Strafen als moralische Besserung: Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777–1933 9783486707328, 9783486587043

Das Ziel, Verurteilte wieder in die Gesellschaft einzugliedern, ist so alt wie der moderne Strafvollzug selbst. Doch bed

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Strafen als moralische Besserung: Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777–1933
 9783486707328, 9783486587043

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Schauz · Strafen als moralische Besserung

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150 Jahre Wissen fiir die Zukunft Oldenbourg Verlag

Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit

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Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Band 2 7

R. Oldenbourg Verlag München 2008

Désirée Schauz

Strafen als moralische Besserung Eine Geschichte der StraffäIiigenfürsorge 1777-1933

R. Oldenbourg Verlag München 2008

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

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Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2008 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Umschlagbild: Roman Clemens: Spiel aus Form, Farbe, Licht und Ton (1929) © Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Bindung: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach ISBN 978-3-486-58704-3

Inhalt Vorwort

7

1 Konzeption einer Geschichte der Straffälligenfursorge

9

1.1 1.2 1.3 1.4

Straffälligenhilfe gestern und heute Straffalligenfursorge am Rande der Disziplinen Konzeption einer modifizierten Dispositivanalyse Quellengrundlage und Aufbau des Buches

2 Die Anfänge der Straffalligenfursorge (1777-1861)

9 11 23 29 37

2.1 Die Erfindung der Besserungsstrafe Anfange des Gefängniswesens Bürgerliche Experten und staatliche Reformpolitik Die Permanenz der Gefangnisreform

37 37 43 55

2.2 Gefangnisvereine zwischen Fürsorge-und Reformzielen Christlich-philanthropische Ursprünge Die Rheinisch-Westfälische Gefángnisgesellschaft als Vorbild Organisatorische Infrastruktur

59 59 63 71

2.3 Zum Verhältnis von Verbrecherbild und Strafkonzeption Die Ungleichzeitigkeit von Strafdiskursen Sozial-moralisches Verbrecherbild Gefängnis als Schule des Verbrechens

78 78 85 96

2.4 Traditionsbildung der Bekehrungsinstrumente Moralische und physische Besserung Gefängnisseelsorger als moralische Erzieher Fürsorge außerhalb der Anstaltsmauern

104 104 113 133

2.5 Christliche Besserungsutopien und ihre Grenzen Das Scheitern christlicher Versöhnungspraktiken Die Einheit der Strafanstalt im „christlichen Geist"? Herausforderungen der Besserungsstrategien

156 156 165 181

3 Die Renaissance des Verwahrungsgedankens (1861-1918)

187

3.1 Strafdebatten zwischen Verwissenschaftlichung, Professionalisierung und gesellschaftlicher Krisendiagnose Strafvollzugspolitik im Zuge der Reichseinigung Strafrechtsreformbewegung und Kriminologie Gefängniskunde im Schatten der Kriminologie

187 187 195 211

6

Inhalt

3.2 Reorganisation der Straffálligenfürsorge Neue Ziele der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft.... Koordination auf nationaler Ebene Straffalligenfursorge und allgemeine Wohltätigkeit

217 217 231 239

3.3 Kriminalitätsanalyse zwischen professioneller Expertise und religiöser Zivilisationskritik „Entsittlichung" in Zahlen und Umfragen Vom Verbrecher- zum Gefangenenbild Das Verhältnis von Strafrechts- und Gefangnisreform

248 248 263 268

3.4 Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Fürsorge Der Beruf des Gefängnisseelsorgers Auf dem Weg zur hauptamtlichen Fürsorge Differenzierung des Fürsorgeangebots

279 279 290 296

3.5 Kriminologie und Straffalligenfursorge Adaptionslogiken und Diskursgrenzen Abseits des kriminologischen Diskurses Retardierende Momente im Besserungsdiskurs

307 307 318 328

4 Straffálligenfürsorge in der Weimarer Republik: Kontinuitäten und Brüche (1918-1933) 4.1 Strafvollzug zwischen Progressivsystem und kriminalbiologischer Selektion 4.2 Private und öffentliche Straffálligenfürsorge 4.3 Bedeutungsverlust der Gefángnisseelsorge? 4.4 Neue Wege der Entlassenenfiirsorge 4.5 Gerichtshilfe für Erwachsene als neues Arbeitsfeld

333 333 343 351 359 366

5 Straffalligenfursorge und moralische Besserung - eine Bilanz

377

Anhang

391

Abkürzungsverzeichnis Quellen- und Literaturverzeichnis Archivalien Periodika Gedruckte Quellen Literatur Register

391 392 392 393 393 406 421

Vorwort „156 Jahre Knast" - diesem nicht ganz ernstgemeinten Titelvorschlag eines Freundes, der damit auf die Länge des Untersuchungszeitraums und den Seitenumfang der Arbeit anspielte, bin ich am Ende nun doch nicht gefolgt. Statt dessen habe ich meine im November 2005 bei der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln eingereichte Dissertation deutlich gekürzt und sprachlich gestrafft, um beim Lesen erst gar keine Assoziationen mit der Verbüßung langjähriger Haftstrafen aufkommen zu lassen. Nicht zuletzt deshalb ist zwischen Promotion und Drucklegung einige Zeit verstrichen. Unterdessen bin ich thematisch zu neuen Ufern aufgebrochen, doch die aktuellen Debatten über die Privatisierung von Justizvollzugsanstalten und den Umgang mit jugendlichen Intensivtätern haben mein Interesse an der Geschichte des modernen Strafvollzugs wachgehalten. Mit der Reihe „Ordnungssysteme" fand die Studie schließlich einen etablierten Publikationsort, wofür ich den Herausgebern Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael sehr danke. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanzierte den Druck. Vom kriminalitätsgeschichtlichen Interesse führte mich der Weg der Themenfindung erst über mehrere Schleifen zur Straffalligenfursorge. Bei Wolfgang Schieder muß ich mich dafür bedanken, daß er diesen längeren Findungsprozeß toleriert und die Arbeit auch noch weit nach seiner Emeritierung angenommen hat. Margit Szöllösi-Janze übernahm das Zweitgutachten. Für ihre ermutigende Zuspräche und auch ganz praktische Hilfe danke ich ihr ganz herzlich. Daß ich mich der Geschichte der Straffalligenfursorge konzentriert widmen konnte, ermöglichten mir die Graduiertenförderung des Landes Nordrhein-Westfalen sowie das Schwerpunktprogramm 1143 „Wissenschaft, Politik und Gesellschaft" der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Das zehnte Transatlantische Doktorandenseminar, veranstaltet vom Deutschen Historischen Institut Washington und organisiert von Richard Wetzell, bot mir die Möglichkeit, meine Thesen in einer ebenso internationalen wie interdisziplinären Runde vorzustellen. Von den anregenden Diskussionen in Tübingen hat die Arbeit sehr profitiert. Mein größter Dank gilt denjenigen, die mich über die Jahre hinweg mit ihrer Freundschaft begleiteten und mir während der verschiedenen Arbeitsphasen mit Rat und Tat zur Seite standen. Auf meiner Archivtour gewährte mir Beate Lichtwardt für mehrere Monate Unterschlupf in Berlin und zeigte mir als echte Berlinerin die jüngste Geschichte der Stadt. In Jutta Person fand ich eine fachkundige Gesprächspartnerin, mit der ich nur allzu gern Kaffeepausen einlegte, um über kriminologische Verbrecherkonstruktionen zu diskutieren. Der Austausch mit Sabine Freitag über englische Kriminalitätsdiskurse erleichterte es mir, den Ländervergleich nicht aus dem Auge zu verlieren.

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Vorwort

Gabriele Annas und Petra Meurer stellten während der Promotionsphase sicher, daß ich mich nicht ganz in der Welt der Quellen verlor. Lange Telefonate und gemeinsame sportliche Aktivitäten halfen mir, den nötigen Abstand zur Arbeit zu gewinnen. Meine Münchner Kollegen Thomas Wieland und Johannes Wittlinger übernahmen es, Teile des gekürzten Textes auf letzte Fehler hin zu prüfen, die ich selbst wohl kaum mehr gesehen hätte. Jörg Huwer sprang mir noch in letzter Minute zur Seite, um in gewohnt zuverlässiger Weise die letzten Hürden der Formatierung zu meistern und das Register fertigzustellen. Mit Mechthild Hempe, Detlev Mares und Nicola Wenge verbindet mich seit Jahren weit mehr als ein gemeinsames Interesse an Geschichte. Ihr selbstloser Einsatz in verschiedenen Stadien meiner Dissertationsphase hat mir einmal mehr bestätigt, wie wichtig es ist, echte Freunde zu haben, auf die man zählen kann, wenn es darauf ankommt. Detlev Mares las mit größter Aufmerksamkeit weite Teile der Dissertation. Selbst hochsommerliche Hitze konnte ihn nicht davon abhalten, mit mir die Konzeption der Arbeit durchzusprechen, wobei er mit gezielten Fragen sehr zur Präzisierung meiner Thesen beigetragen hat - Anne Holtmann sei Dank, daß sie uns mit den notwendigen Erfrischungen versorgte. Als ebenso herzliche wie professionelle Allrounderinnen in Sachen Betreuung erwiesen sich erneut Nicola Wenge und Mechthild Hempe. Sie diskutierten mit mir nicht nur inhaltliche und sprachliche Unklarheiten, sondern halfen mir durch ihre mahnenden und aufmunternden Worte auch über Phasen des Zweifels hinweg. Gemeinsame Unternehmungen fernab der Geschichtswissenschaft sorgten darüber hinaus für die nötige mentale Balance. Danke! Während der ganzen Zeit konnte ich auf die Unterstützung von Oliver Treib zählen, auch wenn die Distanz zwischen Wien und Köln beziehungsweise München dies nicht immer einfach machte. Er wird wohl einer der wenigen Menschen bleiben, die den ganzen Text komplett gelesen haben, und das nicht nur einmal; seine Sorgfalt und konstruktive Kritik habe ich sehr geschätzt. Selbst auf dem für ihn ungewohnten Ausflug in die Diskursanalyse bewahrte er wissenschaftlich-objektive Haltung. Ich hoffe, die neugewonnene gefangnisgeschichtliche Expertise, die in privaten Runden mitunter auf mehr Interesse stieß als sein Wissen über die Implementation sozialpolitischer EURichtlinien, entschädigt ihn zumindest ein klein wenig für die vielen Stunden, die er mit meinem Manuskript und dem Duden verbracht hat. Herzlichen Dank! München, im Januar 2008

Désirée Schauz

1 Konzeption einer Geschichte der Straffalligenfìirsorge 1.1 Straffälligenhilfe gestern und heute Die Resozialisierung von Straffälligen wird im heute geltenden Strafvollzugsgesetz, das in der Bundesrepublik seit 1977 in Kraft ist, als vorrangiger Strafzweck formuliert (Paragraph 2 StVollzG). Andere Definitionen des Strafzwecks wie Sicherheitsfunktion und Schuldausgleich werden daneben nur nachgeordnet erwähnt, und das generalpräventive Prinzip der Abschreckung lehnt die Strafrechtswissenschaft inzwischen fast einhellig ab.1 Doch obwohl das Gesetz die gesellschaftliche Wiedereingliederung als vorrangige Aufgabe der Strafrechtspflege festschreibt, gibt es keine Ausführungen, wie dieses Ziel zu erreichen sei. Der Begriff der Resozialisierung stellt nicht mehr als eine Chiffre dar, die heute zwar fest aus dem verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzip abgeleitet wird, in Kriminalpolitik und Vollzugspraxis jedoch flexibel besetzt werden kann.2 Momentan lassen sich zu dem auf Reintegration abzielenden Instrumentarium alle Leistungen und Kontrollmaßnahmen zählen, die bereits im Vorfeld der Gerichtsverhandlung, während der Haft und nach der Entlassung von staatlich angestellten Psychologen, Sozialpädagogen, Seelsorgern und privaten Hilfsorganisationen3 angeboten und übernommen werden. Sie werden zusammenfassend als Straffälligenhilfe oder Soziale Dienste in der Straf Justiz bezeichnet.4 Obwohl die Straffälligenhilfe etabliert ist, unterliegt das Resozialisierungsziel einem permanenten Umdeutungsprozeß. Seine Bedeutung als primärer Strafzweck und als kriminalpolitische Spezialprävention kann immer wieder in Frage gestellt werden. Entsprechende Legitimitätskrisen lassen sich an den periodisch wiederkehrenden Grundsatzdebatten unter den Sozialarbeitern in der Strafrechtspflege ablesen, in denen die strafimmanenten Zielkonflikte zwischen Sicherheit und Resozialisierung offen zu Tage treten.5 In der Öffentlichkeit finden diese Probleme allerdings nur wenig Aufmerksamkeit, während spektakuläre Kriminalfalle und gerichtliche Fragen der Schuldfahig1

Müller-Dietz: Art. „Strafvollzug", 1993, S. 510. Schetlhoss: Art. „Resozialisierung", 1993. 3 Neben der überregionalen Deutschen Bewährungshilfe e. V. bieten vor allem die beiden großen kirchennahen Sozialdienste der Caritas und der Diakonie sowie eine Vielzahl von kommunalen Organisationen Hilfe für Straffällige und ihre Angehörigen an. Die Angebote reichen von materieller Unterstützung über Beratungsdienste (Schuldnerberatung, Informationen und Hilfestellungen hinsichtlich staatlicher Sozialleistungen) bis hin zu therapeutischer Betreuung bei Familien-, Ehe- und Suchtproblemen. 2

4 5

Vgl. insgesamt Müller-Dietz: Soziale Dienste in der Strafjustiz, 1993. Schellhoss: Art. „Resozialisierung", 1993, S. 431.

10

1 Konzeption einer Geschichte der StrafFálligenflirsorge

keit dagegen schon immer eine ambivalente Faszination ausgelöst haben. Hilfsmaßnahmen fur Straffällige finden kaum eine Lobby und geraten allenfalls negativ in die Schlagzeilen, wenn angesichts von Wiederholungstätern scheinbar überholte Debatten über Schuld und Sühne gefuhrt werden oder Einsparungen in den öffentlichen Haushalten anstehen und die Erfolgsbilanzen gemessen am Kriterium der Effizienz nicht als ausreichend erachtet werden. Trotz des Primats der Resozialisierung scheint diese diskursive Marginalität ein besonderes Kennzeichen der Straffälligenhilfe zu sein, die nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Strafrechtswissenschaft und Justiz,6 in der Kriminalpolitik,7 im karitativen Bereich und auf der reflexiven Ebene der Kriminologie zu beobachten ist.8 Das geringe Interesse verwundert um so mehr, wenn man bedenkt, daß bereits seit Beginn des modernen Strafvollzugs, als der Freiheitsentzug die Marter als Strafe ablöste, angestrebt wurde, Verurteilte nach verbüßter Strafe wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Seit Ende des 18. Jahrhunderts kreisten die Reformdebatten um die Frage, wie die Gefängnisstrafe zu gestalten sei, damit die Verurteilten „gebessert" und nach ihrer Entlassung nicht mehr rückfällig würden. Bald schon entstanden Vereine, die nicht nur ein Forum für die Gefängnisreform bieten wollten, sondern auch die Gefangenenfursorge zu ihrem Anliegen machten. Innerhalb der deutschen Staaten gründeten christliche Philanthropen 1826 als ersten Verein die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft, die eine geregelte Seelsorge in den Strafanstalten der beiden westlichen Provinzen Preußens garantieren wollte und begann, Entlassenenund Angehörigenfürsorge zu organisieren. Bis 1850 folgten in Preußen und anderen deutschen Staaten weitere Gründungen, für die die rheinisch-westfälische Pionierin oftmals Pate stand. Trotz teilweise unterschiedlicher Zielsetzungen machten alle Vereine die Entlassenen- und Angehörigenfürsorge zu einer ihrer Hauptaufgaben, wobei den Gefängnisgeistlichen eine zentrale Rolle als Bindeglied zum Gefängnis und zu den Gefangenen zukam. Bis Ende des 19. Jahrhunderts bildete sich ein relativ dichtes Netz von Organisationen heraus, die sich auf die Gefangenenfursorge spezialisiert hatten. Hierin liegen die institutionellen Wurzeln der Straffälligenhilfe. 6

Dem Strafvollzug und den dazugehörigen Maßnahmen der Reintegration wird in der juristischen Ausbildung bis heute nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt (Eisenberg: Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 2000, S. 29). 7 Vgl. zum Problem des mangelnden öffentlichen Interesses an der Resozialisierung im Strafvollzug: Muller-Dietz: Art. „Strafvollzug", 1993, S. 521-522. 8 Es fehlte dafür lange Zeit empirisches Datenmaterial. Eine Bewährungshilfestatistik gibt es erst seit 1963. Rückfälligkeitsprüfungen als Erfolgsbilanzen der Bewährungshilfe sind sogar erst seit Mitte der 1980er Jahren möglich (Kerner: Art. „Bewährungshilfe", 1993, S. 80-81). Für die Kriminologie konstatiert Hartmut Schellhoss kritisch: „Auch die kriminologische Forschung hat sich bisher mit ,Resozialisierung' kaum systematisch befaßt. Wissenschaftliche Untersuchungen von Resozialisierungsmaßnahmen haben bestenfalls partielle Erkenntnisse erbracht" (Schellhoss: Art. „Resozialisierung", 1993, S. 431).

1.2 Straffalligenfürsorge am Rande der Disziplinen

11

Der Begriff der Straffälligenhilfe selbst ist relativ jung. Im Gegensatz zu älteren Bezeichnungen wie der Gefangenen- oder Gefangnisfürsorge stößt man auf ihn in Deutschland erst in den 1920er Jahren. Trotz des Verständniswandels von paternalistischer Fürsorge zu sozialer Hilfe, der darin zum Ausdruck kommt, benennt er Praktiken der Strafrechtspflege, deren Traditionen größtenteils bis in die erste Hälfe des 19. Jahrhunderts zurückreichen, als sich Gefängnisseelsorge sowie Angehörigen- und Entlassenfürsorge im Zuge der Gefängnisreform herausbildeten. Von den Vorformen der Bewährungsstrafe gegen Ende des Kaiserreichs und der Gerichtshilfe in der Weimarer Republik läßt sich sogar eine direkte Brücke zu aktuellen Arbeitsfeldern der sozialen Dienste in der Straljustiz schlagen. Ähnliche Kontinuitäten sind fur die Träger der Straffalligenfürsorge festzustellen. Trotz säkularer Tendenzen in der Weimarer Republik behielten die Gefängnisseelsorger bis Anfang der 1930er Jahre ihre zentrale Funktion innerhalb der Straffalligenfürsorge bei, und auch der Ausbau der staatlichen Sozialpolitik in diesen Jahren bedeutete keineswegs das Aus für die privaten Gefängnisvereine. Dieser Kontinuität auf der Ebene der Organisation und Praktiken stehen freilich Brüche gegenüber, infolge derer sich das Resozialisierungskonzept, seine normative Ausrichtung und das korrespondierende StrafVerständnis wandelten. Nach Meinung der bisherigen Forschung markieren Kriminologie, Strafrechtsreformbewegung und die dort verhandelten biologisch definierten Verbrecherbilder Ende des 19. Jahrhunderts einen - nach der Einfuhrung der Besserungsstrafe - zweiten kriminalpolitischen Paradigmenwechsel in der Moderne. 9 Eine Geschichte der Straffälligenhilfe hat also nicht nur die diskursive Marginalität im Strafvollzug zu erklären, sondern ebenso das Verhältnis von Kontinuität und Wandel der Konzepte und Maßnahmen auszuleuchten und nach den jeweiligen gesellschaftlichen Hintergründen zu fragen. Langlebige Leitbilder sowie ihre Umsetzung in der Praxis müssen herausgearbeitet werden, um das Gerüst der Straffalligenfürsorge sichtbar zu machen, während der Blick auf Probleme, Zielkonflikte, Anpassungen an veränderte Bedingungen sowie Legitimation und Akzeptanz der Straffalligenfürsorge die Perspektive auf den Wandel richtet. Eine derart systematische historische Studie der deutschen Straffalligenfürsorge liegt bis jetzt noch nicht vor. Das vorliegende Buch möchte diese Lücke schließen und damit das historische Gebäude des modernen Strafvollzugs um einen fehlenden Baustein ergänzen.

1.2 Straffalligenfürsorge am Rande der Disziplinen Die Straffälligenhilfe liegt an der Schnittstelle zwischen zwei scheinbar gegensätzlichen gesellschaftlichen Regelungsmechanismen: Strafe und Fürsorge. 9

Siehe früh bereits Foucault: Mikrophysik der Macht, 1976; Nye: Crime, Madness and Politics, 1984 u. Harris: Murders and Madness, 1989.

12

1 Konzeption einer Geschichte der StrafFälligenfiirsorge

Man hätte erwarten können, daß die Geschichte dieser spannungsreichen Verschränkung das Interesse verschiedener Disziplinen erregte. Neben der Strafrechtswissenschaft ergeben sich vor allem für die Sozialpädagogik, die Kirchengeschichte und die Religionswissenschaft historische Anknüpfungspunkte. Doch aus der Sicht dieser Disziplinen scheint das Thema zu peripher zu sein, so daß sich lediglich vereinzelte Randbemerkungen finden.10 Aber auch in der Geschichtswissenschaft schenkten der Straffälligenhilfe weder die historische Kriminalitätsforschung noch die Historiographie von Fürsorge und Sozialpolitik Beachtung. Allein die Dissertation von Petra Recklies-Dahlmann zu den Anfangen der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschaft bildet eine - allerdings eher unbefriedigende - Ausnahme. Die Studie bleibt der nicht unproblematischen Innenansicht der ersten deutschen Gefangnisgesellschaft verhaftet, womit sich die Ergebnisse in der affirmativen Wiedergabe der Vereinsprogrammatik „Religion und Bildung, Arbeit und Fürsorge" erschöpfen.11 Die Kriminalitätsgeschichte hätte naheliegenderweise einen Anstoß geben können, die Straffalligenfürsorge historisch aufzuarbeiten, da sie sich seit ihren Anfängen in den 1960er/70er Jahren an Ansätzen der Labeling-Theorie orientiert und nach der gesellschaftlichen Bedingtheit von Kriminalität und Strafe fragt.12 In Abgrenzung vom rechtspositivistischen Kriminalitätsbegriff wird hier die Definition von (strafrechtlicher) Norm und (krimineller) Abweichung als Produkt eines asymmetrischen sozialen Interaktionsprozesses gedeutet. Strafrecht, Rechtsprechung und Kriminalpolitik im weitesten Sinne sind daher als Kriminalisierungsstrategien zu untersuchen.13 Doch in der deutschsprachigen Kriminalitätsgeschichte rückte in den 1990er Jahren der Forschungsschwerpunkt immer mehr in die Frühe Neuzeit. Die damit einhergehende Perspektiverweiterung, Devianz ganz allgemein als Sonde gesellschaftlichen Wandels zu thematisieren, reduzierte das Interesse an Strafstrategien auf einen rein quellenkritischen Anspruch.14 10

Auf diese Randbemerkungen wird im folgenden noch genauer eingegangen. " Recklies-Dahlmann: Religion und Bildung, Arbeit und Fürsorge, 2001. Die Studie bricht 1850 mit dem Verweis auf das 1851 eingeführte Preußische Strafgesetzbuch ab, obwohl diese Zäsur weder für den Strafvollzug noch fur die Vereinsgeschichte von Bedeutung ist. Der Großteil der überlieferten Vereinsakten flöß somit erst gar nicht in die Arbeit ein. Recklies-Dahlmann liefert eine detaillierte Beschreibung der Anfangsjahre des Vereins und seines Personals, ohne einer spezifischen Fragestellung zu folgen und ohne ausreichend die verschiedenen Forschungszusammenhänge zu diskutieren. Besonders problematisch ist dies, wenn sie als Beiprodukt ihrer Organisationsgeschichte anstrebt, den Gefangnisalltag der Insassen aus der Vereinsperspektive zu rekonstruieren (vgl. ebd., S. 9). 12 Die Rezeption der Labeling-Ansätze in der deutschsprachigen Kriminologie soziologischer Provenienz führte zu einer disziplinären Neuorientierung, die unter dem Begriff der „kritischen Kriminologie" firmierte. Vgl. Sack. Kritische Kriminologie, 1993. 13 In der deutschsprachigen Forschung hat Dirk Blasius: Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität, 1976 als erster die damals in der Kriminologie diskutierten Ansätze aufgegriffen. 14 Zum Programm der „historischen Kriminalitätsforschung" siehe vor allem Schwerhoff: Devianz, 1992 u. Schwerhoff: Aktenkundig, 1999. Einen Überblick zur thematischen und

1.2 Straffalligenfursorge am Rande der Disziplinen

13

Für das 19. und 20. Jahrhundert hat inzwischen der Rechtshistoriker Diethelm Klippel eingefordert, „den Staat, sein Personal, das materielle und prozessuale Strafrecht und andere N o r m e n des Rechts- und Verwaltungshandelns s o w i e die politische Theorie" in der historischen Kriminalitätsforschung angemessen zu berücksichtigen. 1 5 U m die gesellschaftliche Konstruktion von Kriminalität und Strafe zu untersuchen, reicht j e d o c h der Blick auf die staatlichen Behörden nicht aus. Öffentlichkeit, spezielle Fachkreise s o w i e gesellschaftliche Organisationen w i e etwa die Gefangnisvereine haben ihren Anteil an diesem Zuschreibungsprozeß. 1 6 D i e Forschung hat zuletzt vor allem auf die wissenschaftliche Deutungsmacht in der Kriminalpolitik verwiesen: Themen waren hier die schleichende Kolonisierung von Strafrecht und Justiz durch die psychiatrische Expertise und die Geburt der Kriminologie im ausgehenden 19. Jahrhundert. 17 Inzwischen ist auch für den Strafvollzug der früh reklamierte wissenschaftliche Anspruch der Gefangnisreformer - sie sprachen von Gefängniskunde - herausgearbeitet worden. 1 8 D i e Neigung, Kriminalitätsgeschichte als Wissens- und Wissenschaftsgeschichte zu erzählen, ist nicht nur auf die intensive Auseinandersetzung mit Michel Foucault in den letzten Jahren zurückzuführen, 1 9 sondern ebenso auf den aktuellen Trend, soziologische Theoreme der Wissens- und der Wissenschaftsgesellschaft zu historisieren. 20 methodischen Entwicklung der Kriminalitätsgeschichte geben Eibach: Kriminalitätsgeschichte, 1996; Romer. Historische Kriminologie, 1992 u. Thome: Gesellschaftliche Modernisierung und Kriminalität, 1992. 15 Klippel·. Staat und Devianz, 1999, S. 9. 16 Eine der wenigen Studien, die umfassend die moderne Kriminalpolitik untersucht, ist die Dissertation von Regula Ludi·. Fabrikation des Verbrechens, 1999. Für die Schweiz enttarnt sie eindrucksvoll die Erfindung der Präventionspolitik als repressive Fabrikationsmaschinerie, in der das Strafrecht, die Justiz, der Strafvollzug und sozialpolitische Maßnahmen Kriminalität produzierten, auch wenn sie mit ihrer stringenten Thesenfuhrung die Widersprüchlichkeiten und Ungleichzeitigen des Strafsystems leider einebnet. 17 Siehe zunächst die Beiträge von Nye: Crime, Madness and Politics, 1984; Harris·. Murders and Madness, 1989; Darmon: Médecins et assassins, 1989; Wiener: Reconstructing the Criminal, 1990 u. zuletzt Becker/Wetzell: Criminals and their Scientists, 2005. Zur Rolle der Kriminologie innerhalb der deutschen Kriminalpolitik vgl. Wetzell·. Inventing the Criminial, 2000; Becker. Verderbnis und Entartung, 2002; Galassi: Kriminologie, 2004 u. Müller. Verbrechensbekämpfung, 2004. Zu Gerichtsmedizin und forensischer Psychiatrie siehe Lorenz: Kriminelle Körper, 1999; Chauvaud: Experts du crime, 2000; Uhi: Das „verbrecherische Weib", 2003; Greve: Verbrechen und Krankheit, 2004 u. Germann: Psychiatrie und Strafjustiz, 2004. Zur naturwissenschaftlich orientierten Kriminalistik siehe z.B. Vec: Die Spur des Täters, 2002 u. Becker: Dem Täter auf der Spur, 2005. 18 Hier sind vor allem die Arbeiten von Nutz: Besserungsmaschine, 2001 u. Riemer: Netzwerk der Gefängnisfreunde, 2005 zu nennen. 19 Wissen und wissenschaftliche Episteme als Mikromechanismen der Macht ziehen sich als zentrale Aspekte durch Foucaults Schriften; für das Strafrecht hat er vor allem die Bedeutung von Medizin und Psychiatrie hervorgehoben (Foucault: Der Fall Rivière, 1975; Foucault: Mikrophysik der Macht, 1976 u. Foucault: Die Anormalen, 2003). 20 Vgl. z.B. Raphael: Verwissenschaftlichung des Sozialen, 1996 u. Szöllösi-Janze: Redefining German Contemporary History, 2001.

14

1 Konzeption einer Geschichte der Straffalligenfürsorge

Die Gefangnishistoriographie hat sich letztlich als nahezu eigenständiger Forschungszweig quer zu den Disziplinen entwickelt. Wie vor allem Thomas Nutz deutlich vor Augen gefuhrt hat, bildete sich der moderne Strafvollzug unabhängig von den Diskussionen um das materielle Strafrecht heraus. Statt dessen legten medizinische Anstaltskritik und Pädagogik den Grundstein für den neuartigen Strafvollzug, so daß davon ausgegangenen werden kann, daß Kriminalität und Strafe hier lange Zeit anders verhandelt wurden als im Recht. 21 Das Gefängnis als Teil eines weitverzweigten „Kerkersystems" zu beschreiben, das die ganze moderne Disziplinargesellschaft durchziehe, diese nach wie vor überaus prominente Perspektive hat vor allem Michel Foucault geprägt. 22 Anstalten vom Gefängnis über Asyle bis hin zu „Irrenanstalten" wurden seither im Vergleich untersucht. 23 Gerade für die neuzeitliche Kriminalitäts- und Strafgeschichte ist diese vergleichende Perspektive lohnenswert, da psychiatrische Abteilungen fur Gefangene, Fürsorgeasyle, Rettungsanstalten und Heime der Fürsorgeerziehung sowie Arbeits- und Korrektionsanstalten wichtige Elemente der modernen Kriminalpolitik sind. In der Fürsorgegeschichte wird der Disziplinierungsaspekt schon lange diskutiert. 24 An der historischen Entwicklung des Arbeitshauses läßt sich der Zwangscharakter wohl am deutlichsten ablesen. Als Anstalt, die im Laufe ihrer Geschichte unter anderem auch zur Vollstreckung der korrektioneilen Nachhaft - eine verwaltungsrechtliche Erziehungsmaßnahme, die sich an die verbüßte Strafe anschloß - genutzt wurde, ist die Nähe zu strafrechtlichen Sanktionen offensichtlich, auch wenn es sich rein formal um eine Verwaltungsmaßnahme handelte. Ähnlich eng mit dem Bereich der Straffälligenhilfe verbunden ist die kriminalpolitisch motivierte und mit Repressionsmitteln ausgestattete Fürsorgepolitik im Bereich der Zwangs- beziehungsweise Fürsorgeerziehung von Jugendlichen. Während sowohl zur Geschichte des Arbeitshauses als auch zur Jugendfürsorge bereits Untersuchungen erschienen sind, 25 ist die Straffälligenhilfe als ähnlich strukturierter Grenzbereich zwischen Fürsorge und Strafrecht in diesem thematischen Zusammenhang noch nicht entdeckt worden. Diese Lücke läßt sich zumindest aus der Sicht der Fürsorgegeschichte damit erklären, daß sich die Straffalligenfürsorge aus der Gefängnisreformbewegung heraus und lange Zeit separat von den übrigen Bereichen der Fürsorge entwickelt hat. Erst im Kaiserreich gewann die allgemeine Wohlfahrt 21

Siehe Nutz: Strafrechtsphilosophie und Gefangniskunde, 2000 u. Nutz·. Besserungsmaschine, 2001. 22 Foucault: Überwachen und Strafen, 1994, vor allem S. 303-318 u. Kapitel IV.3. 23 Siehe z.B. den Sammelband Finzsch/Jiitte: Institutions of Confinement, 1996. 24 Vgl. z.B. Weisbroá. Wohlthätigkeit und „symbolische Gewalt", 1981 u. zuletzt Althammer: Bettler, 2007. 25 Siehe zur Geschichte des neuzeitlichen Arbeitshauses z.B. Ayaß: Arbeitshaus Breitenau, 1992. Zur Fürsorgeerziehung und Jugendfürsorge vgl. vor allem die Pionierstudie von Peukert: Grenzen der Sozialdisziplinierung, 1986 sowie z.B. die regionalgeschichtliche Arbeit von Blum-Geenen: Fürsorgeerziehung, 1997.

