni 2020 hat der BGH dagegen auf Grundlage einer eingehenden Würdigung des Falles und der damit verbundenen Rechtsfragen die Feststellung eines bedingten Tötungsvorsatzes und damit die Verurteilung wegen Mordes als rechtsfehlerfrei angesehen. Kommt bei einem illegalen Autorennen ein unbeteiligter Dritter zu Tode, kann sich der am Rennen beteiligte, der die Kollision verursacht hat, des Mordes wegen Heimtücke und niedriger Beweggründe strafbar machen. Der Tötungsvorsatz speist sich dabei aus der Erkenntnis des Täters, das Rennen nur bei maximaler Risikosteigerung auch für Dritte unter Zurückstellung aller Bedenken gewinnen zu können. Dabei schließt die hohe Eigengefährdung des Täters einen bedingten Tötungsvorsatz nicht aus, da dieser abgestuft sein kann: So kann der Täter darauf vertrauen, dass ihm selbst nichts passieren werde und die Tötung anderer gleichwohl billigend in Kauf nehmen. Wie Sie sich in einer Klausur entscheiden, ist letztlich eine Frage Ihrer begründeten Rechtsauffassung. Die richtige Lösung gibt es nicht. Wichtig ist nur, dass Sie sich unter Berücksichtigung der allgemeinen Lebenserfahrung mit allen im Sachverhalt genannten Aspekten auseinandersetzen und sauber begründen, warum Sie den Vorsatz bejahen oder verneinen. Ein weiterer Fall zu der geringen Trennschärfe von Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit. Bedenken Sie immer, dass daraus ein gewaltiger Sprung in der zu erwartenden Strafe folgt!

(nach BGH NStZ 2000, 583) Anton hat eine bizarre Leidenschaft: Er sucht zuweilen seine Bekannte Samira auf, die ihn mit einem Kanister Benzin überschütten, die Worte »Was meinst du, was passiert, wenn ich dich anzünde?« sprechen und mit dem Zündmechanismus eines Feuerzeuges spielen soll. Eines Tages ist das Gemisch aus Raumluft und Benzindämpfen so entzündlich, dass es trotz der Einhaltung eines Sicherheitsabstandes durch Samira zu einer folgenschweren Verpuffung kommt. Anton ist tot, Samira wird selber schwer verletzt. In dem Verfahren ist Samira von einem psychiatrischen Sachverständigen befragt worden, dem sie Folgendes erklärte: Sie sei sich der Gefahr, einen Brand zu verursachen, durchaus bewusst gewesen. Sie habe Anton nicht töten wollen; sie sei vielmehr seinem Ansinnen aus Naivität und Leichtgläubigkeit nachgekommen. Sie sei froh gewesen, als bei den ersten Zündungen nichts passiert sei, und habe angenommen, dass die Gefahr eines Feuers immer geringer werde. Was kann die richtige Entscheidung in solch einem Fall sein? Jedenfalls dürfen Sie sich nicht durch Unverständnis gegenüber dem Verhalten von Samira oder Mitleid für die Folgen, die sie selbst erlitten hat, leiten lassen. Sie sollten versuchen, den Fall nüchtern an den Kriterien des Vorsatzes zu messen. Klar ist, dass Samira nicht die Absicht hatte, Anton durch Verbrennen zu töten. Sie hatte auch nicht das sichere Wissen, dass ihr Verhalten unweigerlich zum Tod von Anton führen würde. Ihr war der Tod von Anton auch unerwünscht, denn sie war »froh, als bei den ersten Zündungen nichts passiert« ist. Kann unter diesen Umständen davon die Rede sein, dass Samira trotzdem mit dem Eventualvorsatz, Anton zu töten, gehandelt hat?

Das hätte die Konsequenz, dass sie strafbar wegen Totschlags an Anton ist. Oder hat sie sich in der Situation mit Anton unter Vernachlässigung der gebotenen Sorgfalt verhalten – mit der Konsequenz, dass sie sich wegen fahrlässiger Tötung von Anton strafbar gemacht hat? Das erstinstanzliche Landgericht hat die letztere Lösung gewählt und dazu ausgeführt: »Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Angeklagte dem Opfer lediglich zu dessen sexueller Befriedigung einen Gefallen tun wollte. Daher hat sich nicht feststellen lassen, dass die Angeklagte den Tod oder auch eine körperliche Verletzung des Opfers sowie das Inbrandgeraten des Wohnhauses beabsichtigt oder auch nur billigend in Kauf genommen hat. Vielmehr ist nicht auszuschließen, dass sie ernsthaft darauf vertraute, dass all dies nicht passierte.« Sie finden in dieser Passage Stichworte, die von Bedeutung sind und die ich aufgreifen werde. Weitere Stichworte finden Sie in der Begründung, mit der das Urteil des Landgerichts vom Bundesgerichtshof aufgehoben wurde. Der BGH forderte eine Prüfung, ob nicht doch ein bedingt vorsätzlicher Totschlag vorliegt: »Wenn nämlich die Angeklagte ›froh‹ war, ›als bei den ersten Zündungen nichts passierte‹, folgt daraus im Umkehrschluss, dass sie beim Entzünden des Feuerzeuges wegen des ihr bekannten ›besonders großen Gefahrenpotentials‹ gerade nicht auf einen glücklichen Ausgang vertraut hat. Hält der Täter aber den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges für möglich und setzt er sein Handeln dennoch fort, liegt es bei äußerst gefährlichem Tun

nahe, dass er den Eintritt des Erfolges billigend in Kauf nimmt … Handelt der Täter in Kenntnis der besonderen Gefährlichkeit seines Tuns und ist er sich – wie hier – des damit verbundenen ›besonders großen Gefahrenpotentials‹ bewusst, liegt es nahe, dass er die weitere Entwicklung dem Zufall überlässt. Dann genügt aber die ›Hoffnung, es werde nichts passieren‹ nicht, um eine Billigung des für möglich gehaltenen Erfolges zu verneinen.«

Theorien zur Bestimmung des Eventualvorsatzes Die Frage nach den Kriterien für das Vorliegen eines Eventualvorsatzes zählt zu den schwierigsten und umstrittensten Fragen des Strafrechts. Die Grenze zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit ist kein akademisches Problem, sondern steuert Entscheidungen mit weitreichenden Folgen – wie Sie in großer Deutlichkeit am »Spiel mit dem Feuer« sehen können. Die hierzu vertretenen Theorien lassen sich zu ihrer Systematisierung mit Blick auf das Wissenselement und das Wollenselement des Vorsatzes ordnen. Die folgenden Theorien möchte ich Ihnen im Folgenden kurz vorstellen: Billigungstheorie Gleichgültigkeitstheorie Möglichkeitstheorie Wahrscheinlichkeitstheorie Risikotheorie Vermeidungstheorie Ernstnahmetheorie

Billigungstheorie

Die herrschende und von der Rechtsprechung vertretene sogenannte Billigungstheorie betont die Unauflöslichkeit der beiden Elemente Wissen und Wollen. Nach der Rechtsprechung des BGH und der Auffassung von großen Teilen der Lehre ist neben dem Wissenselement (kognitiven Moment) des Vorsatzes – also zum Beispiel dem Bewusstsein, dass man etwas Lebensgefährdendes gegen einen anderen Menschen unternimmt, immer auch die Willensbeziehung zum drohenden Erfolg zu prüfen. Das hat der BGH immer wieder in sogenannten AIDS-Fällen betont (grundlegend BGHSt 36, 1): Wenn Anton HIV-positiv ist und um die von ihm ausgehenden Infektionsgefahren etwa bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr weiß (Wissenselement), lässt dies keinen zwingenden Schluss darauf zu, dass er auch seinen Geschlechtspartner infizieren will (Willenselement). Eventualvorsatz liegt nach der Billigungstheorie dann vor, wenn der Täter die als möglich angenommene Tatbestandsverwirklichung (Wissenselement) zustimmend beziehungsweise billigend in Kauf genommen hat (Willenselement). Inwieweit ein Angeklagter mit der Verteidigung gehört werden kann, er habe den sich abzeichnenden Erfolg gleichwohl innerlich abgelehnt, wird vom BGH regelmäßig nach Kriterien der objektiven Gefährlichkeit der Handlung beurteilt. Das heißt, es geht um die Frage, ob man es dem Täter wirklich abnehmen kann, er habe unter diesen Umständen auf einen günstigen Ausgang (also das Ausbleiben des Erfolgs) vertraut. Gelangt der BGH zu dieser Einschätzung, dann wird ein bedingter Vorsatz verneint. Sodann stellt sich die Frage, ob eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung besteht (dazu sogleich Kapitel 11).

Dass ein solches Vertrauen auf einen guten Ausgang denkbar ist, nimmt der BGH im Bereich der Tötungsdelikte teilweise sogar bei äußerst gefährlichem Täterverhalten an. Dabei wird dem Täter bei entsprechenden Anzeichen eine psychische Hemmschwelle zugutegehalten, die überwunden werden muss, bevor jemand zum Töten eines Menschen bereit ist.

Gleichgültigkeitstheorie Im Gegensatz zur Billigungstheorie spielt bei der Gleichgültigkeitstheorie nicht die positive Entscheidung, gleichwohl weiterzumachen (eben Billigung), eine Rolle, sondern es wird eine Gesinnung des »Ist mir doch egal« betont. Nach der Gleichgültigkeitstheorie liegt Eventualvorsatz dann vor, wenn der Täter im Bewusstsein des möglichen Erfolgseintritts handelt und dem Erfolgseintritt gleichgültig gegenübersteht.

Möglichkeitstheorie Die Möglichkeitstheorie will auf das voluntative Vorsatzelement (die Willensbeziehung zur Tat) völlig verzichten, weil über die innere Willenseinstellung ohnehin nur vage und zuschreibende Aussagen getroffen werden können. Kennt der Täter die Möglichkeit des Erfolgseintritts, handelt er vorsätzlich, kennt er sie nicht, ist der bedingte Vorsatz ausgeschlossen. Die Möglichkeitstheorie will damit eine klare Entscheidungsgrundlage herstellen: Wer die Möglichkeit des Erfolgseintritts sieht, soll sich nicht damit verteidigen können, er habe ihn aber nicht gewollt.

Wahrscheinlichkeitstheorie Eine einschränkende Variante der Möglichkeitstheorie ist die Wahrscheinlichkeitstheorie. Mit bedingtem Vorsatz handelt danach, wer sich den Erfolg nicht nur als Möglichkeit vorstellt, sondern eine gewisse Wahrscheinlichkeit prognostiziert, wobei

aber keine überwiegende Wahrscheinlichkeit verlangt wird. Auch diese Theorie verzichtet auf das Willenselement des Vorsatzes.

Risikotheorien Risikotheorien zur Bestimmung des Eventualvorsatzes sind letztlich moderne Formen der Möglichkeits-/Wahrscheinlichkeitstheorien, die in engem Zusammenhang mit allen Ansätzen stehen, die die Risikoerhöhung für einen zentralen Begriff der objektiven und subjektiven Zurechnung im Strafrecht halten (dazu schon in Kapitel 7). Ein bedingter Vorsatz liegt danach dann vor, wenn der Täter von einem Vorhaben nicht Abstand nimmt, obwohl er erkennt, dass in seiner Handlung das erhöhte Risiko einer Rechtsgutsverletzung angelegt ist. Auch diese Theorien verzichten weitgehend auf die Willensseite des Vorsatzes und argumentieren mit Prognosen aus objektiver Sicht beziehungsweise objektiver äußerlicher Gefährlichkeit als Indiz für den Willen der Tatbestandsverwirklichung.

Vermeidungstheorie Diese Theorie bietet in manchen Fällen einen interessanten Ansatzpunkt für die Verteidigungsargumentation. Mit Eventualvorsatz soll danach ein Täter nur dann handeln, wenn er sich den Erfolg als möglich vorstellt und gleichwohl kein Vermeidungswillen durch das äußerlich sichtbare Setzen von gegenwirkenden Faktoren erkennbar ist. In einer der klassischen Entscheidungen des BGH zu AIDS-Fällen (BGHSt 36, 1) wusste der Angeklagte zwar um seine HIVInfektion, hatte für sich aber die Strategie entwickelt, nicht bis zum Samenerguss zu verkehren, weil er damit die Infektionsgefährlichkeit zu minimieren gedachte. So etwas könnte als manifestierter Vermeidungswillen dieser Theorie zufolge einen bedingten Vorsatz der Infektion des Geschlechtspartners ausschließen.

Ernstnahmetheorie Diese Theorie versucht das Willenselement des Vorsatzes anspruchsvoller zu konstruieren und stärker zu gewichten. Es gebe, so lautet die zentrale These, durchaus Fälle, in denen der Täter sich den Erfolg als möglich oder sogar wahrscheinlich vorstellt und auch nichts zu seiner Vermeidung unternimmt. Trotzdem könne er den drohenden Erfolgseintritt durch die irrationale Annahme, es werde schon irgendwie gut gehen, verdrängen. Erst das Ernstnehmen des drohenden Erfolges sei die Voraussetzung für eine Entscheidung des Täters zu einer Rechtsgutsverletzung. Verlange man für den Vorsatz ein Wissenselement und eine Willensbeziehung, könne man nur unter der Voraussetzung der Ernstnahme des Erfolgs von einem Eventualvorsatz sprechen.

Folgen des Theorienstreits für die Falllösung Sie haben gerade eines der Theoriefelder von Strafrecht Allgemeiner Teil kennengelernt, das Sie in den wesentlichen Argumenten kennen müssen. Für die Falllösung merken Sie sich bitte Folgendes: Keine der vertretenen Theorien ist die »richtige« Theorie. Letztlich wird der bedingte Vorsatz von der bewussten Fahrlässigkeit im Strafverfahren auf der Grundlage von vielen Eindrücken vom Tatgeschehen und über die Tatbeteiligten praktisch abgegrenzt. Ob man ein intellektuelles und ein voluntatives Element des Vorsatzes verlangt, auf das voluntative Element verzichtet oder dieses stärker gewichten möchte, hängt mit strafrechtsdogmatischen Grundentscheidungen zusammen. Die verschiedenen Theorien bieten ihnen einen reichen Fundus von Argumenten zu dieser bedeutsamen Abgrenzungsfrage an.

Es existiert keine zwingende Lösung für Fälle, in denen der Eventualvorsatz eine Rolle spielt. In Prüfungsarbeiten werden Sie zumeist durch Schlüsselformulierungen auf das Problem gestoßen. Sie finden etwa die Formulierung »Anton schlug mit einem Baseballschläger auf den Kopf von Bert, wobei er es durchaus für möglich hielt, dessen Schädel zu zertrümmern« oder »Anton schlug mit dem Baseballschläger auf den Kopf von Bert, um ihn zu betäuben, wobei er fest darauf vertraute, dass Bert diesen Schlag überleben würde«. Sie müssen sich selbst ein Urteil bilden, ob ein Eventualvorsatz vorliegt oder nicht, zum Beispiel ob Anton einen Tötungsvorsatz hatte oder nicht. Setzen Sie sich in schlüssiger Argumentation mit den verschiedenen Theorien auseinander. Dabei müssen Sie immer klar zeigen, warum Sie der einen Theorie folgen und die andere Theorie ablehnen. In Klausuren genügt es, wenn Sie wissen, dass der Vorsatz zwei Elemente (Wissen und Wollen) hat, wenn Sie dies auf das Problem des Eventualvorsatzes umsetzen können und wenn es Ihnen gelingt, einen Fall an den Maßstäben der herrschenden Billigungstheorie zu prüfen und zu lösen.

Die Absicht als »überschießende Innentendenz« Der subjektive Tatbestand einer Strafvorschrift erschöpft sich nicht immer in der Prüfung des Vorsatzes. Manchmal kommt ein weiteres subjektives Merkmal hinzu, das erfüllt sein muss, damit die Strafbarkeit eintritt: die Absicht. Bei zwei praktisch sehr wichtigen Tatbeständen – dem Diebstahl (§ 242 StGB) und dem

Betrug (§ 263 StGB) − können Sie das aus dem Gesetzestext gut erkennen: § 242 StGB (Diebstahl): Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, … § 263 StGB (Betrug): Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, dass er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, … Beim Diebstahl muss also die Wegnahme einer fremden Sache von der Absicht begleitet sein, diese Sache sich selbst oder einem anderen zu verschaffen. Beim Betrug muss man einen anderen täuschen, um damit für sich oder einen anderen einen Vermögensvorteil zu erlangen. Beim Verlassen der Disco entdeckt Anton in der Garderobe neidisch eine knallrote Motorradjacke. So eine hat er schon lange gesucht. Er nimmt die Jacke vom Bügel und zieht sie sich an, um sie mit nach Hause zu nehmen. Beim Verlassen wird er vom Türsteher Harry gestoppt, der weiß, dass die Jacke Bert gehört. Zwei Dinge spielen hier eine Rolle: 1. Vorsatz: Anton weiß, dass die Jacke ihm nicht gehört (also eine fremde Sache ist). Wenn er die Jacke jetzt mitnimmt, will er sie also dem Besitzer wegnehmen. Damit ist der Vorsatz des Diebstahls gegeben. 2. Absicht: Für die Strafbarkeit wegen Diebstahls muss aber als weiteres subjektives Unrechtsmerkmal noch die im Gesetz genannte Zueignungsabsicht hinzukommen.

Bei diesen subjektiven Unrechtsmerkmalen gilt die Besonderheit, dass es kein Merkmal im objektiven Tatbestand gibt, auf das sich das Bewusstsein und der Wille beziehen könnten. Es geht um etwas, das sich nur im Kopf des Täters abbildet. Deswegen nennt man dies überschießende Innentendenz. Es genügt für die Feststellung der Zueignungsabsicht (§ 242 StGB) oder der Bereicherungsabsicht (§ 263 StGB) eine entsprechende Motivation beim Vorgehen des Täters, ohne dass der Erfolg – also die Zueignung (§ 242 StGB) oder die Bereicherung (§ 263 StGB) – objektiv eingetreten sein muss. Ein vollendeter Diebstahl liegt schon bei objektiver Wegnahme einer fremden beweglichen Sache und einem darauf gerichteten Vorsatz vor. Die Absicht der Zueignung ist ein subjektives Unrechtsmerkmal. Das heißt, dem Täter muss es für den Diebstahl nicht objektiv gelingen, die Sache zu behalten. Auch wenn der Türsteher Anton stoppt und es deshalb Anton nicht gelingt, die begehrte rote Jacke mitzunehmen, hat er einen Diebstahl begangen.

Teil III

Strafbarkeit bei Verletzung von Sorgfaltspflichten – Fahrlässigkeit



IN DIESEM TEIL … Im Gegensatz zum Vorsatztäter hat sich der Täter bei dem Fahrlässigkeitsdelikt nicht für die Verletzung eines Rechtsguts entschieden. Er verletzt einen anderen Menschen wegen fehlender Achtsamkeit in seinen Handlungen. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für einen solchen Erfolg wird dem Täter nur dann auferlegt, wenn er Sorgfaltspflichten verletzt hat. Wenn objektiv und subjektiv voraussehbar war, dass das Verhalten schlimme Folgen haben kann und wenn diese Folgen bei entsprechender Sorgfalt vermeidbar gewesen wären, macht sich der Täter wegen Fahrlässigkeit strafbar. Fahrlässiges Verhalten tritt zum Beispiel im Straßenverkehr und in der medizinischen Versorgung relativ häufig auf.

Kapitel 11

Die Bestrafung von fahrlässigem Verhalten IN DIESEM KAPITEL Die Vorsatztat als Regelfall, die Fahrlässigkeitstat als Sonderfall strafbaren Verhaltens Die Unterschiede von Vorsatzunrecht und Fahrlässigkeitsunrecht Das Wesen des Fahrlässigkeitsunrechts

Den Regelfall strafwürdigen Verhaltens stellt ein Verhalten dar, das auf einer Entscheidung für eine Rechtsverletzung beruht (Vorsatz). Aber auch durch die Nichtbeachtung von Sorgfaltspflichten (Fahrlässigkeit) kann es zu erheblichen Verletzungen von Menschen kommen.

Die Vorsatztat als Regelfall, die Fahrlässigkeitstat als Sonderfall strafbaren Verhaltens Kommen wir noch einmal auf einen Fall aus dem vorherigen Kapitel zurück.

Anton sieht in einiger Entfernung, dass sein Feind Bert gerade die Straße überquert. Anton gibt Gas, um Bert anzufahren. Bert überlebt schwer verletzt. Paul fährt mit knapp 40 hm/h durch ein Wohngebiet. Plötzlich kullert ein Ball auf die Straße. Wenige Augenblicke später springt der fünfjährige Max hinterher. Paul kann nicht mehr rechtzeitig bremsen und fährt Max an. Max überlebt schwer verletzt. Im ersten Fall hat sich Anton dafür entschieden, Bert zu verletzen, und geht zielgerichtet vor. Im zweiten Fall tritt ein Erfolg ein, der nicht dem Willen von Paul entspricht. Paul hat sich nicht für die Verletzung von Max entschieden, sondern ihm ist diese Verletzung unterlaufen. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für einen solchen »Unfall« wird dem Täter dann auferlegt, wenn er Sorgfaltspflichten verletzt hat, wenn voraussehbar war, dass dies schlimme Folgen haben kann, wenn diese Folgen bei entsprechender ihm möglicher Sorgfalt vermeidbar gewesen wären. Eine Schadensverursachung, die für niemanden voraussehbar und damit auch für den Täter nicht abwendbar ist, kann ein rationales Strafrechtssystem nicht zum Vorwurf machen. Dies würde darauf hinauslaufen, dass man auch für den Zufall geradestehen muss. Es gab früher Rechtssysteme, die so zugerechnet haben, aber dies entspricht nicht mehr unseren Vorstellungen von gerechter Verantwortung. Nach § 15 StGB ist fahrlässiges Handeln nur bei ausdrücklicher Regelung in einem Tatbestand des StGB strafbar. Das können Sie sich an einer alltäglichen Situation klarmachen:

Paul fährt bei einer vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h mit 150 km/h auf der Überholspur der Autobahn. Er hält den gebotenen Sicherheitsabstand zu seinem Vordermann Kurt nicht ein. Als Kurt wegen der Verkehrslage plötzlich abbremsen muss, kann Paul nicht rechtzeitig abbremsen und prallt auf das Heck von Kurts Auto. Hierdurch entsteht ein Schaden von circa 5000 Euro an Kurts Fahrzeug. Außerdem prallt Kurt gegen das Lenkrad seines Autos und erleidet mehrere Rippenbrüche. Umgangssprachlich können wir sicher sagen, dass Paul an dem Unfall »Schuld« hat. Er ist zu schnell und mit zu geringem Abstand gefahren, hat also Sorgfaltspflichten im Verkehr nicht beachtet. Bei Einhaltung dieser Pflichten wäre der Unfall so nicht geschehen. In der zivilrechtlichen Abwicklung des Schadensfalls werden das die ausschlaggebenden Punkte sein, die dazu führen, dass Paul den Sach- und Personenschaden von Kurt ersetzen muss. Wir sind jetzt aber im Strafrecht und müssen daher fragen, ob Paul auch eine Kriminalstrafe für sein Verhalten verdient. Für den Sachschaden hat sich das Gesetz in § 303 StGB klar dagegen entschieden – die fahrlässige Sachbeschädigung ist nicht strafbar. Kommt es dagegen bei einem Verkehrsunfall zu einem Personenschaden, dann kommt eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) oder gar fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) in Betracht. Der Gesetzgeber räumt der menschlichen Gesundheit und dem Leben einen hohen Stellenwert im System der Rechtsgüter ein. Deswegen hält er es für geboten, diese Rechtsgüter auch gegen fahrlässige Verletzungen strafrechtlich zu schützen.

Die Unterschiede von Vorsatzunrecht und Fahrlässigkeitsunrecht Eine vorsätzliche Straftat begeht, wer im Bewusstsein und mit dem Willen handelt, ein Rechtsgut zu verletzen. Dafür reicht es meistens aus, dass der Täter bei seiner Vorgehensweise billigend die Verletzung eines Rechtsguts in Kauf nimmt (Eventualvorsatz). Ein Fahrlässigkeitstäter dagegen wird über die Verletzung seines Opfers eher erschüttert sein, selbst dann, wenn er sich riskant verhalten hat. Die innere Haltung bei dem, was er tut, ist eher: »Das wird schon gut gehen.« Anton will heute einmal besonders »sportlich« durch die Stadt fahren. In einem deutlich gekennzeichneten Wohngebiet (Höchstgeschwindigkeit 30 km/h) ist er mit 70 km/h unterwegs. »Die Fußgänger sollen halt mal selber aufpassen« denkt er sich und verringert seine Geschwindigkeit auch nicht an Fußgängerüberwegen. Dabei erfasst er die 80-jährige Ingeborg, die sich altersbedingt beim Überqueren nicht beeilen kann. Es stellt sich die Frage, ob die Haltung von Anton gegenüber den möglichen Folgen seiner Fahrweise die Stufe eines bedingten Vorsatzes erreicht hat. Er hat erkannt, dass diese Fahrweise von hohem Risiko für andere Verkehrsteilnehmer und besonders verletzungsgefährdend für Fußgänger ist. Trotzdem fährt er in diesem Stil gleichgültig durch das Wohngebiet. Man könnte sagen, dass er sich sogar mit der Haltung »Na, wenn schon« für die Möglichkeit entschieden hat, andere Personen zu verletzen. Interessant ist, dass es im Strafgesetzbuch keine Definition für die Fahrlässigkeit gibt. Einen Anhaltspunkt bietet die Regelung des §

276 II BGB: Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. In diesem Außer-Acht-Lassen liegt der Kern des Unrechts jeder Fahrlässigkeitstat. Der Täter hat etwas nicht beachtet, das in der Tatsituation Beachtung verdient hätte.

Grade der Fahrlässigkeit Die mangelnde Beachtung kann eine unterschiedliche Intensität aufweisen.

Bewusste und unbewusste Fahrlässigkeit Unterschieden wird zwischen bewusster Fahrlässigkeit und unbewusster Fahrlässigkeit. Bei der unbewussten Fahrlässigkeit verkennt der Täter pflichtwidrig überhaupt die Möglichkeit des Erfolgseintritts. Dass sein Verhalten zu einem Schaden führt, überrascht ihn in gewisser Weise selbst. Zu den pflichtgemäßen Vorbereitungen einer Baugrube für die Nacht gehört das Anbringen einer Signallampe. Baustellenleiter Hans-Peter prüft am Ende des Arbeitstages nicht noch einmal, ob die Lampe angeschaltet ist. Dies ist nicht Fall. Beim Nachtgassi stürzt Nachbar Norbert mit seinem Dackel in die Grube und bricht sich das Bein.

Weil Hans-Peter nicht nachgeprüft hat, ob die Signallampe betriebsbereit ist, hat er auch nicht damit gerechnet, dass jemand in die ungesicherte Grube fallen könnte. Es war natürlich pflichtwidrig von Hans-Peter, die Lampe nicht zu prüfen. Dagegen handelt bewusst fahrlässig, wer die Tatbestandsverwirklichung für möglich hält, aber pflichtwidrig auf deren Nichteintritt vertraut. Hans-Peter prüft die Signallampe und stellt dabei fest, dass die Batterie fast leer ist. Ihm ist klar, dass beim Ausfall der Lampe in der Nacht ein erhebliches Risiko besteht, dass Passanten in die Grube stürzen. Es wäre mit großer Mühe verbunden, jetzt eine neue Batterie zu besorgen. »Na, wird schon gut gehen«, denkt sich Hans-Peter und verlässt die Baustelle. Gegen 22:00 Uhr fällt die Lampe aus. Beim Nachtgassi … Hier hat Hans-Peter zunächst seine Pflicht zur Baustellensicherung erfüllt. Dabei hat er jedoch ein Sicherheitsrisiko erkannt. Er hat von der Beseitigung dieses Risikos im Vertrauen auf einen guten Ausgang abgesehen.

Einfache und grobe Fahrlässigkeit Nach dem Grad der Sorgfaltspflichtverletzung kann weiter zwischen leichter Fahrlässigkeit und grober Fahrlässigkeit unterschieden werden. Von leichter Fahrlässigkeit spricht man bei einer vergleichsweise harmlosen, nur wenige Augenblicke

währenden Unaufmerksamkeit in einer an sich alltäglichen Situation. Paul ist auf einer kurvenreichen Strecke unterwegs, seine Geschwindigkeit ist angepasst. Angesichts des Warnschilds »Haarnadelkurve« bremst er kurz und verringert seine Geschwindigkeit zu geringfügig auf 30 km/h. Dadurch gerät er in der Kurve mit der halben Wagenbreite in den Gegenverkehr und prallt mit dem Auto von Max zusammen. Max verletzt sich an den Rippen. Paul kann hier nicht der Vorwurf gemacht werden, dass er sich wie ein Verkehrsrowdy verhalten und über alle Sorgfaltspflichten hinweggesetzt habe. Vielmehr ist der Unfall durch eine den Verkehrsverhältnissen nicht angepasste unachtsame Fahrweise zustande gekommen. Den Unterschied zur groben Fahrlässigkeit werden Sie gleich am Vergleichsfall sehen. Grobe Fahrlässigkeit (vom Gesetz an verschiedenen Stellen auch Leichtfertigkeit genannt) liegt vor, wenn sich dem Täter bei seinen groben Sorgfaltspflichtverletzungen geradezu aufdrängen musste, dass sein Verhalten die Möglichkeit einer Rechtsgutsverletzung mit sich bringt.

Immer wenn es Frühjahr wird, macht Paul sein Motorrad fit und fährt zum Saisonstart auf eine kurvenreiche Straße im nahen Mittelgebirge. Dabei ist »sportliches« Fahren angesagt. Dies bedeutet, dass Max mit hoher Geschwindigkeit auf »Ideallinie« in die Kurven fährt. Damit ist eine Nichtbeachtung der Fahrstreifen und folglich Fahren im Gegenverkehr verbunden (sogenanntes Kurvenschneiden). Als sich Paul mit circa 100 km/h in eine Kurve legt und dabei in den Gegenverkehr gerät, prallt er mit dem Motorradfahrer Max zusammen. Max wird schwer an der Wirbelsäule verletzt und bleibt querschnittsgelähmt. Zwar wird man nicht sagen können, dass es Paul bei seinem Saisonstart darauf angelegt hat, andere Verkehrsteilnehmer zu verletzen. Man wird nicht einmal sagen können, dass er einen solchen Ausgang seiner »sportlichen« Fahrt billigend in Kauf genommen hat (Eventualvorsatz). Man kann Paul aber vorwerfen, dass er in einem besonderen Maße pflichtvergessen gehandelt hat, obwohl sich bei einer solchen Fahrweise geradezu aufdrängen musste, dass etwas passieren kann. Er hat leichtfertig nach dem Motto »Wird schon gut gehen« gehandelt.

Das Wesen des Fahrlässigkeitsunrechts Sie werden in Lehrbüchern und Falllösungen oft lesen, dass es bei der Fahrlässigkeit darum geht zu prüfen, ob Rechtsgüter durch die Verletzung von Sorgfaltspflichten verletzt worden sind. Terminologisch ist diese Beschreibung des Ursache-WirkungsZusammenhangs unzutreffend. Die Verletzungen entstehen genau betrachtet durch Handlungen, die deswegen

verletzungsträchtig sind, weil dabei bestimmte Sorgfaltspflichten nicht eingehalten werden. Deswegen prüfen Sie − ganz genau so, wie Sie das kennengelernt haben (in Kapitel 6) – zunächst, ob es eine Handlung gibt, die zu einem bestimmten Erfolg geführt hat (conditio sine qua non). Erst im nächsten Schritt untersuchen Sie dann diese Handlung unter dem Gesichtspunkt einer Sorgfaltspflichtverletzung. Diese Struktur des Fahrlässigkeitsunrechts möchte ich mit Ihnen an einem alltäglichen – aber in den Einzelheiten ziemlich komplizierten – Fall durchspielen. Die Leitentscheidung zum Lastzug-Fall finden Sie in BGHSt 11. Der Gesetzgeber definiert zwar keinen Mindestabstand beim Überholen eines Radfahrers durch ein Kraftfahrzeug, aber die Gerichte haben wiederholt entschieden, dass mindestens 1,5 bis 2 Meter Abstand beim Überholen eingehalten werden sollten. Bernd lenkt einen Lastzug auf einer geraden und übersichtlichen Straße, deren Fahrbahn etwa 6 Meter breit ist. Auf dem rechten Seitenstreifen fährt der Radler Hans in der gleichen Richtung. Bernd überholt Hans mit einer Geschwindigkeit von 26 bis 27 km/h. Der Seitenabstand vom Kastenaufbau des Anhängers zum linken Ellbogen von Hans beträgt dabei 75 Zentimeter. Während des Überholvorganges stürzte Hans, geriet mit dem Kopf unter die rechten Hinterreifen des Anhängers, wurde überfahren und war auf der Stelle tot. Eine später der Leiche entnommene Blutprobe ergab einen Blutalkoholgehalt von 1,96 Promille zurückgerechnet auf den Zeitpunkt des Unfalls. Im Lastzug-Fall stellt sich zunächst nicht die Frage, ob die sich im zu geringen Seitenabstand manifestierende Sorgfaltspflichtverletzung für den Unfall kausal geworden ist. Vielmehr kommt es im ersten Schritt darauf an, ob der

Überholvorgang den Tod von Hans verursacht hat. Dies ist zu bejahen. Der hier einschlägige § 222 StGB (Fahrlässige Tötung) formuliert: Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, … Eine Beziehung zwischen Handlung und Erfolg im Sinne der Kausalität genügt also nicht; § 222 StGB verlangt ausdrücklich einen Erfolgseintritt durch Fahrlässigkeit. Um einen strafrechtlichen Vorwurf gegen Bernd zu erheben, muss also auch ein Zusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg (Pflichtwidrigkeitszusammenhang) bestehen. Damit beginnen die Komplikationen in unserem Fall: Im Prozess berichtet ein gerichtsmedizinischer Gutachter von der bekannten Verhaltensweise alkoholisierter Radfahrer, bei Überholvorgängen reflexartig in das überholende Fahrzeug (»wie magnetisch angezogen«) hineinzusteuern. Möglicherweise wäre Hans infolge seiner Alkoholisierung auch dann überfahren worden, wenn Bernd einen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten hätte. Es stellt sich damit die Frage, ob und wie die Strafjustiz einen Vorwurf gegen Bernd erheben kann. Klar ist, dass unter Kausalitätsgesichtspunkten der Tod von Hans durch das Überrolltwerden eingetreten ist. Andererseits ist der betrunkene Hans mit seinem Fahrrad gewissermaßen selbst in sein Unglück gesteuert. Obwohl sich Bernds Überholvorgang nicht hinwegdenken lässt, ohne dass der Tod von Hans durch Überfahren entfiele, bestehen erhebliche Zweifel daran, ob es der zu geringe Seitenabstand beim Überholen war, der zum Tod von Hans geführt hat – das ist die Frage nach dem Pflichtwidrigkeitszusammenhang. Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang wird durch die Frage ermittelt, ob der Täter bei sorgfaltspflichtgemäßem Verhalten den Erfolg hätte vermeiden können. Daher fehlt es im Umkehrschluss am Pflichtwidrigkeitszusammenhang, wenn

der Erfolg selbst bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre. In einer solchen Lage gibt es keine Grundlage mehr für einen strafrechtlichen Vorwurf, denn der Erfolg ist dann so oder so unvermeidbar gewesen. So könnte es im LastzugFall liegen. Der Fall hat vier Gerichte beschäftigt, die jeweils im Wechsel eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung bejaht beziehungsweise verneint haben. Zunächst war das Verfahren beim Amtsgericht (Schöffengericht) Rheine anhängig, das wegen fahrlässiger Tötung verurteilt hat. Dagegen hat der Angeklagte Berufung zum Landgericht Münster eingelegt. Das Landgericht hat mit folgender Begründung freigesprochen: »Den Nachweis, dass er durch Fahrlässigkeit dessen Tod verursacht habe, hält das Gericht nicht für erbracht, weil sich nach ihrer Überzeugung der tödliche Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei pflichtgemäßem Verhalten des Angeklagten ereignet haben würde.« Daraufhin ist die Staatsanwaltschaft mit dem Ziel, dieses Urteil aufzuheben, in die Revision zum Oberlandesgericht (OLG) Hamm gegangen. Das OLG wollte tatsächlich das Urteil aufheben. Es war im Einklang mit Urteilen anderer Gerichte der Meinung, »dass der ursächliche Zusammenhang zwischen einem verkehrswidrigen Verhalten und einem schädlichen Erfolg immer dann bejaht werden kann, wenn nicht mit Sicherheit oder mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, dass dieser Erfolg auch ohne jene Verkehrswidrigkeit eingetreten wäre; nur wenn nach menschlichem Ermessen sicher sei, dass es auch bei verkehrsgemäßem Verhalten des Angeklagten zu einem gleichen Erfolg gekommen wäre, sei es gerechtfertigt, die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters für den von ihm herbeigeführten Erfolg zu verneinen«.

Weil andere Oberlandesgerichte nicht dieser Auffassung waren, hat das OLG Hamm diese Rechtsfrage dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt. Nach der Rechtsprechung des BGH (BGHSt 11, 1) ist der Täter auch dann in dubio pro reo freizusprechen, wenn der Erfolg auch nur möglicherweise bei rechtmäßigem Alternativverhalten ebenfalls eingetreten wäre. Sehr grundsätzlich heißt es in der Entscheidung: »Das vom Schuldgrundsatz beherrschte Strafrecht begnügt sich nicht mit einer rein naturwissenschaftlichen Verknüpfung bestimmter Ereignisse, um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ursache und Erfolg zu beantworten. Für eine das menschliche Verhalten wertende Betrachtungsweise ist vielmehr wesentlich, ob die Bedingung nach rechtlichen Bewertungsmaßstäben für den Erfolg bedeutsam war. Dafür ist entscheidend, wie das Geschehen abgelaufen wäre, wenn der Täter sich rechtlich einwandfrei verhalten hätte. Wäre auch dann der gleiche Erfolg eingetreten oder lässt sich das auf Grund von erheblichen Tatsachen nach der Überzeugung des Tatrichters nicht ausschließen, so ist die vom Angeklagten gesetzte Bedingung für die Würdigung des Erfolges ohne strafrechtliche Bedeutung. In diesem Falle darf der ursächliche Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg nicht bejaht werden.« Warum habe ich Sie so ausführlich mit diesem Fall beschäftigt? Ich wollte Ihnen zeigen, dass an eine Bestrafung für fahrlässiges Verhalten sehr hohe Anforderungen gestellt werden. Es entspringt einer gut verstehbaren emotionalen Reaktion auf tragische Ereignisse des Lebens, dass wir den Verursacher bestrafen möchten. Die strafrechtliche Reaktion auf fahrlässiges Verhalten setzt aber voraus, dass wir gute Gründe für einen so erheblichen

und folgenreichen Tadel haben, wie ihn die Kriminalstrafe darstellt. Nicht verschweigen möchte ich Ihnen, dass es eine weitverbreitete Auffassung in der Strafrechtslehre gibt, die unter Umgehung des Zweifelsgrundsatzes und der vernünftigen Argumente des BGH in vergleichbaren Fallkonstellationen ein Fahrlässigkeitsunrecht bejahen möchte.

Die Risikoerhöhungslehre Nach der sogenannten Risikoerhöhungslehre lautet die Frage, ob ein Verhalten des Täters festgestellt werden kann, durch das das Maß des erlaubten Risikos erheblich überschritten wurde. Ist dies der Fall, wird von einer Risikoerhöhung gesprochen. Drei Beispiele aus dem Straßenverkehr: In geschlossenen Ortschaften und Wohngebieten sind mit 50 km/h und 30 km/h Geschwindigkeitsbeschränkungen im Hinblick auf die spezifischen Unfallrisiken festgelegt. Durch ein Stoppschild wird die Vorfahrtsregelung an Straßenkreuzungen und -einmündungen vorgegeben und dem Verkehrsteilnehmer vorgeschrieben, anzuhalten und Vorfahrt zu gewähren. In § 4 IV a Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) heißt es zum Überholen: Das Ausscheren zum Überholen und das Wiedereinordnen sind rechtzeitig und deutlich anzukündigen; dabei sind die Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen. Legt man die Risikoerhöhungslehre zugrunde, dann stellt die Verletzung jeder dieser Regeln als Überschreitung des erlaubten Risikos im Straßenverkehr ein risikoerhöhendes Verhalten dar, das schon für sich alleine ausreicht, um eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für mögliche Verletzungsfolgen zu begründen. Wenn Sie der Risikoerhöhungslehre folgen, dann genügt für die Bestrafung von Bernd im Lastzug-Fall die abstrakte Feststellung, dass er durch die Verletzung der Regeln über den gebotenen Seitenabstand beim Überholen das erlaubte Risiko im Straßenverkehr überschritten hat. Weil es im Zusammenhang mit dieser Risikoerhöhung zu dem Unfall gekommen ist, hat sich nach dieser Lehre im Tod von Hans das Risiko realisiert.

Diese Lehre wird von der Rechtsprechung aus den gerade zitierten guten Gründen abgelehnt, weil an die Stelle einer konkreten Zurechnung und einer individuellen Verantwortung eine Art Gefährdungshaftung tritt.

Im nächsten Kapitel möchte ich mit Ihnen noch eine Reihe von Sorgfaltsregeln und typische Anwendungsfelder der Bestrafung wegen Fahrlässigkeit besprechen. Sie können sich bestimmt denken, dass Verhaltensweisen im Straßenverkehr, die zur Verletzung oder gar Tötung von Menschen führen, ein wichtiges Anwendungsfeld sind. Weiterhin sind Vorgänge in der Medizin und im Krankenhausbetrieb immer wieder Gegenstand von strafrechtlichen Verfahren. Schließlich erfordern alle möglichen Arten der Bautätigkeit die Beachtung von Sorgfaltspflichten, damit Menschen dabei nicht zu Schaden kommen.

Kapitel 12

Felder fahrlässigen Verhaltens: Medizin und Straßenverkehr IN DIESEM KAPITEL Diagnosefehler Anfängeroperationen Typische Gefährdungen des Straßenverkehrs Massenkarambolagen

Es wird Ihnen aus Ihrer Alltagserfahrung nicht schwerfallen, die in der Überschrift genannten Felder als Tätigkeitsbereiche von Menschen zu erkennen, bei denen es immer wieder zu erheblichen (zum Teil tödlichen) Zwischenfällen kommt. Sie werden auch ziemlich genaue Vorstellungen darüber haben, was typische Zwischenfälle sein können: Bei einer Operation bleiben Tupfer oder sogar Instrumente in der Bauchhöhle zurück. Schwere Unfälle auf der Autobahn beruhen sehr häufig auf überhöhter Geschwindigkeit.

Generell bemisst sich die gebotene Sorgfalt bei einer Tätigkeit, durch die andere Menschen Schaden nehmen können, danach, wie sich ein besonnener und gewissenhafter Mensch in der Lage und Position des Handelnden verhalten hätte. Häufig werden Sorgfaltsregeln durch Rechtsnormen wie die Straßenverkehrsordnung (StVO) und anerkannte Standards wie die Regeln der ärztlichen Kunst und Behandlungsleitlinien konkretisiert. Wenn Sie aus diesen Regeln den objektiven Sorgfaltsmaßstab für eine bestimmte Situation und Tätigkeit entwickelt haben und beim Vergleich mit der Sorgfalt der handelnden Person Defizite feststellen, haben Sie freilich nur die erste Stufe der Prüfung einer strafbaren Fahrlässigkeit erreicht. Wie Sie aus dem zurückliegenden Kapitel 11 wissen, bedarf es sodann noch vieler weiterer Schritte der objektiven und subjektiven Zurechnung. Insofern sind die folgend präsentierten Situationen auch nur Prototypen, bei denen die strafrechtliche Verantwortlichkeit im Einzelfall ganz unterschiedlich ausfallen kann. So führen zum Beispiel besonderes Wissen und Können des Täters zu einem erhöhten Sorgfaltsmaßstab – ein Spezialist für die Versorgung von Brandverletzungen muss auch die neuesten Methoden der Hauttransplantation beherrschen.

Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Behandlungsfehler in der Medizin Wenn Sie einer ärztlichen Behandlung auf dem Zeitstrahl folgen, dann beginnt die ärztliche Behandlung mit dem Besuch des Patienten oder seiner Einlieferung. An diesem Punkt wird

zunächst eine Anfangsdiagnose gestellt und gegebenenfalls weitere Diagnostik durchgeführt. Natürlich können bei der Erhebung des Erstbefunds, bei der Anordnung weiterer Diagnostik und bei der Interpretation der dort erhobenen Befunde erhebliche und folgenreiche Diagnosefehler auftreten. Diese Fehler können zu einer falschen oder einer Verzögerung der richtigen Behandlung des Patienten führen. Strafrechtlich sind auch die Verschlechterung des Gesundheitszustands durch Fehlbehandlung oder das Anhalten der Beschwerden durch Nichtbehandlung als Körperverletzung anzusehen. Wird eine objektiv notwendige Behandlung nicht durchgeführt und tritt hierdurch eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder gar der Tod des Patienten ein, dann kann ein Arzt (bei Unterlassen als Garant, siehe Kapitel 8) wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 229) oder fahrlässiger Tötung (§ 222) strafbar sein.

Frau Kunz ist 37 Jahre alt, starke Raucherin und nimmt die Pille zur Empfängnisverhütung ein. Sie hat erhebliche psychische Belastungen, weil sich ihr Freund von ihr getrennt hat. Um Abstand zu gewinnen, hat sie sich aufs Land zurückgezogen. Samstagnachts wacht sie gegen zwei Uhr früh mit starken Schmerzen im Oberbauch, kaltem Schweiß, einer beschleunigten Atemfrequenz und Angstgefühlen auf. Sie ruft den ärztlichen Notdienst. Doktor Schmitz hört sich alles an, hört Frau Kunz ab, untersucht den Bauch und kommt zu dem Ergebnis, dass es sich um eine Blinddarmentzündung handeln muss. Er ruft einen normalen Krankentransport, der Frau Kunz eine Stunde später im Kreiskrankenhaus einliefert. Dort hält man an der Diagnose von Dr. Schmitz fest und operiert den Blinddarm. Erst als man dort keine entzündlichen Prozesse feststellen kann, wird eine weitere Diagnostik vorgenommen. Dabei stellen die Ärzte sofort nach Ableitung eines EKG fest, dass Frau Kunz einen Herzinfarkt erlitten hat und es wird die richtige Behandlung von Frau Kunz eingeleitet. In den Leitlinien zur Diagnose hätte Dr. Schmitz nachlesen können, dass akute Herzbeschwerden durch eine große Symptomvielfalt gekennzeichnet sind. Die typischen Beschwerden seien zwar Brustschmerzen und Engegefühle, die zum linken Arm, Hals oder Kiefer ausstrahlen. Der Brustschmerz könne von anderen Symptomen begleitet werden, zum Beispiel Kaltschweißigkeit, Übelkeit, Bauchbeschwerden oder Ohnmacht. Atypische Symptome seien aber gerade bei Frauen typisch und führten zum Verkennen der Diagnose und inadäquater Behandlung der Erkrankung. Da die körperliche Untersuchung häufig unauffällig sei, empfiehlt die Leitlinie: Ein EKG sollte innerhalb von zehn Minuten nach dem ersten medizinischen Kontakt abgeleitet und sofort von einem qualifizierten Arzt beurteilt werden.

Freilich ist die Rechtsprechung bei Diagnosefehlern mit der Feststellung eines vorwerfbaren Verhaltens sehr zurückhaltend. In einem zivilrechtlichen Arzthaftungsprozess hat der BGH hierzu Folgendes ausgeführt (BGH NJW 2003, 2827): »Grundsätzlich ist zwar das Nichterkennen einer erkennbaren Erkrankung und der für sie kennzeichnenden Symptome als Behandlungsfehler zu werten. Irrtümer bei der Diagnosestellung, die in der Praxis nicht selten vorkommen, sind jedoch oft nicht die Folge eines vorwerfbaren Versehens des Arztes. Die Symptome einer Erkrankung sind nämlich nicht immer eindeutig, sondern können auf die verschiedensten Ursachen hinweisen. Auch kann jeder Patient wegen der Unterschiedlichkeiten des menschlichen Organismus die Anzeichen ein und derselben Krankheit in anderer Ausprägung aufweisen. Diagnoseirrtümer, die objektiv auf eine Fehlinterpretation der Befunde zurückzuführen sind, können deshalb nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden.«

Behandlungsfehler bei Operationen Klarer liegt der Fall bei groben Behandlungsfehlern im Rahmen von operativen Eingriffen. Immer wieder kommen Fälle vor, bei denen Tupfer, Nadeln, Teile des Operationsbestecks, Scheren, ja sogar Tücher im Leib des Patienten vergessen werden. Noch dramatischer sind Fälle, in denen es bei einer Operation an den Gliedmaßen eines Patienten zu einer Seitenverwechslung kommt – also das falsche Knie operiert oder der falsche Fuß amputiert wird. Solche Fälle sind keine Gruselszenarien, sondern kommen tatsächlich vor.

Der Anästhesist Dr. Adam hatte den Patienten Bertram in der Schleuse zum OP in Empfang genommen und vor der Narkose seine Identität geprüft, nach der geplanten OP gefragt und sich das zu operierende linke Knie zeigen lassen, das mit einem Stift markiert war. Beim Eintreffen von Herrn Bertram im OP wurde Dr. Adam wegen plötzlich auftretender Beatmungsprobleme abgelenkt. Er bemerkte nicht, dass statt des linken das rechte Bein desinfiziert wurde. Auch in der Folge wurde die Verwechslung nicht bemerkt und letztlich der Eingriff am rechten Knie durchgeführt. Als die OP beendet war und die Abdecktücher entfernt wurden, bemerkte das Team die Markierung am linken Bein. Es ist völlig klar, dass keiner der Beteiligten an diesem Eingriff den Vorsatz hatte, Herrn Bertram am falschen Knie zu operieren, ebenso klar ist es aber, dass die Verantwortung für einen solchen OP-Zwischenfall nicht einfach mit der Verkettung von unglücklichen Umständen zurückgewiesen werden kann. Es gehört zu dem Kernbereich ärztlicher Sorgfaltspflichten, Eingriffe mit der größtmöglichen Sorgfalt durchzuführen und Vorkehrungen dafür zu treffen, dass es nicht zu folgenreichen Verwechslungen kommen kann. Weltweit sind deswegen von der Ärzteschaft Handlungsempfehlungen für die Vermeidung derartiger Verwechslungen (englisch: wrong site surgery) entwickelt worden. Halten sich alle Beteiligten genau an die dort entwickelten Verfahren der Prüfung, dann ist ihnen im Falle einer an sich dadurch ausgeschlossenen Verwechslung tatsächlich kein strafrechtlicher Vorwurf mehr zu machen.

Fehler von Ärzten in der Ausbildung Von einiger praktischer Bedeutung und in der Zurechnung der Verantwortlichkeit interessant sind Fälle von Anfängerfehlern bei Operationen. Jedem Berufsanfänger muss in der Ausbildung die

Gelegenheit gegeben werden, Erfahrungen zu sammeln. Für den Arztberuf bedeutet dies naturgemäß, dass ein junger Arzt in der Chirurgie im Rahmen seiner Facharztausbildung in zunehmender Selbstständigkeit Operationen durchführen muss. Es ist je nach Ausbildungsstand und Geschick unvermeidlich, dass ein Operateur mit ihm bislang unbekannten praktischen Herausforderungen konfrontiert und nicht in der Lage ist, alleine diese Herausforderungen zu bewältigen. Selbst scheinbar einfache Eingriffe wie eine Blinddarmoperation können unter diesen Umständen völlig entgleisen. In genau so einem Fall hatte der BGH (BGH NJW 1992, 1560) zu entscheiden und hat zu der Verantwortungsverteilung das Folgende ausgeführt: »Jeder junge Arzt ist nur langsam und schrittweise in das operative Geschehen einzuführen. Deshalb darf ein in der Facharztausbildung stehender Arzt erst nach Feststellung seiner Zuverlässigkeit bei ähnlichen Eingriffen und dem Nachweis praktischer Fortschritte in der chirurgischen Ausbildung operieren […] Ein solcher junger Arzt darf nur unter unmittelbarer Aufsicht eines erfahrenen Chirurgen eingesetzt werden, der jeden Operationsschritt beobachtend verfolgt und jederzeit korrigierend einzugreifen vermag […] Nur ein Facharzt kann die Gewähr übernehmen, dass der in der Ausbildung befindliche Arzt richtig angeleitet und überwacht wird, und nur er hat die erforderliche Autorität gegenüber einem Berufsanfänger, um erforderlichenfalls eingreifen zu können.« In dem zu entscheidenden Fall hatte der Berufsanfänger unter der Aufsicht eines ebenfalls in der Ausbildung befindlichen Arztes operiert. Diese Situation war auf Anordnung des Chefarztes entstanden, weil wegen Personalmangels zu diesem Zeitpunkt kein ausgebildeter Facharzt für Chirurgie für die Aufsicht zur Verfügung stand. Wenn Sie sich an die allgemeinen Ausführungen zur Verantwortlichkeit wegen fahrlässigem

Verhalten zurückerinnern, dann setzt die subjektive Zurechnung voraus, dass der Täter nach seinen persönlichen Fähigkeiten und dem Maß seines individuellen Könnens in der Lage war, die Sorgfaltsanforderungen zu erfüllen. Dies wird beim Berufsanfänger in der Regel nicht der Fall sein. Auch dem als »Aufsicht« eingesetzten fortgeschrittenen Berufsanfänger wird man regelmäßig keinen solchen Fahrlässigkeitsschuldvorwurf machen können. Man könnte in solchen Fällen noch an ein Übernahmeverschulden denken, das heißt an den Vorwurf, dass die beiden jungen Ärzte sich überhaupt auf eine solche Situation eingelassen haben. Ein solcher Vorwurf wäre bei komplexen, bekanntermaßen komplikationsreichen Operationen berechtigt, nicht jedoch bei einem Eingriff, der eher in den Routinebereich fällt. Zudem ist unter den hierarchischen Verhältnissen in Krankenhäusern zu überlegen, ob die Ablehnung der Übernahme der Operation überhaupt durchsetzbar gewesen wäre. – Ist es damit mit der Verantwortlichkeit für die verpfuschte Operation zu Ende? Nun, unter Anwendung der ganz normalen Regeln der objektiven Zurechnung können Sie feststellen, dass diese Situation ohne die entsprechende Anweisung des Chefarztes gar nicht zustande gekommen wäre und folglich fragen, welche Sorgfaltspflichten der Chefarzt bei der Organisation des Eingriffs verletzt hat. Diese Sorgfaltspflichten werden oben in dem Zitat des BGH beschrieben. Die Personaleinteilung zu der Operation war sorgfaltswidrig und es war vorhersehbar, dass unter diesen Umständen Komplikationen auftreten könnten. Man wird also im Ergebnis feststellen können, dass sich der Chefarzt einer fahrlässigen Körperverletzung an dem Patienten strafbar gemacht hat. Einer eigenhändigen Beteiligung an der Operation bedarf es hierzu nicht!

Mangelnde Organisation im Krankenhaus Welche Folgen Desorganisation im Krankenhaus für Patienten haben kann, sehen Sie an den folgenden zwei Fällen, die sich

genauso in Krankenhäusern deutscher Großstädte zugetragen haben: Bei der Einlieferung einer Schwangeren in das Krankenhaus kommt es zunächst zu einer Reihe von Diagnoseversäumnissen, bis schließlich sehr spät erkannt wird, dass ein sofortiger Kaiserschnitt erforderlich ist, um Gehirnschädigungen beim Kind abzuwenden. Die Durchführung dieses Eingriffs verzögert sich um sechs Minuten, da den ärztlichen Mitgliedern des Operationsteams nicht bekannt ist, wo sich der Schlüssel zum Operationssaal befindet. Der Zeitverzug war geeignet, eine Schädigung des Neugeborenen mit herbeizuführen. Das Kind kommt mit nahezu vollständiger Lähmung und schwerster geistiger Behinderung auf die Welt. Nach einer – ordnungsgemäß durchgeführten – Operation verlässt der Chirurg, wie in der Klinik üblich, den Raum. Der Patient liegt auf dem OP-Tisch und ist nicht fixiert. Zuständig für die Überwachung des Aufwachens ist der Anästhesist. Dieser ist von drei Schichten hintereinander (= 24 Stunden Dienst) völlig überarbeitet und übermüdet. Er setzt sich kurz auf einen Stuhl und fällt augenblicklich in einen Sekundenschlaf. Genau in diesem Augenblick bäumt sich der narkotisierte Patient auf, fällt vom Tisch, verletzt sich schwer am Kopf und stirbt an dieser Verletzung. Die Überarbeitung des Anästhesisten war Folge eines chronischen Personalmangels, den er gegenüber seinem Chefarzt mehrfach beklagt hatte. Der Chefarzt hatte daran jedoch nichts geändert. Der Anästhesist hatte häufiger daran gedacht, dass er keine Behandlungen vornehmen sollte, wenn er zu müde war. Dann jedoch wäre der OP-Betrieb zusammengebrochen, weil es keinen Arzt gab, der ihn hätte ersetzen können.

Der erste Fall wirft das Problem des Organisationsverschuldens auf. Dass keinem Mitglied des ärztlichen Teams bekannt war, wo sich die Schlüssel zum OP-Saal befinden, könnte daran liegen, dass es keinen festen Platz für diesen Schlüssel (zum Beispiel in einem Schlüsselsafe in der Nähe des Saals) oder keine bekannte personelle Regelung über die Verwaltung des Schlüssels (zum Beispiel an der Pforte des Krankenhauses) gab. Strafrechtlich stellt sich dann die Frage, in wessen Verantwortung die Organisation einer solchen Organisationsstruktur stand. Sicher wird man davon ausgehen müssen, dass die Aufgabenverteilung in der Klinikleitung festgeschrieben ist und dass es zum Ressort einer Person gehört, für die Zugänglichkeit der OP-Säle zu sorgen. Die »Gewähr einwandfreier Voraussetzungen für eine sachgemäße und gefahrlose Behandlung« gehört zu den Kernpflichten eines Krankenhausbetriebes. In diesem Fall ist diese Pflicht offensichtlich und folgenreich verletzt worden. Der zweite Fall betrifft das Problem, ob personelle Engpässe in einer Klinik die Sorgfalt einschränken können. Es ist offenkundig eine Sorgfaltspflichtverletzung, einen völlig übermüdeten Arzt mit der Aufsicht über einen Patienten in der Aufwachphase zu betrauen. Dem Chefarzt war dieses Problem durch die Klagen des Anästhesisten auch ausdrücklich bekannt und er hat nicht abgeholfen. In der strafrechtlichen Prüfung dieses Falles geht es um die Frage, ob dem Anästhesisten ein Vorwurf aus Übernahmeverschulden gemacht werden konnte. Sie werden zu Recht sagen, dass man als Arzt verpflichtet ist, die Übernahme einer so verantwortungsreichen Tätigkeit abzulehnen, wenn man nicht über die erforderlichen geistigen und körperlichen Kräfte verfügt. Andererseits teilt der Sachverhalt mit, dass es dann zu einem Erliegen des OP-Bereiches überhaupt gekommen wäre. In irgendeiner Weise muss also zum Tragen kommen, dass der Anästhesist nicht aus Nachlässigkeit und Pflichtvergessenheit die gefährliche Situation heraufbeschworen hat. Man wird in solchen Fällen diskutieren müssen, ob Fahrlässigkeitsschuld im Sinne des Anders-handeln-Könnens vorlag.

Gefahrenzone Straßenverkehr Fahrlässige Körperverletzung und Tötung sind im Straßenverkehr alltägliche Delikte, deren Täter aus allen sozialen Schichten stammen. Im Jahr 2021 gab es circa 2770 Unfalltote im Straßenverkehr, in 500 Fällen wurden Verkehrsteilnehmer wegen fahrlässiger Tötung verurteilt; es wurden über 330.000 Unfälle mit Verletzten aufgenommen, die Zahl der Verurteilungen wegen fahrlässiger Körperverletzung belief sich 2021 auf 10.100 Fälle. Diese Diskrepanz beruht darauf, dass der Straßenverkehr schon an sich ein Risiko für Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer darstellt. Die regelgerechte Teilnahme am Straßenverkehr wird bei Unfällen mit Personenschaden als ein Fall des erlaubten Risikos nicht strafrechtlich verfolgt. Ein Verkehrsteilnehmer kann für die Verletzung oder Tötung einer Person nur dann strafrechtlich verantwortlich gemacht werden, wenn die Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens, die Ursächlichkeit und der Pflichtwidrigkeitszusammenhang sowie die subjektive Zurechnung bewiesen werden können. Deswegen gibt es zahlreiche Körperverletzungen und Tötungen im Straßenverkehr, die für die beteiligten Verkehrsteilnehmer strafrechtlich folgenlos bleiben. Es handelt sich dann um ein Unglück, aber kein Unrecht.

Strafbare Gefährdungen Im Tatbestand der Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315 c StGB) hat der Gesetzgeber eine Reihe von Gefährdungen zusammengefasst, die schon dann strafbar sind, wenn sie fahrlässig oder vorsätzlich begangen werden und dabei ein Mensch in konkrete Leibes- oder Lebensgefahr gerät. Wenn die dort benannten Verhaltensweisen vorliegen, dann spricht sehr viel dafür, dass im Falle der tatsächlichen Verletzung oder Tötung eines anderen Verkehrsteilnehmers eine Bestrafung wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung erfolgen wird. Der Straftatbestand des § 315 c StGB lautet:

(1) Wer im Straßenverkehr 1. ein Fahrzeug führt, obwohl er a. infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel oder b. infolge geistiger oder körperlicher Mängel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen, oder 2. grob verkehrswidrig und rücksichtslos a. die Vorfahrt nicht beachtet, b. falsch überholt oder sonst bei Überholvorgängen falsch fährt, c. an Fußgängerüberwegen falsch fährt, d. an unübersichtlichen Stellen, an Straßenkreuzungen, Straßeneinmündungen oder Bahnübergängen zu schnell fährt, e. an unübersichtlichen Stellen nicht die rechte Seite der Fahrbahn einhält, f. auf Autobahnen oder Kraftfahrstraßen wendet, rückwärts oder entgegen der Fahrtrichtung fährt oder dies versucht oder g. haltende oder liegengebliebene Fahrzeuge nicht auf ausreichende Entfernung kenntlich macht, obwohl das zur Sicherung des Verkehrs erforderlich ist, und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Die einzelnen Unterfälle des Tatbestandes spiegeln sich in entsprechenden Regelungen über das Verhalten in der Straßenverkehrsordnung wider; auch wenn die Verkehrsverstöße folgenlos bleiben, sind sie als Ordnungswidrigkeiten mit

Bußgeldern bedroht und können zu zeitigen Fahrverboten oder zur Entziehung der Fahrerlaubnis führen. Für die strafrechtliche Verfolgung von Verhaltensweisen im Straßenverkehr gelten neben den allgemeinen Regeln der Verantwortlichkeit für Fahrlässigkeit einige Besonderheiten.

Der Vertrauensgrundsatz So kommt dem Vertrauensgrundsatz eine besondere Bedeutung im Straßenverkehr zu. Sie dürfen bei Ihrem Verhalten im Straßenverkehr darauf vertrauen, dass sich die anderen Verkehrsteilnehmer an die Verkehrsregeln halten und können nicht für die Verletzung einer Person strafrechtlich verantwortlich gemacht werden, wenn dieses Vertrauen plötzlich durchbrochen wird. Das Umspringen der Ampel auf Grün gibt die Fahrt frei. Sie können darauf vertrauen, dass die Fußgänger das für sie dann geltende rote Signal beachten. Springt ein Fußgänger in diesem Moment auf die Fahrbahn und wird von Ihnen angefahren, dann scheidet grundsätzlich eine Verantwortlichkeit für die Verletzung aus. Anders würde es sich freilich an einer Ampelanlage vor einer Schule zum Schulschluss verhalten, weil Sie sich darauf einrichten müssen, dass Kinder die Ampel häufig nicht beachten.

Der Schutzzweck der Norm Mit Blick auf die erforderliche Verletzung des Schutzzwecks der Norm kommt es nicht darauf an, ob ein Verkehrsteilnehmer irgendwann auf der Fahrt vor dem Eintritt der kritischen Situation eine Geschwindigkeitsüberschreitung begangen hat, sondern ob die Verletzung des Schutzzwecks der Norm für das konkrete Unfallereignis vor Ort des Unfallereignisses wirksam geworden ist.

Wenn festgestellt wird, dass der Verkehrsteilnehmer deswegen zum Zeitpunkt eines Unfalls an diesem Punkt seiner Fahrtstrecke war, weil er irgendwo auf der Strecke die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht eingehalten hatte, dann reicht das nicht für die Zurechnung aus. Geschwindigkeitsbeschränkungen haben nämlich nur den Schutzzweck, Unfallgefahren auf den Streckenabschnitten zu verringern, wo sie angezeigt sind. Wird auf dem konkreten Streckenabschnitt des Unfalls kein Tempolimit verletzt, dann entfällt eine strafrechtliche Verantwortlichkeit.

Strafrechtliche Zuordnung bei Massenkarambolagen Interessante Zurechnungsprobleme ergeben sich bei sogenannten Massenkarambolage-Fällen wie in BGHSt 20, 228:

Am Vormittag des 26. Februar kam es bei starkem Nebel auf der Autobahn Augsburg-München zu einem KettenAuffahrunfall. Ausgelöst wurde dieser Unfall dadurch, dass Herr Kunz, weil er entweder für die Sichtverhältnisse zu schnell oder unaufmerksam gefahren war, mit seinem Citroën auf einen von dem Fahrer Bertram ordnungsmäßig auf der rechten Fahrspur angehaltenen Lastzug auffuhr. Der Citroën stürzte um und blieb auf der Überholspur liegen; Kunz konnte mithilfe von Bertram unverletzt das Fahrzeug verlassen. Kurze Zeit darauf näherte sich auf der Überholspur Herr Abel mit seinem Ford mit einer für die Sichtverhältnisse zu hohen Geschwindigkeit von 75 km/h. Es gelang ihm nicht mehr, rechtzeitig anzuhalten. Der Ford stieß mit einer Fahrgeschwindigkeit von noch etwa 40 km/h auf den Citroën und schleuderte ihn etwa 10 Meter nach vorn. Der Citroën erfasste dabei den etwa 1 Meter vor ihm stehenden Kunz und nach einigen weiteren Metern auch noch den wegeilenden Bertram. Beide wurden verletzt. Unmittelbar nach dem Anstoß des Ford auf den Citroën prallte der nachfolgende, von Herrn Müller gelenkte Opel auf den inzwischen schräg gestellten Ford und schleuderte nach links auf den Grünstreifen. Danach fuhren zahlreiche weitere Fahrzeuge auf zum Teil ordnungsmäßig angehaltene Fahrzeuge auf. Wäre Herr Abel mit einer den Sichtverhältnissen angepassten Geschwindigkeit von nur 62 km/h gefahren, hätte er rechtzeitig anhalten können. Dann wäre allerdings der Opel Rekord des Herrn Müller auf den Ford des Herrn Abel so aufgeprallt, dass dieser gegen den Citroën gestoßen, ihn circa 5 Meter nach vorn geschleudert und Herrn Kunz erfasst und etwa in gleichem Umfang verletzt hätte; Bertram wäre nicht verletzt worden. Uff, werden Sie sagen, wie verwirrend ist dies alles – aber so komplex sind Fälle im Verkehrsstrafrecht häufig. Und wie ist nun die Fallfrage, werden Sie fragen. Die Frage lautet, ob Herr Abel

wegen fahrlässiger Körperverletzung von Herrn Kunz und Herrn Bertram verurteilt werden kann. Hätte sich Herr Abel der Unfallstelle mit einer den Sichtverhältnissen angepassten Geschwindigkeit genähert (das schreibt die StVO vor) und nicht pflichtwidrig gehandelt, hätte er sein Fahrzeug rechtzeitig anhalten können. Damit hätte er zum weiteren Unfallgeschehen keinen Beitrag geleistet. Allein das zeitlich nachfolgende pflichtwidrige Verhalten des Herrn Müller, also eines Dritten, wäre dann für die Körperverletzung der Herren Kunz und Bertram ursächlich gewesen. Dieser Erfolg wäre dann nicht aufgrund desselben, sondern durch ein ganz anderes Unfallgeschehen herbeigeführt worden. Wenn Sie sich an die ganz allgemeinen Ausführungen zur strafrechtlichen Zurechnung erinnern (siehe Kapitel 6), dann können Sie sich aus einer konkreten Verursachung nicht mit dem Argument herausreden, dass es sowieso zu dem Schaden gekommen wäre. Als juristischen Leitsatz drückt dies der BGH (BGHSt 20, 228) wie folgt aus: »Durch ein zeitlich nachfolgendes pflichtwidriges Verhalten eines Dritten, das den Eintritt des vorangegangenen strafrechtlichen Erfolges tatsächlich nicht beeinflusst hat, kann der ursächliche Zusammenhang zwischen der vorausgegangenen Pflichtwidrigkeit und dem bereits eingetretenen Erfolg nicht wieder beseitigt werden. Das versteht sich im Bereich vorsätzlicher Gesetzesverstöße von selbst. Für fahrlässiges Verhalten kann nichts anderes gelten. Wären der Angeklagte und M. mit ihren Fahrzeugen zur gleichen Zeit auf den Citroën aufgeprallt, hätten sie beide – als Nebentäter – die Körperverletzung des Nebenklägers verursacht. Der ursächliche Zusammenhang der Pflichtwidrigkeit eines jeden von ihnen und die Verantwortlichkeit eines jeden für den Verletzungserfolg

wären durch das Verhalten des jeweils anderen nicht in Frage gestellt. Umso weniger können der Ursachenzusammenhang zwischen einer Pflichtwidrigkeit und einem tatsächlich bereits eingetretenen Erfolg und die Verantwortlichkeit hierfür allein deshalb in Zweifel gezogen werden, weil durch ein gedachtes nachfolgendes Geschehen aufgrund der Handlung eines Dritten (möglicherweise) der gleiche Erfolg eingetreten wäre.«

Teil IV

Rechtfertigung/Keine Strafe ohne Schuld



IN DIESEM TEIL … Die Feststellung, dass ein Verhalten den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt, führt nicht zwangsläufig zur Bestrafung des Täters. Es kann sein, dass die Person das Recht dazu hatte, andere und ihre Rechtsgüter zu verletzen. Rechtfertigungsgründe führen zu einem Unrechtsausschluss. Dem zentralen Rechtfertigungsgrund »Notwehr« (§ 32 StGB) liegt zudem ein Rechtsbewährungsgedanke zugrunde – wer Notwehr übt, tritt nicht nur für sein Recht ein, sondern setzt sich auch für den Erhalt der Rechtsordnung ein. Natürlich kann man sich auch bei der Rechtfertigung über alle möglichen Dinge irren: Man kann irrig glauben, dass man angegriffen wird, oder darüber irren, in welchem Umfang man sich verteidigen darf. Die Ebene der Schuld betrifft die Vorwerfbarkeit des tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Verhaltens. Nur wer für sein Verhalten etwas kann, verantwortlich ist, das Unrecht erkannt hat und sich nicht in einer bedrängenden Notstandslage befand, hat sich mit seinem Verhalten schuldig gemacht. Schuld bedeutet, den Vorwurf des Anders-handeln-Könnens und der Entscheidung gegen das Recht zu erheben.

Kapitel 13

Grundgedanken und Konstellationen der Rechtfertigung IN DIESEM KAPITEL Gute Gründe, die Rechte anderer zu verletzen Verschiedene Konstellationen der Rechtfertigung

Auf der Stufe der Tatbestandsmäßigkeit prüfen Sie, ob ein Verhalten den Tatbestand eines Strafgesetzes (objektiver Tatbestand) verletzt hat und ob der Täter im Bewusstsein und mit dem Willen einer solchen Rechtsverletzung (subjektiver Tatbestand) gehandelt hat. Doch damit steht noch nicht fest, dass es sich bei der Tat auch um Unrecht handelt. Die Tatbestandsmäßigkeit indiziert nur die Rechtswidrigkeit des Verhaltens. Dieses vorläufige Urteil kann auf der Ebene der Rechtswidrigkeit korrigiert werden. Wer gerechtfertigt gehandelt hat, befindet sich mit seinem tatbestandlichen Verhalten im Recht. Ich werde Ihnen eine Reihe von Konstellationen vorstellen, in denen Rechtfertigungsgründe einer Feststellung des Unrechts entgegenstehen. Besonders wichtige Rechtfertigungsgründe sind die Notwehr (§ 32 StGB) und der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB). Hier geht es um die Selbstverteidigung und die Verteidigung anderer Menschen gegen Angriffe (Notwehr/Nothilfe) und um Situationen der Bedrängnis, Gefahr und Not (Notstand). Ein Rechtfertigungsgrund kann sich aber auch daraus ergeben, dass

Sie einem anderen Menschen erlaubt haben, Sie zu verletzen. Dies ist das facettenreiche Feld der Einwilligung. Ich werde die drei Bereiche Notwehr, Notstand und Einwilligung anschließend in den Kapiteln 14 bis 16 behandeln.

Grundgedanke der Rechtfertigung In der Wissenschaft wird seit Langem darüber diskutiert, ob es ein gemeinsames Prinzip aller Rechtfertigungsgründe gibt. Überwiegend ist die Auffassung, dass es ein solches Prinzip nicht gibt. Andere meinen, dass hinter allen Rechtfertigungsgründen der Gedanke des überwiegenden Interesses steht. Ich möchte mich der Frage mit einigen Anmerkungen zu Fällen nähern. Die Normen des Strafrechts verfolgen das Ziel, zu einem friedlichen Zusammenleben in wechselseitigem Respekt beizutragen (siehe dazu Kapitel 1). In gewisser Weise handelt es sich beim Strafrecht auch um eine geregelte Form der Notwehr gegen diejenigen Menschen, die den gesellschaftlichen Frieden angreifen. Nach unserem Rechtsverständnis liegen die Berechtigung und die Verantwortlichkeit für diese Verteidigung vorrangig bei den zuständigen staatlichen Organen. Das nennt man Gewaltmonopol des Staates. Es kann aber Situationen geben, in denen Menschen plötzlich und ohne die Möglichkeit, staatliche Hilfe in Anspruch nehmen zu können, mit Angriffen, Gefahren und Notlagen konfrontiert sind. Das Recht kann in solchen Situationen nicht verlangen, dass man untätig zuschaut. Es muss Regeln dafür festlegen, unter welchen Bedingungen man zur Verteidigung von Rechtsgütern die Rechtsgüter anderer Menschen verletzen darf.

Artur hört aus dem Garten seines Nachbarn Fred gellende Kinderschreie. Er läuft zum Zaun und sieht, wie Fred heftig mit einem Spatenstiel auf seinen achtjährigen Sohn Max einschlägt. Laute Stopprufe zeigen keine Wirkung bei Fred. Artur übersteigt den Zaun und stürzt auf Fred zu. Als Fred daraufhin mit dem Spaten nach Artur ausholt, streckt Artur Fred durch einen Tritt in den Unterleib nieder. Sie werden die Einzelheiten zu derartigen Fällen im nächsten Kapitel über die Notwehr kennenlernen. Hier geht es nur um eine Grundstruktur: Es gibt keine allgemeine Regel »Eltern, die ihre Kinder körperlich misshandeln, dürfen von jedem körperlich misshandelt werden«. Es gibt aber andererseits die Regel des § 323 c StGB über die unterlassene Hilfeleistung (siehe Kapitel 8). Diese Regel betrifft aber nur die Bestrafung des Untätigbleibens und enthält keine Rechtfertigung des Vorgehens gegen den misshandelnden Vater. Für gewöhnlich sind staatliche Stellen (Jugendamt, Familiengericht) dafür zuständig, gegen Gewalt in der Erziehung der Kinder einzuschreiten. Im Moment einer solchen Misshandlung sind diese Stellen aber nicht vor Ort und das Kind ist den Schlägen schutzlos ausgeliefert. Der Vater kann sich nicht darauf berufen, es sei alleine seine Angelegenheit, wie er die Erziehung seines Kindes gestaltet, weil die gewaltfreie Erziehung gesetzlich geregelt ist. Unsere Gesellschaft hat sich darauf verständigt, dass die Erziehung von Kindern ohne Gewalt und unter Achtung ihrer körperlichen und seelischen Unversehrtheit erfolgen muss.

In der Regelung des § 1631 Abs. 2 BGB heißt es dazu: (2) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Wenn ein Kind die Kraft und Möglichkeit besitzt, sich selbst gegen eine körperliche Bestrafung zu wehren, ist es dazu berechtigt. Sie können ein Kind aber auch gegen solche Misshandlungen verteidigen. Wenn Sie diese Elemente zusammenfassen, dann kommen Sie nahe an den Grundgedanken von Rechtfertigungsgründen heran: Rechtfertigungsgründe heben die strafrechtlichen Verbote nicht generell auf und schaffen keine Art »AusnahmeRechtsordnung«. Rechtfertigungsgründe machen aber deutlich, dass es Ausnahmesituationen geben kann, in denen man die Rechte anderer Personen verletzen darf. Dies sind Situationen, in denen ein überwiegendes Interesse an dem Schutz eines bedrohten und verletzten Rechtsguts gegenüber der drohenden Verletzung eines anderen Rechtsguts besteht. Etwas anders liegen die Dinge im Falle der rechtfertigenden Einwilligung. Dazu ein Beispielsfall: Lorenz hat sich entschlossen, etwas für seine Fitness zu tun. Angeregt durch einen Fernsehbericht sucht er ein Boxstudio auf. Der Trainer Kurt erklärt ihm, dass zum Trainingsprogramm auch Probekämpfe gehören. Dabei könne es trotz Kopfschutz auch zu schmerzhaften Treffern kommen. Lorenz willigt in das Trainingsprogramm ein. Gleich beim ersten Kampf wird er von Kurt so auf die Nase getroffen, dass er blutet.

Die rechtfertigende Einwilligung beruht auf dem Gedanken der Selbstbestimmung (Autonomieprinzip). Wenn ich die Folgen kenne und sich mein Gegenüber an das Vereinbarte hält, dann kann ich die Geltung von strafrechtlichen Verboten in einer bestimmten Situation ausschließen. Hier erklärt Lorenz durch seine Einwilligung, dass das Verbot der körperlichen Misshandlung und Gesundheitsschädigung für die Probekämpfe nicht gelten soll. Dadurch entlastet er Kurt von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für die Folgen seiner Faustschläge. Wir werden darauf noch später (in Kapitel 17) zurückkommen. Nur so viel noch an dieser Stelle: Sticht Kurt Lorenz mit gestreckten Fingern in die Augen, so liegt dies außerhalb der Vereinbarung. Hier würde also eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung wieder eingreifen.

Rechtfertigungsgründe im BGB In diesem Abschnitt gebe ich Ihnen einen kurzen (und nicht vollständigen) Überblick von Rechtfertigungsgründen, die Sie an verschiedenen Stellen unserer Rechtsordnung finden können. Zunächst möchte ich Ihnen einige Rechtfertigungsgründe vorstellen, die im Bürgerlichen Gesetzbuch zu finden sind.

Notwehr (§ 227 BGB) In § 227 BGB finden Sie eine Vorschrift über die Notwehr, die vollständig mit der strafrechtlichen Notwehrvorschrift des § 32 StGB übereinstimmt. Mehr zu dieser Vorschrift finden Sie in Kapitel 15. Festhalten möchte ich hier nur, dass der Gedanke eines Selbstverteidigungsrechts gegen rechtswidrige Angriffe ein universeller Gedanke ist, den Sie vom Zivilrecht über das Strafrecht bis hin zum Völkerrecht (Recht zur Verteidigung gegen Angriffskriege) finden können.

Defensiver Notstand (§ 228 BGB)

In § 228 BGB ist der defensive Notstand geregelt. Das Gesetz beschreibt diese Situation wie folgt: »Wer eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, um eine durch sie drohende Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht widerrechtlich, wenn die Beschädigung oder die Zerstörung zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist und der Schaden nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht.« Wenn Sie diesen Text entschlüsseln, sehen Sie, dass es nicht um den Angriff eines Menschen, sondern um den bedrohlichen »Angriff« einer Sache geht. Da Hunde zivilrechtlich (mit gewissen Einschränkungen) unter die Sachen gezählt werden, werden hierzu immer launige Fälle mit angriffslustigen Kampfhunden gebildet. Edith geht nichtsahnend durch den Park. Plötzlich rast zähnefletschend ein großer kräftiger Hund auf sie zu. Beherzt greift Edith zu ihrer Pfefferspraydose und setzt den Hund außer Gefecht. Die Verätzungen der Augen und Atemwege kann man als »Beschädigungen« ansehen, die zur »Abwendung der Gefahr erforderlich« sind. Diese Beschädigungen dürfen aber nicht unverhältnismäßig viel größer sein als der Schaden, der durch den Hund droht.

Aggressiver Notstand § (904 BGB) Der aggressive Notstand ist in § 904 BGB geregelt. Diese Situation wird vom Gesetz wie folgt beschrieben: »Der Eigentümer einer Sache ist nicht berechtigt, die Einwirkung eines anderen auf die Sache zu verbieten, wenn die Einwirkung zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr

notwendig und der drohende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung dem Eigentümer entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß ist.« Der Text zäumt die Situation ein wenig von hinten auf, indem von dem Eigentümer einer Sache die Rede ist, der nicht die Einwirkung auf die Sache verbieten darf. Gemeint sind Fälle wie dieser – bleiben wir bei dem Hundefall: Klaus ist im Park unterwegs. Plötzlich rast zähnefletschend ein großer kräftiger Hund auf ihn zu. Klaus hat kein Pfefferspray dabei, ist aber bärenstark. Er reißt einen Papierkorb aus seiner Verankerung und zieht ihn dem Hund über den Schädel. Die Eigentümerin des Papierkorbes (die Stadt) hat in dieser Situation nicht das Recht, Klaus die Zerstörung der Halterung zu verbieten. Das bedeutet umgekehrt, dass die Sachbeschädigung durch Klaus gerechtfertigt ist. Anders als beim defensiven Notstand wird hier also in Rechtsgüter völlig Unbeteiligter eingegriffen, um eine Gefahr abzuwenden.

Allgemeines Selbsthilferecht (§ 229 BGB) Ein sehr grundlegender, aber auch problematischer zivilrechtlicher Rechtfertigungsgrund ist das allgemeine Selbsthilferecht gemäß § 229 BGB zur Sicherung eines zivilrechtlichen Anspruchs. Selbsthilfe hat einen gewissen Klang von »Selbstjustiz« und weckt unangenehme Assoziationen. Nehmen wir einmal an, Sie hätten Mietschulden und plötzliche stünde der Vermieter im Treppenhaus und würde lautstark mit wüsten Drohungen die sofortige Bezahlung von Ihnen verlangen. Der dafür vorgesehene Weg in einer zivilisierten Gesellschaft ist doch eigentlich ein Mahnverfahren, eine Klage, eine Gerichtsverhandlung und wenn

Sie dabei unterliegen und immer noch nicht bezahlen, kommt der Gerichtsvollzieher vorbei. Unter engen Voraussetzungen erlaubt § 229 dem Gläubiger folgendes Vorgehen: »Wer zum Zwecke der Selbsthilfe eine Sache wegnimmt, zerstört oder beschädigt oder wer zum Zwecke der Selbsthilfe einen Verpflichteten, welcher der Flucht verdächtig ist, festnimmt oder den Widerstand des Verpflichteten gegen eine Handlung, die dieser zu dulden verpflichtet ist, beseitigt, handelt nicht widerrechtlich, wenn obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist und ohne sofortiges Eingreifen die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung des Anspruchs vereitelt oder wesentlich erschwert werde.« Der § 229 BGB eröffnet also die Möglichkeit, einen Anspruch gegenüber dem Schuldner mit übergriffigen und handgreiflichen Maßnahmen vorläufig zu sichern. Ich darf einem Schuldner Sachen wegnehmen, ich darf zum Beispiel eine Tür aufbrechen, sein Auto lahmlegen, ja ihn sogar durch Festnahme an der Flucht hindern und körperlich gegen ihn vorgehen, wenn er Widerstand leistet. Das ist an sich bedenklich – in einem Rechtsstaat sind solche Zwangsmittel staatlichen Organen vorbehalten. Deswegen räumt § 229 eine Berechtigung zu solchen Handlungsweisen nur dann ein, wenn eine Eilbedürftigkeit besteht – das heißt, nur dann, wenn ohne sofortiges Eingreifen die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung des Anspruchs vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Das Gesetz drückt dies so aus, dass diese Rechtfertigung nur besteht, wenn Hilfe von staatlicher Seite nicht rechtzeitig erlangt werden kann. Überdies bestimmt § 230 BGB weitere Grenzen der Selbsthilfe.

Rechtfertigungsgründe in der Strafprozessordnung und im Polizeirecht Im Zusammenhang mit der Strafverfolgung und der polizeilichen Gefahrenabwehr kommt es zu vielen Zugriffen auf Menschen, die sich auf der Tatbestandsebene als Körperverletzung, Freiheitsberaubung oder Nötigung darstellen. Manchmal sterben sogar Menschen infolge eines Schusswaffengebrauchs der Polizei. Natürlich wird es jeder Polizeibeamte weit von sich weisen, dass er in seiner Tätigkeit Straftatbestände verwirklicht. Aber alleine die Existenz des Tatbestandes Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) zeigt an, dass eine rechtsverletzende Amtstätigkeit vom Gesetzgeber für möglich gehalten und als schwerwiegendes Unrecht angesehen wird. Wird von einem Betroffenen zur Anzeige gebracht, dass er zum Beispiel schmerzhaft gefesselt wurde oder ohne Grund über Nacht in einer Zelle festgehalten worden ist, dann stellt sich stets die Frage, ob Rechtfertigungsgründe für diese Maßnahmen vorliegen. Wenn nicht, dann sollten disziplinar- und strafrechtliche Maßnahmen gegen die verantwortlichen Beamten eingeleitet werden. Auch dazu kann ich hier nur einen auf Schwerpunkte konzentrierten Überblick geben.

Schusswaffengebrauch Der Einsatz von Schusswaffen im Rahmen der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr ist Gott sei Dank sehr selten. Der Blick in die USA zeigt aber, welche weitreichenden gesellschaftlichen Folgen es haben kann, wenn die Polizei einen verdächtigen Menschen erschießt oder sonst zu Tode bringt. Der (tödliche) Gebrauch von Schusswaffen durch die Polizei ist eine extreme Form von staatlicher Gewaltanwendung. Wegen seiner Gefährlichkeit und Bedenklichkeit ist der Schusswaffengebrauch

strengen rechtlichen Regelungen unterworfen. Da die Bundesrepublik föderal geordnet ist und die Polizei Länderangelegenheit ist, gibt es verschiedene Polizeigesetze in Deutschland. Ich habe deswegen einmal das Gesetz für die Bundespolizei (BPolG) für Sie herausgesucht. Die sehr umfangreichen Regelungen enthalten unter anderem folgende Begrenzungen: Insgesamt unterliegen polizeiliche Maßnahmen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dies bedeutet nach § 15 BPolG: »1. Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen ist diejenige zu treffen, die den einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. 2. Eine Maßnahme darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht.« Der Einsatz von Zwangsmitteln (das betrifft zum Beispiel den Einsatz von Schusswaffen, Schlagstöcken oder Reizgas) wird dann in einem besonderen Gesetz – dem Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt (UZwG) – detailliert geregelt. Es genügt zur Erklärung, wenn ich Ihnen einen der dort genannten Anwendungsfälle für Schusswaffen vorstelle. In § 10 Abs. 1 Nr. 1 UZwG heißt es: Schusswaffen dürfen gegen einzelne Personen nur gebraucht werden, »1. um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer rechtswidrigen Tat zu verhindern, die sich den Umständen nach a) als ein Verbrechen oder

b) als ein Vergehen, das unter Anwendung oder Mitführung von Schusswaffen oder Sprengstoffen begangen werden soll oder ausgeführt wird, darstellt.« Dies bedeutet praktisch, dass Polizeibeamte nicht auf einen unbewaffneten Ladendieb oder auf einen unbewaffneten Hooligan, der gerade einen Fan der gegnerischen Mannschaft verprügelt, schießen dürfen, wohl aber auf einen Hooligan, der mit einer Eisenstange auf den gegnerischen Fan einschlägt, oder einen Tankstellenräuber, der mit vorgehaltener Waffe den Kasseninhalt verlangt. Schusswaffengebrauch bedeutet aber nicht, dass nach Art von Combat-Spielen der Gegner »eliminiert« werden darf. In § 12 UZwG heißt es: 1. Schusswaffen dürfen nur gebraucht werden, wenn andere Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges erfolglos angewendet sind oder offensichtlich keinen Erfolg versprechen. Gegen Personen ist ihr Gebrauch nur zulässig, wenn der Zweck nicht durch Waffenwirkung gegen Sachen erreicht wird. 2. Der Zweck des Schusswaffengebrauchs darf nur sein, angriffs- oder fluchtunfähig zu machen. Und in aller Regel muss der Schusswaffengebrauch angedroht (»Halt, oder ich schieße«) oder durch einen Warnschuss (»in die Luft«) angekündigt werden (§ 13 UZwG).

Notwehrrecht für Polizisten Es ist sehr umstritten, ob sich Polizeibeamte neben den gesetzlichen Regelungen über die Ausübung ihrer Tätigkeit auch auf die allgemeinen für jeden Menschen geltenden Rechtfertigungsgründe berufen können. Konkret bedeutet dies: Hat Polizeikommissar Müller neben den polizeirechtlichen

Regelungen über den Schusswaffengebrauch als Bürger Müller auch ein Notwehrrecht (§ 32 StGB) gegenüber einem Angreifer? Im folgenden Kapitel werden Sie gleich sehen, dass der Rechtfertigungsgrund der Notwehr sehr weit reicht. Bürger Müller kann früher zur Waffe greifen und ist beim Schusswaffengebrauch nicht streng an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Kann es möglich sein, dass Herr Müller in ein und derselben Situation »gespalten« als Polizist und Bürger betrachtet werden muss, und was folgt daraus? Dagegen werden zu Recht von vielen Einwände erhoben.

Festnahme/Verhaftung Die Festnahme einer Person bedeutet, dass sie an einem Ort festgehalten wird, dass sie unter Zwang an einen anderen Ort verbracht werden und dort eingesperrt werden kann, kurz: dass sie sich nicht nach ihrem Willen fortbewegen und ihren Aufenthaltsort bestimmen kann. Damit erfüllt eine Festnahme den Tatbestand der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB). Es ist leider geradezu eine »Standardsituation« unter Diktaturen, dass Menschen einfach so von der Straße weg festgenommen und irgendwohin verschleppt werden. In einem Rechtsstaat darf es keine willkürlichen Festnahmen geben, denn es handelt sich um einen schweren Eingriff in das Kerngrundrecht der persönlichen Freiheit (Art. 2 GG). Im Rahmen der Strafverfolgung dürfen gemäß § 127 StPO Festnahmen nur dann erfolgen, wenn die folgenden drei Bedingungen vorliegen: Festnahmesituation: Eine Person muss auf frischer Tat betroffen oder verfolgt werden. Festnahmegrund: Es besteht der Verdacht, dass die Person fliehen will, beziehungsweise die Person ist schon auf der Flucht und die Person kann nicht sofort identifiziert werden. Festnahmehandlung: Die Person wird festgenommen, um die Strafverfolgung zu ermöglichen.

Dieses Festnahmerecht ist interessanterweise als Jedermannsrecht ausgestaltet. Unter den Voraussetzungen können nicht nur Polizeibeamte, sondern auch zum Beispiel Ladendetektive Personen festhalten. Im Rahmen der polizeilichen Gefahrenabwehr können Personen zum Beispiel dann festgenommen und in Gewahrsam genommen werden (§ 39 BPolG), wenn dies »zum Schutz der Person gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist, insbesondere weil die Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet, oder unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern.« Es ist eine der fundamentalsten Errungenschaften des Rechtsstaats, das niemand einfach so von der Polizei verhaftet und in irgendeiner Zelle festgesetzt werden darf. Vielmehr muss die Polizei unverzüglich eine richterliche Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung herbeiführen (§ 40 BPolG). Bei Strafverfolgungsmaßnahmen muss auf Antrag der Staatsanwaltschaft unverzüglich durch einen Richter entschieden werden, ob die Voraussetzungen für einen Haftbefehl und die Verlegung des Gefangenen vom Polizeigewahrsam in die Untersuchungshaft vorliegen. Dieses Verfahren, das die eingesperrte Person schützt, steht auf dem verfassungsrechtlichen Fundament des Artikels 104 GG. Dort heißt es:

»(2) Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung hat nur der Richter zu entscheiden. Bei jeder nicht auf richterlicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung ist unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen. Die Polizei darf aus eigener Machtvollkommenheit niemanden länger als bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen in eigenem Gewahrsam halten. Das Nähere ist gesetzlich zu regeln. (3) Jeder wegen des Verdachtes einer strafbaren Handlung vorläufig Festgenommene ist spätestens am Tage nach der Festnahme dem Richter vorzuführen, der ihm die Gründe der Festnahme mitzuteilen, ihn zu vernehmen und ihm Gelegenheit zu Einwendungen zu geben hat. Der Richter hat unverzüglich entweder einen mit Gründen versehenen schriftlichen Haftbefehl zu erlassen oder die Freilassung anzuordnen.« Diese Regelungen haben in unserer Rechtsordnung eine derart große Bedeutung und ein derartiges Gewicht, dass die Abläufe nach der Festnahme einer Person in aller Regel so organisiert sind, dass es nicht zu einer fristüberschreitenden rechtswidrigen Freiheitsentziehung kommt. Um einen Fall aufzugreifen, den man manchmal in Fernsehkrimis sieht: Polizeikommissar Müller steht nach seiner Einschätzung kurz vor einem Geständnis des Verdächtigen Kunz. Nur noch eine Nacht muss Kunz in der Zelle »schmoren«, dann ist er »weichgekocht«. Einen Termin vor dem Richter kann Müller »jetzt gerade gar nicht brauchen«. Er verhindert deswegen eine Vorführung beim Richter, obwohl Kunz schon seit 40 Stunden festgenommen ist.

Eine solche Handlungsweise würde nicht nur erhebliche disziplinarrechtliche Konsequenzen für Polizeikommissar Müller haben, sondern es müsste auch ein Strafverfahren wegen Freiheitsberaubung gegen ihn eingeleitet werden.

Eindringen in die Wohnung/Durchsuchung Sie kennen wahrscheinlich diese Szenen aus Kriminalserien: Die Polizei sucht eine Person, eine Tatwaffe, Rauschgift oder die Tatbeute und stürmt eine Wohnung. Wird nicht aufgemacht oder ist niemand da, dann wird die Tür unter lautem Krachen und Splittern aufgebrochen. Durchsuchungen haben manchmal eine Art Verwüstung der Wohnung zur Folge. Betroffene sprechen dann häufig von Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung. In der Tat ist das widerrechtliche Eindringen in eine Wohnung (§ 123 StGB) strafbar und wenn bei einer Durchsuchung Schubladen aufgebrochen werden, dann ist das als Sachbeschädigung (§ 303 StGB) strafbar, wenn es dafür keine Rechtfertigung gibt. Das Bundesverfassungsgericht kritisiert seit vielen Jahren, dass Durchsuchungen unter Verweis auf ihre Eilbedürftigkeit und Gefahr im Verzug viel zu häufig von der Polizei und der Staatsanwaltschaft angeordnet werden und nicht – wie dies Art. 13 GG im Regelfall vorsieht – auf der Grundlage eines richterlichen Durchsuchungsbefehls erfolgen (BVerfGE 103, 142, 149 f.): »Art. 13 Abs. 1 GG bestimmt die Unverletzlichkeit der Wohnung. Damit wird dem Einzelnen im Hinblick auf seine Menschenwürde und im Interesse der freien Entfaltung der Persönlichkeit ein elementarer Lebensraum gewährleistet. In seinen Wohnräumen hat er das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. In diese grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein. Dem Gewicht dieses Eingriffs und der

verfassungsrechtlichen Bedeutung des Schutzes der räumlichen Privatsphäre entspricht es, dass Art. 13 Abs. 2, 1. Halbsatz GG die Anordnung einer Durchsuchung grundsätzlich dem Richter vorbehält.« Schon aus der voreiligen und falschen Annahme von Gefahr im Verzug und erst recht aus der bewussten Vernachlässigung der Pflicht, einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss einzuholen, kann also folgen, dass eine Hausdurchsuchung den Tatbestand des Hausfriedensbruchs erfüllt. Für den Regelfall einer Durchsuchung auf Grundlage eines richterlichen Durchsuchungsbeschlusses gilt: Aus dem Durchsuchungsbeschluss muss hervorgehen, um welche Straftat und welchen Sachverhalt es eigentlich geht. Es muss deutlich werden, aus welchen Gründen gegen den Beschuldigten ein Anfangsverdacht besteht. Durchsuchungen »ins Blaue hinein« sind unzulässig. Der Beschluss muss angeben, welche Räume durchsucht und wonach gesucht werden soll. Die Durchführung der Durchsuchung muss in angemessenem Verhältnis zur Schwere der Tat und der Stärke des Tatverdachts stehen. Werden diese Voraussetzungen beachtet, dann kann es bei dem Verdacht einer schweren Straftat auch in Betracht kommen, sich mit Gewalt Zutritt zu einer Wohnung zu verschaffen. Die Suche nach einer bei einem Tötungsdelikt verwendeten Waffe kann dann durchaus in die Richtung verlaufen, dass die Wohnung »auf den Kopf gestellt« wird.

Das elterliche »Züchtigungsrecht als Rechtfertigungsgrund«

Vielleicht halten Sie dieses Thema für antiquiert. Es gilt ja als eine wesentliche Errungenschaft moderner aufgeklärter Gesellschaften, dass Gewalt in der Erziehung geächtet ist. Der Gesetzgeber hat dies ausdrücklich im Familienrecht festgelegt. So bestimmt § 1631 Abs. 2 BGB: »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.« Kann daraus im Sinne der Einheit der Rechtsordnung geschlossen werden, dass jedes Verhalten eines Elternteils, das in der Erziehung mit Gewalt und Entwürdigung vorgeht, möglicherweise zugleich strafbar ist? Ist also das Einsperren eines Kindes Freiheitsberaubung, eine schallende Ohrfeige eine Körperverletzung und die Beschimpfung des Kindes eine strafbare Beleidigung? Rechtfertigen also »erzieherische« Ziele niemals ein Verhalten gegenüber dem Kind, das dessen Rechte verletzt? Im Strafrechtslehrbuch von Wessels/Beulke/Satzger wird die geltende Rechtslage anerkannt und richtig darauf hingewiesen, dass die herrschende Meinung jede körperliche Züchtigung für unzulässig und damit für eine strafbare Körperverletzung (§ 223 StGB) hält. Freilich hält der Kollege bei »hinreichendem Züchtigungsanlass« verhältnismäßige Züchtigungen für zulässig. Nur »quälerische, gesundheitsschädliche, unnötige, demütigende oder das Anstandsgefühl gröblich verletzende« Züchtigungen sollen immer unzulässig sein Diese Auffassung teile ich nicht. Im Verhältnis zu den sowieso in ihrer Macht und Kraft regelmäßig unterlegenen Kindern kann es keine verhältnismäßige Ausübung von Gewalt in der Erziehung geben. Es ist ein erzieherisches Armutszeugnis, das zu Recht auch zum Eingreifen des Jugendamts führen kann, wenn Eltern nicht in der Lage sind, ihre Vorstellungen über richtiges Verhalten im Gespräch zu vermitteln, sondern mit Gewalt durchsetzen. Es

kann mittlerweile als eine gesicherte Erkenntnis der Entwicklungspsychologie gelten, dass Gewalterfahrungen mit den Erziehungspersonen für Kinder lebenslange psychische Folgen haben können. Zudem setzt sich über das Lernen am Modell die eigene Misshandlung in der späteren Misshandlung der eigenen Kinder fort. Der Gesetzgeber hatte also gute Gründe dafür, durch § 1623 Abs. 2 BGB Gewalt in der Erziehung ausnahmslos zu verbieten. Anders verhält es sich bei folgendem Fall: Carlo ist ein sehr schwieriger und unzugänglicher 16jähriger junger Mann, der sich von seiner alleinerziehenden Mutter Birgit nichts sagen und verbieten lässt. Birgit ist der Meinung, dass Carlo unter der Woche nicht mehr nach 22 Uhr ausgehen sollte. Als Carlo am Mittwochabend kurz vor 22 Uhr aufbrechen will, versperrt Birgit ihm die Tür. Carlo packt seine Mutter an den Schultern, schüttelt sie und schubst sie zur Seite. In diesem Moment gibt Birgit Carlo eine Ohrfeige. Dieser Fall gehört – wie Sie gleich sehen werden – in den Bereich der Notwehr (§ 32 StGB). Eltern müssen sich von ihren Kindern nicht tatenlos körperlich angreifen lassen. Es gibt zwar in nahen persönlichen Verhältnissen Einschränkungen für die Ausübung des Notwehrrechts, dies ändert aber nichts daran, dass sich Birgit gegenüber Carlo in einer Notwehrlage befindet und das Recht zur Selbstverteidigung hat. Es geht hier also nicht um eine Züchtigung aus der Position der Übermacht.

Kapitel 14

Voraussetzungen und Grenzen der Notwehr (§ 32 StGB) IN DIESEM KAPITEL Voraussetzungen einer Notwehrlage Zulässige Verteidigungsmittel Einschränkungen der Notwehr Überschreitung der Notwehr

Die Notwehr ist ein fundamentaler Rechtfertigungsgrund: Wenn Sie rechtswidrig angegriffen werden, dann haben Sie das Recht zur Selbstverteidigung. Dieser Rechtfertigungsgrund berechtigt Sie unter Umständen sogar zur Tötung des Angreifers. Weil die Notwehr eine Durchbrechung des staatlichen Gewaltmonopols ist, kann sie nicht als der Regelfall der Austragung von Konflikten angesehen werden. Das würde im Extrem zu einem »Krieg aller gegen alle« führen. Die Notwehr muss an Voraussetzungen gebunden sein und ihr müssen Grenzen gezogen werden. Wichtig ist hier noch der Hinweis, dass Sie auch einen anderen verteidigen können – dies nennt man Nothilfe. Im Zusammenhang mit Notwehr und auch Nothilfe stellt sich eine ganze Reihe von Fragen, die ich in diesem Kapitel beantworten werde: Bei welcher Art von Konflikten und an welchem Punkt einer Konfrontation kann überhaupt von Selbstverteidigung gesprochen werden?

Was sind die Voraussetzungen der Notwehrlage? Mit welchen Mitteln und welcher Härte dürfen Sie sich gegen einen rechtswidrigen Angriff verteidigen? Unter welchen besonderen Umständen kann die Selbstverteidigung beschränkt sein?

Die Notwehrlage Das Gesetz bezeichnet in § 32 Abs. 2 StGB die Notwehr als »erforderliche Verteidigung« gegen einen »gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff«.

Attacke: der rechtswidrige Angriff Ein Angriff ist laut Strafgesetzbuch eine unmittelbare Bedrohung rechtlich geschützter Güter oder Interessen durch menschliches Verhalten. Ein Angriff kann durch aktives Handeln, aber auch durch Unterlassen erfolgen (wenn eine Rechtspflicht zum Tun besteht – siehe Kapitel 8). Notwehrfähig sind jedenfalls alle Individualrechtsgüter des Betroffenen oder eines Dritten (bei der Nothilfe): So kann das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum, die Ehre, das Hausrecht, die Privatsphäre und so weiter verteidigt werden. Prominente werden oft von Paparazzi verfolgt, die (bloßstellende) Fotos aus ihrem Privatbereich machen möchten. Johnny sitzt mit Christine auf einer Parkbank und knutscht. Aus dem gegenüberliegenden Gebüsch hört er den Auslöser einer Kamera. Er stürzt in den Busch und bekommt den Fotografen Tom zu fassen. In einer Art Ringkampf verschafft sich Johnny die Kamera und löscht den Speicher. Das Recht am eigenen Bild und der Schutz vor bloßstellenden Aufnahmen sind als Ausprägung des Persönlichkeitsrechts

Rechte der betroffenen Person, die sie gegebenenfalls im Wege der Selbstverteidigung gegenüber dem Fotografen als Angreifer durchsetzen darf. Eindeutig ist auch der Fall, wenn sich Robin an das knutschende Paar anschleicht, um Christine ihre ChanelHandtasche zu stehlen. Bemerkt Johnny dies und schlägt Robin in dem Moment nieder, als er mit der Tasche davonlaufen will, verteidigt er im Wege der Nothilfe das Eigentum von Christine. In beiden Beispielsfällen ist Johnny in dem Moment aktiv geworden, als die Tat geschah. Sie werden zu Recht kein Problem bei dem Merkmal »gegenwärtig« erkennen können. Die juristische Definition des Merkmals macht die Dinge komplizierter: Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn er unmittelbar bevorsteht, bereits stattfindet oder noch fortdauert. Hieraus können sich erhebliche Schwierigkeiten für die genaue Bestimmung des Zeitkorridors einer Notwehrlage ergeben. Wann genau beginnt das Recht zur Notwehr und wann ist dieses Recht beendet?

Ab wann? Beginn der Notwehrlage Einigkeit besteht darüber, dass § 32 StGB nicht die Präventivnotwehr abdeckt. Das Notwehrrecht entsteht erst dann, wenn die nächste zu erwartende Handlung des Angreifers dessen tatsächliche Angriffshandlung bildet. Gewissermaßen müssen Sie in einer brenzligen Situation mit Ihrer Notwehr so lange zuwarten, bis es tatsächlich kritisch wird. Sie dürfen nicht nach dem Motto »Angriff ist die beste Verteidigung« vorgehen.

Harry ist bisher bei jeder Begegnung mit HSV-Fans angepöbelt und geschubst worden. Auf dem Weg ins Weserstadion kommen ihm fünf HSV-Fans entgegen. Um sofort klarzustellen, dass er Respekt verdient, haut er einem der Fans die Faust ins Gesicht und verkündet: »Diesmal fasst ihr mich nicht an.« Dies ist der Versuch, von einer möglichen, aber noch nicht einmal im Ansatz erkennbaren Rechtsverletzung abzuschrecken, und nicht die Verteidigung gegen eine akute Bedrohung oder eine bereits erfolgte Rechtsverletzung. Schwieriger wird es aber schon in folgendem Fall (nach BGH NJW 1973, 255): Anton droht Bert bei einem Streit an, dass er ihn erschießen werde, wenn er ihn weiter reize. Als Anton im Laufe der Auseinandersetzung dann in seine Jackettasche greift, vermutet Bert einen Griff zur Waffe. Er zieht seine Waffe und gibt einen tödlichen Schuss auf Anton ab. Ist dies nun eine präventive Erschießung von Anton durch Bert? Eine Situation wie in einem Western, wo nur der überlebt, der schneller zieht? Ab wann lässt sich der Angriff sicher als gegenwärtig bewerten? Erst wenn Anton seine Hand schon an der Waffe oder gar den Finger am Abzug gehabt hätte? Der BGH hat in diesem Fall das Notwehrrecht bejaht. Das bloße Mit-sich-Führen einer Waffe stellt noch keinen Angriff dar. Wenn die nächste zu erwartende Handlung des Kontrahenten jedoch eine Angriffshandlung ist, dann steht der Angriff unmittelbar bevor und ist damit schon gegenwärtig. Anton hätte jedoch Bert nicht »vorbeugend« erschießen dürfen, um ihn überhaupt am Griff zur Waffe zu hindern. Er durfte aber schon angesichts des Griffs in die Jackentasche schießen.

Bis wann? Ende der Notwehrlage Am Endpunkt der Notwehrlage ist darauf zu achten, dass gegen einen bereits vollständig durchgeführten und abgeschlossenen Angriff keine Notwehr mehr geübt werden darf. Würde man hier keine Grenze ziehen, dann hätte dies zur Konsequenz, dass private Vergeltung und Racheakte durch § 32 StGB gerechtfertigt würden. Doch wie bestimmen Sie diesen Endpunkt? Jedenfalls von einer Rechtfertigung durch § 32 StGB ausgeschlossen sind solche Handlungen, die nicht mehr in einem räumlich-zeitlichen Zusammenhang mit der Auseinandersetzung stehen und sich als neue Konfrontation zwischen Täter und Opfer darstellen. Anton schlägt Bert nieder und lässt ihn liegen. Anton geht nach Hause. Als Bert sich nach circa 30 Minuten von den Wirkungen des Schlages erholt hat, nimmt er all seinen Mut und all seine Kraft zusammen. Er fährt zur Wohnung von Anton und klingelt an der Tür. Als Anton die Tür öffnet, schlägt ihm Bert mit voller Wucht ins Gesicht. Dies ist offenkundig keine Notwehr, sondern eine Art Selbstjustiz oder Racheakt. Bert kann sich auch nicht darauf berufen, er sei für die Verteidigung der Rechtsordnung eingetreten, indem er Anton deutlich gemacht habe, dass Angriffe nicht folgenlos bleiben. Hier hat das Gewaltmonopol des Staates Vorrang. Bert hätte also die Polizei herbeirufen müssen und seine Geschädigteninteressen auf dem Rechtsweg verfolgen können. Eine praktisch bedeutsame Konstellation ist die Verfolgung des fliehenden Diebes. Hierfür müssen Sie über den Diebstahl wissen, dass man zwischen der Vollendung der Tat und der Beendigung der Tat unterscheidet. Vollendet ist ein Diebstahl, wenn die Sache erfolgreich weggenommen wurde, die Beendigung liegt vor, wenn der Dieb die Sache sicher in seinem Gewahrsam hat.

Sven hat eine Flasche Gin in seine Manteltasche gesteckt und verlässt gerade damit den Laden, als er dem Besitzer Schulz auffällt. Das Notwehrrecht erlaubt es Herrn Schulz, Sven die Flasche auch unter dem Einsatz von Gewalt wieder abzunehmen. Herr Schulz läuft Sven hinterher, Sven beginnt zu rennen. Wie lange ist nun bei der Verfolgung von Sven durch Herrn Schulz noch das Notwehrrecht aktiv? Solange Sven in Sichtweite ist oder auch nach einer langen Verfolgungsjagd, wenn Herr Schulz Sven aus den Augen verloren und plötzlich nach einer Viertelstunde wieder trifft? Dafür gibt es eine Reihe von Vorschlägen, die mit Begriffen wie »solange die Tat frisch ist«, »im Rahmen der Nacheile« oder eben »bis zur Beendigung« arbeiten. Entscheidend scheint mir zu sein, dass Notwehr eine Konfrontationssituation beschreibt oder – anders ausgedrückt – ein szenisches Geschehen. Wenn es in diesem Geschehen einen »Schnitt« gibt, dann ist die Notwehrsituation zu Ende.

Wie lange? Dauerangriff Ob ein Angriff abgeschlossen ist oder nicht, spielt auch eine wichtige Rolle beim Dauerangriff. Bert ist von Anton entführt worden und wird von ihm in seinem Keller seit zwei Tagen gefangen gehalten. Am dritten Tag stürzt sich Bert auf Anton, als ihm dieser Essen und Getränke bringt. Er kann Anton bewusstlos schlagen und sich so aus seinem Kellergefängnis befreien. Hier ist der Angriff auf Bert nicht damit abgeschlossen, dass ihn Anton verschleppt und eingesperrt hat. Die Einsperrung ist ein dauernder Angriff auf die persönliche Freiheit von Bert. Natürlich kann er jeden Augenblick seiner Einsperrung nutzen, um Anton auszuschalten und seine Freiheit wiederzuerlangen.

Rechtswidrigkeit des Angriffs Hierfür gilt folgende Definition: Ein Angriff ist dann rechtswidrig, wenn er objektiv die Rechtsordnung verletzt. Auf die Vorsätzlichkeit oder Fahrlässigkeit des Angriffs kommt es nicht an, der Angriff braucht auch nicht schuldhaft zu sein. Bei Angriffen Schuldloser ergeben sich jedoch – wie gleich zu erörtern sein wird – Einschränkungen des Notwehrrechts. Es gilt das Prinzip »Keine Notwehr gegen Notwehr«. Wenn Sie von einer Person angegriffen werden und sich dagegen zur Wehr setzen, dann ist dies bei einer Betrachtung ohne die Vorgeschichte auch ein Angriff. Der Schlag, den Sie gegen den Angreifer führen (und durch den der Angreifer möglicherweise verletzt wird), ist aber kein rechtswidriger, sondern ein durch § 32 StGB gerechtfertigter Angriff. Also muss der nun attackierte Angreifer Ihre Verteidigung dulden und kann nicht unter Hinweis auf Ihren Verteidigungsschlag wiederum zur Verteidigung zurückschlagen. Dies würde in einem unauflösbaren Zirkel enden.

Zulässige Verteidigungshandlungen Das Gesetz beschreibt die Notwehrhandlung in § 32 Abs. 2 StGB schlicht als Verteidigung und fügt dem noch hinzu, dass es sich um die erforderliche Verteidigung handeln muss.

Verteidigung: Schutz und Trutz Verteidigung bezeichnet sprachlich und bildet in der praktischen Interaktion die Reaktion auf einen Angriff. Das hat zur Folge: 1. Die Art der Verteidigung leitet sich aus dem Angriff ab.

2. Das Maß der Verteidigung ergibt sich aus dem Ausmaß des Angriffs. Wenn Ihnen eine körperlich mächtige und starke Person als Angreifer mit einer Holzlatte gegenübertritt, ist es keine effektive Verteidigung, mit einem Holzlöffel nach dem Angreifer zu schlagen. Wenn diese Person mit der Holzlatte auf Ihren Kopf schlägt, macht es sicher Sinn, nach einer herumliegenden Axt zu greifen. Rechtlich werden zwei Formen der Verteidigung anerkannt: 1. die Schutzwehr und 2. die Trutzwehr Bei der reinen Schutzwehr, etwa in Form des Parierens eines Schlages, verhält sich der Angegriffene defensiv. Seine Abwehrmaßnahmen sind nicht darauf gerichtet, den Angreifer im »Gegenschlag« außer Gefecht zu setzen, sondern zielen auf einen möglichst effektiven Selbstschutz. Natürlich kann es auch bei dieser Verteidigungsart zu Verletzungen des Angreifers kommen. Anerkannt ist aber auch die Trutzwehr, bei der der Angegriffene nicht nur passiv reagiert, sondern selbst aktiv Gegenmaßnahmen in Form eines Gegenangriffs ergreift. Dies spielt beim Einsatz von Waffen, insbesondere Schusswaffen zur Selbstverteidigung, eine große Rolle (siehe gleich).

Erforderliche Verteidigung Doch welche Verteidigung ist laut Gesetz »erforderlich«? Das erforderliche Verteidigungsmittel ist nach den Regeln über die Grenzen der Verteidigung das relativ mildeste unter mehreren gleich geeigneten Mitteln zur Abwehr des Angriffs.

Diese Formel darf Sie nicht zu der Annahme führen, dass der Angegriffene nun in möglichst schonender Weise mit dem Angreifer umgehen müsste. Dazu müssen Sie eine weitere Regel der Notwehrdogmatik kennen lernen: das relativ mildeste Mittel. Das relativ mildeste Mittel ist dasjenige, das den Angriff sofort und endgültig zum Stehen bringen kann, aber unter mehreren Abwehrmöglichkeiten grundsätzlich das minder einschneidende bildet. Damit relativiert sich schon deutlich die Einschränkung auf milde Mittel, denn der Angegriffene darf immer zu Mitteln greifen, die den Angriff »sofort und endgültig zum Stehen bringen«. Zudem hat der BGH richtigerweise darauf hingewiesen, dass Notwehrsituationen häufig so dramatisch sind, dass die Zeit für die Auswahl von Verteidigungsmitteln und die Einschätzung der Gefährlichkeit gar nicht zur Verfügung steht.

Max und die Pflastersteine (nach BGH NJW 1986, 2716) Hinter Max läuft eine Gruppe von Jugendlichen her. Als Max zu Hause ankommt und die Haustür aufschließt, dreht er sich noch einmal nach der Gruppe um. Dies löst Pöbeleien aus. Einer der Jugendlichen sagt schließlich: »Was willst du? Willst du ein paar in die Schnauze haben?« Daraufhin zieht Max eine Waffe und hält sie den Jugendlichen entgegen. Die Jugendlichen greifen jetzt nach herumliegenden Pflastersteinen und belegen Max mit einem Steinhagel. Max steht zu diesem Zeitpunkt in etwa vier Meter Entfernung mit dem Rücken zur Hauswand im Hauseingang und kann von den Jugendlichen nicht verfehlt werden. Ein Stein trifft Max am Bein, ein zweiter am Rücken. Einem weiteren Stein, der auf seinen Kopf zufliegt, kann Max gerade noch ausweichen. In dieser Lage sieht Max keinen anderen Ausweg mehr, als die Pistole zu entsichern, den Hahn vorzuspannen und abzudrücken. Der Schuss trifft einen der Jugendlichen in den Wirbelkanal und führte zu einer Querschnittslähmung. Der BGH hat zur Bewertung dieses Falls unter anderem Folgendes ausgeführt:

»Dem Angeklagten ist aus der Tatsache, dass er auf dem Eingangspodest stehen blieb und die vier Jugendlichen beobachtete, kein Vorwurf zu machen. Dazu war er berechtigt … Vielmehr begingen die vier Jugendlichen mit ihrem anschließenden Verhalten einen Nötigungsversuch. Sie drohten dem Angeklagten Schläge an für den Fall, dass er nicht weggehe oder wegschaue. Der Angeklagte brauchte diesem Ansinnen nicht zu entsprechen. Es berechtigte ihn zu einer Warnung. Wenn er damit keinen Erfolg hatte, durfte er gegenüber dem Angriff zu einer wirksameren Abwehrmaßnahme übergehen. Das Ziehen der Pistole bedeutete objektiv die Ankündigung, er werde (lediglich) im Fall eines tätlichen Angriffs schießen … Die Intensität der Drohung ist hier nicht zu beanstanden. Die Gegner waren zwar unbewaffnet, jedoch auf Grund ihrer Anzahl dem Angeklagten ersichtlich so überlegen, dass er sich nicht auf ein Kräftemessen einzulassen brauchte, sondern Waffengebrauch androhen durfte. Hierzu durfte er die Pistole, die ihm als einziges Abwehrmittel zur Verfügung stand, ebenso benutzen, wie er z. B. eine Gas- oder Schreckschusspistole, ein Messer oder ein Beil, hätte er einen solchen Gegenstand bei sich gehabt, als Drohmittel hätte vorzeigen dürfen. Die Warnung des Angeklagten beantworteten die vier Jugendlichen in der Weise, dass sie Steine aufnahmen und damit zum tätlichen Angriff übergingen … Gegenüber dem darauf einsetzenden lebensgefährlichen Steinhagel war die Schussabgabe die einzige wirksame Verteidigungsmöglichkeit. Damit war diese Notwehrhandlung gerechtfertigt. Sie war dem Angeklagten nicht deswegen versagt, weil er zuvor die Abgabe eines Warnschusses unterlassen hatte, gleichgültig ob dies darauf beruhte, dass er die Gefahr unterschätzte, sich nicht rasch genug entschließen konnte oder sich von einer solchen zusätzlichen Warnung keinen Erfolg versprach. Dem Angeklagten kann auch kein Vorwurf daraus gemacht werden, dass er im Steinhagel ungezielt schoss.« Ein weiterer interessanter Aspekt des Falls ist, dass Max illegal im Besitz der von ihm verwendeten Schusswaffe war. Sie könnten vielleicht der Meinung sein, dass der illegale Waffenbesitz das Recht aufhebt, mit der Waffe Notwehr zu üben. Das ist nicht der Fall. Der BGH führt hierzu aus: »Der Angeklagte war an der Verwendung der Pistole zum Zwecke der Verteidigung nicht deswegen gehindert, weil er sie unerlaubt mit sich führte. Wer schuldlos in eine Notwehrlage geraten ist, darf eine Schusswaffe, die zu führen er nicht berechtigt ist, gegen den Angreifer

richten, wenn ihm kein anderes zur Abwehr des Angriffs geeignetes Mittel zur Verfügung steht.« Das Argument hierfür ist sehr überzeugend. Nehmen Sie einmal an, Sie werden von einem Angreifer mit einer Schusswaffe bedroht. Es gelingt Ihnen, die Waffe dem Angreifer zu entwinden. Sie befinden sich nun waffenrechtlich betrachtet im unbefugten Besitz einer Waffe. Dies kann aber doch nicht für die Kampflage bedeuten, dass Sie nunmehr keine Verwendung von dieser Waffe machen dürfen.

Verteidigung mit Waffen Beim Einsatz lebensgefährlicher Mittel – das sind meist Schusswaffen, Jagdmesser oder Ähnliches – kommt dem Erfordernis des mildesten Mittels besondere Bedeutung zu. Klar ist, dass sich mit einem gezielten Schuss oder Stich jeder Angriff sofort stoppen lässt. Ein finaler Todesschuss ist jedoch nur als letztes Mittel zulässig. Handelt es sich nicht um einen plötzlichen überfallartigen Angriff oder den Angriff einer Übermacht, gilt für den Waffengebrauch das Gebot der stufenweisen Anwendung. Demzufolge muss der Angegriffene den Gebrauch der Waffe durch eine Ansage oder das Vorzeigen zunächst androhen, bei Schusswaffen einen Warnschuss abgeben. Wenn es die Kampflage zulässt, muss er zunächst einen Schuss auf Beine oder Arme richten, bevor er einen möglicherweise lebensgefährlichen Schuss auf Rumpf oder Kopf abgeben darf. Dies ist freilich nur eine Faustformel; bei entsprechender Kampflage kann es auch gerechtfertigt sein, sofort auf den Körper zu schießen.