1.2 Straffalligenfìirsorge am Rande der Disziplinen

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fur die Gefangenen- und Entlassenenfursorge mehr Bedeutung, als trotz beginnender Sozialgesetzgebung konfessionelle und freie Wohlfahrtsorganisationen ein eigenständiges Fürsorgeangebot aufbauten und die für Deutschland so typische Doppelstruktur entstand. 26 Nachdem sich die Forschung zunächst auf die Anfange des modernen Sozialstaates konzentriert hatte, 27 standen zunehmend die Zusammenarbeit von öffentlicher und privater Fürsorge auf kommunaler Ebene und die Arbeit der privaten Wohlfahrtsverbände im Mittelpunkt des Interesses. Allerdings blieb auch hier die Straffalligenfìirsorge außen vor.28 Vor allem im Umfeld der Kirchengeschichte entstanden seit Ende der 1980er Jahre vermehrt Studien zur Geschichte der großen konfessionellen Wohlfahrtsorganisationen. Jochen-Christoph Kaiser hat mit seinen Arbeiten zum Verbandsprotestantismus hier Zeichen gesetzt. 29 In Anlehnung an Luhmanns systemtheoretische Studie zur Religion versteht er den sozialen Protestantismus als kirchliche „Zweitstruktur", die nicht mehr automatisch religiös legitimiert sei.30 Dieser Forschungszweig rückt Aspekte der Finanzierung, Professionalisierung und Bürokratisierung in den Vordergrund, wobei es darum geht, das Vorurteil zu revidieren, die konfessionellen Wohlfahrtsverbände seien im Hinblick auf Organisation und Effizienz gegenüber den staatlichen Versorgungssystemen rückständig gewesen. 31 Ein Großteil dieser kirchengeschichtlichen Untersuchungen bleibt jedoch dem konfessionellen Blickwinkel verhaftet. Die Gegenseite wird zwar wahrgenommen und es entstehen auch gemeinsame Sammelbände, doch ein systematischer Vergleich scheint noch immer der übergreifenden Geschichtswissenschaft vorbehalten zu sein.32 Die Wohlfahrtsvereine differenzierten sich seit dem Kaiserreich in eine fast unüberschaubare Zahl von Organisationen aus, die sich jeweils auf spezi26

Siehe z.B. Sachße: German Social Weifare, 1996. Vgl. etwa Ritter. Sozialstaat, 1991 u. Tennstedt: Wurzeln des Wohlfahrtsstaats, 1998. 28 Vgl. z.B. Brüchert-Schenk: Städtische Sozialpolitik, 1994; Jens : Sozialpolitik und Wohlfahrt, 1994 u. Rudioff. Wohlfahrtsstadt, 1995. 29 Siehe Kaiser: Sozialer Protestantismus, 1989. Vgl. außerdem die Arbeit zum Rheinland von Schlösser-Kost: Evangelische Kirche und soziale Fragen, 1996. 30 Zuletzt in: Kaiser: Kirchliche „Zweitstruktur", 2001. 31 Vgl. als neuere Arbeit z.B. die geschichtswissenschaftliche Dissertation zur Spendenfinanzierung der freien Wohlfahrt von Auts: Opferstock und Sammelbüchse, 2001. 32 Zum Forschungsstand über Diakonie und Innere Mission siehe Herrmann u.a.: Geschichte der deutschen evangelischen Diakonie, 1997. Zu allgemeinen Entwicklungslinien von Caritas sowie Diakonie und Innerer Mission sei in Auswahl auf folgende Titel hingewiesen: Gabriel: Herausforderungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände, 2001; Ca/r: Caritas und soziale Dienste, 1997; Kaiser/Greschat: Sozialer Protestantismus und Sozialstaat, 1996 u. Röper/Jüllig: Macht der Nächstenliebe, 1998. Ein aktuelleres Thema dieser Forschung ist die Aufarbeitung der NS-Zeit, insbesondere in bezug auf die Mitwirkung der Verbände bei Maßnahmen der Eugenik und „Rassenhygiene" sowie die Beschäftigung von Fremdarbeitern in den Verbänden (z.B. Richter: Katholizismus und Eugenik, 2001 u. Schmuhl: Ärzte in der westfälischen Diakonissenanstalt Sarepta, 2001). Die Geschichte jüdischer Wohlfahrtseinrichtungen wird in der Regel gesondert aufgearbeitet: vgl. z.B. Lütkemeier: Hilfen für jüdische Kinder, 1992 u. Heuberger/Spiegel: Zedaka - jüdische Sozialarbeit, 1992. 27

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1 Konzeption einer Geschichte der Straffalligenfürsorge

fische Zielgruppen konzentrierten. Zu den traditionellen Bereichen der „freien Liebestätigkeit", der Armen-, Waisen- und Krankenfürsorge, gesellten sich nun die Bahnhofsmission, der Mädchenschutz und die Gefährdetenfürsorge, die Wandererfürsorge und das Herbergswesen, die Jugend- oder Behindertenfürsorge, die Unterhaltung von Trinkerheilanstalten sowie die „Bädermission" oder die Sorge um „Heimatfremde", Flußschiffer und Seeleute.33 Für die Innere Mission gibt es zwar inzwischen zu einzelnen dieser Bereiche neuere Studien,34 doch für die Gefangenenfürsorge gilt nach wie vor der Stand der älteren Forschung zu den beiden Gründungsfiguren: Theodor Fliedner, späterer Begründer der ersten deutschen Diakonissenanstalt in Kaiserswerth, hatte sein Fürsorgeengagement damit begonnen, in der nahegelegenen Düsseldorfer Strafanstalt Gottesdienste abzuhalten. Er war der Hauptinitiator der Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft, deren Vereinsarbeit er in den ersten Jahren bestimmte, bevor er sich weiteren Fürsorgebereichen zuwandte. Johann Hinrich Wichern, der Begründer der Inneren Mission, hatte zunächst das Rauhe Haus bei Hamburg als Erziehungsanstalt für straffällige und „verwahrloste" Kinder und Jugendliche aufgebaut und wurde zwischenzeitlich Berater für das preußische Gefängniswesen, bevor er sich dem Aufbau der Inneren Mission widmete. Für die älteren institutionellen Selbstdarstellungen war daher die Gefangenenarbeit ein wichtiges Element, doch dieser teilweise mit Legenden durchsetze Erinnerungsbestand wurde bisher noch nicht kritisch aufgearbeitet.35 Noch schlechter ist die Arbeit der katholischen Seite auf dem Gebiet der Gefangenenfürsorge dokumentiert. Hier blieb sogar eine interne Historisierung aus, da die Fürsorge für Gefangene und ihre Familien bei der später gegründeten Caritas eine weit weniger wichtige Rolle spielte. Der im Kaiserreich gegründete Katholische Fürsorgeverein fiir Mädchen, Frauen und Kinder zählte die Straffalligenfürsorge immerhin von Anbeginn zu seinen Aufgaben.36 Doch selbst der Chronist dieses überregional bedeutenden Vereins, Andreas Wollasch, ließ den Quellenbestand zur Straffälligenhilfe unbearbei33

Siehe die Gliederung nach Arbeitsfeldern in der älteren Monographie des Hauschronisten Martin Gerhardt: Innere Mission, 1948. 34 Vgl. zuletzt die Übersicht bei Herrmann u.a.: Geschichte der deutschen evangelischen Diakonie, 1997. 35 Siehe vor allem die offiziellen Darstellungen von Martin Gerhardt Fliedner, 1933/1937 u. Gerhardt·. Innere Mission, Bd. 1-2, 1948. Gerhardt war für die Ordnung des Nachlasses Fliedners zuständig und ganz wesentlich am Aufbau des Archivs der Inneren Mission beteiligt. Speziell zu Wicherns Funktion als Beauftragter des Gefangniswesens vgl. Bloechle: Resozialisierung, 1973. Parallel zu diesen männlichen Ikonen der Diakonie wurde auch schon früh auf weibliche Vorbilder der Gefangenenfürsorge wie etwa Elizabeth Fry oder Amalie Sieveking hingewiesen: Beckmann: Evangelische Frauen, 1927 u. Bornack: Mathilde Wrede, 1926. 36

Marie Le Hanne, die Mitbegründerin des Katholischen Fürsorgevereins, war lange selbst aktiv an der Betreuung weiblicher Gefangener in den Strafanstalten beteiligt (vgl. dazu den Nachruf von Hopmann: Marie Le Hanne-Reichensperger, 1939).

1.2 Straffalligenfursorge am Rande der Disziplinen

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tet. 37 Dies ist um so bedauerlicher, als sich die Gefährdetenfiirsorge als wichtiges Arbeitsfeld vielfach mit der Fürsorge gegenüber weiblichen Gefangenen überschnitt und der Katholische Fürsorgeverein wesentlicher Träger der Straffalligenfursorge innerhalb der Caritas war. Den regional sehr unterschiedlich ausfallenden Beitrag der katholischen Orden und Brüderschaften der Vinzenzvereine, Franziskanerinnen und der Einrichtungen des Guten Hirten - hat die Kirchengeschichte bisher noch gar nicht aufgearbeitet. 38 Mit dem Gefängnisseelsorger als wichtigem Akteur der Straffalligenfursorge innerhalb und außerhalb der Anstaltsmauern wäre für die Kirchen- und Religionsgeschichte ein weiterer Themenbezug gegeben. Das Gefängnis war einer von mehreren Bereichen, in denen seit dem 18. Jahrhundert Geistliche auch außerhalb der Kirchengemeinde tätig waren. Seit der Aufklärung hatte sich das Seelsorgeverständnis verändert: Über die reine Heilsvermittlung hinaus erstreckte sich der seelsorgerische Unterweisungsanspruch zunehmend auf die verschiedensten Lebensbereiche. In der entstehenden Pastoraltheologie wurden entsprechende Seelsorgekonzepte ausgebildet und religionswissenschaftlich legitimiert. 39 Diese Entwicklung ist Teil eines für das 19. Jahrhundert beschriebenen Prozesses der Klerikalisierung und Verkirchlichung, der entgegen älterer Thesen keineswegs eine Säkularisierung der Gesellschaft, sondern eher eine Ausdifferenzierung bedeutete. 40 Die Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten Jahren verstärkt der gesellschaftlichen Pastorisierung durch theologisch ausgebildete Geistliche zugewandt, wenngleich die Bedeutung dieser Prozesse fur die moderne Gesellschaft noch umstritten ist.41 Aus der Perspektive einer kirchlich orientierten Seelsorgegeschichte wurde das Tätigkeitsfeld der Gefängnisgeistlichen allenfalls der Vollständigkeit halber 37

Wollasch·. Der Katholische Fürsorgeverein, 1991. Obwohl Wollasch Kaisers Konzept des „Verbandsprotestantismus" auf die katholische Seite übertragen will, arbeitet er doch sehr klassisch und ohne kritische Distanz die Organisationsentwicklung des Vereins ab. Lediglich die Haltung der Vereinsvorsitzenden, der Zentrumsabgeordneten Agnes Neuhaus, zum Gesetz über die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten erscheint ihm als zu konservativ und repressiv. Ansonsten scheint Wollasch hauptsächlich die damaligen Abwehrkämpfe gegen die „Linke" polemisch fortzuführen, indem er sich pausenlos an der kritischen Interpretation Detlev Peukerts abarbeitet (Peukert: Grenzen der Sozialdisziplinierung, 1986). Aber auch mit den relevanten Studien aus der Frauengeschichtsschreibung, die schlicht als „feministisch" abqualifiziert werden, setzt er sich nicht ernsthaft auseinander. 38

Die Quellenlage scheint dazu allerdings auch sehr schlecht zu sein. Im Rahmen der vorliegenden Studie wurden nur vereinzelt Hinweise gefunden, ohne daß diesen systematisch nachgegangen werden konnte. 39 Siehe etwa die verschiedenen Beiträge zum 18. bis 20. Jahrhundert, in: Evans: History of Pastoral Care, 2000 sowie Hauschildf. Seelsorgelehre, 2000. 40 Siehe etwa Schieder. Sozialgeschichte der Religion, 1993. 41 Zuletzt hat Olaf Blaschke mit seiner These vom „zweiten konfessionellen Zeitalter"' auf die Klerikalisierung und kirchliche Institutionalisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts hingewiesen. Innerhalb der Geschichtswissenschaft hat seine Interpretation die Debatte um den Stellenwert von Religion und Kirche innerhalb der modernen Gesellschaft wieder neu entfacht. Vgl. Blaschke·. Dämon des Konfessionalismus, 2002, bes. S. 29-30.

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1 Konzeption einer Geschichte der StrafFälligenfürsorge

gestreift.42 Es gibt bisher lediglich eine pastoralgeschichtliche Monographie, die sich speziell mit der evangelischen Gefängnisseelsorge beschäftigt. Den Blickwinkel und die Bewertungskriterien von Peter Brandts Studie bestimmen allerdings vorrangig aktuelle pastoraltheologische Konzepte.43 Daneben hat nur noch die evangelische Gefängnisseelsorge im Nationalsozialismus das Interesse der Forschung geweckt. 44 Der Mangel an interdisziplinärer Aufgeschlossenheit hat bislang verhindert, daß die kirchen- und theologiegeschichtliche Innenperspektive aufgebrochen wurde. Allgemeine Entwicklungen des Strafvollzugs und relevante gesellschaftliche Zusammenhänge finden keine angemessene Berücksichtigung.45 Im Literaturüberblick zur Geschichte der Straffälligenhilfe fallt schließlich auf, daß Beiträge der neueren Strafrechtsgeschichte völlig fehlen. Obwohl sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend auch Juristen mit diesem Thema auseinandersetzten und in der Weimarer Republik bereits erste juristische Dissertationen zum Fürsorgeaspekt in Strafrecht und Strafvollzug erschienen,46 scheint vor allem die ausbleibende gesetzliche Verankerung entsprechender Maßnahmen für das geringe Interesse der Strafrechtsgeschichte verantwortlich zu sein.47 Selbst die Gerichtshilfe, durch die der Fürsorgege-

42

Innerhalb der katholischen Kirchengeschichte gibt es zwar einige regionalgeschichtliche Bestandsaufnahmen zur Lage der Seelsorge in den Bistümern. Darin werden allerdings speziellere Aspekte wie etwa die Anstaltsseelsorge gar nicht erwähnt. Siehe z.B. Bendeh Seelsorger, 1996 u. Evertz: Seelsorge, 1993. Die Darstellung von Dagobert Vonderau, die einige Daten zur Gefángnisseelsorge im Bistum Fulda enthält, ist dabei schon eine Ausnahme (Vonderau: Seelsorge im Bistum Fulda, 2001, S. 480-486). 43

Vgl. Brandt. Evangelische Strafgefangenenseelsorge, 1985. Das Buch basiert auf konzeptionellen Schriften zur Gefängnisseelsorge und veröffentlichten Erfahrungsberichten von Geistlichen. Im Ergebnis kritisiert Brandt, daß die Seelsorge kein wirkliches religiöses Hilfsangebot fiir die Gefangenen darstellte, sondern die Kirche damit lediglich in der neuen Institution des Strafvollzugs präsent sein wollte. Auch wenn diese Kritik vom heutigen Standpunkt der Straffalligenseelsorge berechtigt sein mag, so ist sie doch historisch unangemessen. Das Seelsorgekonzept dieser Zeit war ganz allgemein nicht nur auf religiöse Betreuung ausgerichtet. Die These verzerrt außerdem das komplexe Verhältnis zwischen privater Philanthropie, Kirche, Staat und gesellschaftlichen Kriminalitätsdiskursen. 44 Siehe Eichholz: Evangelisch-lutherische Gefángnisseelsorge, 1995 u. Eichholz: Gefangenenseelsorge, 1999. 5 Lediglich der kurze Beitrag von Böhm: Kirche im Strafvollzug, 1995 versucht, das Verhältnis von Kirche und staatlichem Vollzug etwas grundsätzlicher zu fassen. Doch auch hier bleiben weitere gesamtgesellschaftliche Bezüge außen vor. 46 Siehe die primär staatswissenschaftliche Arbeit von Sommer: Fürsorge im Strafrecht, 1925 sowie die Untersuchung von Schmidmüller: Die Entlassenenfursorge, 1931. 47 Inzwischen ist immerhin eine rechtshistorische Dissertation zur Diskussion über das Bewahrungsgesetz von seinen Ursprüngen in der Weimarer Republik bis in die 1960er Jahre erschienen: Willing·. Bewahrungsgesetz, 2003. Das Bewahrungsgesetz sollte unter anderem regeln, wie mit sogenannten geistig minderwertigen Straffälligen langfristig umzugehen sei. Die Studie beschränkt sich aber leider auf die rein gesetzliche Diskussion, ohne diese ausreichend in weitere gesellschaftliche Zusammenhänge einzubetten.

1.2 Strañalligenfürsorge am Rande der Disziplinen

19

danke in der Weimarer Republik direkt in die Rechtsprechung Einzug hielt, war bisher für die neuere Rechtsgeschichte offenbar kein relevantes Thema. Dieser wissenschaftlichen Leerstelle steht allerdings eine Reihe von Erinnerungs- und Jubiläumsschriften der Gefängnisvereine und ihrer Nachfolgeorganisationen gegenüber, die unter anderem auch von Juristen verfaßt wurden. Die Historisierung der eigenen Vereinsarbeit setzte bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein und schuf eine Summe von Vereinschroniken. Obgleich die rückblickenden Bilanzen Probleme und Krisen der Gefangenenfürsorge nicht gänzlich verschweigen, sind diese Beiträge doch eher vor dem Hintergrund der professionellen Identitätsbildung zu interpretieren. Sie sind allesamt geleitet vom Narrativ der Humanisierung und des zivilisatorischen Fortschritts, das die Vereinstätigkeit auch heute noch legitimiert. 48 Diese Meistererzählung bestimmte lange Zeit auch die rechtshistorische Sicht auf die Geschichte des modernen Strafvollzugs und der Strafrechtspflege. 49 Seit Mitte der 1970er Jahre machte sich insbesondere der auf die Arbeit mit Straffälligen spezialisierte Pädagoge Gerhard Deimling auf die Suche nach den Wurzeln seiner Profession. Gefunden hat er diese im christlich motivierten Programm der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft. Wenngleich er zu Recht die innovativen Momente des Vereins für die gesamte Straffälligenfürsorge betont, erschöpfen sich seine Ergebnisse doch in einer unkritischen Erfolgsgeschichte des Vereins. 50 Deimlings Darstellungen sind jedoch nicht exemplarisch für die historische Forschung der Erziehungswissenschaften. Ganz anders kommentiert etwa Wolfgang Dreßen die philanthropischen Programme zum Gefängnis- und Rettungshauswesen, die er in seiner Pädagogikgeschichte streift. Ähnlich wie Foucault interpretiert er sie als Baustein eines umfassenden, individualisierenden Disziplinierungsprozesses, den Dreßen als Vorgeschichte der selbstregulierten modernen Industriegesellschaft begreift. 51

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Fuchs: Vereinsfürsorge, 1888; Rohden: Geschichte der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft, 1901; Rosenfeld. Geschichte des Berliner Vereins, 1901; Rosenfeld·. Zwei Hundert Jahre Fürsorge, 1905; Seyfarth: Zum 25jährigen Bestände, 1917; Rohden/Just: Hundert Jahre Geschichte der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft, 1926; Wingler: Gefangenenfürsorge in Baden, 1932; Festschrift des Kölner Gefängnisvereins, 1939; Müller. Entlassenenfursorge in Baden, 1964; Sauer: Im Namen des Königs, 1984; Klein: Strafvollzug und Gefangenen-Fürsorge, 1989; Kerner. Straffälligenhilfe, 1990; Hofmann: Straffälligenhilfe in Hessen, 1991 u. Müller-Dielz: Straffälligenhilfe, 1992. 49

Für Deutschland siehe vor allem Schmidt: Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1947 u. Schmidt: Zuchthäuser, 1960. 50 Deimling·. Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft, 1977; Deimling/Häußling: Straffälligenhilfe, 1977; Deimling·. Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft, 1980; Deimling: Strafvollzug, 1980; Deimling: Entstehung der rheinisch-westfälischen Gefängnisgesellschaft, 1986 u. Deimling: 175 Jahre Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft, 2001. Den Darstellungen liegen nur publizistische Quellen zugrunde. 51

Dreßen: Die pädagogische Maschine, 1982. Ebenso wie bei Foucaults „Überwachen und Strafen" - hier allerdings unter Rückgriff auf die Frankfurter Schule und ihre Aufklä-

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1 Konzeption einer Geschichte der Straffalligenflirsorge

Neben den historischen Forschungen zu Fürsorge, Kirche und Religion gibt die Geschichte des Gefangniswesens ohne Frage den wichtigsten Interpretationsrahmen für die Genese der Straffalligenflirsorge ab. Hier lassen sich immer wieder Hinweise auf die Gefangenenfursorge finden. Die verstärkt seit den 1970er Jahren einsetzende Forschung revidierte ältere Vorstellungen, die in der Ablösung der körperlichen Marter durch die Gefängnisstrafe vorrangig einen Akt gesellschaftlicher Humanität und zivilisatorischen Fortschritts sahen, und betonte nun die veränderte Funktion von Strafen. Das Gefangniswesen wurde dabei vor allem als Regulierungsstrategie verstanden, die soziale Differenz nicht korrigierte, sondern vielmehr konstruierte, dauerhaft festschrieb und möglichst effizient verwaltete.52 Die Gefangnisvereine, Entlassenenasyle und Fürsorgeangebote erscheinen aus dieser Sicht als integraler Bestandteil dieses „Kerkersystems".53 Der revisionistische Blick auf die Geschichte der Straffälligenhilfe legt nicht nur den problematischen Zwangscharakter der Maßnahmen frei, sondern weist auch auf die Ähnlichkeit der Regulierungsstrategien innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern hin. So fruchtbar diese Interpretation insgesamt ist, konstruiert sie doch ein homogenes, statisches und teilweise historisch verzerrtes Bild der Strafdiskurse und -praktiken. Dies gilt in besonderem Maße fur die Thesen von Michel Foucault. Anachronismen, Widersprüchlichkeiten und Relevanzunterschiede der Regulierungssysteme bleiben hier ebenso verdeckt wie der eigentliche Prozeß ihrer institutionellen Herausbildung sowie das Wechselspiel von Kontinuität und permanenter Aktualisierung. Während Foucault beispielsweise das zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die Rechtsprechung eingeführte Kriterium der Zurechnungsfähigkeit als wesentlichen Schritt hin zur Verschiebung der Perspektive von der Tat zum Täter betrachtet und diesen Vorgang als Teil des umfassenden Disziplinierungsprozesses interpretiert,54 verweist Nutz gerade auf die diskursive Differenz zwischen Gefängniskunde und Strafrechtswissenschaft zu Beginn der Gefangnisreform.55 Strafrecht, Rechtsprechung und Strafvollzug fugten sich nicht zu einem einheitlichen staatlichen Strafsystem zusammen, vielmehr exi-

rungskritik - bleiben spezifische Entwicklungen der unterschiedlichen Disziplinarbereiche und mögliche Konkurrenzeffekte unbeachtet. 52 Vgl. hauptsächlich Rusche/Kirchheimer: Punishment, 1939; Foucault: Überwachen und Strafen, 1994; Rothman: Discovery of the Asylum, 1990; Ignatieff: Measure of Pain, 1978 u. Spierenburg: Carcerai Institutions, 1984. In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft blieb das Thema lange unbearbeitet. Nach einem kurzen Streifzug von Dirk Blasius durch das Gebiet des preußischen Strafvollzugs (Blasius: Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität, 1976, S. 66-92) und zwei eher wenig beachteten Studien von Berger. Konstante Repression, 1974 und Mecklenburg: Ordnung der Gefangnisse, 1983 ließ eine systematische Erschließung dieses Untersuchungsfeldes lange auf sich warten. 53 Foucault: Überwachen und Strafen, 1994. 54 Foucault: Überwachen und Strafen, 1994, S. 27-34. 55 Vgl. insbesondere Nutz: Strafrechtsphilosophie und Gefängniskunde, 2000.

1.2 Strañalligenfursorge am Rande der Disziplinen

21

stierten zur selben Zeit durchaus unterschiedliche Strafkonzepte nebeneinander. Des weiteren bleibt bei der statischen Sicht auf das Gefängniswesen erklärungsbedürftig, warum das, gemessen an den Reformzielen gescheiterte Besserungsparadigma unverändert beibehalten wurde. Die These, daß der Freiheitsentzug letztlich nur noch den Selbstzweck erfüllte, Kriminalität zu verwalten, erklärt zwar die große Resonanz in der ideologiekritischen Zeit der 1970er Jahre, ist jedoch vor dem Hintergrund aktueller Interpretamente neu zu diskutieren. Obwohl die erwähnte Dissertation von Thomas Nutz in vielerlei Hinsicht der Foucaultschen Argumentation folgt, hat sie doch das Disziplinierungswissen auf breiterer Quellengrundlage und im Hinblick auf seine Genese, Akteure und Diskursstrategien differenzierter untersucht. Hier finden auch die Gefängnisvereine und ihre Vertreter als Teil der bürgerlichen Gefangnisreformbewegung gesonderte Beachtung. 56 Seiner Meinung nach fungierten diese privaten Gesellschaften zunächst als institutionelle Orte der Gefangniskunde, doch aufgrund ihrer religiös-philanthropischen Orientierung hätten sie bereits früh ihren Einfluß an medizinisch-naturwissenschaftliche Experten und Beamte verloren. Die moralischen Besserungsstrategien und Fürsorgemaßnahmen tauchen in seiner Wissensgeschichte des neuzeitlichen Strafvollzugs erst gar nicht auf, da er für die Gefangniskunde der ersten Jahrhunderthälfte ein vorrangig physisches Besserungsverständnis als bestimmend ansieht. 57 An dieser Sichtweise läßt der Befund, daß sich Gefangnisseelsorge sowie Entlassenen· und Gefangenenfiirsorge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als festverankerte Themenfelder innerhalb der Gefängniskunde etablierten, allerdings erhebliche Zweifel aufkommen. 58 Wie sich moralische und physische Besserungsstrategien zueinander verhielten, muß daher noch einmal genau überprüft werden. Neben Nutz' Studie sind inzwischen weitere deutschsprachige Arbeiten zur Geschichte des Strafvollzugs erschienen. 59 In Martina Henzes Arbeit zu 56

Die gefangniskritischen Äußerungen, Besserungsvorschläge und statistischen Berichte der Fürsorgevereine baut auch Regula Ludi in ihre umfassende Analyse der schweizerischen Kriminalpolitik als moralisch definierten Beitrag zur Gefängnis- und Verbrechensdiskussion ein (Ludi: Fabrikation des Verbrechens, 1999, S. 368). 57

Vgl. Nutz: Besserungsmaschine, 2001, Kapitel D. I—III. Er untersucht die Gefangniskunde in ihrer internationalen Dimension, wobei er dem preußischen Fall besondere Aufmerksamkeit schenkt. Während in älteren, rechtsgeschichtlichen Darstellungen zur Gefangnisreform und zum frühen Gefangniswesen immerhin Seelsorge und Schule als Bestandteile der Besserungskonzeption gezählt wurden, blieb auch dort die externe Entlassenenfürsorge meist unberücksichtigt. Vgl. z.B. Freßle: Bruchsal, 1970; Mecklenburg: Ordnung der Gefängnisse, 1983 u. Kröner. Freiheitsstrafe, 1988. 58

Holtzendorff/Jagemann: Handbuch des Gefangniswesens, 1888; Krohne: Lehrbuch der Gefängniskunde, 1889; Kriegsmann: Einführung in die Gefangniskunde, 1912 u. Bumke: Deutsches Gefangniswesen, 1928. 59 Mit Bezug auf den deutschen Strafvollzug sind hier vor allem Henze: Strafvollzugsreformen, 2003 u. Riemer: Netzwerk der Gefangnisfreunde, 2005 zu nennen. Weitere abge-

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1 Konzeption einer Geschichte der StrafFálligenñirsorge

den Strafvollzugsreformen in Bayern und Hessen-Darmstadt wird die Seelsorge immerhin kurz als - w e n n auch nachgeordnete - Disziplinierungsstrategie vorgestellt. 6 0 Die private Fürsorgepraxis hat dagegen seltener Beachtung gefunden. 6 1 Für die S c h w e i z wertet Regula Ludi die Fürsorgevereine als Teil einer „paternalistischen Kriminalpolitik" in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihrer zentralen, allerdings recht funktionalistischen These v o n der „Fabrikation des Verbrechens" entsprechend, schufen sich die Vereine durch die „Erfindung der Entlassenenfürsorge" ihre eigene Klientel, w e n n auch nur mit geringem Erfolg. 6 2 Trotz der nach w i e vor zu konstatierenden Randständigkeit der Straffalligenfürsorge in diesen neueren Studien ist insgesamt positiv zu vermerken, daß das oft staatsfixierte Bild des Gefángniswesens der älteren Forschung 6 3 zugunsten einer Berücksichtigung verschiedener Akteure und Diskursräume aufgebrochen wurde. Mit Blick auf die Forschungslage läßt sich also festhalten, daß eine eigenständige Untersuchung zur Geschichte der Straffälligenhilfe, ihrer Konzepte, Organisationen und Praktiken bisher noch aussteht. Wenngleich einige Aspekte ihrer Genese im U m f e l d der Gefängnisreformbewegung zu Beginn

schlossene Dissertationen wie die von Sandra Leukel zum Frauenstrafvollzug und die von Falk Bretschneider: Gefangene Gesellschaft, (im Erscheinen) zu Sachsen werden bald veröffentlicht. Inzwischen liegt auch ein zeitgeschichtlicher Beitrag von Kai Naumann: Gefängnis und Gesellschaft, 2006 vor, der leider die Vorgeschichte des Gefangniswesens zu wenig berücksichtigt. 60 Henze: Strafvollzugsreformen, 2003, S. 119-125, 247-253 u. 380-386. 61 Daneben finden sich Hinweise zu Gefangenenseelsorge und Entlassenenfürsorge auch in Darstellungen zu einzelnen Vertretern der Gefangnisreform: Schidorowitz: Wagnitz, 2000, vor allem S. 143-170 u. Kammer: Das gefängniswissenschaftliche Werk, 1971, S. 250-260 u. 287-299. In beiden Werken geht es vor allem darum, die Pionierarbeit ihrer Protagonisten zu würdigen und deren besondere Leistungen für das Besserungs- und Resozialisierungsprojekt hervorzuheben, weswegen die Beiträge der untersuchten Reformer sowie das gesamte Bild der Gefangenenfursorge hier weitgehend ohne Brüche und Probleme dargestellt sind. 62 Ludi: Fabrikation des Verbrechens, 1999, S. 368. Zu den Anfangen der Gefangenenfürsorge in der Schweiz vgl. ihr Unterkapitel „Wohltätigkeit als Verhaltenskontrolle" (S. 360369). Das paternalistische Konzept der Vereine unterscheidet Ludi dabei von den staatlichliberalen Vorstellungen des Strafvollzugs, die davon ausgingen, daß die Dauer des Freiheitsvollzugs von der Rechtsprechung klar definiert sein sollte. 63 Hier ist vorrangig auf die frühe Studie von Thomas Berger zum Strafvollzug und den Reformversuchen in Preußen (1850-1918) hinzuweisen. Berger interpretiert Seelsorge und Fürsorge als Teil des staatlichen Repressionssystems, das den Inhaftierten keine wirklichen Alternativen und Hilfsangebote bot, sondern lediglich als Alibi für die Besserungstheorie gedient habe. Die komplizierte Gemengelage von privaten und staatlichen Zwangsmechanismen wird somit nur sehr verzerrt widergegeben (vgl. Berger: Konstante Repression, 1974, insbesondere S. 109-124). Auch Dirk Blasius' Studie ist von einer etatistischen Perspektive bestimmt. Die Fürsorgevereine versteht er daher vorrangig als einen - wenn auch mißglückten - Versuch der staatlichen Verwaltung, die finanziellen Kosten der Resozialisierung auf die Gesellschaft abzuwälzen (vgl. Blasius: Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität, 1976, S. 83-85).

1.3 Konzeption einer modifizierten Dispositivanalyse

23

des 19. Jahrhunderts bekannt sind, wurde ihre Entwicklung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik nicht weiterverfolgt. Es gilt hier also erstens, die Bedeutung der Straffalligenfursorge innerhalb des komplexen neuzeitlichen Strafsystems zu evaluieren. Da die Straffälligenhilfe an der Schnittstelle mehrere gesellschaftlicher Bereiche angesiedelt ist, müssen zweitens die verschiedenen kriminalitäts-, fìirsorge-, kirchen- und religions- sowie allgemein gesellschaftsgeschichtlichen Bezüge herausgearbeitet werden. Die Studie hat sich dabei mit mehreren Etikettierungen der Prozesse in der modernen Gesellschaft wie Disziplinierung, Rationalisierung, Professionalisierung, Verwissenschaftlichung, Verkirchlichung und gesellschaftlicher Ausdifferenzierung auseinanderzusetzen und benötigt daher einen Ansatz, der die Komplexität des Themas zu erfassen vermag. Gleichzeitig müssen Kontinuität und Wandel so thematisiert werden, daß überholte teleologische Verlaufsmodellen nicht reproduziert werden.

1.3 Konzeption einer modifizierten Dispositivanalyse Diese Studie versteht Kriminalität und Strafe als Produkt eines vielschichtigen und mitunter disparaten gesellschaftlichen Zuschreibungs- und Regulierungsprozesses. Es genügt deshalb nicht, die Legaldefinition - also das materielle Strafrecht - auf seinen konstruktivistischen Charakter hin zu befragen. Zuschreibungsprozesse finden sich ebenso in anderen konstitutiven Bereichen, Regelungen und Praktiken neuzeitlicher Strafsysteme wie etwa bei der Polizei, in der Rechtsprechung oder eben im Strafvollzug. Kriminalitätsdefinitionen variieren nicht nur von Gesellschaft zu Gesellschaft sowie im diachronen Vergleich, sondern auch in ihren konkreten Handlungskontexten. 64 Als Teilbereich des neuzeitlichen Besserungsvollzugs bildet die Straffälligenhilfe somit ein spezifisches Segment moderner Strafstrategien ab. Für eine differenzierte Analyse muß festgestellt werden, wo und wer diese Strategien bestimmte und in welchem Verhältnis sie zu anderen Regulierungsmechanismen standen. Für die Studie wurde ein Ansatz entwickelt, der einerseits die sprachliche Bedingtheit von gesellschaftlichen Regulierungsmechanismen berücksichtigt und andererseits deren Genese im Wechselspiel von Diskursen und Praktiken erfaßt. Ausgehend von der Annahme, daß Kriminalitäts- und Strafvorstellungen zur gleichen Zeit variieren können, muß das Interpretationsmodell außerdem Diskursfelder unterscheiden können und zugleich interdiskursive Prozesse im Blick behalten. Schließlich besteht eine dritte heuristische Anforderung darin, historischen Wandel nachvollziehbar zu machen. Das im folgenden vorgestellte Konzept einer modifizierten Dispositivanalyse greift sowohl Vorschläge aus sozialwissenschaftlichen Beiträgen zur Diskursanalyse auf als 64

Zur Varianz von Verbrechensbegriffen vgl. Kaiser: Art. „Verbrechensbegriff', 1993.

24

1 Konzeption einer Geschichte der StrafFälligenfursorge

auch Anregungen aus der neueren Forschung zur historischen Semantik, insbesondere ihrer kommunikationstheoretischen Richtung.65 Die interdisziplinäre Diskussion diskurstheoretischer Ansätze hat inzwischen eine fast unüberschaubare Kombinationsvielfalt hervorgebracht, die aus der Kritik an den klassischen Diskursanalysen und aus fachspezifischen Adaptionen erwachsen ist. Unabhängig vom disziplinaren Standort arbeitet sich die Mehrheit der Konzepte an Foucaults Schriften ab.66 Das „Wabern" und „Wuchern" der Diskurse, das heißt ihre Autonomie und scheinbare soziale Schwerelosigkeit, ihr diskontinuierliches Auf- und Abtauchen sowie der strukturalistische Determinismus des Ansatzes werden dabei inzwischen als Probleme formuliert, die letztendlich sozialwissenschaftliche Grundfragen wie das Verhältnis zwischen Struktur und Akteur beziehungsweise zwischen Mikround Makroanalyse sowie zwischen Kontinuität und Wandel reflektieren.67 Die Zweifel an einem homogenen, deterministischen Diskursverständnis und die Frage nach Differenz wurden in der Forschung unter anderem unter Hinweis auf die Mehrdeutigkeit von Sprache aufgeworfen. Foucaults Konzept von diskursiven Praktiken und „Wahrheitskämpfen" suchte dagegen nach einer Regelhaftigkeit des Sagbaren, die der begrifflichen Sinnebene vorgelagert war.68 Philipp Sarasin greift demgegenüber auf dekonstruktivistische Thesen zur Polysemie und Metaphorizität von Sprache zurück, wodurch seiner Meinung nach Analysen möglich werden, „die die Vielschichtigkeit von Bedeutungen in einer konkreten Situation sichtbar und verdrängte, unterdrückte oder verschwiegene Stimmen im ,Rauschen' eines herrschenden Diskurses hörbar machen".69 Doch wie entgeht man nun dem anderen Extrem? Wie bekommt man das fast endlos scheinende Spiel der Signifikanten heuristisch in den Griff? Sarasin selbst geht in Anlehnung an die diskurstheoretisch 65

Diskursanalyse und Begriffsgeschichte standen lange Zeit völlig unverbunden nebeneinander. Zur internationalen Entwicklung der Begriffsgeschichte und historischen Semantik siehe etwa die kurzen Überblicke bei Bödecker. Ausprägungen der historischen Semantik, 2002 u. Landwehr. Geschichte des Sagbaren, 2001, S. 28-40. Eine Übersicht über die diskursanalytische Forschung der letzten Jahre geben z.B. Keller. Aktualität sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse, 2001, S. 7-14 sowie aus historischer Perspektive Sarasin: Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft, 2001, S. 53-58. Auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft zeichnet sich inzwischen eine fruchtbare Annäherung dieser beiden theoretischen Stränge ab: Busse u.a.: Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte, 1994 u. Bödecker. Ausprägungen der historischen Semantik, 2002, S. 14-15. 66 Vgl. vor allem den aktuellen interdisziplinären Sammelband von Keller u.a.: Handbuch Sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse, Bd. 1, 2001 sowie zur Auseinandersetzung in der historischen Semantik mit der Diskursanalyse Busse u.a.: Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte, 1994 u. Bödecker: Ausprägungen der historischen Semantik, 2002. 7 Michael Maset hat versucht, die Diskursanalyse in diese klassischen Problemdebatten zu übersetzen, allerdings mit dem Ziel, Foucaults Ansätze für die sozialwissenschaftlich orientierte Geschichtswissenschaft anschlußfahig zu machen (Maset: Diskurs, Macht und Geschichte, 2002). 68 Daniel: Kulturgeschichte, 2001, S. 356. 69 Sarasin: Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft, 2001, S. 74.

1.3 Konzeption einer modifizierten Dispositivanalyse

25

angelegte Gesellschaftstheorie von Laclau und Mouffe von einer relativ fixen Konstruktion sozialer Identitäten (Klasse, Geschlecht und Ethnie) aus. 70 Zusätzlich lassen sich Diskurse und ihre Semantik noch weiter strukturieren, indem verschiedene institutionalisierte Räume beziehungsweise Diskursformationen mit eigenen Kommunikationsforen, einer spezifischen Trägerschaft, konstitutiven diskursiven Praktiken sowie einem gemeinsamen Handlungsbezug unterschieden werden. Diesen vorwiegend sozialwissenschaftlichen Vorschlägen folgend, müssen also die für die Straffälligenhilfe diskursbestimmenden Räume identifiziert werden, und es muß der Frage nachgegangen werden, wie sich die thematischen Diskursstränge über längere Zeit hinweg entwickelten. Thomas Nutz hat die Gefangniskunde für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts als abgegrenzte Diskursformation lokalisiert, 71 diese veränderte sich jedoch im Laufe der Zeit. Zugleich gilt es, interdiskursive Entwicklungen zu verfolgen und grundlegende Deutungsmuster wie Klasse, Geschlecht, Ethnie oder auch Weltbilder und anthropologische Grundkonzepte aufzuspüren. Narrative, Plots, Metaphern und Kollektivsymbole können dabei als sprachliche Strategien verstanden werden, semantische Differenzen zu überbrücken. 72 Das Verhältnis der verschiedenen Diskursräume zueinander wird hier als ein Problem der Anschlußfahigkeit und Kontextualisierung betrachtet. Mark Bevir hat in kritischer Weiterentwicklung der historischen Semantik von John G.A. Pocock und Quentin Skinner die Kontextualisierung als heuristische Maxime eingefordert: „We need to emphasize only that we can begin to explain beliefs, ideas, and concepts by showing how they fit with others in an individual's worldview or group's episteme." 73 Begreift man die Diffusion von Diskursen als einen kommunikativen Prozeß, bei dem es Anpassungen zu leisten gilt, so sind nicht nur semantischen Differenzen zu überbrücken, sondern es muß ebenso mit Adaptionsproblemen und -grenzen gerechnet werden. Mit Ludwik Fleck kann davon ausgegangen werden, daß etablierte Diskurse oder - in seiner Begrifflichkeit - etablierte Denkkollektive und -stile sehr beharrlich sind. 74 Nimmt man die Kontextualisierungsforderung ernst, so kann sich das Vorhaben, die verschiedenen relevanten Diskurse und Diskursformationen zu identifizieren und in ihrer Relation zueinander zu bestimmen, mitunter zu einem recht komplexen Unterfangen auswachsen. Eine weitere konzeptionelle Herausforderung betrifft die Frage, wie historischer Wandel zu erfassen ist. In früheren diskurstheoretischen Studien war das Geschichtsbild von Diskontinuitäten geprägt, das heißt Diskurse tauchten 70

Sarasin: Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft, 2001, S. 6 7 - 6 9 u.74. Siehe einleitend Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 11-17. 72 Vgl. z.B. Viehöven Diskurs als Narrationen, 2001; Drews u.a.: Moderne Kollektivsymbolik, 1985, v.a. S. 2 8 1 - 2 8 5 u. Link: Normalismus, 1998. 73 Bevir. Role of Contexts, 2002, S. 181. 74 Fleck: Entstehung und Entwicklung, 1935/1980, S. 4 0 - 5 3 . Fleck wollte seine Ausführungen nicht auf wissenschaftliches Denken beschränkt sehen. 71

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1 Konzeption einer Geschichte der Straffalligenfürsorge

unvermittelt auf und verschwanden wieder, ohne daß ein Prozeß der Veränderung auch nur angedacht wurde. In der kritischen Auseinandersetzung mit der lange Zeit modernisierungstheoretisch orientierten Historiographie erfreute sich die Denkfigur der Diskontinuität ohne Frage großer Beliebtheit. 75 Für das geschichtstheoretische Problem des Wandels wurden inzwischen jedoch unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten gefunden, die nicht zugleich wieder lineare Verlaufsmodelle implizierten. 76 Anstatt von rein kontingenten Prozessen auszugehen, identifiziert Bevir Dilemma-Situationen, in denen sich bisherige Vorstellungsmuster als ungenügend erweisen und Ausgangspunkte für Veränderungen bilden. Modifizierungen bisheriger Wissensbestände oder die Emergenz neuer Diskurse sind entsprechend als Versuche zu verstehen, Lösungen für unerfüllte Erwartungen zu finden. „In particular, dilemmas often arise from experiences, where reality, as we conceive it, provides a useful guide to the nature of these experiences even though they will have been constructed from within a particular web of beliefs." 77 Erfahrung ist hier also nichts Authentisches, das von außerhalb auf die Diskurse verweist oder diese korrigiert. Das Konzept von Erfahrungskorrekturen soll ebenso wie das der Anpassungsleistung die fortwährend stattfindenden „Wahrheitskämpfe" insbesondere in ihrem zeitlichen Verlauf - transparent machen. Wandel wird hier also nicht erst beim Eintreten paradigmatischer Diskursverschiebungen registriert, denn nur selten werden ganze Episteme abgelöst, und selbst dann verschwinden sie nicht völlig aus dem gesellschaftlichen Wissensbestand. Schließlich gilt es, das Verhältnis von Diskurs zu nichtdiskursiven Praktiken zu klären. Der Sprach- und Sozialwissenschaftler Siegfried Jäger erkennt in Foucaults „Dispositiven der Macht" den Versuch, das problematische Verhältnis von Diskursen und Wirklichkeit zu umkreisen, „ohne es restlos zu lösen". 78 Foucault selbst sei in einer dualistischen Vorstellung gefangen geblieben, von der sich Jäger mit Hilfe einer marxistischen Tätigkeitstheorie zu befreien versucht. Die Verbindung zwischen beiden Ebenen bestehe „in Form der menschlich-sinnlichen Tätigkeit oder Arbeit, die Subjekt und Objekt, die sozialen Welten und die gegenständlichen Wirklichkeiten miteinander vermittelt, also durch nichtdiskursive Praxen". 79 Bei dieser Bedeutungszuweisung gehe Sagbares und Sichtbares allerdings nicht völlig ineinander auf: Weder werde alles handlungsbestimmende Wissen permanent artikuliert - Alltagsund Routinewissen zum Beispiel - , noch sei alles vollständig verbalisierbar. 75

Siehe z.B. Brieler: Geschichte, 2001. Philip Sarasin beispielsweise faßt sein Unbehagen gegenüber der Foucaultschen Archäologie als ein Problem der Autonomie von Diskursen, „die im Grunde auf kein Außen angewiesen sind, um zu funktionieren, sondern sich aus sich selbst speisen, und die auftauchen und wieder verschwinden, ohne daß dafür ein diskursextemer Grund angegeben werden könnte" (Sarasin: Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft, 2001, S. 70). 77 Bevir. Role of Contexts, 2002, S. 207. 78 Jäger: Diskurs und Wissen, 2001, S. 88. 79 Jäger: Diskurs und Wissen, 2001, S. 91. 76

1.3 Konzeption einer modifizierten Dispositivanalyse

27

Diese Differenz zwischen Sagbarem und Sichtbarem ist letztlich das Produkt einer komplexen (gesellschaftlichen) Wirklichkeit, die durch Diskurse lediglich strukturiert und reduziert werden kann. Siegfried Jägers Vorüberlegungen zu einer Dispositivanalyse knüpfen direkt an Foucault an und definieren Dispositive als Resultat gesellschaftlicher Deutungs- und Handlungsprobleme, die Diskurse und konkrete Problemlösungsstrategien als Antwort darauf hervorbringen. Er schlägt vor, neben dem Wissen, das aus der Analyse der diskursiven Praxis zu gewinnen ist, auch dem versteckten Wissen nachzugehen, das in Handlungen und Gegenstände bereits eingeflossen ist.80 Wie diese verschiedenen Konkretisierungen von Wissen zu unterscheiden und wie insbesondere die verfestigten Deutungsbestände analytisch zu greifen sind, bleibt bei Jäger selbst allerdings unklar. Nimmt man die sprachliche Bedingtheit menschlicher Kognition ernst, so werden sie erst wieder faßbar, wenn die Differenz zwischen Sichtbarem und Sagbarem wahrgenommen und diskursiv verhandelt wird oder vorhandene Praktiken - aus welchen Gründen auch immer - als ungenügend erachtet werden. Die Untersuchung von Dispositiven muß daher noch einen Schritt weitergehen. In der geschichtswissenschaftlichen Diskussion von Foucaults Dispositivanalyse der Disziplinarmacht in „Überwachen und Strafen" wurde das Wirklichkeitsproblem - mitunter recht naiv - als Widerspruch zwischen einem normativ ausgerichteten Diskurs und realen Handlungsoptionen gedeutet. 81 Willibald Steinmetz hat in einer kommunikationstheoretisch und sprachpragmatisch orientierten Diskursanalyse den Unterschied zwischen Sagbarem und Machbaren größtenteils auf die Ebene der Kommunikation selbst zurückgeführt. 82 Die Forschung zur modernen Kriminal- und Strafpolitik hat bereits auf die Hybris der Planbarkeit hingewiesen, 83 aber auch den damaligen Reformern wurden die Grenzen ihrer Regulierungsstrategien durchaus bewußt, auch wenn sie deshalb ihre Visionen nicht aufgaben. Im Umfeld praxisnaher Handlungsfelder wird die Steuerungsfähigkeit der angewandten Maßnahmen periodisch diskutiert und Probleme verarbeitet. Die Frage ist, was als machbar verhandelt wird, welche Probleme identifiziert und welche nicht wahrgenommen werden. Zu untersuchen ist also, wie Erwartungen und Erfahrungen diskursiv verarbeitet werden und welche Verknüpfungen sich mit anderen für die Steuerungsfrage relevanten Diskurssträngen ergeben. Die Verzahnung von Diskursen, Praktiken, Maßnahmen und Institutionen zu einem Dispositiv als einem Set von Strategien zur gesellschaftlichen Problembewältigung kann nur so in ihrem Wandel nachvollzogen werden.

80 81 82 83

Vgl. Jäger: Dispositiv, 2001 u. Jäger. Diskurs und Wissen, 2001, bes. S. 106-111. Siehe z.B. die Auseinandersetzungen in Perrot: L'impossible prison, 1980. Steinmetz·. Das Sagbare und das Machbare, 1993. Dies ist ein zentrales Argument bei Ludi·. Fabrikation des Verbrechens, 1999.

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1 Konzeption einer Geschichte der Straffalligenfursorge

Die vorliegende Geschichte der Straffälligenhilfe basiert auf einer derartig modifizierten Dispositivanalyse, die erstens eine differenzierte Diskursanalyse ermöglicht, in der verschiedene Diskursebenen - Expertenkreis, übergeordnete gesellschaftliche Interdiskurse und spezielle Diskursverknüpfungen zu relevanten Kontexten - unterschieden werden, und die mit Blick auf die diskursive Problemverarbeitung zweitens Wandel fassen kann. Die Straffalligenfursorge ging aus dem neuzeitlichen Besserungsdispositiv hervor. Nach und nach entwickelten sich Diskursräume, Praktiken, Organisationsformen und Regelungstraditionen heraus, die einen relativ klar umgrenzten Teilbereich innerhalb der Kriminalisierungs- und damit der gesellschaftlichen Normierungs- und Differenzierungsprozesse bildeten. Um der Komplexität dieser „materiellen, handlungspraktischen, sozialen, kognitiven und normativen Infrastruktur"84 des Dispositivs gerecht zu werden, ist es notwendig, die darin enthaltenen Ungleichzeitigkeiten nachzuvollziehen und das Verhältnis seiner verschiedenen Elemente zueinander sowie zu den jeweils relevanten, weiteren Handlungs- und Diskurskontexten herauszuarbeiten. Dabei wird in dieser Analyse davon ausgegangen, daß entsprechende Inkongruenzen und daraus möglicherweise resultierende Problemwahrnehmungen diskursiv verhandelt werden. Sie können als Theorie-Praxis-Differenz bei Definitionskämpfen zwischen verschiedenen Diskursgruppen um Machbarkeiten hervortreten oder infolge notwendiger Anpassungen sichtbar werden. Um diese Aspekte für die Analyse greifbar zu machen, bedarf es einer angemessenen Quellengrundlage, die den Ausschnitt so definiert, daß die betrachteten Diskursfragmente in Relation zum gesamten Dispositiv abgebildet werden.85 Des weiteren muß das Verhältnis der verschiedenen Diskursebenen im Blick behalten

84

Keller. Wissenssoziologische Diskursanalyse, 2001, S. 134. Einige Kritiker warfen Foucault vor, nur normative Quellen herangezogen zu haben. Ganz abgesehen davon, daß Foucault auch Quellen aus der Rechtspraxis nutzte (Foucault: Der Fall Rivière, 1975), ist eine Diskursanalyse, die nach Aussageregeln und nach institutionalisierten Redeweisen fragt, auf verschiedenste Textquellen anwendbar. Wichtig ist, die Äußerungen innerhalb des Diskurses zu positionieren und damit auch ihre Kontextbezüge zu bestimmen. Bei publizistischen Quellen hat Philipp Sarasin im Anschluß an Roger Chartier außerdem darauf hingewiesen, daß die „Medialität" der Diskurse beachtet werden müsse. Titel, Untertitel, Klappentexte, Inserate, Hinweise auf Adressaten usw. versteht er als Einschreibung von Lektürepraktiken (Sarasin: Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft, 2001, S. 63-64). Des weiteren stellt sich die Frage nach Verbreitung und Grenzen von Diskursen, was nicht nur im Zusammenhang mit dem bereits angeschnittenen Problem der diskursiven Anschlußfahigkeit diskutiert werden muß, sondern auch die ganz materiellen Eigenschaften von Kommunikationsräumen betrifft. Methodisch gesprochen, handelt es sich hierbei um Probleme der Grenzziehung und des Geltungsbereichs (vgl. insbesondere Keller. Wissenssoziologische Diskursanalyse, 2001, S. 135-140), deren Diskussion letztlich von jeder historischen Quellenkritik eingefordert werden muß. 85

1.4 Quellengrundlage und Aufbau des Buches

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werden. 8 6 Und schließlich gilt es, in diesem Rahmen einen Diskursstrang über einen längeren Zeitraum hinweg zu verfolgen. 8 7

1.4 Quellengrundlage und Aufbau des Buches Ziel dieser Studie ist es, die Bedeutung der Straffalligenfürsorge für Erwachsene 8 8 für das neuzeitliche Besserungsdispositiv herauszuarbeiten. Dafür ist erstens zu klären, w o die Konzepte und Praktiken bestimmt werden und ob sich dieser Diskursraum im Laufe der Zeit verändert. Zweiten muß die Straffalligenfürsorge innerhalb des Gefangnisdiskurses positioniert werden. Dabei sollen drittens Entwicklungen in anderen kriminalpolitischen Bereichen parallel dazu betrachtet werden, um Widersprüchlichkeiten und Ungleichzeitigen des Strafens sichtbar machen zu können. Viertens schließlich sind andere für die Genese und Praxis der Straffalligenfürsorge relevante Kontexte außerhalb des eigentlichen Strafsystems zu erschließen. Neben allgemeinen gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenhängen spielen hier vor allem die Kirchen sowie die Entwicklung der Wohlfahrt eine Rolle. Die zentrale Diskursebene für die Straffälligenhilfe bilden die Fürsorgeorganisationen. Sie sind der institutionalisierte Ort, an dem über Fürsorgekonzeptionen und -praktiken gesprochen wurde. Als Quellengrundlage wurden hierfür archivalische Bestände von drei Fürsorgeinstitutionen ausgewählt: zunächst den Bestand der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschaft, die lange Zeit der bedeutendste deutsche Gefängnisverein war, für andere Vor-

86 Bei der methodischen und begrifflichen Differenzierung von Diskursen orientiert sich die Studie vor allem an den Vorschlägen von Siegfried Jäger und Reiner Keller: Jäger. Diskurs und Wissen, 2001 u. Keller. Wissenssoziologische Diskursanalyse, 2001. 87 Das Verhältnis zwischen diskursiv vermittelten Deutungs- bzw. Wissensmustern und der Handlungsebene sowie zwischen den verschiedenen Diskursebenen wird in der Literatur mitunter nicht ausreichend methodisch reflektiert. Peter Becker. Verderbnis und Entartung, 2002 etwa möchte die „Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis" greifen. Dieser Untertitel deutet an, daß er zwar zwischen Diskurs und Praxis unterscheidet, aber das Verhältnis der beiden Begriffe zueinander nicht explizit problematisiert. Statt dessen findet man die Unterscheidung zwischen dem Bereich der Praktiker und der Wissenschaft, wobei letzterer gegen Ende des 19. Jahrhunderts ersterem die Definitionsmacht abringe. Insofern unterscheidet er zwei Diskursebenen, die nicht weiter spezifiziert werden. Problematisch wird diese fehlende Reflexion, sobald er die Diskursebene der Praktiker nicht mehr konsequent über den gesamten Untersuchungszeitraum weiterverfolgt und sich mit dem Aufkommen der Kriminologie nur noch den wissenschaftlichen Debatten zuwendet. Der Prozeß der Verwissenschaftlichung, das heißt Verbreitung und Übernahme kriminalanthropologischer und -soziologischer Deutungsmuster, läßt sich so jedenfalls nicht nachvollziehen. 88

Die Fürsorge gegenüber jugendlichen Straftalligen wird hier weitgehend ausgeklammert, da sich dort im Hinblick auf die Fürsorgeeinrichtungen und den Vollzug mit der Zeit besondere Entwicklungen herausbildeten.

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1 Konzeption einer Geschichte der Straffalligenfürsorge

bildcharakter hatte und mit diesen auch in Kontakt stand sowie in den überregionalen Dachorganisationen auch eine fuhrende Rolle spielte.89 Außerdem war die Gefangnisgesellschaft in das weitverzweigte Netz von Interessenverbänden und Organisationen im Bereich des Strafvollzugs, der Kriminalpolitik und der allgemeinen Fürsorge gut eingebunden. Die Überlieferung ihrer Vereinsgeschichte kann als nahezu lückenlos bezeichnet werden. Neben den Vereinsakten und der eigenen Bibliothek sind auch die Jahresberichte der Gesellschaft überliefert, die seit ihrem Bestehen nahezu jährlich erschienen.90 Des weiteren wurden die relevanten Bestände der evangelischen Innere Mission sowie der katholischen Fürsorgevereine innerhalb der Caritas ausgewertet. Beide Verbände gewannen seit dem späten Kaiserreich auf dem Gebiet der Gefangenenfursorge an Bedeutung und versuchten jeweils, die Leitlinien überregional vorzugeben. Mitte der 1920er Jahre bildeten sich in beiden Verbänden feste Fachausschüsse heraus: die Evangelische Konferenz für Straffälligenpflege und die Katholische Reichsarbeitsgemeinschaft für Gerichtshilfe, Gefangenen- und Entlassenenfürsorge. Ebenso wie die Gefangnisvereine waren auch Caritas und Diakonie während der Weimarer Republik in der zentralen Dachorganisation, dem Deutschen Reichszusammenschluß für Gerichtshilfe, Gefangenen- und Entlassenenfürsorge, vertreten.91 Die säkularen Wohlfahrtsverbände und -vereine waren dagegen in der Gefangenenfürsorge lange Zeit unbedeutend und konnten überdies auf diesem Arbeitsgebiet keine lange Tradition vorweisen.92 Erst im Laufe der Weimarer Republik gewannen sie durch ihre Mitgliedschaft im Deutschen Reichs89 Obwohl es sich um einen regionalen Zusammenschluß handelte, geben die Vereinsakten auch Aufschluß über die Entwicklungen außerhalb des Rheinlands und Westfalens. Bei den überregionalen Organisationen handelt es sich um den Deutschen Hilfs verein für entlassene Gefangene, den Verband der Deutschen Schutzvereine und die zentrale Organisation in der Weimarer Republik, den Deutschen Reichsverband fur Gerichtshilfe, Gefangenen- und Entlassenenfürsorge. 90 Mit 663 Einzelakten und 719 Druckschriften befindet sich der Hauptbestand der Quellen im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStAD). Für die Anfange der RWGG sind daneben noch einige Quellen im Nachlaß ihres Gründungsmitglieds Theodor Fliedner in Kaiserswerth (Fliedner-Archiv) überliefert. Das ebenfalls in Kaiserswerth untergebrachte Archiv der Kaiserswerther Diakonie (AKD) besitzt darüber hinaus Akten zum ersten Asyl für entlassene weibliche Gefangene, das Fliedner im Rahmen der RWGG gründet hatte. 91 Im Archiv des Diakonischen Werkes der Evangelischen Deutschen Kirche (ADW) in Berlin wurden vor allem Akten aus dem Bestand des Centrai-Ausschusses für Innere Mission (Referat für Gefährdetenfürsorge und Straffälligenhilfe, Kommission zur Ausbildung von Gefangnisaufseherinnen) durchgesehen. Im Archiv des Deutschen Caritasverbandes (ADCV) in Freiburg stammt der größte Teil der relevanten Akten aus dem Bestand des Sozialdiensts Katholischer Frauen, der die Akten seiner Vorgängerorganisation, des Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder, enthält. Da diese Verbände aufgrund ihrer Funktion als nationale Dachorganisationen ausgewählt wurden, blieb ihre regionale Überlieferung weitgehend unberücksichtigt. 92

Eine Erklärung für ihre marginale Rolle liegt in der unangefochtenen Position der Anstaltsgeistlichen innerhalb der Straffalligenfürsorge.

1.4 Quellengrundlage und Aufbau des Buches

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zusammenschluß für Gerichtshilfe, Gefangenen- und Entlassenenfiirsorge größeres Gewicht. Ihre Positionen innerhalb des Reichszusammenschlusses konnten hier nur über die entsprechenden Akten der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschaft, der Inneren Mission und der Caritas sowie im offiziellen Organ, den Monatsblättern für Gerichtshilfe, Gefangenen- und Entlassenenfiirsorge, nachvollzogen werden. 93 Neben diesen organisationsbezogenen Quellen basiert die Studie auf einer Vielzahl von Publikationen zur Gefangenenfrage, die im Umfeld der Fürsorgevereine und von einzelnen Praktikern verfaßt wurden. Vor allem Strafanstaltsgeistliche veröffentlichten programmatische Schriften und verarbeiteten ihre Erinnerungen aus dem Gefangnisalltag und der Fürsorgepraxis. Der Charakter dieser Texte war höchst unterschiedlich: Er reichte von Beiträgen zur wissenschaftlichen und professionellen Diskussion über Werbe- und Informationstexte für die Tätigkeit der Vereine bis hin zu mahnenden Moralschriften und öffentlichen Stellungnahmen zu Kriminalitätsfragen. Die Texte gingen häufig über den engeren Bereich der Fürsorge und Seelsorge hinaus und diskutierten übergreifende gefángniskundliche und kriminalpolitische Fragen. 94 Besonderes Interesse gilt darüber hinaus den Strafanstaltsgeistlichen: Von ihnen stammten nicht nur die meisten Beiträge zum Fachdiskurs, sie koordinierten auch die Fürsorge und bestimmten in der Regel die Vereinspolitik. Ihre Position wird vordringlich unter dem Aspekt der Professionalisierung diskutiert - ein Prozeß, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachzuvollziehen ist.95 Zum einen geht es um ihre professionelle Identität als Beamte des Gefängniswesens und zum anderen um ihr Verhältnis zu den Kirchenbehörden. Hier interessieren weniger Gehalts- und Versorgungsregelungen, sondern vielmehr die Qualifikationen und die Deutungsmacht der Geistlichen. Hierzu ist besonders die kirchliche Überlieferung relevant. Die kirchlichen Behörden beanspruchten institutionelle Autorität gegenüber ih93

Eine besondere Bemerkung ist zu den parteinahen Gefangenenhilfsorganisationen zu machen. Die kommunistische Rote Hilfe war nicht Teil des Besserungsdispositivs, sondern entstand aus dem Gegendiskurs der Klassenjustiz heraus und bot in erster Linie Beistand fur die eigenen Parteigenossen, die infolge ihrer politischen Tätigkeit verhaftet worden waren (vgl. Hering: Rote Hilfe, 2003). Etwas anders liegt der Fall bei der Arbeiterwohlfahrt. Mit dem Aufbau einer eigenen Entlassenenhilfe beantragte sie 1930 die Aufnahme in den Reichszusammenschluß. Die Quellenlage zu den organisatorischen Anfängen der Arbeiterwohlfahrt in der Weimarer Republik ist allerdings insgesamt sehr schlecht. Zur StrafFälligenfürsorge sind vereinzelt Artikel in der Roten Fahne zu finden. Angesichts der relativ späten Mitwirkung der Arbeiterwohlfahrt in der Straffalligenfürsorge wird ihre Arbeit hier nur gestreift. 94

Einen Überblick über relevante Schriften geben Rassow. Bibliographie Gefängnisseelsorge, 1998; die Bibliographie von Huelke/Etzler. Verbrechen, Polizei, Prozesse, 1959 sowie das Verzeichnis der gesammelten Schriften der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschaft (HStAD, RW 1, Findbuch 420.01.2). 95

Zur Professionalisierung von Geistlichen vgl. Kuhlemann/Schmuhl: 2003.

Beruf und Religion,

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1 Konzeption einer Geschichte der Straffalligenfursorge

rem Personal, indem sie mit den staatlichen Stellen über Aufgaben und Anstellungsbedingungen der Strafanstaltsgeistlichen verhandelten und ihre Tätigkeit kontrollierten. Mit der Fürsorgearbeit der ihnen unterstehenden Geistlichen ergab sich fur die Kirchen außerdem ein legitimierter Anknüpfungspunkt, um ihre Positionen in die kriminalpolitischen Debatten einzubringen und damit zu versuchen, ihre religiös-moralische Deutungshoheit in der Gesellschaft zu wahren. Um diese Prozesse nachzuvollziehen, wurde Akten zu Strafanstaltsgeistlichen, konfessioneller Fürsorgetätigkeit und Erörterungen strafrechtlicher Fragen durchgesehen.96 Die kirchlichen Bestände enthalten darüber hinaus aufschlußreiche Berichte der Gefängnisseelsorger. Während die staatlichen Behörden im Laufe des 19. Jahrhunderts durch Haus- und Dienstordnungen die Seelsorge und die damit verbundenen Aufgaben und Pflichten der Geistlichen für das Gefangniswesens definierten, blieben Fragen der Fürsorge außerhalb der Gefangnismauern bis weit ins Kaiserreich hinein von staatlichen Steuerungsansprüchen ausgespart. Die Behördenakten geben daher für die ersten Jahrzehnte lediglich Aufschluß über die Seelsorgeorganisation und die Verhandlungen mit den Gefangnisvereinen.97 Im Zuge der anhaltenden Reformdiskussionen zu Strafrecht und Strafvollzug, die sich bis in die Weimarer Republik fortsetzten, finden sich immer wieder auch in den parlamentarischen Protokollen des Reichstags relevante Diskussionen. Fragen der Straffalligenfursorge wurden hier jedoch kaum angesprochen, besser lassen sich die Eingaben der Fürsorgeorganisationen zu kriminalpolitischen Themen verfolgen.98 In zunehmendem Maße nahm die Öffentlichkeit Anteil an den Reformdebatten, so daß diese Diskursebene infolge der „Fundamentalpolitisierung"99 im Kaiserreich nicht mehr zu vernachlässigen ist. Die Straffälligenhilfe blieb von der öffentlichen Kritik am deutschen Strafvollzug, wie sie in Streitschriften und in der Presseberichterstattung geäußert wurde, nicht verschont.100 Dieser Interdiskurs hinterließ auch seine 96

In der Überlieferung des katholischen Erzbistums Köln (Archiv des Erzbistums Köln/AEK) und des Bistums Aachen (Bischöfliches Diözesansarchiv Aachen/BDA) konnten einige Akten zum Thema Gefangenenfursorge und Strafanstaltsgeistliche gefunden werden. Das Archiv des Bistums Münster besitzt aufgrund eines Bombenangriffes 1943 dagegen gar keine entsprechenden Akten aus dieser frühen Zeit. Insgesamt gesehen stellt sich die Quellenlage für die evangelische Seite als weitaus günstiger dar. Zwar ist die Überlieferung der evangelischen Landeskirche (Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland/AEKR) aufgrund kriegsbedingter Verluste eher spärlich. Doch in den Beständen des 1850 in Preußen eingerichteten Oberkirchenrates und seiner Nachfolgeorganisationen, die sich im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin (EZA) befinden, ließ sich umfangreiches Material finden. 97

GStAPK (Berlin), BArch (Berlin), LHK (Koblenz) und H St AD (Düsseldorf). In den Akten der RWGG lassen sich die relevanten Verhandlungen im Reichstag nachvollziehen. 99 Ollmanw. Kaiserreich, 1995, Kapitel III.4. 100 In den verschiedenen Aktenbeständen stößt man immer wieder auf Zeitungsausschnitte zur Gefangenenfursorge. Außerdem wurden die Bände zum Thema Gefängnis und 98

1.4 Quellengrundlage und Aufbau des Buches

33

Spuren im „Spezialdiskurs" der Fürsorge. Hier meldeten sich mitunter die Disziplinierungsobjekte selbst zu Wort, von einem Gegendiskurs kann jedoch nur begrenzt gesprochen werden. 101 Als letzten wichtigen Kontext bearbeitet die Studie die wissenschaftlichen Debatten über Strafrecht, Strafvollzug und Verbrechensursachen. Zunächst geht es um gefängniskundliche Schriften, in den 1880er Jahren weitet sich das Forum auf Kriminologie und Strafrechtswissenschaft aus. 102 Von Interesse ist hier zum einen, inwieweit diese Foren auf Probleme der Straffalligenfursorge eingingen. Zum anderen gilt es, den Einfluß gefängniskundlicher Konzepte, kriminologischer Verbrechensbilder sowie wissenschaftlicher Methoden und Repräsentationsformen auf die Straffalligenfursorge zu bemessen. Es muß also untersucht werden, inwiefern und unter welchen Bedingungen auch bei der Straffälligenhilfe von einer „Verwissenschaftlichung des Sozialen" gesprochen werden kann. 103 Für den Aufbau des Buches gibt das Interpretationsmodell des Dispositivs als eines Sets von Deutungsmustern, Konzepten, Institutionen, Maßnahmen und Praktiken die Grundstruktur vor. Weitere Gliederungskriterien ergeben sich aus dem Ziel, Veränderungen innerhalb der Straffalligenfursorge sowie insbesondere diskursive Problemverarbeitungsstrategien transparent zu machen. Der Text untergliedert sich daher in drei chronologische Phasen. Der erste Großabschnitt (Kapitel 2) deckt den Zeitraum vom Ende des 18. Jahrhunderts bis Anfang der 1860er Jahre ab und behandelt die Anfänge der Straffalligenfursorge. In dieser Phase wurden zentrale Konzepte, Organisationsformen und Besserungspraktiken entwickelt und etabliert. Den Startpunkt setzte die 1777 erschienene und für die internationale Gefangnisreform zentrale Schrift von John Howard, The State of the Prisons, die auch im deutschsprachigen Raum die Debatten anstieß und erste Strategien der moralischen Besserung vorschlug. Das Ende dieser ersten, traditionsbildenden Phase markierte 1861 die parlamentarische Absage an das Berliner Reformprojekt unter Führung Wicherns, mit der nicht nur die experimentelle Phase der Gefangnisreform endete, sondern auch gegenüber religiösen Besserungsstrategien im Strafvollzug eine klare Grenze gezogen wurde. Das dritte Kapitel verfolgt als zweiten Zeitabschnitt die Geschichte der Straffalligenfursorge bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918/1919. Charakteristisch ist für diese Phase die Reorganisation der Gefängnis- und EntlasseStrafvollzug aus dem Pressearchiv des Reichslandbundes im Bundesarchiv (Zweigstellte Berlin-Lichterfelde/BArch) ausgewertet. 101 Die Verfasser dieser Texte sind nicht repräsentativ für die Sozialstruktur der Gefangenen. In der Regel handelte es sich um politische Häftlinge, meist Intellektuelle, die ihre eigenen Erfahrungen in den Strafanstalten verarbeiteten, den Besserungsvollzug jedoch nur selten einer Radikalkritik unterzogen. 102 Die entsprechenden Textkorpora sind bereits weitgehend erschlossen, wurden hier jedoch unter einer anderen Fragestellung befragt. 103 Raphael: Verwissenschaftlichung des Sozialen, 1996.