Sie liegen richtig in der Einschätzung, dass die Rechtsprechung das Notwehrrecht und die zulässigen Verteidigungsmittel sehr weit und schneidig interpretiert. Grundsätzlich ist eine angegriffene Person, wenn sie sich an den Zeitkorridor der Notwehrlage hält und sich mit den hierfür erforderlichen und angemessenen (das heißt effektiven) Mitteln verteidigt, nach § 32 StGB gerechtfertigt. Freilich enthält § 32 Abs. 1 den Hinweis, dass nur die gebotene Notwehr zu einer Rechtfertigung führt.

(Sozialethische) Einschränkungen des Notwehrrechts In bestimmten Konstellationen kann es moralisch schwer erträglich erscheinen, wenn trotz einer bestehenden Notwehrlage und trotz der sehr weitreichenden Befugnisse bei der Verteidigung gegen einen Angreifer mit ganzer Härte vorgegangen wird. Die Schärfe des Notwehrrechts muss in Konstellationen entschärft werden, in denen die Ausübung des Notwehrrechts als ein Rechtsmissbrauch, als eine Pervertierung des guten Rechts zur Selbstverteidigung angesehen werden könnte. Diese Einschränkungen knüpfen an der Formulierung im Gesetz an, dass die Notwehr geboten sein muss (§ 32 Abs. 1 StGB). In der Wissenschaft und der Rechtsprechung sind sich die meisten einig, dass eine Einschränkung des Notwehrrechts in folgenden Konstellationen vorliegt: bei Bagatellangriffen bei der Absichtsprovokation bei dem schuldhaften Sich-hinein-Begeben in eine Notwehrlage bei Angriffen schuldloser Personen innerhalb von Garantieverhältnissen

Verteidigung gegen Bagatellangriffe Rechtsmissbräuchlich und damit nicht geboten ist eine Verteidigung, die einem Bagatellangriff mit überzogenen, ja sogar tödlich wirkenden Mitteln begegnet, wenn also ein krasses Missverhältnis der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter besteht. Wenn man der Notwehr neben dem Gedanken der

Selbstverteidigung auch den Gedanken der Verteidigung der Rechtsordnung unterlegt, dann kann es nicht im Sinne der Rechtsordnung sein, dass blindwütig und ohne Sinn für die Angemessenheit gegen Angreifer vorgegangen wird. Das gilt insbesondere dann, wenn für den Schutz des Eigentums ein Leben geopfert wird. In einem klassischen Fall hält Bauer Schulz während der Nacht in einer Hütte bei seinen Obstbäumen Wache, um Obstdiebe zu erwischen. Schulz ist dafür mit einem Schrotgewehr ausgerüstet. Am frühen Morgen bemerkt Schulz, dass zwei Männer in einem Baum herumklettern und Äpfel pflücken. Auf seinen Ruf hin ergreifen die beiden Männer mit ein paar Äpfeln die Flucht und leisten der Aufforderung, stehen zu bleiben, keine Folge. Schulz schießt auf die fliehenden Apfeldiebe mit seiner Schrotflinte, trifft einen von ihnen und verletzt ihn schwer. Lassen Sie uns den Fall analysieren: Das Pflücken fremder Äpfel erfüllt den Tatbestand des Diebstahls (§ 242 StGB). Es liegt ein rechtswidriger Angriff auf das Eigentum von Bauer Schulz vor. Dieser Angriff ist gegenwärtig, denn die Obstdiebe sind im Begriff davonzulaufen. Schulz ist berechtigt, sein Eigentum an den Äpfeln zu verteidigen, indem er die Diebe aufhält. Es wird aber wegen des Apfeldiebstahls nicht zu einer Strafverfolgung kommen. Das Verfahren würde wegen Geringfügigkeit eingestellt. Dies ist auch ein Indikator dafür, dass die Rechtsordnung eine derart krasse Verteidigung geringfügiger Werte nicht anerkennt. Unter diesen Bedingungen stünde es in einem unerträglichen Verhältnis zum Gerechtigkeitsempfinden, wenn man Bauer Schulz

das Recht zugestehen würde, einen fliehenden Apfeldieb niederzuschießen.

Unter dem Deckmantel der Notwehr: Absichtsprovokation Bei den Fällen der Absichtsprovokation tritt der Rechtsmissbrauch noch deutlicher zu Tage, weil der Verteidiger unter dem Deckmantel der Notwehr einen bösen Plan verfolgt. Klaus beabsichtigt, Manfred Verletzungen mit einem Messer beizufügen. Klaus will jedoch keine strafrechtlichen Konsequenzen für sein Verhalten davontragen. Er weiß, dass Manfred leicht zu reizen ist, wenn es um »seinen« Fußballverein geht. Also setzt Klaus zu unglaublichen Hassreden auf Manfreds Verein an, um ihn zu einem Angriff zu provozieren. Als Manfred mit den Worten »Halt endlich das Maul« wutschnaubend auf Klaus zustürzt, zieht dieser sein Messer und sticht mehrmals zu. Manfred überlebt schwer verletzt. Wenn Sie sich die Schilderung vor Augen führen, dann muss Klaus im nächsten Augenblick mit einem körperlichen Angriff von Manfred rechnen. Äußerlich betrachtet reagiert Klaus auf einen gegenwärtigen Angriff. Freilich ist dieser »Angriff« ebenso die folgende »Verteidigung« Teil des Plans von Klaus, Manfred ungeschoren niederstechen zu können. Dieser Fall wird in der Wissenschaft zum Teil unglaublich kompliziert gelöst. Klar ist jedoch, dass derjenige, der eine Situation absichtlich und ausschließlich zum Zweck der Schädigung eines anderen manipuliert, nicht ein zur Verteidigung berechtigtes Opfer, sondern Täter ist. Indes kann eine solche Situation natürlich eskalieren. Die provozierte Person kann so außer Rand und Band geraten, dass sie sich mit unerwarteter Intensität auf den Provokateur stürzt.

Als Klaus den Mittelstürmer von Manfreds Verein als »lausigen Fußballer, der nur ans F… denkt,« bezeichnet, brennen bei Manfred die Sicherungen durch. Manfred ergreift eine zufällig herumliegende Axt und stürzt damit bewaffnet auf Klaus zu. In diesen Konstellationen zeichnet sich in der Rechtsprechung die Tendenz ab, Absichtsprovokationsfälle nach der sogenannten 3Stufen-Formel zu lösen. 1. Rückzug/Ausweichen: Zunächst muss der angegriffene Provokateur versuchen auszuweichen. 2. Schutzwehr: Falls ihm ein Ausweichen nicht möglich ist oder der Angriff trotzdem fortgesetzt wird, darf sich der Provokateur zunächst nur defensiv zur Wehr setzen. 3. Trutzwehr: Wird auch hierdurch der Angriff nicht beendet, ist der Provokateur berechtigt, sich aktiv zur Wehr zu setzen.

Schuldhaftes Sich-hinein-Begeben in eine Notwehrlage Neben den Fällen der Absichtsprovokation gibt es Fälle des schuldhaften Sich-hinein-Begebens in eine Notwehrlage. Solche Fälle liegen dann vor, wenn die Notwehrlage nicht absichtlich, aber sonst rechtswidrig herbeigeführt worden ist. Der Paparazzi Tom lungert immer wieder am Grundstückszaun des Filmstars Johnny herum, obwohl jeder weiß, dass Johnny auf Paparazzi jähzornig reagiert. Genau darauf kommt es Tom aber auch an. Er will ein Foto »schießen«, wie der wutentbrannte Johnny auf ihn zustürzt. Dieser Fall ist keine Absichtsprovokation, weil Tom keine Notwehrsituation arrangieren und dazu nutzen will, seinerseits

Johnny zu verletzen. Es handelt sich jedoch um einen Fall des schuldhaften Sich-hinein-Begebens in eine Notwehrlage, weil Tom davon ausgehen kann, dass die arrangierte Situation zu einer Konfrontation zwischen ihm und Johnny führen wird. In diesen Fällen wird nicht von einem Ausschluss des Notwehrrechts ausgegangen, sondern die Lösung erfolgt nach einhelliger Auffassung auch hier nach der gerade beschriebenen 3-Stufen-Formel. Tom dürfte sich also erst gegen Johnny wehren, wenn der Rückzug und die defensive Verteidigung erfolglos geblieben sind.

Angriffe schuldloser Personen Die Einschränkung des Notwehrrechts nach der 3-Stufen-Formel wird auch für die Situation eines Angriffs durch schuldlose Personen verwendet. Schuldlos sind kraft gesetzlicher Regelung (§§ 19 und 20 StGB): Kinder bis zum vollendeten 14. Lebensjahr Personen, die an einer schweren seelischen Störung leiden Personen, die an einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung (schwere Trunkenheit, Drogenrausch) leiden Personen mit Intelligenzminderung Bei Angriffen von Kindern, erkennbar stark berauschten Personen oder erkennbar geisteskranken Personen soll man zunächst einmal ausweichen (Stufe 1), sich sodann auf defensive Verteidigungsmittel beschränken (Stufe 2) und erst in höchster Not dem Angriff offensiv begegnen (Stufe 3). Dies ist freilich leichter gesagt als getan. Unter der Wirkung von Alkohol und Drogen können Menschen ihre Aggressionshemmung völlig verlieren und übermenschliche Kräfte entwickeln. Die 3-Stufen-Formel ist nicht schematisch,

sondern unter Berücksichtigung der konkreten Kampflage anzuwenden. Marcus hat mehrere Linien Kokain inhaliert, um sich auf eine Auseinandersetzung mit Ronny »vorzubereiten« und sich dafür mit einem Ninja-Schwert ausgerüstet. Er tritt mit einem Kampfschrei die Tür zu Ronnys Wohnwagen ein und wirbelt mit dem Schwert herum. Ronny spricht Marcus beruhigend mit »Komm, hör auf« an, was Marcus nicht im Geringsten besänftigt. Ronny hat in dem engen Wohnwagen keine Ausweichmöglichkeit und schüttet Marcus den heißen Inhalt eines Wasserkochers ins Gesicht. Hier kann Ronny weder auf der ersten Stufe den Rückzug versuchen noch auf der zweiten Stufe ohne erhebliche Eigengefahr Schwerthiebe mit seinen Armen abwehren. Also ist er berechtigt, sofort auf der dritten Stufe ein effektives Verteidigungsmittel mit hoher Verletzungsgefahr für Marcus zu nutzen, um dessen Angriff sofort und endgültig zu stoppen. Im Fall des Angriffs durch Kinder spricht dagegen viel dafür, strikt an der 3-Stufen-Formel festzuhalten, wenn es sich um kindertypische Angriffe durch deutlich erkennbare Kinder handelt. Herr Müller schippt vor seinem Haus Schnee. Eine Gruppe von Grundschülern beginnt, ihn mit Schneebällen zu bewerfen. Sein ernster Protest dagegen zeigt keine Wirkung. Herr Müller stürmt auf die Kinder zu und beginnt, mit der Schneeschippe auf die Köpfe der Kinder einzuschlagen. Hier sollte klar sein, dass dies keine angemessene Form der Gegenwehr gegen eine Schneeballattacke von Kindern ist. Die Schläge auf die Köpfe der Kinder sind eine nicht gerechtfertigte Körperverletzung.

Notwehrsituationen in Garantieverhältnissen Auch Notwehrsituationen in Garantieverhältnissen werden nach der sogenannten 3-Stufen-Formel gelöst. Hierzu gibt es eine große Zahl von Entscheidungen, die Notwehrsituationen zwischen Ehegatten betreffen: In einer solchen Situation widerstreitet das Recht der angegriffenen Person, sich zu verteidigen, mit der engen familiären Verbundenheit. Legt man hierauf die 3-Stufen-Formel an, dann ergibt sich folgendes problematische Bild: Gewalt in engen familiären Beziehungen bedeutet in den meisten Fällen Gewalt gegen Frauen und Gewalt gegen Kinder. Durch Garantieverhältnisse verbundene Personen müssten also zunächst einmal vor dem Aggressor ausweichen, sich sodann der Schutzwehr bedienen und dürften die Trutzwehr erst als ultima ratio einsetzen. Eine rein formale Betrachtung von Garantieverhältnissen führt nicht zu angemessenen Ergebnissen (siehe dazu auch Kapitel 8). Enge Verbundenheit kann eine Garantenstellung nur begründen, wenn sie auch tatsächlich besteht; das Notwehrrecht kann gegenüber dem Partner nur eingeschränkt sein, wenn dieser sich an die Regeln von Mitmenschlichkeit und Respekt hält. In sogenannten Haustyrannen-Fällen sind die Verhältnisse weit davon entfernt.

Der Haustyrann (nach BGH NStZ 2003, 482) Simone lernte Manfred im Jahre 1983 kennen und freundete sich mit ihm an. Manfred war schon damals Mitglied einer Rockergruppe. Er wurde alsbald gegenüber Simone aus geringstem Anlass tätlich, indem er sie ohrfeigte. Gleichwohl heiratete Simone Manfred 1986. Nach der Geburt der ersten Tochter Jasmin versetzte er ihr auch Faustschläge ins Gesicht oder in die Magengegend und trat sie, wenn irgendetwas im täglichen Ablauf nicht seinen

Vorstellungen entsprach oder die Angeklagte seinen »Befehlen« nicht mit der erwarteten Schnelligkeit nachkam. Als Simone schließlich mit der zweiten Tochter Tina schwanger war, nahm er hierauf keine Rücksicht und versetzte ihr auch jetzt Fußtritte und Faustschläge in den Bauchbereich. Die Gewalttätigkeiten nahmen schließlich solche Ausmaße an, dass Simone im Mai 1988 den Entschluss fasste, sich von ihrem Mann zu trennen. Sie begab sich in ein Frauenhaus. Nachdem Manfred Besserung gelobt hatte, kehrte Simone nach vier Wochen zu ihm zurück. Im Jahr 1993 kam es zu einem weiteren Übergriff, bei dem er sie so lange schlug, bis sie auf dem Boden liegen blieb. Danach trat er auf die am Boden liegende Simone mit seinen Springerstiefeln mehrfach ein; dabei erlitt sie eine Nierenquetschung. Ein anderes Mal stieß Manfred den Kopf von Simone mehrfach mit solcher Heftigkeit gegen eine Zimmerwand, dass diese großflächig mit Blut verschmiert wurde und Simone bewusstlos zu Boden fiel. Die Kinder wurden regelmäßig Zeugen dieses Geschehens. – Als Manfred eines Abends betrunken nach Hause kommt und Simone unter Faustschlägen in der Küche zum Oralverkehr zwingen will, schlägt Simone Manfred eine gusseiserne Bratpfanne mit voller Wucht über den Kopf. Manfred geht mit lebensgefährlichen Kopfverletzungen bewusstlos zu Boden.

Vor Manfred zurückzuweichen (Stufe 1), ist in dieser Situation nicht zumutbar. Defensiv die Faustschläge abzuwehren (Stufe 2), ist mit einem ganz erheblichen Eskalations- und Verletzungsrisiko verbunden. Auch wenn Simone mit Manfred verheiratet ist, darf sie sich unter diesen Verhältnissen so verteidigen, dass der Angriff durch Manfred sofort und endgültig gestoppt wird.

Keine tödliche Notwehr zur Verteidigung von Sachwerten? Im Verhältnis zwischen Staat und Bürger gebietet Art. 2 II a EMRK, dass Staatsorgane nur zur Verteidigung eines Menschen Nothilfe mit tödlichen Folgen leisten dürfen. Die Frage ist nun: Ergibt sich daraus eine Einschränkung des Notwehrrechts? Daraus wird zum Teil geschlossen, dass eine tödliche Verteidigung zum bloßen Schutz des Eigentums an Sachwerten nicht gerechtfertigt sein kann. Dieser Gedanke

geht nicht völlig fehl und wir haben ihn ja auch bei den Einschränkungen des Notwehrrechts unter dem Stichwort »Bagatellangriffe« bei einem krassen Missverhältnis berücksichtigt. Die Europäische Menschenrechtskonvention richtet sich in Art. 2 II a jedoch nicht an die Bürger, sondern nur an die Staatsgewalt. Nach absolut herrschender Meinung ist eine gerechtfertigte Tötung zur Verteidigung nennenswerter Sachwerte durchaus denkbar, insbesondere dann, wenn die Sachwerte für die Existenz des Angegriffenen wesentlich sind.

In das Haus von Rentner Schulz wird eingebrochen. Wie viele alte Menschen hat er seine ganzen Ersparnisse im Schlafzimmerschrank. Schulz sitzt im Erdgeschoss vor dem Fernseher und wird durch Geräusche misstrauisch. Er begibt sich bewaffnet mit einer Pistole ins Obergeschoss und erwischt drei Diebe. Sie sind gerade im Begriff, seine gesamten Ersparnisse wegzunehmen. Wegen ihrer Übermacht weiß sich Schulz nicht anders zu helfen, als auf die Einbrecher zu schießen. Einer der Einbrecher wird dabei tödlich getroffen.

Überschreitung der Notwehr – Notwehrexzess (§ 33 StGB) Wenn Sie von einer oder mehreren Personen angegriffen werden, dann ist das – vorsichtig ausgedrückt – eine sehr aufregende und verwirrende Situation. Nur wenige Menschen sind in Selbstverteidigung ausgebildet. Deswegen wehren sich die meisten Menschen impulsiv und ungestüm »mit Händen und Füßen«, sie benutzen das als Waffe, was gerade herumliegt. Sie können sich leicht denken, dass dies von einer zielgerichteten, angemessenen und effektiven Selbstverteidigung oft weit entfernt ist. Dabei kann es zu Überschreitungen des Rahmens des

Notwehrrechts kommen. Eine solche Überschreitung nennt man Notwehrexzess. Die Regelung des § 33 StGB bestimmt, dass die Überschreitung der Notwehr unter bestimmten Voraussetzungen straffrei ist. Grundvoraussetzung ist, dass überhaupt eine Notwehrlage vorliegt. Wenn ein in einer Notwehrlage handelnder Verteidiger das Maß der erforderlichen Verteidigung aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschreitet, so ist seine Tat zwar nicht mehr gerechtfertigt, aber die Rechtsordnung macht ihm keinen Schuldvorwurf und verzichtet damit auf eine Strafe. Die genannten Affekte nennt man asthenische Affekte (= Affekte aus Schwäche). Dem gegenüber gibt es sthenische Affekte (= Affekte aus Stärke) wie Wut, Hass und Vergeltungsdrang. Für die zweite Gruppe von Affekten gilt die Regelung des § 33 StGB nicht. Es gibt zwei Konstellationen von Notwehrexzessen: intensiver Notwehrexzess: wenn sich ein in Notwehr Handelnder im Affekt heftiger als erforderlich verteidigt extensiver Notwehrexzess: wenn der Verteidiger den zeitlichen Korridor der Notwehrlage überschreitet

Im Affekt: intensiver Notwehrexzess Alois wird in einem Bierzelt von dem sehr kräftigen Sepp derb beleidigt, am Hemdkragen gepackt und zu Boden geschleudert. Als er sich gerade wieder hochgerappelt hat, wird er von Sepp erneut gepackt und zu Boden geworfen. Alois ergreift nun einen Maßkrug und schlägt Sepp damit mehrfach heftig auf den Kopf. Sepp bricht mit einem SchädelHirn-Trauma zusammen und erwacht erst Tage später aus der Bewusstlosigkeit.

Mehrfache heftige Schläge mit dem Maßkrug auf den Kopf überschreiten sicher die angemessene Verteidigung bei einer Bierzeltrauferei. Man wird Alois aber zugutehalten können, dass er angesichts der wiederholten Attacke von Sepp in Panik geraten war und sich unterlegen fühlte. Es liegt ein intensiver Notwehrexzess aufgrund eines asthenischen Affekts vor und die Rechtsfolge des § 33 StGB tritt ein – Alois wird nicht wegen gefährlicher Körperverletzung bestraft.

Zu spät: extensiver Notwehrexzess Beim extensiven Notwehrexzess überschreitet der Verteidiger den zeitlichen Korridor der Notwehrlage. Als Sepp bereits regungslos am Boden liegt, tritt ihm Alois noch einmal mit voller Wucht in den Bauch. Die Grenze der Notwehr wird hier in der zeitlichen Dimension überschritten. Dies nennt man einen extensiven Notwehrexzess. Der Angriff von Sepp ist eindeutig beendet. Das, was Alois hier tut, nennt man »Nachtreten«. Es handelt sich nicht um eine überzogene Verteidigung in einer Notwehrlage, sondern um ein »Revanchefoul« nach der Konfrontation. Weil es in dieser Situation überhaupt an einer Notwehrlage fehlt, versteht es sich von selbst, dass die Regelung über den Notwehrexzess nicht zur Anwendung kommen kann.

Irrtümlich: Putativnotwehrexzess Anders ist es bei Fällen, in denen eine Person irrig annimmt, dass sie sich in einer Notwehrlage befindet, und völlig überzogen reagiert.

Sören aus Husum besucht das Oktoberfest. Da spricht ihn der kräftige Sepp laut mit den Worten »Sauf‘n mer – sterb‘n mer. Sauf‘n mer net – sterb‘n mer a«. Sören versteht kein Wort und meint, dass ihn Sepp mit dem Tode bedroht. Sören schlägt deswegen Sepp seinen Bierkrug über den Kopf. Wenn Sören irrtümlicherweise davon ausgeht, dass er sich in einer Notwehrlage befindet, obwohl diese in Wirklichkeit überhaupt nicht gegeben ist, nennt man diese Konstellation Putativnotwehr. Ist die Verteidigung dabei überzogen, dann nennt man dies Putativnotwehrexzess. Die Problematik der Putativnotwehr wird ebenso wie der Putativnotwehrexzess bei dem Erlaubnistatbestandsirrtum (in Kapitel 18) erörtert.

Kapitel 15

Rechtfertigung in Notstandslagen IN DIESEM KAPITEL Das Grundprinzip des Notstandsrechts Die Notstandslage in § 34 StGB Zulässige Notstandshandlungen Abwägung und Angemessenheit in Notstandslagen

Als Notstand bezeichnen Juristen eine Situation, in der ein rechtlich geschütztes Interesse in gegenwärtiger Gefahr ist; diese Gefahr kann nur auf Kosten eines fremden Interesses abgewendet werden. Monika joggt durch den Park. Auf einer Bank sitzt die schluchzende Katrin. Monika kümmert sich um Katrin, die von ihrem Freund verlassen worden ist. Katrin erzählt Monika von ihren Selbstmordabsichten. Monika bemerkt, dass in Katrins Korb eine Pistole liegt. Sie redet auf Katrin ein und bittet sie, ihr die Pistole zu geben. Darauf geht Katrin nicht ein. Um Katrin vor einer Selbsttötung zu schützen, bringt sich Monika mit Gewalt in den Besitz der Pistole. Katrin erleidet dabei Kratzer und Blutergüsse. Hieran lässt sich das Grundprinzip des Notstandsrechts gut zeigen. Monika wird von Katrin nicht angegriffen. Sie verteidigt sich nicht mit ihrer Aktion. Die Pistole im Besitz von Katrin ist aber eine Gefahr für deren Leben. Monika zielt mit ihrer Aktion darauf,

das Leben von Katrin zu schützen. Da Katrin die Pistole nicht freiwillig herausgibt, muss Monika Gewalt einsetzen und verletzt sie dabei. Es ist evident, dass diese Aktion nicht strafrechtlich verfolgt werden kann, denn schließlich hat Monika Katrin nur ein paar Blessuren zugefügt, um deren Leben zu retten. Der rechtfertigende Notstand wurde als übergesetzlicher Notstand aus dem Prinzip der Güter- und Pflichtenabwägung entwickelt. Zugrunde lag die Überlegung, dass derjenige nicht rechtswidrig handelt, der bei einem nicht aufzulösenden Widerstreit zweier Interessen das höherwertige Interesse unter Verletzung des geringerwertigen Interesses schützt. Ausgangspunkt für die Anerkennung dieser Rechtsfigur waren im letzten Jahrhundert die strengen Regelungen über den Schwangerschaftsabbruch. Im Jahre 1927 hat das Reichsgericht dann entschieden, dass die medizinisch indizierte Abtreibung, um das Leben der Mutter zu schützen, als eine gerechtfertigte Handlung nicht strafbar ist. Dieses Rechtsprinzip ist seither in der Rechtsprechung vielfach bestätigt und 1975 dann im Rahmen der Strafrechtsreform zu einer gesetzlichen Regelung in § 34 StGB umgestaltet worden. Voraussetzungen der Anwendung des rechtfertigenden Notstandes gemäß § 34 StGB sind: eine Notstandslage: eine gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut eine Notstandshandlung: eine Handlung, die vorgenommen wird, weil die Gefahr nicht anders abwendbar ist eine Abwägung zwischen dem geschützten Interesse (Erhaltungsinteresse) und dem beeinträchtigten Interesse (Eingriffsinteresse) die Angemessenheit der Tat im Sinne von § 34 Satz 2 StGB

Die Notstandslage in § 34 StGB

Die Notstandslage nach § 34 setzt eine gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut voraus. Notstandsfähig ist jedes Rechtsgut. Mit den Rechtsgütern Leben, Leib, Freiheit und so weiter werden in § 34 Satz 1 StGB lediglich Beispiele genannt. Anders als bei § 32 sind auch Rechtsgüter der Allgemeinheit (wie zum Beispiel die Sicherheit des Straßenverkehrs oder die Volksgesundheit) inbegriffen.

Rechtsgüter in gegenwärtiger Gefahr Diese Rechtsgüter müssen sich in gegenwärtiger Gefahr befinden. Die Definition der Gefahr lautet: Gefahr ist ein Zustand, dessen Umschlagen in einen Schaden für das Rechtsgut bei ungehindertem Geschehensablauf wahrscheinlich ist. Beim Gefahrenbegriff geht es also um eine Prognose. Tritt tatsächlich im Verlauf der Situation ein Schaden ein, dann sind Sie auf der sicheren Seite. Denknotwendig muss dem Eintritt eines Schadens ein längerer und kürzerer Moment (und sei es eine »juristische Sekunde«) der Gefahr vorausgehen. Tritt ein solcher Schaden nicht ein, dann müssen Sie sich bei der Entscheidung eines Falles in die Situation hineinversetzen und eine Prognose ex ante (= aus der Perspektive vor dem Ereignis) als sachkundiger neutraler Beobachter fällen. Gegenwärtig ist die Gefahr dann, wenn die Situation bei natürlicher Weiterentwicklung jederzeit in einen Schaden umschlagen kann. Machen Sie nicht den Fehler, die Gegenwärtigkeit der Gefahr mit der für die Notwehr erforderlichen Gegenwärtigkeit des Angriffs gleichzusetzen.

Der zeitliche Anwendungsbereich des rechtfertigenden Notstandes geht über den der Notwehr hinaus. Die Gegenwärtigkeit im Sinne des § 34 StGB verlangt nicht, dass der Schadenseintritt unmittelbar bevorsteht. Entscheidend ist vielmehr, ob die Gefahr später nicht mehr oder nur unter Inkaufnahme eines höheren Risikos abgewendet werden kann, mag auch der Eintritt des Schadens erst nach Ablauf einer gewissen Zeit zu erwarten sein. In diesem Sinne sind, anders als im Notwehrrecht, im Rahmen des Notstands auch präventive Maßnahmen gerechtfertigt. Freilich stellt sich dann oft die Frage, ob nicht das Herbeirufen staatlicher Hilfe Vorrang gehabt hätte, denn schließlich gilt im Regelfall das Gewaltmonopol des Staates. Schauen Sie sich bitte einmal den folgenden Fall an. Hätte Anton nicht einen anderen Weg suchen müssen, um die angespannte Situation aufzulösen? Anton und Bert streiten sich schon den ganzen Vormittag. Bert hat Anton bereits mehrfach Schläge angedroht, wenn er nicht endlich Ruhe gebe. Als Bert die Toilette aufsucht, nutzt Anton diese Gelegenheit, um die Toilette von außen zu verriegeln, und hält ihn dort mehrere Stunden gefangen.

Dauergefahr Weiterhin greift der rechtfertigende Notstand auch bei einer Dauergefahr ein. Dies sind Situationen, in denen die Realisierung der Gefahr zwar nicht unmittelbar bevorstehen muss, sie aber jederzeit und alsbald eintreten kann. Unter bestimmten Umständen ist es hier gerechtfertigt, die schwelende Gefahr durch sofortiges Handeln zu bannen. Hierzu gibt es sehr kontroverse Auffassungen. Sie erinnern sich bestimmt an unseren Haustyrannen-Fall (Kapitel 14). Tatsächlich ist der Fall nicht mit einem Bratpfannenschlag zu Ende gegangen, sondern hat sich wie folgt weiterentwickelt:

Manfred beschimpfte eine halbe Stunde lang Simone, bespuckte sie und schlug ihr so ins Gesicht, dass sie aus dem Mund blutete. Schließlich ging er zu Bett, während Simone wach blieb, weil sie die Kinder um 6:00 Uhr für die Schule fertig machen musste. Gegen 9:00 Uhr stieß Simone beim Aufräumen in der Wohnung auf einen von Manfred illegal erworbenen, achtschüssigen Revolver »Double Action«. Simone hielt ihre Situation für vollkommen ausweglos. Sie glaubte, den sich steigernden Gewalttätigkeiten bald nicht mehr standhalten zu können, und befürchtete, dass die Tätlichkeiten auch gegen die Töchter schlimmere Ausmaße annehmen könnten. Sie sah die einzige Lösungsmöglichkeit darin, Manfred zu töten. Sie betrat das Schlafzimmer und feuerte aus einer Entfernung von rund 60 Zentimetern den Inhalt der gesamten Trommel des Revolvers in Sekundenschnelle auf den schlafenden Manfred ab. Manfred war sofort tot. Dieser Fall hat großes Aufsehen in der Öffentlichkeit verursacht und wird auch unter Fachleuten kontrovers diskutiert. Dazu muss man wissen, dass in solchen Fällen häufig die betroffenen Frauen (und auch Kinder) am Ende die Opfer sind und sich Frauen (und ihre Kinder) nur selten so drastisch von Haustyrannen befreien. Die Lösungsvorschläge reichen von der Einräumung eines Notwehrrechts gegen den Tyrannen, denn auch im Schlaf sei der Tyrann ein Angreifer, bis hin zur Verurteilung wegen Mordes, da es heimtückisch sei, einen schlafenden Tyrannen zu töten. Wenn wir einmal annehmen, dass von dem permanent gewalttätigen Manfred auch im Schlaf die Gefahr ausging, sofort nach dem Erwachen seine Misshandlungen fortzusetzen, bleibt die Frage, ob Simones Vorgehen im Rahmen der zulässigen Notstandshandlungen liegt.

Zulässige Notstandshandlungen Die Regelung des § 34 StGB spricht hinsichtlich der Notstandshandlung von einer Handlung, die vorgenommen wird, weil die Gefahr nicht anders abwendbar ist. Damit ist gemeint, dass die Handlung zur Gefahrenabwehr geeignet sein muss, dass keine Handlungsalternativen zur Verfügung standen und dass sie das relativ mildeste Mittel der Gefahrenabwehr sein muss.

Geeignet oder nicht, das ist hier die Frage Die Prüfungsstufe der Geeignetheit enthält noch kein Wertungselement. Geeignet ist eine Handlung dann, wenn anzunehmen ist, dass sie den erstrebten Erfolg herbeiführt, also die Gefahr beseitigt. In unserem Fall geht es darum, dass von Manfred eine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit, das sexuelle Selbstbestimmungsrecht und die Würde von Simone und ihren Kindern ausgeht. Wenn Manfred tot ist, dann – das muss man ganz nüchtern so sagen – ist diese Gefahr beseitigt.

Keine Handlungsalternativen Es erscheint jedoch fraglich, ob Simone sich in einer Lage ohne Handlungsalternativen (in einer »ausweglosen Lage«) befand. In seinem Urteil zu diesem Fall hat der BGH dazu ausgeführt:

»Die Gefahr wäre dann nicht anders als durch die Notstandstat abwendbar gewesen, wenn diese das einzig geeignete Mittel gewesen wäre, der Notstandslage wirksam zu begegnen. Als anderweitige Abwendungsmöglichkeiten kamen hier ersichtlich die Inanspruchnahme behördlicher Hilfe oder der Hilfe karitativer Einrichtungen in Betracht, namentlich der Auszug der Angeklagten mit den Töchtern aus dem gemeinsamen Haus und die Übersiedlung etwa in ein Frauenhaus, aber auch das Suchen von Zuflucht bei der Polizei mit der Bitte um Hilfe im Rahmen der Gefahrenabwehr; Letzteres wäre naheliegender Weise mit einer Strafanzeige verbunden gewesen. Die Angeklagte hat indessen nicht versucht, sich auf diese Weise aus ihrer bedrängten Lage zu befreien. Unter diesen Umständen könnte die Gefahr nur dann als nicht anders abwendbar bewertet werden, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte des Einzelfalles die hinreichende Wirksamkeit der Handlungsalternativen von vornherein zweifelhaft gewesen wäre … Die von einem ›Familientyrannen‹ aufgrund seiner immer wiederkehrenden erheblichen Gewalttätigkeiten ausgehende Dauergefahr für die übrigen Familienmitglieder ist regelmäßig … anders abwendbar als durch die Tötung des ›Tyrannen‹, indem Hilfe Dritter, namentlich staatlicher Stellen in Anspruch genommen wird.« Nun berichtet das Urteil über Manfred aber auch Folgendes: Nachdem Simone früh in der Ehe einmal im Frauenhaus Zuflucht gesucht hatte, erklärte ihr Manfred, wenn sie noch einmal versuchen sollte, sich so zu trennen, werde er den Töchtern etwas antun. Auch sie selbst könne er jederzeit ausfindig machen. Selbst wenn er ins Gefängnis käme, sei sie nicht vor ihm sicher. Er werde schließlich irgendwann »wieder herauskommen«. Überdies könne er auch aus dem Gefängnis heraus seine Freunde aus den Rockergruppen beauftragen, ihr etwas anzutun.

Das relativ mildeste Mittel Ich finde, dieser Fall berührt einen stark und seine angemessene Lösung stellt eine große Herausforderung dar. Wenn wir einmal entgegen dem BGH annehmen, dass es Fälle des Familientyrannen gibt, in denen der betroffenen Familie keine Handlungsalternativen zur Verfügung stehen, stell sich nun die nächste große Frage. Simone ist ja mit unbedingtem Tötungswillen gegen den schlafenden Manfred vorgegangen, indem sie aus 60 Zentimetern Entfernung die ganze Trommel des Revolvers (acht Kugeln) auf ihren schlafenden Mann geschossen hat. Es fällt sehr schwer, von einem relativ milden Mittel zu sprechen.

Abwägung/Angemessenheit Nach § 34 Satz 1 ist die Notstandshandlung nur dann gerechtfertigt, wenn »das geschützte Interesse (Erhaltungsinteresse) das beeinträchtigte Interesse (Eingriffsinteresse) wesentlich überwiegt«. Kriterien hierfür sind: das Rangverhältnis von Erhaltungs- und Eingriffsinteresse die widerstreitenden Interessen in der konkreten Lebenssituation die Intensität des drohenden Schadens durch die Notstandshandlung der Grad der drohenden Gefahr der Ursprung der Gefahr (bei eigenem Mitverschulden!) eine mögliche Pflicht zur Duldung der Gefahr

Abwägung nach dem Rang der Rechtsgüter

Das durch die Notstandshandlung geschützte Interesse muss mit einem deutlich höheren Gewicht versehen sein als das von der Notstandshandlung betroffene Interesse. Dies lässt sich im Normalfall praktisch mit einem Blick in die verschiedenen Straftatbestände und die dort angedrohten Strafen für Verletzungen klären. So ist es sicher, dass Sie bei einer gegenwärtigen Gefahr für die sexuelle Selbstbestimmung einer Person mit Mitteln körperlicher Gewalt vorgehen dürfen, dagegen kommt ein solches Mittel zur Abwendung einer drohenden Beleidigung nicht in Betracht. Die Tötung eines anderen Menschen kommt selbst dann nicht als gerechtfertigte Notstandshandlung infrage, wenn eine Lebensgefahr besteht. Nach dem Grundsatz des absoluten Lebensschutzes stehen sich zwei Menschen immer im gleichen Rang gegenüber, sodass es niemals ein überwiegendes Interesse an der Erhaltung des eigenen Lebens durch die Tötung eines anderen Menschen geben kann. Für unseren Haustyrannen-Fall folgt daraus, dass Simone selbst bei Lebensgefahr für sich und ihre Kinder Manfred nicht im rechtfertigenden Notstand erschießen durfte. Damit sind wir aber mit diesem Fall noch lange nicht am Ende: Einerseits gibt es in § 35 StGB eine Regelung über die Entschuldigung bei Notstandslagen, andererseits finden Sie dort auch eine Regelung, wie es zu bewerten ist, wenn man irrtümlich annimmt, dass man sich in einer Notstandslage befindet (siehe Kapitel 17).

Angemessenheit als Korrektiv In § 34 Satz 2 StGB ist eine Angemessenheitsklausel enthalten, um zu verdeutlichen, dass der rechtfertigende Notstand eine ausnahmsweise und eng zu betrachtende Rechtfertigung einräumt. Dieser Klausel wird von manchen eine eigenständige Bedeutung abgesprochen: Die Interessenabwägung gemäß § 34 Satz 1 stelle doch schon eine Angemessenheitsprüfung dar.

Wie Sie gleich sehen werden, kann jedoch der Angemessenheitsklausel zuweilen eine korrigierende Wirkung gegenüber wertblinden Abwägungen zukommen. Bei jeder Abwägung – dies soll § 34 Satz 2 deutlich machen – ist darauf zu achten, dass innerhalb der Abwägung ein Mensch nicht zum Objekt gemacht und damit die Menschenwürde verletzt wird. Ein kontrovers diskutierter Fall hierzu lautet wie folgt: Herr Müller liegt in einem lebensbedrohlichen Zustand im Krankenhaus und benötigt dringend eine Bluttransfusion. Eine entsprechende Blutkonserve ist nicht verfügbar, weil Herr Müller eine sehr seltene Blutgruppe hat. Oberarzt Kämpfer weiß aber, dass der Patient Schulz diese Blutgruppe hat. Er bittet ihn um eine Blutspende. Dies wird von Herrn Schulz mit Nachdruck verweigert. Daraufhin ruft Kämpfer zwei Pfleger herbei, lässt Schulz an das Bett fesseln und entnimmt dem heftig protestierenden Patienten nach den Regeln ärztlicher Kunst eine ausreichende Menge Blut. Wenn ich diesen Fall meinen Studenten stelle, dann fallen die Lösung meistens 50:50 für und gegen eine Rechtfertigung von Oberarzt Kämpfer aus. Wir können daran einiges aus den bisherigen Kapiteln wiederholen. An der Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens von Kämpfer lässt sich nicht rütteln: Es sind die Tatbestände der Körperverletzung (§ 223 StGB), der Freiheitsberaubung und Nötigung (§§ 239, 240) erfüllt. Herrn Schulz wird gegen seinen Willen unter dem Einsatz von Gewalt und in gefesseltem Zustand Blut aus seiner Vene entnommen. Betroffen sind das Selbstbestimmungsrecht, die persönliche Freiheit und die körperliche Unversehrtheit von Herrn Schulz. Diese Eingriffe erfolgen, um das Leben von Herrn Müller zu retten. Einige clevere Studierende überlegen dann, dass sie den Fall als Nothilfefall lösen möchten. Das geht so: Sie bewerten die Weigerung von Herrn Schulz als einen Angriff auf das Leben von

Herrn Müller und stufen das Verhalten von Oberarzt Kämpfer als Nothilfe gegen diesen Angriff ein. Das ist ein Gedanke, der gleich über folgendes Problem stolpert: Ein Angriff muss rechtswidrig sein. So stellt sich die Anschlussfrage, ob ein Bürger aus dem Solidaritätsgedanken verpflichtet ist, einem anderen, ihm fremden Menschen sein Blut zu spenden. Wenn Sie das zu Ende denken, führt das zu kaum aufzulösenden Konflikten zwischen dem Solidaritätsgedanken und dem Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen. Besonders cleveren Studentinnen fällt an diesem Punkt die Dogmatik der Unterlassungsdelikte (Kapitel 8) ein. Garanten wie etwa die Eltern von Herrn Müller oder sein Bruder müssten aus ihren Beistandspflichten Blut für ihn spenden, nicht jedoch der wildfremde Herr Schulz. Das ist keine schlechte Idee. Kommen wir jetzt wieder auf die Notstandskonstellation zurück. Nach der Interessenabwägung scheint die Handlung von Oberarzt Kämpfer in Ordnung zu gehen. Aber das Verhalten ist auf der anderen Seite moralisch nicht einwandfrei, Oberarzt Kämpfer hat sich über den eindeutigen Widerspruch von Herrn Schulz hinweggesetzt und ihn als Objekt behandelt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Menschenwürde im Sinne der Objektformel dann verletzt, wenn ein Mensch als bloßes Objekt, das unter vollständiger Verfügung eines anderen Menschen steht, behandelt wird. So liegen die Dinge in unserem Fall. Nach überwiegender Meinung ist das Verhalten des Oberarztes, auch wenn es sich an die Grenzen der Interessenabwägung hält, nach der Angemessenheitsklausel des § 34 Satz 2 StGB nicht gerechtfertigt.

Kapitel 16

Einwilligung in die Verletzung IN DIESEM KAPITEL Zulässigkeit der Einwilligung und ihre Grenzen Kriterien der Einwilligungsfähigkeit Einwilligung ohne Willensmängel Die mutmaßliche Einwilligung Die drei Fallgruppen: Medizin, Sport und Sex

Es ist einmal wieder an der Zeit, dass ich Ihnen ein seit der Antike geltendes Rechtsprinzip vorstelle. Der berühmte römische Rechtsgelehrte Ulpian hat den Grundsatz formuliert: Volenti non fit iniuria. Das bedeutet: Dem Einwilligenden geschieht kein Unrecht. Ein Mensch, der freiwillig, bewusst und hinreichend mündig in die Verletzungshandlungen einer anderen Person einwilligt, kann keinen Rechtsschutz gegen diese Verletzungen geltend machen. Die Rechtsordnung muss in aller Regel diesen Verzicht auf Schutz als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts jeder Person akzeptieren. Es gibt aber Ausnahmen davon: Sie dürfen sich zwar selber umbringen, aber Sie dürfen nicht in die Tötung durch einen anderen Menschen einwilligen. Dies ist als Tötung auf Verlangen strafbar (§ 216 StGB). Sie dürfen nur so weit in eine Körperverletzung einwilligen, wie dies nicht gegen die guten Sitten verstößt (§ 228 StGB).

Die Einwilligung spielt in drei Bereichen eine wichtige Rolle als Rechtfertigungsgrund: im Arztstrafrecht, denn nach der ständigen Rechtsprechung des BGH ist jeder ärztliche Heileingriff eine tatbestandsmäßige Körperverletzung und bedarf einer Einwilligung des Patienten im Sport, denn viele Sportarten vom Boxen über den Fußball bis hin zum Autorennsport sind mit verletzungsträchtigen Situationen verbunden in der Sexualität, denn was zwischen den Partnern stattfindet, muss im Einvernehmen geschehen, weil es sonst Körperverletzung oder Vergewaltigung ist

Zulässigkeit der Einwilligung und ihre Grenzen Grundsätzlich können Sie über jedes Ihrer eigenen Rechtsgüter (Individualrechtsgüter) verfügen. So können Sie Ihr Haus für den Zugang durch jeden Menschen öffnen; Sie können erklären, dass Sie auf alle Ihre Güter verzichten und sich jeder nehmen kann, was er braucht; Sie können sich bei Vollmond einsperren lassen, damit Sie nicht schlafwandeln; Sie können Ihre Hakennase in eine kleine Stupsnase verwandeln lassen; Sie können eine sexuelle Beziehung eingehen, in deren Mittelpunkt die Fesselung und Knebelung stehen, oder Sie können Vollkontakt-Karate als Sport betreiben. Wie Sie aber sicherlich schon einmal gehört haben und ich im Kapitel 3 kurz angesprochen habe, ist die Tötung eines todkranken Menschen auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin als aktive Sterbehilfe strikt verboten und durch § 216 StGB mit Strafe bedroht. Angesichts des höchsten Rangs des Lebens in unserer Rechtsordnung und mit Blick auf mögliche Missbrauchsgefahren wird eine Verfügung über das Leben im Sinne der Einwilligung in

die Tötung durch einen Dritten grundsätzlich nicht akzeptiert. Anders ist die Lage, wenn eine Person in ihrer Patientenverfügung (§§ 1901a ff. BGB) niedergelegt hat, unter welchen Umständen sie nicht weiterbehandelt werden möchte. Wird zum Beispiel in der Patientenverfügung eine Aufrechterhaltung des Lebens durch eine Herz-Lungen-Maschine ausgeschlossen, dann darf diese Versorgung nicht durchgeführt werden, auch wenn der Patient dann alsbald verstirbt. Der Gesetzgeber hat somit das Selbstbestimmungsrecht des Patienten durch die Patientenverfügung gestärkt. Der BGH hat im Jahr 2010 (2 StR 454/09; 2 StR 320/10) klargestellt, dass die §§ 1901a ff. BGB (Patientenverfügung) strafrechtlich eine rechtfertigende Einwilligung in einen medizinischen Behandlungsabbruch darstellen können. Dabei hat er die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe bei medizinischen Behandlungen weitgehend aufgegeben. Auch das Bundesverfassungsgericht hat am 26.02.2020 (2vR 2347/15 u.a.) eine weitreichende Entscheidung zum Recht auf Selbsttötung und zur Beihilfe zur Selbsttötung veröffentlicht. Es entschied, dass § 217 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung vom 3. Dezember 2015 das Grundgesetz verletze, die Vorschrift daher mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig sei. Der § 217 StGB stellte die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung und damit eine eigentlich straflose Beihilfehandlung unter Strafe. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG umfasse als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Damit wurde der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts entscheidend erweitert. Das Bundesverfassungsgericht führt in seiner Entscheidung aus, dass jeder Mensch grundsätzlich ein Recht darauf hat, selbstbestimmt zu sterben.

In den Leitsätzen des Bundesverfassungsgerichts vom 26.02.2020 heißt es u.a.: »Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.« »Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.« »Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.« Der Suizident darf sich also Hilfe suchen und diese darf auch angeboten werden.

Verstoß gegen die guten Sitten In jüngster Zeit hat es in der Rechtsprechung zwei Fälle gegeben, in denen sich zwei Menschen mit komplementären sexuellen Neigungen miteinander darauf geeinigt haben, dass der eine den anderen tötet und verspeist. In diesen Kannibalismusfällen haben die Verteidiger der Täter natürlich darauf abgestellt, dass es sich um ein einvernehmliches Geschehen gehandelt hat. Man braucht sich hier gar nicht moralisch über solche Neigungen entrüsten, sondern kann nüchtern feststellen, dass eine solche Verfügung über das eigene Leben nicht möglich ist. Schwieriger wird es in den Fällen, in denen nach der Regelung des § 228 StGB die Einwilligung in eine Körperverletzung nicht wirksam ist, weil sie gegen die guten Sitten verstößt.

Nach einer über Jahrzehnte genutzten Formel ist eine Körperverletzung dann sittenwidrig, wenn sie »dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden« widerspricht. Noch im letzten Jahrhundert mussten deswegen Menschen in sadomasochistischen Beziehungen damit rechnen, dass zum Beispiel das einvernehmliche Auspeitschen des Partners zur Strafverfolgung führen kann. Der Bundesgerichtshof hat vor dem Hintergrund eines modernen Verständnisses von sexueller Selbstbestimmung dazu im Jahre 2004 (BGHSt 49, 166) Folgendes ausgeführt: »Die Ansicht des Reichsgerichts, wonach bei sadomasochistischen Praktiken die Körperverletzungen ›zu Unzuchtszwecken‹ erfolgten und deshalb trotz einer etwaigen Einwilligung ein Verstoß gegen die guten Sitten vorliege, ist nicht zuletzt wegen der gewandelten Moralauffassungen überholt … Bei Sadomasochismus handelt es sich um eine ›existierende und praktizierte Form des Sexuallebens‹, die in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen zutage tritt … Sadomasochistische Vorgänge stellen sich als sehr uneinheitlich dar und werden von Ehepaaren, Singles, in monogamen oder promiskuitiven Beziehungen praktiziert. Zur Frage der Bewertung sadomasochistischer Handlungen lässt sich überdies – auch unter Berücksichtigung ihrer gesamten Bandbreite – wohl kaum nach allgemeinen Anschauungen in der Bevölkerung ein eindeutiges Sittenwidrigkeitsurteil feststellen.« Folglich hat die Rechtsprechung ausgehend von dieser Entscheidung davon Abschied genommen, moralische Betrachtungen über die Beweggründe einer Verletzung

anzustellen. In einer Entscheidung des BGH aus dem Jahre 2015 heißt es nun: »Das Merkmal der guten Sitten in § 228 StGB ist für sich genommen konturenlos. Angesichts der Wandelbarkeit moralischer Wertungen kommen als Anknüpfungspunkt des Sittenwidrigkeitsurteils die Vorstellungen einzelner gesellschaftlicher Gruppen oder gar des zur Entscheidung berufenen Gerichts nicht in Betracht; auch die Ermittlung von allgemein gültigen moralischen Maßstäben erweist sich in einer pluralistischen Gesellschaft als nicht unproblematisch … Der mithin zu konstatierenden Unbestimmtheit des Begriffs der guten Sitten ist dadurch zu begegnen, dass er in § 228 StGB strikt auf das Rechtsgut der Körperverletzungsdelikte bezogen und auf seinen Kerngehalt reduziert wird.« Praktisch bedeutet dies, dass man heutzutage von einer Sittenwidrigkeit nur noch dann ausgeht, wenn die einwilligende Person durch die entsprechende Handlung in konkrete Todesgefahr gebracht wird.

Irenes Fesselspiele (nach BGHSt 49, 166) Irene zeigte großes Interesse an der Ausübung außergewöhnlicher sexueller Praktiken, vor allem an »Fesselspielen«. Hierzu gehörte unter anderem, dass Hans mit einem Gegenstand Druck auf ihren Kehlkopf, ihr Zungenbein oder ihre Luftröhre ausüben musste, um auf diese Weise den von ihr erstrebten vorübergehenden Sauerstoffmangel hervorzurufen, der für sie eine erregende Wirkung hatte. Im Mai 2002 wünschte Irene erneut die Durchführung eines Fesselspiels und bereitete die dazu erforderlichen Utensilien (Stricke, ein Holzstück sowie ein Metallrohr) selbst vor. Irene verlangte von Hans, er solle dieses Mal statt des bisher verwendeten Stricks das Metallrohr benutzen. Hans äußerte zunächst Vorbehalte, ließ sich dann aber umstimmen und fesselte seine Lebensgefährtin wie von ihr gewünscht. Zunächst benutzte er für den Würgevorgang das bereitgelegte Holzstück und ging dann auf Wunsch

seiner Lebensgefährtin dazu über, das Metallrohr zum Würgen zu verwenden. Dabei erkannte er, dass die Verwendung eines sich nicht den Konturen des Halses anpassenden Gegenstandes gefährlich war und erklärte ihr dies auch, ließ sich dann aber von seiner Lebensgefährtin zur Verwendung überreden und verstärkte auf deren Wunsch hin sogar die Einwirkung noch. Im Verlauf der intervallartigen, gegen den Hals von Irene gerichteten mehrfachen und mindestens drei Minuten währenden Aktionen drückte er dann mit dem Metallrohr zu. Dadurch erzielte er die gewünschte Kompression der Halsgefäße und insbesondere der arteriellen und venösen Blutversorgung des Gehirns, allerdings auch eine von ihm nicht gewollte, massive, durch den Einsatz des Metallrohrs hervorgerufene knöcherne Verletzung des Kehlskeletts.

Nach der neuen Rechtsprechung des BGH zu § 228 StGB hat die Einwilligung von Irene wegen des Gefährdungsgrads der Tat für Leib und Leben keine rechtfertigende Wirkung. Darauf, was Menschen unter moralischen Gesichtspunkten über eine solche Ausgestaltung des Sexuallebens denken mögen, kommt es nicht mehr an. Ich werde auf diesen Fall am Ende des Kapitels noch einmal zurückkommen.

Kriterien der Einwilligungsfähigkeit Für die Wirksamkeit einer Einwilligung ist es erforderlich, dass die einwilligende Person auch einwilligungsfähig ist. Nach der üblichen Definition liegt Einwilligungsfähigkeit vor, wenn die betreffende Person nach ihrer geistigen und sittlichen Reife die Bedeutung und Tragweite der Einwilligung überblicken und sachgerecht beurteilen kann. Dafür kommt es nicht auf die starren zivilrechtlichen Regelungen über die Geschäftsfähigkeit, auf die Volljährigkeit oder sonst ein bestimmtes Alter, sondern auf die konkrete Gestaltung des Einzelfalls an. Lediglich als formelhafte Orientierung kann man sagen, dass ein Minderjähriger unter 14 Jahren in der Regel nicht

einwilligungsfähig ist, während ein Minderjähriger über 16 Jahren zumeist eine heranreifende Einsichtsfähigkeit besitzt. Allgemein anerkannt ist, dass dem Willen des jungen Menschen mit fortschreitendem Alter zunehmend Gewicht zukommt. Daher muss der einwilligungsunfähige Heranwachsende seinem Alter und Reifegrad entsprechend in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Dies möchte ich an drei Beispielen verdeutlichen. Die 15-jährige Carina möchte sich ein Zungenpiercing machen lassen. In dem Tätowierstudio wird – in Einklang mit der Rechtslage – eine Einwilligung der Erziehungsberechtigten verlangt. Carinas Eltern sind strikt dagegen. Ein Zungenpiercing ist ohne jeden Zweifel eine Körperverletzung im Sinne des § 223 StGB. Die Komplikationen können verheerend sein und nach Infektionen bis zur Teilamputation der Zunge führen. Da heutzutage irgendwelche »sittlichen« Einwände gegen diesen Körperschmuck nicht erhoben werden können, ist es grundsätzlich möglich, in diesen Eingriff einzuwilligen. Für die 15jährige Carina geht es um einen außergewöhnlichen Körperschmuck, es ist jedoch davon auszugehen, dass sie die mögliche Tragweite des Eingriffs nicht überblicken kann. Würde der Tätowierer ohne die Zustimmung der Eltern alleine nach Carinas Wunsch tätig werden, würde er sich der Körperverletzung strafbar machen. Die 17-jährige Simone möchte sich den Namen ihres Freundes auf ihren Oberarm tätowieren lassen. Eine Tätowierung ist nicht nur eine Körperbemalung, sondern die Farbe wird mithilfe einer Tätowiermaschine dauerhaft in die zweite Hautschicht gestochen. Das ist schmerzhaft und danach muss die Haut abheilen. Tätowieren ist also juristisch betrachtet

ebenfalls eine Körperverletzung und setzt eine Einwilligung voraus. Hier können die Eltern nicht strikt ihre Zustimmung verweigern und werden Simone in die Entscheidungsfindung mit einbeziehen müssen. Der 14-jährige Ron möchte links einen kleinen Ohrring tragen. Dafür muss das Ohrläppchen durchstochen werden. Als er seinen Eltern von seinem Plan berichtet, wird der Vater wütend und verweigert seine Zustimmung, »weil das schwul aussieht«. Streng betrachtet ist natürlich auch das Ohrläppchenstechen eine (geringfügige) Körperverletzung. Die Folgen sind allerdings kaum sichtbar und es ist ein sozialadäquater Schmuck, einen Ohrring zu tragen. Diskriminierende Äußerungen über sexuelle Orientierungen sind kein tragfähiger Grund, die Zustimmung zu verweigern. Wenn Ron schließlich jemanden findet, der ihm ein Ohrloch sticht, hat derjenige keine strafrechtlichen Konsequenzen zu befürchten. Sie können an diesen Beispielen sehen, dass es nicht auf starre Altersgrenzen und feststehende Fallgruppen ankommt. Es ist von Fall zu Fall nach der Art des Eingriffs und seinen möglichen Folgen in Abwägung mit dem Reifegrad der betroffenen Person zu entscheiden. Eine eingeschränkte Einwilligungsfähigkeit gibt es nicht nur bei Minderjährigen, sondern auch bei geistig behinderten Menschen mit einer erheblichen Intelligenzminderung. Weiter sind psychisch kranke und suchtkranke Menschen mit stark eingeschränkter Fähigkeit zur Selbstbestimmung und alte Menschen mit einer Demenz hiervon betroffen. Für diese Personengruppen wird häufig ein sogenannter Betreuer vom Betreuungsgericht eingesetzt. Dieser Betreuer erteilt dann zum Beispiel die Einwilligung in medizinische Behandlungen, soweit dies möglich ist, in Abstimmung mit der betreuten Person.

Einwilligung ohne Willensmängel Eine Einwilligung muss frei von Willensmängeln erfolgen. Solche Willensmängel liegen vor, wenn die einwilligende Person zustimmt, weil sie dazu gezwungen worden ist, weil sie über Art und Reichweite der Verletzung getäuscht worden ist, weil (im Arztstrafrecht) die umfassende ärztliche Aufklärungspflicht verletzt worden ist. Die Einwilligung unter Zwang kommt zum Beispiel in Aufnahmeritualfällen vor. Hier soll sich eine Person als »Mutprobe« zum Beispiel mit einem Messer oder einer Scherbe in die Haut ritzen lassen, um zu einer Gruppe dazugehören zu dürfen. Für den Fall, dass sie sich nicht darauf einlässt, drohen der betreffenden Person die Ächtung und weitere Sanktionen durch die Gruppe. Die Einwilligung in das Aufnahmeritual kommt also durch die »Drohung mit einem empfindlichen Übel« (= Nötigung, § 240 StGB) zustande, sodass man nicht von einer freien Zustimmung in die Verletzung sprechen kann. Als ein täuschungsbedingtes Verhalten und nicht als Einwilligung ist es anzusehen, wenn eine Person eine Substanz (hochprozentigen Alkohol oder Drogen) zu sich nimmt, die ihr eine andere Person mit der Versicherung angeboten hat, das »Zeug« sei »völlig harmlos«. Ein Arzt ist nach den Vorschriften über den Umfang seiner Aufklärungspflicht zu einer vollständigen Information des Patienten verpflichtet. § 630 e Abs. 1 BGB bestimmt: »Der Behandelnde ist verpflichtet, den Patienten über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufzuklären. Dazu gehören insbesondere Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der

Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie. Bei der Aufklärung ist auch auf Alternativen zur Maßnahme hinzuweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können.« Ist die Aufklärung mangelhaft oder werden von dem Behandler wesentliche Gesichtspunkte ausgeblendet, dann kommt der Einwilligung des Patienten keine rechtfertigende Wirkung zu.

Mutmaßliche Einwilligung Die mutmaßliche Einwilligung spielt insbesondere für Fälle des Arztstrafrechts eine große Rolle. Es geht dabei um Sofortmaßnahmen am Unfallort, die Behandlung bewusstloser Personen, Operationserweiterungen und Notoperationen. In diesen Konstellationen ist der Patient nicht orientiert und nicht ansprechbar, es besteht Handlungsbedarf und die Einwilligung des Patienten hierzu kann nicht eingeholt werden. Bei der notärztlichen Versorgung nach einem Zugunglück wird festgestellt, dass ein Unfallopfer nur aus den Trümmern befreit werden kann, wenn man ihm das linke Bein amputiert. Bei einem bewusstlosen Patienten wird festgestellt, dass eine sofortige Bauchoperation durchgeführt werden muss, um ein inneres Verbluten zu verhindern. Bei der Operation eines Krebspatienten wird festgestellt, dass der Magen so stark von Krebsgeschwüren betroffen ist, dass die totale Entfernung indiziert ist. In solchen Situationen ist Gefahr im Verzug und Handeln ohne Aufschub geboten. Sollte man etwa im Fall der Operationserweiterung den Patienten wieder »zunähen«, nach

dem Erwachen den Befund mitteilen und ein Aufklärungsgespräch über die Entfernung des Magens führen, bevor man diese dann in einer zweiten OP durchführt? Die in solchen Situationen nicht einholbare Einwilligung des Patienten wird folglich durch ein Handeln im materiellen Interesse des Betroffenen ersetzt. Diesen Vorgang nennt man terminologisch etwas unglücklich mutmaßliche Einwilligung. Leitfrage dabei ist: Was würde der Patient wollen, wenn man ihn fragen könnte? Es geht also um ein Wahrscheinlichkeitsurteil über den wahren Willen des Betroffenen zum Zeitpunkt der Handlung. Dies ist eine äußerst problematische Rechtsfigur, da gerade in der Notfallmedizin dem behandelnden Arzt in der Regel nichts über Interessen, Verhältnisse, Wünsche und Wertvorstellungen des Patienten bekannt ist, er vielleicht nicht einmal Name und Alter kennt. Insofern entscheidet der Arzt dann nach seinem besten Wissen und Gewissen und möglicherweise »über den Kopf« des Notfallpatienten hinweg. Jedenfalls scheidet die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung in bestimmte Maßnahmen aus, wenn der Wille des betroffenen Menschen erkennbar entgegensteht, also zum Beispiel eine Patientenverfügung aufgefunden wird, die bestimmte lebenserhaltende Maßnahmen ausdrücklich verbietet. Gibt es keine ausdrückliche Erklärung des Patienten gegen bestimmte Maßnahmen, halte ich es für ehrlicher, nicht mit der Fiktion der mutmaßlichen Einwilligung zu operieren, sondern die Kernidee des gerade besprochenen rechtfertigenden Notstands heranzuziehen. Solange ein Arzt einen Patienten nicht zum Objekt seines Handelns herabwürdigt, werden seine Handlungen zur Abwendung von Gesundheits- und Lebensgefahr im überwiegenden Interesse liegen.