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1 Konzeption einer Geschichte der Straffalligenfursorge

nenfürsorgevereine, in der die Vereinskrise der 1850er Jahre langsam überwunden und das Organisationsnetz bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ausgedehnt wurde. Im Kaiserreich erlebten die großen Gefangnisgesellschaften ihre Hochzeit, zugleich bedeuteten die Strafrechtsreformbewegung und das Aufkommen neuer kriminologischer Erklärungsansätze eine erneute Herausforderung. Anders als fur andere Fürsorgebereiche stellte der Ausbruch des Ersten Weltkriegs für den speziellen Bereich der Straffalligenfursorge keine zentrale Zäsur dar, die Neuerungen auf der Ebene der Maßnahmen gebracht hätte. Revolution und Inflation nach Kriegsende ließen dagegen die Straffalligenfursorge vorerst zum Erliegen kommen. In der vergleichsweise kurzen Zeit der Weimarer Republik, der Kapitel 4 gewidmet ist, lassen sich abschließend Kontinuitäten und Brüche diskutieren. Die im Kaiserreich begonnen Gefängnis- und Strafrechtsreformdebatten setzten sich - wenn auch unter anderen politischen Vorzeichen - fort. Mit dem Ausbau des Sozialstaates änderten sich allerdings die allgemeinen Bedingungen für die Wohlfahrt. Der Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft bedeutete dann eine radikale Abkehr vom Besserungsvollzug, womit für die Geschichte der Straffalligenfursorge ein entscheidender Wendepunkt erreicht ist. Viele der vorausgegangen Reformen in der Rechtsprechung und im Strafvollzug wurden in den folgenden Jahren rückgängig gemacht und die Vereinslandschaft mehrheitlich „gleichgeschaltet". Die Struktur innerhalb der chronologischen Kapitel orientiert sich an den verschiedenen Elementen des Besserungsdispositivs. In den jeweils ersten Unterabschnitten werden die allgemeinen Entwicklungen im Strafvollzug dargestellt. Neben den Gefängnisdebatten als wichtigstem Bezugspunkt für die Straffalligenfursorge finden hier auch andere relevante Aspekte der Strafgeschichte ihre Erwähnung. Der zweite Unterabschnitt der Kapitel wendet sich der organisatorischen Formierung der Straffalligenfürsorge zu, wobei das Verhältnis zu anderen Experten sowie zu den Behörden und die Einordnung in die Fürsorgelandschaft zu diskutieren ist. Schließlich wird hier die Infrastruktur der Vereine nachgezeichnet. Die dritten Unterabschnitte sind dann jeweils den Kriminalitätsdeutungen und Verbrecherbildern gewidmet. 104 Hier geht es um Besonderheiten in bezug auf das Besserungsdispositiv und Unterschiede zu anderen Kriminalitätsdefinitionen. Des weiteren wird der Frage nachgegangen, in welcher Weise allgemeine Kategorien wie etwa Geschlecht oder soziale Differenz verhandelt wurden. Die diskursive Praxis, das heißt die angewandten Objektivierungsstrategien und Darstellungsformen, spielt dabei eine wichtige Rolle. Die vierten Unterabschnitte stellen jeweils die moralischen Besserungspraktiken und entsprechende Neuerungen vor. Dabei stehen zum einen die Seelsorge-

104 Dieser Abschnitt ist im Ausblick auf die Weimarer Zeit ausgespart, da sich hier im Vergleich zum Kaiserreich wenig veränderte.

1.4 Quellengrundlage und Aufbau des Buches

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Strategien innerhalb der Strafanstalt und zum anderen die Maßnahmen der nachgehenden Fürsorge außerhalb des Gefängnisses im Mittelpunkt. 105 Die fünften Unterabschnitte der Kapitel konzentrieren sich schließlich auf die diskursive Problemverarbeitung in der Straffalligenfürsorge. 106 Welche Anpassungserfordernisse gab es bei der Konzeption der moralischen Besserungsstrategien zu bewältigen, damit sie sich in den staatlichen Besserungsvollzug einpassen konnten? Außerdem werden Korrekturen herausgestellt, die entweder auf diskurs-internen Lösungsbedarf oder auf Veränderungen im Diskursumfeld zurückzuführen sind, um die Veränderungen in der Gefangenenund Entlassenenfürsorge kenntlich zu machen. Im Zentrum dieser Abschnitte steht also die empirische Einlösung der theoretischen Modifikationen, die den für diese Studie entwickelten Ansatz von bisherigen Diskursanalysen unterscheiden. In Kapitel 5 werden schließlich die Ergebnisse der Studie zusammengefaßt. Dieses Resümee bricht die chronologische Untergliederung auf, um die Entwicklung der einzelnen Elemente des Besserungsdispositivs über den ganzen Untersuchungszeitraum hinweg nachvollziehen zu können.

105 Für die Weimarer Zeit werden Seelsorge und zwei neue Aufgaben, die Schutzaufsicht sowie die Gerichtshilfe für Erwachsene, in gesonderten Abschnitten behandelt. 106 Da sich für die relativ kurze Zeit der Weimarer Republik lediglich einige Anzeichen fur neue Probleme und Konfliktlinien erkennen lassen, erübrigte sich für das vierte Kapitel ein entsprechender Unterabschnitt.

2 Die Anfänge der Straffalligenfìirsorge (1777-1861) 2.1 Die Erfindung der Besserungsstrafe Anfänge des Gefängniswesens Die Geschichte der StrafFälligenfursorge ist Teil der Geschichte des modernen Strafvollzugs. Sie kann nicht erzählt werden, ohne auf die konzeptionelle und institutionelle Entwicklung des Gefangniswesens Bezug zu nehmen. Seit Ende des 18. Jahrhunderts löste der Freiheitsentzug zunehmend körperliche Strafen als dominante Strafform ab, was auch eine breite Diskussion über die ideale Gestaltung des Strafvollzugs auslöste. Diese Reformdebatten wurzelten in religiös-philanthropisch motivierten Vorschlägen aus einer anstaltskritischen und pädagogischen Literatur, die mit ihrer Forderung, den Freiheitsentzug auf eine moralische Besserung der inhaftierten Delinquenten auszurichten, das Fundament fur die Straffalligenfürsorge legten. Die historische Forschung zum neuzeitlichen Strafvollzug fragte bisher vorrangig nach den Ursprüngen des modernen Gefangniswesens sowie der ihm zugrundegelegten gesellschaftlichen Funktionszuweisung. Die lange vom Glauben an den zivilisatorischen Fortschritt gestützte Vorstellung von der Geburt des Gefängnisses aus dem Schöße aufklärerischer Humanitätsund Gerechtigkeitsideale wurde inzwischen revidiert. Dabei machte die revisionistische Gefängnishistoriographie deutlich, daß sich die Geschichte des modernen Strafvollzugs nicht auf eine Entwicklungslinie des neuzeitlichen Strafrechts reduzieren läßt, da die Anfange des Gefangniswesens wesentlich weiter zurückreichen als die der Freiheitsstrafe selbst. Funktion und Organisation der Strafanstalten lassen sich nur teilweise aus den strafrechtlichen Bestimmungen ableiten, denn die Debatten über die Gefangnisreform entwickelten sich relativ unabhängig von denen des Strafrechts.' Das Interesse der deutschen Strafrechtswissenschaft am Strafvollzug wuchs zwar seit Mitte des 19. Jahrhunderts, beschränkte sich jedoch auf einzelne Aspekte wie die Begründung des Strafzwecks. 2 Aufgrund dieser fehlenden diskursiven Verknüpfung waren auch die Strafgesetzbücher kaum auf die Ziele des Vollzugs abgestimmt. Das strafrechtliche Prinzip der gerechten Tatvergeltung konkurrierte mit dem gefängniskundlichen Besserungskonzept, das vorrangig auf individuelle Prävention abzielte. Ungleichzeitigkeit und Differenz prägten somit das Verhältnis von Strafrecht und Gefangniswesen. Dies zeigte sich 1 Vgl. Roth: Pratiques pénitentiaires, 1981, S. 11 u. Nutz: Strafrechtsphilosophie und Gefängniskunde, 2000. 2 Vgl. Blühdorn: Gefangniswissenschaften, 1964, S. 1-5.

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2 Die Anfange der Straffalligenfürsorge (1777-1861)

auch in dem lange währenden Dualismus von Innen- und Justizministerium bei der Verwaltung der Strafanstalten in Preußen, der späten Verrechtlichung des Strafanstaltswesens 3 sowie der bis heute fehlenden Verankerung des Themas Strafvollzug im juristischen Studium in Deutschland. 4 Das Vordringen der Freiheitsstrafe gestaltete sich regional sehr unterschiedlich und zog sich teilweise bis zur Revolution 1848 hin. Das Allgemeine Landrecht für Preußen von 1794 räumte mit Einsperrung verbundenen Strafen Vorrang ein, und auch der Code pénal von 1791, der im preußischen Rheinland bis zur Einführung eines neuen preußischen Strafgesetzbuches im Jahre 1851 grundsätzlich galt, ersetzte peinliche (körperliche) und infame (entehrende) Strafen weitgehend. Damit wiesen zwei der großen, auf der Naturrechtsphilosophie basierenden Kodifikationen schon frühzeitig der Freiheitsstrafe zentrale Bedeutung zu. Lange Zeit galt dies als Ergebnis aufklärerischer Justizkritik, in der prominente Vertreter wie Voltaire oder der Italiener Cesare Beccaria mit seiner Schrift Dei delitti e delle pene (1764) Folter und Todesstrafe angeprangert hatten. 5 Doch die Ausbildung eines neuen Strafparadigmas war weitaus vielschichtiger als das Zusammentreffen des naturrechtlichen Prinzips, Recht und Moral zu trennen, mit der im Zeichen von Humanität vertretenen Kritik an den peinlichen Strafen. Die Vertrauenskrise der Justiz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist Ausdruck eines Legitimitätsverlusts des absolutistischen Gewaltmonopols und Teil der Krise des Ancien Régime. Die auf Abschreckung abzielende Strafpraxis verurteilten Aufklärer nicht nur als ungerecht und despotisch, sondern auch als zu ineffizient. Die naturrechtliche Abkehr von einem theokratischen Staatsverständnis und damit vom religiös motivierten Vergeltungsgedanken ebnete den Weg dafür, daß sich der Strafdiskurs am Zweckgedanken orientierte. Gestützt auf „die Krücke der Vertragsmetapher" 6 wurde eine neue Legitimationsbasis geschaffen und zugleich der Grundstein für eine moderne, primär auf Prävention ausgerichtete Kriminalpolitik gelegt. Effizienz statt Strafmilderung - so bewertet die Forschung inzwischen die eigentliche Stoßrichtung der aufklärerischen Debatten über die staatliche Strafgewalt. 7 Nun erklärt dieser Perspektivwechsel noch nicht hinreichend, daß der Freiheitsentzug zum Königsweg einer neuen rationalen Strafpolitik erklärt wurde. Noch in den 1790er Jahren stand eine grundsätzliche Debatte darüber, ob und wie die Freiheitsstrafe eingeführt werden sollte, aus. Eine weitere notwendige Bedingung dafür, daß sich die Gefängnisstrafe als Alternative durchsetzen 3

Zur Diskussion um ein Strafvollzugsgesetz ab den 1860er Jahren siehe Abschnitt 3.1 und 4.1. 4 Vgl. Blühdorn: Gefängniswissenschaften, 1964, S. 7-9. 5 Vgl. etwa Schmidt. Zuchthäuser, 1960, S. 10 oder auch noch Finzsch: Ökonomie des Strafens, 1990, S. 188. 6 Ludi: Fabrikation des Verbrechens, 1999, S. 277. 7 Siehe Foucault: Überwachen und Strafen, 1994, bes. S. 101 und zuletzt Ludi: Fabrikation des Verbrechens, 1999, S. 41-230.

2.1 Die Erfindung der Besserungsstrafe

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konnte, stellte der zunehmende Akzeptanzverlust der öffentlichen Strafinszenierungen dar. Wiederholt kam es im 18. Jahrhundert bei Hinrichtungen zu Tumulten: Mitleid mit den Verurteilten und deren Heroisierung konterkarierten das Abschreckungsziel. In den dabei aufkommenden „Schafott-Diskursen" 8 läßt sich neben der bereits erwähnten aufklärerischen Kritik auch die Forderung finden, die Strafen nicht mehr öffentlich zu vollziehen. Noch bevor konkrete Vollzugskonzepte verhandelt wurden, stellte der Wunsch, die Strafe hinter dicke Mauern zu verbannen, eine entscheidende Weiche für den Übergang zum Freiheitsentzug. Im Gegensatz zum „Fest der Martern" 9 mit seinen Ritualen und Symbolen sollten sich die Gefängnismauern zu einem neuen, sachlichen Zeichen der Abschreckung entwickeln, was in der Forschung in erster Linie als Konsequenz eines langfristigen Mentalitätswandel hin zur Empfindsamkeit gedeutet wurde. 10 Die nach wie vor bekannteste Interpretation, die Disziplinierungsthese, stellt die Geburt des Gefängnisses jedoch in den Kontext eines noch viel weitreichenderen gesellschaftlichen Wandels. Für ihren prominentesten Vertreter, Michel Foucault, ist der Siegeszug des Gefängnisses nicht allein Folge veränderter Rechtstheorien und Strafvorstellungen. Er versteht die neue Ökonomie des Strafens, wie sie im Gefangniswesen durch Korrektur- und Überwachungstechnologien umgesetzt wurde, vielmehr als Ausdruck einer neuen „politischen Anatomie". 11 Umfassende Regulierungs- und Wissenstechnologien hätten das punktuelle Schauspiel der Herrschaftsmanifestation abgelöst. Moderne Disziplinargeseilschaften seien von einem vielgliedrigen Kerkersystem durchzogen, in dem das Gefängnis neben Asylen, Militär und Schule lediglich dessen „Archipel" bilde. 12 Die Wurzeln des Gefängnisses als Disziplinierungsanstalt finden sich bereits in den frühneuzeitlichen Zucht- und Arbeitshäusern, die seit Mitte des 16. Jahrhunderts in europäischen Städten entstanden. 13 Sie waren ursprünglich nicht dazu gedacht, verurteilte Delinquenten zu inhaftieren, sondern zunächst vor allem für „Vagabunden" und Bettler vorgesehen. Die Anstalten waren das Produkt eines sich seit dem Spätmittelalter wandelnden Armutsverständnisses und einer damit einhergehenden veränderten Fürsorgepraxis. 14 Zu den sogenannten Müßiggängern kamen nach und nach „ungezogene" Kinder oder von ihren Familien abgeschobene, unerwünschte Personen, Prostituierte, Geisteskranke und Waisen hinzu. Diese geschlossenen Einrichtungen entwickelten sich zu einem Universalmittel für den Umgang mit Devianz und β

Foucault: Überwachen und Strafen, 1994, S. 85. Foucault·. Überwachen und Strafen, 1994, S. 18. 10 Neben Foucault siehe auch Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 49-65. " Foucault·. Überwachen und Strafen, 1994, S. 40. 12 Vor allem Foucault: Überwachen und Strafen, 1994, S. 380-395. 13 Entsprechende Bezüge finden sich bereits in den frühen Gefangnisschriften: Wächter: Zuchthäuser, 1786, S. 17-37. 14 Vgl. bereits Sellin: Pioneering in Penology, 1944, S. 9-22. 9

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2 Die Anfange der Straffalligenfürsorge ( 1777-1861 )

gesellschaftlichen Minderheiten; die französische Bezeichnung „hôpital général" brachte dies am besten zum Ausdruck. 15 Die Verbindung dieser Anstalten zum neuzeitlichen Gefängnis liegt erstens darin, daß die Zuchthäuser die Insassen insbesondere durch Arbeit umerziehen und disziplinieren sollten. Zweitens waren beide durch ihre Abgeschlossenheit bestimmt - nach außen gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt und nach innen durch ihre institutionelle Eigenlogik. Erving Goffman, ein Vertreter der anstaltskritischen Forschung, prägte dafür das Schlagwort der „totalen Institution". 16 Demgegenüber bildete der klassische Kerker keine Traditionslinie, da er lediglich dazu diente, die Angeklagten bis zum Gerichtsverfahren oder bis zur eigentlichen Strafvollstreckung zu sichern. Haftstrafen im eigentlichen Sinne gab es bis zum Ende des 18. Jahrhundert kaum. 17 Obwohl sich im 18. Jahrhunderts zunehmend auch Diebe unter den Insassen befanden, führte der Weg von den frühneuzeitlichen Zuchthäusern nicht geradewegs zum Gefängnis. 18 Einige Anstalten schlossen bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus finanziellen Gründen wieder, und bei anderen geriet das Besserungsziel aus dem Blick, so daß sie lediglich verwahrten und damit auf die ältere Funktion, Randgruppen von der Gesellschaft zu separieren, zurückfielen. 19 Den aufklärerischen Justizkritikern erschien das Zuchthaus der Armenfürsorge angesichts der miserablen hygienischen Zustände und der fehlenden Spezifikation nicht gerade als Erfolgsmodell, das auf die Kriminalstrafe übertragen werden sollte. Das Anstaltswesen spezialisierte sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts zusehends; allein das neuzeitliche Arbeitshaus als Zwangsinstrument der Fürsorgepolitik behielt durch den Vollzug der „korrektioneilen Nachhaft" bis weit ins 20. Jahrhundert einen strafrechtlichen Charakter bei. 20

15 Vgl. Foucault: Wahnsinn, 1973, S. 71-75; Spierenburg: Carcéral Institutions, 1984; Ignatieff: Measure of Pain, 1978, S. 29-32 u. Dreyfus/Rabinow: Foucault, 1987, S. 28-29. 1 Goffman: Asyle, 1973. In der Geschichtswissenschaft wurden Aspekte der Hospitalisierung häufig im Anschluß an Michel Foucault diskutiert, etwa bei Spierenburg: Carcerai Institutions, 1984. David Rothman nimmt auf beide Bezug (Rothman: Discovery of the Asylum, 1990, siehe v.a. S. X V - X V I u. XXV). 17 Vgl. Spierenburg: Sociogenesis of Confinement, 1984, S. 10-11; Forrer: Freiheitsstrafe, 1975, S. 19-20 u. die Beiträge in: Ammerer u.a.: Gefängnis, 2003. 18 Seit Ende des 17. Jahrhunderts findet man in Preußen die Zwangsarbeitsstrafe fur rückfällig gewordene Diebe, die in Festungen oder Zuchthäusern vollstreckt wurde (Forrer: Freiheitsstrafe, 1975, S. 27). 19 Vgl. Spierenburg: Sociogenesis of Confinement, 1984, S. 27 u. Forrer: Freiheitsstrafe, 1975, S. 90-93. 20 Die strafrechtliche Arbeitshausunterbringung war nach dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten zunächst für Prostituierte und Diebe vorgesehen. Mit dem „Gesetz über die Bestrafung der Landstreicher, Bettler und Arbeitsscheuen" von 1843 wurde die Maßnahme auf weitere Gruppen ausgedehnt. In der Bundesrepublik Deutschland verschwand diese eigentümliche Haftform erst 1969 endgültig aus dem Strafgesetzbuch. Zu Deutschland vgl. Ayaß: Die „korrektionelle Nachhaft", 1993.

2.1 Die Erfindung der Besserungsstrafe

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Im Klima eines universalen bürgerlichen Reformwillens machten Gelehrte und religiös motivierte Philanthropen Ende des 18. Jahrhunderts erstmals auf die schlechten hygienischen Bedingungen und die Verbreitung von „Kerker-" beziehungsweise „Hospitalfieber", das korrupte Personal sowie auf die geistige und moralische Depravation der Insassen aufmerksam. In den Bildern von Ansteckung und Fäulnis verschränkten sich in den Reformschriften hygienisch-medizinische Argumente mit moralischen Ängsten der Sittenverderbnis. 21 Zur zentralen Figur dieser Anstaltskritik wurde der Engländer John Howard, der seit 1774 wiederholt ganz Europa bereiste, um die Mißstände in Hospitalen, Gefangnissen und anderen geschlossenen Einrichtungen festzuhalten. Als Vertreter eines religiös orientierten Philanthropismus veröffentlichte er 1777 die vielbeachtete Schrift „The State of the Prisons", 22 die ihn zu einer „europäischen Berühmtheit" machte. 23 Die Kritik Howards und anderer kam keiner Bankrotterklärung des Anstaltswesens gleich. Vielmehr war sie geprägt vom Glauben, die organisatorischen Fehlerquellen aufdecken und durch Reformen beseitigen zu können. Einen zentralen Aspekt der Reformvorschläge bildete die Klassifizierung der heterogenen Anstaltsbevölkerung. Erst die Aussicht auf Reform des Anstaltswesens ebnete den Weg dafür, daß nun erstmals über den Freiheitsentzug als Strafform nachgedacht wurde, während er in der aufklärerischen Straf- und Justizkritik selbst noch keine Rolle spielte. 24 Seit den 1790er Jahren griffen Anstaltskritik und aufklärerische Strafrechts- und Strafzwecktheorien langsam ineinander, zum Beispiel in den Schriften des Hallischen Zuchthausgeistlichen Heinrich Balthasar Wagnitz, der unter Rückgriff auf Howard ein idealtypisches Zuchthaus konzipierte und die Zuchthausstrafe als zweckmäßigste Kriminalstrafe betrachtete. 25 In der Pädagogik hat die Forschung einen weiteren Diskursstrang identifiziert, der die Genese des modernen Strafvollzugs entscheidend prägte. 26 Seit Ende des 18. Jahrhunderts übertrugen namhafte Pädagogen wie Johann Heinrich Pestalozzi ihre Konzepte auf die Behandlung von Straffälligen und

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Vgl. Ignatieff: Measure of Pain, 1978, S. 3 2 ^ 3 u. 61-62. Howard: State of the Prisons, 1777. 23 Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 25. Zu Howards Beitrag zur Anstaltskritik siehe bereits Ignatieff: Measure of Pain, 1978, S. 47-71. 24 Zum späten Auftauchen des Begriffs Freiheitsstrafe siehe Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 34 u. 63. Eine diskursive Verknüpfung zwischen Anstalts- und Justizkritik fehlte zuvor fast völlig. Obwohl die Schriften von Beccaria und Voltaire natürlich auch in England bekannt waren, stellten sie fiir die Reformbeiträge von Howard und den anderen Anstaltskritikern keinen Bezug dar. Vgl. Eriksson: Reformers, 1976, S. 39. 25 Wagnitz: Moralische Verbesserung, 1787; Wagnitz: Historische Nachrichten, 1791-1794 u. Wagnitz: Ideen und Pläne, 1803. Zur Person und den Reformschriften vgl. ausfuhrlicher, aber leider sehr deskriptiv Schidorowitz: Wagnitz, 2000. 26 Vgl. Dreßen: Die pädagogische Maschine, 1982 u. Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 69-98. 22

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2 Die Anfange der Straffalligenfürsorge (1777-1861)

arbeiteten Vorschläge zur Gefängnisstrafe aus. 27 Anstaltsprojekte für schwererziehbare Kinder und Jugendliche bildeten auch noch in den folgenden Jahrzehnten einen wichtigen Schnittpunkt zur Gefängnisreform. 28 Die Vorstellung vom unergründbaren Bösen wich dabei einem Kriminalitätsverständnis, bei dem Erziehungsdefizite für Verbrechen verantwortlich gemacht wurde. Um die Jahrhundertwende zeichneten sich bereits erste Ansätze eines „pädagogischen Strafvollzugs" ab, die sich vorrangig im Rahmen eines religiös motivierten Philanthropismus entwickelten. 29 Die ersten Erfahrungen mit Erziehungskonzepten wurden in Nordamerika gemacht, wo die entscheidenden Impulse aus dem Kreis pennsylvanischer Quäker kamen. Der politisch und sozial engagierte Arzt Benjamin Rush griff Vorschläge aus der anstaltskritischen und pädagogischen Literatur auf und wandte sie seit den 1790er Jahren im Gefängnis Walnut Street in Philadelphia an. Die Einzelunterbringung der Gefangenen sollte eine intensive Erziehungsarbeit ermöglichen, die mit einem internen System von Belohnung und Bestrafung operierte. Die Ergebnisse seiner Modellanstalt wurden vor allem in Europa gespannt verfolgt, denn dort engagierten sich neben Philanthropen inzwischen auch leitende Beamte für die Reform der Haftanstalten, wie sich an den Vorschlägen des preußischen Beamten Justus Gruner zum Strafvollzug sehr gut nachvollziehen läßt.30 Gleichförmigkeit der Verwaltung sowie Effizienz in finanzieller und überwachungstechnischer Hinsicht galten nun als wichtige Kriterien für eine Reform. Neben Gruner verdeutlicht diese vor allem die Schrift des preußischen Staatsministers Albrecht Heinrich von Arnim, Bruchstücke über Verbrechen und Strafen (1801). 31

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Pestalozzi: Gutachten über die Kriminalgesetzgebung, 1901 u. Zeller. Grundriß der Strafanstalt, 1824. 28 Dies läßt sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konkret an Personen wie Johann Hinrich Wichern oder Adalbert von der Recke-Volmerstein festmachen. Der evangelische Theologe Wichern hatte zunächst eine Erziehungsanstalt, das Rauhe Haus bei Hamburg, gegründet, bevor er später Referent für Gefangniswesen im preußischen Innenministerium wurde. Recke-Volmerstein begann mit der Seelsorgearbeit in Gefangnissen und gründete dann 1822 in Düsselthal ein „Rettungshaus" für straffällig gewordene Kinder. Zur europäischen Geschichte der Rettungshäuser und Erziehungsanstalten vgl. insgesamt Dekker. The Will to Change the Child, 2001. 29 Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 39. Auf diese pädagogischen Wurzeln nahmen in den 1970er Jahren Reformer Bezug, die sich fur einen auf Resozialisierung ausgerichteten Strafvollzug einsetzten (Krebs: Von den Anfangen des Progressivsystems, 1978 u. Krebs: Pestalozzi, 1978). 30 Die „Darstellung der Veränderung und des gegenwärtigen Zustandes der Strafgesetze Pennsylvanien's. Zugleich eine Beschreibung des Gefängnis- und Zuchthauses von Philadelphia und dessen innerer Einrichtung enthaltend" von Caleb Lownes ist in einer Übersetzung an Gruners Ausführungen angehängt. Vgl. Gruner. Versuch über Strafen, 1799. Zur Rezeption des amerikanischen Modells in Europa vgl. ausführlicher Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 39-45. 31 Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, 1801/1803.

2.1 Die Erfindung der Besserungsstrafe

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Obwohl also bereits vor 1800 einzelne Gesetzbücher Strafen vorsahen, die in Gefangnissen oder Zuchthäusern vollstreckt wurden, etablierte sich erst um die Jahrhundertwende ein Konzept, das darauf abzielte, die Straffälligen zu „bessern". Die Gefängnisstrafe sollte effizient und so organisiert sein, daß der Gesundheitszustand der Gefangenen nicht litt und eine spätere Wiedereingliederung in die Gesellschaft behindern könnte. Aus den medizinischen, religiös-philanthropischen und pädagogischen Begründungszusammenhängen der Gefängnisreform war eine gegenüber dem damals herrschenden Rechtsverständnis abweichende Definition des Strafzwecks hervorgegangenen. Das strafrechtliche Vergeltungsprinzip konfligierte prinzipiell mit den Besserungszielen der Gefängnisreformer, doch wegen des mangelnden Interesses der Strafrechtler an der Gefangnisfrage gab es keinen Einspruch von dieser Seite. Die Napoleonischen Kriege verhinderten allerdings erst einmal, daß in Europa die Reformvorschläge direkt umgesetzt wurden. In den deutschen Staaten wurden die Debatten erst in den 1820er Jahren wieder aufgenommen. Bürgerliche Experten und staatliche

Reformpolitik

Den englischen Philanthropen John Howard sahen Gefängnisreformer und Fürsorgevertreter verschiedener Generationen als „Bahnbrecher" des modernen Strafvollzugs, 32 der als „nimmer ruhendes Gewissen seiner Zeit" eine zentrale Rolle für die humanitäre Argumentationstradition innerhalb der Gefängnisreform spielte. 33 Er prägte vor allem durch seine systematischen, statistisch fundierten Berichte die wenige Jahrzehnte später folgenden Gefängnisdebatten, 34 ohne daß er selbst den Transfer zum Strafvollzug leistete. Als Sheriff von Bedford war er auf die Mißstände in den Gefängnissen seiner Region aufmerksam geworden, wobei seine Anteilnahme zunächst den Schuldnern und Untersuchungsgefangenen galt, die eine gesundheitliche, durch willkürlich erhobene Gebühren eine finanzielle und schließlich durch Stumpfsinn sowie Alkoholkonsum und Glücksspiel eine „moralische Schädigung" erlitten. 35 Bei Reisen durch Europa sammelte Howard zwischen 1778 und 1783 erneut Material für eine Reform der englischen Anstalten. Seine Berichte orientierten sich an einem festen Kriterienkatalog und umfaßten alle Bereiche des Anstaltslebens: von der Ernährung und Behandlung der Gefangenen über die Arbeit und religiöse Betreuung der Insassen bis hin zu Fragen des Personal32

Muntau·. Strafvollzug und Gefangenenfürsorge, 1961, S. 12. Krebs: Von den Anfängen des Progressivsystems, 1978, S. 36. 34 Vgl. Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 30-31. 35 Die Gefangnisse waren Angelegenheit der Kommunen. Sie wurden meist von Verwaltern geführt, die ihre Einkünfte vor allem durch Gebühren bestritten, welche die Insassen bei der Ankunft, fur Essen oder zu sonstigen Gelegenheiten zu zahlen hatten. Die meisten Verwalter besaßen außerdem eine Lizenz zum Ausschank alkoholischer Getränke (Howard: State of the Prisons, Bd. 1, 1777, S. 1-34). 33

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2 Die Anfänge der Straffálligenfürsorge (1777-1861)

wesens und der Verwaltungsökonomie der Häuser. Grundriß- und Detailzeichnungen einiger ausgewählter europäischer Anstaltsbauten sollten darüber hinaus einen Eindruck musterhafter architektonischer Lösungskonzepte bieten. Howards Reformvorschläge zielten auf dreierlei ab: Erstens sollten sanitäre Anlagen, Heizung, gute Wasserversorgung, ausreichende Nahrung und medizinische Betreuung die Gesundheit der Anstaltsinsassen gewährleisten. Zweitens ging es ihm darum, moralische Risiken zu bannen, die für ihn aus der konzeptlosen Einsperrung - meist ohne Unterschied von Geschlecht und Alter - resultierten. Er empfahl statt dessen, die heterogene Anstaltsbevölkerung zu klassifizieren und die Insassen getrennt sowie nachts einzeln unterzubringen, nicht zuletzt um auch die Sicherheit der Anstalten zu erhöhen. Zudem regte er „sinnvolle" Beschäftigung als Rezept gegen die gefürchtete moralische Korrumpierung und eine Beteiligung am Arbeitsgewinn zur Vorsorge für die Zeit nach der Entlassung an. Damit Disziplin und Ordnung herrschten, sah Howard drittens für Inhaftierte und Personal verbindliche Reglements vor. Die Verwaltung der Anstalten sollten schließlich Gefängniskomitees und externe Inspektoren überwachen, um weitere Mißbräuche zu vermeiden.36 Howard erreichte zwar keine umfassende Reform des englischen Anstaltswesens, doch seine Bemühungen fanden vielerorts Nachahmer.37 So bemerkte der Göttinger Beamte Gottlieb Köster zwar befriedigt, daß der Zustand der deutschen Zuchthäuser und Gefängnisse, „selbst nach Herrn Howards Geständnis bisweilen besser als in England" sei, doch da er viele Aspekte der Howardschen Anstaltskritik auch in Deutschland für relevant hielt, übersetzte er Howards Schrift in Auszügen ins Deutsche.38 Die 1792 und 1794 erschienenen Beschreibungen deutscher Zuchthäuser und Gefängnisse des Anstaltsgeistlichen Wagnitz nahmen schließlich direkt auf Howards systematische Empirie Bezug:39 „Man will den wahren Zustand der Anstalt, den innern sowohl als den äußern, den öconomischen sowohl als den politischen, und diesen sowohl als den moralischen, und also auch die Bewohner derselben, und besonders diese in der Beziehung, in der sie auf die Anstalt selbst, nach allen jenen Rücksichten stehen, kennen lernen. [...] Dies und mehreres ähnliche will man aus solchen Tabellen lernen, und dann zugleich durch sie in den Stand gesetzt werden, Resultate aus ihnen, theils zur bestmöglichsten Einrichtung und Verbesserung der Anstalt selbst und ihrer Bewohner, theils zum Besten des Staates, der die Anstalt unterhält, und dann zum Besten des ganzen Publicums überhaupt, daraus herleiten zu können."40 36

Vgl. Howard·. State of the Prisons, Bd. 1, 1777, S. 43-68. Trotz der fehlgeschlagenen Reform auf gesetzlichem Weg griffen einzelne Anstalten in England Howards Vorschläge auf (vgl. Ignatieff: Measure of Pain, 1978, S. 93-109). 38 Köster. Gefängnisse, 1780, S. 7. 39 Vgl. Wagnitz: Historische Nachrichten, Bd. 2,1, 1792, S. II und zu den Beschreibungskategorien S. 50. 40 Wagnitz: Historische Nachrichten, Bd. 2,2, 1794, S. 101-102. 37

2.1 Die Erfindung der Besserungsstrafe

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Mehr noch: Die Berichte stellten in den Augen der Reformer eine Art „politischen Barometer" dar, „der die Wirkung jeder Operation der Gesetzgebung in Beziehung auf diesen Gegenstand recht anschauend darstellt, und die moralische Gesundheit des Staats anzeigen, damit dieser seine Maßregeln darnach nehmen und nachhelfen könne, wo es bis dahin gefehlt hat". 41 Die ersten empirischen Studien produzierten demnach Regulierungswissen, das auf eine effektive gesellschaftliche Steuerung abzielte und auf dem Glauben an deren Planbarkeit fußte. Die akribischen Anstaltsbeschreibungen lieferten mit ihren Zieldefinitionen ein konkretes Kontrollinstrument, das langfristig eine zweckmäßige Anstaltsorganisation garantieren sollte, wie die wiederholten Forderungen nach externen Aufsichtskommissionen und Inspektoren unterstreichen. 42 Die bürokratischen Beiträge zur Gefängnisfrage zeigen, daß im Zuge des Ausbaus einer zentralen staatlichen Verwaltung ein weiteres zentrales Anliegen war, den Strafvollzug zu vereinheitlichen. 43 Die Einzelbeschreibungen leisteten hierfür eine Bestandsaufnahme der regional unterschiedlich erwachsenen Organisationsstrukturen. Die „Hauptwurzel des Übels" sei „die gänzliche Anarchie, welche bei der Direction und Verwaltung der Gefangenenanstalten herrscht", beklagte Albrecht Heinrich von Arnim. 44 Durch Reglements, einheitliche Grundsätze bei der Zuweisung, Klassifizierung und Entlassung der Delinquenten, feste Anstaltstypen und eine insgesamt gleichartig aufgebaute Organisation sowie mit Hilfe einer „Hauptverwaltungsdirection aller Gefangenenanstalten" 45 wollte er in Preußen eine gleichförmige Behandlung der Sträflinge und eine rationale Umsetzung des Strafvollzugs gewährleisten. 46 In diesem Punkt verschränkten sich Prinzipien der Verwaltungseffizienz und Rechtsstaatlichkeit.

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Wagnitz: Historische Nachrichten, Bd. 2,2, 1794, S. 103. Wagnitz nimmt hier Bezug auf den englischen Reformer Jeremy Bentham. 42 Vgl. Howard: State of the Prisons, Bd. 1, 1777, S. 51-53; Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2/1-3, 1801/1803, S. 69. In der philadelphischen Musteranstalt war ein solches Gefangniskomitee, das u.a. auch die Insassen vor Willkürakten des Personals schützen sollte, bereits eingerichtet worden (vgl. Gruner: Versuch über Strafen, 1799, S. 129-130). 43 Zum Verhältnis von Wissen, Recht, Verwaltung und moderner Staatlichkeit vgl. Raphael: Recht und Ordnung, 2000. 44 Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2/1-3, 1801/1803, S. 160. 45 Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2/4, 1801/1803, S. 17. Arnims Forderung nach einer zentralen Verwaltungsbehörde sollte sich für Preußen erst in der Weimarer Republik erfüllen. Bis dahin herrschte ein Verwaltungsdualismus zwischen dem Justizministerium, dem die Gerichts- und Untersuchungsgefangnisse unterstanden, und dem Innenministerium, das für die Strafanstalten und Arbeitshäuser zuständig war. 46 Siehe insgesamt Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2/1-3, 1801/1803, S. 40, 73 u. 128-143 sowie Bd. 2/4, 1801/1803, S. 7, 17-19 u. 59-68.

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Statistische Dokumentationen stellten nichts grundlegend Neues dar: Schon im 17. Jahrhundert lassen sich erste Kriminalstatistiken finden.47 Im Gegensatz zu diesen aus der Buchführung der Justiz hervorgegangenen Statistiken der Geschäftstätigkeit verweist die Interpretation der Gefángnisberichte und Gefangenenstatistiken jedoch bereits auf das wenige Jahrzehnte später entwickelte sozialplanerische Instrument der Moralstatistik, das mit dem Namen des Belgiers Adolphe Quetelet verbunden ist und als Beginn der quantitativen empirischen Sozialforschung verstanden wird. 48 Diese ersten statistischen Gehversuche bereiteten zugleich den Weg für die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildende Gefängnis Wissenschaft?9 Im synoptischen Überblick à la Howard fand die „totale Institution" also ihre objektivierende Repräsentation, wie sie selbst in den gefangniskundlichen Handbüchern des 20. Jahrhundert noch zu erkennen ist. 50 Zugleich schrieben die Vorschläge humanitäre Mindeststandards langfristig fest und erhoben die Klassifizierung der Insassen zu einem zentralen Organisationsprinzip. Den „deutschen" Gefangnissen hatte Howard zwar attestiert, daß es keine unterirdischen Kerker mehr gebe, die Ernährung sich nicht nur in Brot und Wasser erschöpfe und die Anstalten in der Regel so gelegen seien, daß eine ausreichende Wasserversorgung garantiert sei, doch ansonsten fanden sich ähnliche Mißstände wie in England. 51 Etwa 20 Jahre später wurde in den Berichten nach wie vor darüber geklagt, daß „Inquisiten" 52 gemeinsam mit „Wahnsinnigen" und „Züchtlingen" untergebracht seien und allenfalls die Geschlechter separiert würden. Die hygienischen und gesundheitlichen Bedingungen waren katastrophal: „Schmutz, verpestete Luft, Mangel an Bewegung." 5 3 Die vielen kleinen Einrichtungen befanden sich nur selten in geeigneten Gebäuden, wie dem Stockhaus in Nienburg, das Gruner als „Eins der schlechtesten Zuchthäuser von Westphalen" bezeichnete: „Denn nicht nur sind Wohn- und Schlafzimmer Eins, sondern dieselbe Stube ist auch zugleich die Küche und beherbergt die allgemeinen Nachtstühle (Abtritte giebt es nicht), die nur Einmahl täglich geleert werden." 54 Für die „Beschäftigung" der Insassen - meistens Spinnen und Holzzerkleinern - hatten nicht alle An-

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Vgl. Böhme: Moralstatistik, 1971, S. 12-13 u. Reinke: Kriminalität als „zweite" Wirklichkeit, 1987, S. 177. Neben kriminalstatistischen Daten erfaßten die ersten Moralstatistiken vor allem Selbstmorde, Eheschließungen, uneheliche Geburten und Religionszugehörigkeit (vgl. Böhme: Moralstatistik, 1971 u. Mechler. Geschichte der Kriminalsoziologie, 1970). 49 Vgl. Blühdorn: Gefängniswissenschaften, 1964; Kammer: Das gefängniswissenschaftliche Werk, 1971, S. 32-33 u. 44-46 sowie Nutz·. Besserungsmaschine, 2001. 50 Vgl. z.B. Bumke: Deutsches Gefängniswesen, 1928. 51 Neben nord- und westdeutschen Anstalten besuchte Howard vor allem preußische und bayerische (Howard. State of the Prisons, Bd. 2, 1777, S. 105-118). 52 Gemeint sind die Untersuchungsgefangenen. 53 Gruner. Sicherungsinstitute, 1802, S. 154. 54 Gruner: Sicherungsinstitute, 1802, S. 178-179.

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2.1 Die Erfindung der Besserungsstrafe

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stalten ausreichend gesorgt. Einige der Anstalten unterstanden keiner eigenständigen Verwaltung. Finanziellen Problemen begegnete man daher oft, indem „Bettelbüchsen" für die Besucher aufgestellt wurden. 55 Selbst bei den besseren unter ihnen bekl agten die Reformer immer noch den Mangel an moralischen Erziehungsmaßnahmen. 56 Anders als ihr englischer Vorläufer konzentrierten sich die ersten deutschsprachigen Anstaltsberichte bereits auf Gefängnisse und Zuchthäuser und verknüpften Überlegungen zur effizienten Organisation mit einer staats- und rechtsphilosophisch hergeleiteten Strafzweckdiskussion des Freiheitsentzugs. 57 Sie unterschieden drei Anstaltstypen fur Delinquenten: Untersuchungsgefängnisse, Besserungsanstalten für Personen, die wegen polizeirechtlicher Vergehen inhaftiert wurden, sowie schließlich Strafgefangnisse. 58 Das gesamte Strafsystem als „einer der Hauptgrundsteine eines guten Staatsgebäudes" 59 sollte als primäre Ziele Sicherheit und die Verhütung von Verbrechen verfolgen. Die Haftstrafe fungierte zunächst als direkte Prävention durch Einsperrung. Des weiteren sollte das Gefängnis durch sein Äußeres, durch die strenge Zucht und den Verlust der persönlichen Freiheit abschreckend wirken. Daneben wurde aber auch die Absicht formuliert, durch einen reformierten Anstaltsbetrieb die Verurteilten zu „bessern", um sie nach der Entlassung wieder in die Gesellschaf einzugliedern und damit Wiederholungstaten vorzubeugen. Entsprechende Vorschläge nahmen dabei nicht immer die Erziehbarkeit der Straffälligen an.60 Staatsminister von Arnim wies nicht nur auf die Schwierigkeiten hin, die wahren Besserungsfortschritte der Inhaftierten zu beurteilen, sondern ging davon aus, daß ein Teil von ihnen „unverbesserlich" sei und getrennt verwahrt werden müsse. Trotz dieser Differenzen zeichneten sich bereits diejenigen Basisoperationen ab, die das Gefängniswesen bis ins 20. Jahrhundert hinein kennzeichnen sollten: Klassifizierung und Beschäftigung der Gefangenen mit Arbeit, feste Reglements für einen geordneten Anstaltsalltag sowie teilweise auch religiöse Unterweisung der Insassen. Das Reformbedürfnis entstand durch das wachsende Problembewußtsein der fuhrenden Beamten angesichts überfullter Gefängnisse. Neben den eher privat motivierten Schriften von Wagnitz, Gruner und von Arnim gab es in Preußen bereits seit 1799 konkrete Pläne für grundlegende kriminalpolitische 55

Gruner. Sicherungsinstitute, 1802, S. 169. Vgl. insgesamt Wagnitz: Historische Nachrichten, 1791-1794; Gruner. Sicherungsinstitute, 1802 u. Arnim·. Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2/1-3, 1801/1803. 57 Erst hier wurden die Gefángnisreformdebatten mit der aufklärerischen Kritik an den körperlichen Strafen verknüpft (vgl. Arnim·. Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2/1-3, 1801/1803 u. Gruner: Versuch über Strafen, 1799). 58 Vgl. Gruner·. Sicherungsinstitute, 1802, S. 139-141 u. Arnim·. Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2/1-3. 1801/1803, S. 7-8. 59 Gruner. Versuch über Strafen, 1799, S. 7. 60 Vgl. Gruner. Versuch über Strafen, 1799, S. 27-33 u. 83-86; Arnim·. Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2/1-3, 1801/1803, S. 13-26. 56

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Reformen der strafrechtlichen Grundlagen und des Strafvollzugs. Das „Criminaldepartement" unter Großkanzler Heinrich Julius von Goldbeck erarbeitete im Frühjahr 1801 Grundsätze für Besserungsanstalten, die vor allem für Strafentlassene vorgesehen waren.61 1804 folgte ein „GeneralPlan", der den Bau neuer Strafanstalten vorsah und sich anders als von Arnims Vorschläge in vielen Punkten am philadelphischen Modell der Quäker orientierte, jedoch nicht über erste Anfange hinauskam.62 Die Napoleonischen Kriege und die Krise der Staatsfinanzen verhinderten eine flächendekkende Umsetzung des Generalplanes. Wie in Preußen waren in ganz Europa die Reformendebatten ins Stocken geraten. Erst in den 1820er Jahren stieß die Gefangnisfrage wieder vermehrt auf öffentliches Interesse. Von England ging seit 1817 eine europaweite Gründungswelle von Gefangnisvereinen aus, und auch die Behörden starteten Reforminitiativen. In einer Zeit des gesellschaftlichen Wandels, der ökonomischen Krise sowie der sozialen Konflikte und Proteste, denen die Regierungen mit repressiven kriminalpolitischen Maßnahmen begegneten, erwies sich die Frage des Strafvollzugs als um so dringlicher.63 Der Erfolg der strafrechtlichen Kriminalisierungsstrategien hing nicht zuletzt von einem effektiven Strafvollzug ab.64 Die Gefángnisreformbewegung erlebte somit erstmals, daß ihre neuen Strafkonzepte auf breiter Ebene erprobt wurden. Während noch in den 1820er Jahren allenfalls kleinere Verbesserungen an einzelnen Anstalten vorgenommen worden waren, folgte in den 1830er und 1840er Jahren eine regelrechte Reformkonjunktur, in der Großprojekte verwirklicht wurden. Die Versuche, das Strafanstaltswesen planmäßig zu gestalten, bestanden zum einen darin, einzelne zentrale Musteranstalten zu errichten, die sowohl den hygienisch-medizinischen als auch den Kontroll- und Sicherheitsanforderungen entsprachen, ausreichende Klassifikation der Gefangenen ermöglichten und schließlich auch Platz für Arbeitseinrichtungen boten. Die in den 1830er Jahren errichteten Anstalten in Insterburg, Sonnenburg, Köln, Halle an der Saale sowie Dreibergen in Mecklenburg griffen Anregungen aus der zeitgenössischen Gefangnisarchitektur auf. Nach den amerikanischen Straf-

„Grundsätze, nach welchen die in der Allerhöchsten Cabinets-Ordre vom 28. Februar 1801 befohlene Einrichtung der in sämtlichen Preußischen Staaten anzulegenden Besserungs-Anstalten zu bewerkstelligen", abgedruckt in: Neues Archiv der Preußischen Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit 1803/2, S. 89-107. 2 Abgedruckt in: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den Preußischen Staaten 1805/23, S. 213-237. Innerhalb des „Criminaldepartements" konnte sich Justizminister v. Arnim mit seiner Kritik, die sich vor allem gegen ein moralisch-religiöses Besserungsverständnis richtete, nicht durchsetzen. Er quittierte schließlich seinen Dienst, und von Goldbeck wurde 1802 die Leitung übertragen (ausführlicher Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 111-112). 63 Zur Kriminalisierung vgl. Blasius: Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität, 1976. 64 Vgl. z.B. Ignatieff: Measure of Pain, 1978, S. 179-187 u. Ludi: Fabrikation des Verbrechens, 1999, bes. S. 267-275, 317-321 u. 410—425.

2.1 Die Erfindung der Besserungsstrafe

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anstalten Aubum (Bundesstaat New York) und dem pennsylvanischen Eastern Penitentiary in Philadelphia avancierte dann 1842 das neueröffhete Zellengefängnis Pentonville in England zum internationalen Vorbild, das durch seine fabrikmäßig durchrationalisierte Straftechnologie gekennzeichnet war. Zu den nach diesen Maßstäben in den 1840er Jahren begonnenen Bauprojekten in den deutschen Staaten gehörten die Zellengefängnisse in Moabit, Münster, Ratibor, Breslau sowie das badische Männerzuchthaus in Bruchsal, das am konsequentesten die Isolierung der Gefangenen als Haftsystem durchsetzte. 65 Daneben versuchte die staatliche Reformpolitik, umfassende Anstaltsordnungen einzuführen. In Preußen wurde das 1835 veröffentlichte Reglement der Strafanstalt Rawicz für alle anderen Strafanstalten der Monarchie - mit Ausnahme der rheinischen - verbindlich gemacht. 66 Für die Rheinprovinz, in der bis 1851 noch der Code pénal galt, hatte das Koblenzer Oberpräsidium bereits 1827 eine Hausordnung ausgearbeitet. 67 Die Reglements organisierten eine Anstaltsverwaltung mit konkreten Aufgaben und einem hierarchischen Aufbau der einzelnen Funktionsträger - vom Direktor und Verwalter über den Seelsorger und Arzt bis hin zu den Aufsehern. Sie bestimmten detailliert, wie die Gefangenen vom Beginn ihrer Haft bis zur Entlassung zu behandeln seien und definierten die Ziele des Strafvollzugs. Arbeit, Disziplin, Gottesdienst und nachgeordnet auch Unterricht zielten auf die Besserung des Straffälligen ab, deren Erfolg dadurch gewährleistet werden sollte, daß zumindest die erstmals Straffälligen von den Rückfälligen separiert wurden. 68 Die Anstaltsordnungen legten zwar Vollzugsgrundsätze fest, doch weder in Preußen noch in vielen anderen deutschen Staaten wurden diese auch gesetzlich verankert. Lediglich die baclische Regierung hatte für das Bruchsaler Mustergefängnis mit seinem nicht unumstrittenen Einzelhaftsystem die Vollzugsanordnungen gesetzlich festschreiben lassen. 69 Bei diesen Reformprojekten konnten die Behörden bereits auf ein umfangreiches Fachwissen zurückgreifen, denn seit den 1820er Jahren hatte sich ein zunehmend institutionalisierter Gefangnisdiskurs herausgebildet: mit klar umrissenen Themenfeldern, einem international organisierten Kommunikationsnetzwerk, eigenen Foren und Vermittlungsmedien wie internationalen

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Zu Pentonville und seinem Vorbildcharakter vgl. ausführlich Nutz: Besserungsmaschine, 2001, bes. S. 195-207. 66 Reglement fiir die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868. 67 Vgl. LHK, Best. 403, Nr. 17599. 68 Zum Rheinland siehe Mecklenburg: Ordnung der Gefangnisse, 1983, Kapitel V und zum übrigen Preußen Nutz·. Besserungsmaschine, 2001, S. 3 3 5 - 3 3 7 . 69 Zu Baden vgl. Freßle: Bruchsal, 1970, S. 7 0 - 9 5 . Überlegungen zu einer gesetzlichen Einfuhrung der Einzelhaft gab es zwar auch in Preußen, doch diese scheiterten am Widerstand der Staatsminister, die sich nicht verbindlich festlegen wollten (vgl. Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 357-360).

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2 Die Anfänge der Straffálligenfiirsorge ( 1777-1861)

Kongressen,70 Fachzeitschriften, Jahresberichten, Handbüchern und Reiseberichten sowie einem Grundstock an traditionsbildenden Kernlehrsätzen. Dieser Expertendiskurs, der sich im deutschsprachigen Raum unter der Bezeichnung Gefangniskunde formiert hatte, legitimierte sich nun weniger über humanitäre und philanthropische Motive, sondern zunehmend über ein wissenschaftliches Selbstverständnis.71 In den 1840er Jahren beherrschte eine erste Fachkontroverse die gefangniskundlichen Diskussionen, deren Ausgang die Lehrmeinungen für lange Zeit prägen sollte. Gegenüber der im Gefängnis Auburn praktizierten Haftform - nachts isoliert und tagsüber gemeinschaftliches Arbeiten unter rigidem Schweigegebot - setzte sich die Vollzugsform nach pennsylvanischem Muster mit absoluter Isolierung als ideales Haftsystem durch. Mit dem „Systemstreit" zwischen den „Pennsylvanisten" und den „Auburnisten" betrachtet Thomas Nutz die Formierung der Gefangniskunde als wissenschaftliche Disziplin als abgeschlossen, doch der konsequente Schritt, sich als selbständiges, universitäres Fach zu etablieren, blieb ihr verwehrt. Die Mehrzahl ihrer Vertreter waren engagierte Praktiker: Beamte, Architekten und Ärzte, vorrangig aus dem Umfeld der Modellanstalten, während Strafrechtler, wie in Deutschland die Juristen Carl Joseph Anton Mittermaier72 und der universitäre Außenseiter Karl David August Röder,73 eine Ausnahme blieben.74 Im Zeichen der Strafrechtsphilosophie und ihrem Ziel, Recht und Moral zu trennen, ignorierte die Mehrzahl der strafrechtswissenschaftlichen Vertreter eine Konkurrenzdisziplin wie die Gefängniskunde mit ihren religiös-philanthropischen Ursprüngen und ihren teilweise naturwissenschaftlich-medizinischen Ansätzen.75

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Der erste internationale Gefängniskongreß fand 1846 in Frankfurt statt (vgl. Verhandlungen der ersten Versammlung für Gefängnisreform, 1847). 71 Zur „Genese der Disziplin" vgl. insgesamt Nutz·. Besserungsmaschine, 2001, Kapitel D. 72 Mittermaier. Gefängniseinrichtungen, 1850; Mittermaier: Gefangnisverbesserung, 1858 u. Mittermaier: Gefängnisfrage, 1860. Für die Rechtsgeschichte ist Mittermaier der zentrale Vertreter der Strafrechtswissenschaft innerhalb der Gefangniskunde. Seine Beiträge haben bis jetzt das meiste Forschungsinteresse auf sich gezogen: Neben der frühen, recht deskriptiv gehaltenen Dissertation von Kammer. Das gefangniswissenschaftliche Werk, 1971, ist die theoretisch reflektierte Studie von Lars Hendrik Riemer. Netzwerk der Gefängnisfreunde, 2005 zu nennen. 73 Roeder. Rechtsbegründung der Besserungsstrafe, 1846; Roeder: Verbesserung des Gefängniswesens, 1856; Roeder: Strafvollzug, 1863 u. Roeder. Besserungsstrafe, 1864. 74 Nach Jürgen Blühdom scheint es unter Friedrich Wilhelm IV. immerhin den Plan gegeben zu haben, in Berlin einen Lehrstuhl fur Gefangniskunde einzurichten - eine genaue Quellenangabe dazu fehlt allerdings (Blühdorn: Gefangniswissenschaften, 1964, S. 3). Vereinzelt wurden seit den 1850er Jahren an verschiedenen deutschen Universitäten Vorlesungen zur Gefängniskunde gehalten. Sie gingen jedoch auf Einzelinitiativen der wenigen auf diesem Feld engagierten Juristen zurück. 75 Siehe die Klage des Strafrechtlers Mittermaier angesichts der Ignoranz seiner Kollegen: Mittermaier. Gefangnisverbesserung, 1858, S. 74.

2.1 Die Erfindung der Besserungsstrafe

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Die preußische Reformpolitik der ersten Jahrhunderthälfte spiegelt die programmatischen Entwicklungen dieser Fachdebatten wider. Während das Rawiczer Reglement in den 1830er Jahren noch das Auburnsche Schweigegebot übernahm, hatte beim Bau des Moabiter Zellengefängnisses bereits die Einzelhaft gesiegt. Beratend war dabei unter anderem der Hamburger Armenarzt Nikolaus Heinrich Julius tätig, der durch zahlreiche Publikationen zum Nestor der deutschsprachigen Gefängniswissenschaft aufgestiegen war.76 Bei einer privaten Studienreise nach England, Schottland und Irland hatte er 1925 führende Persönlichkeiten der philanthropischen Gefangnisreform wie Elizabeth Fry und den späteren Generalinspektor des englischen Gefangniswesens, William Crawford, kennengelernt. Er versuchte nicht nur, Elizabeth Frys Gefangenenarbeit in Deutschland bekannt zu machen, 77 sondern hielt auch Vorträge, die 1828 als Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde veröffentlicht wurden.78 Mit dieser grundlegenden Schrift und der seit 1829 herausgegebenen Zeitschrift Jahrbücher der Straf- und Besserungs-Anstalten, Erziehungshäuser, Armenfürsorge, und anderer Werke der christlichen Liebe hatte er sich bereits als anerkannter Experte auf dem Gebiet des Gefangniswesens etabliert.79 Weitere Reiseberichte, Übersetzungen sowie die Jahrbücher für Gefängniskunde und Besserungsanstalten, die er seit 1842 gemeinsam mit den Sozialreformern Friedrich Nöllner und Georg Varrentrapp herausgab, folgten und ebneten ihm den Weg für vielfaltige persönliche Kontakte. 80 Julius warb darüber hinaus bei staatlichen Stellen für die Reform der Haftanstalten und bot dafür seine Expertise an. So überzeugte er 1829 König Friedrich Wilhelm III. von einer Inspektion der Straf- und Besserungsanstalten nach englischem und französischem Vorbild. Daraufhin schickte man Julius offiziell auf eine Reise durch die preußischen Provinzen, wo er nahezu überall überfüllte Anstalten vorfand. Der akribischen Zustandsbeschreibung folgten Vorschläge zur Klassifizierung, zum Aufsichtspersonal, zu den baulichen und sanitären Anlagen und zur Beschäftigung der Gefangenen, von denen einige später umgesetzt wurden.81 Als sich in den 1830er Jahren die Blicke der europäischen Gefängnisreformer auf die nordamerikanischen An76

Zu Julius vgl. Krebs: Julius, 1978 u. Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 239-246. Julius: Weibliche Fürsorge, 1827. 78 Julius: Vorlesungen über die Gefangnis-Kunde, 1828. 79 Die Jahrbücher umfaßten 10 Ausgaben, die von 1829 bis 1833 veröffentlicht wurden. 80 In Auswahl vgl. Beaumont/Tocqueville: Amerikas Besserungs-System, 1833; Julius: Die amerikanischen Besserungs-Systeme, 1837 u. Julius: Nordamerikas sittliche Zustände, 1839. Von den Jahrbüchern der Gefängniskunde und Besserungsanstalten erschienen insgesamt elf Bände. Siehe die Reiseberichte in: GStAPK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 58247. Zu den rheinischen und westfälischen Anstalten vgl. LHK, Best. 403, Nr. 4402: Julius forderte hier vor allem die Trennung der Geschlechter sowie die Absonderung der Jugendlichen. Außerdem sollte das Aufsichtspersonal verstärkt und besser besoldet werden. Für Frauen wollte er weibliches Personal einstellen lassen, und zur Beschäftigung der Gefangenen empfahl er die Tretmühle und das Schweigegebot in den Arbeitssälen. 77

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2 Die Anfänge der StrafTálligenfürsorge ( 1777-1861 )

stalten richteten,82 ermöglichte ihm seine Heimatstadt Hamburg, sich vor Ort über die aktuellen Verbesserungsmaßnahmen zu informieren. In seinen publizierten Reiseberichten sprach er sich für die pennsylvanische Einzelhaft als vorteilhaftere Haftform aus.83 Auf besonderes Betreiben Friedrich Wilhelms IV. wurde er im Herbst 1840 als fester Berater engagiert.84 Denn der preußische König versuchte, die Gefängnisreform persönlich voranzutreiben und das pennsylvanische System einzuführen, und zwar legitimiert durch das Urteil eines unabhängigen Experten. Hierfür wurde Julius 1841 eigens nach England entsandt, um sich in der Musteranstalt Pentonville über die Isolierung der Gefangenen zu informieren. Doch das königliche Reformziel, flächendeckend die Einzelhaft einzuführen, wurde durch Betreiben der eigenen Ministerialbürokratie zusehends verwässert. Der Widerstand richtete sich hauptsächlich gegen den Verwaltungsaufwand und die erheblichen Kosten des Baus entsprechend großer Zellengefangnisse. Angesichts der seit den 1840er Jahren enorm steigenden Gefangenenzahlen setzte sich die bürokratische „Mangelverwaltung" gegenüber den Reformzielen der Gefängnisexperten durch; Julius' Ausscheiden aus seinem Berateramt war die Folge dieser Realpolitik.85 Der gefángniskundliche Systemstreit hatte aber auch selbst die Argumente gegen die Einzelhaft geliefert, denn die Kritik, die völlige Isolation der Gefangenen führe zu psychischen Störungen und Selbstmorden nährte die Zweifel und trug dazu bei, daß die erwarteten hohen Kosten von den Beamten als ungerechtfertigt betrachtet wurden. Neben Nikolaus Heinrich Julius hatte bereits in den 1820er Jahren der Pädagoge und Pestalozzi-Schüler Carl August Zeller, der sich zu dieser Zeit im preußischen Staatsdienst befand, die Aufgabe erhalten, die Besserungsanstalt in Graudenz zu überprüfen und eine Hausordnung zu erarbeiten. In seiner Schrift Grundriß der Strafanstalt, die als Erziehanstalt bessern will (1824)86 stellte er seine Erziehungsprinzipien vor, bei denen Gefangene sich durch finanzielle Belohnung und aufsteigende Klasseneinteilung stufenweise bessern sollten.87 Wesentlich nachhaltiger als Zeller und Julius in Preußen 82

Vgl. vor allem den Bericht von Beaumont und Tocqueville über die amerikanischen Gefangniseinrichtungen, mit dem sie 1831 offiziell von der französischen Regierung beauftragt worden waren: Beaumont/Tocqueville: Système pénitentiaire aux Etats-Unis, 1833. Der Bericht wurde bereits kurze Zeit später ins Deutsche übersetzt: Beaumont/Tocqueville·. Amerikas Besserungs-System, 1833. 83 Vgl. dazu Julius: Die amerikanischen Besserungs-Systeme, 1837, siehe das Statement zur Einzelhaft S. 48 u. der später erschienene ausführliche Reisebericht Julius: Nordamerikas sittliche Zustände, 1839. 84 Siehe Julius' Vorschläge, in: GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 58248. 85 Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 363. Zur preußischen Reformpolitik und den internen Auseinandersetzungen um die Einzelhaft vgl. insgesamt ebd., S. 344-364 sowie Blasius: Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität, 1976, S. 66-70 u. 79-92. 86 Zeller: Grundriß der Strafanstalt, 1824. 87 Siehe Dreßen: Die pädagogische Maschine, 1982, S. 274-275 u. Krebs: Von den Anfängen des Progressivsystems, 1978.

2.1 Die Erfindung der Besserungsstrafe

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konnte der Jurist Ludwig von Jagemann als Ministerialrat und Referent für das Gefängniswesen die Reformen im Großherzogtum Baden mitgestalten. 88 Experten wurden also in unterschiedlicher Form in die Reformpolitik einbezogen, wobei gerade private, nicht aus der eigenen Verwaltung erwachsene Experten eine unsichere Stellung hatten. In Preußen gab es zudem - anders als etwa in Frankreich oder England - keine dauerhafte zentrale Einrichtung, die die Gefangnispolitik und -Verwaltung koordiniert hätte. 89 Als der preußische König in den 1850er Jahren erneut versuchte, die Einzelhaft einzuführen, holte er sich Johann Hinrich Wichern als externen Fachmann an seine Seite. Wichern gehörte mit seiner 1833 gegründeten Erziehungsanstalt für „verwahrloste" und straffällig gewordene Kinder, dem Rauhen Haus bei Hamburg, zu den führenden Vertretern der evangelischen Rettungshausbewegung. 90 Er war zur zentralen Figur des „Sozialen Protestantismus" 91 aufgestiegen, dessen nationale Organisation er unter dem Namen Innere Mission durch seine Rede auf dem evangelischen Kirchentag 1849 angestoßen hatte. Die Gefangnisfrage hatte Wichern infolge seiner Bekanntschaft mit Julius bereits seit Mitte der 1840er Jahre auf die Agenda der Inneren Mission gesetzt. 92 Wie Julius bereiste er im Auftrag des preußischen Innenministeriums in den Jahren 1852 und 1853 verschiedene Gefangnisse in Preußen, Pommern, Schlesien, Brandenburg, Sachsen und in der Rheinprovinz, um eine erste Revision der Reformen, insbesondere der modellweise eingeführten Einzelhaft, vorzunehmen. Sein Bericht legte offen, daß selbst in dem eigens dafür gebauten Moabiter Zellengefangnis das pennsylvanische Haftsystem nicht strikt durchgeführt wurde und die Einzelhaft zumeist lediglich als Disziplinarmittel diente. Wichern wurde 1857 als Referent für das Gefängniswesen ins Innenministerium berufen und setzte sich dort vor allem dafür ein, die Einzelhaft in Moabit konsequent durchzufuhren. 1856 waren bereits letzte bauliche Maßnahmen - Einzelspazierhöfe sowie einzelne abgeschlossene Betstühle im Kirchenraum - vorgenommen worden, um eine absolute Isolierung der Gefangenen zu gewährleisten. 93 Neben diesen aus Pentonville übernommenen Einrichtungen versuchte Wichern, die einfachen Gefängnisaufseher durch „pädagogisch" ausgebildete Diakone zu ergänzen. Für die Rettungshausarbeit hatte er selbst bereits im Rauhen Haus sowie später dann im Berliner Johannesstift 88

Zu von Jagemann vgl. Fasoli: Strafverfahrensrecht, 1985. Vgl. Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 244. Zu England vgl. z.B. McConvilie: Prison Administration, 1981. 90 Vgl. insgesamt zur christlich-philanthropischen Rettungshausbewegung Dekker. The Will to Change the Child, 2001. 91 Kaiser: Sozialer Protestantismus, 1989. 92 Vgl. die frühen Schriften in: Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973. Zur Person Wicherns und zu seiner Rolle innerhalb der IM siehe Beyreuther. Diakonie und Innere Mission, 1983, S. 90-121. 93 Vgl. Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 365. 89

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2 Die Anfänge der Straffálligenfürsorge (1777-1861)

christliche junge Männer erzieherisch ausbilden lassen, und in der Moabiter Anstalt konnte er seit 1856 erste Diakone in den Gefängnisdienst einführen. 94 Diese „Berufspfleger", die „als Gehilfen des Seelsorgers und zugleich als Gehilfen des Lehrers anzusehen" seien, sollten „eine Kontinuität des Verkehrs mit den Gefangenen vermitteln" 95 und als Vorbilder für die militärisch habitualisierten Aufseher - zumeist versorgungsberechtigte ehemalige Soldateneine „Selbstzucht" bewirken. 96 Obwohl Wichern offiziell bis 1874 im preußischen Staatsdienst verblieb, brachte ihn eine 1861 mit liberalen Strafrechtlern und Gefängnisexperten, allen voran Franz von Holtzendorff, geführte Kontroverse über die Einzelhaft so weit ins ideologische Abseits, daß ihm für den Rest seiner Amtszeit kein Handlungsspielraum mehr für weitere Reforminitiativen blieb. Der Widerstand der preußischen Ministerialbürokratie gegen die Einzelhaft richtete sich zunehmend gegen die Person Wicheras, seine religiös legitimierten Konzepte und den Einsatz von Diakonen in einer staatlichen Strafanstalt. 97 Seit den ersten Initiativen von Howard hatte die religiös-philanthropische Reformmotivation angesichts eines zunehmend säkularisierten Staatsverständnisses an Legitimation verloren. 1864 wurde schließlich der Etat für die Einstellung von Diakonen in den Strafanstaltsdienst abgelehnt und damit der Vertrag mit dem Rauhen Haus nicht mehr weiter verlängert. 98 Das Ziel, die Einzelhaft als Regelvollzug zu etablieren, war somit gescheitert. Alternative Haftmodelle, wie das von August Wentzel, Präsident des Appellationsgerichts Ratibor und Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses, vorgeschlagene irische Markensystem, 99 das den Gefangenen je nach Arbeitsleistung stufenweise bis zur „vorläufigen Beurlaubung" bessern und zurück in die Freiheit führen sollte, waren vom preußischen König blockiert worden. 100 Nach der Reformkonjunktur in den 1830er und 1840er Jahren stagnierte die Gefangnispolitik in den 1850er und 1860er Jahren. In dieser ersten Phase der Gefangnisgeschichte wurde die Liaison zwischen wissenschaftlichem Expertentum und staatlicher Vollzugspolitik als notwendig erkannt, blieb aber zugleich fragil. Die Gefangniskunde erwies sich letztlich als in hohem Maße abhängig vom politischen Reformwilllen.