Drei Beispielsfelder: Einwilligung in Medizin, Sport und Sex Auf jedes dieser Felder hatte ich im bisherigen Text schon Bezug genommen. Ich möchte dies noch durch Beispiele ergänzen, um einige Kerngedanken der Einwilligung zu verdeutlichen.

Medizinstrafrecht Im Medizinstrafrecht spricht man davon, dass zwischen Arzt und Patienten über die ärztliche Vorgehensweise fully informed consent (Einvernehmen unter der Bedingung umfassender Information) bestehen muss. Auf diese Weise sollen bevormundende selbstherrliche Entscheidungen von Ärzten verhindert und dem Selbstbestimmungsrecht der Patienten Geltung verschafft werden. Dies ist der ernste Sinn jener Aufklärungsprozeduren, die Sie vielleicht auch einmal im Krankenhaus erlebt haben. Werden diese Prozeduren nicht eingehalten, dann ist der Eingriff eines Arztes eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Körperverletzung. Dies ist seit dem 19. Jahrhundert (RGSt 25, 375) ständige Rechtsprechung der deutschen Strafgerichte und betrifft Fälle wie zum Beispiel diesen: (nach BGHSt 11, 111) Frau Müller hatte sich wegen einer gutartigen Gebärmuttergeschwulst in die Behandlung von Chefarzt Dr. Schulz begeben. Dr. Schulz riet zu einer operativen Entfernung der Geschwulst. Bei der Aufklärung verschwieg er die Option, die ganze Gebärmutter zu entfernen, was medizinisch und psychologisch einen außerordentlich schwerwiegenden Eingriff darstellt. Dr. Schulz sagte später

dazu aus, er habe »vor der Operation nicht ausdrücklich von einer notfalls erforderlichen Entfernung der ganzen Gebärmutter gesprochen, weil er die Patientin nicht ›über das Notwendigste hinaus‹ habe beunruhigen wollen«. Tatsächlich erfolgte im Rahmen des Eingriffs dann eine Operationserweiterung mit der Folge der totalen Entfernung der Gebärmutter. Ärzte werden bei einer solchen Vorgehensweise zu Recht strafrechtlich verfolgt. Der Bundesgerichthof (BGHSt 11, 111 [114]) begründet dies wie folgt: »Zwar ist es sein [des Arztes, FH] vornehmstes Recht und seine wesentlichste Pflicht, den kranken Menschen nach Möglichkeit von seinem Leiden zu heilen. Dieses Recht und diese Pflicht finden aber in dem grundsätzlichen freien Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper ihre Grenze. Es wäre ein rechtswidriger Eingriff in die Freiheit und Würde der menschlichen Persönlichkeit, wenn ein Arzt – und sei es auch aus medizinisch berechtigten Gründen – eigenmächtig und selbstherrlich eine folgenschwere Operation bei einem Kranken, dessen Meinung rechtzeitig eingeholt werden kann, ohne dessen vorherige Billigung vornähme.«

»Fouls« beim Sport Immer wieder sieht man beim Fußball, dass ein Spieler seinem Gegenspieler mit voller Wucht den Ellbogen ins Gesicht schlägt. Berühmt ist der Schwergewichts-Boxkampf zwischen Mike Tyson und Evander Holyfield, in dessen Verlauf Tyson seinem Gegner gezielt einen Teil des rechten Ohrs abbiss. Im Zusammenhang mit Formel-1-Rennen erheben Fahrer immer wieder den Vorwurf, von anderen Fahrern durch vorsätzliche lebensgefährliche Manöver abgedrängt worden zu sein.

Andererseits kommt es auch im normalen Verlauf sportlicher Betätigung zu erheblichen Verletzungen: Boxer torkeln schwer gezeichnet durch den Ring, Fußballer erleiden komplizierte Schienbeinbrüche durch das »Hineingrätschen« des Gegners, bei Autorennen ereignen sich schwere Unfälle durch den »Rausch der Geschwindigkeit«. Grundsätzlich gilt, dass aus dem Selbstbestimmungsrecht die Berechtigung zur Durchführung und Teilnahme auch an verletzungsgefährlichen Sportarten folgt. Es besteht auch ein rechtlich anzuerkennendes gesellschaftliches Interesse (Sozialadäquanz) an der Ausübung solcher Wettkämpfe. Wer sich auf einen Boxkampf, ein Fußballspiel oder ein Autorennen einlässt, weiß um das Risiko, dass er von einer anderen Person verletzt werden kann. Dieses Risiko wird aber dadurch aufgefangen, dass es ein feststehendes und durchsetzbares Regelwerk gibt und Schiedsrichter auf die Einhaltung der Regeln achten und Verstöße ahnden. In diesem Rahmen wird mit der Teilnahme an einem Sportwettbewerb die Zustimmung zu allen Verletzungen erklärt, die bei der regelgerechten Ausübung des Sports auftreten können. Regelverletzungen werden vor Ort durch Schiedsrichter (Verwarnung/Platzverweis) und im Nachhinein durch Sportgerichte (Sperre) geahndet. Zur strafrechtlichen Verfolgung kommt es nur in seltenen Fällen. Dem liegt ein problematisches Verständnis davon zugrunde, was als »kampfbetonte« Ausübung des Sports trotz Regelverletzung noch als sozialadäquat anzusehen ist. Verletzungen, die gezielt und damit vorsätzlich herbeigeführt werden, um einen sportlichen Vorteil zu erlangen, stellen sich als eine schwere Missachtung der Regelwerke und des Grundgedankens von Fair Play dar. Sie können nicht als sozial üblich für den Bereich der Sportausübung angesehen werden und verletzen neben der betroffenen Person auch die Vorbildfunktion des Sports. Es besteht deswegen ein erhebliches Interesse daran, das Unrecht solcher Verhaltensweisen auch durch die staatliche Strafverfolgung zu verdeutlichen.

Manuel fängt eine Flanke aus der Luft und geht dann mit dem Ball vor der Brust im Strafraum zu Boden. Das sieht Carlo als eine Chance an und tritt mit voller Wucht nach dem Ball, der in Höhe des Gesichts von Manuel liegt. Dies tut er, obwohl ihm bewusst ist, dass die Gefahr von Verletzungen im Gesicht außerordentlich hoch ist. Tatsächlich trifft Carlo Manuel so heftig im Gesicht, dass dieser drei Vorderzähne verliert und einen Kieferbruch erleidet. Eine solche Verhaltensweise hat nichts mit einem »unglücklichen Foul« zu tun. Es handelt sich um einen schweren Regelverstoß unter Billigung möglicher schwerer Verletzungsfolgen. Von einer Einwilligung von Manuel in eine solche Spielweise im Eifer des Gefechts kann nicht ausgegangen werden. Ebenso verhält es sich, wenn Mike Tyson im Rahmen eines Boxkampfs zu einer gezielten Beißattacke auf seinen Gegner übergeht. Selbstverständlich liegt auch das vorsätzliche Drängen eines anderen Fahrers von der Strecke (zumal bei hoher Geschwindigkeit) außerhalb jeder regelgerechten Fahrweise und erfüllt bei Verletzungsfolgen den Tatbestand der Körperverletzung.

Grenzen beim Sex Sie erinnern sich bestimmt noch an den Würge-Fall. Die Rechtsprechung ist völlig davon abgekommen, sich mit Moralvorstellungen in die Gestaltung des Sexuallebens einzumischen. Danach kommt es alleine darauf an, was Menschen miteinander verabreden – nur in der Grenze, dass sie sich nicht auf etwas verständigen dürfen, was das Leben des Partners in Gefahr bringt. Alles, was Sie in dem Bestseller Shades of Grey nachlesen können – Spiele der Dominanz und Unterwerfung, Bestrafungs- und Fesselungsspiele –, kann miteinander verabredet werden. Das schließt die damit verbundenen körperlichen Misshandlungen und Freiheitsberaubungen mit ein. Die entsprechende sexuelle

Dienstleistungssparte (Dominas und Ähnliche) sichert sich häufig rechtlich dadurch ab, dass mit den Kunden schriftlich Behandlungsverträge geschlossen werden. Für die übliche Gestaltung des Sexuallebens gilt in gleicher Weise, dass entscheidend ist, was die Partner miteinander verabreden beziehungsweise wie einvernehmlich sich das Geschehen entwickelt. Sexuelle Handlungen gegen den Willen des Partners, unter Einsatz von Drohungen und Gewalt oder unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer dem Täter schutzlos ausgeliefert ist, sind als sexuelle Nötigung/Vergewaltigung (§ 177 StGB) strafbar. Von einiger Bedeutung und für den Zusammenhang zur Einwilligung wichtig sind sexuelle Begegnungen, die zunächst einvernehmlich beginnen, dann aber entgleisen. Wenn Sie damit einverstanden sind, dass ein anderer Mensch mit Ihnen Sex hat, dann erteilen Sie damit keine Blankovollmacht. Sobald Sie klar und eindeutig »Nein« zu einer Praktik sagen, sich wegdrehen oder das Bett verlassen, ist die Einwilligung aufgehoben. Setzt Ihr Partner die unerwünschten Handlungen gegen Sie fort und macht von seiner Übermacht Gebrauch, dann ist diese Verhaltensweise unabhängig von dem einvernehmlichen Beginn als sexuelle Nötigung/Vergewaltigung einzuordnen. Schließlich noch folgender Hinweis: Der sexuelle Kontakt mit Kindern unter 14 Jahren (absolute Schutzgrenze) ist in Deutschland als sexueller Missbrauch von Kindern (§§ 176, 176 a StGB) bei hoher Strafdrohung verboten. Niemand kann sich mit der Einlassung verteidigen, dass Kind habe in die sexuelle Handlung »eingewilligt«.

Kapitel 17

Irrtümer über die Rechtfertigung IN DIESEM KAPITEL Der Erlaubnisirrtum – der Täter irrt sich über die Existenz eines Rechtfertigungsgrundes Der Erlaubnisgrenzirrtum – der Täter irrt sich über die Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes Der Erlaubnistatbestandsirrtum – der Täter glaubt irrig, dass er sich in einer Situation befindet, die seine Handlung rechtfertigt

Schon zu Beginn des Buches habe ich bei den Ausführungen zur Kausalität (Kapitel 6) und bei den Ausführungen zum Vorsatz (Kapitel 10) über Irrtümer gesprochen. »Irren ist menschlich« – und Wilhelm Busch hat einmal den schönen Spruch formuliert »Ach, der Mensch so häufig irrt und nie recht weiß, was kommen wird«. Wie immer im Leben kann sich der Mensch auch bei strafrechtlichen Vorgängen über alles Mögliche irren – oder es kann zur Verteidigung behauptet werden, dass er sich geirrt hat. Man kann sich falsche Vorstellungen über die Wirkungen seiner Handlungen machen (Irrtum über den Kausalverlauf) oder man kann sich darüber irren, wen man mit seinen Handlungen eigentlich trifft (error in persona vel objecto). Hier möchte ich Ihnen vorstellen, mit welchen Irrtümern Sie bei den Rechtfertigungsgründen konfrontiert sein können und welche rechtlichen Folgen diese Irrtümer haben.

Der Erlaubnis(grenz)irrtum Beim Verbotsirrtum i.S.d. § 17 StGB irrt sich der Täter im Normalfall darüber, dass eine bestimmte Handlung verboten ist; der Täter kann aber auch einem umgekehrten oder indirekten Verbotsirrtum, den man dann Erlaubnisirrtum nennt, erliegen. Ein Erlaubnisirrtum ist gegeben, wenn der Täter irrig entweder vom Bestehen eines von der Rechtsordnung nicht anerkannten Rechtfertigungsgrundes ausgeht (Erlaubnisnormirrtum) oder die rechtlichen Grenzen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes verkennt (Erlaubnisgrenzirrtum). Fatma, die Schwester von Herrn Can, ist auf dem Nachhauseweg von einem Discobesuch von Hans-Peter sexuell bedrängt worden. In der Herkunftskultur von Herrn Can ist es in einer solchen Situation die Pflicht des großen Bruders, die Ehre der Schwester wiederherzustellen. Herr Can weiß aus der öffentlichen Diskussion, dass sogenannte Ehrenmorde in Deutschland verboten sind und streng strafrechtlich verfolgt werden. Er glaubt aber, dass es sein gutes Recht ist, Hans-Peter wenigstens ordentlich zu verprügeln, weil er einmal gehört hat, dass das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht. Er fängt Hans-Peter vor dessen Haus ab und fügt ihm durch zahlreiche Faustschläge ins Gesicht erhebliche Verletzungen zu. Variante: Herr Can wundert sich, warum seine Schwester Fatma noch nicht zu Hause ist, und sucht den Weg ab. Dabei sieht er plötzlich seine Schwester in sexueller Bedrängnis durch Hans-Peter. Herr Can stürzt sich auf Hans-Peter und schlägt ihn zu Boden. Auf den am Boden liegenden Hans-Peter tritt

Herr Can noch mehrmals ein. Wie er später aussagt, »weil der das verdient hat«. Im Grundfall besteht zum Tatzeitpunkt überhaupt kein anerkannter Rechtfertigungsgrund, weder eine Notwehr- noch eine Notstandslage liegt vor. Die Verantwortung für die Ahndung der Tat liegt bei der Strafjustiz. Kulturell bedingte andere Vorstellungen über die »Wiederherstellung der Ehre« können nicht akzeptiert werden, da sich Menschen aus anderen Kulturen im Zuge ihrer Integration mit den grundlegenden Werten unserer Rechtsordnung vertraut machen müssen. Hierzu gehört es, dass Verletzungen der (Familien-)Ehre nicht auf eigene Faust und mit Gewalt verfolgt werden dürfen. Herr Can unterliegt also bei seinem Vorgehen einem Irrtum über die Berechtigung, so handeln zu dürfen (Erlaubnisirrtum). In der Fallvariante ist das Verhalten von Herrn Can zunächst eine zulässige Verteidigungshandlung im Rahmen der Nothilfe für seine Schwester Fatma. Nachdem Hans-Peter zu Boden gegangen ist, endet die Notwehrlage. Das Nachtreten von Herrn Can ist nicht durch Verwirrung, Furcht oder Schrecken motiviert (§ 33 StGB), sondern soll der »Bestrafung« von Hans-Peter dienen. In diesem Fall werden also die Grenzen eines zunächst bestehenden Rechtfertigungsgrundes überschritten. Wenn Herr Can der Meinung ist, dass er so vorgehen darf, dann befindet er sich in einem Erlaubnisgrenzirrtum. Beide Fälle werden als indirekte Verbotsirrtümer bezeichnet. Beim direkten Verbotsirrtum (dazu gleich in Kapitel 18) fehlt einem Täter das Unrechtsbewusstsein, weil er nicht erkennt, dass er etwas Verbotenes tut. Beim Erlaubnisirrtum dagegen hat der Täter die fehlgehende Vorstellung, dass er etwas tut, wozu er berechtigt ist. Beide Fälle werden nach der gesetzlichen Regelung über den Verbotsirrtum in § 17 StGB behandelt. Dieser Regelung können Sie entnehmen, dass ein Irrtum über das Verbot beziehungsweise die Erlaubnis für ein Verhalten nur dann zum Schuldausschluss

(und damit zur Straffreiheit) führt, wenn der Irrtum für den Täter unvermeidbar war (§ 17 S. 1 StGB). Bei einem vermeidbaren Irrtum kommt nur eine fakultative Strafmilderung in Betracht (§ 17 S. 2 StGB). Die Rechtsprechung verlangt nicht von jedem Menschen eine genaue Kenntnis der Rechtslage, erwartet aber doch zumindest eine grobe laienhafte Vorstellung davon, was man nicht tun darf. Man darf also nicht einfach gedankenlos loslegen. Verlangt wird, dass ein Täter sein Gewissen anspannt, andere nach ihrer Einschätzung fragt und gegebenenfalls Rechtsauskünfte einholt. In der Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1952 (BGHSt 2, 194, 200) liest sich das so: »Der Mensch ist, weil er auf freie, sittliche Selbstbestimmung angelegt ist, auch jederzeit in die verantwortliche Entscheidung gerufen, sich als Teilhaber der Rechtsgemeinschaft rechtmäßig zu verhalten und das Unrecht zu vermeiden. Dieser Pflicht genügt er nicht, wenn er nur das nicht tut, was ihm als Unrecht klar vor Augen steht. Vielmehr hat er bei allem, was er zu tun im Begriff steht, sich bewusst zu machen, ob es mit den Sätzen des rechtlichen Sollens in Einklang steht. Zweifel hat er durch Nachdenken oder Erkundigung zu beseitigen. Hierzu bedarf es der Anspannung des Gewissens, ihr Maß richtet sich nach den Umständen des Falles und nach dem Lebensund Berufskreis des Einzelnen.« Von einigen Kollegen wird die Auffassung vertreten, dass es diese Formel mit dem Hinweis auf den Lebenskreis des Täters jedenfalls bei neu angekommenen Menschen aus anderen Kulturen erforderlich macht, Feststellungen über die Normen dieser Kulturen zu treffen und gegebenenfalls bei einem Kulturkonflikt die Strafe zu mildern. Sie können sich vorstellen, dass hierüber gestritten wird. Im Interesse der Integration von Menschen aus anderen Kulturen erscheint es durchaus wichtig,

dass diesen Menschen früh und bei gravierenden Fällen nachdrücklich mit den Mitteln des Strafrechts verdeutlicht wird, dass unsere Rechtsordnung keine Erlaubnis zur »Wiederherstellung der Ehre« durch Gewalt kennt. Zu bedenken ist auch, dass es sich insofern um kulturelle Normen handelt, die von der Strafjustiz der Herkunftsländer nicht als rechtliche Normen der Rechtfertigung anerkannt werden. Anderseits ist aber auch zu bedenken, dass die betreffenden Täter häufig nicht erkennen können, dass sie sich in ihrem Handeln für das Unrecht entschieden haben – dies aber macht den Kern des Schuldvorwurfs aus. Eine salomonische Lösung des Problems lässt sich in manchen Fällen über die Strafzumessung durch eine Milderung des Strafausspruchs finden.

Der Erlaubnistatbestandsirrtum Der Erlaubnistatbestandsirrtum ist unter den Studierenden des Rechts gefürchtet. Es gibt eine große Zahl von Theorien und Publikationen dazu, die häufig sehr schwer verständlich sind. Trotzdem (oder auch deswegen) gehört das Thema zu den häufigsten Fragestellungen im Examen. Ich werde versuchen, das Problem auf seine Grundzüge zu reduzieren. Das lässt sich am besten mit einem Fall machen: Karneval in Duisburg Andy hat sich zur Weiberfastnacht als »Bankräuber« verkleidet. Das bedeutet, dass er einen schwarzen Overall trägt und sein Gesicht von einer Skimütze verborgen ist. So stürmt Andy mit einer (objektiv klar erkennbaren) Wasserpistole bewaffnet in den Schalterraum einer Bankfiliale und brüllt: »Ho – ho – Hände hoch.« Der Bankangestellte Klaus glaubt gleichwohl an einen ernst zu nehmenden Überfall und schlägt Andy mit einem Blumentopf nieder.

Die allgemeine Struktur des Erlaubnistatbestandsirrtums ist, dass sich der Täter irrig einen Sachverhalt vorstellt, bei dessen Vorliegen die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes erfüllt wären. Klaus ist hier der irrigen Annahme, es läge ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff durch Andy vor. Damit läge eine Notwehrlage vor und Andy dürfte die erforderliche Verteidigung durchführen. Das Zuschlagen mit einem Blumentopf würde sicherlich in dieser Situation im Bereich der zulässigen Verteidigungshandlungen liegen. Wäre alles so, wie Klaus sich das vorstellt, dann wäre die Verletzung von Andy durch Klaus eine durch § 32 StGB gerechtfertigte Körperverletzung. So ist es aber nun nicht. Klaus hat aber nicht irgendeinem Menschen ohne jeden Anlass und mit bösem Willen einen Blumentopf über den Kopf geschlagen. Er hatte die gute Absicht, sich und die anderen Menschen gegen einen Bankräuber zu verteidigen. Damit hat die Konstellation einerseits eine gewisse Nähe zu dem gerade besprochenen Erlaubnisirrtum, weil der Irrtum sich auf die Rechtswidrigkeit des Handelns bezieht und das Unrechtsbewusstsein aufhebt. Andererseits irrt sich der Täter aber über den Sachverhalt oder, anders ausgedrückt, über das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für Notwehr. Hierdurch besteht eine strukturelle Nähe zum Tatbestandsirrtum i. S. d. § 16 StGB. Sie erinnern sich vielleicht: Das sind die Fälle, wo zum Beispiel Anton nach seiner Vorstellung auf ein Wildschwein schießt, es sich in Wirklichkeit aber um den hockenden Menschen Bert handelt (siehe Kapitel 10). Klaus hält hier den Karnevalisten Andy für einen tatsächlichen Angreifer und hat von seiner Aktion folglich die Vorstellung, sich gegen einen Angreifer zu verteidigen.

Zur Lösung von Fällen des Erlaubnistatbestandsirrtums werden nach grober Aufteilung vier Theorien vertreten: die (modifizierte) Vorsatztheorie die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen Schuldtheorien in verschiedenen Varianten die herrschende rechtsfolgenverweisende eingeschränkte Schuldtheorie

Die (modifizierte) Vorsatztheorie Nach der sogenannten modifizierten Vorsatztheorie handelt, wer die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes irrig annimmt, ohne das Bewusstsein, eine sozialschädliche Handlung vorzunehmen. Wenn Sie sich erinnern (Kapitel 10), dann bedeutet Vorsatz die bewusste und willentliche Entscheidung zu einer Rechtsgutsverletzung. Nimmt man das Element der Sozialschädlichkeit in diese Definition hinein, dann fehlt bei dem Täter, der sich über den Erlaubnistatbestand irrt, dieses Element des Vorsatzes. Klaus hatte das Bewusstsein und den Willen, Andy einen Blumentopf über den Kopf zu ziehen. Er hatte aber nicht das Bewusstsein, damit eine sozialschädliche Tat zu begehen. Im Gegenteil: Klaus war der Meinung, sich gegen einen rechtswidrigen Angriff durch Notwehr zu verteidigen. Folglich ist die (modifizierte) Vorsatztheorie der Meinung, dass die Regelung des § 16 I StGB unmittelbar auf solche Fälle anzuwenden ist: (1) Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt unberührt.

Dies bedeutet im Ergebnis, dass Klaus nicht wegen vorsätzlicher Köperverletzung bestraft werden kann. Aus Satz 2 können Sie aber entnehmen, dass eine Bestrafung wegen fahrlässiger Körperverletzung in Betracht kommt – dazu später.

Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen Die Lösung derartiger Fälle nach der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen erfordert einen etwas weiteren theoretischen Zusammenhang. Sie lernen in diesem Buch, nach dem herrschenden dreistufigen Verbrechensaufbau vorzugehen (siehe Kapitel 3). Die (zeitweise weitverbreitete) Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen folgt dagegen einem zweistufigen Verbrechensaufbau. Statt von (1) Tatbestandsmäßigkeit, (2) Rechtswidrigkeit und (3) Schuld geht sie von folgendem Aufbau aus: 1. Gesamtunrechtstatbestand = Tatbestandsmäßigkeit + Rechtswidrigkeit und 2. Schuld. In dem Gesamtunrechtstatbestand sollen die Elemente der Verbotsnormen als positive Tatbestandsmerkmale, die Elemente der Rechtfertigungsgründe als negative Tatbestandsmerkmale angesehen werden. Der Vorsatz erfordert danach die Kenntnis der positiven Tatbestandsmerkmale und die Unkenntnis negativer Tatbestandsmerkmale. An dieser Unkenntnis mangelt es aber einem Täter, der sich irrig einen Sachverhalt vorstellt, der die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes erfüllen würde. Auf die irrige Annahme tatsächlicher Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes ist danach ebenfalls § 16 Abs. 1 StGB

unmittelbar anwendbar; es handelt sich um einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum. Um den »Gesamtunrechtstatbestand« der Körperverletzung vorsätzlich zu erfüllen, muss Klaus im Bewusstsein und mit dem Willen zuschlagen, dass er Andy körperlich misshandelt, und er muss wissen, dass er keine Berechtigung dazu hat. Klaus ist aber durch seinen Irrtum der Meinung, das Recht auf seiner Seite zu haben. Der Gesamtunrechtstatbestand der vorsätzlichen Körperverletzung ist also nicht erfüllt. Gegebenenfalls kommt auch nach dieser Theorie eine Bestrafung wegen fahrlässiger Körperverletzung in Betracht.

Die Schuldtheorie Die Schuldtheorie gibt es in vielen Varianten. Gemeinsam ist allen diesen Ansätzen, dass sie die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen ablehnen. Dogmatisch folgerichtig stellen sie entschieden fest, dass Rechtfertigungsgründe nicht die Tatbestandsmäßigkeit, sondern nur die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens beseitigen. Folglich werde durch die irrige Annahme eines Rechtfertigungsgrundes nicht der Tatbestandsvorsatz, sondern nur das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ausgeschlossen. Wenn es um dieses Element des Verbrechensaufbaus, also um das Unrechtsbewusstsein, geht, dann befindet man sich auf der Ebene der Schuld. Wer also irrig die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes annimmt, handelt nicht im Tatbestands-, sondern im Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB: Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe nach § 49 I StGB gemildert werden.

Wird der Erlaubnistatbestandsirrtum nach der Schuldtheorie stringent als Verbotsirrtum im Sinne von § 17 StGB beurteilt, so entfällt nur bei dessen Unvermeidbarkeit – an die strenge Anforderungen zu stellen sind (siehe oben) – nach § 17 S. 1 StGB die Schuld, während es im Falle eines vermeidbaren Irrtums bei einem strafbaren Delikt bleibt, das allenfalls mit einer milderen Strafe nach § 17 S. 2 StGB belegt werden kann.

Die rechtsfolgenverweisende eingeschränkte Schuldtheorie Diese Konsequenz erscheint den Vertretern der herrschenden Schuldtheorie zu hart, da sich ein Mensch, der einem Erlaubnistatbestandsirrtum unterliegt, doch rechtstreu verhalten will. Nach dieser Theorie lässt der Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes nicht den Tatbestandsvorsatz entfallen, wohl aber die Vorsatzschuld. Die Einzelheiten dieser theoretischen Operation müssen Sie nicht kennen. Im Kern geht es darum, dass der Vorsatz in ein tatbestandsbezogenes Element und in ein vorwurfsbezogenes Element aufgespalten wird. Bei einem Täter unter dem Einfluss eines Erlaubnistatbestandsirrtums kann der Vorwurf, sich gegen das Recht entschieden zu haben, nicht erhoben werden. Die Tat ist folglich – »rechtsfolgenverweisend« (so ja der Name der Theorie) – in entsprechender Anwendung der Rechtsfolge des § 16 I StGB wie ein Fahrlässigkeitsdelikt zu behandeln. Anders ausgedrückt: Der Erlaubnistatbestandsirrtum wird in seinen Rechtsfolgen dem in § 16 geregelten Tatumstandsirrtum gleichgestellt. Dies bedeutet für unseren Fall weiter: Zwar wird in der Rechtsfolge eine Bestrafung von Klaus wegen einer vorsätzlichen Körperverletzung ausgeschlossen, weil es an der hierfür erforderlichen Vorsatzschuld fehlt. Gleichwohl ist seine »Verteidigung« ein vorsätzlicher und rechtswidriger Angriff auf Andy. Soweit dies Andy gelingen würde, könnte er sich gegen

Klaus gerechtfertigt durch § 32 StGB in der erforderlichen Weise verteidigen. Selbstverständlich könnte auch ein besonnener Bankkunde, der die Karnevalssituation erkennt, im Wege der Nothilfe für Andy den Angriff von Klaus stoppen.

»Notwehr« im Karneval Für die Strafbarkeit von Klaus wegen fahrlässiger Körperverletzung ist nicht einfach die Gleichung »Erlaubnistatbestandsirrtum = Fahrlässigkeit« aufzustellen. Vielmehr ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen einer Strafbarkeit wegen fahrlässigem Verhalten vorliegen (siehe dazu Kapitel 11). Folglich muss der Irrtum von Klaus auf einer Fehleinschätzung beruhen, die mit einer sorgfaltswidrigen Lagebeurteilung zusammenhängt. Hätte es auch bei einer sorgfältigen Beurteilung der Situation nach einem realen Banküberfall ausgesehen, dann kann in der Attacke von Klaus gegen Andy kein pflichtwidriges Verhalten erkannt werden. Hier werden Sie die Informationen des Falls sorgfältig auswerten müssen. Sie sollten dazu zum Beispiel wissen, dass die Dienstvorschriften und spezielle Schulungen für Bankangestellte dringend vor solchen Verteidigungsmaßnahmen warnen, als Richter/-in müssten Sie die übrigen vor Ort anwesenden Zeugen anhören, natürlich müssten Sie die Verhältnisse im Straßenkarneval berücksichtigen und so weiter. Bedenken Sie auch, ob Sie ähnlich wie bei der Regelung des § 33 StGB (Notwehrüberschreitung) die Art der wirksamen Affekte in der Situation aufklären sollten. Wie wäre es, wenn sich herausstellt, dass Klaus in der Situation »den Helden spielen« wollte?

Kapitel 18

Keine Strafe ohne Schuld IN DIESEM KAPITEL Schuld als Vorwerfbarkeit Defizite der Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit Vorsätzlich herbeigeführte Schuldunfähigkeit (actio libera in causa) Fehlende Verbotskenntnis (Verbotsirrtum) Gewissenstäter Handeln in Lagen außergewöhnlicher Bedrängnis Irrtum über Entschuldigungsgründe

Nach dem Grundsatz »Keine Strafe ohne Schuld« reagiert unsere Rechtskultur auf die Rechtsverletzung durch einen Menschen nur dann mit Strafe, wenn sein tatbestandsmäßiges und rechtswidriges Verhalten vorwerfbar ist (siehe auch Kapitel 3).

Schuld als Vorwerfbarkeit Nur wer für sein Verhalten etwas kann, verantwortlich ist, das Unrecht erkannt und nicht in einem unauflösbaren Konflikt zwischen den Verhaltensanforderungen des Rechts und einer bedrängenden Lage stand, soll mit dem folgenschweren Vorwurf belegt werden, dass er/sie sich gegen das Recht entschieden hat. Schuld bedeutet den Vorwurf: »Du hättest anders handeln können und hast dich für die Rechtsverletzung entschieden.« Damit stehen Sie vor einer sehr grundsätzlichen Betrachtung letztlich

unlösbarer Fragen der Philosophie und Psychologie. Unter dem Titel »Determinismus versus Indeterminismus« wird seit Jahrhunderten darüber gestritten, ob der Mensch in seiner Willensbildung, in seinen Entscheidungen und seinem Handeln überhaupt frei ist. Die Psychoanalyse und neuerdings die Neurowissenschaften stellen infrage, ob der Mensch zur Selbstbestimmung über sein Handeln in der Lage ist oder ob nicht das Unbewusste oder neuronale Verknüpfungen über ihn herrschen. Die Willensfreiheit des Menschen kann natürlich mit empirischen Erkenntnissen und daraus abgeleiteten Thesen infrage gestellt werden, dies ändert freilich nichts daran, dass die Annahme von der Verantwortlichkeit von Menschen für ihre Handlungen eine der Grundannahmen für die Organisation und das Selbstverständnis unserer Gesellschaft ist. Winfried Hassemer hat das einmal (2010) glänzend auf den Punkt gebracht: »Subjektive Zurechnung stiftet den Zusammenhang von Ereignis und Verantwortlichkeit des Menschen, der das Ereignis verursacht hat. Sie begründet Schuld. Sie setzt objektive Zurechenbarkeit voraus und treibt deren Fragestellung bis zum Konzept der Person voran. Subjektive Zurechnung erlaubt die rationale Unterscheidung und Bewertung von Graden des Dafür-Könnens, der inneren Beteiligung des Menschen an seiner Tat, von der Absicht bis zur unbewussten Fahrlässigkeit. Auch diese Unterscheidung gehört zur Kultur der Zurechnung und ist in unserem normativen Alltag tief verankert.« In diesem Sinne hat sich unsere Gesellschaft für den Grundsatz der Verantwortlichkeit entschieden und dies in den einschlägigen Vorschriften über die Schuld so ausgestaltet, dass nicht positiv eine Feststellung von Willensfreiheit und Selbstbestimmung für jeden Täter verlangt wird, sondern negativ gefragt wird, ob ein

Ausnahmefall der Schuldausschließung oder Schuldmilderung vorliegt.

Defizite der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit Solche Defizite können auf der mangelnden Reife, geistigen Behinderungen, auf schwerwiegenden psychischen Störungen oder Rauschzuständen der handelnden Personen beruhen.

Schuldunfähigkeit von Kindern Für Personen unter 14 Jahren (»Kinder«) wird gemäß § 19 StGB die Schuldunfähigkeit vermutet, und zwar unwiderleglich, das heißt, diese Altersgrenze kann auch dann nicht unterschritten werden, wenn es sich um einen besonders »frühreifen« Menschen handelt. Diese Altersgrenze ist international nicht einheitlich: in unserem Nachbarland Schweiz beginnt die Strafmündigkeit mit zehn Jahren, im angloamerikanischen Rechtskreis zum Teil mit sieben Jahren. Der Ausschuss für die Rechte des Kindes bei den Vereinten Nationen fordert, für die Strafmündigkeit eine nicht unter dem vollendeten zwölften Lebensjahr liegende Altersgrenze festzulegen. Diese Altersgrenze kann mit entwicklungspsychologischen Erkenntnissen begründet werden: Zwar werden ältere Kinder wissen, dass das unbefugte Wegnehmen von Sachen oder die vorsätzliche Verletzung eines Spielkameraden nicht erlaubt sind, sie verfügen jedoch nicht über ein differenziertes Normbewusstsein und sind in ihren Handlungen von kaum beherrschbaren Impulsen bestimmt. Auch wenn Kinder dabei durchaus gezielt vorgehen können, kommt den Handlungen nicht der Charakter einer Entscheidung gegen die Verhaltensnormen des Rechts zu. Zudem entspricht es unseren humanistischen Ansichten über einen angemessenen Umgang mit Kindern, dass man auf ihr Fehlverhalten bis zu einem

bestimmten Alter nicht mit Strafe, sondern mit pädagogischhelfenden Maßnahmen reagieren sollte.

Körperlich-geistige Zustände, die die Schuld ausschließen Der § 20 StGB benennt körperlich-geistige Zustände, die die Schuld ausschließen können. Die Regelung macht in ihrem Aufbau (»ohne Schuld handelt, wer …«) deutlich, dass die Schuldfähigkeit als Regelfall, die Schuldunfähigkeit dagegen als Ausnahme anzusehen ist. Als Ausnahmetatbestand wird § 20 StGB nur bei Anhaltspunkten für die Schuldunfähigkeit des Täters erheblich. Auch wenn sich in Strafrechtsfällen zuweilen schier unglaubliche Dinge zutragen, bedeutet das nicht, dass sich der Täter in einem krankhaften Zustand befunden hat, der ihm die Einsicht in das Unrecht seines Tuns und die Steuerung seiner Handlungen verunmöglicht hat. Zeigen sich Indizien für eine Schuldunfähigkeit, so ist eine zweistufige Prüfung vorzunehmen: 1. Liegt beim Täter einer der in § 20 bezeichneten abnormen Geistes- oder Seelenzustände vor? 2. Ist die Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit des Täters zum Zeitpunkt der Tat durch seinen Zustand ausgeschlossen? Nicht jeder der in § 20 StGB genannten Zustände muss notwendigerweise immer und vollständig zu einem Ausschluss der Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit führen. Manche Fragen kann Ihnen nur ein medizinischer und/oder psychologischer Gutachter beantworten, zum Beispiel: Liegt bei einem Täter eine krankhafte seelische Störung wie zum Beispiel Schizophrenie oder sonst eine Psychose vor? Lag bei der Tatbegehung eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung durch Alkohol, andere Drogen oder

durch Medikamentenmissbrauch vor? Wurde ein hochgradiger Affekt wirksam? Lässt sich beim Täter eine erhebliche Intelligenzminderung diagnostizieren? Liegt eine schwere Persönlichkeits- oder Triebstörung vor? War die betreffende Person in diesem Zustand in der Lage, das Unrecht der Tat einzusehen, und war sie fähig, nach dieser Einsicht zu handeln? Die Entscheidung muss dann letztlich aber durch das Gericht unter Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters und der gesamten Tatumstände erfolgen. Einen Automatismus der Art, dass zum Beispiel bei Personen mit einer gesicherten Diagnose von Schizophrenie stets und bei allen Taten von Schuldunfähigkeit auszugehen ist, gibt es nicht. Ein populärer Irrtum ist auch, dass die Feststellung von Schuldunfähigkeit bei einer Tat eine dauerhafte Wirkung (Volksmund »Jagdschein«) besitzt.

Im Rausch: Alkohol oder Drogen Die praktisch bedeutsamste Form eines möglicherweise schuldausschließenden Geisteszustandes ist der Vollrausch durch Alkohol oder Drogen (häufig auch in Gestalt einer kombinierten Wirkung). An diesem Beispiel möchte ich Ihnen die Schritte der Beurteilung noch einmal vorführen.

Nehmen wir einmal an, Sie treffen sich am Samstagabend mit Freunden zu einem Saufgelage. Nach circa vier Stunden haben Sie zehn große Flaschen Bier und mehrere Wodka getrunken. Wenn Sie ein normales Gewicht und eine durchschnittliche Körpergröße haben, liegt Ihr Promillewert zu diesem Zeitpunkt sicher über 3 Promille und damit im Bereich der Volltrunkenheit. Bei Frauen tritt dieser Zustand schon früher ein, weil ihr Körper empfindlicher auf Alkohol reagiert. Ihre Sehfähigkeit und vor allem das räumliche Sehen sind deutlich verschlechtert. Ihre Sinne sind verwirrt. Sie haben deutliche Sprech-, Reaktions-, Gleichgewichtsund Orientierungsstörungen. Alles dies macht Sie weinerlich oder aggressiv. Ihre Emotionen sind schwankend, das Hemmungsvermögen ist extrem reduziert. Auf dem torkelnden Weg zur Toilette stoßen Sie mit einem Menschen zusammen und reagieren mit üblen Beschimpfungen und einem kräftigen Faustschlag ins Gesicht. Für den Alkoholrausch gibt es keinen allgemeingültigen medizinischen Erfahrungssatz, dass jeder Mensch bei einer bestimmten Blutalkoholkonzentration immer und im Hinblick auf jedwede Handlung schuldunfähig ist. Die Gerichte müssen stets die Umstände des Einzelfalls beurteilen, wobei die Blutalkoholkonzentration nur ein (wenn auch gewichtiges) Indiz für Schuldunfähigkeit ist. Immer kommt es aber auch auf das konkrete Tatgeschehen und die Persönlichkeit des konkreten Täters an. Eine erhebliche Rolle spielen auch dessen bisherige Erfahrung im Umgang mit Alkohol, der Grad der Gewöhnung an berauschenden Alkoholkonsum oder gar das Vorliegen einer Alkoholkrankheit. Lediglich als Faustregel kann gelten, dass Schuldunfähigkeit ab einer Blutalkoholkonzentration von 3 Promille angenommen werden kann. Bei Angriffen auf das Leben nehmen die Gerichte einen Wert von über 3,3 Promille an, weil die Hemmschwelle zur

Tötung eines Menschen auch unter Alkoholeinfluss noch relativ hoch liegt. Die Gerichte dürfen diese Werte nicht schematisch anlegen, sondern sind – wie immer bei Schuldfähigkeitsbeurteilungen – auf die Unterstützung durch Sachverständige angewiesen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang weiter, dass es auf die Höhe der Blutalkoholkonzentration (BAK) zum Zeitpunkt der Tat ankommt. Natürlich wird eine Blutprobe nicht gleich nach der Tat abgenommen, zwischen dem Erscheinen der Polizei, der Anordnung einer Blutprobe und deren Durchführung durch einen Arzt kann eine geraume Zeit vergehen. Hieraus ergeben sich zahlreiche gerichtsmedizinische Fragestellungen: ob der Täter bis kurz vor der Tat getrunken hat, sodass es nach der Tat noch zu einem Anstieg der BAK gekommen ist; ob der Täter nach der Tat (Nachtrunk) erheblich getrunken hat, um einen Vollrausch herbeizuführen und so weiter. In solchen Konstellationen muss das Gericht mit sachverständiger Unterstützung den BAK-Wert zum Zeitpunkt der Blutentnahme auf den Tatzeitwert der BAK zurückrechnen. Auch in diesem Bereich wird mit Faustregeln gearbeitet: Danach ist im günstigsten Fall von einem Alkoholabbau von 0,2 Promille pro Stunde zu rechnen; pauschal wird ein einmaliger Abschlag von 0,2 Promille hinzugefügt. Dass die Dinge im Einzelfall ganz anders liegen können, mögen Sie am Fall sehen, den Sie im Kasten »Alkohol und Gipserbeil« finden.

Alkohol und Gipserbeil (nach BGH StV 1998, 258) Der alkoholabhängige Klaus hatte am Tattag erhebliche Mengen Bier getrunken. Gegen 21:00 Uhr kam es zwischen ihm und seinem Onkel Wilhelm in dessen Wohnung zu einem Streit, weil dieser ihm Vorhaltungen wegen seines Lebenswandels machte. Als sein Onkel ihm den Rücken zuwandte,

schlug Klaus ihm mehrfach mit einem Gipserbeil auf den Hinterkopf. Wilhelm verlor daraufhin das Bewusstsein und stürzte zu Boden. Dort schlug Klaus weiter mit dem Beil auf ihn ein. Wilhelm erlitt hierdurch eine Vielzahl schwerster Schädel- und Hirnverletzungen, an deren Folgen er verstarb. Durch das Geschehen wurde die ebenfalls in der Wohnung anwesende Tante Hella wach. Klaus, dem bewusst war, dass er seinen Onkel getötet hatte, begab sich daraufhin zu seiner auf einem Sofa liegenden Tante und schlug ihr in der Absicht, sie als Tatzeugin auszuschalten, mit dem Gipserbeil insgesamt acht Mal auf den Hinterkopf. Hella trug eine Zertrümmerung der Schädeldecke und schwere Gehirnverletzungen davon, die zu ihrem Tode führten. Das erstinstanzliche Gericht ist mit sachverständiger Beratung von einer Blutalkoholkonzentration von 3,79 Promille zum Tatzeitpunkt ausgegangen und hat auf Schuldunfähigkeit von Klaus erkannt. Dagegen führt der 4. Senat des Bundesgerichtshofs aus: »Ein wissenschaftlicher Erfahrungssatz, wonach ab einem bestimmten Blutalkoholwert in der Regel von einem Ausschluss der Schuldfähigkeit (oder auch nur von einer erheblichen Verminderung) ausgegangen werden kann, existiert nicht und ist auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nicht angenommen worden. Daher hat der Tatrichter bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 20 StGB vorliegen, neben der errechneten Blutalkoholkonzentration auch alle wesentlichen objektiven und subjektiven Umstände, die sich auf das Erscheinungsbild und das Verhalten des Täters vor, während und nach der Tat beziehen, zu beurteilen und gegeneinander abzuwägen. Hierzu zählt – entgegen der Auffassung des Landgerichts – auch der Umstand, dass nach dem derzeitigen medizinischen Kenntnisstand dem Gesichtspunkt der Alkoholgewöhnung und der Alkoholtoleranz des Täters bei der vorzunehmenden Gesamtabwägung insoweit Bedeutung zukommt, als alkoholgewohnte Personen selbst bei sehr hohen Blutalkoholwerten in ihrer Leistungsfähigkeit in weitaus geringerem Maße von der Alkoholintoxikation beeinträchtigt werden als nicht trinkgewohnte Menschen. Demgemäß wird das indizielle Gewicht einer Blutalkoholkonzentration bei einem Alkoholabhängigen regelmäßig geringer einzustufen sein als bei einem Gelegenheitskonsumenten.«

In strafrechtlichen Klausuren und Hausarbeiten werden Sie selten mit derartigen Problemen konfrontiert sein, weil die erforderliche Gesamtwürdigung nicht auf der Grundlage eines Sachverhalts in

Papierform erfolgen kann. Erforderlich sind psychologischpsychiatrischer Sachverstand, die Beurteilung der Persönlichkeit und eine umfassende Sachaufklärung. Mit den Wirkungen des Alkohols und den Schwellenwerten sollten Sie sich jedoch nicht zuletzt im Hinblick auf die große Bedeutung im Verkehrsstrafrecht vertraut machen.

Vorsätzliche Herbeiführung der Schuldunfähigkeit – actio libera in causa Sie werden sich vielleicht beim Lesen der Ausführungen zur alkoholbedingten Schuldunfähigkeit die Frage gestellt haben, ob es denn möglich sein kann, dass sich ein Täter für eine Tat »Mut antrinkt« und ohne Strafe davonkommt, wenn er diese Tat dann volltrunken – also im Zustand der Schuldunfähigkeit – begeht. Max plant einen Raub für Samstagabend. Er beginnt am Freitagabend zu trinken. In der Nacht zum Tattag trinkt er zwischen 18 Uhr und 3 Uhr circa 25 Gläser Bier zu je 0,2 l, am Vormittag des Tattages zwischen 9 Uhr und 11 Uhr zehn Flaschen Bier zu je 0,33 l, am Nachmittag zwischen 14:45 Uhr und 17 Uhr weitere sechs Flaschen Bier gleicher Größe und am Abend bis etwa 21 Uhr noch drei Gläser Bier zu je 0,3 l. Mit dem Sachverständigen ist im Hinblick auf die Alkoholgewöhnung von Max davon auszugehen, dass er zwischendurch einen deutlich höheren BAK-Wert als 3 Promille hatte, aber durch den parallel verlaufenden Alkoholabbau zur Tatzeit am Samstagabend um 22 Uhr sein BKA-Wert um die 2,5 Promille lag. Er war zu diesem Zeitpunkt noch zur Steuerung seiner Handlungen in der Lage und konnte beim Raub gezielt vorgehen.

Die Frage lautet nun, ob sein Alkoholkonsum in irgendeiner Weise schuldmindernd (§ 21 StGB) oder gar schuldausschließend (§ 20 StGB) berücksichtigt werden muss. An dieser Stelle muss ich Sie einmal wieder mit einem lateinischen Rechtsbegriff konfrontieren: Unter Juristen nennt man dieses Problem actio libera in causa (oder kurz: alic). Unter einer actio libera in causa versteht man das freiverantwortliche Anstoßen eines Geschehensablaufs (»Ich betrinke mich jetzt für die Tat«), der zu dem Zustand der Schuldunfähigkeit bei der Verwirklichung eines Straftatbestandes führt. Max hat sich ab Freitagabend bewusst betrunken, um dann am Samstag entsprechend enthemmt einen Raub zu begehen (»Mut antrinken«). Bei seiner Raubtat am Samstagabend ist er koordiniert vorgegangen und wusste, was er tat. Die überwiegende Meinung in der Rechtslehre und die Rechtsprechung (mit gewissen, hier nicht bedeutsamen Einschränkungen) wollen in solchen Konstellationen eine schuldausschließende oder schuldmindernde Berücksichtigung der Trunkenheit ausschließen. Die dogmatische Begründung für diese Lösung ist eines der Themen in der Strafrechtslehre, zu denen es eine große Zahl von Ansätzen gibt. Deswegen werden dazu häufig Hausarbeiten gestellt. Es gilt nämlich, eine große Klippe zu überwinden: Nach dem Wortlaut des § 20 StGB ist für die Frage der Schuld des Täters der Zeitpunkt »bei Begehung der Tat« entscheidend. Täter, die sich für die Tat berauschen, sind bei Begehung der Tat schuldunfähig oder vermindert schuldfähig. Im Gesetz ist jedoch eine zeitliche Deckung von Schuld und Unrechtsverwirklichung festgeschrieben – das nennt man Koinzidenzprinzip. Wie Sie aus der Einführung in die Grundlagen des Strafrechts wissen (Kapitel 2), gilt für die Bestrafung das Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 II (nulla poena sine lege). Nimmt man das Gesetz in § 20 StGB

»beim Wort« – und dazu ist man im Strafrecht durch das Grundgesetz verpflichtet –, dann ist die Konstruktion der actio libera in causa als Verletzung des Koinzidenzprinzips verfassungswidrig. Bestraft wird nicht auf Grundlage des Gesetzes, sondern aus dem – durchaus nachvollziehbaren – Rechtsgefühl, das es nicht gerecht sein kann, wenn sich Täter auf diese Weise ihrer Verantwortung entziehen. Zu Recht betonen einige meiner Kollegen, dass dieses inhaltlich durchaus begründbare Ergebnis auf eine rechtsstaatlich korrekte Weise nur durch eine entsprechende gesetzliche Regelung erzielt werden kann.

Diskussionen rund um die actio libera in causa Gleichwohl gibt es zahlreiche Begründungsmodelle für eine Strafbarkeit auch unter dem geltenden Recht, die ich Ihnen nur kurz vorstellen und deren Schwächen benennen will. Einige Autoren behaupten, dass nach einem gewohnheitsrechtlichen Ausnahmemodell Fälle der actio libera in causa nicht in strikter Orientierung am Gesetz gelöst werden müssten. Diese Auffassung wird vom Bundesgerichtshof zu Recht als unvertretbare Durchbrechung des Wortlauts von § 20 StGB und des Grundsatzes »Keine Strafe ohne Gesetz« angesehen (BGHSt 42, 235 [241]). Andere Autoren schlagen vor, den tatbestandlich zu berücksichtigenden Sachverhalt zu erweitern. Nach dem Ausdehnungsmodell wird der Schuldtatbestand auf Handlungen vor Begehung der Tat ausgedehnt. Hierzu gehört das Sichberauschen, um eine Tat zu begehen. Zu Beginn dieser Handlung liegt noch Schuldfähigkeit vor. Dehnt man den Tatbestand auf diesen Zeitpunkt aus, dann kann man sagen, dass der Täter zu einem wichtigen Zeitpunkt der Tatbegehung zurechnungsfähig war. Es stellt sich freilich die Frage, ob eine solche Aussage tragfähig ist: Nach § 8 StGB ist eine Tat »zu der Zeit begangen, zu welcher der Täter […] gehandelt hat«. Max sitzt am Freitagabend an der Theke und trinkt ein Bier nach dem anderen. Vierundzwanzig Stunden später wird er einen Raub begehen. Handelt er am Freitagabend schon »als Räuber«, wenn er sich betrinkt? Oder beginnt eine Raubtat nicht erst dann, wenn er etwas »Räuberisches« tut? Wir werden auf die Stadien der Verwirklichung eines Straftatbestandes später bei der Lehre vom strafbaren Versuch zurückkommen (in Kapitel 24). Hier nur so viel: Durch das Ausdehnungsmodell wird der Anknüpfungspunkt für eine strafrechtliche

Verantwortlichkeit extrem vorverlagert und umfasst Handlungen, die möglicherweise völlig neutral bleiben. Wie viele mögen sich mit finsteren Plänen betrinken und es dann gar nicht mehr schaffen, diese Pläne in die Tat umzusetzen?

Fehlende Verbotskenntnis (Verbotsirrtum) Mit der fehlenden Verbotskenntnis beschäftigt sich in der spiegelverkehrten Form der Erlaubnisirrtum (siehe Kapitel 17). Herr Can glaubt, er sei berechtigt, die Ehre seiner Schwester Fatma gegen den sexuellen Übergriff durch Hans-Peter zu verteidigen. Man kann das auch so ausdrücken: Herr Can hat keine Kenntnis davon, dass dies verboten ist. Durch die Regelung des § 17 StGB ist die Schuldtheorie zum Gesetz geworden. Danach bildet das Bewusstsein, Unrecht zu tun, ein selbstständiges Element der Schuld. Früher betrachtete man nach der Vorsatztheorie das Unrechtsbewusstsein als ein Element des Vorsatzes; diese Theorie ist jedoch im Hinblick auf die Regelung des Gesetzes nicht mehr vertretbar. Fehlt dem Täter also das Unrechtsbewusstsein, so befindet er sich gem. § 17 S. 1 StGB im Verbotsirrtum. Man unterscheidet zwei Formen: Der unvermeidbare Verbotsirrtum führt zum Schuldausschluss. Der vermeidbare Verbotsirrtum führt nach § 17 S. 2 StGB lediglich zur Möglichkeit einer Strafmilderung. Gibt ein Sachverhalt Anhaltspunkte dafür, dass der Täter das Verbotene seines Tuns nicht erkannt hat, so müssen Sie genau untersuchen, ob dem Täter das Unrechtsbewusstsein seines

konkreten Verhaltens gefehlt hat, und dann erörtern, ob dieser Verbotsirrtum für ihn unvermeidbar gewesen ist. Unrechtsbewusstsein setzt nicht voraus, dass der Täter die exakte Verbotsnorm und ihre Voraussetzungen kennt; er handelt schon dann mit Unrechtsbewusstsein, wenn er sein Verhalten ohne Kenntnis der besonderen Verbotsnorm für verboten hält. Piet hat sich ausgerechnet, dass die Benutzung der Straßenbahn für ihn »billiger kommt«, wenn er schwarzfährt und bei den gelegentlichen Kontrollen dann halt das »erhöhte Beförderungsentgelt« bezahlt. Ihm ist dabei aber »mulmig«, weil er einmal gehört hat, dass die Verkehrsgesellschaft wiederholte Schwarzfahrer bei der Staatsanwaltschaft anzeigt und dann ein Strafverfahren droht. Diese Zweifel von Piet an der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens reichen für ein Unrechtsbewusstsein aus. Er muss nicht den Straftatbestand des Erschleichens von Leistungen (§ 265 a StGB) und seine Tatbestandsmerkmale kennen. Insofern gilt der alte Volksspruch »Unwissenheit schützt vor Strafe nicht«. Unvermeidbar ist ein Verbotsirrtum nur dann, wenn der Täter keinerlei Anlass gehabt hat, an der Rechtsmäßigkeit seines Verhaltens zu zweifeln, oder aber, wenn bestehende Unrechtszweifel von einer kompetenten Stelle überzeugend ausgeräumt worden sind. Hat der Täter auch nur geringe Unrechtszweifel, dann verlangt die Rechtsprechung eine Anspannung des Gewissens und geht von einer Erkundigungspflicht aus. Ausreichend ist die Erkundigung nur, wenn von der befragten Stelle eine zutreffende Auskunft erwartet werden kann. Nicht ausreichend zum Ausschluss von Unrechtszweifeln ist deswegen zum Beispiel die Auskunft eines fragwürdigen Rechtsanwalts, den man gerade damit beauftragt hat, »Schlupflöcher« im Recht zu finden.

Herr Müller betreibt einen unseriösen Notfallservice für Computer und rechnet seine Dienstleistungen mit einem Stundensatz von 250 Euro ab. Im Schnitt liegen seine Rechnungen bei 750 Euro. Für säumige Kunden hat er mithilfe von Rechtsanwalt Rabe ein Mahnschreiben entwickelt, das ein Zahlungsziel von sieben Tagen setzt und bei Nichtbezahlung mit einer »Kontopfändung« sowie einem »Schufa-Eintrag« droht. Eine solche Vorgehensweise ist auch bei sehr geschickter Formulierung im Anwendungsbereich des Straftatbestandes der Erpressung (§ 253 StGB) anzusiedeln. Haben Herr Müller und Rechtsanwalt Rabe dahin gehend zusammengewirkt, ein »Geschäftsmodell« zu finden, das »haarscharf« eine Erpressung vermeiden soll, dann kann sich Herr Müller nicht darauf berufen, er sei nach anwaltlicher Beratung davon überzeugt gewesen, rechtmäßig zu handeln. Dies ist deswegen der Fall, weil es beim Verbotsirrtum nicht um formalistische Betrachtungen zur Rechtmäßigkeit des Verhaltens, sondern um die inhaltliche Bewertung und um das Wissen des Täters um die soziale Unverträglichkeit seines Verhaltens geht. Etwa im Hinblick auf Regelungen des Steuer-, Umwelt- und Wirtschaftsstrafrechts würde man bei einer anderen Betrachtungsweise gesetzesumgehenden »Gestaltungen« zum Schaden der Allgemeinheit Tür und Tor öffnen.