94 Zu Wicherns Gefängnispolitik im Dienste des preußischen Staats vgl. ausfuhrlicher Brandt: Evangelische Strafgefangenenseelsorge, 1985, S. 34-51. 95 Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Vorschläge zur Regelung des privaten Besuches bei Strafgefangenen (1855), S. 77-79, hier S. 79. 96 Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Votum betreffend die Gewinnung geeigneter Kräfte für den Strafanstaltsdienst (1857), S. 123-130, hier S. 126. 97 Bei der Einzelhaftdebatte spielte daneben auch die Frage, ob eine parlamentarisch legitimierte Rechtsgrundlage dafür geschaffen werden müßte, eine wichtige Rolle (vgl. Berger. Konstante Repression, 1974, S. 167-175). 98 Zur Kontroverse vgl. ausfuhrlicher Abschnitt 2.5. 99 Ursprüngliches Konzept von Maconochie: Verbrechen und Strafe, 1851. 100 Zum Wentzelschen Entwurf vgl. ausfuhrlicher Berger. Konstante Repression, 1974, S. 133-142.

2.1 Die Erfindung der B e s s e m n g s s t r a f e

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Die Permanenz der Gefängnisreform Seit der revisionistischen Wende beherrschte die Suche nach einem tieferliegenden, hinter der humanistisch-philanthropischen Rhetorik „verborgenen" gesellschaftlichen Zweck die Gefängnisforschung. Je spezifischer jedoch versucht wurde, diesen zu bestimmen, um so deutlicher traten Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten in der Geschichte des neuzeitlichen Strafvollzugs hervor. Für Michel Foucault stellte sich dieses Problem noch nicht in diesem Maße, denn konkrete Erziehungsinstrumente wie Arbeit oder Religion sowie ihre jeweilige gesellschaftliche Bedeutungszuweisung erscheinen in seinem strukturalistischen Zugriff eher als wandelbare Oberfläche. Ihn interessierten vielmehr die Techniken der neuzeitlichen Disziplinierungsinstitutionen - wofür das Gefängnis ja nur das herausragendste Beispiel war - , also Klassifizierungs-, Kontroll- und Erfassungsprinzipien, in denen er eine Grundmechanik der modernen Subjektbildung entdeckte. 101 Im Hinblick auf die statistische und systematische Erfassung der Delinquenten, ihres Vorlebens und ihrer Gefangenenexistenz begriff Foucault das gesamte Gefängniswesen als „Wissensapparat". 102 Die nachfolgenden - besonders die geschichtswissenschaftlichen - Arbeiten wollten diese Techniken in ihren jeweils spezifisch historischen Ausprägungen erfassen, womit es schwieriger wurde, Thesen zu formulieren, die dem Gefangniswesens eine derart eindeutige Bedeutung zuwiesen. 103 Bereits in einem frühen, durchaus selbstkritischen Rückblick konstatierte Michael Ignatieff, „that historical reality is more complex than the revisionists assumed [...]. The real challenge is to find a model of historical explanation which accounts for institutional change without imputing conspirational rationality to a ruling class, without reducing institutional development to a formless ad hoc adjustment to contingent crisis, and without assuming a hyper-idealist, all triumphant humanitarian crusade." 104 Was hier wie die Suche nach dem goldenen Mittelweg klingt, ist die Bilanz eines Forschungszweiges, der zwar institutionelle Kontinuitäten sowie dauerhafte Praktiken innerhalb des Strafvollzugs konstatiert, zugleich aber auch feststellen muß, daß diese mit multiplen Funktionen, wechselnden Konzepten, Ideologien, Begründungszusammenhängen oder Interessen verbunden sein und an unterschiedliche Ansprüche und Umstände angepaßt werden konnten. Der kritische Blick des Revisionismus verdeutlichte, daß mit der Utopie eines gewaltlosen Strafens ein System der kalkulierten Qual an die Stelle der alten peinlichen Strafen gesetzt wurde. An der Technizität der Strafkonzepte, 101

Vgl. vor allem Foucault: Überwachen und Strafen, 1994, Kapitel III. Foucault: Ü b e r w a c h e n und Strafen, 1994, S. 164 u. z u m Komplex Wissen-Macht-Strafvollzug vgl. insgesamt S. 33^13 u. 2 8 7 - 2 9 2 . 103 Zur kritischen Auseinandersetzung mit Foucaults „Überwachen und Strafen" innerhalb der Geschichtswissenschaft siehe vor allem Perrot: L'impossible prison, 1980. 104 Ignatieff. Total Institutions, 1983, S. 77. 102

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2 Die Anfange der Straffálligenfursorge (1777-1861)

die mit dem Bau von Pentonville ihren Höhepunkt erreichte, lassen sich die Visionen eines automatischen und entindividualisierten Regelungsmechanismus ablesen.105 Sie korrespondierten mit einer seit Mitte des 18. Jahrhunderts verbreiteten materialistischen Psychologie, die den Menschen als eine Art Maschine begriff. Das moralische Verhalten, so glaubte man, sei vor allem durch die Disziplinierung des Körpers zu konditionieren.106 Tretmühlen sollten die Gefangenen an regelmäßiges kontinuierliches Arbeiten gewöhnen, während Ärzte versuchten, das Arbeitspensum so auszutarieren, daß die Grenze zur gesundheitlichen Schädigung nicht überschritten wurde; ausgetüftelte Belüftungs-, Abfluß- und Heizungssysteme waren dazu gedacht, Gesundheitsrisiken zu vermeiden; das Herzstück der Gefangnisarchitektur bildeten effiziente Kontroll- und Überwachungstechniken wie etwa die panoptische Anordnung der Zellen oder die sogenannten Strahlenbauten. Das Besserungsverständnis schloß keineswegs Strafe als „sinnliches Übel" aus.107 Bereits in den 1840er Jahren wurden in England die humanitären Standards auf minimalstem Niveau ausgereizt, und in den 1850er Jahren folgte eine offene Kehrtwende zu unnachgiebiger Härte, die das Erziehungsziel in den Hintergrund rückte.108 Die Anwendung von Disziplinarstrafen - Prügelstrafe, Latten- und Dunkelarrest - , die etwa in Preußen erst ab 1869 langsam aus dem Gefängnisalltag verschwand, zeigte ohnehin die Grenzen dieser Strafutopien auf.109 Das Modell der „Besserungsmaschine"110 stand von vornherein in einem Spannungsverhältnis zu den älteren pädagogischen Traditionen der Gefängnisreform. Daraus ergaben sich Zielkonflikte zwischen physischen und moralischen Besserungsstrategien. Die Blaupause fur die revisionistische Gefangnisgeschichtsschreibung bildete jedoch vor allem die kapitalistische Industriegesellschaft. Die historischmaterialistische Tradition führte bereits die frühneuzeitlichen Zucht- und Arbeitshäuser auf einen steigenden Bedarf an Arbeitskräften zurück.111 Sehr früh schon wurde die These formuliert, die Zuchthäuser seien - im Anschluß an Max Webers „Geist des Kapitalismus" - ein genuin protestantisches Phänomen.112 Die am weitesten verbreitete Interpretation schrieb dem Gefängnis 105 Immer wieder wurden die Überwachungstechnologien, insbesondere Benthams Panoptikon, hervorgehoben (vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, 1994, Kapitel III.3 u. Dreßeir. Die pädagogische Maschine, 1982, S. 282). Thomas Nutz' vorwiegendes Verdienst ist es, bei der „Erfindung der Besserungsmaschine" die bisher wenig beachteten Sanitärund Ventilationstechniken als Folge der vom Hygienediskurs geprägten Anstaltskritik herausgearbeitet zu haben (vgl. Nutz: Besserungsmaschine, 2001, Kapitel C). 106 Vgl. Ignatieff. Measure of Pain, 1978, S. 67-69. 107 Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2/1-3, 1801/1803, S. 18. 108 Ignatieff: Measure of Pain, 1978, S. 193 u. 204. 109 Berger: Konstante Repression, 1974, S. 92-95. 110 Nutz: Besserungsmaschine, 2001. 111 Vgl. Rusche/Kirchheimer: Punishment, 1939. 112 Siehe zunächst Hippel: Geschichte der Freiheitsstrafe, 1898.

2.1 Die Erfindung der Besserungsstrafe

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die Funktion zu, Unterschichten zur (zeitlich standardisierten) Arbeit zu erziehen und sie damit auf die Erfordernisse der sich herausbildenden Industriegesellschaft zu eichen.113 Doch die Arbeitsanstalten erwiesen sich nicht als ökonomisches Erfolgsmodell, und gegen die Protestantismusthese lassen sich ähnliche Entwicklungen in katholischen Regionen Europas anführen.114 In den Gefängnisdebatten des 19. Jahrhunderts nahm ohne Frage das Thema Gefangenenarbeit viel Raum ein, allerdings vor allem, weil es große Probleme bereitete, die verschiedenen Anforderungen und Ziele der Gefangenenarbeit miteinander zu vereinbaren. Es wäre völlig verkürzt, den neuzeitlichen Strafvollzug als bürgerliches Projekt mit rein ökonomischen Motiven zu deuten, zumal es lange dauerte, bis überhaupt entsprechende Arbeit organisiert war. Da körperlich schwere Tätigkeiten als Disziplinarmittel eingesetzt wurden, was einer Erziehung zur Arbeit eher entgegenwirkte," 5 gab es kaum Gefangnisse mit industriellen Fertigungsstätten.116 Im Gegenteil: Das Arbeitsideal der Reformer blieb lange Zeit am Handwerk orientiert." 7 Als potentielle Konkurrenz zur freien Wirtschaft entwickelte sich außerdem die Gefangenenarbeit wiederholt zum Politikum und zwang die Anstaltsverwaltungen dazu, die eigenen Vollzugsziele zurückzustecken." 8 Die Vollzugspolitik war zudem schwer zu beeinflussenden politischen Konjunkturen unterworfen. So thematisieren die revisionistischen Studien durchaus Zielkonflikte des Gefangniswesens, insbesondere um die Widersprüchlichkeit der Resozialisierungsideologie zu entlarven. Gefangenenarbeit mit all ihren Unzulänglichkeiten etwa bereitete die Inhaftierten keineswegs auf einen Arbeitsmarkt vor, auf dem sie sich nach ihrer Entlassung bewähren mußten. Doch warum, so muß man sich angesichts dieser fundamentalen Konstruktionsfehler fragen, behielt beziehungsweise behält die Freiheitsstrafe ihre prominente Rolle im neuzeitlichen Strafsystem? Michel Foucault und ihm folgende Autorinnen und Autoren beschrieben die „Fabrikation" des Verbrechens als die eigentliche Perversion des Besserungsvollzugs. Das als großer Wissensapparat funktionierende Gefängniswesen - so die These - machte aus den Gesetzesbrechern erst Verbrecher, deren gesamte Biographie inklusive der kleinsten Verfehlungen und „Laster" auf Devianz hin interpretiert wurde. Der stigmatisierende Effekt der Gefängnisstrafe - so bereits ideologiekritische 113

Vgl. Ignatieff: Measure of Pain, 1978, S. 153-162; Mecklenburg: Ordnung der Gefängnisse, 1983, S. 126-143 u. Inner. Prisons for the Poor, 1987. " 4 Vgl. Spierenburg: Sociogenesis of Confinement, 1984, S. 12-24. 115 Zur Doppelfunktion der Gefangenenarbeit als Erziehungsziel und Disziplinarinstrument siehe insbesondere O'Brien·. Promise of Punishment, 1982, S. 150-190. 116 Siehe bereits die Beobachtung, daß bürokratische Vorgaben gegenüber einer industriellen Organisation des Gefangniswesens dominierten, bei Ignatieff: Measure of Pain, 1978, S. 113. Zur Gefangenenarbeit in Preußen vgl. Berger: Konstante Repression, 1974, S. 7 9 84. 1,7 Dreßen: Die pädagogische Maschine, 1982, S. 303. 118 Quanter: Zuchthaus- und Gefangniswesen, 1905/1970, S. 284.

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2 Die Anfange der Straffâlligenfursorge ( 1777-1861 )

Positionen aus den 1930er Jahren - reproduziere soziale Ungleichheit. Angesichts des Versagens der Freiheitsstrafe erfüllten die Strafanstalten nur noch einen Selbstzweck: den eigenen institutionellen Bestand zu sichern. 119 Mißerfolge und Zielkonflikte sichtbar zu machen, ist jedoch kein Verdienst der revisionistischen Forschung, denn bereits im 19. Jahrhundert diskutierten die Gefángnisexperten über diese Vollzugsprobleme. Daß das Gefängniswesen unter diesen Umständen tatsächlich überdauerte, ist erklärungsbedürftig. Das Argument der institutionellen Selbstreferentialität mag in Anbetracht des Expertenwissens, dessen systematischer Aufbau den modernen Strafvollzug von Anfang an kennzeichnete, nicht zu überzeugen. Beschreibt man wie Foucault das Strafanstaltwesen als Wissens-Macht-Komplex mit gesellschaftlichem Regulierungsziel, so ist auch auf der kognitiven Ebene nach den Erklärungen zu suchen. Im gefangnispolitischen Reformprozeß ragten die Modellanstalten wie Berge aus der Anstaltslandschaft heraus; die Insassen wurden zu Versuchsobjekten von genau protokollierten Experimenten des Strafens. 120 Die Laboratorien offenbarten bald schon die Grenzen der Disziplinarvisionen ihrer Konstrukteure und damit auch die Grenzen der Wissensstrategien. Trotz kostspieliger und aufwendiger Raffinessen wie Gesichtsmasken, Ohrenklappen und Einzelspazierhöfe blieb das Ziel, die Gefangenen vollständig zu isolieren, eine Illusion, die von den Inhaftierten unterlaufen wurde, indem sie ihre eigenen Kommunikationssysteme, etwa über die Rohrleitungen, entwikkelten. 121 Als Reaktion auf die Probleme der Einzelhaft und eines allzu technischen Besserungsverständnisses stellte sich die Personalfrage um so dringlicher, und die Pläne Wicherns waren eine, wenn auch wegen ihres religiösen Hintergrunds umstrittene Antwort darauf. Die erste Phase der Gefangnisgeschichte brachte nicht nur grundlegende Konzepte und Leitideen, sondern auch neue Problemwahrnehmungen hervor. Die Versuche, die beobachteten Schwierigkeiten zu meistern, lösten ein wahres „Wuchern" der Reformdiskurse aus. Angesichts der Erfahrungen mit den am Reißbrett konstruierten Modellanstalten wurde hier insbesondere die Theorie-Praxis-DifFerenz verhandelt. Mit Blick auf Pentonville formulierte ein Kritiker beispielhaft: „Die neuere Zeit will überall System. Das ist an sich gewiß gut; die ganze Natur beruht auf System und Ordnung, wie könnten die Menschen und der Staat ihre Institutionen regellos hinstellen? Aber die neuere Zeit speculirt in ihrem Systematisiren, und verläßt hierbei nicht selten den Weg der Natur und der Erfahrung, um einen bestimmten, nur der philosophischen Speculation angehörenden Gedanken praktisch ins Leben einzufüh-

119 Rusche/Kirchheimer. Punishment, 1939; Foucault: Überwachen und Strafen, 1994, bes. S. 27-36, 42^135 u. 394-395 u. Ludi: Fabrikation des Verbrechens, 1999. 120 Torsten Eriksson beispielsweise beschreibt die Geschichte der Gefangnisreformen als Aneinanderreihung von Strafexperimenten und Reformanstalten (vgl. Eriksson: Reformers, 1976). 121 Siehe etwa die Berichte zu Pentonville in: Temme: Strafanstalten, 1841, S. 48.

2.2 Gefängnisvereine zwischen Fürsorge- und Reformzielen

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ren, der leider niemals praktisch werden kann." 122 Die nötigen Korrekturen hätten eine dauerhafte Bereitschaft zu Experimenten und Reformen bei den Behörden vorausgesetzt. Nachdem die Gefangnisreform in den 1850er Jahren ins Stocken geriet, konnten die Nachlaßverwalter dieser unvollendeten Reform, die Anstaltsdirektoren und Vollzugspraktiker, die nun mehr und mehr die gefangniskundlichen Debatten allein bestimmten, 123 die unzureichende Umsetzung weiterer Vorschläge prinzipiell fur Mißerfolge im Strafvollzug verantwortlich machen. Die Gefangnisreform erwies sich also sowohl aufgrund der nötigen Adaptionen an die staatliche und gesellschaftliche Umwelt als auch wegen ungewollter, nicht-antizipierter Folgen der Disziplinarstrategien als komplexes Unterfangen. Obwohl Gefangnisexperten die Grenzen der Planbarkeit sahen, wurde der Glaube an dieses Großprojekt der Moderne - die gezielte Gestaltung der Gesellschaft - nicht aufgegeben. Hier offenbart sich eine Strafökonomie der anderen Art: der begrenzte Umfang an Regulierungskonzepten sowie der sparsame Umgang damit. Selbst Foucault hat in seinen späten Gouvernmentalitätsstudien lediglich zwei Typen von Regulierung im kollektiven Archiv der Moderne ausmachen können: Neben dem Disziplinierungsdispositiv stellt er als jüngeren Gouvernementalitätsstil die Biopolitik heraus. Das Arsenal an gesellschaftlichen Steuerungsinstrumenten war und ist also sehr begrenzt. Beim Gefängniswesen nährte die stagnierende Reformpolitik zugleich die Hoffnung, daß die Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft seien. So entwickelte sich unter den Gefängnisexperten das Verständnis, sich in einer Phase andauernder Reform zu befinden.

2.2 Gefangnisvereine zwischen Fürsorge- und Reformzielen Christlich-philanthropische

Ursprünge

Spezielle Vereine bildeten das organisatorische Rückgrat der Gefangnisreformbewegung. Bereits im Mai 1787 gründete „eine Anzahl angesehener Bürger" in Philadelphia eine Gesellschaft, die sich die „Abschaffung des Elends der öffentlichen Gefangnisse" zum Ziel setzte. 124 Unter der biblischen Losung „Ich bin gefangenen gewesen und ihr seyd zu mir gekommen" sollte „Menschlichkeit jenen ungerechten Leiden" vorbeugen, und es sollten „solche Stufen und Arten der Strafen aufgesucht und angewandt werden, welche anstatt das Laster zu nähren, unsere Nebenmenschen zur Tugend und Glück-

122

Temme·. Strafanstalten, 1841, S. 37. Zum Bedeutungsgewinn der Strafanstaltsbeamten gegenüber bürgerlichen Reformern und Akademikern siehe Riemer. Fürsten der Wissenschaft, 2007. 124 Gruner: Versuch über Strafen, 1799, S. 170-171. U3

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2 Die Anfänge der StrafFálligenfürsorge (1777-1861)

Seligkeit zurückführen".125 Der Verein wollte sowohl durch eigene Ärzte die medizinische Versorgung der Gefangenen gewährleisten als auch durch wöchentliche Besuche generelle Mißstände in der Strafanstalt aufdecken und Abhilfe schaffen. Ein eigenes Besucherkomitee wurde damit beauftragt, langfristig zu untersuchen, welchen Einfluß „die Einkerkerung oder Strafe auf die Moralität der Personen" habe.126 Die Mitgliedsbeiträge sollten entsprechende Verbesserungsmaßnahmen finanzieren.127 Die philadelphische Gefangnisgesellschaft entsprach ihrem Aufbau nach ganz dem zeitgenössischen Assoziationswesen, das sich im Laufe des 18. Jahrhunderts in Nordamerika und ganz Europa ausbreitete. Während sich die ersten geselligen Vereinigungen noch völlig dem „moral improvement" der eigenen Mitglieder verschrieben hatten, wandten sie sich ab den 1780er Jahren zunehmend nach außen. Sogenannte patriotische Gesellschaften setzten sich zum Ziel, den gesellschaftlichen Fortschritt zu befördern, indem sie halböffentliche Aufgaben im ökonomischen, sozialen und kulturellen Bereich ergänzend zu staatlichen Maßnahmen übernahmen. Religiöse und philanthropische Vereine richteten ihre Augenmerk insbesondere auf sozialreformerische Projekte und strebten mit ihren Wohltätigkeitsbemühungen gleichzeitig eine religiös-moralische Erziehung breiterer Volksschichten an.128 Mehr als in Europa sah sich das Assoziationswesen in Amerika, wo eine lange staatliche Tradition fehlte, verpflichtet, das Gemeinwesen politisch mit auszugestalten. Als analytischer Chronist seiner Zeit hatte Alexis de Tocqueville auf seiner Amerikareise, bei der er die neueren Entwicklungen im Gefangniswesen für Frankreich erschließen sollte, nicht zuletzt in den geselligen Vereinigungen das charakteristische Fundament der amerikanischen Demokratie entdeckt.129 Nach dem Ende der Napoleonischen Kriege kamen die Anstöße zur Gefangnisreform in Europa maßgeblich von außerhalb der Bürokratien. Anknüpfend an Howard machten zunächst in England religiös-philanthropische Kreise aus dem Umfeld der Erweckungsbewegung auf die ungelöste Gefängnisfrage aufmerksam. Charakteristisch für diese Gruppierung waren unter anderem bekehrungstheologische Vorstellungen, das Ideal der christlichen Nächstenliebe sowie ein ausgeprägter Missionsdrang, der sich in einem von England ausgehenden internationalen Vereinsnetzwerk von Bibel-, Traktatund karitativen Gesellschaften niederschlug, das infolge der Napoleonischen Kriege und ihrer religiösen Ausdeutung als gesellschaftliches Krisenphänomen stark expandierte.130 Viele europäische Gefängnisvereine der ersten 125

Gruner: Versuch über Strafen, 1799, S. 171-172. Gruner: Versuch über Strafen, 1799, S. 175. 127 Zu den Statuten des Pioniervereins in Philadelphia vgl. insgesamt die Übersetzung in Gruner: Versuch über Strafen, 1799, S. 171-176. 128 Vgl. Dann: Vereinsbildung, 1993 u. Hoffmann: Geselligkeit, 2003, S. 24. 129 Vgl. Hoffmann: Geselligkeit, 2003, S. 7-14. 130 Zur Erweckungsbewegung allgemein vgl. Gabler: Erweckung, 1991 u. Beyreuther: Erweckungsbewegung, 1963. 126

2.2 Gefängnisvereine zwischen Fürsorge- und Reformzielen

61

Generation gingen aus diesen Kontakten hervor. Zu einer ihrer Symbolfiguren avancierte im Laufe der 1820er Jahre die englische Quäkerin Elizabeth Fry, die 1816 begann, weibliche Gefangene in der Anstalt von Newgate zu besuchen. Ein Jahr später rief sie mit elf anderen Frauen die Ladies 'Association for the Reformation of the Female Prisoners in Newgate ins Leben, die in direkter Verbindung zu der gleichzeitig, ebenfalls von Quäkern gegründeten Society for the Improvement of Prison Discipline andfor the Reformation of Juvenile Offenders stand. Bereits 1821 folgte die Dachorganisation British Ladies ' Society for Promoting the Reformation of Female Prisoners. In den Fußstapfen Howards unternahm Fry unter anderem mit ihrem Bruder Joseph John Gurney mehrere Fahrten durch England, Schottland und Irland, bei denen sie Gefangnisse besuchte sowie Vereinsgründungen anregte. 1838 und 1843 führten sie ihre Missionsreisen entlang der religiösen Netzwerke auch auf den Kontinent: nach Frankreich, Deutschland, Holland, Dänemark und in die Schweiz.131 Fry organisierte Gefangenenbesuche und versuchte, weitere christliche Frauen fur diesen „Liebesdienst" zu werben. Die Besucherinnen sollten ihren gefangenen Geschlechtsgenossinnen nicht nur im Glauben Trost spenden, sondern sie auch durch religiöse Unterweisung „sittlich bessern" und ihnen gleichzeitig Fähigkeiten der Handarbeit vermitteln, um ihnen ein Auskommen nach der Entlassung zu ermöglichen.132 Damit sich diese freiwillige Fürsorge zu einer effektiven „caring power"133 entwickeln konnte, lieferte Fry in ihren Werbebroschüren gleich die Anleitung dazu mit, wie Frauenvereine sich organisieren und vernetzen sollten.134 In Newgate stellte Fry nicht nur Verhaltensrichtlinien fur die Besucherinnen, sondern auch ein Reglement für die gefangenen Frauen auf: Bettelei, Alkohol und Spiel, Fluchen sowie jeglicher „Putz" waren danach untersagt. Während Lesungen aus der Heiligen Schrift den Anstaltsalltag strukturieren sollten, fanden sich daneben die aus der Gefangnisliteratur bereits bekannten Prinzipien: Klassifizierung, Hygiene, Arbeit und vor allem Disziplin. Im Gegensatz zu späteren staatlich erlassenen Anstaltsordnungen gründete Frys Konzept allerdings darauf, daß sich die Insassinnen freiwillig unterwarfen. Diese Selbstregulierung sah außerdem vor, den Gefangenenklassen Aufseherinnen aus den eigenen Reihen voranzustellen, die sich zuvor durch Wohlverhalten ausgezeichnet hatten. Die Be-

131

Siehe den Reisebericht Fry/Gurney: Report, 1828 und die Werbeschrift Fry: An alle armen Gefangenen, 1840. Zu Frys Stationen der Gefangenenfürsorge vgl. vor allem Drenth/ Haan: Rise of Caring Power, 1999, S. 5 6 - 7 7 . 132 Fry: Andeutungen, 1840. 133 Drenth/Haan: Rise o f Caring Power, 1999, S. 15-16. Mit dem Begriff bezeichnen die Verfasserinnen die Übertragung des foucaultschen Konzepts der Pastoralmacht auf den Bereich der (weiblichen) Fürsorge. 134 Fry: Observations, 1827, S. 10-23; siehe auch die deutsche Übersetzung ausgewählter Schriften Frys in: Julius: Weibliche Fürsorge, 1827.

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2 Die Anfänge der Straffalligenfursorge (1777-1861)

suchsabordnungen sollten zugleich Anlaufstelle für Beschwerden sein, falls sich Insassinnen von den Aufseherinnen schlecht behandelt fühlten.135 Die Beiträge zur Gefangenenfrage hatten Fry innerhalb kürzester Zeit zu einer Londoner Berühmtheit gemacht.136 Sie fungierte zeitweise sogar als Beraterin des Londoner Gefängniskomitees,137 wenn auch ihren Äußerungen zu entnehmen ist, daß die Gefángnisverwaltungen privaten Initiativen gegenüber äußerst kritisch waren.138 Obwohl sie die Motivation aus ihrem Glauben speiste, machte ihre Bekanntheit nicht an konfessionellen Schranken halt, wie unter anderem das Interesse des zum Katholizismus konvertierten Julius an Frys Gefangenenarbeit beweist.139 Dem entsprechen auch neuere Interpretationen, die die Erweckungsbewegung, zumindest bis in die 1830er Jahre hinein, nicht als rein protestantisches Phänomen verstehen und die Gemeinsamkeiten zur Romantik und zum Idealismus hervorheben.140 Bei Elizabeth Fry lassen sich gleichzeitig große Affinitäten zum Materialismus, wie er den sozialen Modellen ihres Zeitgenossen Robert Owen zugrunde lag, erkennen.141 Obgleich die ersten Vereine in Amerika und England von religiösen Gruppen gegründet wurden, wäre es verzerrend, die internationale Entstehungsgeschichte der Gefangnisvereine als alleiniges Produkt der Erweckungsbewegung zu begreifen. Frys Vereinen folgten 1818 das Comité moral in Genf, 1819 der Petersburger Gefängnisverein unter dem Protektorat des Zaren, die französische Société royale pour l'amélioration des prisons, die Basler Kommission fiir Beratung und Versorgung entlassener Sträflinge und Zwangsarbeit 1821 und 1823 die Nederlandsch genootschap tot zedelijlœ verbetering der gevangenen, um nur einige der ersten bekannten Gesellschaften zu nennen. Bis 1850 hatten sich in den meisten europäischen Städten mit größeren Gefangnissen Komitees und Gesellschaften organisiert; die Entstehungszusammenhänge sowie die Zielsetzungen unterschieden sich jedoch in den einzelnen Ländern.142 Trotzdem hatte der Missionseifer der christlichen Philanthropen besonderen Anteil an der Expansion der Gefangnisvereine. Auch in Preußen lassen sich die ersten Impulse sowohl direkt als auch indirekt auf diese Kontakte zurückführen. Bereits 1824 hatte in Berlin der englische Quäker John Venning, der zu den Stiftern der ersten russischen Gefangnisgesellschaft in St. Petersburg gehörte,143 für ein solches Unternehmen geworben.144 Wenn 135

Vgl. vor allem Fry: Observations, 1827, S. 16-19. Ignatieff. Measure of Pain, 1978, S. 144. 137 Drenth/Haan: Rise of Caring Power, 1999, S. 56. 138 Fry: Observations, 1827, S. 23. 139 Siehe vor allem Julius: Weibliche Fürsorge, 1827. 140 Vgl. Gabler. Erweckung, 1991. 141 Vgl. die Hinweise auf die Diskussion bei Ignatieff: Measure of Pain, 1978, S. 148. 142 Ein erster Überblick über die internationalen Vereinsgründungen findet sich bei Fuchs: Vereinsfursorge, 1888. 143 Zur Gründung der russischen Gefangnisvereine siehe Steinberg: Strafvollzugsreform in Rußland, 1990. 136

2.2 Gefangnisvereine zwischen Fürsorge- und Reformzielen

63

dieser Appell auch nicht direkt fruchtete, so formierte sich immerhin Anfang des Jahres 1827 der Verein für die Besserung der Strafgefangenen in Berlin. 145 Aus dem Kreis der Erweckungsbewegung ging außerdem der erste bekannte deutsche Verein, die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft, hervor. Als die Vollzugskonzepte ab den 1830er Jahren zunehmend technischer wurden, begann die Bedeutung der religiösen Philanthropen innerhalb der Gefangnisreformbewegung allerdings zu schwinden. An der Person Frys läßt sich dieser Wandel sehr gut ablesen; ihre religiöse Mission sowie ihre strikte Ablehnung der Einzelhaft machten sie mehr und mehr zu einer Außenseiterin unter den Reformern. 146 Unabhängig vom späteren Bedeutungsverlust lassen diese ersten Organisationen jedoch zwei der wichtigsten Ziele der Gefängnisvereine erkennen: einerseits den Anspruch, aktiv an den Reformen teilzuhaben und eine bürgerliche Kontrollfunktion gegenüber den staatlichen Anstalten auszuüben, andererseits die Aufgabe, konkrete Fürsorgemaßnahmen für die Gefangenen zu organisieren. Wie die weitere Entwicklung der europäischen Gefangnisvereine zeigt, fanden diese verschiedenen Zweckbestimmungen in den einzelnen Staaten recht unterschiedlich Gewichtung.

Die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft als Vorbild Am 18. Juni 1826 fand in Düsseldorf die erste Versammlung der RheinischWestfälischen Gefangnisgesellschaft statt, auf der ihre konstitutiven „Grundgesetze" verabschiedet wurden. 147 Die Gründungsmitglieder stammten überwiegend aus dem Umfeld der niederrheinischen Erweckungsbewegung, wobei die zentrale Initiative von Theodor Fliedner ausging, der seit 1822 als Pfarrer der Kaiserswerther evangelischen Diasporagemeinde tätig war und später vor allem als Gründer des ersten deutschen Diakonissenhauses bekannt wurde. 148 Auf einer Kollektenreise für seine Kirchengemeinde, die ihn nach Holland und England führte, wurde er auf Vereine der Gefangnisreformbewegung aufmerksam. Sein später publizierter Reisebericht enthielt unter anderem Kapitel, die über die Vollzugseinrichtungen informierten und mit Blick auf Preußen notwendige Reformen erörterten. 149 Zurück in Kaiserswerth beschäftigte sich Fliedner intensiv mit der Gefangenenfrage, indem er sich mit den einschlägi-

144

Vgl. Julius: Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde, 1828, S. L X X X V u. 78. Zum Berliner Verein vgl. Rosenfeld: Geschichte des Berliner Vereins, 1901, S. 3 - 4 . 146 Vgl. Drenth/Haan: Rise of Caring Power, 1999, S. 62. 147 JB RWGG 1828/1, S. 5 - 1 4 . 148 Zu Fliedner und der Diakonissenhausbewegung vgl. z.B. die Haushistoriographien Gerhardt: Fliedner, 1933/1937 u. Felgentrejf: Diakoniewerk Kaiserswerth, 1998. 149 Vgl. Fliedner. Collektenreise, 1831, S. 2 2 6 - 2 5 6 , 3 2 5 - 3 8 5 u. 3 8 9 - 3 9 2 . Eine entsprechende Veröffentlichung der Englanderlebnisse kam allerdings nicht mehr zustande. 145

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2 Die Anfänge der StrafFälligenfursorge (1777-1861)

gen Reformschriften auseinandersetzte150 und begann, mit der Erlaubnis der Behörden nebenamtlich im Düsseldorfer Arresthaus zu predigen.151 Obwohl sich die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft erkennbar entlang der religiösen Netzwerke ausbreitete, wollte der Verein bewußt überkonfessionell ausgerichtet sein.152 Hierzu warben die Gründungsmitglieder bei der katholischen Geistlichkeit und bei den regionalen katholischen Honoratioren.153 So wurde nicht nur der ehemalige Verwaltungsbeamte und aufgeklärte Katholik Reichsgraf von Spee154 zum ersten Präsidenten der Gefangnisgesellschaft gewählt, sondern auch die katholischen Kirchbehörden konnten fur eine nominelle Mitgliedschaft gewonnen werden. Die Mitgliedschaft war an einen jährlichen Beitrag von mindestens einem Taler oder eine Spende von wenigstens zwei Talern gebunden.155 Im ersten offiziellen Vereinsjahr verzeichnete die Gesellschaft 510 Namen, 1829 waren es bereits über 1250 Personen.156 Neben den lokalen bürgerlichen Honoratioren, Geistlichen, Vertretern der kommunalen Verwaltungen und kirchlichen Behörden befanden sich auch höhere Beamte der preußischen Provinzialbehörden darunter.157 In Freiherr vom Stein fand die Gesellschaft einen ihrer prominentesten Unterstützer, der sie nicht nur gegenüber den preußischen Behörden empfahl, sondern darüber hinaus im Westfälischen Provinziallandtag um weitere Mitglieder und Beiträge warb.158 Hinsichtlich des Vereinszwecks orientierten sich die Gründer weitestgehend an ihren englischen und niederländischen Vorgängern und somit am

150

Vgl. dazu die Materialsammlung, FA, Nachlaß T. Fliedner, Rep. II: Ec. Gerhardt: Fliedner, Bd. 1, 1933, S. 153-154. 152 Neben Düsseldorf rekrutierten sich die Mitglieder der RWGG hauptsächlich aus Elberfeld und anderen vorwiegend protestantischen Gemeinden: JB RWGG 1828/1, S. 36-54. Am Niederrhein und in Westfalen konnte die Erweckungsbewegung auf eine starke pietistische Tradition aufbauen (Goeters: Der reformierte Pietismus, 1995 u. Peters: Pietismus in Westfalen, 1995). In Elberfeld hatte sich bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts eine religiöse Vereinslandschaft herausgebildet (Iiiner: Bürgerliche Organisierung, 1982, S. 54—73). Zum Strukturvergleich mit den Bibel-, Traktat- und Missionsgesellschaften siehe insgesamt Deimling·. Entstehung der rheinisch-westfälischen Gefangnisgesellschaft, 1986, S. 77. 153 Schreiben der RWGG an den Erzbischof von Köln (ohne Datum), in: AEK, CR 27.5,1. 154 Von Spee hatte zuvor schon an der Organisation regionaler Wohltätigkeit entscheidend mitgewirkt. Zur Person vgl. insgesamt Faßbender: Reichsgraf von Spee, 1926. 155 JB RWGG 1828/1, S. 7. 156 JB RWGG 1829/2, S. 68-95. Wie dem Mitgliederverzeichnis zu entnehmen ist, fand der Verein auch Unterstützer außerhalb Westfalens und des Rheinlandes. 157 JB RWGG 1828/1, S. 36-54. Zur Sozialstruktur der RWGG und ihrer Unterorganisationen vgl. ausfuhrlicher Recklies-Dahlmann: Religion und Bildung, Arbeit und Fürsorge, 2001, S. 62-72 sowie Deimling·. Entstehung der rheinisch-westfälischen Gefangnisgesellschaft, 1986, S. 86-87. 158 Deimling: Entstehung der rheinisch-westfälischen Gefängnisgesellschaft, 1986, S. 8 4 85. Vgl. das Promemoria von Freiherr vom Stein über die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft v. 9.12.1828, in: Stein·. Briefe und Schriften, Bd. 7, 1969, S. 455^157. 151

2.2 Gefangnisvereine zwischen Fürsorge- und Reformzielen

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Kanon der Reformvorschläge. 159 Die Gesellschaft wurde gestiftet, so bestimmte der erste Paragraph, „zur Verbesserung der Gefangenen-Anstalten in den Rheinisch-Westphälischen Provinzen Preußens". Beabsichtigt war damit „eine mit den Staatsgesetzen übereinstimmende Beförderung der sittlichen Besserung der Gefangenen, durch Beseitigung nachtheiliger und Vermehrung wohlthätiger Einwirkung". Die Gefangnisgesellschaft strebte nicht nur an, auf eigene Kosten „Hausgeistliche für jede christliche Konfession" sowie Lehrer für den „Elementar-Unterricht" einzustellen, sondern ebenso die Anstalten mit Bibeln und anderen religiösen Büchern auszustatten. Bekannte Vorschläge der Gefängnisreform wie „Klassifikation der Gefangenen" und „der leiblichen Beschäftigung während der Haft" finden sich ebenfalls unter den Paragraphen, ohne jedoch genau auszufuhren, wie diese Ziele erreicht werden sollten. Den erfolgreichen Abschluß des gemeinsamen Besserungsprojekts wollte der Verein schließlich durch Fürsorgemaßnahmen fur die Entlassenen sichern, die ihnen „Quellen ehrlichen Erwerbes" ermöglichen sollten. 160 Insgesamt erhoben die Statuten also den Anspruch, daß die private Gesellschaft an der zukünftigen Ausgestaltung der Haft aktiv mitwirkte. Der den Vereinsgrundsätzen folgende erste „Plan der Wirksamkeit" mahnte den Reformbedarf in den rheinischen und westfälischen Anstalten an. Ein kurzer Bericht über die Zustände in den Gefangnissen der beiden Provinzen legte die vorhandenen Mißstände offen und bemaß das Reformprojekt mit einfachen statistischen Hochrechnungen. „Die Reinlichkeit, Ordnung und Aufsicht" habe sich zwar verbessert und die „Aufeinanderhäufung der Gefangenen" verringert, doch nach wie vor sei „ein großer Theil der Gefangenen unbeschäftigt". 161 Auch in den freien Stunden mangle es an Möglichkeiten der geistigen Beschäftigung. Weder seien dafür Bücher vorhanden noch werde der großen Zahl „der Unwissenden" Lesen und Rechnen beigebracht. 162 Gottesdienst und Religionsunterricht fänden gar nicht oder nur sehr sporadisch statt. Schließlich mahnte der Report, die Anstaltsinsassen nach dem nordamerikanischen Vorbild bei Nacht zu isolieren. 163 Dieser Wirkungsplan sollte eine effektive Reformpolitik ermöglichen. Als erstes wollte sich der Verein das zentrale Zuchthaus in Werden vornehmen, in dem zu langjähriger

159 Vgl. dazu auch Fliedners Bericht über die niederländischen Gefangnisgesellschaften: Fliedner: Collektenreise, Bd. 1, 1831, S. 2 3 3 - 2 4 7 sowie seine Exzerpte aus den Berichten der englischen Gefängnisgesellschaften, aus Frys Veröffentlichungen über Newgate, aus dem Journal de prison sowie aus den Statuten der 1819 gegründeten Königlichen Gesellschaft zur Verbesserung der Gefangnisse, in: FA, Rep. II: Ec. Aus der Materialsammlung Fliedners geht außerdem hervor, daß er zunächst einen auf die Entlassenfürsorge begrenzten Verein im Auge hatte. Siehe dazu den entsprechenden Statutenentwurf, in: ebd. 160 161 162 163

JBRWGG JBRWGG JB RWGG JB RWGG

1828/1, 1828/1, 1828/1, 1828/1,

S. S. S. S.

5-7. 16. 17. 18.

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2 Die Anfänge der Straffálligenfürsorge (1777-1861)

Zwangsarbeit verurteilte „schwere" Verbrecher inhaftiert waren.164 Wenngleich die verschiedensten Reformkriterien angesprochen wurden, sind doch die Prioritäten des Vereins klar erkennbar: Während die Sorge um die sittlichmoralische Besserung im Vordergrund stand, fanden hygienische und medizinische Aspekte vergleichsweise geringe Beachtung. Anfang der 1830er Jahre bilanzierte Fliedner, daß die Reformgrundsätze in Preußen nach wie vor nur mangelhaft umgesetzt seien: „Sollen aber wir Deutsche nun wieder als kalte Theoretiker zwar viel über jenes System schreiben, aber wenig für dasselbe thun?" Soll „Preußen nicht jene großen Resultate des neuen Gefangnissystems in ernstliche Beratung nehmen?" Fliedner kritisierte, „daß das Flicken und Lappen an den alten Gebäuden, was nur zu lange geschehen ist, nicht hilft. Auch hier gilt: der neue Lappen reißt doch vom alten, und der Riss wird ärger."165 Den Hauptgrund für das Versagen der Behörden sah Fliedner darin, daß in Preußen eine zentrale Gefängnisverwaltung fehlte, die nicht nur für eine einheitliche Anstaltsorganisation sorgen, sondern auch ihre flächendeckende Reform effizient koordinieren sollte. Die Beispiele aus England und Holland zeigten seiner Meinung nach außerdem,166 daß dadurch ein gemeinsamer Kommunikationsraum geschaffen werden könnte, in dem „ein edler Wetteifer der Gefängnissvereine mit den Verwaltungsbehörden in freundlicher Harmonie" zu erreichen sei.167 „Mögen die Behörden ferner den Rathschlägen der Gefängniss-Vereine und anderer einzelner umsichtiger Menschenfreunde ein geneigtes Ohr leihen, und nicht säumen, die Hände ans Werk zu legen!"' 68 Anders als von Arnim verband Theodor Fliedner mit seinem Vorschlag vorrangig die Hoffnung, damit mehr Einfluß für die eigenen Reformvorschläge zu gewinnen. Die preußischen Behörden wollten dagegen die Rolle der Gefängnisgesellschaften anders verstanden wissen. Mit Blick auf die nordamerikanischen Reformen hatte Minister von Arnim noch durchaus die Notwendigkeit anerkannt, im Sinne einer Kontrollinstanz „das Publicum und die allgemeine öffentliche Theilnahme mehr in das Spiel zu ziehen".169 Er dachte dabei allerdings nicht an einen Verein, sondern wollte Bürgerliche in eine von der 164

Vgl. dazu den Bericht in: JB RWGG 1829/2, S. 50-61. Fliedner. Collektenreise, Bd. 1, 1831, S. 360-361. Für Holland, England und Schottland hatte Fliedner Belege dafür gefunden, daß die Vereine in Aufsichtsbehörden vertreten waren und mit Verbesserungsvorschlägen auf die staatliche Gefangnispolitik Einfluß nehmen konnten (Fliedner. Collektenreise, Bd. 1, 1831, S. 237-238 u. 326-327). Für die 1830er und 40er Jahre sind jedenfalls mit William Crawford und dem Anstaltspfarrer Whitworth Rüssel zwei Vertreter der Gefangnisreformbewegung zu nennen, die zu zwei der insgesamt fünf offiziellen Distriktinspektoren ernannt wurden, welche die englische Regierung in den 1830er Jahren einführte (McConville: Prison Administration, 1981, S. 171-182). 167 Fliedner. Collektenreise, Bd. 1, 1831, S. 360. 168 Fliedner. Collektenreise, Bd. 1, 1831, S. 384. 169 Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2/4, 1801/1803, S. 60. 165 166

2.2 Gefangnisvereine zwischen Fürsorge- und Reformzielen

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Anstaltsadministration unabhängige „Verwaltungscommission" der Gefangnisse einbinden. 170 Vertreter religiöser Vereinigungen wie die Quäker hatte der aufgeklärte Ministerialbeamte damals nicht vor Augen, sondern „Patrioten", die bei den Gefangenen den rein „äußeren Menschen, und den Menschen in seinen bürgerlichen Verhältnissen" im Blick behalten sollten. 171 Daß sich auch über 20 Jahre nach von Arnims Schrift das Verhältnis zwischen staatlicher Behörde und privatem Verein nicht zu einer gleichgewichtigen Kooperation in Sachen Gefangnisreform entwickeln konnte, hatte sich bereits im Bestätigungsverfahren der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschaft angedeutet. Nachdem Friedrich Wilhelm den „Plan, einen Privatverein zur Beförderung der sittlichen Besserung der Gefangenen zu stiften", prinzipiell für förderungswürdig erachtet hatte, ging der Vereinsentwurf zur genaueren Prüfung an die Ministerien. 172 Nicht nur das ministerielle Bestätigungsschreiben, 173 sondern auch die nachträglichen Anmerkungen zu den auf der konstituierenden Sitzung verabschiedeten Grundgesetzen zeigen, daß die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft nachbessern mußte. Die „Gesellschaft zur Besserung der Gefangenen-Anstalten" sei, so ist später in einer die Vereinsgrundsätze ergänzenden Fußnote nachzulesen, „eigentlich nur zur Besserung der Gefangenen, aber dadurch mittelbar zur Besserung der Gefangenen-Anstalten" gegründet worden. 174 Reizpunkt war folglich der Anspruch, die Reform der Strafanstalten direkt mitzugestalten, der aus behördlicher Sicht die Frage staatlicher Souveränität berührte. 175 Auf erste Anregungen des Vereins reagierten die Beamten entsprechend ungehalten und erklärten, daß „dergleichen unpassende Organisationsvorschläge" nicht zum Aufgabengebiet der Gefangnisgesellschaft gehörten. 176 Gefängniskundliche Beiträge aus der Feder von Anstaltsbeamten bestätigten diese ablehnende Haltung. 177 Unter den später gründeten Vereinen gab es weitere, die sich sowohl als Fürsorgeverein als auch als Reformgesellschaft verstanden. Der im Februar 1827 initiierte und im September 1828 von den preußischen Ministerien zugelassene Berliner Verein für die Besserung der Strafgefangenen nannte als seinen grundlegenden Zweck, „den Behörden, welchen die Verwaltung der 170

Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2/1-3, 1801/1803, S. 69. Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2/4, 1801/1803, S. 64-65. 172 Schreiben Friedrich Wilhelms an Prokurator Wingender zu Düsseldorf v. 1.8.1826, abgedruckt in: JB RWGG 1828/1, S. 4. 173 JB RWGG 1828/1, S. 27-30, bes. S. 29. 174 JB RWGG 1828/1, S. 6. 175 Das Gutachten des Kölner Polizeipräsidenten bestritt zwar nicht die Mißstände in den rheinischen und westfälischen Anstalten, verwies jedoch auf die bevorstehende Einfuhrung einer allgemeinen Hausordnung, die Abhilfe schaffen werde. Dagegen wurde die Mithilfe der Gesellschaft im Hinblick auf Gottesdienst, Unterricht und Entlassenenfursorge ausdrücklich begrüßt (LHK, Best. 403, Nr. 10102, Bl. 61-68, zit. Bl. 64). 176 Schreiben des rheinischen OP an das Innenministerium v. 13.7.1829, Bl. 14-30, hier Bl. 23r-24v. 177 Vgl. z.B. Eberty: Gefängniswesen, 1858, S. 81. 171

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2 Die Anfange der Straftalligenfürsorge (1777-1861)

Gefängnisse und Strafanstalten untergeordnet ist, behilflich zu sein, aus ihnen Besserungsanstalten zu machen", das heißt „den Behörden zur Kenntnis und Entfernung alles dessen behilflich zu sein, was in der Verwaltung der Strafund Korrektionsanstalten, der sittlichen und bürgerlichen Besserung ihrer Bewohner hinderlich ist".178 Schließlich strebte der Verein als „wünschenswertes Ziel" an, „wenn die Staatsverwaltung sich späterhin bewogen finden sollte, ihm die Anlegung und Einrichtung einer neuen Strafanstalt in Berlin oder dessen Nähe anzuvertrauen, diese dem Ideale einer zweckmäßig eingerichteten Anstalt der Art möglichst nahe zu bringen".179 Im Gegensatz zur Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft scheint die Bestätigung des Vereins zwar ohne nachträgliche Revision seiner Grundsätze erfolgt zu sein, doch die ministerielle Urkunde ging über diese Mitgestaltungsziele völlig hinweg und hob allein den Einsatz der Gesellschaft für die Entlassenen als erfolgversprechend hervor.180 In seiner im Frühjahr 1830 für die badische Regierung angefertigten Denkschrift „Gedanken über Bildung eines Vereins fur Verbesserung des Gefängniswesens im Großherzogtum Baden" hatte der Heidelberger Rechtsprofessor Karl Josef Anton Mittermaier nach dem Kriterium von Zweck und Funktion insgesamt fünf verschiedene „Klassen" von Gefängnisvereinen unterschieden. Die ministerielle Gründung der französischen Société royale pour l'amélioration des prisons im Jahr 1819 war einzig und allein darauf ausgerichtet, über den Zustand der Strafanstalten und eventuelle Mißbräuche zu berichten. Damit identifizierte Mittermaier einen ersten Typus, der allerdings rückblickend eher als ein Sonderfall181 zu bezeichnen ist. Die nordamerikanischen und englischen Organisationen zählte er zu einer zweiten Klasse von Vereinen, die vorrangig eine am Besserungsziel orientierte Aufsichtsfunktion über die Verwaltung der einzelnen Gefängnisse ausübten, wofür die Philadelphia Society Vorbild gewesen war. Daneben grenzte die Typologie Vereine mit spezifischeren Wirkungsfeldern ab: einerseits Vereine, die sich allein für jugendliche Delinquenten zuständig erklärten, und andererseits solche, die 178 Grundgesetze des in Berlin gestifteten Vereins für die Besserung der Strafgefangenen, abgedruckt in: Rosenfeld·. Geschichte des Berliner Vereins, 1901, S. 4-14, hier S. 4 u. 5. 179 Grundgesetze des in Berlin gestifteten Vereins für die Besserung der Strafgefangenen, abgedruckt in: Rosenfeld: Geschichte des Berliner Vereins, 1901, S. 4-14, hier S. 7. 180 Bestätigungs-Urkunde des in Berlin gestifteten Vereins für die Besserung der Strafgefangenen v. 10.9.1828, gez. Minister des Innern v. Schuckmann u. Justizminister Graf v. Dunkelmann, abgedruckt in: Rosenfeld: Geschichte des Berliner Vereins, 1901, S. 17. 181 Die Société royale pour l'amélioration des prisons initiierte Innenminister Decazes, um ein integratives Organ für staatliche Strafvollzugsreformen zu schaffen. Die Gründung war vor allem politisch motiviert und sollte zu Beginn der neuen Monarchie ein versöhnendes Signal an die gesellschaftlichen Eliten senden. Neben einigen Reformern und Experten aus dem Gefangniswesen gehörten zu ihren Mitgliedern daher vor allem führende Persönlichkeiten aus Verwaltung, Kultur und der sozialen Elite. Siehe dazu Duprat: Punir et guérir, 1980. Die Nachfolgeorganisation von 1877, die Société générale des prisons, war eine ähnlich offizielle Vereinigung (vgl. Kaluszynski: Production de la loi, 1996, S. 1-21).

2.2 Gefangnisvereine zwischen Fürsorge- und Reformzielen

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sich auf die Entlassenenfürsorge beschränkten. Für Baden lehnte er diese Spezialisierung als unzureichend ab. Als Vorbild hatte Mittermaier vielmehr den Berliner Verein und damit eine fünfte Kategorie vor Augen, die, autorisiert von der Staatsregierung und „im Einklang" mit den Anstaltsdirektionen, Anstaltsunterricht finanzieren, „Visitationskommissionen" stellen und die Fürsorge für entlassene Strafgefangene übernehmen sollte.182 An der Typologie des liberalen Rechtswissenschaftlers ist auffallend, daß die religiösen Gründungszusammenhänge und insbesondere auch die Vereine für weibliche Gefangene ebenso unerwähnt blieben wie das Ziel, für Seelsorge und religiöser Erziehung zu sorgen. Diese Leerstelle verweist auf die bereits früh in den Reformschriften angesprochene Differenz zwischen bürgerlichen und moralischen Besserungszielen - also zwischen rein physischem Gehorsam und wirklicher innerer Umkehr.183 Für die weitere Vereinsentwicklung war jedoch ein anderes Unterscheidungsmerkmal, das Mittermaier nicht thematisierte, wesentlich wichtiger: Während die nordamerikanischen, englischen und niederländischen Vereine ebenso wie die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft vorwiegend auf private Initiativen zurückgingen, waren andere von Regierungs- oder regierungsnahen Kreisen initiiert. Einfluß und Dauerhaftigkeit der Vereine hingen in unterschiedlicher Weise davon ab, ob sie Gründungen „von oben" waren. Im Berliner Fall gehörten dem fur die Statuten verantwortlichen Ausschuß führende Mitglieder oder Berater der obersten preußischen Behörden an.184 Der Verein zur Besserung der Strafgefangenen und Verbesserung des Schicksals entlassener Sträflinge im Großherzogthum Baden war 1831 aus einer noch wesentlich engeren Kooperation mit den zuständigen Behörden hervorgegangen. Zum ersten Vorstand wurde der im Justizministerium für das Gefängniswesen zuständige Referent gewählt und für die Bildung weiterer Bezirks- und Lokalvereine hatte man den Kreisdirektionen genaue Anordnungen gegeben.185 Ähnlich wie die Berliner Gesellschaft sahen die maßgeblich von Mittermaier ausgearbeiteten badischen Statuten einerseits vor, daß die Vereine sowohl die Anstaltsverwaltungen unterstützen als auch die Fürsorge für entlassene Gefangene übernehmen sollten.186 Anderseits versprachen sich die Berliner Ministerialbeamten ebenso wie ihre badischen Kollegen von den Gefängnisvereinen in erster Linie, daß durch eine geregelte Entlassenenfürsorge die Rückfalligenquote vermindert werde.187

182 Karl J.A. Mittermaier. Gedanken über Bildung eines Vereins für Verbesserung des Gefangniswesens im Großherzogtum Baden. [Heidelberg 1839], abgedruckt in: Müller: Entlassenenfursorge in Baden, 1964, S. 7 0 - 7 3 , zit. S. 71 u. 72. 183 Siehe Abschnitt 2.4. 184 Rosenfeld. Geschichte des Berliner Vereins, 1901, S. 4. 185 Müller. Entlassenenfürsorge in Baden, 1964, S. 83. 186 Vgl. die Vereinssatzung, abgedruckt in: Müller. Entlassenenfürsorge in Baden, 1964, S. 7 5 - 8 2 . 187 Wingler: Gefangenenfürsorge in Baden, 1932, S. 8.

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2 Die Anfänge der Straffälligenfflrsorge ( 1777-1861 )

Diese behördlichen Erwartungen an die Vereine entsprachen dem damaligen Staatsverständnis, wonach der gesamte Bereich der Fürsorge als vorrangig bürgerliche und kommunale Aufgabe galt. 188 In Frankreich, Belgien und anderen europäischen Ländern gab es ähnliche Bemühungen in der Gefangenenfürsorge. Die Erfolge dieser Anstöße von oben blieben allerdings weit hinter den Erwartungen zurück, denn bereits nach kurzer Zeit geriet die Expansion der Vereine vollständig ins Stocken. Manche Vereine, wie der 1844 gegründete Münchner Verein zur Obsorge für entlassene Strafgefangene, gaben schon nach wenigen Jahren wegen mangelnder Beteiligung wieder auf. Andere blieben lediglich nominell bestehen, während die Vereinsarbeit in den 1840er und 1850er Jahren fast völlig zum Erliegen kam. 189 Mittermaier erkannte rückblickend in der orbrigkeitlichen Initiierung dieser Vereine den entscheidenden Geburtsfehler: „Ein Verein, der von oben herab gemacht, durch Verfugungen angeordnet, von den Beamten in das Leben gerufen oder ängstlich controlirt ist, kränkelt schon von vorne herein." 190 In Baden, wo 1844 nur noch wenige Bezirks vereine ohne nennenswerte Aktivitäten übrig geblieben waren, nutzte der damalige Bruchsaler Strafanstaltsdirektor Diez die Gelegenheit, um die unterstützende und kontrollierende Funktion der Vereine für gescheitert zu erklären, da sie den Anstaltsbetrieb störe und zu Konflikten führe. Er wollte den Zweck der Vereine auf die Entlassenenfursorge beschränken. 191 1853 kam es daraufhin zu einer Statutenänderung, nach der sich die Besserungsvereine zu Schutzvereinen für entlassene Strafgefangene wandelten, für die staatlicherseits um Unterstützung durch die Pfarrämter geworben wurde. Dies änderte allerdings nichts am Grundproblem der mangelnden öffentlichen Resonanz und Mitarbeit der Gemeinden. Wie auch anderswo versuchten seit den 1850er Jahren statt dessen Geistliche, kirchliche Behörden und insbesondere die Vereine der Inneren Mission, eine Entlassenenfursorge zu organisieren. 192 Dem ursprünglichen liberalen Vereinskonzept war somit kein langfristiger Erfolg beschieden. Aus Baden blickte man neidvoll auf die erfolgreichere Ausbreitung der Gefängnisvereine im Nachbarland Württemberg, die auf die Initiativen von Geistlichen zurückging und die Mitarbeit der Pfarrgemeinden vorsah. 193 Die

188 Zur Armenfürsorge im 19. Jahrhundert vgl. ausfuhrlich Sachße/Tennstedt: Geschichte derArmenfflrsorge, Bd. 1, 1998, S. 195-241. 189 Zur internationalen und deutschen Entwicklung siehe Fuchs: Vereinsfursorge, 1888 sowie daneben speziell zu Hessen (Darmstadt) Hofmann·. Straffälligenhilfe in Hessen, 1991, S. 1-39. 190 Mittermaier. Gefangnisverbesserung, 1858, S. 161. 191 Müller: Entlassenenfursorge in Baden, 1964, S. 100-103. 192 Müller. Entlassenenfursorge in Baden, 1964, S. 178-194. Zur Rolle geistlicher und kirchlicher Fürsorge außerhalb Badens vgl. Fuchs·. Vereinsfürsorge, 1888, S. 36-37, 53, 55, 60-61 u. 63. 193 Der Schwäbisch Gmünder Stadt- und Strafanstaltspfarrer Viktor August Jäger hatte bereits 1820 die Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins in Württemberg auf die mangelnde

2.2 Gefangnisvereine zwischen Fürsorge- und Reformzielen

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württembergische Regierung unterstützte die Vereine durch finanzielle Zuschüsse, doch sie mußten sich von vornherein auf die Entlassenenfürsorge beschränken. 194 Das Problem der Kompetenzkonflikte, das sich bei allen deutschen Reformgesellschaften von Anbeginn an angedeutet hatte, war damit minimiert. 195 Wie speziell die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft mit diesem Spannungsverhältnis umging und ob die Gesellschaft tatsächlich für die staatliche Gefängnispolitik im 19. Jahrhundert „Ziel und Richtung gewiesen und Maßstäbe gesetzt" hat, wie ihr Chronist Deimling betont, 196 wird im Folgenden noch zu diskutieren sein.

Organisatorische

Infrastruktur

Die Gründer der in Düsseldorf ansässigen Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschaft hatten von Beginn an das Ziel, ihre Organisation flächendekkend über die beiden westlichen Provinzen Preußens auszubreiten und „für alle Gefängnisorte des Wirkungskreises korrespondierende Mitglieder auszuwählen und demnächst zu bewirken, daß für diese Orte Tochtergesellschaften gestiftet und an allen passenden Orten Hülfsvereine gebildet werden". 197 Diese „Glieder" waren zwar von der „Hauptgesellschaft" finanziell unabhängig, jedoch verpflichtet, ihre „spezielle Wirksamkeit" mit ihr abzustimmen. 198 Für die Hilfsvereine, die vorrangig für die Fürsorge der aus ihrem Ort stammenden Entlassenen sowie der Angehörigen der Gefangenen zuständig sein sollten, hatte die Gesellschaft schon bald genaue Instruktionen erlassen. 199 Unterstützung der Strafentlassenen hingewiesen. Nachdem dieser Aufruf nicht fruchtete, griff Jäger 1824 die von Carl August Zeller in seiner Schrift „Grundriß einer Strafanstalt" entworfene Idee spezieller Vereine auf. Doch trotz Unterstützung von seiten des Württembergischen Königs kam es erst einmal nicht zu einer Vereinsgründung (Scholl: Geschichte der Straffälligenhilfe, 1980, S. 32-33). Zu den Vereinsgründungen in Württemberg vgl. ausführlicher Sauer·. Im Namen des Königs, 1984, S. 223-238. 194 Müller. Entlassenenfürsorge in Baden, 1964, S. 99 u. Scholl·. Geschichte der Straffälligenhilfe, 1980, S. 37. 95 In § 2 der württembergischen Vereinstatuten heißt es ausdrücklich: „Insofern in den Württembergischen Strafanstalten fur zweckmäßige Beschäftigung, fur Religions- und Schulunterricht gesorgt und auf sittliche Besserung der Gefangenen hingewirkt wird, gründet der Verein seine Bemühungen auf die von der K. Strafanstalten-Kommission erzielten Erfolge und seine Wirksamkeit beginnt erst da, wo die unmittelbare Tätigkeit der Staatsbehörden aufhört, beim Rücktritt entlassener Strafgefangener ins bürgerliche Leben." Der Verein setzte sich darüber hinaus lediglich zum Ziel, „alle Beobachtungen und Erfahrungen, welche für die Staatsbehörden von Interesse sein könnten, zur Kenntnis derselben zu bringen, auch auf ihr Erfordern wegen einzelner bei der Verwaltung der Strafanstalten etwa zu treffenden Vorkehrungen Vorschläge zu machen". Zitiert nach Scholl·. Geschichte der Straffälligenhilfe, 1980, S. 37. 196 197 198 199

Deimling: Entstehung der rheinisch-westfälischen Gefangnisgesellschaft, 1986, S. 49. JB RWGG 1828/1, S. 10. JB RWGG 1828/1, S. 11. Siehe bereits den ersten Instruktionsentwurf in: JB RWGG 1829/2, S. 40-48.

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Ansonsten entsprach die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft ganz der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblichen Vereinsorganisation. Insbesondere die Missionsgesellschaften, die aus der Erweckungsbewegung hervorgegangen waren, hatten mit ihrem Netz von Unterorganisationen als Vorbild gedient.200 Seit 1828 veröffentlichte die Gesellschaft kontinuierlich ihre Jahresberichte - inklusive der Nachrichten aus den Zweigvereinen -, 201 die sie auch den Behörden zukommen ließ.202 Damit die Gesellschaft sich weiter ausbreitete, waren die Ausschußmitglieder gehalten, geeignete Mitglieder in den verschiedenen Regionen zu finden, die das Netzwerk mit weiteren Neugründungen verdichten sollten.203 1831 zählte die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft insgesamt neun Tochtergesellschaften mit weiteren Lokalvereinen: in Düsseldorf, Werden, Kleve, Köln, Brauweiler - hier befand sich die zentrale Arbeits- und Besserungsanstalt der Rheinprovinz - , Bonn, Trier, Aachen und Neuwied.204 Bereits 1829 hatte sich für die weiblichen Gefangenen in Düsseldorf auch ein Damenverein gegründet, dem überwiegend die Gattinnen der Ausschußmitglieder angehörten.205 Doch bereits ein Jahr später klagte der Ausschuß über Schwierigkeiten, weiter zu expandieren, und führte dies hauptsächlich auf die damalige Teuerungskrise zurück.206 Trotz der unleugbaren Stagnation in den 1830er und 1840er Jahren war die organisatorische Bilanz nach der Revolution 1848/49 im Vergleich zu den übrigen deutschen Vereinen wesentlich günstiger. Gegenüber dem expansiven Höhepunkt 1846 mit 13 Tochtergesellschaften und 125 Hilfsvereinen verzeichnete der 1851 veröffentlichte Jahresbericht immerhin noch elf Tochtergesellschaften - in Düsseldorf, Aachen, Arnsberg, Bonn, Elberfeld, Herford, Köln, Münster, Paderborn, Werden und Wesel - mit insgesamt 52 Hilfsvereinen.207 Es hatte sich also vor allem die Zahl der kleinen Zweigvereine abseits der Gefangnisse verringert. Des weiteren versuchte der Vereinsausschuß, Pfarrer und Lehrer zu finden, die in den Strafanstalten Seelsorge und Unterricht auf Kosten der Gefangnisgesellschaft übernahmen. Die Sorge um die „bürgerliche Besserung" der Gefangenen, das heißt notfalls Arbeit für die Anstaltsinsassen zu organisieren, spielte dagegen eine völlig untergeordnete Rolle in der Vereinsarbeit. Für 200

In Fliedners Schriftstücken zur Vereinsgründung befinden sich u.a. die Statuten des Kölner Missionsvereins sowie einer Bibelgesellschaft als Vorlage. Vgl. FA, RWGG Ef, Heft 1 (1824-1828). Zur Organisationsstruktur von Vereinen siehe Iiiner. Bürgerliche Organisierung, 1982, S. 207-221. 01 Die Veröffentlichung war in den Vereinstatuten festgeschrieben: §§ 8-24, in: JB RWGG 1828/1, S. 7-10. 202 Vgl. LHK, Best. 403, Nr. 4411. 203 JB RWGG 1828/1, S. 10. 204 JB RWGG 1831/4, S. 5-13. 205 JB RWGG 1829/2, S. 22. 206 JB RWGG 1832/5, S. 1-3. 207 JB RWGG 1851/24, S. 38-41.