Sogenannte Gewissenstäter Es kann Situationen geben, in denen Menschen nicht dem Gesetz, sondern ihrem Gewissen folgen und nach dessen Geboten handeln. Gemeint sind hier nicht Überzeugungstäter, die sich umstandslos über gesetzliche Verbote hinwegsetzen, weil sie von der Richtigkeit ihres Handelns überzeugt sind. Es geht um Menschen, die sich in einem existenziellen Sinne von einem

sittlichen Gebot für ihr Handeln bestimmt fühlen. Für sie stellt sich in bestimmten Lagen gar nicht die Frage, ob sie sich für oder gegen das Recht entscheiden, sondern es geht darum, wie sie sich ihren sittlichen Pflichten entsprechend verhalten können. (nach BVerfGE 32, 98) Johannes gehört der religiösen Vereinigung des evangelischen Brüdervereins in Baden-Württemberg an. Seine Ehefrau Margot war ebenfalls Mitglied dieser Gemeinschaft. Die nach der Geburt des vierten Kindes unter akutem Blutmangel leidende Margot lehnte es ab, sich ärztlichem Rat gemäß in eine Krankenhausbehandlung zu begeben und insbesondere eine Bluttransfusion vornehmen zu lassen. Johannes unterließ es, seinen Einfluss auf seine Ehefrau im Sinne der ärztlichen Ratschläge geltend zu machen. Sie folgten dem Glaubensgebot der Gemeinschaft: »Ist jemand krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde und lasse über sich beten und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen.« Eine medizinische Heilbehandlung unterblieb. Margot, die bis zuletzt bei klarem Bewusstsein war, verstarb. Johannes war zunächst wegen fahrlässiger Tötung seiner Ehefrau durch Unterlassen, nach Berufung und Revision schließlich wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt worden. In einer Verfassungsbeschwerde machte Johannes geltend, dass durch die Verurteilung seine Handlungs- und Glaubensfreiheit (Art. 2, 4 GG) verletzt worden sei. Er habe nicht gezwungen werden dürfen, entgegen seiner Glaubensüberzeugung zu handeln. Es sei unzulässig, die »biblische Heilmethode« grundsätzlich abzulehnen und im Beschreiten dieser Heilmethode einen Verzicht auf Hilfeleistung zu erblicken. Ob die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Fall heute im Zeichen der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um fundamentalistische

Glaubensrichtungen noch so fallen würde, kann man in Zweifel ziehen. Sie bedarf aber einer kurzen Würdigung, um noch einmal wesentliche Elemente der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und des Schuldvorwurfs herauszustellen. Es heißt in der BVerfGE 32, 98 (107 f.): »Wer sich in einer konkreten Situation durch seine Glaubensüberzeugung zu einem Tun oder Unterlassen bestimmen lässt, kann mit den in der Gesellschaft herrschenden sittlichen Anschauungen und den auf sie begründeten Rechtspflichten in Konflikt geraten. Verwirklicht er durch dieses Verhalten nach herkömmlicher Auslegung einen Straftatbestand, so ist im Lichte des Art. 4 Abs. 1 GG zu fragen, ob unter den besonderen Umständen des Falles eine Bestrafung den Sinn staatlichen Strafens überhaupt noch erfüllen würde. Ein solcher Täter lehnt sich nicht aus mangelnder Rechtsgesinnung gegen die staatliche Rechtsordnung auf; das durch die Strafdrohung geschützte Rechtsgut will auch er wahren. Er sieht sich aber in eine Grenzsituation gestellt, in der die allgemeine Rechtsordnung mit dem persönlichen Glaubensgebot in Widerstreit tritt, und er fühlt die Verpflichtung, hier dem höheren Gebot des Glaubens zu folgen. Ist diese Entscheidung auch objektiv nach den in der Gesellschaft allgemein herrschenden Wertvorstellungen zu missbilligen, so ist sie doch nicht mehr in dem Maße vorwerfbar, dass es gerechtfertigt wäre, mit der schärfsten der Gesellschaft zu Gebote stehenden Waffe, dem Strafrecht, gegen den Täter vorzugehen. Kriminalstrafe ist – unabhängig von ihrer Höhe – bei solcher Fallgestaltung unter keinem Aspekt (Vergeltung, Prävention, Resozialisierung des Täters) eine adäquate Sanktion. Die sich aus Art. 4 Abs. 1 GG ergebende Pflicht aller öffentlichen Gewalt, die ernste Glaubensüberzeugung in weitesten Grenzen zu respektieren, muss zu einem Zurückweichen des

Strafrechts jedenfalls dann führen, wenn der konkrete Konflikt zwischen einer nach allgemeinen Anschauungen bestehenden Rechtspflicht und einem Glaubensgebot den Täter in eine seelische Bedrängnis bringt, der gegenüber die kriminelle Bestrafung, die ihn zum Rechtsbrecher stempelt, sich als eine übermäßige und daher seine Menschenwürde verletzende soziale Reaktion darstellen würde.« Zu dieser Position des Bundesverfassungsgerichts sind einige Erläuterungen notwendig. Es geht nicht darum, religiöse Fanatiker, die sich für Übergriffe auf andere Menschen unter Verletzung des Rechts entscheiden, von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit freizustellen. Es sollen nicht Witwenverbrennungen, rituelle Tötungen von Ungläubigen oder Ähnliches schuldlos gestellt werden. Überhaupt findet die Betätigung des Gewissens und Glaubens ihre absolute Grenze dort, wo Leib, Leben, Freiheit, der Glaube und die Gewissensentscheidungen anderer Menschen negiert werden und mit Zwang und Gewalt in ihre Rechtssphäre eingegriffen wird. Anton ist aus tiefem christlicher Glauben der Meinung, dass Schwangerschaftsabbrüche den Tatbestand des Mordes an menschlichen Geschöpfen verwirklichen. Er sieht es deswegen als seine Aufgabe vor Gott an, eine ortsansässige Frauenarztpraxis, in der Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, in »Schutt und Asche« zu legen. Entsprechend führt er in der Nacht einen Brandanschlag auf das Gebäude durch. Anton spricht mit dieser Tat unter Berufung auf seinen Glauben anderen Menschen die Ausübung ihrer Grundrechte ab, greift ihre Rechtsgüter an und stellt insgesamt den innerstaatlichen Friedenszustand infrage. Die Gewissens- und Glaubensfreiheit berechtigt zwar dazu, sich den Geboten seines Glaubens und den

sittlichen Pflichten seines Gewissens entsprechend zu verhalten; sie berechtigt jedoch nicht zum Terror gegenüber anders denkenden und glaubenden Menschen. Gewissenstäter können nur dann und insoweit Anerkennung finden, wie sie die Rechtsordnung in ihren wesentlichen Zügen anerkennen und die ihnen zukommende Toleranz auch gegenüber anderen Menschen üben. Die Gewissenstat ist ein seit vielen Jahrzehnten intensiv diskutiertes strafrechtliches Problem, das aber in der Praxis einen sehr schmalen Anwendungsbereich hat. Überwiegend geht es um Unterlassungstaten wie die Unterlassung der Einleitung bestimmter medizinischer Maßnahmen oder die Verletzung der Schulpflicht, die einen engen Kreis von Personen betreffen und keine Rechtsgüterverletzungen bei Dritten bewirken. In diesem Anwendungsbereich wird man dem Bundesverfassungsgericht zustimmen müssen, dass eine Kriminalstrafe »unter keinem Aspekt … eine adäquate Sanktion« ist. Dem Gewissenstäter gegenüber kann man nicht den für die Schuld erforderlichen Vorwurf des »Anders-handeln-Könnens« machen. Er folgt in seinem Handeln seinem Gewissen und wird nach dem Leitsatz »Hier stehe ich, ich kann nicht anders« von gegenläufigen Appellen des Rechts nicht erreicht. Insofern wohnt seinem Handeln auch nicht eine Entscheidung für das Unrecht inne; vielmehr ist der Gewissenstäter von der Vorstellung beseelt, das Richtige zu tun.

Handeln in Lagen außergewöhnlicher Bedrängnis Aus einer besonderen bedrängten Situation des Täters zum Zeitpunkt der Tat können sich Konsequenzen für den Schuldvorwurf ergeben. In Anlehnung an die Alltagssprache könnte man sagen, dass Not kein Gebot kennt und besondere

Umstände eine Tat verzeihlich erscheinen lassen können. Man hätte Schwierigkeiten zu sagen, wie man sich in solchen Situationen selber verhalten würde, und entsprechend schwierig ist es, einer anderen Person gegenüber einen Schuldvorwurf zu erheben.

Bedrängnis durch einen rechtswidrigen Angriff Beim Notwehrexzess (§ 33 StGB) überschreitet eine Person in der Verteidigung gegen einen rechtswidrigen Angriff die Grenzen zulässiger Notwehr. Dass der Täter beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 33 StGB für seine Handlungen nicht bestraft wird, beruht auf einer doppelten Schuldmilderung: 1. Der Täter wurde rechtswidrig angegriffen und war damit letztlich Opfer der Situation. 2. Durch diese Situation wurde beim Angegriffenen ein psychischer Ausnahmezustand ausgelöst. Die Überschreitung der Grenzen der Notwehr erfolgt nicht mit bösem Willen und aus Revanchegelüsten, sondern infolge von Verwirrung, Furcht oder Schrecken. Wer wollte in dieser Lage einem Menschen den Vorwurf des Anders-handeln-Könnens, also einen Schuldvorwurf, machen?

Rettung aus höchster Not – der entschuldigende Notstand (§ 35 StGB) Der entschuldigende Notstand (§ 35 StGB) beschreibt eine Situation, bei der es ums Ganze geht: Der Täter begeht eine rechtswidrige Tat, um eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit von sich selbst, seinem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden

Person abzuwenden. Weil sich zwei gleichwertige Interessen gegenüberstehen – klassisch: Leben gegen Leben –, kommt eine Rechtfertigung nach den Regeln über den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) nicht in Betracht. Von dem griechischen Philosophen Karneades ist ein Gedankenexperiment überliefert, das unter dem Titel »Brett des Karneades« als der klassische Lehrfall für den entschuldigenden Notstand gilt: Zwei Schiffbrüchige erreichen schwimmend eine im Wasser treibende Holzplanke. Wie sich herausstellt, kann diese Planke aber nur einen von den beiden tragen und damit sein Leben retten. In dieser Situation stößt der stärkere Schiffbrüchige den schwächeren von der Planke, der daraufhin ertrinkt. Grundvoraussetzung für die Anwendung der Regelung über den entschuldigenden Notstand ist das Bestehen einer Notstandslage, das heißt einer gegenwärtigen Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit. Hier droht demjenigen Schiffbrüchigen, dem es nicht gelingt, die Planke zu »erobern«, der Tod durch Ertrinken. Diese gegenwärtige Gefahr darf »nicht anders abwendbar« sein als durch die vorgenommene Handlung auf »Kosten« eines anderen Menschen. Dies bedeutet, dass es sich bei der Rettungshandlung um den einzigen, letzten und unvermeidbaren Ausweg (ultima ratio) aus der Lage handeln muss. Im KarneadesFall ist das Hinunterstoßen des Schwächeren für den Stärkeren das einzige und letzte Mittel zur Rettung seines Lebens. Seine körperliche Überlegenheit kann man dem Stärkeren nicht zum Vorwurf machen, er hat keine Pflicht gegenüber einem Schwächeren, auf die Rettung seines Lebens zu verzichten. Nach der Regelung des § 35 I S. 2 StGB ist eine Rettungshandlung nicht entschuldigt, wenn der Täter die Gefahr selbst verursacht hat oder in einer besonderen Position (zum

Beispiel als Feuerwehrmann) steht, die mit der Bewältigung von Gefahrenlagen befasst ist. Wenn der stärkere Schiffbrüchige das Schiff selber versenkt hat und damit für die Gefahrenlage selbst verantwortlich ist, würde es jedem Gerechtigkeitsempfinden widersprechen, wenn man seine Rettungshandlung entschuldigen würde. Eine solche Einschränkung besteht aber in dem Fall nicht. Der stärkere Schiffbrüchige wird also entschuldigt, wenn er seine überlegenen Kräfte nutzt, um sein Leben zu retten, und dadurch den Tod des Schwächeren verursacht. Moralisch geht es um die Problematik, ob man einen Menschen töten darf, um das eigene Leben zu retten. Das kann in der Tradition des berühmten Philosophen Immanuel Kant keine anerkennenswerte Verhaltensweise sein: »Wenn aber von einem, welcher einen anderen Schiffbrüchigen von seinem Brett stößt, um sein eigenes Leben zu erhalten, gesagt wird: er habe durch seine Not (die physische) ein Recht dazu bekommen, so ist das ganz falsch.« Strafrechtsdogmatisch bedeutet dies, dass die Verhaltensweise zwar entschuldigt wird, aber damit zugleich feststeht, dass es sich um einen rechtswidrigen Angriff handelt. Folglich hat der betroffene Schiffsbrüchige das uneingeschränkte Notwehrrecht gegen den anderen Schiffbrüchigen und dürfte diesen – da es um einen Angriff auf sein Leben geht – gegebenenfalls töten, um sein Leben zu retten. Damit wird noch einmal deutlich, in welcher bedrängenden und letztlich nicht auflösbaren Ausnahmesituation sich die beiden Schiffbrüchigen befinden. Letztlich wird das Geschehen überhaupt nicht von irgendeiner Orientierung an Normen eines richtigen Verhaltens geprägt sein, sondern sich als Kampf ums nackte Überleben darstellen, in dem der Selbsterhaltungstrieb übermächtig wirkt. Dies gebietet es, sich mit dem Vorwurf des Anders-handeln-Könnens (dem Schuldvorwurf) zurückzuhalten und Nachsicht zu üben.

Schicksalhafte Rettungshandlungen – der übergesetzliche entschuldigende Notstand Es gibt Notsituationen, in denen der mögliche Retter vor der Wahl steht, entweder etwas zu tun und damit einen Schaden zu verursachen oder den Geschehnissen ihren Lauf zu lassen und hierdurch einen größeren Schaden zu verursachen. (nach Eberhard Schmidt, SJZ 1949, 559 [565]) Henry ist auf einer Bergwanderung. Dabei wird er Zeuge, wie eine Seilschaft von drei Bergsteigern abstürzt. Dem obersten Bergsteiger ist es noch gelungen, sich an einer Baumwurzel festzuklammern. Henry erkennt, dass dieser Bergsteiger nicht mehr lange dem Gewicht der übrigen Seilschaft standhalten kann. Dann würden alle drei Bergsteiger in den sicheren Tod stürzen. Henry kann aber nicht alle Bergsteiger, sondern nur den obersten in Sicherheit bringen. Er schneidet deswegen das Seil vom obersten Bergsteiger ab. Hierdurch stürzen zwei Bergsteiger tödlich ab, der oberste Bergsteiger wird von Henry gerettet. Nach den Regeln über die Kausalität und objektive Zurechnung besteht hier kein Zweifel daran, dass Henry die Ursache für den Tod der beiden Bergsteiger in seiner konkreten Gestalt gesetzt hat. Sie sind zu diesem Zeitpunkt in den Tod gestürzt, weil Henry das Seil gekappt hat. Henry handelte auch im Bewusstsein und mit dem Willen, ihren Absturz herbeiführen, weil er nur so seinen Plan verwirklichen konnte, wenigstens den obersten Bergsteiger in der Seilschaft zu retten. Einen Rechtfertigungsgrund für sein Verhalten kann es nicht geben. Die unten baumelnden Bergsteiger haben keinen rechtswidrigen Angriff verübt. Die Regelung des § 35 StGB kann nicht greifen, weil Henry die Notstandshandlung nicht zu seiner eigenen Lebensrettung

beziehungsweise zur Rettung von Angehörigen oder sonst nahestehenden Personen vorgenommen hat. Einige von Ihnen werden jetzt vielleicht sagen, dass Henry hier in unerträglicher Weise Schicksal gespielt hat. Andere werden sagen, dass Henry immerhin einen Menschen vor dem sicheren Tod gerettet hat und die Bergsteiger sonst alle miteinander dem Tode geweiht waren. Keiner würde Henry einen Vorwurf daraus machen, wenn er angesichts einer solchen dramatischen Situation nicht weitergewusst hätte und untätig geblieben wäre. Im Hinblick auf das Kappen des Seils erscheint eine Bestrafung von Henry deutlich verfehlt. In einer solchen dramatischen Lage wird man keine anspruchsvollen ethischen Abwägungen erwarten dürfen. Wer wollte Henry in dieser Lage einen Vorwurf für sein Handeln machen? Hier kann die Rechtsfigur des übergesetzlichen entschuldigenden Notstandes der gebotenen Nachsicht gegenüber der schweren Bedrängnis und den Gewissensnöten des überforderten Retters Geltung verschaffen, indem auf einen Schuldvorwurf (= Anders-handeln-Können [!]) verzichtet wird.

Irrtum über Entschuldigungsgründe Wie Sie sich wahrscheinlich vorstellen können, kann es auch (und gerade) in dramatischen und bedrängenden Situationen zu Fehleinschätzungen und Irrtümern kommen. Dies kann auch bei vermeintlichen Notwehrlagen der Fall sein. In dieser Situation kann es zu Überreaktionen kommen – man nennt das Putativnotwehrexzess.

Bert steht in der Halbzeitpause am Bierstand an. Hinter ihm steht Anton, ein Anhänger der gegnerischen Mannschaft. Anton möchte Bert fragen, wo die Toiletten sind, und tippt ihm deswegen auf die Schulter. Als sich Bert umdreht, sieht er den Fanschal von Anton und sticht Anton sofort nieder. Bert erklärt später dazu, er sei angesichts des Fanschals von Anton von einem unmittelbar bevorstehenden Angriff ausgegangen. Bert handelt hier in einer eingebildeten Notwehrlage. Es gibt keinen realen (bevorstehenden) Angriff durch Anton. Folglich kann die Regelung des § 33 StGB nicht greifen, denn die Überreaktion von Bert beruht nicht darauf, dass er durch einen rechtswidrigen Angriff unverschuldet in eine bedrängende Situation geraten ist. Vielmehr 1. bildet sich Bert eine solche Situation bloß ein und 2. meint irrig, zu einer solch heftigen Reaktion berechtigt zu sein. Damit kann man die Situation in den Begriffen der Strafrechtsdogmatik so konstruieren, dass Bert (1) einem Erlaubnistatbestandsirrtum unterliegt und (2) fälschlich von der Berechtigung (Erlaubnisirrtum) zu einem solchen rabiaten Vorgehen ausgeht. Es wird in diesem Zusammenhang oft von einem Doppelirrtum gesprochen. Solche Doppelirrtümer sind nach den Regeln über den Verbotsirrtum zu behandeln. Das heißt, es ist nach sehr strengen Maßstäben zu fragen, ob diese Fehleinschätzung der Situation und der Grenzen des erlaubten Handelns unvermeidbar war. Wenn dies nicht der Fall ist, dann kommt allenfalls nach Ermessen eine Schuldminderung infrage. Anders verhält es sich bei dem Irrtum eines Täters über die tatsächlichen Voraussetzungen eines entschuldigenden Notstands gemäß § 35 I StGB. Hier regelt § 35 II 1 StGB explizit, dass bei einem unvermeidbaren Irrtum die Schuld entfällt, im

Falle eines vermeidbaren Irrtums ordnet § 35 II 2 StGB zwingend eine Strafmilderung an. Im Zusammenhang mit den Verbrechen des NS-Regimes haben Täter, die an der Auswahl von zu tötenden Menschen und an der Tötung selbst beteiligt gewesen sind, verschiedentlich vorgetragen, sie hätten sich »im Befehlsnotstand« daran beteiligt, weil ihnen bei der Verweigerung entsprechender Befehle selbst der Tod gedroht hätte. Nun ist es schon historisch außerordentlich umstritten, ob es tatsächlich zu dieser Folge gekommen wäre. Jenseits dieser Behauptung wirft aber ein solcher Entschuldigungsirrtum die sehr grundsätzliche Frage auf, wie die im Rahmen der Vermeidbarkeitsprüfung verlangte Gewissensanspannung des Täters zu verstehen ist. Die Entschuldigung betrifft bedrängende Lagen, in denen der Täter etwas tut, was zwar nicht als berechtigtes Handeln angesehen werden kann, gleichwohl aber die Nachsicht des Rechts verdient. Bei einer Beteiligung an offenkundig rechtsfeindlichen Handlungen ist dagegen nicht vorstellbar, dass dem mit Nachsicht begegnet werden kann. Der Bundesgerichtshof hat deswegen für solche Fälle entschieden (BGHSt 18, 311 [Leitsatz]): »Wer sich auf Nötigungsnotstand beruft, ist nur entschuldigt, wenn er sich nach allen Kräften gewissenhaft bemüht hat, der Gefahr oder vermeintlichen Gefahr auf eine die Straftat vermeidende Weise zu entgehen, ohne einen Ausweg zu finden. Je schwerer die abgenötigte Straftat ist (hier: Beihilfe zu vielen Morden an KZ-Häftlingen), umso strengere Anforderungen sind an diese Prüfung zu stellen. Der Genötigte oder vermeintlich Genötigte muss alle seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten eingesetzt haben.«

Teil V

Täterschaft und Teilnahme



IN DIESEM TEIL … Sie werden in diesem Teil einen Überblick erhalten, in welchen verschiedenen Rollen Menschen Täter oder Beteiligte an einer Straftat sein können. Die Erfahrung lehrt, dass Straftaten oft aus gruppendynamischen Entwicklungen entstehen und in gruppendynamischen Zusammenhängen begangen werden. Menschen geben den Anstoß zu Straftaten anderer, Menschen unterstützen die Straftaten anderer, Menschen überlegen sich gemeinsam die Begehung einer Straftat und führen sie dann gemeinsam aus. In solchen Fallkonstellationen müssen Sie mit den kurzen Rollenbeschreibungen des StGB arbeiten und sich präzise an den entsprechenden Festlegungen orientieren. Eine wichtige erste Weichenstellung für die Frage, wer Täter und wer Teilnehmer einer Tat ist, besteht darin, ein Kriterium für die »Hauptrolle« des Täters zu entwickeln. Sodann stelle ich Ihnen die verschiedenen Formen der Täterschaft und die unterschiedlichen Konstellationen der Teilnahme vor.

Kapitel 19

Die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme IN DIESEM KAPITEL Die subjektive Theorie Die Tatherrschaftslehre

Die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme ist Gegenstand einer Flut von Veröffentlichungen mit zahlreichen Vorschlägen für das Kriterium. Als wesentliche Theorien zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme haben sich die folgenden zwei herauskristallisiert: 1. die subjektive Theorie 2. die Tatherrschaftslehre Es war lange üblich, die erste Theorie der Rechtsprechung zuzuordnen und die zweite Theorie als die Auffassung der Lehre zu bezeichnen. Mittlerweile haben sich diese beiden Theorien jedoch stark angenähert und stehen einander nicht mehr unversöhnlich gegenüber. Es stellt sich also die Frage, welche Überlegungen der einen wie der anderen Theorie zu einer angemessenen Falllösung beitragen können. Wir werden uns dafür gleich zwei Fälle anschauen.

Abgrenzung nach der Willensbeziehung zur Tat (subjektive Theorie) Die subjektive Theorie unterscheidet zwischen Täter und Teilnehmer – wie der Name schon sagt – nach dem Willen der Beteiligten. Wieder ist es an der Zeit, ein lateinisches Begriffspaar einzuführen: Täter ist, wer mit Täterwillen (animus auctoris) die Tat »als eigene« will. Teilnehmer ist, wer mit Teilnehmerwillen (animus socii) eine »fremde Tat« nur veranlassen oder fördern will. Das kann zu der merkwürdig erscheinenden Konsequenz führen, dass eine Person, die selber einen Tatbestand verwirklicht, nur als Gehilfe anzusehen ist, wenn sie keinen Täterwillen hat. Dies ist abstrakt schwer zu erklären; deswegen stelle ich Ihnen im Kasten »Geheimagent mit der Lizenz zum Töten« einen Fall aus der Welt der Geheimdienste vor.

Geheimagent mit der Lizenz zum Töten (nach BGHSt 18, 87) Der sowjetische Geheimdienst KGB hatte den ukrainischen Staatbürger Staschinski in den 1950er-Jahren mit Drohungen, Einschüchterungen, aber auch Versprechungen angeworben und zum Agenten ausgebildet. Staschinski war im KGB in der Abteilung für Terrorakte im Ausland tätig. Im Jahr 1957 erhielt er den Auftrag, zwei in Deutschland lebende russische Exilpolitiker zu »liquidieren«. Hierfür wurde er mit einer Spezialwaffe ausgerüstet, die Blausäuregas versprühte und dadurch sofort zum Tod führte. Staschinski tötete die beiden Politiker heimtückisch. Am Tag des Baus der Berliner Mauer floh er mit seiner deutschen Ehefrau nach Westberlin und offenbarte alles dies

den deutschen Sicherheitsbehörden. In der Agentensprache war Staschinski damit ein »Überläufer«. Ihm drohte jedoch für seine Taten eine lebenslange Verurteilung wegen Mordes.

Hierfür musste eine juristische Lösung gefunden werden, die dem Bundesgerichtshof durch die Anwendung der subjektiven Theorie gelang. Lesen Sie sich einmal die folgende Begründung der Verurteilung von Staschinski wegen Beihilfe zum Mord zu acht Jahren Zuchthaus durch: »Beide Attentate sind nach dem sicheren Ergebnis der Hauptverhandlung von sowjetischer ›höchster Stelle‹, zumindest auf Regierungsbasis unter Beteiligung Sch., des damaligen Vorsitzenden des Komitees für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR, dem Angeklagten befohlen worden […] Entgegen der Auffassung der Bundesanwaltschaft, die den Angeklagten als Täter ansieht, dies jedoch nicht näher begründet hat, war Staschinski in beiden Fällen nur als Mordgehilfe zu verurteilen […] Gehilfe ist, beim Morde wie bei allen anderen Straftaten, wer die Tat nicht als eigene begeht, sondern nur als Werkzeug oder Hilfsperson bei fremder Tat mitwirkt. Maßgebend dafür ist die innere Haltung zur Tat. In dieser Weise hat schon das Reichsgericht in ständiger Rechtsprechung Täter und Gehilfen voneinander abgegrenzt. Danach kam als Täter auch in Betracht, wer die Tat vollständig durch Andere ausführen lässt, anderseits als bloßer Gehilfe auch derjenige, der alle Tatbestandsmerkmale eigenhändig erfüllt […] Die Anwendung dieser Rechtsgrundsätze auf die erwiesene innere Haltung des Angeklagten bei beiden Attentaten ergibt unter Berücksichtigung aller Umstände, dass er diese Taten nicht als eigene gewollt, dass er kein eigenes Interesse an ihnen und keinen eigenen Tatwillen gehabt, dass er sich fremdem Täterwillen nur widerstrebend gebeugt, dass er sich letztlich der Autorität seiner damaligen politischen Führung wider sein Gewissen

unterworfen und dass er die Tatausführung in keinem wesentlichen Punkte selber bestimmt hat. Ein eigenes materielles oder politisches Interesse als Indiz für seinen Täterwillen hat nicht bestanden. Ihm ist kein Tatlohn versprochen worden wie einem gedungenen Handlanger, und er hat auch keinen erhalten.« Zu Recht ist diese Rechtsprechung von vielen kritisiert worden, da sich die Unterscheidung von Täter und Gehilfen nach einem solchen Ansatz verwischt und ein hohes Maß an Manipulierbarkeit aufweist. Man geht von der Erwägung aus, wer wohl der größere »Schuft« in einem Tatgeschehen ist und nimmt dann (kaum nachprüfbar) unter Verweis auf eine entsprechende innere Haltung (subjektive Theorie) die Rollenzuweisung in Täter und Teilnehmer vor. Häufig wird dahinter auch die Erwägung stehen, welche Strafe man für welche Person für angemessen hält. Um die eine Person gegenüber der anderen milder zu bestrafen, findet sich in § 27 I 2 StGB der Anknüpfungspunkt, dass die Strafe des Gehilfen zu mildern ist. Gegen jeden common sense wird dann die Person, die die Tatausführung in eigener Person vornimmt, in den Gehilfen einer Person verwandelt, die Tausende von Kilometern entfernt im Büro sitzt. Die Rechtsprechung hat die Kritik an dieser Subjektivierung von Täterschaft und Teilnahme aufgenommen und vertritt heute eine sogenannte eingeschränkt subjektive Theorie. Danach geht man zwar vom Täterwillen aus, nimmt aber eine umfassende wertende Betrachtung aller Umstände vor. Neben dem eigenen Interesse an der Tat werden in die Beurteilung auch der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zur Tatherrschaft einbezogen.

Abgrenzung nach der Rolle im Geschehensablauf

(Tatherrschaft) Damit sind wir bei der anderen zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme vertretenen Theorie angelangt. Die Lehre von der Tatherrschaft ist Ausdruck des Bemühens, die Abgrenzungsfrage von den Gefahren einer Subjektivierung zu befreien. Deswegen soll die Abgrenzung im objektiven Tatbestand vorgenommen werden. Erforderlich für die Feststellung der Täterschaft ist danach ein Tatbeitrag, der die Tatherrschaft verleiht. Bildlich gesprochen wird dies als In-den-Händen-Halten des tatbestandsmäßigen Geschehensablaufs bezeichnet. Täter einer Straftat ist danach, wer als zentrale Gestalt das Geschehen beherrscht, in dem er planvoll lenkend oder mitgestaltend die Tatbestandsverwirklichung nach seinem Willen hemmen oder ablaufen lassen kann. Teilnehmer einer Straftat ist dagegen, wer in dem Geschehen am Rande steht und keine Herrschaft über den Geschehensablauf hat. Aufgrund von Hinweisen eines Tippgebers organisiert Tim einen Überfall auf ein im Hotel Grand Hyatt in Berlin stattfindendes Pokerturnier. Er heuert vier Mitstreiter an und versorgt sie mit einer Schreckschusspistole und einer Machete. Tim fährt das Quartett zum Hotel und parkt seinen Wagen in der Nähe des Eingangs. Entsprechend seiner Planung stürmen die vier Mitstreiter am Nachmittag des 6. März 2010 mit der Schreckschusspistole und Machete bewaffnet den Spielsaal. Sie erbeuten trotz Gegenwehr der nicht bewaffneten Wachleute, die hierbei verletzt werden, rund 241.000 Euro. Sie laufen aus dem Eingang davon und springen zu Tim in den Wagen, der mit ihnen davonbraust.

Mit der subjektiven Theorie könnte man es sich jetzt einfach machen und sagen, dass sich Tim als »Boss« gefühlt hat. Die Tatherrschaftslehre stellt diese Aussage auf den Boden von Tatsachen: Tim hat aus dem Tipp einen Plan für den Überfall gemacht. Tim hat die Leute für diesen Überfall ausgesucht. Er hat sie mit Waffen ausgerüstet, zum Tatort gefahren und für die Flucht gesorgt. Er ist nicht nur eine Randfigur als »Fahrer«, sondern die zentrale Gestalt des Geschehens. Täterschaft kann neben der Alleintäterschaft in den Formen der mittelbaren Täterschaft und der Mittäterschaft bestehen. Ich möchten Ihnen nun diese weiteren Formen vorstellen.

Kapitel 20

Mittelbare Täterschaft und Mittäterschaft IN DIESEM KAPITEL Die Benutzung eines menschlichen Werkzeugs durch den mittelbaren Täter Konstellationen der mittelbaren Täterschaft Auf gute Zusammenarbeit – die Mittäterschaft Die Abgrenzung von Mittäterschaft und Teilnahme

Im Gesetz wird die mittelbare Täterschaft in dürren Worten beschrieben. Der mittelbare Täter begeht die Tat »durch einen anderen« (§ 25 I 2. Alt. StGB). Zur Definition des Mittäters findet sich eine klare Formulierung im Gesetz: »Begehen mehrere die Straftat gemeinschaftlich, so wird jeder als Täter bestraft« (§ 25 II StGB).

Der mittelbare Täter – ein Marionettenspieler Der mittelbare Täter setzt einen anderen Menschen als sein »Werkzeug« ein, bedient sich »fremder Hände« zur Tatbegehung, »zieht die Fäden der Tat«, während er selbst im Hintergrund steht.

Stellen Sie sich das wie ein Marionettenspiel vor. Das veranschaulicht die mittelbare Täterschaft sehr schön. Um die Tat »durch« einen anderen zu begehen, muss der im Hintergrund agierende mittelbare Täter das im Vordergrund agierende menschliche Werkzeug durch sein überlegenes Wissen oder seinen beherrschenden Willen steuern. Für dieses Steuerungselement sollten Sie vier Fallgruppen kennen: das objektiv tatbestandslos handelnde Werkzeug das subjektiv tatbestandslos handelnde Werkzeug das gerechtfertigt handelnde Werkzeug das ohne Schuld handelnde Werkzeug

Objektiv tatbestandslos handelndes Werkzeug Diese Konstellation wird Ihnen merkwürdig vorkommen, da das Wesen der mittelbaren Täterschaft ist, dass die Tathandlungen des objektiven Tatbestandes durch das Werkzeug verwirklicht werden. Nun gibt es aber Konstellationen, in denen Opfer und Werkzeug identisch sind und folglich die Tatbestände des StGB eigentlich nicht greifen, weil dort ja von einer Tatbegehung gegenüber »einem anderen« die Rede ist. Ich werde Ihnen dies zunächst abstrakt vorstellen und anschließend einen spektakulären Fall aus der Rechtsprechung präsentieren. Abstrakt gesprochen geht es um folgende Situation: Selbstschädigung, -verletzung und -tötung sind nicht strafbar. Nun können Sie sich aber sicher Situationen vorstellen, in denen sich eine Person selbst verletzt oder selbst tötet, weil sie unter dem Einfluss einer anderen Person steht, die sie dazu bringt (»Marionettenspieler«).

In der Entscheidung BGHSt 32, 38 (Sirius-Fall) geht es um eine solche Konstellation. Weil der Fall so außergewöhnlich interessant ist, macht es Sinn, die Geschichte ausführlich darzustellen. Sie finden sie im Kasten »Marcel vom Stern Sirius«.

Marcel vom Stern Sirius Im Jahr 1973 oder 1974 lernte Marcel in einer Diskothek Hannah kennen, die vom Gericht später als »eine unselbstständige und komplexbeladene junge Frau« bezeichnet wird. Hannah entwickelte zu dem vier Jahre älteren Marcel eine intensive Freundschaft. Gegenstand der Beziehung waren hauptsächlich Diskussionen über Psychologie und Philosophie, die bei Treffen im Abstand von einigen Monaten und bei häufigeren, manchmal mehrere Stunden dauernden Telefongesprächen geführt wurden. Im Laufe der Zeit wurde der Angeklagte zum Lehrer und Berater von Hannah in allen Lebensfragen. Er war immer für sie da. Sie vertraute und glaubte ihm blind. Im Verlauf ihrer zahlreichen philosophischen Gespräche ließ Marcel Hannah wissen, er sei ein Bewohner des Sterns Sirius. Die Sirianer seien eine Rasse, die philosophisch auf einer weit höheren Stufe stehe als die Menschen. Er sei mit dem Auftrag auf die Erde gesandt worden, dafür zu sorgen, dass einige wertvolle Menschen, darunter Hannah, nach dem völligen Zerfall ihrer Körper mit ihrer Seele auf einem anderen Planeten oder dem Sirius weiterleben könnten […] Marcel legte Hannah dar, sie könne die Fähigkeit, nach ihrem Tode auf einem anderen Himmelskörper weiterzuleben, dadurch erlangen, dass sich der ihm bekannte Mönch Uliko für einige Zeit in totale Meditation versetze. Dadurch werde es ihrem Körper möglich, während des Schlafens mehrere Ebenen zu durchlaufen und dabei eine geistige Entwicklung durchzumachen. Dafür müssten allerdings an das Kloster, in dem der Mönch lebe, 30.000 Deutsche Mark gezahlt werden. Hannah glaubte Marcel. Da sie nicht genügend Geld besaß, beschaffte sie sich die geforderte Summe durch einen Bankkredit. Marcel verbrauchte das Geld für sich. Als Marcel bemerkte, dass Hannah von der Richtigkeit seiner Erklärungen völlig überzeugt war, fasste er den Plan, aus ihrem Vertrauen weiteren finanziellen Nutzen zu ziehen. Marcel spiegelte ihr vor, in einem roten Raum am Genfer See stehe für sie ein neuer Körper bereit, in dem sie sich als Künstlerin wiederfinden werde, wenn sie sich von ihrem alten Körper trenne. Auch in ihrem neuen Leben benötige sie jedoch Geld. Es lasse sich dadurch beschaffen, dass sie eine Lebensversicherung über 250.000 Deutsche Mark (bei Unfalltod 500.000 Deutsche Mark) abschließe, ihn unwiderruflich als

Bezugsberechtigten bestimme und durch einen vorgetäuschten Unfall aus ihrem jetzigen Leben scheide. Nach Auszahlung werde er ihr die Versicherungssumme überbringen. Die Frau schloss einen Versicherungsvertrag entsprechend den Vorschlägen des Angeklagten ab. Der Versicherungsschutz begann am 1. Dezember 1979. Die monatliche Versicherungsprämie belief sich auf 587,50 Deutsche Mark. Dem Angeklagten händigte Hannah 4.000 Deutsche Mark in bar aus, weil sie, wie er ihr sagte, nach dem Erwachen am Genfer See das Geld, das er ihr sofort überbringen werde, als Startkapital benötige. Die Auszahlung der Versicherungssumme könne sich verzögern. Ihr jetziges Leben sollte Hannah dadurch beenden, dass sie sich in eine Badewanne setzte und einen eingeschalteten Haartrockner in das Badewasser fallen ließ. Auf Verlangen und nach den Anweisungen von Marcel versuchte die Frau, diesen Plan am 1. Januar 1980 in ihrer Wohnung zu realisieren, nachdem sie zuvor, einer Anregung des Angeklagten folgend, einige Dinge getan hatte, die darauf hindeuten sollten, dass sie ungewollt mitten aus dem Leben gerissen worden sei. Der tödliche Stromstoß blieb jedoch aus. Aus technischen Gründen verspürte Hannah nur ein Kribbeln am Körper, als sie den Haartrockner eintauchte. Marcel, der sich in einer anderen Stadt aufhielt, war überrascht, als Hannah seinen Kontrollanruf entgegennahm. Etwa drei Stunden lang gab er ihr in etwa zehn Telefongesprächen Anweisungen zur Fortführung des Versuchs, aus dem Leben zu scheiden.

Von außen betrachtet ist ein solcher Fall, in dem sich eine Person in die Badewanne setzt und einen eingeschalteten Fön in das Wasser wirft, als ein Versuch der Selbsttötung anzusehen. Anders muss es sich aber verhalten, wenn dieses Geschehen eben nicht Ausdruck eines eigenverantwortlichen Selbsttötungsentschlusses ist, sondern sich bei Kenntnis der Hintergründe als ein perfider Tötungsplan darstellt. Wenn Sie sich an die allgemeinen Definitionen der mittelbaren Täterschaft zurückerinnern, kommt mittelbare Täterschaft bei Wissens- und Willensherrschaft über das Geschehen in Betracht. Genauso verhält es sich hier: Marcel hat Hannah über einen gewissen Zeitraum psychisch so manipuliert, dass sie ihm blind vertraute und allen seinen Anweisungen Folge leistete. Der Selbsttötungsversuch von Hannah war ein Ergebnis dieser

Manipulation. Sie glaubte, dass sie am Genfer See in einem roten Raum in einem neuen Körper wiedererwachen würde. Der Selbsttötungsversuch von Hannah stellt sich bei Kenntnis dieser Zusammenhänge als Tötungsversuch von Marcel an Hannah in mittelbarer Täterschaft dar. Marcel war es gelungen, sein Werkzeug Hannah zu einer Tat gegen sich selbst zu veranlassen.

Exkurs: Eigenverantwortliche Selbsttötung oder in den Selbstmord getrieben? Wenn ein Mensch in den Selbstmord getrieben wird, dann können Sie dies an dem Verlauf der Geschehnisse meist nicht erkennen. Erst aus weiteren Kenntnissen über die Zusammenhänge ergibt sich das Urteil, dass es sich nicht um eine eigenverantwortliche Tat handelt und ein Dritter dafür als Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Die fehlende Eigenverantwortlichkeit des Opfers, das fremdgesteuert zum Werkzeug gegen sich selbst wird, wird entweder nach den Regeln der Exkulpationslehre oder nach den Regeln der Einwilligungslehre erörtert. Die Exkulpationslehre fragt, ob das Opfer, wenn es nicht sich, sondern einen anderen verletzt hätte, wegen dieser Tat zur Verantwortung gezogen werden könnte. Nach dem Grundsatz nulla poena sine culpa wäre dies nicht der Fall, wenn das Opfer in einem schuldlosen Zustand handeln würde. Schuldlos würde das Opfer handeln, wenn die Voraussetzungen des § 20 StGB erfüllt wären. Stellt man also in unserem Beispielsfall für Hannah fest, dass sie durch die Manipulationen von Marcel in einem Zustand der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung im Sinne des § 20 StGB gehandelt hat, dann war ihre Eigenverantwortlichkeit zum Zeitpunkt der Tat ausgeschlossen und sie hat als ein Werkzeug von Marcel gehandelt. Die Einwilligungslehre hingegen fragt danach, ob ein ernstliches Todesverlangen in der Person vorlag, die einer Einwilligung in Fremdtötung (die, wie Sie ja wissen, wegen § 216 StGB eigentlich nicht möglich ist) entspräche. Bei Zwang, Täuschung und Irrtum scheidet eine solche Einwilligung aus. Sie können die Erzählungen von Marcel auch als ein Geflecht von Täuschungen betrachten, das bei Hannah den Irrtum bewirkt hat, ihr Selbsttötungsversuch sei gar keine Selbsttötung, sondern eine Seelenreise. Marcel ist in unserem Beispielsfall nach beiden Lehren wegen versuchten Mordes in mittelbarer Täterschaft strafbar, da einerseits bei Hannah infolge der

Beziehungsstruktur und ihrer Hörigkeit gegenüber Marcel eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung eingetreten war (Exkulpationslehre), andererseits die »Einwilligung« von Hannah in ihren Tod durch Täuschung und Irrtum zustande kam (Einwilligungslehre). Sehen Sie sich zum Abschluss noch einmal an, was der BGH dazu sagt: »Der Angeklagte, der auch das eigentliche Tatgeschehen durch stundenlang erteilte Anweisungen maßgeblich steuerte, beging infolgedessen ein Verbrechen der versuchten mittelbaren Fremdtötung. Diese rechtliche Feststellung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass Frau T. völlig unglaubhaften Suggestionen erlag, obwohl sie keine psychischen Störungen aufwies. Der Angeklagte hatte sich die Psyche seines Opfers für diese Suggestionen erschlossen. Das Erstaunliche dieses Vorgangs entlastet ihn nicht.«

Subjektiv tatbestandslos handelndes Werkzeug Eine weitgehend unproblematische Konstellation der mittelbaren Täterschaft liegt dann vor, wenn der »Marionettenspieler« Wissens- und/oder Willensherrschaft hat und sein Werkzeug dadurch ohne entsprechenden Tatbestandsvorsatz – also ohne Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung – handelt. Auch dazu gibt es einen anschaulichen Fall in der Rechtsprechung (nach BGHSt 30, 363): Tom will seinen Nebenbuhler Klaus aus Eifersucht töten. Da Klaus ihn kannte und Tom folglich bei einem Fehlschlag mit seiner Entdeckung rechnen musste, entschloss er sich, die Tat durch einen Dritten ausführen zu lassen. Dieser sollte über Toms Tötungsplan im Unklaren bleiben, durch die Aussicht auf hohe Beute für einen Raubüberfall geködert werden und sich bei der Tatausführung unwissentlich eines tödlichen Mittels bedienen.

Tom konnte Gerd für diese Tat gewinnen. Er übergab ihm eine Plastikflasche, die angeblich ein Schlafmittel, in Wirklichkeit aber mindestens 100 Milliliter 35%ige Salzsäure enthielt, die bei Aufnahme von 20 Millilitern in den leeren Magen mit Sicherheit tödlich wirkt. Gerd sollte zusammen mit zwei Kumpanen alsbald Klaus überfallen, ihm – notfalls mit Gewalt – das angebliche Schlafmittel einflößen und ihn dann berauben. Der Fall liegt einfach: Tom besitzt hinsichtlich der Tatsituation überlegenes Wissen. Gerd hat zwar den Vorsatz, einen Raub zu begehen, und denkt, die Substanz diene zur Betäubung von Klaus. Gerd erkennt jedoch nicht, dass er zur Tötung von Klaus angeheuert worden ist und dass das Einflößen der Substanz zum Tod von Klaus führen würde. Kurzum: Gerd ist ein subjektiv tatbestandsloses Werkzeug von Tom, der die Situation so steuert, dass sich sein Tötungsvorsatz durch den vorsatzlosen Gerd verwirklichen soll.

Gerechtfertigt handelndes Werkzeug Die Bestrafung eines Täters setzt – wie Sie ja wissen – voraus, dass eine rechtswidrige und schuldhafte Tat begangen wurde. Es sind zwei wesentliche Konstellationen denkbar, in denen der vom Hintermann benutzte Mensch wegen Rechtfertigung seiner Tat straflos bleibt, während der Hintermann diese Rechtfertigungslage entsprechend arrangiert und deswegen als mittelbarer Täter zu bestrafen ist. Eine typische Konstellation ist der Einsatz von Behörden als rechtmäßig handelndes Werkzeug, um das Opfer seiner Freiheit zu berauben. Das können Sie sich am besten an den sogenannten Tatbezichtigungsfällen klarmachen:

Anton benutzt zur Tötung von Bert das Jagdmesser von Chris. Bei der Tatausführung trägt Anton Handschuhe. An dem Jagdmesser befinden sich also keine Fingerabdrücke von Bert, sondern nur Fingerabdrücke von Chris. Anton gelingt es, seine Tat zu vertuschen. Er übergibt das Messer von Chris mit dessen Fingerabdrücken der Polizei und bezichtigt Chris der Tat. Die Polizei, in der Folge die Staatsanwaltschaft und letztendlich auch der Haftrichter gehen wegen dieser Beweislage von der Täterschaft von Chris aus. Chris wird zunächst von der Polizei vorläufig festgenommen, sodann beantragt die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl, der vom Haftrichter erlassen wird. Chris verbringt mehrere Monate in Untersuchungshaft, bis sich ein Tatzeuge meldet und sich die Unschuld von Chris erweist. Die Festnahme und die Untersuchungshaft stellen sich tatbestandlich als vorsätzliche Freiheitsberaubung dar. Die Polizei, die Staatsanwaltschaft und der Haftrichter handeln jedoch aufgrund der bestehenden Gesetze nach ihrem besten Wissen rechtmäßig. Anton als Hintermann verfügt über das überlegene Wissen, um die Sachlage aufzuklären. Er weiß, dass nicht Chris der Täter ist, sondern er Bert getötet hat. Indem er Chris der Tat bezichtigt und weiß, welche Konsequenzen das haben wird, ist Anton der mittelbare Täter einer Freiheitsberaubung. Mittelbare Täterschaft durch ein gerechtfertigtes Werkzeug kommt weiter in Situationen in Betracht, wenn der Hintermann bewusst eine Notwehrlage so arrangiert, dass sein notwehrübendes Werkzeug das vom Hintermann angezielte Opfer verletzt.

Anton ist der Meinung, dass Bert einmal eine tüchtige Abreibung verdient hätte. Da er selber Bert körperlich weit unterlegen ist, arrangiert er folgende Situation: Anton bringt Bert – durch die Täuschung, es handele sich um den Geliebten der Frau – dazu, den kräftigen Chris körperlich anzugreifen. Chris sieht sich nun unversehens mit einem Angriff Berts konfrontiert und verteidigt sich völlig korrekt im Rahmen seines Selbstverteidigungsrechts. Dabei platzt durch seinen Faustschlag ins Gesicht von Bert dessen rechte Augenbraue auf. Anton bedient sich hier durch das Arrangement der Situation im Grunde genommen zweier Werkzeuge. Sowohl der Angreifer Bert als auch der gerechtfertigt handelnde Verteidiger Chris sind ahnungslos und wären ohne die Manipulation durch Anton niemals in eine Konfrontation geraten. Im Ergebnis ist Anton hierdurch der mittelbare Täter einer Körperverletzung zum Schaden von Bert, die von seinem Werkzeug Chris vorgenommen wird.

Ein ohne Schuld handelndes Werkzeug In diesen Konstellationen bedient sich der Hintermann eines Werkzeugs, für das der Schuldvorwurf ausgeschlossen ist oder dessen Handeln wegen Notstands entschuldigt ist. Solche Konstellationen werden oft und gerne in Kriminalromanen und Filmen verwendet. Ich kenne zum Beispiel aus den klassischen Edgar-Wallace-Filmen mehrere solcher Szenen:

Zur Bande von Gangsterboss Fred zählt auch der bärenstarke und deutlich intelligenzgeminderte Bob. Fred weiß um die Intelligenzminderung von Bob, sein dadurch bedingtes kindliches Gemüt und den unbedingten Gehorsam. Fred erteilt Bob die Anordnung, Lord Cunningham zu töten. Der Lord sei ein böser Mensch und mit dem Teufel im Bunde. Fred verspricht Bob einen großen Teddy, wenn er diesen Auftrag ausführt. Bob gehorcht und erwürgt Lord Cunningham. Die Tötung von Lord Cunningham wird durch Bob vorsätzlich und rechtswidrig ausgeführt. Eine Strafbarkeit entfällt aber wegen Vorliegens der Voraussetzung des § 20 StGB, nachdem ein psychiatrischer Gutachter bei Bob einen IQ von 54 und den Entwicklungsstand eines Sechsjährigen festgestellt hat. Da Fred die fehlende Einsichtsfähigkeit seines Werkzeuges Bob bewusst eingesetzt hat, ist er als mittelbarer Täter der Tötung von Lord Cunningham strafbar. Ein anderer Fall, bei dem es zu einer Entschuldigung des Werkzeugs kommt, liegt vor, wenn der Hintermann mit Drohungen und Gewalt die Herrschaft über einen Menschen erlangt und ihn dazu bringt, eine Tat für ihn zu begehen. Einbrecher Fred ist zu dick, um durch das Fenster in die Villa einzusteigen. Er weiß, dass dort eine wertvolle chinesische Vase im Wohnzimmer steht. Da kommt der schlanke Max des Weges. Fred überwältigt Max und hält ihm seine Pistole an die Schläfe. Er droht Max, er werde ihn erschießen, wenn er nicht die Vase für ihn heraushole. Wenn Max diesem Druck und der Drohung mit Lebensgefahr nachgibt, dann steigt er zwar vorsätzlich und rechtswidrig in die Villa ein und nimmt die Vase weg; er ist aber wegen Nötigungsnotstand entschuldigt. Fred hingegen hat die Herrschaft

über die Handlungen von Max und ist deswegen als mittelbarer Täter des Einbruchsdiebstahls strafbar.

Die besondere Konstellation des Täters hinter dem Täter Eine sehr umstrittene und komplizierte Konstellation liegt dann vor, wenn der Vordermann im Unterschied zu den bisher behandelten Fällen selbst als unmittelbarer Täter strafrechtlich verantwortlich handelt, also auch selbst für die Tat bestraft werden kann, aber gleichwohl von einem übermächtigen Hintermann beherrscht wird. Nach ganz herrschender Meinung soll auch in diesen Fällen mittelbare Täterschaft möglich sein. Es gibt dann also einen mittelbaren und einen unmittelbaren Täter der gleichen Tat. Zu dieser Fallgruppe möchte ich Ihnen nur eine Fallkonstellation vorstellen, in der das Problem sinnfällig wird: In jüngerer Vergangenheit hat die Rechtsfigur des Täters hinter dem Täter eine große Rolle bei der strafrechtlichen Bewältigung der sogenannten DDRRegierungskriminalität gespielt. Es stellte sich die Frage, ob neben den tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft handelnden Schützen an der innerdeutschen Grenze auch die maßgeblichen Personen des Machtapparates der DDR als Täter zur Verantwortung gezogen werden können – also Unteroffizier Müller und Erich Honecker für dieselbe Tötung eines Flüchtlings an der Berliner Mauer. Dazu sollten Sie unbedingt die Entscheidung BGHSt 40, 218 durchlesen. Es geht um die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrats der DDR für vorsätzliche Tötungen von Flüchtlingen durch Grenzsoldaten der DDR. Zur Begründung heißt es dort: »Es gibt Fallgruppen, bei denen trotz eines uneingeschränkt verantwortlich handelnden Tatmittlers der Beitrag des Hintermannes nahezu automatisch zu der von diesem Hintermann erstrebten Tatbestandsverwirklichung führt. Solches kann vorliegen, wenn der Hintermann durch Organisationsstrukturen bestimmte Rahmenbedingungen ausnutzt […] Derartige Rahmenbedingungen mit regelhaften Abläufen kommen insbesondere bei staatlichen, unternehmerischen oder geschäftsähnlichen Organisationsstrukturen und bei Befehlshierarchien in Betracht. Handelt in einem solchen Fall der Hintermann in Kenntnis dieser Umstände, nutzt er insbesondere auch die unbedingte Bereitschaft des unmittelbar Handelnden, den

Tatbestand zu erfüllen, aus und will der Hintermann den Erfolg als Ergebnis seines eigenen Handelns, ist er Täter in der Form mittelbarer Täterschaft.« Wie der BGH in dieser Entscheidung am Rande anmerkt, soll diese Regel nicht nur für staatliche Machtapparate, sondern auch für die organisierte Kriminalität (»Mafia«) und für bestimmte Formen der Wirtschaftskriminalität gelten.

Der subjektive Tatbestand der mittelbaren Täterschaft Im subjektiven Tatbestand erfordert die mittelbare Täterschaft zweierlei: Der mittelbare Täter muss das Bewusstsein und den Willen haben, dass sein Werkzeug den von ihm angezielten Tatbestand verwirklicht. Es ist weiterhin ein sogenanntes Tatherrschaftsbewusstsein erforderlich. Das heißt, der mittelbare Täter muss in dem Bewusstsein handeln, gerade durch sein Werkzeug eine Straftat zu begehen und dessen Handeln kraft seines überlegenen Willens/Wissens zu steuern. Probleme können sich auf der subjektiven Tatseite beim Exzess des Tatmittlers ergeben, das heißt, wenn die Tatbestandsverwirklichung durch das Werkzeug von der Vorstellung des Hintermannes abweicht.

Fred schickt den schuldunfähigen Bob los, damit er bei Paul Schulden eintreibt. Notfalls soll Bob Paul »tüchtig durchschütteln«, falls er nicht zahlen will. Dass Bob den Paul dabei töten könnte, liegt außerhalb jeder Vorstellung von Fred. Bob – der seine Körperkräfte schlecht bändigen kann – schüttelt Paul so lange und heftig, dass dieser eine tödliche Hirnblutung erleidet. Die Handlungen von Bob überschreiten bei Weitem die Vorstellung von Fred und liegen außerhalb seines Vorsatzes für die Tat. In so einem Fall liegt ein Exzess des Werkzeugs vor. Die Tötung von Paul kann mangels Vorsatz und Tatherrschaft Fred nicht in mittelbarer Täterschaft zugerechnet werden. In einem solchen Fall ist aber eine Strafbarkeit von Fred wegen fahrlässiger Tötung in Betracht zu ziehen. Bei dem Einsatz eines bärenstarken, intelligenzgeminderten Werkzeuges ist es objektiv voraussehbar, dass dieses seinen Auftrag überschreitet und eine lebensgefährliche Situation heraufbeschwört. Auch stellt es sicherlich eine Sorgfaltspflichtverletzung dar, wenn man einen solchen Menschen mit einem diffusen Auftrag zum Schuldeneintreiben losschickt.

Der Mittäter – auf gute Zusammenarbeit Mittäterschaft liegt vor, wenn – wie der Begriff schon sagt – mehrere Personen eine Tat miteinander begehen. Anspruchsvoller ausgedrückt, bedeutet Mittäterschaft funktionelle Tatherrschaft aller Beteiligten durch bewusstes und gewolltes Zusammenwirken bei Begehung ein und derselben Tat. Mittäterschaft hat gem. § 25 II StGB zur Folge,

dass jedem Mittäter die Tatbeiträge der anderen wechselseitig zugerechnet werden. Die Grundvoraussetzungen der Mittäterschaft sind ein gemeinsamer Tatentschluss, aufgrund dessen die Mittäter arbeitsteilig vorgehen und sich jeder Mittäter die Tatbeiträge der anderen zu eigen macht, sowie ein auf einem gemeinsamen Tatplan beruhender eigener Tatbeitrag des Mittäters.

Die Abgrenzung von (Mit-)Täterschaft und Teilnahme Auch hinsichtlich der Mittäterschaft wirkt sich die Unterscheidung von subjektiver Theorie und Tatherrschaftslehre bei der Bestimmung der Täterschaft aus. Nach der Tatherrschaftslehre ist Voraussetzung für die Mittäterschaft, dass jede der beteiligten Personen das Tatgeschehen mit beherrscht. Der hierfür verwendete Begriff der funktionellen Tatherrschaft meint, dass sich die einzelnen Beiträge mosaikartig zu einer Beherrschung des Tatgeschehens zusammensetzen müssen, oder anders ausgedrückt, dass arbeitsteilig in dem Sinne vorgegangen werden muss, dass die Verwirklichung des Tatbestandes von der Einpassung in die Arbeitsteilung abhängt. Wer eine solche Rolle im Geschehen einnimmt, ist Mittäter der Tat. Die subjektive Theorie will dagegen nicht auf die Funktion der einzelnen Beiträge für das Tatgeschehen abstellen, sondern fragt, inwiefern sich die einzelnen Verantwortlichen für Verursachungsbeiträge als Täter oder Teilnehmer gefühlt haben. Dies kann in extremer Anwendung dazu führen – Sie erinnern sich an den Agentenfall –, dass an der Tat selbst zentral beteiligte Personen bloß als Gehilfen und umgekehrt nur nachrangig beteiligte Personen als Täter angesehen werden.

Daraus ergeben sich zum Beispiel für den Bereich der Bandenkriminalität unterschiedliche Betrachtungsweisen: Nehmen Sie einmal an, Boss Guido organisiert, wer sich an der Tat beteiligen soll, er sorgt für die Fahrzeuge und Tatwerkzeuge und ist derjenige, der die finanzielle Verwertung der Beute organisiert. Bei den Taten der von ihm geleiteten Einbrecherbande ist er jedoch so gut wie nie dabei, er hält sich überwiegend in seiner Villa in Baden-Baden auf. Nach der subjektiven Theorie bereiten diese Fälle keinerlei Schwierigkeiten, da danach jeder vom Täterwillen getragene Verursachungsbeitrag vom Versuchsbeginn bis zur Tatbeendigung ausreicht. Für die subjektive Theorie ist damit die Nichtanwesenheit am Tatort überhaupt kein Problem. Mittäter ist jeder, der von einem Verständnis seiner Rolle als Mittäter geleitet wird. Die Tatherrschaftslehre löst Bandencheffälle dahin gehend, dass sie einen die Geschehnisse beherrschenden Beitrag verlangt. Es muss objektiv erwiesen sein, dass die Person den Tatablauf in den Händen hielt. Sie erinnern sich an den Indikator – das ist dann der Fall, wenn die Person den Tatablauf steuern kann. Wenn Guido in Baden-Baden ist, kann er natürlich nicht den Ablauf der Einbrüche vor Ort steuern, aber für diese Einbrüche besteht gleichwohl seine Planungshoheit. Die Zurechnungsformel dafür lautet, dass »weniger Aktion durch mehr Organisation« ausgeglichen werden kann. Auch wenn es an der unmittelbaren Tatausführungsherrschaft fehlt, kann Guido durch die Tatplanungsherrschaft Mittäter der Tat sein.

Gemeinsamer Tatentschluss und arbeitsteilige Vorgehensweise Die Mittäterschaft setzt eine arbeitsteilige Vorgehensweise auf der Grundlage eines gemeinsamen Tatentschlusses voraus. Menschen tun sich zusammen, planen gemeinsam eine Tat, verteilen die Rollen bei der Tatausführung und beabsichtigen, die Tat im Zusammenspiel zu verwirklichen. Immer wieder machen

tatbeteiligte Personen danach geltend, dass sie nur eine kleine Nebenrolle im Geschehen hatten, nur irgendwie helfen wollten und gar nicht das ganze »Drehbuch« der Tat kannten. Das liefe auf eine mildere Strafe gegenüber der Rolle des Mittäters hinaus, denn § 27 Absatz 2 sieht zwingend eine Strafmilderung gegenüber dem Täter für den Gehilfen vor. Ich stelle Ihnen zunächst den in ständiger Rechtsprechung vom BGH entwickelten Kriterienkatalog für die Abgrenzung der Rollen vor (BGH 3 StR 439/15 vom 8.12.2015): »Bei Beteiligung mehrerer Personen, von denen nicht jede sämtliche Tatbestandsmerkmale verwirklicht, ist Mittäter im Sinne von § 25 Abs. 2 StGB, wer einen eigenen Tatbeitrag leistet und diesen so in die Tat einfügt, dass er als Teil der Handlung eines anderen Beteiligten und umgekehrt dessen Handeln als Ergänzung des eigenen Tatanteils erscheint. Mittäterschaft erfordert dabei zwar nicht zwingend eine Mitwirkung am Kerngeschehen selbst und auch keine Anwesenheit am Tatort; ausreichen kann vielmehr auch ein die Tatbestandsverwirklichung fördernder Beitrag, der sich auf eine Vorbereitungs- oder Unterstützungshandlung beschränkt. Stets muss sich die objektiv aus einem wesentlichen Tatbeitrag bestehende Mitwirkung aber nach der Willensrichtung des sich Beteiligenden als Teil der Tätigkeit aller darstellen. Ob danach Mittäterschaft oder Beihilfe anzunehmen ist, hat der Tatrichter aufgrund einer wertenden Gesamtbetrachtung aller festgestellten Umstände zu prüfen; maßgebliche Kriterien sind der Grad des eigenen Interesses an der Tat, der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille dazu, sodass die Durchführung und der Ausgang der Tat maßgeblich auch vom Willen des Betreffenden abhängen.« Ein eindeutiger Fall von Mittäterschaft ist somit in folgender Konstellation gegeben:

Marco, Paul und seine Freundin Daniela leben schon seit vielen Jahren als gesuchte ehemalige Terroristen im Untergrund. Sie können folglich ihren Lebensunterhalt nicht legal und nur mit Bargeld bestreiten. Aus der aktiven Zeit haben sie noch schwere Waffen im Besitz. Sie planen, damit Geldtransporter zu überfallen. An einem Samstagnachmittag im Vorweihnachtsgeschäft stellen sie am Hinterausgang eines Möbelhauses ihr Auto quer vor einen Geldtransporter. Am Steuer sitzt Daniela. Marco und Paul steigen mit Panzerfaust und Maschinengewehr bewaffnet aus. Paul gibt einen Feuerstoß aus dem Maschinengewehr auf die (gepanzerte) Fahrerkabine ab; Marco zielt mit der Panzerfaust drohend auf das Fahrzeug. Die Mitarbeiter in der Fahrerkabine heben zum Zeichen ihrer Aufgabe die Hände. Während Paul vor dem Fahrzeug stehen bleibt und auf die Mitarbeiter zielt, bringt Barbara eine Flex aus dem Kofferraum und übergibt sie an Marco. Marco flext den Laderaum auf und übergibt an Daniela nacheinander fünf Geldkassetten. Daniela lädt die Kassetten in den Kofferraum und startet dann das Auto. Paul gibt zum Abschluss noch einen Feuerstoß auf die Reifen des Transporters ab; dann springen die beiden zu Barbara in das Auto und die drei flüchten. Die Höhe der Beute beläuft sich auf über 200.000 Euro. Hiervon leben Marco, Paul und Daniela für ein Jahr, bis sie für die Vorweihnachtszeit wieder eine solche Aktion planen. Der vollständige Tatbestand des schweren Raubes ergibt sich erst als Summe der Beiträge von Marco, Paul und Daniela. Jeder hat seine Rolle in einem Geschehen, das sich so nur mit mehreren Tätern gestalten lässt und einem gemeinsam gestalteten »Drehbuch« folgt. Es wäre sachwidrig, nur Marco als Täter anzusehen, weil er es ist, der den Laderaum aufflext und die Geldkassetten wegnimmt. Ohne das Setting wäre er gar nicht in die Lage gekommen, dies tun zu können. Auch Daniela ist nicht

nur die »Fahrerin« bei dem Geschehen, denn sie leistet nicht nur Hilfstätigkeiten zur Tat von Marco und Paul, sondern unverzichtbare Beiträge für den Erfolg der Tat insgesamt. Schließlich sind alle miteinander durch ihr Interesse an dem Erfolg der Tat verbunden. Die Aktion soll schließlich ihrem gemeinsamen Lebensunterhalt dienen.

Die sukzessive Mittäterschaft Eine Problemkonstellation stellen manchmal die Fälle der sukzessiven Mittäterschaft dar. Eine Straftat entwickelt sich – das werde ich Ihnen gleich im nächsten Abschnitt näher erklären – von der Vorbereitung über den Versuch, die Begehung, Vollendung bis hin zur Beendigung der Tat. Sie sollten sich das als eine Art Zeitstrahl vorstellen. Wenn die Tat beendet ist, dann gibt es in dem Geschehen einen Schnitt. Klar ist, dass Sie sich nicht im Nachhinein der Tat anschließen können. Es ist aber anerkannt, dass man an jedem Punkt der Entwicklung einer Straftat einsteigen und zum Mittäter werden kann. Man muss also nicht an der Einsatzbesprechung vor Ausführung der Tat teilnehmen, nicht von Beginn der Ausführung an beteiligt sein und kann sich in die Tat auch noch in der Endphase als Mittäter integrieren. Nach einer verbreiteten Literaturmeinung ist die sukzessive Mittäterschaft bis zur Vollendung einer Straftat möglich, im Stadium von der Vollendung hin zur Beendigung dagegen nicht. In diesem Zeitraum zwischen Vollendung und Beendigung soll es keine Möglichkeit mehr geben, sich in die funktionelle Tatherrschaft zu integrieren. Die Rechtsprechung hält dagegen auf dem Boden der subjektiven Theorie ein Sichanschließen an die Tat auch noch in diesem Stadium für möglich, wenn das Einsteigen nach der eigentlichen Tatausführung von dem Willen beherrscht ist, sich die Tat zu eigen zu machen. Nach der neuesten Rechtsprechung des BGH gilt für die Beurteilung der sukzessiven Mittäterschaft folgender Leitsatz (3 StR 245/21 vom 27.01.2022):

»Sukzessive Mittäterschaft, die sich auch auf die Verwirklichung von Qualifikationsmerkmalen beziehen kann, ist gegeben, wenn ein Mittäter in Kenntnis und mit Billigung des bisher Geschehenen - wenngleich dies von dem ursprünglichen gemeinsamen Tatplan abweicht - in die bereits begonnene Ausführungshandlung eines anderen eintritt. Das Einverständnis bezieht sich dann auf die Gesamttat mit der Folge, dass sie nach § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet wird.« Das lässt sich am besten durch einen Fall veranschaulichen: Nach der Meinung von Tim und Max ist Karl Simone auf der Tanzfläche zu nahe gekommen. Sie beschließen, Karl später vor der Diskothek aufzulauern und ihn zusammenzuschlagen. So geschieht es auch. Als Karl schon am Boden liegt, traktieren sie ihn noch mit Fußtritten. In dem Moment, als sie gerade aufhören wollen, kommt Fred, ein Freund der beiden, des Weges. Fred erkennt die Lage und ist auch der Meinung, dass der aufdringliche Karl eine »Strafe« verdient hat. Er versetzt Karl einen Fußtritt, worauf auch Tim und Max wieder loslegen. Fred hört auch nicht auf, als Max plötzlich von »Tottreten« spricht und Tritte gegen den Kopf ausführt. Tatsächlich kommt Karl bei dem Geschehen zu Tode. Fred ist hier in Kenntnis und unter Billigung der bereits begonnenen gemeinschaftlichen Körperverletzung in das Geschehen eingetreten, ja, er hat sich sogar das Motiv zu eigen gemacht. Er hat sich sodann mit Tim und Max zur weiteren Ausführung des Angriffs auf Karl verbunden. Er hat auch dann noch mitgewirkt, als sich zeigte, dass Max nun mit einem Tötungsvorsatz handelte. Wenn Karl unter diesen Umständen durch Tritte gegen den Kopf getötet worden ist, dann kann Fred die Tat als Mittäter zugerechnet werden, ohne dass der Beweis

der (Mit-)Ursächlichkeit eines seiner Fußtritte geführt werden müsste.

Der subjektive Tatbestand der Mittäterschaft Der subjektive Tatbestand der Mittäterschaft setzt neben dem Bewusstsein und Willen der Verwirklichung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale in Mittäterschaft einen gemeinschaftlichen Tatentschluss voraus. Unter einem gemeinschaftlichen Tatentschluss versteht man den gegenseitigen Willen und das gegenseitige Wissen, gemeinsam mit anderen die Tat durch arbeitsteiliges Handeln als gleichgeordnete Partner zu begehen. Dieser gemeinschaftliche Tatentschluss ist nicht im Sinne eines »Vertrages« über die gemeinschaftliche Tatbegehung zu verstehen. Die Mittäter müssen sich auch nicht in einer genauen und kontinuierlichen Kommunikation über die Vorgehensweise verständigen. Der gemeinschaftliche Tatentschluss kann auch konkludent in einem stillen, sich in Verhaltensweisen ausdrückenden Konsens gefasst werden. Das Sicheinklinken in ein Tatgeschehen (sukzessive Mittäterschaft) muss nicht durch eine explizite Erklärung, man wolle jetzt auch mitmachen, begleitet werden. Der gemeinschaftliche Tatentschluss muss sich auch nicht auf dasselbe Strafgesetz beziehen. Es ist möglich, dass die Beteiligten unterschiedliche Straftatbestände in ihren Vorsatz aufgenommen haben und dennoch teilweise Mittäter sind. Weil aber § 25 II StGB dem Wortlaut nach die gemeinschaftliche Begehung einer Straftat voraussetzt, muss es sich bei den jeweils in den Vorsatz aufgenommenen Delikten um Modifikationen des gleichen Grundtyps handeln. Mittäterschaft ist also möglich zwischen zwei Personen, von denen die eine einen Mordvorsatz, die andere hingegen nur einen Totschlagsvorsatz gefasst hat –, denn in beiden Fällen geht es um die Tötung eines anderen Menschen. Oder zwischen einer Gruppe von Personen, die zum

Teil nur Diebstahlsvorsatz, zum anderen Teil aber Raubvorsatz hat –, denn in beiden Fällen geht es um die Wegnahme einer Sache. Martha überredete ihren Sohn Manfred, gemeinsam Marthas Tante Sophie zu töten, weil sie dringend deren Geld benötigte. Nach anfänglichem Zögern stimmte Manfred zu, um seiner Mutter einen Gefallen zu tun. Martha versuchte mit Wissen und in Anwesenheit von Manfred, Sophie mit Tabletten zu vergiften. Sophie wurde jedoch nur müde, zog sich ins Schlafzimmer zurück und schlief im Bett ein. Dort erschlug Manfred die Tante mit einer Bleikristallvase. Martha hatte ihn eindringlich zu dieser Art der Tatausführung aufgefordert, die Tat von der Türe aus überwacht und das Ende des Zuschlagens angeordnet, als sie meinte, dass Sophie tot sei. Martha wollte durch die Tat einerseits an den Schmuck und das Bargeld von Sophie herankommen, zum anderen die erwartete Erbschaft antreten. Auch wollte sie, dass die Tat genau auf diese Art und Weise ausgeführt wird. Der Schlaf von Sophie sollte ausgenutzt werden, weil dies die Tatausführung erleichterte. Damit war die Motivlage von Martha durch Habgier geprägt und die Tötung sollte heimtückisch erfolgen. In ihrer Person lagen also zwei Merkmale vor, die die Tat zu einem Mord (§ 211 StGB) qualifizierten. Beim tatausführenden Sohn Manfred lag dagegen dieses Motiv nicht vor, weil es ihm nicht um die Wertgegenstände und nicht um die Erbschaft ging. Bei der eigentlichen Tatausführung bestand nach dem psychiatrischen Gutachter eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit, sodass ihm nicht bewusst war, gerade den Schlaf der Tante zur Tat auszunutzen. Weil also die Mordmerkmale fehlen, kam für Manfred nur eine Bestrafung wegen Totschlags (§ 212 StGB) in Betracht. In diesem Fall hatte das im Strafmaß zur Folge, dass die Mutter wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde, während

der Sohn wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt wurde. Sind die Mittäter zunächst von einem gemeinsamen, auf eine Straftat im engeren Sinne bezogenen Tatentschluss ausgegangen, dann liegt ein Mittäterexzess vor, wenn ein Mittäter plötzlich in einer über den gemeinschaftlichen Tatentschluss hinausgehenden Art und Weise handelt. Anton und Bert haben den gemeinsamen Plan, in einem Juweliergeschäft zu stehlen. Anton soll den Angestellten durch ein intensives Gespräch ablenken und Bert unterdessen Schmuckstücke entwenden. Als sich der Angestellte des Juweliergeschäftes trotz des intensiven Kundengesprächs als sehr aufmerksam erweist, dauert Bert die ganze Sache zu lange, und er zieht zur völligen Überraschung und zum Entsetzen von Anton plötzlich eine Pistole, die er ohne Antons Wissen mitgebracht hat, bedroht den Angestellten damit und rafft Schmuckstücke zusammen. Anton und Bert hatten einen gemeinschaftlich gefassten Tatentschluss für einen arbeitsteilig organisierten Diebstahl. Insofern sind Anton und Bert Mittäter. Was Bert dann getan hat, liegt außerhalb der Vereinbarung und Vorstellung von Anton. Damit fehlt Anton der Vorsatz für die Veränderung des Tatgeschehens von einem Diebstahl (§ 242 StGB) in einen schweren Raub (§ 250 StGB) durch die Exzesstat von Bert. Ihm kann folglich die Eskalation des Geschehens nicht zugerechnet werden.

Kapitel 21

Anstiftung IN DIESEM KAPITEL Arten der Anstiftung Aufstiftung, Abstiftung und Umstiftung Doppelter Anstiftervorsatz

Anstifter ist, »wer vorsätzlich einen anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat bestimmt hat«; das Gesetz ordnet an, dass eine solche Person »gleich einem Täter« zu bestrafen ist. Diese gleiche Bestrafung des Anstifters wie des Täters ist berechtigt, denn die Anstiftung bringt ja überhaupt erst den Gedanken zu einer Tat auf und setzt damit das Geschehen in Gang. Das Vorliegen einer strafbaren Anstiftung setzt voraus, dass eine andere Person eine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat begangen hat, dass diese Person hierzu von dem Anstifter bestimmt worden ist, dass der Anstifter sich die wesentliche Unrechtsdimension dieser Tat vorstellt und den Täter zu deren Vollendung bestimmen will. Eine ohnehin zu einer konkreten Tat schon fest entschlossene Person (Achtung, wieder einmal ein lateinischer Begriff: omnimodo facturus) kann begriffslogisch nicht mehr zur Tat angestiftet werden. Soweit es sich bei der Tat um ein Verbrechen

handelt, kommt in diesen Fällen eine Strafbarkeit wegen versuchter Anstiftung gemäß § 30 I StGB in Betracht (dazu Anhang), oder es könnte sich um eine psychische Beihilfe durch Bestärken des Tatvorsatzes (dazu Kapitel 22) handeln. Der Anstifter muss der Urheber einer vorsätzlichen rechtswidrigen Haupttat sein, das heißt, er muss einen anderen Menschen dazu bringen, eine Straftat mit Bewusstsein und Willen und ohne einen Rechtfertigungsgrund zu begehen. Wer einen anderen Menschen so manipuliert, dass dieser eine Straftat ohne den entsprechenden Vorsatz begeht, benutzt diesen Menschen als sein Werkzeug und ist nicht Anstifter, sondern mittelbarer Täter (siehe Kapitel 20). Wer einem anderen Menschen, der gerade angegriffen wird, zuruft, »Los, verteidige dich doch«, verursacht hierdurch nicht eine rechtswidrige Verletzung des Angreifers, sondern leistet berechtigten Beistand.

Das Bestimmen einer anderen Person zur Tat Der Anstifter setzt ein kriminelles Geschehen dadurch in Gang, dass er eine andere Person »auf die Spur setzt«, um eine Tat zu begehen. Der juristische Begriff hierfür lautet »Bestimmen einer anderen Person zur Tat« und wird wie folgt näher definiert: Bestimmen bedeutet nach herrschender Meinung »das ausdrückliche oder schlüssige Hervorrufen des Tatentschlusses zur Haupttat durch eine Willensbeeinflussung des Haupttäters im Wege des offenen geistigen Kontakts«. Der »offene geistige Kontakt« meint die Kommunikation zwischen Anstifter und Täter, die einen psychischen Anstoß zur Tat gibt. Das können längere Gespräche, kurze Ratschläge, aber auch Akte der Beeinflussung sein, die sich auf einen kurzen Moment

beschränken. Wenn etwa Anton über seinen Geschäftspartner Bert klagt und ihm Chris mit den Worten »Den solltest du kaltmachen« eine Pistole hinlegt, dann reicht das aus. Schwierig ist die Frage, ob eine Anstiftung auch dann vorliegt, wenn die eine Person für die andere lediglich tatanreizende Umstände schafft, ohne mit ihr darüber zu kommunizieren. Wenn Chris also gar nichts dazu sagt, was Anton tun sollte, aber auf der Toilette gut sichtbar eine Pistole ablegt, ist das ein unklarer Fall. Ob dies für eine Anstiftungsstrafbarkeit genügt, ist umstritten. Einige sind der Meinung, dass es für die Anstiftung ausreicht, wenn eine Situation geschaffen wird, die das Risiko für eine Tat erhöht. Die herrschende Auffassung fordert dagegen zu Recht, dass es irgendeine Form der Kommunikation geben muss und das Schaffen tatanreizender Umstände ohne jede psychische Beeinflussung nicht ausreicht. Wenn man bedenkt, dass der Anstifter »gleich dem Täter« bestraft wird, ist eine deutlich gemachte Willensbeeinflussung erforderlich.

Aufstiftung, Abstiftung und Umstiftung Weitere wichtige Probleme im Kontext des Bestimmens sind die Aufstiftung, die Abstiftung und die Umstiftung.

Die Aufstiftung: Anstiftung zum »Mehr« Was man unter Aufstiftung versteht, erkläre ich Ihnen am besten anhand eines Beispiels:

Anton will Bert zusammenschlagen und erzählt Chris von diesem Plan. Chris rät Anton dazu, eine Stahlrute mitzunehmen und Bert damit einen »ordentlichen Schlag auf den Kopf« zu versetzen. Durch diesen Schlag wird Bert augenblicklich bewusstlos und erleidet einen Schädelbruch. Anton ist in diesem Beispiel ein omnimodo facturus. Er ist zu der Tat einer Körperverletzung von Bert entschlossen und eine zur Tat entschlossene Person kann man nicht mehr anstiften. Hier ist es nun um einen kleinen Aspekt anders: Anton hat den Vorsatz zu einer Körperverletzung (§ 223 StGB). Chris rät ihm aber zu einem »Mehr« – Anton soll eine Stahlrute benutzen und damit kräftig auf den Kopf schlagen. Damit ist der Qualifikationstatbestand der Körperverletzung, die gefährliche Körperverletzung (§ 224 StGB), erfüllt. Der Schlag auf den Kopf ist eine das Leben gefährdende Behandlung (§ 224 I Nr. 5 StGB) und eine Stahlrute ist eine Waffe (§ 224 I Nr. 2 StGB). Nach Auffassung der Rechtsprechung und herrschenden Meinung reicht schon das Hervorrufen des Entschlusses, die Tat unter qualifizierenden Umständen zu begehen, für eine Anstiftung aus. Das Argument lässt sich hören: Oft ist es so, dass eine qualifizierte Tat ein wesentlich anderes und deutlich schwereres Unrecht als der Grundtatbestand bedeutet. Während der Grundtatbestand der Körperverletzung schon mit einer kräftigen Ohrfeige verwirklicht wird, erfasst die gefährliche Körperverletzung lebensgefährliche Fälle wie Schläge auf den Schädel mit einer Waffe. Eine Mindermeinung vertritt dagegen die Ansicht, dass es sich bei einer Qualifikation nicht um ein vom Grundtatbestand abgehobenes Unrecht handelt. Der »Aufstifter« sei nur für das Ausweiten des Tatentschlusses verantwortlich, nicht jedoch für das Hervorrufen des Tatentschlusses. Wenn der

Täter hinsichtlich des Grundtatbestandes ein omnimodo facturus sei, dann komme eine Bestrafung wegen Anstiftung bei der Aufstiftung nur dann in Betracht, wenn es um ein selbstständig strafbares »Mehr« ginge. Diese Fälle seien nur als psychische Beihilfe durch Bestärkung des Tatentschlusses strafbar (siehe Kapitel 22) und es komme eine Anstiftungsstrafbarkeit nur als Anstiftung zu einem Waffendelikt nach dem Waffengesetz (Benutzung der Stahlrute) in Betracht. Die letztere Auffassung ist natürlich vertretbar, erscheint mir aber überkonstruiert und erfasst nach meiner Meinung das Unrecht des Aufstifters in solchen – relativ häufig vorkommenden – Fällen nicht. Immerhin ist die Höchststrafe der gefährlichen Körperverletzung (zehn Jahre) gegenüber der einfachen Körperverletzung (fünf Jahre) doppelt so hoch, weil es um Taten mit einer deutlich erhöhten kriminellen Energie und erheblichen Folgen für das Opfer geht.

Abstiftung: Anstiftung zum »Weniger« Eine Abstiftung ist gewissermaßen das Gegenteil der Aufstiftung: der Rat zu einem »Weniger«. Anton will Bert mit einer Stahlrute zusammenschlagen. Chris rät Anton davon ab, weil Bert eine angeschlagene Gesundheit hat. Es würde auch ausreichen, wenn er ihn ein paar Mal ohrfeigt. Bei der Fallvariante handelt es sich um eine Abstiftung. Eine Abstiftung liegt vor, wenn der Täter zur Begehung eines qualifizierten Delikts entschlossen ist und dann von einem anderen zu einer weniger schweren Tat veranlasst wird. Anton ist omnimodo facturus einer gefährlichen Köperverletzung (§ 224 StGB). Natürlich kann der abratende Chris nicht wegen

Anstiftung zum Grunddelikt der einfachen Körperverletzung (§ 223 StGB) bestraft werden, da dieses Grunddelikt schon im Tatentschluss von Anton enthalten ist. Ihn trifft auch wegen des Gesprächs mit Anton keine Strafbarkeit wegen psychischer Beihilfe zum Grunddelikt, da durch die Einflussnahme eine Risikoverringerung für das Opfer bewirkt worden ist.

Umstiftung: Anstiftung zu etwas anderem Für die Erklärung der Umstiftung ist eine weitere Variante unseres Grundfalls hilfreich. Anton will Bert bestrafen und hat den Plan, die Fenster seiner Villa einzuwerfen. Chris gibt zu bedenken, dass dies Bert gar nicht schmerze, weil die Versicherung den Schaden bezahlen werde. Anton solle doch Bert lieber vor seinem Haus auflauern und ihn »ein paar Mal ohrfeigen«. So geht Anton dann auch vor. Der Tatentschluss von Anton bezieht sich auf die Begehung einer völlig anderen Tat (Sachbeschädigung, § 303 StGB). Chris führt eine Veränderung dieses Tatentschlusses durch seine Einflussnahme herbei. Der Urheber des neuen Tatentschlusses zu einer Körperverletzung (§ 223 StGB) ist Chris. Somit ist diese Umstiftung von Anton eine strafbare Anstiftung zu der neuen Tat.

Der Doppelvorsatz des Anstifters Von einem Doppelvorsatz des Anstifters spricht man, weil sich sein Vorsatz auf zwei Dinge richtet: 1. darauf, dass er einen Menschen zur Begehung einer Straftat bestimmt

2. auf die Vollendung der Haupttat Jedes dieser beiden Elemente weist Probleme auf, von denen Sie zwei unbedingt kennen müssen: Reicht eine allgemeine Aufforderung zu einer Straftat aus oder muss der Anstifter eine genauere Vorstellung haben, wozu er einen Menschen bestimmt? Wie werden Fälle gelöst, wenn Menschen durch eine Anstiftung zu einer Tat gelockt werden, deren Erfolg gar nicht eintreten soll (Lockspitzelfälle)?

Anstiftung zu einer nicht konkretisierten Tat Oft wird viel geredet und es werden alle möglichen Ratschläge für das Verhalten gegeben. Damit nicht jedes Gerede als Anstiftung zu einer Straftat gelten kann, bedarf es mit Blick auf den Wortlaut des Gesetzes, das von »Bestimmen« spricht, einer Eingrenzung der strafrechtlich relevanten Kommunikationsakte. Die allgemeine unbestimmte Aufforderung zur Begehung von Straftaten soll von einem gezielten Bestimmen zu einer bestimmten Tat abgegrenzt werden. Hierzu gibt es einen instruktiven Fall in der Rechtsprechung des BGH, den Sie im Kasten »Kohle für den falschen Ausweis« finden.

Kohle für den falschen Ausweis (BGHSt 34, 63 ff.) Marcel traf sich mit Andreas, der nach einem Streit mit seinem Vater unter Mitnahme eines Revolvers und eines Personenkraftwagens das Elternhaus verlassen hatte, um ins Ausland zu gehen. Andreas erzählte Marcel, er wolle ins Ausland fliehen, weil er – was nicht zutraf – einen Türken angeschossen habe. Marcel fragte Andreas, ob er Geld habe. Als Andreas verneinte, schlug er ihm vor, dann solle er doch das Auto oder die Waffe verkaufen. Andreas

erklärte dazu, er wolle die Waffe behalten; das Auto könne er nicht verkaufen, weil es nicht auf ihn zugelassen sei. Marcel hielt ihm entgegen, ohne Geld könne er nicht ins Ausland gehen und sagte: »Dann müsstest du eine Bank oder Tankstelle machen.« Andreas antwortete darauf nicht. Im weiteren Verlauf der Unterhaltung kam das Gespräch darauf, dass man Andreas, falls er über ausreichend Geld verfüge, in ein südamerikanisches Land bringen und ihm falsche Papiere beschaffen könne. Die Papiere – so sagte Marcel – würden etwa 10.000 Deutsche Mark kosten. Marcel verabredete mit Andreas ein weiteres Treffen für den 21. Februar 1983, 12:00 Uhr. Am Vormittag dieses Tages überfiel Andreas in Bad Vilbel eine Sparkasse. Er bedrohte einen Bankangestellten mit dem Revolver, forderte ihn auf, Geld in seine Sporttasche zu füllen, und erbeutete auf diese Weise 39.775 Deutsche Mark.

Marcel wurde angeklagt, Andreas zu dieser Tat angestiftet zu haben, wurde aber sowohl von dem Tatgericht als auch in der Revisionsinstanz vom BGH freigesprochen. Ich finde, mit einer überzeugenden Begründung: »Der Vorsatz des Anstifters muss sich auf die Ausführung einer zwar nicht in allen Einzelheiten, wohl aber in ihren wesentlichen Merkmalen oder Grundzügen konkretisierten Tat beziehen. Da der Anstifter für die Tat des Angestifteten ebenso wie dieser selbst einstehen muss, ist zu verlangen, dass die Tat nicht nur nach Tatbestandstypus und allgemeinen Gattungsmerkmalen des Tatobjekts festgelegt ist, sondern in der Vorstellung des Anstifters in ihrem tatsächlichen, freilich noch nicht bis ›ins Detail‹ ausgeführten Bild als wenigstens umrisshaft individualisiertes Geschehen erscheint. Die Erklärung des Angeklagten, A. müsste eine ›Bank oder Tankstelle machen‹, genügt diesen Anforderungen nicht. Sie bezog sich nicht auf eine konkrete Tat, sondern auf eine gattungsmäßig beschriebene Mehrzahl gleichartiger Tatmöglichkeiten. Die Beschränkung der Tatobjekte auf Banken oder Tankstellen reichte nicht aus, um die Haupttat als individualisierbares Geschehen hervortreten zu lassen. Das Tatbild, wie es in der Vorstellung des Angeklagten

vorhanden war, blieb in Ermangelung individualisierender Merkmale (Objekt, Ort, Zeit und sonstige Umstände der Tatausführung) unbestimmt.«

Anstiftung durch einen Lockspitzel Besonders im Bereich der Bekämpfung der Drogenkriminalität ist es (leider) eine weitverbreitete polizeiliche Strategie, auf verdächtige Personen verdeckte operierende Polizeibeamte (undercover agent) oder mit der Polizei kooperierende Privatpersonen aus dem Milieu (V-Personen) anzusetzen. Man nennt diese Personen Lockspitzel, weil ihre Vorgehensweise darin besteht, die verdächtigen Personen zu Rauschgiftgeschäften zu verlocken. Die angestiftete Person wird dabei in eine Falle gelockt; bei der Übergabe der Drogen greift die Polizei zu. Sie werden jetzt vielleicht einwenden, dass das sicher eine gute Strategie ist, um Rauschgift aus dem Verkehr zu ziehen und dass derjenige, der sich auf ein Rauschgiftgeschäft einlässt, doch Strafe verdient hat, auch wenn er von einem Polizisten dazu angestiftet worden ist. Dazu ließe sich sehr viel sagen, wofür hier kein Platz ist. Nur so viel: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat hierzu in einer aufsehenerregenden Entscheidung aus dem Jahre 2014 (EGMR Nr. 54648/09 vom 23.10.2014) erklärt: »Eine unzulässige Tatprovokation liegt vor, wenn der Staat den Betroffenen zurechenbar beeinflusst, um eine Tat aufklären und aburteilen zu können, die es anderweitig nicht gegeben hätte. Das öffentliche Interesse an der Bekämpfung von Straftaten kann die Verwendung von Beweismitteln, die aus einer unzulässigen staatlichen Tatprovokation stammen, nicht rechtfertigen. Ein Strafprozess kann nur fair sein, wenn alle Beweise, die durch eine unzulässige Tatprovokation

gewonnen worden sind, aus diesem ausgeschlossen werden.« Es stellt sich nun die weitere Frage, wie die Person strafrechtlich behandelt wird, die den Täter angestiftet hat. Dies wird über die Figur des doppelten Anstiftervorsatzes gelöst. Der Vorsatz des Anstifters muss sich auf die Vollendung der Haupttat richten. Lockspitzel wollen aber den angestifteten Täter in eine Falle locken: Sie stellen die Tatneigung auf die Probe, vor Vollendung der Tat soll die Polizei zugreifen. Es kommt in diesen Situationen also nur zum Versuch. Daraus wird ganz überwiegend die Straflosigkeit des Lockspitzels abgeleitet. Freilich gibt es hierbei eine Problematik im Rahmen der Drogenbekämpfung. Bringt der Lockspitzel Tom mit dem wiederholten und dringlichen Wunsch, eine größere Menge Kokain kaufen zu wollen, Bob dazu, den Stoff zu besorgen, und greift bei der Übergabe dann die Polizei zu, so ist die Straftat des Besitzes von Drogen gem. § 29 BtMG bereits vollendet, die Straftat des Handeltreibens dagegen nur als Versuch gegeben. Auch in dieser Konstellation will die herrschende Meinung und Rechtsprechung den Lockspitzel straflos stellen, weil es durch die kontrollierte Transaktion nicht zu einer irreparablen Rechtsverletzung kommen konnte. Damit werden die allgemeinen Grundsätze der Anstiftungsdogmatik für die Lockspitzelfälle durchbrochen.

Kapitel 22

Beihilfe IN DIESEM KAPITEL Abhängigkeit der Beihilfe von einer Haupttat Formen der Hilfeleistung Doppelter Gehilfenvorsatz

Der Gehilfe einer Tat ist eine Person, die, ohne arbeitsteilig an der funktionellen Tatherrschaft mitzuwirken (das wäre eine Mittäterschaft, siehe Kapitel 20), einen anderen bei dessen Straftat unterstützt. Beihilfe zu einer Straftat setzt voraus, dass eine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat begangen wurde. Die Gehilfenbestrafung ist von dieser Voraussetzung abhängig; dies wird Akzessorietät der Teilnahme genannt. Moritz plant einen Einbruch in das Lager des Elektronikmarkts Jupiter. Er erzählt seinem Kumpel Max davon. Max antwortet Moritz grinsend, dass er da bis vor Kurzem als Lagerist beschäftigt war. »Da brauchst du kein Brecheisen, sondern nur den Türcode. Der ist 1803«, sagt Max zu Moritz. Zwei Tage später nimmt Moritz von seinem Plan wieder Abstand, weil er keinen Laster zum Abtransport bekommen hat. Der Gehilfe zu einer Straftat wird wegen seiner Mitwirkung an fremdem Unrecht bestraft. Kommt es nicht zu einer Straftat, dann könnte man ihn letztlich nur wegen des bösen Willens bestrafen, einen anderen bei seiner Straftat zu unterstützen. Von der

Information über den Türcode geht keinerlei Gefahr für die Ware im Lager aus, solange Moritz nicht aktiv wird. Man könnte hier von einem Versuch der Beihilfe sprechen; die versuchte Beihilfe ist jedoch nicht strafbar. Für die Feststellung einer strafbaren Beihilfe benötigen Sie: eine vorsätzlich begangene rechtswidrige Haupttat ein Hilfeleisten hierzu den doppelten Gehilfenvorsatz

Keine Beihilfe ohne vorsätzliche rechtswidrige Haupttat Sie können an diesem Punkt im Blitzdurchgang ein paar wichtige Aspekte des Allgemeinen Teils wiederholen.

Die Haupttat muss vorsätzlich sein Warum muss die Haupttat eine vorsätzliche Tat sein? Ganz einfach, weil es im § 27 StGB so heißt; an diesen Wortlaut ist der Rechtsanwender gebunden. Gleichwohl wird eine anhaltende wissenschaftliche Diskussion darüber geführt, ob dadurch nicht Strafbarkeitslücken entstehen könnten, weil Konstellationen denkbar seien, in denen eine Person eine fahrlässige Tat fördert. Diese Debatte vernachlässigt den Grund für die Bestrafung des Gehilfen einer Straftat. Beihilfe meint, dass man sich mit einem Täter solidarisiert und sich zu der Förderung seiner Tatziele entschlossen hat. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn Sie einem Einbrecher die Leiter festhalten, damit sein Weg zum Einstiegsfenster nicht wacklig ist. Anders liegen die Dinge für den Regelfall fahrlässiger Taten: Hier hat sich der Täter nicht für die Verletzung eines Rechtsguts entschieden, sondern

lässt Sorgfaltspflichten außer Acht – mit der Folge einer unbeabsichtigten Verletzung. Mit einer solchen Verhaltensweise kann man sich nicht solidarisieren und einen bewussten fördernden Beitrag hierzu leisten. Natürlich kann Tom zu Fred im Baustellensicherungsfall sagen: »Los, mach mal schneller – wir haben Zeitdruck.« Das geschieht aber nicht mit dem Ziel, die Nachlässigkeit von Fred zu fördern, damit ein Fußgänger an der Baustelle verunglückt. Vielmehr werden solche Fälle als fahrlässige Nebentäterschaft gelöst; das heißt, jede der beteiligten Personen haftet für sich als Täter. Fred und Tom sind Gerüstbauer. Beim Gerüstaufbau muss der Gehweg weiträumig abgesperrt werden, weil immer einmal Gerüstteile herunterfallen und Fußgänger treffen können. Fred war für die Absperrung verantwortlich, hielt dabei aber nicht den notwendigen Abstand ein. Weil der Gerüstaufbau unter Zeitdruck stand, prüfte Tom die Absperrung nicht noch einmal nach, wie das nach dem Vieraugenprinzip vorgesehen war. Während des Aufbaus kommt eine Planke ins Rutschen und stürzt hinab. Der Passant Klaus wird davon am Kopf getroffen und erleidet schwere Verletzungen. Man kann in diesem Fall nicht sagen, dass Tom die Nachlässigkeit von Fred fördern wollte. Man wird jedoch in Erwägung ziehen müssen, dass es zum Pflichtenkreis von Tom gehörte, die Absperrung noch einmal nachzuprüfen. Dann ist auch seine Nachlässigkeit ursächlich für den Unfall von Klaus. Fred würde als Täter einer fahrlässigen Körperverletzung wegen der unzureichenden Absperrung neben Tom als Täter einer fahrlässigen Körperverletzung wegen der fehlenden Kontrolle anzusehen sein.

Die Haupttat muss rechtswidrig sein.

Warum kann es keine strafbare Beihilfe zu einer gerechtfertigten Tat geben? Eine gerechtfertigte Tat verwirklicht kein Unrecht. Der Grund für die Bestrafung eines Gehilfen ist aber, dass er eine Unrechtstat des Täters fördert. Wenn Sie einer Person helfen, die sich gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff wehrt (Notwehr, § 32 StGB), dann ist sogar in der Regelung des Gesetzes enthalten, dass Sie dazu berechtigt sind, in dieser Situation Nothilfe zu leisten. Möglicherweise machen Sie sich sogar wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323 c StGB) strafbar, wenn Sie tatenlos zusehen. Wenn ein Patient die Einwilligung erteilt hat, dass eine Operation durchgeführt wird, dann gilt die Rechtfertigung natürlich nicht nur für den Chirurgen, sondern auch für dessen Hilfspersonen.

Die Hilfeleistung Die klassischen Fälle der Beihilfe werfen keine Probleme auf. Die Beschaffung einer Tatwaffe oder von Einbrecherwerkzeugen, der Abtransport von Beute oder das Auskundschaften eines Gebäudes zur Vorbereitung eines Einbruchs lassen sich ohne Weiteres der Formulierung »Hilfe leisten« des Gesetzes subsumieren. In diesen Konstellationen hat der Beitrag des Gehilfen einen kausalen Einfluss auf die Begehung und Verwirklichung der Tat. In der Wissenschaft werden zum Teil sehr strenge Anforderungen an die Kausalität des Gehilfenbeitrags gestellt. Nach den allgemeinen Kausalitätsregeln (»conditio sine qua non«, siehe Kapitel 6) soll der Gehilfenbeitrag im Erfolg wirksam werden. Demgegenüber vertritt der BGH in ständiger Rechtsprechung einen pragmatisch orientierten Begriff der Hilfeleistung (so zum Beispiel in BGHSt 54, 140): »Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist grundsätzlich jede Handlung als Hilfeleistung anzusehen, die die Herbeiführung des Taterfolgs durch den Haupttäter objektiv fördert oder erleichtert; dass sie für den Eintritt des

Erfolgs in seinem konkreten Gepräge kausal wird, ist nicht erforderlich. Anders liegt es nur, wenn der Beihilfehandlung jede Eignung zur Förderung der Haupttat fehlt oder sie erkennbar nutzlos für das Gelingen der Tat ist.« Die Auffassung der Lehre stellt strengere Anforderungen an die Wirksamkeit des Hilfeleistens als der Maßstab der Rechtsprechung, zu wesentlich unterschiedlichen Ergebnissen werden diese beiden Auslegungen des Begriffs nur selten einmal gelangen. Sie sollten aber in der Ausbildung darauf gefasst sein, dass Übungsfälle so gestaltet werden, dass es auf den Unterschied zwischen »Kausalität« und »Förderung« ankommt.

»Dabei sein ist nicht alles« Sicher ist jedenfalls, dass das bloße Dabeisein während einer Tat als solches nicht genügt. Wer also eine Person bei einem Rauschgifttransport über die deutsch-holländische Grenze als Beifahrer begleitet und sonst in keiner Weise in diese Transaktion einbezogen wird, kann nicht als Gehilfe einer illegalen Einfuhr von Kokain bestraft werden. Hierzu führt der BGH (4 StR 107/98 vom 21.4.1998) aus: »Das ›bloße Dabeisein‹ bei der Einfuhr durch die Mitfahrt genügt für die Annahme strafbarer Beteiligung nicht. Es ist auch nicht ersichtlich, in welcher Weise der Angeklagte durch sein Mitfahren die Einfuhr in ihrer konkreten Gestalt objektiv gefördert oder erleichtert hat. Der Fahrer hatte Ort und Zeit der Übergabe des Kokains mit der Käuferseite vereinbart; er war es auch, der den Pkw für diese Fahrt mietete und diesen auf der Fahrt führte, bei der sich das Rauschgift im Kofferraum befand.«

Strafbarkeit »berufstypischen« Verhaltens

Eine interessante und praktisch bedeutsame Fallkonstellation betrifft die Frage, ob neutrale alltägliche Verhaltensweisen zu einer Strafbarkeit wegen Beihilfe führen können. Der Kunde Schmitt fragt seinen Sparkassenbetreuer Meier, ob es denn wohl möglich sei, größere Geldbeträge auf diskrete Weise in die Schweiz zu überweisen. Meier erkennt einen möglichen Zusammenhang dieses Ansinnens mit Plänen von Herrn Schmitt, Geld vor dem Finanzamt zu verbergen. Es gibt jedoch bei der Sparkasse Verfahren, mit denen ein solcher diskreter Geldtransfer möglich ist. Nachdem Herr Meier vergeblich versucht hat, Herrn Schmitt von einer Geldanlage bei der Sparkasse zu überzeugen, erfüllt er den Kundenwunsch und transferiert das Geld unter Verschleierung der Identität von Herrn Schmitt in die Schweiz. Unter der Voraussetzung, dass Herr Schmitt der Steuerhinterziehung überführt werden kann (vorsätzliche rechtswidrige Haupttat), stellt sich die Frage, ob Herr Meier ihm dazu Beihilfe geleistet hat. Fälle dieser Art waren eine Zeit lang sehr zahlreich und es ist dazu in der Wissenschaft viel veröffentlicht worden. Die Publikationen hatten überwiegend die Tendenz, eine Strafbarkeit der Bankangestellten abzulehnen. Sie sollten einige der Argumente kennen: Eine strafbare Beihilfe ist deshalb nicht gegeben, weil ein Bezug zwischen dem Kapitaltransfer und der zu einem späteren Zeitpunkt vom Bankkunden eingereichten Steuererklärung nicht erkennbar ist. Die Steuerhinterziehung ergebe sich erst aus der alleinigen Entscheidung des Kunden darüber, was er in seine Steuererklärung aufnimmt. Es ist keine objektive Zurechnung der Hilfeleistungen von Bankangestellten beim Geldtransfer zur

Tatbestandsverwirklichung der steuerhinterziehenden Haupttäter möglich. Teilweise wird vertreten, dass eine Beihilfestrafbarkeit dann ausscheidet, wenn es sich bei den Handlungen des Bankangestellten um »neutrales« oder »berufstypisches« Verhalten handelt. Danach soll derjenige Bankangestellte bereits objektiv keinen Straftatbestand erfüllen, der sich an die für seine Tätigkeit geltenden Normen und Regeln hält. Ich teile die Meinung des BGH (BGHSt 46, 107), dass Bankangestellte in solchen Fallkonstellationen nicht schon auf der Ebene des objektiven Tatbestandes von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit befreit werden können. Vielmehr kommt es auf ihr Wissen über die Zusammenhänge solcher Geldtransfers und ihre innere Haltung hierzu an: »Zielt das Handeln des Haupttäters ausschließlich darauf ab, eine strafbare Handlung zu begehen, und weiß dies der Hilfeleistende, so ist sein Tatbeitrag als Beihilfehandlung zu werten. In diesem Fall verliert sein Tun stets den »Alltagscharakter«; es ist als »Solidarisierung« mit dem Täter zu deuten und dann auch nicht mehr als sozialadäquat anzusehen. Weiß der Hilfeleistende dagegen nicht, wie der von ihm geleistete Beitrag vom Haupttäter verwendet wird, hält er es lediglich für möglich, dass sein Tun zur Begehung einer Straftat genutzt wird, so ist sein Handeln regelmäßig noch nicht als strafbare Beihilfehandlung zu beurteilen, es sei denn, das von ihm erkannte Risiko strafbaren Verhaltens des von ihm Unterstützten war derart hoch, dass er sich mit seiner Hilfeleistung »die Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein« ließ. Diese Grundsätze sind auch auf den Straftatbestand der Steuerhinterziehung und auf

das berufliche Verhalten von Bankangestellten anzuwenden. Eine generelle Straflosigkeit von »neutralen«, »berufstypischen« oder »professionell adäquaten« Handlungen kommt dagegen nicht in Betracht. Weder Alltagshandlungen noch berufstypische Handlungen sind in jedem Fall neutral. Fast jede Handlung kann in einen strafbaren Kontext gestellt werden.«

Psychische Beihilfe Zuletzt möchte ich Sie noch mit der Frage vertraut machen, ob auch psychische Beihilfe strafbar ist. Immer wieder einmal kommt es vor, dass Menschen im kriminellen Milieu eine bestimmte Tat miteinander besprechen, eine bestimmte Aufgabenverteilung vornehmen und sich dann in Sicherheit wiegen, dass die »Sache läuft«. Bei der Tat ist dann einer der Beteiligten zu spät da. Die Frage, ob diese Person auch einen fördernden Beitrag zu der Tat geleistet hat, wird von der Rechtsprechung dahin gehend beantwortet, dass auch in der bloßen Zusage einer späteren Unterstützungshandlung bereits eine Beihilfehandlung liegen kann. Der Haupttäter werde durch die Zusage in seinem Tatentschluss bestärkt und ihm werde hierdurch ein erhöhtes Gefühl der Sicherheit vermittelt. Es kommt auch oft vor, dass Menschen bereits einen Tatentschluss gefasst haben, aber noch den »Segen« oder die Bestätigung eines vertrauten Menschen benötigen, um sich den »letzten Ruck« zu geben. Wenn Bert bei seinem Nachbar Fred wegen ständiger nächtlicher Ruhestörung die Scheiben einwerfen will und sein bester Freund Axel ihm mit den Worten »Du hast total recht damit« zustimmt, dann wird man sagen können, dass diese Solidarisierung die Tat von Bert fördert.

Der doppelte Gehilfenvorsatz

Man spricht von einem doppelten Gehilfenvorsatz, weil ein Gehilfe 1. eine Vorstellung von der Haupttat und den Willen haben muss, dass diese Tat vollendet wird, 2. etwas tun muss, das nach seiner Vorstellung und seinem Willen diese Tat fördert. Der folgende Fall aus der Rechtsprechung (nach BGHSt 42, 135), veranschaulicht den doppelten Gehilfenvorsatz sehr schön: Andreas, ein vereidigter Sachverständiger für geschliffene Edelsteine, Diamanten und Perlen, wurde von Matthias damit beauftragt, den Wert mehrerer Hundert Edelsteine (Rubine, Saphire und Smaragde) zu begutachten. Dabei herrschte stillschweigende Einigkeit darüber, dass die als »Schätzung« bezeichneten Gutachten einen überhöhten Wert ausweisen und späteren betrügerischen Handlungen dienen sollten. Andreas erkannte, dass mithilfe der falschen Wertangaben die Steine entweder zu einem überhöhten Wert veräußert oder beliehen werden sollten, beides nahm er billigend in Kauf. Obwohl die Steine einen Wiederbeschaffungswert von lediglich 36.538,59 Euro hatten, wegen ihrer schlechten Qualität jedoch praktisch unverkäuflich waren, bescheinigte Andreas ihnen wider besseres Wissen einen Gesamtwert von 294.988,20 Euro. Matthias hat diese Edelsteine später mit dem Schätzwert als Sicherheiten für sein mit 266.999,99 Euro überzogenes Konto eingesetzt. Der BGH hat es in diesem Fall für ausreichend angesehen, dass Andreas Matthias »ein entscheidendes Tatmittel willentlich an die Hand gegeben hat« und damit das Risiko der Begehung einer für den Einsatz dieses Tatmittels typischen Tat erhöht hat. Der Gehilfe muss also keine exakte Vorstellung von einer konkreten Tat haben, die gefördert werden soll, sondern es reicht nach dem

BGH, dass der Gehilfe die »Dimension des Unrechts der ins Auge gefassten Tat« erfasst hat.

Kapitel 23

Irrtümer im Rahmen der Tatbeteiligung IN DIESEM KAPITEL Irrtümer des Angestifteten Irrtümer des mittelbaren Täters über sein Werkzeug

Sie haben es schon an verschiedenen Stellen dieses Buches kennengelernt, wie oft sich Menschen im Leben wie in strafrechtlich bedeutsamen Situationen irren können. Diese Möglichkeiten erhöhen sich natürlich, je mehr Personen an einem Geschehen beteiligt sind. Dadurch kombinieren sich die allgemeinen Regeln über die Behandlung von Irrtümern auf zusätzlich komplizierte Weise. Die beiden wichtigen Fallgruppen im Rahmen der Irrtümer bei der Tatbeteiligung betreffen: 1. Fälle, in denen der Haupttäter durch einen Irrtum bedingt von der Tatvorstellung des Anstifters abweicht (error in persona des Haupttäters) 2. Irrtümer des mittelbaren Täters über die Gut- oder Bösgläubigkeit seines Werkzeugs Beide Fallgruppen lassen sich gut durch Fälle veranschaulichen.

Der »error in persona« des angestifteten Täters

Der error in persona, der auch bei der strafrechtlichen Zurechnung (siehe Kapitel 6) eine Rolle spielt, behandelt das Problem, dass der Täter sich über die Identität der angezielten Person irrt. Der Täter möchte Anton erschießen, hält Bert für Anton und erschießt folglich Bert in der Vorstellung, Anton zu töten. Der Täter weiß aber, dass er auf einen Menschen schießt und ist deswegen für die Tötung dieses Menschen strafrechtlich voll verantwortlich. Aus Kriminalromanen und Filmen kennen Sie möglicherweise die Konstellation, dass ein Auftragskiller beauftragt wird, eine bestimmte Person zu töten, und sich dann bei der Tatausführung über die Identität der Person irrt. Wenn der Auftragskiller die falsche Person ins Fadenkreuz nimmt und abdrückt, dann ist das für ihn ein error in persona. Dazu der Hoferben-Fall im Kasten aus der Rechtsprechung des BGH (nach BGHSt 37, 214).

Hoferben-Fall Wilhelm hatte sich entschlossen, Karl-Friedrich – seinen Sohn aus erster Ehe und Hoferben – zu töten. Er glaubte, dass die Tötung des Sohnes zur eigenen Rettung und zur Rettung der Familie erforderlich sei. Es gelang ihm, Stefan gegen das Versprechen einer Geldsumme für die Tötung zu gewinnen; er selbst fühlte sich als Vater außerstande, die Tat zu begehen. Stefan sollte Karl-Friedrich im Pferdestall töten, den dieser bei seiner Heimkehr regelmäßig durchquerte; das nähere Vorgehen war ihm überlassen. Um sicherzugehen, dass andere Personen nicht zu Schaden kommen, unterrichtete Wilhelm Stefan über die Gewohnheiten und das Aussehen seines Sohnes und legte ihm ein Foto vor. Stefan begab sich darauf zum Hof und in den Pferdestall. Er traf dort zufällig noch einmal mit Wilhelm zusammen, der sich durch eine Frage vergewisserte, dass er Karl-Friedrich werde identifizieren können. Stefan wartete sodann im Stall auf das Erscheinen des Opfers. Es war dunkel, eine gewisse Helligkeit wurde lediglich dadurch erzeugt, dass Schnee lag. Gegen 19:00 Uhr betrat Bernd, ein Nachbar, den Hof und öffnete die Stalltür. Er ähnelte Karl-Friedrich in der Statur und führte in der Hand eine Tüte mit sich, wie dies auch Karl-Friedrich zu tun pflegte. Stefan nahm deshalb an,

Karl-Friedrich vor sich zu haben und erschoss den nichtsahnenden Bernd aus kurzer Entfernung.

Die rechtliche Bewertung der Situation für Stefan kennen Sie schon – sein error in persona ist irrelevant, er ist in jedem Fall für die Tat verantwortlich. Aber wie verhält es sich nun für Wilhelm? Einige Stimmen in der Literatur möchten den Fall nach den Regeln über die aberratio ictus (dazu Kapitel 6) lösen. Sie erinnern sich: Ein Schütze verfehlt sein eigentliches Ziel und trifft eine Person, die er gar nicht »auf dem Schirm« hatte. Danach würde man sagen, der Anstifter Wilhelm hatte sich ein anderes Ziel (Karl-Friedrich) als das von dem angestifteten Stefan getroffene Ziel (Bernd) vorgestellt. Hält man das für einen Fall der aberratio ictus, dann müsste man sagen, dass Wilhelm nur wegen einer Anstiftung zum Versuch der Tötung an Karl-Friedrich strafbar wäre. Das mutet seltsam an. Der BGH hat mit überzeugenden Argumenten alle Ansätze, in solchen Konstellationen die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Anstifters durch den Irrtum des Angestifteten zu reduzieren, abgelehnt. Der Anstifter als Urheber einer Tat muss nach der allgemeinen Lebenserfahrung mit allen möglichen Irrungen und Wirrungen bei der Ausführung durch den Angestifteten rechnen. »Der Anstifter muss nach dem Gesetz vorsätzlich handeln. Er haftet strafrechtlich nicht, wenn die Haupttat von seinem Vorstellungsbild abweicht. Der Senat vermag nicht anzuerkennen, dass der Irrtum Stefans die Tat für den Angeklagten sachlich zu einem anderen, von seinem Vorsatz nicht umfassten Geschehen gemacht habe. Der Irrtum des Mitangeklagten stellte sich für den Angeklagten zwar als eine Abweichung von dem geplanten Tatgeschehen dar, sie ist aber rechtlich unbeachtlich, weil sie sich in den Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Vorhersehbaren hielt, sodass eine andere Bewertung der Tat nicht gerechtfertigt ist. Das ergibt sich

auch aus dem Normzusammenhang, der zwischen den Vorschriften über Täterschaft und Teilnahme besteht; er muss in der Regel dazu führen, dass der Irrtum des Täters über die Person des Opfers auch für den Anstifter unbeachtlich ist. Hier wollte der Angeklagte zwar nicht, dass Bernd getötet werde. Er wollte aber die Tötung seines Sohnes, und den von diesem Plan abweichenden Tatverlauf muss er sich zurechnen lassen, da eine Verwechslung des Opfers durch den Täter nicht außerhalb jeder Lebenserfahrung lag. Die Regeln für das Fehlgehen des Angriffs (aberratio ictus) finden bei Fallgestaltungen wie der vorliegenden keine Anwendung. Sie sind – als Sonderfall der Kausalabweichung – für Geschehensabläufe entwickelt worden, in denen der Täter das Angriffsobjekt vor sich sieht, an seiner Stelle aber ein anderes Objekt verletzt. Die Übertragung dieser Regeln auf andere Sachverhalte bereitet Schwierigkeiten und ist auch nicht erforderlich.«

Irrtümer des mittelbaren Täters Sie erinnern sich bestimmt, dass ich Ihnen als Gedankenstütze vorgeschlagen hatte, sich den mittelbaren Täter wie einen Marionettenspieler vorzustellen. In Filmen ist es manchmal so, dass die Puppe an den Fäden ein Eigenleben entwickelt; so ist es auch im wirklichen Leben. Grundsätzlich sind zwei Konstellationen denkbar: 1. Das Werkzeug ist in Wirklichkeit bösgläubig (hat also Vorsatz), der mittelbare Täter hält es aber für gutgläubig (vorsatzlos handelnd). 2. Das Werkzeug ist tatsächlich gutgläubig, der mittelbare Täter hält es aber für bösgläubig.

Rechtsprechung zu diesen Konstellationen habe ich nicht gefunden, sie sind aber sehr beliebt in Übungsfällen, weil man hieran noch einmal wesentliche Fragen zur (mittelbaren) Täterschaft und Teilnahme durchspielen kann. Deswegen hier ein typischer Lehrbuchfall: In die Notaufnahme des Krankenhauses wird Herr Müller eingeliefert. Als der Arzt Dr. Adam durch das Fenster des Behandlungszimmers sieht, erkennt er den ihm verhassten Ex-Mann seiner Frau. Er sieht seine Chance, Herrn Müller zu töten, und zieht eine Spritze mit einem tödlich wirkenden Medikament auf. Er beauftragt Schwester Beate, Herrn Müller die Spritze zu injizieren. Entgegen der Annahme von Dr. Adam ist Schwester Beate nicht gutgläubig, weil sie die herumliegende Ampulle gesehen hat. Sie ist Dr. Adam aber treu ergeben und führt den Auftrag in voller Kenntnis der Folgen für Herrn Müller aus. Herr Müller verstirbt wenige Minuten nach der Injektion. Dr. Adam glaubt, dass er die Tat steuert. Schwester Beate handelt aber selber volldeliktisch; sie handelt mit dem Bewusstsein und dem Willen, dass die von ihr injizierte Spritze Herrn Müller töten wird. Nach der subjektiven Theorie lässt sich dieser Fall einfach auf der Ebene der Vorstellungswelt von Dr. Adam lösen: Dr. Adam möchte die unwissende Schwester Beate als sein Werkzeug nutzen, um Herrn Müller zu töten. Er hat damit animus auctoris (Täterwillen) und kann folglich als Täter hinter der Täterin der Tötung an Herrn Müller bestraft werden. Die Tatherrschaftslehre muss eine Tatherrschaft von Dr. Adam ablehnen. Da Schwester Beate weiß, was sie injizieren soll, hat sie die Tatherrschaft über den letzten Schritt zur Verwirklichung der Tat, denn sie kann ja ihre Treue zu Dr. Adam aufgeben und die Injektion nicht durchführen. Nach diesem Lösungsansatz kann

Dr. Adam also nicht mittelbarer Täter der Tötung von Herrn Müller sein. Bei der Suche nach einer pragmatischen Lösung für diese Konstellation hat sich als herrschende Lehre durchgesetzt, dass bei einer derartigen Diskrepanz zwischen Tatherrschaftswillen und realem Ablauf des Geschehens wegen einer (formal sehr schwierig zu begründenden) Anstiftung bestraft werden soll. Manche schlagen dagegen eine Bestrafung wegen versuchter mittelbarer Täterschaft vor. Variante: Dr. Adam ist davon überzeugt, dass Schwester Beate die herumliegende Ampulle gesehen hat und Herrn Müller in vollem Bewusstsein der Folgen die Spritze injiziert. Tatsächlich ist Schwester Beate aber völlig ahnungslos und erschrickt, als bei Herrn Müller wenige Minuten nach der Injektion ein Atemstillstand eintritt. In dieser Fallvariante liegen die Dinge noch etwas vertrackter: Objektiv beherrscht Dr. Adam die Tat, weil Schwester Beate entgegen seiner Vorstellung gutgläubig ist. Subjektiv fehlt ihm aber der Tatherrschaftswille, weil er nicht glaubt, ein Werkzeug zu steuern. Wenn die objektive Lage und das Vorstellungsbild von Dr. Adam so auseinanderfallen, dann kann man auf die subjektive Seite abstellen und sagen, dass die Vorstellung von Dr. Adam, Urheber einer vorsätzlichen Tat von Schwester Beate zu sein, zu seiner Bestrafung wegen Anstiftung von Schwester Beate führt. Andere schlagen vor, Dr. Adam wegen versuchter Anstiftung (§ 30 StGB) zu bestrafen (die Versuchsstrafbarkeit behandelt das nächste Kapitel).

Teil VI

Versuch und Rücktritt vom Versuch



IN DIESEM TEIL … Eine Straftat durchläuft mehrere Phasen von der Idee bis zur Vollendung. Eine wichtige Frage ist, ab welcher Phase ein Täter für seine geplante Straftat bestraft werden kann. Vorbereitungshandlungen sind in aller Regel straflos, der Versuch einer Straftat ist dagegen häufig strafbar; für Verbrechen gilt dies stets. Wichtig ist die Frage, wie es sich mit der Strafbarkeit verhält, wenn durch den Versuch gar kein Schaden entstehen kann (untauglicher Versuch). Unter dem Begriff »Rücktritt vom Versuch« geht es um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen man von Strafe verschont bleibt, wenn man den Versuch einer Straftat aufgibt oder den Erfolg verhindert.

Kapitel 24

Stadien einer Straftat und Voraussetzungen eines strafbaren Versuchs IN DIESEM KAPITEL Die Strafbarkeit des Versuchs Von der Idee bis zum Versuch Der Übergang zur Tatbegehung (unmittelbares Ansetzen) Besondere Konstellationen des Versuchs Die versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen

Bisher haben Sie nur die vollendete Straftat kennengelernt. Der Täter hat eine Vorstellung davon, was er erreichen möchte, und es gelingt ihm, dies erfolgreich in die Tat umzusetzen. Anton will Bert töten. Er besorgt sich dafür eine Pistole und wartet vor dem Haus von Bert. Als Bert die Tür öffnet, gibt Anton auf ihn fünf gezielte Schüsse ab. Alle Schüsse treffen Bert im Brustbereich. Er stirbt innerhalb von wenigen Minuten an den Schussverletzungen. Es handelt sich in diesem Fall um eine vorsätzliche vollendete Tötung (§ 212 StGB). Sie haben in diesem Buch schon an vielen Stellen gelernt, dass es oft nicht so kommt, wie man denkt. So ist es auch beim Versuch. Bei einem Versuch bleibt die Wirkung des eingesetzten

Tatmittels ganz aus oder hinter den Erwartungen des Täters zurück. Anton hat die Waffe auf dem Schwarzmarkt gekauft und vor der Tat nicht auf ihre Funktionstüchtigkeit geprüft. Er fährt mit der (geladenen!) Waffe zu Bert und drückt mehrfach ab, als Bert die Tür öffnet – aber die Pistole hat Ladehemmung und kein Schuss geht los. Oder: Bert öffnet die Tür, sieht Anton mit der Pistole vor sich und wirft sich sofort zu Boden. Es trifft ihn nur der erste Schuss als Schulterstreifschuss. Es handelt sich in diesen Fällen um den strafbaren Versuch einer Tötung. Nun könnten Sie für die erste Fallvariante sagen: »Na, ist doch noch einmal alles gut gegangen und gar nichts passiert.« Die Frage nach der Strafwürdigkeit eines solchen Verhaltens ist durch §§ 12, 23 StGB für Verbrechen dahin gehend entschieden, dass es bei entsprechendem Vorsatz nicht auf den Erfolg ankommt, der ausgebliebene Erfolg kann aber unter Umständen strafmildernd berücksichtigt werden. Um jedoch eine Bestrafung alleine wegen des »bösen Willens« zu verhindern, muss dieser nach der Bestimmung des § 22 StGB durch ein »unmittelbares Ansetzen zur Tat« in Erscheinung getreten sein. Wie so oft im Strafrecht kann es auch beim Versuch zu Irrtümern und anderen geistigen Verwirrungszuständen kommen. Sie werden Fälle zum untauglichen und abergläubischen Versuch sowie zum Wahndelikt kennenlernen. Zuletzt räumt das Strafrecht demjenigen, der den Versuch aufgibt, ehe daraus ein Erfolg entstanden ist, in § 24 StGB eine strafaufhebende Rücktrittsmöglichkeit ein. Worauf sich diese

Vergünstigung stützt und unter welchen Voraussetzungen sie gewährt werden kann, werden Sie in Kapitel 25 kennenlernen.

Die Strafbarkeit des versuchten Verbrechens Gemäß § 23 I StGB ist der Versuch eines Verbrechens stets strafbar. Ein Verbrechen ist nach der Regelung des § 12 I StGB eine Straftat, die im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr bedroht ist. Wichtige Beispiele hierfür sind etwa Mord und Totschlag (§§ 211, 212), Vergewaltigung (§ 177 StGB) und der Raub (§ 249 StGB). Der Versuch eines Vergehens ist dagegen gemäß § 23 I StGB nur bei ausdrücklicher gesetzlicher Regelung strafbar. Ein Vergehen ist nach der Regelung des § 12 II StGB eine Straftat, die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitstrafe als einem Jahr oder mit Geldstrafe bedroht ist. Dies ist zum Beispiel bei der Körperverletzung (§ 223 StGB), beim Diebstahl (§ 242 StGB) oder bei der Sachbeschädigung (§ 303 StGB) der Fall. Der Versuch der Körperverletzung wird zum Beispiel in § 223 II StGB ausdrücklich unter Strafe gestellt. Auch wenn der tatbestandsmäßige Erfolg nicht eintritt, wird der Versuch bei Verbrechen und den entsprechend herausgehobenen Vergehen als eine strafwürdige Betätigung des kriminellen Willens angesehen. Nach herrschender Meinung ist Strafgrund des Versuchs der rechtserschütternde Eindruck, der durch die Betätigung eines rechtsfeindlichen Willens bei der Allgemeinheit hinterlassen wird (Eindruckstheorie). Einfacher ausgedrückt geht auch vom Versuch der Eindruck aus, dass ein anderer Mensch bereit war, das Gesetz zu verletzen. Ein solcher Eindruck kann bei der Allgemeinheit jedoch nur dann entstehen, wenn von dem Tatentschluss des Täters wirklich etwas nach draußen dringt. Es stellt sich also die Frage, in welchen Schritten sich der Plan zu

einer Straftat entwickelt und wo der Punkt zu erkennen ist, dass die Schwelle zum Strafbaren überschritten wird. Diese Schritte werden bezeichnet als die Idee zu einer Straftat, der Entschluss zu einer Straftat, die Vorbereitung einer Straftat, der Versuch einer Straftat.

Idee – Entschluss – Vorbereitung – Versuch Für das Strafrecht unbedeutend und folgenlos ist die Idee zu einer Straftat. Anton liegt zu Hause auf dem Sofa und grübelt über seine Schulden. Sein Konto ist überzogen, die Kreditkarte gesperrt und er hat nur noch 40 Euro in der Hosentasche. Es scheint aus Sicht von Anton nur einen Ausweg zu geben: einen Raubüberfall auf eine Tankstelle. Alles das spielt sich in der Gedankenwelt von Anton ab. Es ist nicht nur ein berühmtes Volkslied, sondern entspricht auch einem juristischen Grundsatz, wenn man dazu feststellt: »Die Gedanken sind frei; wer kann sie erraten?« Es ist keine Beweisführung über die Gedanken von Anton möglich. Aber selbst dann, wenn Anton auf einem Notizzettel diese Gedanken festhält, dann ist das auch nicht mehr als eine Idee, über deren weitere Entwicklung man nichts Gesichertes sagen kann. Für »böse Gedanken« alleine werden Sie in unserer Rechtskultur nicht bestraft. Ebenfalls bedeutungslos für das Strafrecht ist der bloße Tatentschluss als eine weitere Konkretisierung der Idee.

Anton fasst den Entschluss, heute Nacht den Raubüberfall durchzuführen, legt sich noch einmal hin und stellt sich den Wecker für den Überfall auf die Tankstelle auf 1 Uhr früh. In diesem Fall hat sich die Idee zum Überfall zwar schon verdichtet, aber weiterhin spielt sich alles »im Kopf« und in den eigenen vier Wänden von Anton ab. Es kann noch etwas dazwischenkommen, bevor Anton die Wohnung verlässt, oder er kann es sich anders überlegen. Würde Anton in dieser Situation von der Polizei aufgesucht werden, dann hätte sie keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass der auf 1 Uhr gestellte Wecker das Startsignal für einen Raubüberfall ist. Mit dem nächsten Schritt nähern wir uns der Schwelle zum strafbaren Versuch. Eine Straftat bedarf zuweilen der Vorbereitung. Die Frage lautet, wo die Aktivitäten eines Täters bereits den Bereich von tatbestandlichen Ausführungshandlungen erreichen. Bleiben wir bei dem Fall und spinnen ihn fort: Anton kauft sich am Abend in einem Drogeriemarkt eine schwarze Damenstrumpfhose und steckt diese auf dem Weg zur Tankstelle ein. An der Straßenecke vor der Tankstelle zieht er sich die Strumpfhose über den Kopf, um sich unkenntlich zu machen. Wenn Sie das Geschehen auf dem Zeitstrahl betrachten, dann rückt jede der drei Handlungen ein Stück näher an die Durchführung des Raubüberfalls auf die Tankstelle. Schon der Kauf der Strumpfhose dient der Vorbereitung des Raubüberfalls; Anton steckt sich die Strumpfhose ein, um sie sich über den Kopf zu ziehen; er zieht sie sich kurz vor der Tat über, um nicht erkannt zu werden.

Wo liegt nun der Punkt, an dem die straflose Vorbereitung der Tat in einen strafbaren Versuch des Raubüberfalls umschlägt? Hierfür sollten Sie sich zunächst einmal die Definition des Versuchs in § 22 StGB ansehen: »Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt.« Das Gesetz verlangt also, dass die Handlung des Täters direkt etwas mit dem angezielten Tatbestand zu tun hat. Anton wollte einen Raubüberfall auf die Tankstelle begehen. Schauen Sie sich hierfür einmal den Tatbestand des Raubs (§ 249 StGB) an: »(1) Wer mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.« Stellen wir uns einmal dumm. Was soll der Kauf einer Strumpfhose mit Gewalt gegen eine Person, mit Drohungen und Wegnahme zu tun haben? Genau so hätte die klassische Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen den Fall behandelt. Nach der dort vertretenen formell-objektiven Theorie wird der Bereich der straflosen Vorbereitung erst verlassen, wenn der Täter mit der tatbestandsmäßigen Handlung »im strengen Sinn« beginnt. Das wäre in unserem Fall noch nicht einmal gegeben, wenn sich Anton die Strumpfhose an der Ecke über den Kopf zieht, sondern erst dann, wenn er die Tankstelle betritt und Gewalt übt oder droht.

Als eine objektive Theorie bezeichnet man diesen Lösungsansatz, weil sich die Bewertung des Geschehens an dem orientiert, was tatsächlich geschieht und zu sehen ist. Die entgegengesetzte subjektive Theorie stellt dagegen allein auf ein inneres Geschehen, das heißt die Tätervorstellung über das erreichte Stadium der Tat, ab. Dadurch können äußerlich harmlose Handlungen unter Berücksichtigung der Tätervorstellungen als Beginn der Tatausführung bewertet werden. Das heißt, man könnte bereits den Kauf der Stumpfhose als Beginn des Raubüberfalls werten. Sie kennen dieses Phänomen bereits aus vielen in diesem Buch dargestellten Streitfragen – es wird letztlich dann nicht an der Frontstellung zwischen zwei Meinungslagern festgehalten, sondern nach einem Kompromiss gesucht. Dieser Kompromiss heißt – Sie werden nicht überrascht sein – gemischt subjektivobjektive Theorie. Danach reichen Handlungen, die die Ausführung der für später geplanten Tat nur ermöglichen oder erleichtern sollen, für eine Versuchsstrafbarkeit noch nicht aus, sondern verbleiben im straflosen Vorbereitungsstadium: das Auskundschaften des späteren Tatortes, die Anschaffung einer Leiter für einen Einbruch, ja sogar das Beschaffen einer Tatwaffe (das dann jedoch selbstständig nach den Tatbeständen des Waffengesetzes strafbar sein kann). Entscheidend ist nach dieser in vielen Varianten vertretenen Theorie, ob der Täter Handlungen vornimmt, die ohne wesentliche Zwischenschritte in die tatbestandsmäßige Handlung einmünden. Die Leitentscheidung des BGH (BGHSt 26, 201) hierzu betrifft tatsächlich auch einen Tankstellenüberfall:

»Die Mitangeklagten kamen in den Abendstunden zu der für den Überfall ausersehenen Tankstelle. Sie war nicht besetzt. Deshalb gingen die Mitangeklagten zu dem im Tankstellenbereich liegenden Wohnhaus. Vor der Haustür zogen sie die Strumpfmasken auf. Dann läutete der Mitangeklagte K. Er hatte die mitgeführte Pistole in der Hand. Die Mitangeklagten nahmen an, dass auf ihr Läuten der Tankwart, der Inhaber der Tankstelle oder eine andere Person erscheinen werde. Sogleich bei ihrem Erscheinen sollte die öffnende Person mit der Pistole bedroht, gefesselt und zur Ermöglichung und Duldung der Wegnahme genötigt werden. Auf das Läuten kam niemand. Auch das Klopfen an mehreren Fenstern blieb ohne Erfolg. Die Mitangeklagten gaben die Verwirklichung ihres Vorhabens auf, weil aus dem gegenüberliegenden Haus eine Frau heraussah und sie glaubten, diese Frau könne sie entdecken.« Nach der subjektiven Theorie bestünde kein Zweifel daran, dass die Beteiligten an dieser Aktion wegen eines Raubversuchs zu bestrafen sind. Nach ihrer Vorstellung ist das maskierte Klingeln an der Haustür der Auftakt zu dem Überfall. Nach einer objektiven Theorie ist bedeutsam, dass es noch zu keinerlei realem Kontakt mit einem Opfer gekommen ist, sondern die Bedrohung, Fesselung und Wegnahme nur Vorstellung geblieben sind. Eine Lösung, die beide Ansätze miteinander verbindet, wird vom BGH wie folgt entwickelt: »Nach § 22 StGB fallen in das Versuchsstadium Handlungen, mit welchen der Täter ›nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt‹. Der objektive Bewertungsmaßstab auf subjektiver, im konkreten Tatvorsatz zu findender Beurteilungsgrundlage bezieht in den Bereich des Versuchs ein nicht tatbestandsmäßiges Verhalten ein, wenn es nach der Vorstellung des Täters der Verwirklichung eines

Tatbestandsmerkmals ›unmittelbar vorgelagert‹ ist. In der Sache nicht anders verstand die Rechtsprechung schon bisher den Bewertungsmaßstab, wenn sie das Versuchsstadium auf Handlungen erstreckte, die ›im ungestörten Fortgang unmittelbar‹ zur Tatbestandserfüllung führen sollten oder wenn sie den Versuch mit Handlungen beginnen ließ, die im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der Tatbestandsverwirklichung standen.«

Die Voraussetzungen des strafbaren Versuchs Sie haben es gerade dem Leitsatz des BGH entnehmen können und finden das auch so in der Formulierung des Gesetzes in § 22 StGB wieder, dass die Strafbarkeit des Versuchs zwei wesentliche Voraussetzungen hat: die Vorstellung des Täters von der Tat (subjektives Element) das unmittelbare Ansetzen zur Tat (objektives Element)

Bitte beachten Sie unbedingt (ich habe diesen Fehler schon Tausende Male gesehen), dass Sie den Versuch genau in der Reihenfolge prüfen, die das Gesetz vorgibt. Im Gegensatz zum vollendeten Delikt prüfen Sie nicht erst den objektiven und dann den subjektiven Tatbestand, sondern umgekehrt erst den subjektiven und dann den objektiven Tatbestand. Also: erst, was hat sich der Täter vorgestellt, und dann, was hat er getan, um die Tat zu verwirklichen.

Die Vorstellung von der Tat Bei der Prüfung der Versuchsstrafbarkeit kehrt sich der normale Aufbau eines strafrechtlichen Gutachtens um. So wie es im

Gesetz (§ 22 StGB) formuliert ist, beginnen Sie die Prüfung mit der Vorstellung des Täters von der Tat. Dies ist der sogenannte subjektive Versuchstatbestand, der in sehr vielen Lehrbüchern auch unter der Überschrift Tatentschluss behandelt wird. Die Anforderungen an den Tatentschluss bei der versuchten Tat und der Vorsatz bei vollendeter Tat sind im Wesentlichen identisch (siehe dazu Kapitel 10): Wissenselement des Vorsatzes: Der Täter muss wissen, was er für eine Tat in seinen Tatentschluss aufgenommen hat. Wollenselement des Vorsatzes: Der Täter muss den Willen haben, diesen Tatbestand zu verwirklichen. Bedingter Vorsatz (dolus eventualis) genügt für den Tatentschluss des Versuchs, wenn bedingter Vorsatz für den subjektiven Tatbestand des vollendeten Delikts ausreicht. Wenn also Anton mit einem Hammer auf den Kopf von Bert schlägt, um ihn zu betäuben, und es für möglich hält, dass Bert den Schlag nicht überlebt, dann liegt bei glücklichem Ausgang ein versuchter Totschlag vor.

Irrtümer bei der Vorstellung von der Tat Die Umkehrung der Prüfungsreihenfolge hat zur Konsequenz, dass Sie schon im ersten Prüfungsschritt, also beim Tatentschluss, Irrtümer bei der Vorstellung von der Tat behandeln müssen. Ein sogenannter untauglicher Versuch liegt vor, wenn sich der Täter irrig einen Sachverhalt vorstellt, der, läge er vor, die Voraussetzungen eines Straftatbestandes erfüllen würde. Ein solcher Irrtum schützt – wie sich aus dem Wortlaut des § 22 ergibt – nicht vor Strafe, denn entscheidend für den Einstieg in die Versuchsstrafbarkeit ist die Vorstellung des Täters von der Tat.

Unterschieden werden drei Konstellationen des untauglichen Versuchs: der Versuch am untauglichen Objekt der Versuch mit untauglichen Mitteln Versuch des untauglichen Subjekts Daneben kennt das Gesetz noch den untauglichen Versuch aus grobem Unverstand (§ 23 StGB). Im Bereich übersinnlicher Aktivitäten spricht man vom abergläubischen Versuch und bei wahnhaften Vorstellungen vom Wahndelikt. Der Versuch am untauglichen Objekt kann deswegen nicht zur Vollendung der Tat führen, weil das Opfer – entgegen der Vorstellung des Täters – nicht zur Verwirklichung der Tat geeignet ist. Ein einfacher Fall: Anton will den schlafenden Bert in seinem Bett erschießen. Er bricht nachts in das Haus von Bert ein und schleicht sich in das Schlafzimmer. Von der Tür aus gibt er fünf Schüsse auf den im Bett liegenden Körper ab. Anton weiß nicht, dass Bert zwei Stunden vorher an plötzlichem Herztod verstorben ist. Er schießt also auf eine Leiche. Wenden Sie die Regelung des § 22 StGB an. Anton hatte die Vorstellung, Bert zu töten. Er ist mit einer Waffe in das Haus eingedrungen und hat zu der Tat unmittelbar angesetzt, als er auf Bert geschossen hat. Der Tatbestand der versuchten Tötung ist also vollständig erfüllt. Dass der Erfolg hier nicht eintritt, ist ja gerade das Kennzeichen eines Versuches. Dass Anton auf eine Leiche geschossen hat, ist folglich für seine Versuchsstrafbarkeit ohne Bedeutung. Der Versuch mit untauglichen Mitteln kann deswegen nicht zur Vollendung der Tat führen, weil der Täter – entgegen seiner Vorstellung – ein Tatmittel benutzt, das zur Verwirklichung der Tat

ungeeignet ist. Hierzu gibt es einen instruktiven Fall aus der Rechtsprechung des BGH (BGHSt 41, 94): »Nach den Feststellungen hat die Angeklagte das Insektengift ›Detmol‹ aus einer Spraydose auf das Vesperbrot ihres Ehemannes gesprüht, um ihn zu töten. Der Sprühvorgang dauerte zweimal je etwa eine Sekunde. Der Ehemann verzichtete jedoch auf den Verzehr des Brotes, nachdem er einen ersten Bissen wegen des bitteren Geschmacks ausgespuckt hatte. Sachverständig beraten hat die Strafkammer festgestellt, dass die 500-mlSpraydose 0,17 % des Giftes Fenitrothion enthielt, mithin 0,85 ml dieses Wirkstoffes. Die für einen Menschen mit 70 kg Körpergewicht tödliche Dosis dieses Giftes beträgt bei oraler Einnahme 40 g.« Wir werden auf diesen Fall gleich noch unter dem Aspekt zurückkommen, wann von einem untauglichen Versuch aus grobem Unverstand (§ 23 StGB) gesprochen werden kann. Das Gericht in erster Instanz hatte nämlich diese Vorschrift nach Auffassung des BGH zu Unrecht auf den Fall angewandt. Zur Begründung, warum es sich um einen Fall des gewöhnlichen untauglichen Versuchs handelt, der ungemildert zu bestrafen ist, führt der BGH aus: »Bei der Tat der Angeklagten handelte es sich um einen untauglichen Versuch. Nach durchschnittlichem Erfahrungswissen ist ein Insektenvernichtungsmittel giftig und grundsätzlich geeignet, den Tod eines Menschen herbeizuführen. Ob dieser Erfolg im Einzelfall tatsächlich eintritt, hängt von der Art und Menge des verwendeten Mittels ab. Mit der hier benutzten Menge konnte der Taterfolg tatsächlich nicht eintreten; um ihn herbeizuführen, hätte es einer für eine heimtückische Tötung ungeeignet großen Menge bedurft.

Die Angeklagte irrte hier nicht über die grundsätzliche Eignung von Insektengift zur Tötung, ihre Fehlvorstellung bezog sich lediglich auf die tatsächliche Beschaffenheit des von ihr gewählten und in seiner giftigen Konzentration für ausreichend gehaltenen Mittels. Es handelt sich um einen Irrtum über die erforderliche Dosis … Das Gesetz geht von der Strafwürdigkeit auch des untauglichen Versuchs aus; die in den Vorstellungen des Täters liegende Gefährlichkeit ist Grund der Strafbarkeit.« Mehr zu diesem Fall gleich. Als letzte Fallgruppe des untauglichen Versuchs möchte ich Ihnen noch den Versuch des untauglichen Subjekts vorstellen. Bestimmte Delikte sind nur dann strafbar, wenn sie durch eine bestimmte Person (= ein Subjekt) – zum Beispiel einen Amtsträger – begangen werden. Der Angestellte der Müllabfuhr Kunz hält sich irrtümlicherweise für einen Amtsträger und hält die Entleerung der Müllcontainer für eine Amtshandlung. Deswegen lässt er sich für die Mitnahme zusätzlichen Hausmülls mit 50 Euro »bestechen«. Es liegt ein untauglicher strafbarer Versuch der Vorteilsannahme (§ 331 StGB) vor, weil es sich bei dem Müllmann nicht um einen Amtsträger und somit um ein untaugliches Tatsubjekt handelt. Die genaue Einordnung und die Frage der Strafbarkeit dieses untauglichen Versuchs sind umstritten. Vernünftig erscheint mir folgende Überlegung: Bei den Amtsdelikten zielt der Gesetzgeber auf das Vertrauen in die besondere Verlässlichkeit von Amtsträgern. Es geht um einen besonderen Kreis von potenziellen Tätern; wenn sich – wie hier – eine Person bloß subjektiv wie ein Amtsträger fühlt, dann ist durch ihre Handlungen das Vertrauen in die Nichtkäuflichkeit von Amtsträgern nicht

betroffen. Viele sehen deswegen den Versuch des untauglichen Subjekts nicht als strafwürdig an.

Grober Unverstand, Aberglaube und Wahn beim Versuch Für den Fall eines grob unverständig begangenen untauglichen Versuchs sieht § 23 III StGB eine Strafmilderung vor, da in diesen Fällen – wenn sie den Strafgrund des Versuchs bedenken – kein rechtserschütternder Eindruck auf die Allgemeinheit entstehen kann, sondern die Vorstellung des Täters über die Verwirklichung der Tat eher mitleidiges Lächeln verursacht. Man spricht insofern auch von einem Trottelprivileg. Kehren wir noch einmal zum Fall »Vergiftung mit Insektengift« zurück. Die Angeklagte hatte versucht, ihren Ehemann mit zwei Sprühstößen Insektengift auf das Butterbrot zu töten. Das war eindeutig ein untauglicher Versuch. Das Gericht in der ersten Instanz war der Meinung, dass diese Vorstellung von der Tat so einfältig gewesen ist, dass die Angeklagte nach der Regelung des § 23 III StGB eine mildere Strafe verdient hat. Der BGH ist dieser Meinung (BGHSt 41, 94) nicht gefolgt: »Aus grobem Unverstand handelt der Täter nur dann, wenn er trotz ungeeigneten Mittels den Taterfolg für möglich hält, weil er bei der Tatausführung von völlig abwegigen Vorstellungen über gemeinhin bekannte Ursachenzusammenhänge ausgeht. Dabei muss der Irrtum nicht nur für fachkundige Personen, sondern für jeden Menschen mit durchschnittlichem Erfahrungswissen offenkundig, ja geradezu handgreiflich sein.« Die Regelung des § 23 III StGB greift also nur dann ein, wenn sich der Täter über die einfachsten Wirkungszusammenhänge irrt, und zum Beispiel die Vorstellung hat, man könnte mit einem stark gebrühten Kaffee einen anderen Menschen töten.

Vom untauglichen Versuch aus grobem Unverstand ist der abergläubische Versuch abzugrenzen. Beim abergläubischen Versuch hat der Täter die Vorstellung, er könne einen tatbestandsmäßigen Erfolg mit übersinnlichen Mitteln jenseits aller bekannten Wirkungszusammenhänge erreichen. Antonia hat eine schmutzige Scheidung von ihrem Mann Bert hinter sich und möchte Rache nehmen. Sie stellt sich vor, sie könne Bert nach der Voodoo-Methode unerträgliche Schmerzen zufügen. Antonia schnitzt ein Holzpüppchen, versieht die Brust mit dem Buchstaben B und bohrt jeden Abend Nadeln in die Gliedmaßen und den Körper des Püppchens. Antonia hat also eine Vorstellung von der Tat und hat auch mit dem Schnitzen des Püppchens und der abendlichen »Nadeltortur« zur Verwirklichung der Tat angesetzt. Wir haben es jedoch mit einem Willen und Handlungen zu tun, die im Irrealen liegen und sich auf Wirkungen richten, die jeder menschlichen Beherrschungskraft entzogen sind. Die ganz überwiegende Auffassung geht richtig davon aus, dass es nicht strafrechtlich zurechenbar ist, wenn ein Täter sein Ziel mit übersinnlichen Mitteln erreichen möchte. Auch vom Strafgrund des Versuchs her gedacht ist nicht erkennbar, wodurch hier eine Erschütterung der Rechtsgemeinschaft eintreten könnte. Wer davon liest, wie eine verlassene Frau ihren Ex-Mann nach der Voodoo-Methode quälen wollte, wird verwundert bis betroffen über die menschlichen Abgründe sein und sich nicht vor gefährlichen Nachahmungstaten fürchten. Von einem Wahndelikt spricht man, wenn der Täter etwas Unverbotenes tut und die irrige Vorstellung hat, er strebe mit seinem Handeln einen strafbaren Erfolg an.

Anton ist unsterblich in die verheiratete Frau Schulz verliebt. Er meint, dass Ehebruch strafbar ist, trotzdem macht Anton Frau Schulz eine Liebeserklärung und strebt eine Beziehung mit ihr an. Dies ist schon deswegen ein strafloser Vorgang, weil keine Strafandrohung besteht, die sich auf dieses Verhalten anwenden ließe. Der strafrechtliche Bezug seines Handelns besteht alleine in der gestörten Vorstellungswelt von Anton.

Das unmittelbare Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung Wenn eine realistische Vorstellung von der Tat vorliegt, dann wird diese Vorstellung erst dann strafrechtlich bedeutsam, wenn der Täter auf der Grundlage seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt. Sie haben das unmittelbare Ansetzen eben schon als einen außerordentlich bedeutsamen Abgrenzungsbegriff des Strafrechts kennengelernt, weil er die Entscheidung zwischen straflosem Vorbereitungsstadium und strafbarem Versuchsbeginn bestimmt.

Anton hat den Plan, Bert vor seinem Haus mit mehreren Schüssen aus einer Pistole zu töten. Er hat sich auf dem Schwarzmarkt eine Pistole gekauft und fährt frühmorgens zu Bert. Er parkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wenn Bert aus der Tür tritt, will Anton schießen. Wann beginnt das unmittelbare Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung? Schon mit dem Erwerb der Pistole? Ist das Warten im Auto vor Berts Haus noch Vorbereitung oder bereits unmittelbares Ansetzen? Ist das Herunterkurbeln des Autofensters noch Vorbereitung oder bereits unmittelbares Ansetzen? Ist das Anlegen der Waffe auf den aus der Tür tretenden Bert noch Vorbereitung oder bereits unmittelbares Ansetzen? Beginnt das unmittelbare Ansetzen vielleicht erst zu dem Zeitpunkt, als Anton seinen Finger am Abzug krümmt? Aus dem Wortlaut des § 22 StGB folgt – wie Sie schon wissen –, dass für den Beginn der Versuchsstrafbarkeit eine subjektivobjektive Grenze maßgeblich ist. Der Täter muss nach seiner Vorstellung von der Tat (subjektives Element) unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt haben (objektives Element). Das heißt, Sie müssen prüfen, wie sich der Tathergang nach der Vorstellung des Täters entwickeln sollte (subjektives Element) und wie die Handlungen im Hinblick auf das gefährdete Rechtsgut objektiv zu beurteilen sind. Die Rechtsprechung und herrschende Meinung klären diese Frage auf dem Boden der sogenannten Zwischenakttheorie. Danach ist zu fragen, ob es auf der Grundlage der Tätervorstellung keiner weiteren wesentlichen Zwischenschritte mehr bedurfte, um in die tatbestandsmäßige Handlung einzutreten. Der BGH führt dazu aus (BGHSt 28, 162): »Der Versuch einer strafbaren Handlung liegt gemäß § 22 StGB dann vor, wenn der Täter nach seiner Vorstellung von

der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt. Dies ist nach in Rechtsprechung und Lehre übereinstimmender Ansicht nicht erst der Fall, wenn der Täter ein Tatbestandsmerkmal verwirklicht, sondern schon dann, wenn er Handlungen vornimmt, die nach seinem Tatplan der Erfüllung eines Tatbestandsmerkmals vorgelagert sind und in die Tatbestandshandlung unmittelbar einmünden. Das Versuchsstadium erstreckt sich dementsprechend auf Handlungen, die im ungestörten Fortgang unmittelbar zur Tatbestandserfüllung führen sollen oder die im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit ihr stehen. Dies ist dann der Fall, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum ›jetzt geht es los‹ überschreitet und objektiv zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung ansetzt, sodass sein Tun ohne Zwischenakte in die Tatbestandserfüllung übergeht.« Die Versuchsstrafbarkeit ist also erreicht, wenn der Täter dem inneren Impuls »Jetzt geht es los« folgt und das, was er nun tut, als den Beginn von Angriffshandlungen ansieht. Ob dies auch tatsächlich der Fall ist, muss objektiv an dem Maßstab geprüft werden, wie viele Schritte von da an noch zur Tatbestandserfüllung zurückzulegen sind. Teile der Lehre fordern weitergehend die Prüfung, ob von diesen Handlungen bereits eine konkrete Gefahr für die tatbestandlich geschützten Rechtsgüter ausgeht (Gefährdungstheorie). Sie kennen ja jetzt schon von vielen Fragen des Strafrechts das Phänomen, dass sich Rechtsprechung und Lehre annähern und letztlich eine Vereinigungsformel entsteht. Dies gilt auch für das Verhältnis von Zwischenakttheorie und Gefährdungstheorie. Dies können Sie an dem folgenden Fall sehen, in dem das Gericht in erster Instanz wegen versuchten Einbruchdiebstahls verurteilt hatte und der BGH (BGH StV 1989, 525) zu einem anderen Ergebnis gekommen ist:

»Nach diesen Grundsätzen begeht der zu einem Einbruch entschlossene Täter nicht schon dadurch einen versuchten Diebstahl, dass er mit dem zum Abtransport des Diebesgutes bestimmten Kraftfahrzeug, in welchem sich auch das Einbruchswerkzeug befindet, zum Tatort fährt und das Fahrzeug in der unmittelbaren Nähe des ausersehenen Objekts abstellt. [Auch] das Bereitlegen des aus der ›fahrbaren Werkstatt‹ herausgesuchten Bolzenschneiders kann noch nicht die Strafbarkeit wegen Versuchs begründen, weil mit der Benutzung dieses Werkzeugs nicht sofort begonnen werden sollte. Die Schwelle zum ›jetzt geht es los‹ wäre allenfalls überschritten gewesen, wenn sich der Beschwerdeführer und der Mitangeklagte H. sogleich mit dem Bolzenschneider von dem VW-Bus entfernt hätten, um geradewegs auf das Tankstellengebäude zuzugehen und an einer geeigneten Stelle mit dem Aufbrechen zu beginnen. So war es hier aber gerade nicht. Vielmehr legten der Beschwerdeführer und H. den Bolzenschneider schon einmal auf den Boden neben dem Fahrzeug zurecht. Alsdann rauchte jeder von ihnen neben dem VW-Bus eine Zigarette, weil sie sich vor einer Störung hinter dem Gebäude absichern wollten. Diese Maßnahme war nach ihrem Tatplan notwendig, um den richtigen Augenblick für die Ausführung der Tat bestimmen zu können. Sie war der eigentlichen Ausführungshandlung als Zwischenschritt vorgelagert; er diente den Angeklagten dazu, sich zunächst darüber schlüssig zu werden, ob sie sogleich, erst nach einer gewissen Zeit oder – bei unvertretbarem Risiko – überhaupt nicht an diesem Abend in die Tankstelle einbrechen sollten. Mit ihren Vorbereitungshandlungen haben die Angeklagten mithin nach ihrer Vorstellung noch nicht unmittelbar zur Tatausführung angesetzt, sondern ihrem Plan entsprechend zunächst innegehalten. Ihre beschriebene Taktik setzten sie nach dem Auftauchen des Zeugen F. fort, indem sie um die Tankstelle herumgingen und sich schließlich zurückzogen, ›um nach einer gewissen

Zeit, wenn die Luft wieder rein sein würde, den Einbruch in die Tankstelle doch noch durchführen zu können‹. Die weitere Entwicklung durchkreuzte dieses Vorhaben.«

»Spulen« Sie nicht alle Probleme zur Abgrenzung von Vorbereitung und unmittelbarem Ansetzen in jedem Versuchsfall ab. Wenn der Täter nach jeder denkbaren Sicht auf das Problem die Vorbereitungsphase noch nicht verlassen oder aber die Versuchsphase sicher erreicht hat, ist es überflüssig, diese Abgrenzung breit zu erörtern. Mit der Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals der vorgestellten Tat setzt der Täter in jedem Fall unmittelbar zur Tat an. Wenn der zu einem Raub entschlossene Anton bereits auf sein Opfer Bert einschlägt, um ihm den Geldkoffer wegzunehmen, dann handelt es sich ohne jede Frage um einen versuchten Raub.

Besondere Konstellationen des Versuchs Es gibt zwei besondere Typen von Straftatbeständen, bei denen die Prüfung der Versuchsstrafbarkeit von der üblichen Herangehensweise abweicht: Versuch eines Regelbeispiels: Es geht um Tatbestände, bei denen im Gesetz für schwere Fälle Regelbeispiele benannt werden. Versuch eines erfolgsqualifizierten Delikts: Tatbestände, bei denen durch die Verwirklichung des Grunddelikts eine besondere Folge herbeigeführt wird. Für den ersten Typ ist der besonders schwere Fall des Diebstahls (§ 243 StGB) praktisch bedeutsam. Danach liegt ein besonders schwerer Fall des Diebstahls

»in der Regel vor, wenn der Täter 1. zur Ausführung der Tat in ein Gebäude, einen Dienstoder Geschäftsraum oder in einen anderen umschlossenen Raum einbricht, einsteigt, mit einem falschen Schlüssel oder einem anderen nicht zur ordnungsmäßigen Öffnung bestimmten Werkzeug eindringt oder sich in dem Raum verborgen hält«. Hier geht es zentral um die Frage, ob der Versuch des Einbrechens bereits zu einer Strafbarkeit wegen versuchten schweren Diebstahls führt. Der zweite Typ lässt sich gut am Beispiel der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) erklären. Danach tritt die Strafbarkeit ein, wenn der Täter »durch die Körperverletzung den Tod der verletzten Person« verursacht. Hier geht es zentral um die Frage, ob dies auch für Fälle gilt, in denen der Tod des Opfers bereits durch eine versuchte Körperverletzung eintritt. Schließlich möchte ich mit Ihnen noch den Versuch des Unterlassens besprechen. Wenn es in § 22 StGB heißt, dass der Täter zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzen muss, dann ist das in der Formulierung auf eine Verwirklichung durch Tun zugeschnitten. Es kann aber auch sein, dass der Täter die Vorstellung hat, einen Tatbestand durch Unterlassen zu verwirklichen – Paul will seine Frau ertrinken lassen und steht untätig am Ufer – und es sich dann doch anders überlegt – nach fünf Minuten springt Paul in den See und rettet seine Frau –; die Frage lautet dann, ab welchem Zeitpunkt das Untätigbleiben als strafbarer Versuch zu bewerten ist.

Versuch eines Regelbeispiels Blättern Sie am besten an dieser Stelle noch einmal zu Kapitel 2 zurück, um die folgenden Argumente gut verstehen zu können.

Den Versuch eines Regelbeispiels kann es nach einer weitverbreiteten Meinung in der Lehre schon begrifflich gar nicht geben. Diese Meinung orientiert sich sehr eng an dem Wortlaut des Gesetzes. Wenn das Gesetz in § 243 StGB »in der Regel« formuliert, dann bedeutet dies, dass es sich bei den anschließenden Beschreibungen von Situationen des schweren Diebstahls nicht um Tatbestände, sondern um Beispiele dafür handelt, wann die höhere Strafe für einen schweren Diebstahl in Betracht kommt. Weil Regelbeispiele eben keine Straftatbestände bilden, sondern Strafzumessungsregeln sind, sei die Regelung des § 22 StGB nicht anwendbar. Der Gesetzeswortlaut des § 22 StGB verlangt nämlich, dass zur Verwirklichung eines Straftatbestandes unmittelbar angesetzt wird. Würde man diese Regelung auf Regelbeispiele anwenden, dann liegt nach dieser Meinung ein Verstoß gegen das Analogieverbot vor. Der BGH und ein anderes Meinungslager in der Lehre sind dagegen viel unbekümmerter und gehen selbstverständlich davon aus, dass es Fälle eines versuchten schweren Diebstahls geben kann, wenn ein Täter nach seiner Vorstellung von der Tat unmittelbar zur Verwirklichung eines Regelbeispiels ansetzt. In der Entscheidung BGHSt 33, 370 geht es um folgenden »Einbrecherfall«: »Der Angeklagte und ein Mittäter wollten in der Tatnacht in eine Gaststätte einbrechen, um mitnehmenswerte Gegenstände zu entwenden. Während der Angeklagte ›Schmiere‹ stand, versuchte der Mittäter, an einem aus mehreren kleineren Butzenfenstern bestehenden Seitenfenster der Gaststätte mit Hilfe eines Teppichmessers und eines Schraubenziehers die Bleieinfassung aufzustemmen. Der Tatplan war darauf gerichtet, mehrere Butzenscheiben aus ihrer Umfassung herauszunehmen und durch die so geschaffene Öffnung in die Gaststätte einzudringen. Der Mittäter hatte die Bleiumbördelung erst von

einer noch im Fenster sitzenden Scheibe gelöst, als die Polizei erschien und dadurch die Fortführung der Tat unterband.« Die Tat ist im Zeitpunkt des Zugriffs der Polizei – sowohl was das Einbrechen als auch was die Mitnahme von Gegenständen aus der Gaststätte anbelangt – von einem Erfolg deutlich entfernt. Gleichwohl hält es der BGH für berechtigt, in solchen Konstellationen wegen eines versuchten Diebstahls in einem besonders schweren Fall zu verurteilen: »Es liegt nahe, die Regelbeispiele der besonders schweren Diebstahlsfälle, insbesondere das Einbrechen nach § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB, bei der Bestimmung des für den strafbaren Deliktsversuch geltenden Strafrahmens im Ergebnis wie ein Tatbestandsmerkmal zu behandeln. Denn sie sind jedenfalls tatbestandsähnlich, weil sie einen gegenüber dem Tatbestand erhöhten Unrechts- und Schuldgehalt typisieren. Der Bundesgerichtshof hat demgemäß schon wiederholt […] hervorgehoben, dass die Regelbeispiele für besonders schwere Fälle sich im Wesen nicht tiefgreifend von selbstständigen Qualifikationstatbeständen unterschieden und die Wahl des Gesetzgebers für die eine oder andere Ausgestaltung einer Vorschrift mehr eine Frage der formalen Gesetzestechnik sei.« Die Anwendung dieses Leitsatzes auf unseren Fall bedeutet: Die beiden Täter haben nach ihrer Vorstellung von der Tat »erst das Fenster aufstemmen – dann einsteigen – dann die Sachen mitnehmen« zu der Verwirklichung eines Einbruchdiebstahls (§ 243 StGB) unmittelbar angesetzt und sollten deshalb wegen Versuchs dieser Tat bestraft werden.

Erfolgsqualifizierter Versuch

Unter dem Stichwort »erfolgsqualifizierter Versuch« werden eine eher theoretische und eine praktische Konstellation behandelt. Erfolgsqualifizierte Delikte – wie etwa die Körperverletzung mit Todesfolge – sind dadurch gekennzeichnet, dass das Grunddelikt (Körperverletzung) durch eine hierdurch verursachte schwere Folge (den Tod des Opfers) qualifiziert wird. Gemäß § 18 StGB muss dabei die schwere Folge wenigstens fahrlässig verursacht worden sein. Die Formulierung »wenigstens fahrlässig« ist so zu lesen, dass auch ein »Mehr«, also eine vorsätzliche Verursachung der Folge in Betracht kommt. Daraus wird konstruiert, dass es auch eine versuchte Erfolgsqualifikation geben könnte. Dies wäre der Fall, wenn der Täter das Grunddelikt der Körperverletzung verwirklicht und dabei zugleich die Vorstellung hat, es könnte auch die schwere Folge des Todes seines Opfers eintreten. Solche Konstellationen sind rein akademisch, weil sie tatsächlich unter das schwerere Delikt des versuchten Totschlags (§ 212 StGB) beziehungsweise Mordes (§ 211 StGB) fallen. Wer einen anderen Menschen bis zur Bewusstlosigkeit würgt und dabei die Vorstellung hat, dies könnte in der Konsequenz zum Tod des Opfers führen, ist niemand, dem im Rahmen seiner Handlungen plötzlich eine Todesfolge entgegentritt, sondern er hat den bedingten Vorsatz zu töten. Beim erfolgsqualifizierten Versuch geht es um die Konstellation, dass die schwere Folge schon beim Versuch des Grunddelikts eintritt. Ein gutes Beispiel hierfür lässt sich auf Grundlage des erfolgsqualifizierten Tatbestandes Raub mit Todesfolge (§ 251 StGB) bilden (BGHSt 42, 158).

Eine sechsköpfige Bande von Jugendlichen hatte sich für einen Einbruch unter anderem mit einer geladenen 9-mmPistole bewaffnet. Diese Waffe sollte nach der gemeinsamen Vorstellung aller sechs Angeklagten dazu dienen, möglichen Widerstand bei den beabsichtigten Wegnahmehandlungen zu brechen. Beim Auftreten von Widerstand sollte in den Boden oder in die Luft geschossen werden. Im Verlauf des Einbruchs wurden die Jugendlichen von einem Wachmann gestört. Dabei löste sich aus der von einem der Jugendlichen geführten Pistole ein Schuss, der den Wachmann tötete. Das Gericht konnte nicht ausschließen, dass der Jugendliche »nicht bewusst und willentlich … geschossen hatte«. Nachdem die anderen Angeklagten bemerkt hatten, dass der Schütze »sehr erschrocken war«, brachen sie die weitere Tatausführung ab und verließen den Tatort ohne Beute. Der Tatbestand des Raubes setzt voraus, dass unter dem Einsatz von Gewalt oder Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben eine Sache weggenommen wird. Die Vorstellung der Bande bestand genau darin, dass die Waffe bei möglichem Widerstand gegen die Wegnahme zum Einsatz kommen sollte. Indem sie mit dieser Vorstellung bewaffnet in das Objekt einbrachen, haben die Täter unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes angesetzt. Sie haben dann die Tat nach dem Zwischenfall aufgegeben, ohne etwas wegzunehmen. Das bedeutet, die Tat befand sich im Versuchsstadium, als der tödliche Schuss fiel. Auch wenn das Gericht der Einlassung des Schützen gefolgt ist, dass er keinen Vorsatz der Verwendung der Schusswaffe hatte, muss er für die Tatsache, dass der Wachmann tödlich getroffen wurde, strafrechtlich einstehen. Denn für den Tatbestand des Raubs mit Todesfolge (§ 251 StGB) reicht Fahrlässigkeit hinsichtlich der Todesfolge aus. Die erforderliche Sorgfaltswidrigkeit ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass der Schütze eine Waffe bei einer Straftat mit sich führte.

Versuch des Unterlassens Wenn Sie noch einmal an das Kapitel über strafbares Unterlassen (Kapitel 8) zurückdenken, dann geht es bei der strafrechtlichen Haftung für Unterlassen (§ 13 StGB) im Kern darum, dass ein Garant für das Wohl und Wehe eines Menschen seiner Pflicht zur Erfolgsabwendung nicht nachkommt und dadurch ein Straftatbestand verwirklicht wird. Simone ist der Pflege Ihrer dementen 80-jährigen Mutter nicht mehr gewachsen. Sie nimmt ihre Mutter schließlich nur noch als Last wahr, die sie loswerden will. Um die Mutter verdursten zu lassen, gibt Simone ihr nichts mehr zu trinken. Sie geht nach ihrer (zutreffenden) Vorstellung davon aus, dass der Tod nach circa 72 Stunden eintritt. Sicher könnte das Leben gerettet werden, wenn spätestens nach 48 Stunden die Flüssigkeitszufuhr wieder aufgenommen wird. Die Frage lautet nun: Zu welchem Zeitpunkt beginnt das unmittelbare Ansetzen zur Tötung der Mutter durch unterlassene Flüssigkeitszufuhr? Hierzu wird eine erstaunliche Bandbreite von Meinungen vertreten: Verstreichenlassen der ersten Rettungsmöglichkeit: Sehr weitgehend geht diese Meinung davon aus, dass schon zu diesem Zeitpunkt die Zone eines strafbaren Versuchs erreicht ist. Zu diesem Zeitpunkt wird aber häufig noch gar keine konkrete Gefahr für den betroffenen Menschen bestehen. Verstreichenlassen der erfolgversprechendsten Rettungsmöglichkeit: Dieses Kriterium einer anderen Meinung macht wenig Unterschied. Häufig wird nämlich für Rettungshandlungen der Satz »Je früher, desto besser« gelten.

Verstreichenlassen der letzten Rettungsmöglichkeit: Diese Meinung schlägt in das andere Extrem um. Hier stellt sich die Frage, wo eigentlich noch ein Zeitkorridor für den Versuch liegen soll. Als herrschende Meinung und in der Rechtsprechung hat sich folgende Bestimmung des Zeitpunkts durchgesetzt: Ausgehend von der Tätervorstellung ist zu fragen, ob das geschützte Rechtsgut unmittelbar in Gefahr gerät. Dabei kommt es nach der Zwischenaktstheorie darauf an, ob die Entwicklung des Geschehens geeignet ist, bei ungestörtem Verlauf ohne wesentliche Zwischenschritte zum Erfolg zu führen. In unserem Fall beginnt der Versuch der Tötung der Mutter ungefähr 46 Stunden nach der Beendigung der Flüssigkeitszufuhr, denn zu diesem Zeitpunkt beginnt das Leben der Mutter unmittelbar in Gefahr zu geraten. Wenn jetzt nicht wieder die Flüssigkeitszufuhr aufgenommen wird, dann wird das Geschehen unweigerlich auf das Verdursten hinauslaufen.

Versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen Die versuchte Beihilfe ist ebenso wie die versuchte Anstiftung straflos. Ausnahmsweise nach § 30 I StGB strafbar ist die versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen (Variante 1) beziehungsweise die versuchte Anstiftung zur Anstiftung zu einem Verbrechen (= Kettenanstiftung, Variante 2). Dies bedeutet, dass sich der Täter eine Person ausgewählt hat, um sie zur Begehung eines Verbrechens (zum Beispiel eines Totschlag, § 212 StGB) zu bestimmen. Entweder der Aufgeforderte lehnt ab oder ist ohnehin bereits zur Tat

entschlossen (omnimodo facturus). Trotzdem wird das Verhalten des Anstifters als strafwürdig angesehen, weil die Anstiftung zu einem Verbrechen eine hohe Gefährlichkeit für Rechtsgüter aufweist und von einer rechtsfeindlichen Einstellung zeugt. Dies können Sie an folgendem Fall aus der BGH-Rechtsprechung sehen (BGH StV 1998, 650): »Der Angeklagte verbrachte den Abend des 25. Juli 1996 u. a. mit den gleichaltrigen Zeugen K. und L., die auch Fußball-Hooligans waren, in seiner Wohnung. Man sprach gemeinsam dem Alkohol zu, der Angeklagte trank zehn Flaschen Bier. Nach 22:00 Uhr kam das Gespräch auf Ausländer. Der Angeklagte fragte die Zeugen, ob sie nicht ›Bock‹ hätten, gemeinsam mit ihm ein Ausländerwohnheim anzustecken. Die Zeugen lehnten diesen Vorschlag – den sie ernst nahmen – mit dem Bemerken, ›er sei wohl bekloppt‹, entsetzt ab und wiesen den Angeklagten darauf hin, dass in dem Wohnheim ja auch Kinder untergebracht seien. Der Angeklagte erwiderte, er fände es ›geil‹, wenn die kleinen ›Embryos abfackelten‹. Sie sollten jetzt doch gemeinsam zur Tankstelle gehen, um Benzin für MolotowCocktails zu holen, dann sich zu dem in der Nähe gelegenen Ausländerheim begeben, mit Fortuna-Schals vermummen, in das Wohnheim stürmen, weghauen, wer sich in den Weg stelle, und das Gebäude anzünden. Die Ausländer hätten gar kein Recht zu leben. Die ›Negerembryos‹ könnten ruhig mit brennen, da sie auch einmal groß würden und ihnen dann genau so ›auf den Sack gingen‹ wie die Großen jetzt. Die Zeugen K. und L. lehnten weiterhin strikt ab. Wie der Angeklagte, der infolge des Alkoholgenusses bereits Schwierigkeiten hatte zu sprechen, unternahmen sie nichts, um dessen Ansinnen in die Tat umzusetzen.«

Die versuchte Anstiftung wird nach den allgemeinen Regeln über die Strafbarkeit des Versuchs geprüft. Zunächst ist also zu prüfen, ob der Täter den Entschluss hatte, andere Personen zu der Begehung eines Verbrechens zu bestimmen. Dies war hier der Fall: Der Angeklagte wollte seine »Kameraden« dazu bestimmen, an einem Brandanschlag, bei dem Todesopfer erwünscht waren, mitzuwirken. Mit der Äußerung dieses Plans und der Aufforderung zur Mitwirkung hat der Angeklagte unmittelbar zur Anstiftung angesetzt. In § 31 I Nr. 1 StGB finden Sie eine Regelung über den Rücktritt vom Versuch der Beteiligung, die von dem Anstiftenden neben der Aufgabe der Tat verlangt, dass er »eine etwa bestehende Gefahr, dass der andere die Tat begeht, abwendet«.

Kapitel 25

Der Rücktritt vom Versuch IN DIESEM KAPITEL Der fehlgeschlagene Versuch Rücktritt vom unbeendeten Versuch Der Tatplanhorizont und der Rücktrittshorizont Rücktritt vom beendeten Versuch Rücktritt bei fehlender Verhinderungskausalität

In § 24 StGB ist der sogenannte Rücktritt vom Versuch geregelt. Diese Regelung wird als persönlicher Strafaufhebungsgrund bezeichnet. Unter bestimmten Voraussetzungen wird derjenige, der den Versuch einer Straftat aufgibt oder deren Vollendung verhindert, nicht bestraft. Als Begründung für diese Rechtswohltat wird angeführt, dass der Täter mit seinem Rücktritt den durch den Versuch erweckten rechtserschütternden Eindruck wieder zurücknimmt, sodass von Strafe abgesehen werden kann. Eine andere populäre Begründung für die Regelung des § 24 StGB ist, dass dem Täter eine goldene Brücke zurück in die Rechtschaffenheit gebaut werden soll, indem man ihm Straffreiheit für die Umkehr anbietet. Als Strafaufhebungsgrund ist der Rücktritt erst nach Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld und wegen seiner persönlichen Natur für jeden Beteiligten einzeln zu prüfen. Der Rücktritt vom Versuch enthält eine große Zahl von Problemen, die ich Ihnen in diesem Abschnitt vorstellen möchte.

Der fehlgeschlagene Versuch Von einem fehlgeschlagenen Versuch kann ein Täter nach der Rechtsprechung und ganz herrschenden Meinung nicht zurücktreten. Ein Versuch ist fehlgeschlagen, wenn der Täter aus seiner Sicht den Taterfolg mit den ihm am Tatort zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr oder jedenfalls nicht ohne einen Einschnitt im Geschehen erreichen kann. Dies bedeutet, dass der Täter seine Tat nicht deswegen aufgibt, weil er über die goldene Brücke zur Strafbefreiung gehen möchte (»Ich will nicht mehr«), sondern weil er die Tat in der aktuellen Situation nicht mehr verwirklichen kann (»Ich kann nicht mehr«). Fehlgeschlagene Versuche können sich ergeben: aus tatsächlicher Unmöglichkeit Anton schießt das ganze Magazin seiner Pistole auf Bert leer, um ihn zu töten. Alle Schüsse gehen daneben. Anton wirft wütend die Waffe weg und läuft davon. aus mangelnder Identität des angetroffenen mit dem vorgesehenen Tatobjekt Anton schleicht sich im Dunkeln von hinten an eine Person an, die er für Bert hält, und beginnt, sie zu würgen. Er erkennt im letzten Moment, dass es sich um Chris handelt und läuft davon. aus einem hinter den Erwartungen des Täters zurückbleibenden Tatobjekt Anton bricht in die Wohnung von Bert ein, um eine dort vermutete wertvolle chinesische Vase zu entwenden, stellt aber dann fest, dass es sich nur um eine billige Imitation handelt.

Dass es vom fehlgeschlagenen Versuch keinen Rücktritt geben kann, ergibt sich klar aus dem Gesetzeswortlaut des § 24 StGB. Wenn ein Täter seine Vorstellung von der Tat aus den genannten Gründen objektiv nicht vollenden kann, dann ist es logisch nicht möglich, sein Verhalten als eine Aufgabe der Tat oder die Verhinderung ihrer Vollendung zu beschreiben. Bitte achten Sie genau auf diese Abgrenzung. Sehr häufig wird in Klausuren das gesamte Prüfprogramm für den Rücktritt vom Versuch abgespult, obwohl klar ist, dass der Täter die Tat aufgegeben hat, weil er sie nicht mehr vollenden konnte.

Der Rücktritt vom unbeendeten Versuch Die Regelung über den strafbefreienden Versuch in § 24 I StGB enthält zwei Alternativen: 1. unbeendeter Versuch: wenn der Täter den Erfolgseintritt noch nicht für möglich hält Bei einem unbeendeten Versuch kann der Täter allein durch das Aufgeben der Tat zurücktreten, das heißt, seine persönliche Strafaufhebung ergibt sich alleine aus dem Nichtweiterhandeln. Das Aufgeben der Tat in diesem Sinne kann freilich nur so lange genügen, wie der Täter den Erfolgseintritt aufgrund seiner bisherigen Handlungen nicht für möglich hält. 2. beendeter Versuch: wenn der Täter den Erfolgseintritt schon für möglich hält Hält der Täter den Erfolgseintritt dagegen infolge seiner bisherigen Handlungen schon für möglich, liegt ein beendeter

Versuch vor. Für den Rücktritt des Täters verlangt das Gesetz Aktivitäten zur Verhinderung des Erfolgseintritts. Für die Beurteilung, ob ein beendeter oder unbeendeter Versuch vorliegt, ist nach mittlerweile herrschender Meinung und Rechtsprechung des BGH der Zeitpunkt nach der letzten Ausführungshandlung maßgeblich. Dieser Zeitpunkt wird Rücktrittshorizont genannt und ist erheblich täterfreundlicher als die früher herrschende Meinung und Rechtsprechung, die von dem sogenannten Tatplanhorizont ausging und die Tatverläufe nach den Vorstellungen des Täters bei Tatbeginn beurteilte. Dies lässt sich am besten durch einen Fall illustrieren (nach BGHSt 35, 90): Andreas hatte den Entschluss gefasst, Manfred in seine Wohnung zu locken und ihn dort durch einen Stich mit einem Messer von hinten zu töten. In Ausführung seines Planes stieß er in seiner Wohnung dem völlig arglosen Manfred ein Messer mit langer spitzer Klinge von hinten ohne jede Vorwarnung kräftig in den linken hinteren Nacken. Die Spitze des Messers drang 7 cm tief in den Hals von Manfred ein, ohne jedoch lebenswichtige Gefäße zu verletzen. Nach dem Stich ließ Andreas das Messer sofort los, sodass es im Hals von Manfred stecken blieb. Manfred, der völlig überrascht war und glaubte, Andreas habe ihm einen Schlag in den Nacken gegeben, drehte sich um und fragte Andreas, was mit ihm denn los sei. Kurz danach bemerkte er das noch in seinem Hals steckende Messer, zog es augenblicklich heraus und warf es zu Boden. Andreas, der erkennen musste, dass Manfred nicht, wie erhofft, tödlich getroffen zusammenbrach, sondern offenbar ohne erhebliche körperliche Beeinträchtigung vor ihm stand, gab auf der Stelle seinen Tatvorsatz auf, und war augenblicklich bestrebt, die Sache, so gut es ging, zu seinem

Vorteil ausgehen zu lassen. Er redete beschwichtigend auf Manfred ein und schlug ihm vor, das Erscheinen eines Arztes oder Krankenwagens hier abzuwarten. Kurz danach verließ Andreas fluchtartig die Wohnung, um sich zu verbergen, weil er wusste, dass er nun sehr bald mit dem Erscheinen der Polizei zu rechnen haben würde. Nach der Lehre vom Rücktrittshorizont liegt hier ein unbeendeter Versuch vor, da Andreas nach seiner Ausführungshandlung noch die Möglichkeit zum Weiterhandeln offenstand. Er hätte bloß das zu Boden geworfene Messer wieder aufnehmen und erneut zustechen müssen. Lesen Sie einmal die Beurteilung durch den BGH: »Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt es für die Abgrenzung des unbeendeten vom beendeten Versuch auf die Vorstellung des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung, also auf den ›Rücktrittshorizont‹ an. Danach ist der Versuch unbeendet, wenn der Täter zu diesem Zeitpunkt glaubt, der Erfolg werde nicht eintreten, und er von weiteren Handlungen absieht, die noch zum Erfolg führen könnten. Hier hatte der Angeklagte erkannt, dass sein Opfer ohne erhebliche körperliche Beeinträchtigung vor ihm stand und auf der Stelle seinen Tatvorsatz aufgegeben. Das spricht für das Vorliegen eines unbeendeten Versuches.« Und wie wäre der Fall nach der alten Rechtsprechung des BGH zu beurteilen gewesen? Lesen Sie, was der BGH hierzu schreibt: »Fraglich könnte allerdings sein, ob dann etwas anderes gelten muss, wenn der Angeklagte nach seinem Tatplan Manfred mit (nur) einem Stich töten wollte. Nach der früheren Rechtsprechung sollte es allein von den

Vorstellungen des Täters bei Tatbeginn abhängen, ob der Versuch als unbeendigt oder beendigt anzusehen sei. So ist ein beendeter Versuch bejaht worden, wenn der Täter von vornherein vorgehabt hatte, das Opfer dadurch zu töten, dass er ihm lediglich einen Messerstich versetzte, oder er nur einen Schuss abgeben wollte, um den Tod des Opfers herbeizuführen. Der Senat [ist in mehreren neueren Entscheidungen davon] ausgegangen, dass ein Versuch nicht schon dann beendet ist, wenn der Täter die von vornherein geplante Tat ausführt. [Vielmehr ist] auf die Vorstellungen des Täters nach der letzten Ausführungshandlung abzustellen … An dieser Rechtsprechung, die einen Versuch erst dann als beendet ansieht, wenn der Täter unabhängig von seinem ursprünglichen Tatplan nach der letzten Ausführungshandlung die tatsächlichen Umstände, die den Erfolgseintritt nahelegen, erkennt oder wenn er den Erfolgseintritt in Verkennung der tatsächlichen Ungeeignetheit der Handlung für möglich hält, ist festzuhalten.« Nach der bis heute stabilen Rechtsprechung des BGH zum Rücktrittshorizont hat Manfred also durch sein bloßes Aufgeben der Tat den Anforderungen an einen Rücktritt genügt. Nach der alten Lehre vom Tatplanhorizont wäre hier von einem fehlgeschlagenen Versuch auszugehen gewesen und überhaupt keine Rücktrittsmöglichkeit eröffnet gewesen. Wer den Tatplan hat, einen Menschen mit einem Stich zu töten und bei der Ausführung scheitert, hört auf, weil sich sein Plan nicht verwirklichen lässt. Der BGH hat die Lehre vom Rücktrittshorizont mittlerweile auch auf den sogenannten korrigierten Rücktrittshorizont ausgeweitet. Von einem unbeendeten Versuch wird sogar in der Konstellation ausgegangen, wenn der Täter nach seiner letzten Ausführungshandlung zunächst irrig annimmt, er habe alles für

den Erfolg Notwendige getan, diese Vorstellung aber sofort danach korrigiert und dann nicht weiterhandelt. Ein wichtiger Fall hierzu ist BGHSt 36, 224: Um Günther zu töten, stach Andreas mit einem Messer heftig auf ihn ein, wobei die Stiche überwiegend gegen dessen linke Oberkörperseite geführt wurden und dort auch Verletzungen hervorriefen. Schließlich ließ Andreas von Günter ab, wobei er äußerte: »Jetzt bist du erledigt.« Er war der Meinung, er habe nun alles Erforderliche getan, um Günter zu töten. Günther erwiderte jedoch: »Ich lebe noch, ich rufe die Polizei.« Günther wandte sich ab und lief davon. Andreas steckte das Messer ein und folgte Günther nicht. Der BGH geht hier nach dem Konzept des korrigierten Rücktrittshorizonts von einem unbeendeten Versuch aus und hat das bloße Nichtweiterhandeln von Andreas nach § 24 I 1 1. Alternative StGB für den Rücktritt ausreichen lassen. Studierende in Anfängersemestern sind bei diesen Fällen zum Rücktritt vom Versuch einer Tötung immer entsetzt, weil sie denken, dass der strafaufhebende Rücktritt meint, dass die Täter ganz ohne Strafe davonkommen. Das ist natürlich nicht der Fall: In jedem versuchten Tötungsdelikt steckt die Körperverletzung, die zum Tod führen soll. Die Messerstiche als gefährliche Körperverletzung (§ 224 StGB) sind vollendete Taten und werden bestraft. Verlangt wird vom Täter in den Fällen des unbeendeten Versuchs nicht mehr als das Aufgeben der weiteren Tatausführung, das jedoch von einer selbstbestimmten Motivation getragen und freiwillig erfolgen muss.

Doch was ist ein freiwilliges Aufgeben? Das sehen Sie sehr schön an dem, was der Täter sagen würde: freiwilliger Rücktritt: »Ich will nicht zum Ziel kommen, selbst wenn ich es könnte.« unfreiwilliger Rücktritt: »Ich kann nicht zum Ziel kommen, selbst wenn ich es wollte.«

Freiwillig ist also ein Rücktritt immer dann, wenn der zurücktretende Täter Herr seiner Entschlüsse war und keine Fremdbestimmung in seiner Rücktrittsmotivation erkennbar ist. Die ethische Qualität des Rücktrittsmotivs ist dabei ohne Bedeutung. So hat der BGH (BGHSt 35, 184) einen freiwilligen Rücktritt vom Versuch selbst dann angenommen, wenn der Täter den Versuch der Tötung einer Person aufgibt, um sich der von ihm wichtiger genommenen Tötung einer anderen Person zu widmen. Hiergegen ist in der Lehre zu Recht Widerspruch erhoben worden. Wenn für den Rücktritt eine derartige kriminelle Güterabwägung anerkannt werde, dann sei das nicht mit dem Kerngedanken des Rücktritts vereinbar, eine goldene Brücke zurück in die Rechtschaffenheit zu bauen.

Der Rücktritt vom beendeten Versuch Ist der Versuch beendet, hält der Täter also nach der letzten Ausführungshandlung alles für den Erfolgseintritt Notwendige für getan, so kommt ein Rücktritt nur noch in Betracht, wenn er die Vollendung verhindert. In dieser Phase des Geschehens genügt Nichtweiterhandeln oder bloß passives Verhalten auf keinen Fall

mehr. Der Täter muss hier etwas in Gang setzen, was die Nichtvollendung der Tat bewirkt. Hierfür muss der Täter nicht eigenhändig tätig werden, sondern darf sich zur Verhinderung des Taterfolges auch der Hilfe Dritter (zum Beispiel durch Herbeirufen eines Arztes) bedienen. Grenzwertig ist der folgende Fall (BGH NJW 1986, 1001): Der Angeklagte stieß seinem Vater ein etwa zehn Zentimeter langes Küchenmesser in die linke Brustseite. Er war sich bewusst, dass ein solcher Stich in die Herz- und Lungengegend tödlich sein konnte. Solche möglichen Folgen waren ihm gleichgültig. Nach der Tat reinigte er das Messer, um Spuren zu beseitigen, und fegte die Glasscherben der zuvor bei der Auseinandersetzung mit seinem Vater zerstörten Türfüllung zusammen. Das schwer verletzte Opfer bedrängte er, die Polizei aus dem Spiel zu lassen und das Ganze als Unglücksfall darzustellen. Als dieses um die Benachrichtigung eines Krankenwagens bat, blätterte er einige Zeit im Telefonbuch, erklärte dann, er könne die Nummer nicht finden, und reichte ihm das Telefon. Das Opfer wählte die Nummer 110, sprach von einem Unglücksfall und bat um ärztliche Hilfe, die aufgrund des Anrufs – erfolgreich – geleistet wurde. Der BGH hat das Herüberreichen des Telefons als Verhinderung der Vollendung und damit für den Rücktritt genügen lassen. Dies ist in der Literatur zum Teil scharf kritisiert worden, da in dem bloßen Herüberreichen eines Telefons kein Rettungsbemühen zu erkennen ist. Diese Auffassung verdient Zustimmung, da auch ansonsten die Voraussetzungen des § 24 I S. 1 2. Alt. StGB streng sind. So trägt der Täter, der vom beendeten Versuch zurücktritt, das Erfolgsabwendungsrisiko. Das heißt, ihn trifft die Strafbarkeit wegen vollendeter Tat, wenn seine Verhinderungsbemühungen aufgrund einer unglücklichen Wendung des Geschehens scheitern.

Anton sticht Bert mit Tötungsvorsatz ein Messer in die Brust. In einem Sinneswandel ruft er dann doch einen Notarzt herbei, dem bei der Grundversorgung ein Behandlungsfehler unterläuft, sodass Bert stirbt. Anton ist hier strafbar wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts, seine Rücktrittsbemühungen können ihm nicht zugutekommen. Auch beim Rücktritt vom beendeten Versuch wird verlangt, dass der Täter freiwillig handelt. Für die Freiwilligkeit gelten dieselben Voraussetzungen wie für den Rücktritt vom unbeendeten Versuch.

Rücktritt bei fehlender Verhinderungskausalität Die Regelung des § 24 I S. 2 StGB betrifft Fälle der Vollendungsverhinderung ohne Zutun des Täters. Dies kann einmal deswegen der Fall sein, weil es sich um einen untauglichen Versuch handelt, bei dem so oder so der Erfolg nicht eintreten kann. Weiterhin können Dritte den Bemühungen des Täters um Vollendungsverhinderung zuvorkommen. Schließlich sind Fälle denkbar, in denen sich nicht genau aufklären lässt, ob der ausgebliebene Erfolg auf einer Rücktrittshandlung des Täters oder auf anderen Ursachen beruht. Da andere Umstände als das Rücktrittsverhalten des Täters zur Nichtvollendung geführt haben beziehungsweise nicht aufgeklärt werden kann, wodurch die Nichtvollendung bewirkt worden ist, knüpft die Regelung des § 24 I S. 2 StGB an dem ernsthaften und freiwilligen Bemühen des Täters um die Verhinderung an. Der Täter muss seinen Rücktrittswillen durch Handlungen zum Ausdruck bringen, die als ausreichend erscheinen, um die Tatvollendung zu verhindern. Von einem ernsthaften Bemühen können Sie dann ausgehen, wenn der Täter alles aus seiner Sicht Erforderliche getan hat, um die Vollendung abzuwenden.

Ob sich der Täter freiwillig bemüht hat, ist nach den bereits dargelegten Grundsätzen zu beurteilen.

Besonderer Fall: Rücktritt bei mehraktigem Geschehen Zuweilen unternehmen Täter mehrere Anläufe, um zu einem Erfolg zu kommen. Man kann nun jeden dieser Anläufe als eigenständige Tat (Einzelaktstheorie) oder jeden Anlauf als Teil eines mehraktigen Gesamtgeschehens betrachten (Gesamtbetrachtungslehre). Diese unterschiedliche Sichtweise hat erhebliche Auswirkungen darauf, wie die Rücktrittsregelungen zur Anwendung kommen. Dies macht der folgende Fall sehr deutlich (BGH NStZ 1986, 224): »Der Angeklagte wollte seine Ehefrau aus Verzweiflung wegen der von ihr geäußerten Scheidungsabsicht töten. Er übergoss sie plötzlich mit einem Eimer voll Benzin und versuchte, sie anzuzünden. Bei der sich anschließenden Rangelei zwischen beiden, bei der er immer noch versuchte, Streichhölzer zu entzünden, gelang es ihr zu flüchten. Er folgte ihr in den Garten, riss sie zu Boden, umklammerte mit beiden Händen ihren Hals und würgte sie, sodass sie vorübergehend das Bewusstsein verlor. Später ließ er von seiner Ehefrau ab, ohne dass geklärt ist, warum er von seiner Tötungsabsicht Abstand nahm. Nach Auffassung des Landgerichts ist der Angeklagte nicht im Sinne des § 24 Abs. 1 StGB von der Ausführung der Tat zurückgetreten ›hinsichtlich des vorangegangenen fehlgeschlagenen Versuchs, seine Frau mittels Benzin umzubringen‹.« Nach der Einzelaktstheorie wären der Versuch der Tötung durch Anzünden und der Tötungsversuch durch Erwürgen zwei getrennte Akte eines Dramas:

1. Bei dem ersten Akt »Verbrennungsversuch« würde es sich um einen fehlgeschlagenen Versuch handeln, weil das Entzünden des Benzins nicht gelang, sodass der Angeklagte von diesem nicht mehr zurücktreten konnte. 2. Der zweite Akt »Würgen« wäre dagegen als ein rücktrittsfähiger Versuch anzusehen. Der Angeklagte wäre also strafbar wegen eines versuchten Tötungsdelikts durch Verbrennen. So hat das auch das Landgericht in erster Instanz entschieden. Hiergegen kann man einwenden, dass es sich doch um ein »Schauspiel« mit dem Titel »Ich töte meine Frau« handelt. Eine Betrachtung nach einzelnen Akten würde eine einheitliche Handlung unnatürlich aufspalten und die Rücktrittsmöglichkeiten unangemessen beschränken. Der BGH und herrschende Lehre werten in solchen Fällen tatsächlich sämtliche Teilakte als ein einheitliches Geschehen und stellen für die Frage, ob ein fehlgeschlagener oder ein rücktrittsfähiger Versuch vorliegt, auf die Situation nach der letzten Ausführungshandlung des Gesamtgeschehens ab – Gesamtbetrachtung und Lehre vom Rücktrittshorizont werden also miteinander verknüpft. Danach ist ein rücktrittsfähiger Versuch zu bejahen, wenn der Täter sein bisheriges Tun mit den bereits eingesetzten oder noch bereitstehenden Mitteln noch vollenden zu können meint. Dass der Angeklagte also nicht noch einmal versucht, seine Frau anzuzünden, und vom Würgen ablässt, ist gesamtbetrachtend als ein Rücktritt von dem einheitlichen Versuch, seine Frau zu töten, anzusehen.

Rücktritt vom Versuch bei mehreren Tatbeteiligten Für dieses Kapitel über den Rücktritt vom Versuch muss ich noch einmal auf meine Ausführungen zu Täterschaft und Teilnahme

(Kapitel 19) zurückkommen: Straftaten werden häufig nicht von Einzeltätern begangen, sondern es sind mehrere Personen daran beteiligt, die entweder als Mittäter, als Gehilfen oder als Anstifter anzusehen sind. Sind mehrere Personen an der Ausführung einer Tat beteiligt, so werden gruppendynamische Effekte wirksam, die für eine erhöhte Wahrscheinlichkeit der Tatausführung sprechen. Die Regelung des § 24 II StGB über den Rücktritt bei mehreren Tatbeteiligten lässt es deswegen niemals genügen, dass sich eine Person einfach durch Untätigbleiben aus dem Tatgeschehen »abseilt«. Immer wird bei dem Rücktritt gemäß § 24 II StGB von dem »Aussteiger« aus dem Tatgeschehen eine Aktivität zur Verhinderung der Tatvollendung gefordert. Am klarsten ist die Berechtigung einer persönlichen Strafaufhebung in der Konstellation des § 24 II S. 1 StGB. Hier wird die Tat nicht vollendet, weil der zurücktretende Tatbeteiligte freiwillig die Vollendung verhindert. Anders ausgedrückt: Der Tatbeteiligte verhindert gerade durch seine Aktivität, dass die Beiträge der anderen Beteiligten wirksam werden können, er hält also ein kriminelles Geschehen auf. Die zweite Alternative kennen Sie bereits vom Rücktritt des Alleintäters: In § 24 II S. 2 1. Alternative StGB beruht die Nichtvollendung der Tat nicht auf dem Verhalten des Zurücktretenden. Das ist der Fall des Rücktritts bei fehlender Verhinderungskausalität. Eine Strafaufhebung wegen Rücktritts kommt hier nur dann in Betracht, wenn sich das freiwillige und ernsthafte Bemühen des Tatbeteiligten, die Vollendung zu verhindern, in geeigneten Handlungen gezeigt hat. Schließlich enthält § 24 II S.2 2. Alternative StGB noch die Konstellation, dass eine Tat vollendet wird, obwohl sich der Tatbeteiligte freiwillig und ernsthaft bemüht hatte, die Vollendung zu verhindern. In diesen Fällen sind die Rücktrittsvoraussetzungen noch einmal verschärft. Ein Rücktritt wird gemäß § 24 II S. 2 2. Alternative StGB nur dann honoriert,

wenn die Tat unabhängig vom Tatbeitrag des Zurücktretenden vollendet worden ist. Unabhängig vom Tatbeitrag des Zurücktretenden ist die Tat aber nur dann vollendet, wenn der Tatbeitrag des ausgestiegenen Beteiligten in der weiteren Entwicklung der Tat neutralisiert worden ist, das heißt, die Kausalität des Beitrags für die Vollendung entfallen ist. Einen solchen Fall wird es kaum einmal geben.

Teil VII

Der Top-Ten-Teil



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IN DIESEM TEIL … In diesem letzten Teil möchte ich Ihnen zunächst zehn praktische Tipps für die Herangehensweise an Ihre erste Strafrechtsklausur geben. Sodann stelle ich Ihnen nochmals kurz zehn ganz wichtige inhaltliche Probleme des Strafrechts Allgemeiner Teil vor. Eines oder mehrere dieser Probleme werden garantiert in der Klausur vorkommen.

Kapitel 26

Zehn Tipps, wie Sie eine Strafrechtsklausur bewältigen IN DIESEM KAPITEL Wichtige Schritte vor der Niederschrift Ein paar Worte zum Zeitmanagement Eine exemplarische Falllösung

Schummeln Sie nicht Es ist zehn Uhr. Sie haben alle Kontrollen durchlaufen und sitzen auf Ihrem Platz. Zugelassen als Hilfsmittel ist ausschließlich das Gesetz. Auf dem Smartphone nach Schemata zu googeln, bringt nur Stress; und wenn Sie dabei von der Aufsicht erwischt werden, ist die Klausur für Sie zu Ende – Täuschungsversuch.

Lesen Sie den Sachverhalt sehr sorgfältig Nun werden die Sachverhalte ausgeteilt. Ein Sachverhalt ist eine Fallschilderung von meist nicht mehr als einer Seite Umfang, die am Ende nach der Strafbarkeit der beteiligten Personen fragt. Nachdem Sie den Sachverhalt erhalten haben, sollten Sie diesen sehr genau lesen und vor allen Dingen die Fallfrage beachten. Mehrfach zu lesen, ist kein Fehler. Es macht auch Sinn, Textpassagen zu markieren, die Sie wichtig finden.

Im Recht zählt jedes Wort und wenn Ihre Aufgabenstellung konzentriert erstellt worden ist, dann dürften keine Unklarheiten im Text bestehen. Tatsächlich ist es aus meiner langen Erfahrung in der Regel so, dass sehr gravierende Fehler in einer Falllösung nicht durch einen missverständlichen Sachverhalt, sondern durch einen missverstandenen Sachverhalt entstehen. Lesen Sie den Sachverhalt so oft, bis Sie davon überzeugt sind, dass Sie ihn vollends verstanden haben. Nur wenn im ganzen Saal Unruhe und ungläubige Gesichter festzustellen sind, kann es ausnahmsweise einmal so sein, dass sich in den Sachverhalt ein Fehler eingeschlichen hat. Dann sollten Sie die Aufsicht darauf ansprechen. So etwas passiert sehr selten, kommt aber schon einmal vor.

Verwenden Sie einen Schmierzettel Manche Menschen scheuen sich, mehr oder weniger chaotisch und in einer Art Geheimschrift alles zu notieren, was ihnen durch den Kopf schießt, wenn sie einen Fall lesen. Das ist ein Fehler. Machen Sie einen Schmierzettel mit allen Problemen, die Sie im Sachverhalt erkennen. Am besten beginnen Sie damit schon während der ersten Lektüre.

Erstellen Sie eine Lösungsskizze

Nach der dritten Lektüre des Sachverhalts ist der Zeitpunkt für eine geordnete Problemsichtung gekommen. Überlegen Sie genau, auf welcher Ebene des Straftatsystems die Probleme angesiedelt sind. Gliedern Sie die Arbeit komplett durch, indem Sie eine Lösungsskizze erstellen. Dabei sollten Sie sich klar werden, an welchen Punkten Sie ausführlich argumentieren müssen und welche Punkte nur »abzuhaken« sind.

Haben Sie die Zeit im Blick Wenn Sie nicht unter allzu großem Zeitdruck stehen, sollten Sie Ihre Lösungsskizze noch einen Moment sacken lassen. Dann können Sie auf der Grundlage Ihrer Lösungsskizze mit der Niederschrift beginnen. Eine häufige Frage betrifft das richtige Zeitmanagement. Das lässt sich nicht ohne den Hinweis auf einige Randbedingungen beantworten. Es gibt Studierende, die sich mit der Technik des Schreibens sehr quälen. Sie streichen immer wieder durch oder bemühen sich zeitraubend um eine besonders schöne Form ihrer Schrift und Darstellung. Manche haben auch Schreibblockaden in einer behandlungsbedürftigen Form. Allgemein kann man sagen, dass die sorgfältige Erstellung der Lösungsskizze der Schlüssel zu einer gelungenen Niederschrift ist. Korrektoren bemerken sofort, wenn Sie einfach so drauflosschreiben und keine richtige Struktur vorhanden ist. Mit einer Lösungsskizze wissen Sie schon, was Sie schreiben wollen und wo Sie Schwerpunkte setzen wollen. Sie haben eine Art To-do-Liste für Ihre Niederschrift. Anfängerklausuren im Strafrecht haben in aller Regel eine Bearbeitungszeit von zwei Stunden. Behalten Sie bei der

Anfertigung der Lösungsskizze immer die für die Niederschrift verbleibende Zeit im Auge. Es ist auch gut zu wissen, wie viel Zeit Sie für die Anfertigung einer (leserlichen!) Niederschrift benötigen. Dafür können Sie vielleicht auf Ihre Erfahrungen von Aufsätzen in der Schule zurückgreifen. Wenn Sie 30–45 Minuten Ihrer Bearbeitungszeit auf die Lösungsskizze verwenden, dann liegen Sie nach meiner Erfahrung mit Ihrem Zeitmanagement richtig. Es macht keinen Sinn, eine besonders schöne Lösungsskizze anzufertigen, da es kaum Prüferinnen oder Prüfer gibt, die bereit sind, bei misslungener Niederschrift die abgegebene Lösungsskizze zur Bewertung heranzuziehen.

Lassen Sie sich nach der Klausur nicht von PanikPanthern irritieren Lassen Sie sich jetzt nicht durch Schlaumeier und die herrschende Flurmeinung verrückt machen. Es gibt immer Leute, die ganz genau wissen, was das Kernproblem der Klausur war und was man unbedingt schreiben musste. Sie sollten auch nicht Ihrem »Bauchgefühl« folgen, dass Sie die Klausur bestimmt in den Sand gesetzt haben. Gerade am Anfang des Jurastudiums ist die Selbsteinschätzung unglaublich schwer und die Schlaumeier sind besonders angeberisch.

Einsen und Zweien sind die Seltenheit im Jurastudium Fakt ist, dass im Jurastudium eine besonders strenge Benotungspolitik praktiziert wird. Durchfallquoten von 40 Prozent und mehr sind an der Tagesordnung. Die Bemerkungen am Rand

und unter den Klausuren sind sachlich, aber nicht immer freundlich. Wenn Sie aus der Schule Benotungen mit »gut« oder »sehr gut« gewohnt sind, dann müssen Sie wissen, dass diese Noten im Jurastudium nur selten vergeben werden. Aber eines ist sicher: Die Lösung eines Strafrechtsfalls ist kein Puzzle mit 1.000 Teilen und kann mit gründlicher Vorbereitung von nahezu jedem Studierenden bewältigt werden. Wenn es Ihnen einfach nicht gelingen will, dann gehören Sie zu den Menschen, die andere Talente haben. Ziehen Sie daraus frühzeitig die Konsequenzen und quälen Sie sich nicht Semester für Semester durch das Studium.

Schreiben Sie im Gutachtenstil Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie schwer es mir am Anfang meines Studiums gefallen ist, im sogenannten Gutachtenstil zu schreiben. Von Ihnen wird erwartet, dass Sie sich einer bestimmten stilistischen Darstellungsweise bedienen, die anzeigen soll, dass Sie eine rechtliche Fragestellung ergebnisoffen prüfen. Sie nehmen im Strafrecht einen Fall zum Ausgang eines Gutachtens darüber, ob sich die beteiligten Personen durch ihr Verhalten strafbar gemacht haben. Dabei gehen Sie schrittweise vor und beginnen mit einer Hypothese, die Sie durch Ihr Gutachten überprüfen werden.

Schauen Sie sich das nun folgende kurze Fallbeispiel an Diese Methode lässt sich durch ein kurzes Fallbeispiel veranschaulichen:

Student Sebastian ist in seiner Strafrechtsklausur sehr nervös und fühlt sich durch seinen Banknachbarn Fred gestört. Fred belästigt Sebastian jedoch in keiner Weise. Circa 30 Minuten nach Klausurbeginn schlägt Sebastian plötzlich mit dem Ellbogen in das Gesicht von Fred. Freds Nase schmerzt erheblich und beginnt augenblicklich zu bluten. Schon nach kurzem Überlegen werden Sie annehmen, dass Sebastian eine Körperverletzung (§ 223 I StGB) begangen hat. Diese Annahme müssen Sie nun im Gutachtenstil am Gesetz prüfen. Sie schlagen die gesetzliche Regelung über Körperverletzung in § 223 StGB nach: Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Nun müssen Sie unter Bezug auf diese Regelung eine Ausgangshypothese für Ihr Gutachten bilden. Hierfür benutzen Sie bitte den Konjunktiv (= Es könnte so sein). Schreiben Sie dabei bitte nicht: »S könnte sich einer Körperverletzung gemäß § 223 I StGB strafbar gemacht haben, indem er eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt hat.« Diese Reproduktion des Gesetzestextes macht keinen Sinn. Sie wollen doch gerade im Gutachten erst überprüfen, ob die Handlung von Sebastian eine Körperverletzung an Fred darstellt.

Vermeiden Sie das Nachplappern des Gesetzestextes und formulieren Sie stattdessen einfach und fallbezogen: »Sebastian könnte sich einer Körperverletzung gemäß § 223 I StGB strafbar gemacht haben, indem er Fred mit dem Ellbogen so ins Gesicht geschlagen hat, dass dessen Nase erheblich schmerzte und blutete.« Jetzt beginnen Sie die Überprüfung, ob Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes der Körperverletzung im konkreten Fall einschlägig sind oder nicht. Diese Überprüfung vollzieht sich in vier Schritten. Dies möchte ich Ihnen am Merkmal »körperlich misshandelt« vorführen: »Dann müsste Sebastian Fred körperlich misshandelt haben« (Hypothese). »Als körperliche Misshandlung wird jede üble unangemessene Behandlung bezeichnet, die entweder das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt« (Definition). »Durch den Schlag mit dem Ellbogen ins Gesicht von Fred hat Sebastian bei Fred erhebliche Schmerzen und eine Blutung der Nase verursacht. Folglich wurde Fred erheblich in seinem körperlichen Wohlbefinden und seiner körperlichen Unversehrtheit beeinträchtigt« (Subsumtion). »Der Schlag von Sebastian in das Gesicht von Fred stellt somit eine körperliche Misshandlung dar und erfüllt damit den objektiven Tatbestand der Körperverletzung gemäß § 223 I StGB« (Ergebnis). Beachten Sie jedoch, dass der Gutachtenstil nur dann anzuwenden ist, wenn der Sachverhalt eine Information enthält, die eine solche genaue Prüfung erforderlich macht. Wenn – wie hier – im Sachverhalt ausdrücklich formuliert ist, dass Fred in keiner Weise Sebastian belästigt hat, wäre es grob falsch, wenn

Sie prüfen würden, ob Sebastian in Notwehr (§ 32 StGB) gehandelt hat. Sie können sich in diesem Fall auf eine schlichte Feststellung beschränken: »Rechtfertigungsgründe für das Verhalten von Sebastian sind nicht ersichtlich.«

Üben Sie die Lösung von Fällen mit »Strafrecht Fälle und Schemata für Dummies« Im Sommer 2017 ist in der für Dummies-Reihe ein Band mit Fällen und Lösungen sowie Schemata zu Strafrecht Allgemeiner Teil erschienen. Ich habe diesen Band mit meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Shirin Dirks erstellt. Wir haben die zentralen Probleme, mit denen Sie in der Strafrechtsklausur konfrontiert werden können, dort ausführlich behandelt.

Kapitel 27

Zehn wichtige Probleme aus dem Strafrecht Allgemeiner Teil IN DIESEM KAPITEL Strafrechtliche Probleme, die Ihnen immer mal wieder begegnen werden Tipps, wie Sie dann nicht in typische Fehlerfallen tappen

Wenn es auf die Auslegung des Gesetzes ankommt – die Wortlautgrenze Sie erinnern sich bestimmt an Kapitel 2: Keine Strafe ohne Gesetz (nulla poena sine lege). Ein Verhalten ist nur dann strafbar, wenn es der Beschreibung des Tatbestandes entspricht. Zuweilen werden Sie in Klausuren auf die Probe gestellt, ob Sie einen Tatbestand richtig auslegen und anwenden können. Ist das Wegschleppen eines Schneemanns ein Diebstahl (§ 242 StGB), das Anspucken eines Menschen eine Körperverletzung (§ 223 StGB) oder ein aufgedrängter Kuss im Karneval eine sexuelle Nötigung (§ 177 StGB)? In Kapitel 5 finden Sie die Leitlinien der Auslegung: Orientieren Sie sich genau am Wortlaut des Gesetzes (Wortlautgrenze). Sie können sich zuweilen an Definitionen eines Begriffs in anderen gesetzlichen Regelungen orientieren (systematische Auslegung). Es ist verboten, Analogien zu ziehen (= X entspricht zwar nicht

der tatbestandlichen Definition, ist aber genauso schlimm). Ihre Aufgabe besteht nicht darin, den Tatbestand möglichst weit auszudehnen, sondern dem Strafrecht Grenzen zu ziehen.

Wenn es auf den UrsachenWirkungs-Zusammenhang ankommt – Kausalität und objektive Zurechnung In den Kapiteln 6 und 7 bespreche ich eine wesentliche Funktion des objektiven Tatbestandes: Ein Verhalten kann einem Täter nur dann strafrechtlich zugerechnet werden, wenn die Folgen des Verhaltens sein Werk sind. Nach der Kausalitätsformel conditio sine qua non (= eine Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele) werden geradezu uferlos Bedingungen mit einbezogen. Wenn Sie einen Menschen bei heraufziehendem Gewitter hinausschicken und dieser Mensch vom Blitz getroffen wird, gibt es natürlich einen Zusammenhang zwischen Ihrem Verhalten und dieser Folge. Kein Mensch kann jedoch Naturkräfte gezielt einsetzen. Mit der Lehre von der objektiven Zurechnung sollen solche Fälle ausgeschlossen werden, bei denen eine Verknüpfung von Verhalten und Erfolg nicht gerecht erscheint. Die Grundformel der objektiven Zurechnung lautet demnach, dass dem Täter ein Erfolg zugerechnet werden kann, wenn er durch seine Handlung ein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen beziehungsweise erhöht hat (Überschreiten des erlaubten Risikos) und sich gerade dieses Risiko in einem tatbestandsmäßigen Erfolg realisiert hat (Risikozusammenhang).

Wann ein Täter die Tat mit Eventualvorsatz begeht Besonders bei Rohheitsdelikten sind Sie häufig mit dem Problem konfrontiert, dass ein Täter objektiv lebensgefährlich handelt, sich aber von den tödlichen Folgen distanziert. So tritt zum Beispiel ein Täter mehrfach mit dem Stiefel gegen den Kopf des auf dem Boden liegenden Opfers, das daran stirbt, und erklärt dann, das habe er aber nicht gewollt. Dies wirft die Frage auf, ob Sie gleichwohl von einer vorsätzlichen Tötung sprechen können. Das Problem wird unter der Überschrift Eventualvorsatz diskutiert und kommt sehr häufig in Anfängerklausuren vor. Die Frage nach den Kriterien für das Vorliegen eines Eventualvorsatzes zählt zu den schwierigsten und umstrittensten Fragen des Strafrechts. Die verschiedenen hierzu vertretenen Theorien stelle ich Ihnen in Kapitel 10 vor. Sie sollten diese Theorien kennen, kommen aber in der Regel auch gut bei der Lösung voran, wenn Sie die Billigungsformel der Rechtsprechung kennen. Eventualvorsatz liegt nach der Billigungstheorie dann vor, wenn ein Täter die als möglich angenommene Tatbestandsverwirklichung (Wissenselement) zustimmend beziehungsweise billigend in Kauf genommen hat (Willenselement).

Wann Unachtsamkeit zur Bestrafung wegen Fahrlässigkeit führt Es werden deutlich mehr Menschen durch die Unachtsamkeit ihrer Mitmenschen verletzt und getötet als durch vorsätzliche Angriffe auf Leib und Leben. Denken Sie etwa nur an die zahlreichen Opfer im Straßenverkehr. Jedoch führt nicht jede Unachtsamkeit eines Verkehrsteilnehmers zu strafrechtlichen

Folgen wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung. In Kapitel 11 erkläre ich Ihnen die allgemeinen Voraussetzungen: Für die Folgen eines »Unfalls« haftet der Verursacher strafrechtlich nur dann, wenn er Sorgfaltspflichten verletzt hat; wenn voraussehbar war, dass dies schlimme Folgen haben kann; wenn diese Folgen bei entsprechender ihm möglicher Sorgfalt vermeidbar gewesen wären. Einzelheiten hierzu aus den typischen Beispielfeldern Behandlungsfehler in der Medizin und Fehlverhalten im Straßenverkehr finden Sie in Kapitel 12.

Wann man berechtigt ist, sich gegen einen Angriff zu wehren Ein sehr häufiges Problem in Anfängerklausuren ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen sich ein Mensch gegen einen Angriff zur Wehr setzen darf und berechtigt ist, den Angreifer zu verletzen oder sogar zu töten. Die Grundregel hierfür finden Sie in § 32 StGB (Notwehr). Das Gesetz bezeichnet in § 32 Abs. 2 StGB die Notwehr als »erforderliche Verteidigung« gegen einen »gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff«. Ich behandele in Kapitel 14 diese Voraussetzungen ausführlich, weil in jedem der Begriffe eine Fülle von Problemen steckt: Wenn das Gesetz von einem gegenwärtigen Angriff spricht, stellt sich die Frage, wann ein Angriff beginnt und wann er endet. Das Wort erforderliche Verteidigung verweist darauf, dass es Verteidigungshandlungen geben kann, die außerhalb der Grenzen des Erforderlichen liegen. Diese Einschränkungen des Notwehrrechts müssen Sie kennen. Zudem müssen Sie wissen, wie das Problem zu behandeln ist, dass es in einer turbulenten Notwehrsituation zu allen möglichen Irrtümern kommen kann: So kann sich eine Person überhaupt irrtümlich angegriffen fühlen (Erlaubnistatbestandsirrtum) oder sich gegenüber einem tatsächlichen Angriff irrtümlich zu einer völlig überzogenen Reaktion berechtigt fühlen

(Erlaubnisgrenzirrtum). Alles Wichtige hierzu finden Sie in Kapitel 17.

Wann der Versuch einer Straftat beginnt Manche Straftaten werden auf der Stelle aus einem Impuls begangen, andere Straftaten dagegen durchlaufen mehrere Phasen von der Idee über die Vorbereitung und den Versuch bis hin zur Vollendung. Eine wichtige Frage ist, ab welcher Phase ein Täter für seine geplante Straftat bestraft werden kann. Die Idee zu einer Straftat ist nicht strafbar. Vorbereitungshandlungen sind in aller Regel straflos. Der Versuch einer Straftat ist dagegen häufig strafbar; für Verbrechen gilt dies stets. Eine wichtige Frage lautet, wann denn nun der Versuch beginnt. Das Gesetz gibt dazu in § 22 StGB eine Antwort: Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt. Was genauer darunter zu verstehen ist, variiert nach dem jeweiligen Tatbestand und es wird viel darüber diskutiert, wann denn genau von einem unmittelbaren Ansetzen gesprochen werden kann. Einzelheiten zu dieser Debatte finden Sie in Kapitel 24. Jedenfalls sollten Sie sich folgenden Leitsatz der Rechtsprechung merken: Das Versuchsstadium erstreckt sich auf Handlungen, die im ungestörten Fortgang unmittelbar zur Tatbestandserfüllung führen sollen oder die im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit ihr stehen. Dies ist dann der Fall, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum »Jetzt geht es los« überschreitet und objektiv zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung ansetzt, sodass sein Tun ohne Zwischenakte in die Tatbestandserfüllung übergeht.

Wann und wie man von dem Versuch einer Straftat zurücktreten kann Unter bestimmten Voraussetzungen wird derjenige, der den Versuch einer Straftat aufgibt oder deren Vollendung verhindert, nicht bestraft. Eine populäre Begründung für die Regelung des § 24 StGB ist, dass dem Täter eine goldene Brücke zurück in die Rechtschaffenheit gebaut werden soll, indem man ihm Straffreiheit für die Umkehr anbietet. Als Strafaufhebungsgrund ist der Rücktritt erst nach Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld und wegen seiner persönlichen Natur für jeden Beteiligten einzeln zu prüfen. Der Rücktritt vom Versuch enthält eine große Zahl von Problemen, die ich Ihnen in Kapitel 25 vorgestellt habe. Der Rücktritt vom Versuch ist in der ganzen Bandbreite der Probleme ein häufiges Klausurthema. Sie müssen auf jeden Fall die Unterscheidung von fehlgeschlagenem, unbeendetem und beendetem Versuch und die sich daraus ergebenden Folgen kennen. Sie müssen wissen, wie unterschiedlich der Rücktritt bei einem mehraktigen Geschehen beurteilt werden kann, je nachdem, ob man der Einzelaktstheorie oder der Gesamtbetrachtungslehre folgt. Und Sie müssen die Besonderheiten zum Rücktritt kennen, wenn mehrere Personen an einer Straftat beteiligt sind.

Wann man Täter und wann man Teilnehmer einer Straftat ist Wird eine Straftat unter der Mitwirkung von mehreren Personen begangen, dann ist es von großer Bedeutung, diesen Menschen genau die unterschiedlichen Rollen zuzuweisen, die das StGB für

Täter oder Beteiligte an einer Straftat kennt, vor allen Dingen aus dem Grund, weil sich die drohende Strafe danach bestimmt – so droht dem Gehilfen einer Straftat eine geringere Strafe als dem Täter. Bei der Rollenbestimmung konkurrieren zwei wesentliche Theorielager, die Sie unbedingt kennen müssen. Die subjektive Theorie möchte die Rolle danach bestimmen, wie die betreffende Person ihre Rolle im Geschehen sieht. Die Tatherrschaftslehre fragt nach der Struktur des Geschehens und ordnet Zentralfiguren die Rolle des Täters und Randfiguren die Rolle des Gehilfen zu. Diese Grundstruktur des Problems und weitere wichtige Facetten stelle ich Ihnen in Kapitel 19 vor.

Wann und wie man als mittelbarer Täter einen anderen Menschen zu seinem Werkzeug machen kann Der mittelbare Täter setzt einen anderen Menschen als sein »Werkzeug« ein, bedient sich »fremder Hände« zur Tatbegehung, »zieht die Fäden der Tat«, während er selbst im Hintergrund steht. Mit einem schönen Bild kann man sagen, dass der mittelbare Täter ein Marionettenspieler ist. Man kann einen anderen Menschen aus einer Reihe von Gründen und mit einer Reihe von Methoden in sein Werkzeug verwandeln. Die Lehre von der mittelbaren Täterschaft ist komplex und wird deswegen gerne geprüft. Da die entsprechenden Fallkonstellationen nicht nur intellektuell anspruchsvoll sind, sondern auch tragisch-komische Konstellationen betreffen, sollten Sie sich für die Prüfungsvorbereitung unbedingt noch einmal Kapitel 20 ansehen.

Wann man keine Schuld an einer Straftat hat Nach dem Grundsatz »Keine Strafe ohne Schuld« reagiert unsere Rechtskultur auf die Rechtsverletzung durch einen Menschen nur dann mit Strafe, wenn ihm sein tatbestandsmäßiges und rechtswidriges Verhalten vorwerfbar ist. Der Kern dieses Vorwurfs lautet: »Du hättest anders handeln können.« Dass einem Menschen dieser Vorwurf deswegen nicht gemacht werden kann, weil er wegen psychischer Defizite, Erkrankungen oder berauschender Substanzen nicht zurechnungsfähig war, kommt in der Praxis gelegentlich vor. In der Prüfung müssen Sie aber mit solchen Fällen nicht rechnen, weil es hierzu oft psychiatrischer Gutachten bedarf. Womit Sie rechnen müssen, sind Fälle, in denen sich der Täter in einer übermächtigen Lage der Bedrängnis befand und nach dem Motto »Hier stehe ich nun und kann nicht anders« gehandelt hat. Dies können Fälle des entschuldigenden Notstands (§ 35 StGB) und des übergesetzlichen Notstands sein. Weiterhin kann es sein, dass sich der Täter darauf beruft, dass er nicht wusste, dass er etwas Verbotenes tut (§ 17 StGB – Verbotsirrtum). Unter welchen Voraussetzungen eine Notstandslage oder ein Verbotsirrtum zu einer Entschuldigung des Täters führen, können Sie in Kapitel 18 nachlesen.

Stichwortverzeichnis A aberratio ictus 95, 262 abgebrochene Kausalität 92 Abgrenzung von Tun und Unterlassen 117 physisch‐reale Möglichkeit 121 Quasi‐Kausalität 120 Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit 119 Unterlassen durch Tun 119 Unterlassen weiterer Rettungsbemühungen 119 Abschreckung 37 Absicht 126, 134 Absichtsprovokation 179 absolute Straftheorien 35 Abstiftung 250–251 Abwägung 188, 192 Abweichung von Wirklichkeit und Vorstellung 94 actio libera in causa 218 Ausdehnungsmodell 219 gewohnheitsrechtliches Ausnahmemodell 219 Adäquanztheorie 88, 100

Affekt asthenischer 184 aus Schwäche 184 aus Stärke 184 sthenischer 184 Aggressiver Notstand 162 aktive Sterbehilfe 196 Aktive Sterbehilfe 63 Akzessorietät der Teilnahme 255 Alkohol 216 Allgemeines Selbsthilferecht 163 Analogieverbot (lex stricta) 44–45 Ähnlichkeitsschluss 45 Aufhebung 46 Garantiefunktion der Straftatbestände 45 Angemessenheit 50 der Tat 188 Angriff rechtswidriger 21, 172 Rechtswidrigkeit 174 animus auctoris 231 animus socii 231 Anstifter 22

Anstiftung 249 Abstiftung 250–251 Aufstiftung 250 Ausweiten des Tatentschlusses 251 Bestimmen einer anderen Person 250 doppelte 254 doppelter Anstiftervorsatz 254 Doppelvorsatz 252 Hervorrufen des Tatentschlusses 250 Lockspitzel 252, 254 omnimodo facturus 249 tatanreizende Umstände 250 Umstiftung 250, 252 undercover agent 254 Willensbeeinflussung 250 zu einer nicht konkretisierten Tat 252 Äquivalenztheorie 86–87 atypischer Kausalverlauf 91 Auffangtatbestand 68 Aufstiftung 250 Augenschein 77 Auslegung 59, 70, 78, 299 grammatische 79 systematische 80 teleologische 79

Auslegung des Strafgesetzes 78 grammatische 79 systematische 80 teleologische 79 Wortlaut des Gesetzes 78 Wortlautgrenze 79 Aussage gegen Aussage 77 Autonomieprinzip 161

B Bagatellangriff 179 Bedingungstheorie 86 Einwände gegen 87 Bedrängnis außergewöhnliche, nachvollziehbare 64 Befehlsnotstand 227 Behandlungsfehler in der Medizin 148 bei Operationen 149 Diagnosefehler 148 in der Ausbildung 150 mangelnde Organisation im Krankenhaus 151 Organisationsverschulden 151 Übernahmeverschulden 150

Beihilfe 255 Akzessorietät der Teilnahme 255 alltägliche Verhaltensweisen 258 bloßes Dabeisein 257 doppelter Gehilfenvorsatz 260 fahrlässige Nebentäterschaft 256 Hilfeleistung 257 Kausalität des Gehilfenbeitrags 257 psychische 259 Strafbarkeit 258 vorsätzliche rechtswidrige Haupttat 256 Beschränkung von Macht und Willkür des Staates 44 Beschützergaranten 112 Bestimmtheit inhaltliche 45 Bestimmtheitsgebot (lex certa) 44 inhaltliche Bestimmtheit 45 Beweismittel 76 Augenschein 77 Sachverständige 77 Urkunden 77 Zeugen 76 Beweiswürdigung 76 Aussage gegen Aussage 77 Urteil 78 Bewertungseinheit rechtlich‐soziale 67

Billigungstheorie 131 Bundesverfassungsgericht 48 Cannabis‐Entscheidung 49 dissenting opinions 50 Übermaßverbot 48 Verhältnismäßigkeitsgebot 48

C Claus Roxin 50 conditio sine qua non 299 Conditio‐sine‐qua‐non‐Formel 86, 88, 120

D Dabeisein 257 Dauerangriff 174 Dauergefahr 189 Dazwischentreten einer anderen Person 104 Defensiver Notstand 162 Deliktsaufbau 55 Diagnosefehler 148 dolus antecedens 125 dolus directus 126 1. Grades 126 2. Grades 127 dolus eventualis 126, 127, 272 dolus generalis 96

dolus subsequens 125 Doppelvorsatz des Anstifters 252 drakonische Strafen 38 Drogen 216 Durchsuchung 167 Durchsuchungsbeschluss 168

E Eignung 50 Einwilligung 159 in die Verletzung 195 mutmaßliche 201 rechtfertigende 161 Einwilligung in die Verletzung aktive Sterbehilfe 196 Einwilligungsfähigkeit 199 fully informed consent 202 gegen die guten Sitten 197 Geschäftsfähigkeit 199 mutmaßliche Einwilligung 201 Patientenverfügung 196 Willensmängel 200 Einwilligungsfähigkeit 199 Einwilligungsmodell 107 Einzelaktstheorie 289 elementare Werte des Gemeinschaftslebens 34

Entdeckungswahrscheinlichkeit 38 Entschluss zu einer Straftat 269 Entschuldigungsgründe 58 Erfolg 83 Erfolgsabwendungsrisiko 288 Erfolgsdelikt 83 Erforderlichkeit 50 Erkundigungspflicht 220 Erlaubnisgrenzirrtum 205 Erlaubnisirrtum 205 Erlaubnisnormirrtum 205 Erlaubnistatbestandsirrtum 207 Ernstnahmetheorie 133 error in persona 94, 261 Eventualvorsatz 126, 130, 300 Billigungstheorie 131 Ernstnahmetheorie 133 Gleichgültigkeitstheorie 132 Möglichkeitstheorie 132 Risikotheorie 132 Vermeidungstheorie 132 Wahrscheinlichkeitstheorie 132 Exkulpationsmodell 107

F fahrlässig 21

Fahrlässigkeit 139, 300 bewusste 141 einfache 142 Fahrlässigkeitsunrecht 141 Grade der 141 grobe 142 leichte 142 Nebentäterschaft 256 Pflichtwidrigkeitszusammenhang 144 Risikoerhöhungslehre 146 Sorgfaltspflichten 25 unbewusste 141 Fahrlässigkeitsunrecht 141 Fehlgehen der Tat 95 Festnahme 165 Feuerbach 37–38 drakonische Strafen 38 Entdeckungswahrscheinlichkeit 38 Theorie des psychologischen Zwangs 37 fortgesetzte Tat 67 Fortwirkungskriterium 92 Fouls beim Sport 203 Franz von Liszt 41 Marburger Programm 41

G

Garantenstellung 111 aus Ingerenz 114 Beschützergaranten 112 freiwillige Schutzpflichten 113 Geschäftsherrenhaftung 115 Lebens‐ und Gefahrensgemeinschaften 113 Überwachergaranten 114 Verantwortung für andere Personen 114 Verkehrssicherungspflichten 115 Gefahr Gegenwärtigkeit 189 Gefährdungsdelikt 84 Gefährdungstheorie 277 Gefährlichkeitsprognose 41 Gefahrrealisierung 105 Gegenwärtigkeit der Gefahr 189 des Angriffs 189 Gehilfen 22 Gehilfenvorsatz doppelter 260 Generalprävention negative 37 positive 39 Gesamtbetrachtungslehre 289 Gesamtvorsatz 67 Geschäftsherrenhaftung 115

Gesetzeskonkurrenz 67 formelle Subsidiarität 67 Konsumtion 67 materielle Subsidiarität 67 Spezialität 67 Gesetzlichkeitsprinzip 43 Analogieverbot (lex stricta) 44 Beschränkung von Macht und Willkür des Staates 44 Bestimmtheitsgebot (lex certa) 44 geschriebenes Recht (lex scripta) 44 nullum crimen, nulla poena sine lege 43 Rechtssicherheit 44 Rückwirkungsverbot (lex praevia) 44 Vorbehalt des Gesetzes 45 Vorhersehbarkeit der Sanktionen 44 Gesundheitsbeschädigung 56, 79 Gewalt übermächtige 73 Gewissen Anspannung 220 Gewissenstäter 221 Glaubensfreiheit 222 religiöse Fanatiker 222 Überzeugungstäter 221 Glaubensfreiheit 222 Gleichgültigkeitstheorie 132 Gleichordnungsverhältnis 32

Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen 122 Grundsatz der Mündlichkeit 52 Grundsatz der Öffentlichkeit 52 Grundsatz der Unmittelbarkeit 52 Gutachtenstil 295

H Handeln auf eigene Gefahr 103 Handeln in Lagen außergewöhnlicher Bedrängnis 223 durch einen rechtswidrigen Angriff 224 Rettung aus höchster Not 224 übergesetzlicher entschuldigender Notstand 225 Handlung 66, 71, 83 automatisierte Handlungsweisen 73 finale Handlungslehre 72 Handlungsbegriff 71 im natürlichen Sinne 66 im Rechtssinne 66 kausaler Handlungsbegriff 72 Nichthandeln 72 personaler Handlungsbegriff 72 Reflexbewegung 73 übermächtige Gewalt 73 unbewusste Körperbewegung 72

Handlungsbegriff finaler 72 kausaler 72 personaler 72 Handlungseinheit 66 natürliche 66 tatbestandliche 67 Handlungsweise automatisierte 73 Hangtäter 42 Hassemer Winfried 39 Hegel 36, 38 Hilfeleistung 257 unterlassene 109

I Idealkonkurrenz gleichartige 66 ungleichartige 66 Idee zu einer Straftat 269 in dubio pro reo 53 Innentendenz bei der Tatbeteiligung 261 des mittelbaren Täters 263 überschießende 135

Irrtum über Entschuldigungsgründe 226 über den Kausalverlauf 93 unvermeidbarer 206 vermeidbarer 206 Befehlsnotstand 227 Nötigungsnotstand 227 über die Rechtfertigung 206

K Kant, Immanuel 36, 225 Karneades 224 Brett des 224

Kausalität 83, 299 aberratio ictus 95 abgebrochene und überholende 92 Adäquanztheorie 88 alternative 90 atypischer Kausalverlauf 91 Bedingungs‐ oder Äquivalenztheorie 86 Bedingungstheorie 87 bei Tätigkeitsdelikten 85 conditio sine qua non 83, 86, 88 dolus generalis 96 Erfolgsdelikte 83 erfolgsqualifizierte Delikte 84 error in persona 94 hypothetischer Kausalverlauf 91 Irrtum über den Kausalverlauf 93 konkrete Gefährdungsdelikte 84 kumulative 90 Lehre vom Fortwirkungskriterium 92 Lehre vom Regressverbot 92 Mehrfachkausalität 90 objektiv‐nachträgliche Prognose 89 Relevanztheorie 89 überholende 92 Kausalverlauf atypischer 91 hypothetischer 91

Klausur Tipps 293 Koinzidenzprinzip 125, 219 Konkurrenzen 65 fortgesetzte Tat 67 Gesetzeskonkurrenz 67 Handlung 66 Konsumtion 68 mitbestrafte Nachtat 68 mitbestrafte Vortat 68 Tateinheit 66 Tatmehrheit 66 Konsumtion 67–68 Körperverletzung 56 Gesundheitsbeschädigung 56 körperliche Misshandlung 56 mit Todesfolge 84 kumulative Kausalität 90

L Legalbewährung 40 Legalitätsprinzip 51 Lehre vom Fortwirkungskriterium 92 Lehre vom Regressverbot 92 Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen 208–209

Lehre von der objektiven Zurechnung 89, 96, 99, 100 Berücksichtigung des nicht risikosteigernden Alternativverhaltens 104 Dazwischentreten einer anderen Person 104 eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers 105 Einwilligungsmodell 107 Exkulpationsmodell 107 Feststellung der Eigenverantwortlichkeit 107 Handeln auf eigene Gefahr 103 Kriterium der Gefahrrealisierung 105 Risiko außerhalb des menschlichen Beherrschungsvermögens 102 Risikoverringerung 103 Risikozusammenhang 100 Überschreitung des erlaubten Risikos 99, 103 Verlauf der Gefahrrealisierung 104 Leichtfertigkeit 143 letztes Mittel 50 lex certa 44 lex praevia 44, 46 lex stricta 44 Lockspitzel 252, 254 Lösungsskizze 294 Luhmann Niklas 86 luxuria 127

M Marburger Programm 41 Massenkarambolage 154 Maßregeln der Besserung und Sicherung 41 Medizin Behandlungsfehler 148 Medizinstrafrecht 202 Mehrfachkausalität 90 mitbestrafte Nachtat 68 mitbestrafte Vortat 68 Misshandlung körperliche 79 Mitbestrafung mitbestrafte Vortat 68 mitbestrafte Nachtat 68 Mittäter 22 teilweise 247 Mittäterexzess 248

Mittäterschaft 235, 243 Abgrenzung von (Mit‐)Täterschaft und Teilnahme 243 arbeitsteilige Vorgehensweise 244 gemeinsamer Tatentschluss 244 Mittäterexzess 248 subjektive Theorie 244 subjektiver Tatbestand 247 sukzessive 246 Tatausführungsherrschaft 244 Tatherrschaftslehre 244 Tatplanungsherrschaft 244 teilweise Mittäter 247 Mittelbare Täterschaft 22 Einwilligungslehre 238 Exkulpationslehre 238 fehlende Eigenverantwortlichkeit des Opfers 238 menschliches Werkzeug 235 Selbstmord 238 Wissens‐ und Willensherrschaft 238 Möglichkeitstheorie 132 Mündlichkeit 52

N Nachtat mitbestrafte 68 Nebentäterschaft fahrlässige 256

Nichthandeln 72 Nothilfe 159, 171 Nötigungsnotstand 227 Notstand 21, 187 Abwägung 192 aggressiver 162 Angemessenheit 192 das relativ mildeste Mittel 191 defensiver 162 entschuldigender 224 Geeignetheit 190 Handlungsalternativen 190 rechtfertigender 159 Rechtfertigung im 187 übergesetzlicher entschuldigender 225 Notstandshandlung 188 Notstandslage 188, 224 Notstandsrecht Grundprinzip 187

Notwehr 21, 57, 158–159, 161, 171, 301 Absichtsprovokation 179 Angriffe schuldloser Personen 181 Beginn der Notwehrlage 172 Dauerangriff 174 Ende der Notwehrlage 173 erforderliche Verteidigung 175 extensiver Notwehrexzess 184 gegenwärtiger Angriff 301 in Garantieverhältnissen 182 intensiver Notwehrexzess 184 Notwehrlage 171 Putativnotwehrexzess 185, 226 rechtswidriger Angriff 172 Rechtswidrigkeit des Angriffs 174 schuldhaftes Sich‐hinein‐Begeben in eine Notwehrlage 180 Schutzwehr 175 Trutzwehr 175 Überschreitung 183 vermeintliche 226 Verteidigungshandlung 175 zur Verteidigung von Sachwerten 183 Notwehrexzess 183 extensiver 184 intensiver 184 Notwehrfähigkeit 172

Notwehrlage 171 arrangierte 240 Notwehrrecht Einschränkungen 178 nullum crimen, nulla poena, sine lege

O objektive Zurechnung 89, 96 objektiv‐nachträgliche Prognose 89 Öffentliches Recht 32 Über‐Unterordnungsverhältnis 32 Öffentlichkeitsgrundsatz 52 omnimodo facturus 249–250 Opfer 39, 56 Restaurative Justice 39 Organisationsverschulden 151

P Pflichtwidrigkeitszusammenhang 144 Platon 35

Prinzipien eines fairen Strafverfahrens 50 Freispruch 53 Grundsatz der Öffentlichkeit 52 Grundsätze der Unmittelbarkeit 52 in dubio pro reo 53 Legalitätsprinzip 51 Mündlichkeit des Verfahrens 52 Prinzip der materiellen Wahrheit 51 Recht auf Verteidigung / Schweigerecht 51 Unschuldsvermutung 53 Prinzipien eines fairen Strafverfahrens: 52, 53 Putativnotwehr 185 Putativnotwehrexzess 185, 226

Q Quasi‐Kausalität 120

R Radbruch, Gustav 48 Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht 48 Recht auf Schweigerecht 51 Recht auf Verteidigung 51

Rechtfertigung 159 gemeinsames Prinzip 159 Gewaltmonopol des Staates 160 in Notstandslagen 189 Irrtümer über die 205 überwiegendes Interesse 159 Rechtfertigungsgründe 57, 161 aggressiver Notstand 162 allgemeines Selbsthilferecht 163 Defensiver Notstand 162 Eindringen in die Wohnung/Durchsuchung 167 Einwilligung 61 elterliches Züchtigungsrecht 168 Festnahme/Verhaftung 165 im Polizeirecht 163 in der Strafprozessordnung 163 Notwehr 57, 161 Notwehrrecht für Polizisten 165 Schusswaffengebrauch 164 Rechtsgüterschutz 34 Rechtssicherheit 44 Rechtswidrigkeit 56, 60 Einwilligung 61 Reflexbewegung 73 Regressverbot 92 Relevanztheorie 89

Resozialisierung 40 Legalbewährung 40 Wiedereingliederung des Straftäters 40 Restaurative Justice 39 Risikoerhöhungslehre 146 Risikotheorie 132 Risikozusammenhang 100 Rücktritt freiwilliger 287 unfreiwilliger 287

Rücktritt vom Versuch 22, 282, 302 Aktivität zur Verhinderung der Tatvollendung 290 beendeter Versuch 287 Bemühen um Verhinderung 288 Einzelaktstheorie 289 ethische Qualität des Rücktrittsmotivs 287 fehlende Verhinderungskausalität 288 fehlgeschlagener Versuch 283 freiwilliger Rücktritt 287 freiwilliges und ernsthaftes Bemühen des Tatbeteiligten 290 Gesamtbetrachtungslehre 289 hinter den Erwartungen des Täters 284 korrigierter Rücktrittshorizont 286 mangelnde Identität 284 mehraktiges Geschehen 289 mehrere Tatbeteiligte 290 Rücktrittshorizont 285 Tatplanhorizont 285 tatsächliche Unmöglichkeit 284 unbeendeter Versuch 284 unfreiwilliger Rücktritt 287 Rücktrittshorizont 285 Rückwirkungsverbot (lex praevia) 44, 46 Reichstagsbrandprozess 47

S Sachverständige 77

Sanktionen Vorhersehbarkeit der 44

Schuld 22, 56, 62, 303 actio libera in causa 218 Alkohol 216 als Vorwerfbarkeit 213 Anders‐handeln‐Können 22, 158, 213 außergewöhnliche, nachvollziehbare Bedrängnis 64 Blutalkoholkonzentration 216 Defizite der Einsichts‐ und Steuerungsfähigkeit 214 doppelte Schuldmilderung 224 Drogen 216 entschuldigender Notstand 303 erhebliche Intelligenzminderung 215 Grundsatz der Verantwortlichkeit 214 hochgradiger Affekt 215 Koinzidenzprinzip 219 körperlich‐geistige Zustände 215 krankhafte seelische Störung 215 Schuldunfähige 58 Schuldunfähigkeit von Kindern 214 schwere Persönlichkeits‐ oder Triebstörung 215 Selbstbestimmung 62, 214 Tadel in Gestalt der Strafe 62 tiefgreifende Bewusstseinsstörung 215 übergesetzlicher Notstand 303 Verbotsirrtum 62, 303 Vollrausch 216 Vorwerfbarkeit 62

Vorwurf 62 Willensfreiheit 62, 213 Schuldausgleich 41 gerechter 35 Schuldlose 181 Schuldmilderung doppelte 224 Schuldtheorie 210 rechtsfolgenverweisende eingeschränkte 208 Schuldtheorien 208 Schuldunfähigkeit 58 von Kindern 214 vorsätzliche Herbeiführung der 218 Schusswaffengebrauch 164 Schutzwehr 175 Schutzzweck der Norm 154 Selbstbestimmung 62, 161 Selbsthilferecht 163 Seneca 35 Sex Grenzen 204 Sozialadäquanz 203 sozialethisches Minimum 34 Spezialprävention negative 41 positive 40

Stadien einer Straftat Beginn der Tatausführung 270 böse Gedanken 269 Vorbereitung 269 Sterbehilfe aktive 63, 196 Strafe 35 Strafrechtsdogmatik 55 Straftat formell‐objektive Theorie 270 gemischt subjektiv‐objektive Theorie 271 objektive Theorie 270 schuldhaft begangene 58 Schuldunfähige 58 Stadien einer 269 subjektive Theorie 270 Zwischenschritte 271 Straftatsystem 30, 55 dreigliedriger Aufbau 56 Entschuldigungsgründe 58 Rechtfertigungsgründe 57 Schuldunfähigkeit 58 Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens 56

Straftheorien 35 Abschreckung 37–38 absolute 35 negative Generalprävention 37 negative Spezialprävention 41 positive Generalprävention 39 positive Spezialprävention 40 relative 35 Resozialisierung 40 Schuldausgleich 41 Stärkung der Rechtstreue 39 Strafrecht als Mittel des Schutzes 41 Talionsprinzip 36 Vergeltung von Unrecht 36 Verhältnismäßigkeit zwischen Unrecht und Strafen 36 Strafverfahren faires 50 Straßenverkehr als Gefahrenzone 152 Massenkarambolage 154 Schutzzweck der Norm 154 Straßenverkehrsgefährdung 84 Subsidiarität formelle 67 materielle 67

T

Talionsprinzip 36 Tat fortgesetzte 67 Tatausführungsherrschaft 244 Tatbestand objektiver 60, 159 subjektiver 60, 159 Tatbestandsirrtum 208 Tatbestandsmäßigkeit 56, 58 Bestimmtheit von Strafgesetzen 58 des Verhaltens 56 Garantiefunktion der Gesetze 59 subjektiver Tatbestand 60 Tatbestandsmerkmal negatives 209 positives 209 Tatbezichtigung 240 Tateinheit 66 Tatentschluss 269 gemeinsamer 244 Hervorrufen 250 Täter 233, 302 mittelbarer 302 Täter hinter dem Täter 241 Täterschaft mittelbare 235, 302 subjektiver Tatbestand der mittelbaren Täterschaft 242

Täterschaft und Teilnahme 231 animus auctoris 231 animus socii 231 eingeschränkt subjektive Theorie 233 Rolle im Geschehensablauf 233 Rollenzuweisung 233 subjektive Theorie 231 Tatherrschaftslehre 231 Willensbeziehung zur Tat 231 Täterwille 231 Tatherrschaft 233 funktionelle 243 Tätigkeitsdelikt 85 Tatmehrheit 66 Tatplanhorizont 285 Tatplanungsherrschaft 244 Teilnehmer 233, 302 Teilnehmerwille 231 Theorien 23 Tötung auf Verlangen 63 Tötungsdelikt 83–84 Trutzwehr 175 Tun 21 und Unterlassen 117

U überholende Kausalität 92

Übernahmeverschulden 150 Überschreitung des erlaubten Risikos 103 Überwachergarant 112 Überzeugungstäter 41, 221 ultima ratio 34, 50 ultra posse nemo obligatur 121 Ultra‐posse‐Prinzip 121 Umstiftung 250, 252 undercover agent 254 Unmittelbarkeit 52 Unrechtsbewusstsein 220 Unschuldsvermutung 53 Unterlassen 21, 70, 109, 117 durch Tun 119 in der Sicherungsverwahrung 41 Ultra‐posse‐Prinzip 121 Ursächlichkeit der 120 weiterer Rettungsbemühungen 119 Zumutbarkeit der Handlung 121 unterlassene Hilfeleistung 109

Unterlassungsdelikte 109 Beschützergaranten 112 Bystander‐Phänomen 110 echte 110 echte Unterlassungsdelikte 110 enge natürliche Verbundenheit 112 freiwillige Schutzpflichten 112 Garantenstellung 111, 114 Geschäftsherrenhaftung 115 Lebens‐ oder Gefahrengemeinschaft 112 Überwachergaranten 112 unechte 111 unterlassene Hilfeleistung 109 Verantwortung für andere Personen 114 Verkehrssicherungspflichten 115 Untersuchungsgrundsatz 51 Urkunden 77 Urteil 78

V Verantwortlichkeit 214 Verantwortung für andere Personen 114

Verbotsirrtum 62, 220 Anspannung des Gewissens 220 Erkundigungspflicht 220 indirekter 205 Schuldtheorie 220 umgekehrter 205 Unrechtsbewusstsein 220 unvermeidbarer 220 vermeidbarer 220 Vorsatztheorie 220 Verfolgung von Staatsunrecht 47 Mauerschützen‐Fälle 47 Vergeltung gerechte 35 Verhaftung 165 Verhaltensweisen automatisierte 74 Verhältnismäßigkeit zwischen Unrecht und Strafen 36 Verhältnismäßigkeitsgebot 48 Angemessenheit 50 Eignung 50 Erforderlichkeit 50 ultima ratio 50 Verhinderungskausalität fehlende 288 Verkehrssicherungspflichten 115

Vermeidungstheorie 132

Versuch 22, 301 abergläubischer 273, 275 Anstiftung zu einem Verbrechen 282 beendeter 284, 287 des untauglichen Subjekts 274 des Unterlassens 278, 281 Eindruckstheorie 268 eines Verbrechens 268 eines Vergehens 268 erfolgsqualifizierter 280 fehlgeschlagener 283 Gefährdungstheorie 277 Irrtümer bei der Vorstellung von der Tat 272 Regelbeispiele 278–279 strafbarer 272 Strafgrund 268 Trottelprivileg 275 unbeendeter 284 unmittelbares Ansetzen 276, 301 untauglicher 273 untauglicher aus grobem Unverstand 273–274 untaugliches Mittel 273 untaugliches Objekt 273 untaugliches Subjekt 273 Vorstellung einer Tat 272 Wahndelikt 273, 275 Zwischenakttheorie 276

Verteidigung 175 erforderliche 175 von Sachwerten 183 Verteidigungshandlung 175 Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehr 153 vis absoluta 73 volenti non fit iniuria 195 Vorbehalt des Gesetzes 45 Vorbereitung einer Straftat 269 Vorsatz 21, 123, 139 Absicht 134 bedingter 127 bei der Tat 125 Bestimmung des Eventualvorsatzes 130 bewusste Fahrlässigkeit (luxuria) 127 dolus directus 126 dolus eventualis 126 Grad 126 Koinzidenzprinzip 125 nachfolgender 125 vorangehender 125 Wissen 60, 124 Wollen 60, 124 Vorsatztheorie 220 modifizierte 208

Vortat mitbestrafte 68 Vorwerfbarkeit 62, 119 Vorwurf 62 des aktiven Tuns 119 des Unterlassens 119

W Wahndelikt 273, 275 Wahrheit materielle 51 Wahrscheinlichkeitstheorie 132 Werkzeug gerechtfertigt handelndes 240 objektiv tatbestandslos handelndes 236 ohne Schuld handelndes 241 subjektiv tatbestandslos handelndes 239 Wiedereingliederung des Straftäters 40 Willensbeeinflussung 250 Willensfreiheit 62, 213 Willensmängel 200 Wissen 60, 124 sicheres 126 Wollen 60, 124 Wortlaut des Gesetzes 78 Wortlautgrenze 299

Z Zeuge 76 Zeugnisverweigerungsrecht 77 Zivilrecht 32 Entscheidungen in Zivilsachen 32 Gleichordnungsverhältnis 32 Züchtigungsrecht elterliches 168 Zueignungsabsicht 134 Zufallopfer 95 Zumutbarkeit der Handlung 121 Zurechnung 89 objektive 96, 299 Zwischenakttheorie 276

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