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einige Gefangnisse konnten Ortspfarrer gefunden werden, die im Nebenamt die Anstaltsseelsorge - also Gottesdienste und die Erteilung der Sakramente übernahmen. Ziel war es jedoch, zumindest für die großen Strafhäuser eigene Hausgeistliche anzustellen, die vor allem eine intensive Einzelseelsorge ermöglichen sollten. 208 Wenngleich der Verein zunächst für Düsseldorf und Werden einen Anfang gemacht hatte und dort jeweils für beide Konfessionen Geistliche anstellte, so erwies sich dieses Unternehmen aus mehrerlei Gründen als besonders problematisch. 209 Bereits die Suche nach geeigneten Kandidaten hatte gezeigt, daß der Posten eines Hilfspredigers bei einer privaten Gesellschaft nur sehr wenige Bewerber anlockte. Gegenüber einer festen Pfarrstelle wog die Position eines Hilfspredigers nur gering. 210 Der Vereinsausschuß versuchte daher zunächst, bei den zuständigen Behörden die Versicherung einzuholen, J e n e Geistlichen, die sich dem sehr beschwerlichen Berufe, die Gefangenen und Verbrecher auf den Weg des Heiles zu führen, widmen und demselben fünf Jahre treu bleiben, bei der Verleihung guter Pfarrstellen vorzüglich" zu berücksichtigen. 211 Der Gefangnisgesellschaft fehlten die Mittel, um das ohnehin wenig angesehene Arbeitsfeld durch eine entsprechende Besoldung attraktiver zu machen. Hatte der Verein erst einmal einen Prediger gefunden, so bestand aufgrund des geringen Gehalts immer wieder die Gefahr, daß dieser den Posten nur so lange behielt, bis er anderswo eine Pfarrstelle gefunden hatte. Die 1836 vorgebrachte Klage des katholischen Geistlichen aus dem Werdener Zuchthaus, daß „ein längeres Verweilen in einem so schrecklichen Hause, an einem Orte, wo der Geistliche ziemlich vereinzelt steht [und] keine wirtschaftlichen Mittel sind", seiner „Gemütsruhe" und „Bildung zu nachtheilig" sei, war symptomatisch. 212 Für die Besoldung der Pfarrer in den Anstalten in Werden und Düsseldorf hatte die Düsseldorfer Regierung anfangs zwar einen kleinen Zuschuß ge-

208

Über die Vorteile eines Hausgeistlichen siehe Fliedner. Collektenreise, Bd. 1, 1831, S. 246. 209 Vgl. die ersten Berichte über die Arbeit der angestellten Geistlichen und des Lehrers in Werden, in: JB RWGG 1830/3, S. 20-30. 210 Vgl. die diesbezüglichen Bedenken eines Kandidaten in seinem Schreiben v. 16.12.1828 an die RWGG, in: FA, Rep. II Ee. Zur bereits von Anfang an schwierigen Kandidatensuche siehe z.B. die entsprechenden Schreiben zur Düsseldorfer Predigerstelle, in: HStAD, RW 1-192. 211 Schreiben der Düsseldorfer Regierung, Abt. des Innern, v. 13.8.1828, in: HStAD, RW 1-142. Vgl. außerdem die Korrespondenz mit dem Kölner Erzbistum, in: AEK, CR 27.5,1. Während die lokalen Verwaltungs- und Kirchenbehörden diesem Anliegen prinzipiell zustimmten, wurde es vom Berliner Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten grundsätzlich abgelehnt (Schreiben an die RWGG v. 18.10.1828, in: HStAD, RW 1-142). 212 Schreiben an die Düsseldorfer Regierung v. 7.3.1836, in: HStAD, RW 1-192.

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währt, doch damit war das finanzielle Problem bei weitem nicht gelöst. 213 Wegen der häufigen Wechsel ersuchte der Vereinsausschuß wiederholt bei den zuständigen Behörden in Berlin um finanzielle Beihilfe für die Besoldung der Geistlichen und verwies auf die ausreichende Dotierung der Anstaltsgeistlichen und Lehrer in den anderen preußischen Provinzen. 214 Doch trotz unterstützender Nachfragen des Kölner Erzbischofs sowie lokaler Honoratioren bei den Berliner Ministerien wurde lediglich für die zu dieser Zeit bereits angestellten Geistlichen in Werden und Düsseldorf die Hälfte ihres Gehalts übernommen. 215 Eine generelle Bezuschussung lehnten die preußischen Ministerien mit dem Argument ab, die Geistlichen seien keine vom Staat angestellten Beamten, sondern „Organ der Rheinisch-Westfalischen-Gefangnis-Gesellschaft". 216 Hier ging es nicht um eine generelle Absage an Seelsorge und Unterricht in den Strafanstalten, wie die ministerielle Korrespondenz zeigt: „Möchte demnächst, was aber abzuwarten sein dürfte, die gedachte Gesellschaft die von ihr ausgegangene Anstellung der Geistlichen und Schullehrer bei den Strafanstalten zurücknehmen, so würde alsdann die Staats-Behörde dem Bedürfnisse allerdings genügend abhelfen müssen." 217 Das Innenministerium erklärte sich bereit, die Besoldung ganz zu übernehmen, allerdings nur unter der Bedingung, daß der Verein von einer eigenen Anstellung absehe. 218 Auch bei der Besoldungsfrage ging es den Behörden darum, den staatlichen Zuständigkeitsbereich klar abzugrenzen. Langfristig übernahm die Staatskasse im Rheinland ebenso die Bezahlung der Anstaltsgeistlichen und Lehrer, wie es in den übrigen preußischen Provinzen von vornherein der Fall gewesen war. Der Übergang in die staatliche Anstellung vollzog sich sukzessive seit den 1840er Jahren. 219 Damit gehörten die Seelsorger neben Direktor, Inspektor, Arzt und Sekretär zu den oberen Strafanstaltsbeamten. Doch nur in größeren Strafanstalten wurden vom Staat eigens hauptamtliche Geistliche und Lehrer angestellt, so daß die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft weiterhin 213

Die Schreiben der Düsseldorfer Regierung an die RWGG vom Juni 1828 u. v. 25.10.1828, in: H St AD, RW 1-142. 214 Schreiben der RWGG an v. Altenstein und v. Brenn v. 12.10.1830, in: GStAPK, I. Rep. 89, Nr. 18632. 215 Vgl. dazu Schreiben des Kölner Stadtrates v. Wittgenstein an den preußischen König v. 2.2.1831, in: GStA PK, I. Rep. 89, Nr. 18632 und die Korrespondenz zwischen der RWGG und den Berliner Ministerien, in: HStAD, RW 1-142 sowie mit dem Kölner Erzbischof in dieser Angelegenheit, in: AEK, CR 27.5,1. 216 Schreiben der Minister v. Altenstein und v. Brenn an die RWGG vom 20.12.1830, in: GStA PK, I. Rep. 89, Nr. 18632. 217 Schreiben der Minister v. Altenstein und v. Brenn an den König v. 12.10.1830, in: GStA PK, I. Rep. 89, Nr. 18632. 218 Schreiben der Minister v. Altenstein und v. Brenn an den preußischen König v. 24.6.1833, in: GStA PK, I. Rep. 89, Nr. 18632. 219 Zur Anstellung und Finanzierung der Seelsorger und Lehrer vgl. insgesamt die Akten HStAD, RW 1-142, RW 1-192 u. RW 1-199.

2.2 Gefángnisvereine zwischen Fürsorge- und Reformzielen

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ihr Augenmerk auf die Seelsorge- und Lehrerstellen richtete, sei es indem sie hauptamtliche Stellen an expandierenden Strafanstalten einforderte oder indem sie sich für kleine Geiangnisse einsetzte und hier vereinzelt auch für nebenamtlich tätige Pfarrer Besoldungszuschüsse gewährte. Nicht selten schuf sie damit Fakten für spätere Lohnverhandlungen mit den Behörden. 220 Da die Geistlichen als Bindeglied zwischen dem Gefangnisverein und den Strafanstalten füngieren sollten, hatte der Ausschuß weiterhin großes Interesse an den Seelsorgerstellen. Bereits in den Bittschreiben nach Berlin wurde betont, daß die Geistlichen zugleich als „Hauptorgan der Gesellschaft" wirken sollten, und nicht zuletzt dieser Punkt hatte den Widerstand der Ministerialbürokratie erregt. 221 Die staatliche Anstellung änderte allerdings nichts daran, daß die Gefängnispfarrer in enger Verbindung zu den Vereinen standen. Die von den Behörden ausgearbeiteten Anstaltsreglements schrieben in der Regel dem Seelsorger die Aufgabe zu, die Fürsorge für die Entlassenen vorzubereiten und einzuleiten. 222 Für die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft hatten sie aber vor allem über die Situation in den Anstalten Bericht zu erstatten. Ihnen war die Rolle eines Gefangnisexperten zugedacht, die sie gegenüber den übrigen Vereinsmitgliedern, die auf diesem Gebiet mehrheitlich Laien waren, heraushob. Die personelle Kontinuität war damit für die Gefängnisgesellschaft um so wichtiger. Die ersten Reporte stammten noch aus der Feder von Theodor Fliedner, der von den baulichen Gegebenheiten über das Personal bis hin zu den verhängten Disziplinarstrafen alles akribisch festgehalten hatte. 223 Von den ihm folgenden Geistlichen wurden zumindest regelmäßige Berichte über die Wirksamkeit von Seelsorge und Religionsunterricht sowie Hinweise auf Mißstände in den Strafanstalten erwartet. Die Instruktionen des Vereins schrieben neben Quartalsberichten außerdem vor, ein Tagebuch zu führen, das die seelsorgerische Arbeit sowie das Verhalten der einzelnen Gefangenen während der Haft - in sogenannten Konduitenlisten - festhalten sollte. Nicht immer war der Ausschuß mit den abgegebenen Berichten zufrieden, so daß ein genaues Darstellungsschema vorgegeben wurde: Beobachtungen über die Wirkung von Gottesdienst, Religionsunterricht und spezieller Seelsorge anhand des Verhaltens der Gefangenen, Report über die Entlassenen - möglichst inklusive ihres weiteren Werdegangs - sowie schließlich allgemeine, praktische Verbesserungsvorschläge, die den Besserungszweck der Strafanstalten befördern könnten. 224 220

Siehe den Hinweis auf die Gehaltsverhandlungen in Aachen, in: HStAD, RW 1-192: Schreiben des Düsseldorfer Anstaltsgeistlichen an die RWGG v. 13.2.1838. 221 Schreiben der RWGG an Staatsminister Grafen von Lottum v. 16.1.1831, in: GStA PK, I. Rep. 89; Nr. 18632. 222 Vgl. dazu den Abschnitt 2.4. 223 Vgl. dazu FA, Rep. II: Ec u. RWGG Ef (Heft 1). 224 Siehe die Vorgaben für den Düsseldorfer Anstaltsgeistlichen vom Juli 1831, in: FA, Rep. II Ed. Allgemein zu den Instruktionen, Berichten und Problemen bei der Berichterstat-

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2 Die Anfange der Straffalligenfìirsorge (1777-1861)

Diese Meldungen bildeten die Grundlage für die Nachrichten über die Anstalten in beiden Provinzen, die den Hauptteil der Jahresberichte ausmachten. Ergänzt wurden sie in den ersten Jahren durch kleinere Statistiken zu den Gefangenenzahlen, zur Deliktverteilung und zur allgemeinen Bevölkerungsentwicklung, fur die extra Informationen bei den Behörden eingeholt wurden, allerdings erwiesen sich diese Recherchen bald schon als zu aufwendig.225 Die veröffentlichten Anstaltsberichte glichen zunehmend einer unkritischen Bestandsaufnahme, ohne daß Vollzugsprobleme systematisch herausgearbeitet wurden. Nur noch gelegentlich kamen aktuelle Themen der Gefángniskunde und staatlichen Strafvollzugspolitik zur Sprache, so daß der ursprüngliche Reformanspruch zusehends verblaßte. Bis Anfang der 1860er Jahre beanspruchte der Aufbau einer organisatorischen Infrastruktur fast vollständig die Arbeit des Ausschusses. Nach Fliedners Reisebericht hatte sich vorerst kein Mitglied mehr mit eigenen publizistischen Beiträgen an den seit den 1840er Jahren anschwellenden gefangniskundlichen Debatten beteiligt. Allein auf dem begrenzten Gebiet der Straffalligenfìirsorge hatte sich der Verein als Expertenkreis profiliert und suchte den Austausch mit anderen Gefängnisvereinen. Die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft hatte bereits in den ersten Jahren versucht, Kontakt zu ähnlichen Vereinen im In- und Ausland aufzunehmen und Informationen über entsprechende Aktivitäten zu sammeln, aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschränkte sich die Korrespondenz darauf, Statuten, Instruktionen und Jahresberichte auszutauschen. Neben den Kontakten in England und Holland, die bereits durch Fliedner geknüpft worden waren, stand der Ausschuß bald schon mit dem Berliner Verein, der zweiten in Preußen gegründeten Organisation, in Verbindung.226 Weitere Kontakte bestanden in dieser Zeit mit Vereinen in Württemberg, Baden, Sachsen, Schlesien, Hessen, Hannover und Wien.227 Gegenseitige Besuche, wie der von Elizabeth Fry, die gemeinsam mit dem Düsseldorfer Damenverein die im dortigen Arresthaus inhaftierten Frauen besuchte und sich über die Arbeit der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft informierte, waren eher die Ausnahme.228 Nur in den ersten Vereinsjahren reisten Mitglieder nach Frankreich, London und in die Schweiz.229

tung vgl. FA, RWGG Ef, Heft 1^1 sowie Rep. IIEe; HStAD, RW 1-186, 1-192, 1-193, 1199 sowie 1-204. 225 JB RWGG 1829/2, 1830/3 und 1831/4. Vgl. zu den Anfragen an die Behörden die entsprechenden Schreiben der RWGG, in: FA, RWGG Ef, Heft 2-3. 2 6 Da sich der Berliner Verein zum Ziel gesetzt hatte, seinen Wirkungsbereich über die verschiedenen preußischen Provinzen auszudehnen, ging es in der Korrespondenz zunächst einmal darum, die regionale Zuständigkeit abzugrenzen (HStAD, RW 1-133). 227 HStAD, RW 1-49, RW 1-135, RW 1-137, RW 1-138, RW 1-139, RW 1-322 u. RW 1323. 228 JB RWGG 1840/13, S. 3-6. 229 JB RWGG 1830/3, S. 12. Zur Bedeutung der Reiseberichte im gefángniskundlichen Diskurs vgl. Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 288-293.

2.2 Gefangnisvereine zwischen Fürsorge- und Reformzielen

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Obwohl die organisatorische Arbeit überwog, blieb für die RheinischWestfälische Gefangnisgesellschaft die Kenntnis der neuesten gefangniskundlichen Reformdebatten ein wichtiges Kapital, das es zu pflegen galt. Von den Reisen wurden Schriften mitgebracht, 230 und der von der Gesellschaft hinterlassene Bücherbestand zeigt, daß von Anfang an auf breiter, internationaler Basis Fachliteratur und Informationen zu ausländischen Reformmaßnahmen gesammelt wurden. 231 Zum ersten Gefangniskongreß mit internationaler Beteiligung, der 1846 in Frankfurt am Main stattfand, schickte der Ausschuß immerhin einen eigenen Vertreter, die weiteren Kongresse wurden mit Interesse verfolgt, ohne daß sich der Verein jedoch aktiv einschaltete. 232 Wie ist nun die Bedeutung der deutschen Gefangnisvereine und speziell der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschaft für die Gefangnisreformbewegung insgesamt zu bewerten? Einen legitimierten „Ort" der Gefängniskunde, der insbesondere als „Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis" fungierte und die „empirischen Daten" für die Reformdebatten lieferte, wie Thomas Nutz die Funktion der Vereine beschreibt, stellten sie innerhalb der deutschen Staaten nur dem Anspruch nach dar.233 Das rheinisch-westfälische Beispiel zeigt, daß der Wille vorhanden war, sich wie die ausländischen Vorbilder aktiv an der Reform des Strafvollzugs zu beteiligen. Auch die christlich-philanthropischen Vereinsvertreter orientierten sich an der Gefangniskunde mit ihren empirischen Diskurspraktiken und versuchten schematisch sowie statistisch die regionale Anstaltslandschaft zu erfassen. Sie gründeten die Seelsorgearbeit auf Strategien der protokollierten Beobachtung und Selbstkontrolle, ganz wie Foucault den gefangniskundlichen Wissensapparat beschrieben hat. Doch das private Angebot, bei der Reform des Gefangniswesens behilflich zu sein, lehnten die Behörden ab. Dies war nicht allein eine ministerielle Entscheidung der staatlichen Souveränität. Auch einflußreiche Praktiker wie die Strafanstaltsdirektoren verstanden die Vereinvorschläge als unwillkommene Einmischung und waren lediglich dazu bereit, bei der Entlassenenfürsorge zusammenzuarbeiten. Dort, wo die Regierungen die mitwirkende Rolle von Vereinen etwas mehr schätzten und selbst den Anstoß zur Gründung gaben, wie in Baden, fehlte von Anfang an die personelle Basis. Die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft war gemessen an ihrer Größe die erfolgreichste Organisation innerhalb der deutschen Vereinslandschaft. Die vielfältigen Kontakte mit anderen religiös-philanthropischen Vereinen gaben ihr eine stabile Grundlage; selbst die sozio-ökonomischen Krisen der 1840er und 1850er Jahre überstand sie mit vergleichsweise geringen Ein-

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J B R W G G 1830/3, S. 12. HStAD, RW 1, Findbuch 420.01.2 (Verzeichnis der gesammelten Schriften) u. JB RWGG 1843/16fF. 232 Siehe die ersten Kongreßberichte, in: JB RWGG 1847/20, S. 3 - 5 u. 1848/21, S. 1-8. 233 Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 269 und zur diskursiven Rolle der Vereine vgl. insgesamt S. 2 6 3 - 2 7 0 . 231

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2 Die Anfänge der Straífálligenfursorge (1777-1861)

büßen. Der organisatorische Aufwand, das Vereinsnetzwerk aufzubauen und zu erhalten, bedeutete jedoch, daß sich der Spagat zwischen Reformgesellschaft und Fürsorgeverein ganz unabhängig von der behördlichen Abwehrhaltung von vornherein als schwer zu bewältigende Aufgabe erwies. Die Wissensarbeit konnte selbst nicht in dem Maße geleistet werden wie ursprünglich geplant, und jährlich veröffentlichte Vereinsberichte, wie sie bei der Düsseldorfer Hauptgesellschaft üblich waren, stellten ohnehin eine Ausnahme dar.234 Erschwerend kam hinzu, daß die Seelsorger in dieser ersten Phase nicht in die Position erfahrener Gefangnisexperten hineinwuchsen, weil dafür die Fluktuation einfach zu groß war. Prägend wirkten die Gefangnisvereine also in erster Linie auf die Seelsorge und die Fürsorge, wofür insbesondere Fliedner und der Ausschuß der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschaft genaue Instruktionen ausarbeiteten. Die Betonung der religiös-moralischen Unterweisung der Gefangenen ließ die Gesellschaft allerdings ab den 1830er Jahren, als sich Konzepte der physischen Disziplinierung durchsetzten, mehr und mehr an den Rand der Gefängnisreformbewegung rücken. 235 Aus der Gefangnisreformbewegung hervorgegangen, bildeten die deutschen Vereine letztlich einen spezifischen, zunehmend marginalisierten Bereich des Besserungsprogramms aktiv ab: die Straffalligenfursorge. 236

2.3 Zum Verhältnis von Verbrecherbild und Strafkonzeption Die Ungleichzeitigkeit von Strafdiskursen Die neuzeitlichen Strafinstitutionen bilden einen relativ großen Ausschnitt gesellschaftlicher Normen und herrschaftspolitischer Zielvorgaben ab, doch der dahinterliegende Zuschreibungsprozeß ist komplex und die Normselektion spiegelt sich nicht allein im materiellen Strafrecht wider. Der kritischen Kriminologie ist es zu verdanken, daß der rechtspositivistische Verbrechens-

234

Für Baden erschienen erst seit 1883 periodische Vereinsberichte (Wingler. Gefangenenfürsorge in Baden, 1932, S. 1). Viele Gefängnisgesellschaften veröffentlichten lediglich ihre Statuten sowie interne Nachrichten in zumeist unregelmäßigen Abständen in den „Jahrbüchern der Straf- und Besserungs-Anstalten, Erziehungshäuser, Armenfursorge, und anderer Werke der christlichen Liebe" und ihren Nachfolgern, den „Jahrbüchern der Gefangniskunde und Besserungsanstalten". 235 Die schwindende Bedeutung der Vereine für den gefangniskundlichen Diskurs läßt sich an den Jahrbüchern flir Gefängniskunde und Besserungsanstalten ablesen, in denen Berichte über die Vereinsarbeit kontinuierlich abnahmen. Vgl. insgesamt die Jahrbücher von 1842/1 bis 1848/11. 236 Im Umkehrschluß läßt sich bemerken, daß gerade in England, wo die technische Perfektionierung der Besserungsmaschine im Vordergrund stand, sich relativ spät - erst seit Ende der 1850er Jahre - ein Vereinswesen herausbildete, das die Entlassenenfürsorge organisierte (vgl. Fuchs: Vereinsfürsorge, 1888, S. 13-17).

2.3 Zum Verhältnis von Verbrecherbild und Strafkonzeption

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begriff verabschiedet und die gesellschaftliche und institutionelle Konstruktion von Kriminalität aufgezeigt wurde. Neben der Legaldefinition sind insbesondere „sekundäre Normen" zu beachten, die wiederum die Sanktionspraxis bestimmen und die Strafgewalt regulieren. 237 Die Summe der Kriminalitätsdefinitionen ergibt allerdings kein kohärentes Bild. Schon rein historisch gesehen war das staatliche Strafsystem nicht aus einem Guß, denn seine verschiedenen Einrichtungen entwickelten sich durchaus unabhängig voneinander, wie die bereits erwähnte fehlende Verknüpfung der Gefangnisreform mit den Strafrechtsdebatten zeigt. Die Strafkonzepte und Kriminalitätsvorstellungen variierten, was zu konkurrierenden Leitbildern und institutionellen Konflikten führte. Die Strafrechtswissenschaft bewegten zum Zeitpunkt, als sich die Freiheitsstrafe zu etablieren begann, ganz andere Fragen als die Gefangnisreformbewegung. Die großen Rechtskodifikationen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts leiteten einen Prozeß der Verrechtlichung ein. Ihre strafrechtlichen Teile definierten Verbrechen über einen umfassenden Katalog von Tatbeständen, während frühere Kodizes, wie etwa die langlebige Constitutio Criminalis Carolina aus dem Jahre 1532, lediglich vereinzelt Straftatbestände gefaßt und in der Hauptsache prozedurale Aspekte des Gerichtsverfahrens bestimmt hatten. 238 Den Formalisierungsgrundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege", der das Strafrecht bis heute leitet, die säkulare, rechtsphilosophische Legitimierung der staatlichen Strafgewalt sowie der Wegfall vieler religiöser und einiger Sittlichkeitsdelikte feierten die Rechtsgelehrten der Aufklärung sowie nachfolgende Generationen von Juristen als reformiertes Rechtssystem, das sich der Religion und Moral entledigt hatte: Straftat und Sünde würden nun nicht mehr in eins gesetzt. Mit Blick auf die Debatten zur Schuldzurechnungsfahigkeit und den Einzug medizinischer Expertise in den Gerichtssaal Ende des 18. Jahrhunderts hebt die Forschung als weiteres Charakteristikum der aufklärerischen Strafrechtsreform die Individualisierung des Strafens hervor. Die ideengeschichtlich orientierte Rechtsgeschichte versteht die individuelle Strafabstufung als humanitären Fortschritt, auch wenn sie kaum erklären kann, warum das alte Prinzip der Tatvergeltung mit seiner Proportionalität von Tat und Strafe daneben fortbestand. 239 Dagegen wurde in der Tradition von Michel Foucault mit den Anfängen von Kriminalpsychologie und forensischer Psychiatrie die Savelsberg: Norm, Normgenese, 1993, S. 367. Zur Komplexität und den analytischen Problemen der Normgenese vgl. insgesamt ebd. u. Haferkampf/Lautmann·. Genese kriminalisierender Normen, 1975, S. 242-243. 238 Kleinheyer. Wandlungen des Delinquentenbildes, 1980, S. 231. 239 Siehe zuletzt etwa Greve: Verbrechen und Krankheit, 2004, bes. S. 24 und Gerd Kleinheyer, der nur unter großer argumentativer Anstrengung das Fortbestehen des Tatvergeltungsgedankens, das an das Proportionalitätsprinzip gekoppelt ist, erklären kann, um die ideengeschichtliche Kohärenzen des strafrechtlichen Reformdiskurses nicht zu gefährden (Kleinheyer. Wandlungen des Delinquentenbildes, 1980, S. 237-238).

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2 Die Anfänge der Straffalligenfursorge ( 1777-1861 )

Perspektiwerschiebung von der Tat zum Täter identifiziert, die den Legalismus zunehmend ausgehöhlt habe: Das Strafen möge vielleicht milder und weniger willkürlich geworden sein, dafür aber auch wesentlich intensiver und universeller. Nun stehe nicht mehr der Gesetzesbruch, sondern die gesamte Lebensführung der Angeklagten zur Verhandlung. 240 Beide Interpretationen sind zu relativieren: Weder war das Kriterium der Zurechnungsfahigkeit ein reines Produkt höherer humanitärer Ziele, noch kann davon gesprochen werden, daß die medizinische Expertise die Rechtsprechung infiltrierte und damit erst die individuelle Lebensführung juristische Relevanz erlangte; die Ergebnisse frühneuzeitlicher Kriminalitätsstudien, denen eine Vielzahl von Prozeßakten zugrunde liegen, verdeutlichen, wie weitgehend die Beurteilung der Angeklagten auch damals schon ging. Der Dualismus zwischen Tat- und Täterperspektive, der später im Kaiserreich gar als Hindernis einer effektiven Kriminalpolitik problematisiert wurde, läßt sich besser als Effekt einer sich ausdifferenzierenden und formalisierenden Rechtsprechung beschreiben. Die Täterperspektive entsprang dem juristischen Diskurs selbst, wie die Debatten um das Kriterium der Zurechnungsfahigkeit deutlich machen. 241 Die Proportionalität von Tat und Strafe kam durchaus dem aufklärerischen Bedürfnis nach objektiven Beurteilungskriterien entgegen, die eine Willkürjustiz verhindern und die staatliche Strafgewalt begrenzen sollten. Die individuelle Schuldzumessung paßte sich in Form abgestufter Strafen in diese Vorstellung ein. Während die Formalisierung durch die kodifizierten Straftatbestände die Komplexität des Strafens reduzieren sollte, wurde bei der gerichtlichen Beurteilung der individuellen Schuld die rechtliche Entscheidung allerdings wieder konkret, das heißt von gesellschaftlichen und moralischen Wertvorstellungen bestimmt. 242 Das moderne Narrativ des Rechtsstaates, symbolisiert durch die Figur der Justitia, verdeckte dieses subjektive Moment der Rechtsprechung weitestgehend. Zugleich sind Gerichtsmedizin und Kriminalpsychologie als richterliche Entscheidungshilfen aufzufassen und damit als Versuch zu verstehen, auch hier mehr Objektivität und Verfahrenssicherheit zu erlangen. Die Suche nach objektiven Kriterien, um Kriminalität zu bemessen und Strafen festzulegen, läßt sich seit dem Ende des 18. Jahrhundert ganz allgemein beobachten; die Gefangniskunde ist ein weiterer Beweis dafür. Doch die Debatten zum Strafvollzug wurden von anderen Fragen und Perspektiven bestimmt als die der Strafrechtswissenschaft. 243 Nachdem die Folter als gericht240 Foucault: Überwachen und Strafen, 1994, S. 27-33, prononciert S. 104 u. 113 sowie Foucault'. Die Anormalen, 2003, S. 32-46. 241 Die Täterorientierung ist nicht genuin eine Sache des Strafvollzugs, wie Ludi: Fabrikation des Verbrechens, 1999, S. 144-155 behauptet. 242 Zur Formalisierung und Ausdifferenzierung des Rechts siehe z.B. Mohr. Rollen, Normen, Wert, 1991, S. 212-214. 243 Foucault thematisiert diese historischen Ungleichzeitigkeiten nicht, da für ihn die „Kohärenz ihrer Resultate" zählt. Sowohl die medizinische Gutachterpraxis als auch die Besse-

2.3 Zum Verhältnis von Verbrecherbild und Strafkonzeption

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liches Untersuchungsinstrument im Laufe des 18. Jahrhunderts verschwand, veränderten sich zwangsläufig die Wahrheitsdiskurse im Rechts verfahren. 244 Nicht mehr Rituale der Gewalt oder göttliche Zeichen bestimmten die kriminalistische Evidenz. Tat, Täter, Tatumstände und materielle Beweise mußten nun zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die Straftat sowie ihre Motive und Handlungskontexte galt es genau zu erforschen, um die individuelle Schuld bemessen zu können. Normalistischer Ausgangspunkt war und ist dafür bis heute grundsätzlich die neuzeitliche Vorstellung eines selbstbestimmten Menschen, dessen freier Wille seine Handlung leitet. Mit dem Konzept des freien Willens verband sich in der Aufklärung jedoch von vornherein die Frage nach den Grenzen menschlicher Handlungsfreiheit und nach psychologischen Zwängen. 245 Die Rechtsfindung entwickelte sich zu einem komplizierten Vorhaben, das dem richterlichen Urteilsvermögen mehr als zuvor abverlangte. Erste gerichtsmedizinische Erkenntnishilfen zur Klärung spezieller Tatbestände hatte bereits die Carolina vorgesehen. 246 Die Vorläufer der forensischen Psychiatrie lassen sich dann bereits im 17. Jahrhundert ausmachen; vor allem aber seit Ende des 18. Jahrhunderts erörterten Ärzte Fragen über Geistes- und Gemütszustände vor Gericht stehender Personen. 247 Was den strafrechtlich relevanten Aspekt der Schuldfahigkeit betrifft, so Schloß bereits die Carolina Kinder sowie geistesgestörte Angeklagte davon aus. Bis ins 18. Jahrhundert galten daneben alle krankhaften Störungen des Verstandes wie „Tobsucht", „Wahnsinn" oder „Blödsinnigkeit" als Ausschließungsgründe für einen Schuldspruch. Die naturrechtliche Imputationslehre führte schließlich das Prinzip der Willensfreiheit als Kriterium der Zurechnungsfähigkeit in das Strafrecht ein. 248 Im Konkurrenzkampf um den Kompetenzanspruch, Verstandesstörungen sowie Gemüts- und Seelenzustände zu beurteilen, hatten sich die Mediziner gegenüber Philosophen und Theologen durchgesetzt und dabei die bis dahin geltende dualistische Vorstellung von Leib und Seele überwun-

rungsstrategien versteht er als Techniken der „politischen Ökonomie des Körpers" (Foucault: Überwachen und Strafen, 1994, S. 37). 244 Die Abschaffung der Folter vollzog sich regional sehr unterschiedlich (vgl. dazu z.B. Kleinheyer. Wandlungen des Delinquentenbildes, 1980, S. 238-239). 245 Zur komplexen Diskussion über Willensfreiheit in ihrer Gegenüberstellung von krank und gesund zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowie den daraus resultierenden Beurteilungskriterien der Zurechnungsfähigkeit und Fahrlässigkeit vgl. z.B. Holl: Fahrlässigkeitsdogmatik, 1992 sowie Greve: Verbrechen und Krankheit, 2004, S. 210-231 u. 236-242. 246 Fischer-Homberg: Medizin vor Gericht, 1983, S. 25-28. 247 Fischer-Homberg: Medizin vor Gericht, 1983, S. 134-160. Auch Maren Lorenz betont, daß die gerichtsmedizinische Praxis nicht erst seit den 1820er und 1830er Jahren zu beobachten ist, wie Michel Foucault mit Blick auf Frankreich konstatierte (Lorenz·. Kriminelle Körper, 1999, S. 16 u. 27-29). 248 Kleinheyer. Wandlungen des Delinquentenbildes, 1980, S. 235-236 u. Kaufmann·. Psychiatrie und Strafjustiz, 1991, S. 25-27.

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den.249 Die Richter waren in der Regel darauf angewiesen, in Zweifelsfallen die gutachtliche Beratung eines Medizinalbeamten zur Rate zu ziehen.250 Anhand von Fallsammlungen läßt sich nachvollziehen, daß die Beurteilung von individueller Schuld und Zurechnungsfahigkeit zu wachsender Unsicherheit bei Gelehrten und praktischen Juristen führte. Während noch die frühen Sammlungen, wie das große Vorbild, die vom französischen Juristen François Gayot de Pitaval zwischen 1734 und 1743 veröffentlichten Bände, vor dem Hintergrund der Willkürkritik vor allem Verfahrensfragen und Justizirrtümer thematisierten,251 ging es bei den späteren Publikationen, wie etwa den beiden Sammlungen des einflußreichen Strafrechtswissenschaftlers Johann Anselm Feuerbach, Merkwürdige Criminal-Rechtsfälle und Actenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen, eher um das Problem, wie die Schuldhaftigkeit zu beurteilen sei.252 Die zumeist spektakulären Rechtsfalle stießen nicht nur in die Grenzbereiche menschlichen Verhaltens, sondern auch in solche der richterlichen Urteilsfindung vor. Diesen gesammelten Kriminalfallen folgten bald schon kasuistische Sammlungen aus der gerichtsmedizinischen Praxis, die unter anderem Gutachten über Gemütsund Geisteszustände enthielten.253 Im Gegensatz zu Feuerbachs psychologischen Erklärungsmustern suchten die Mediziner nach psychopathologischen Gründen fur die kriminelle Handlung. Sie tasteten die „kriminellen Körper" und ihr Vorleben nach erkennbaren somatischen Zeichen ab, die auf seelische Störungen hinweisen konnten. Der Einzug ärztlicher Expertise in die Rechtsprechung blieb freilich nicht unproblematisch und führte zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen Jurist und beratendem Arzt. Mitunter stellten die medizinischen Urteile das kodifizierte Recht regelrecht in Frage, wessen sich die Mediziner durchaus bewußt waren.254 Trotzdem stieg seit den 1820er Jahren die Zahl der eingeforderten 249

Fischer-Homberg: Medizin vor Gericht, 1983, S. 87-89; Kaufmann: Psychiatrie und Strafjustiz, 1991, S. 26-29 u. Lorenz: Kriminelle Körper, 1999, S. 12-13. 250 Wie in der Criminalordnungfiir das Königreich Preußen von 1860 waren auch in anderen deutschen Staaten ähnliche Regelungen erlassen worden. Vgl. dazu Greve: Richter und Sachverständige, 1999, S. 89-90. 251 „Der" Pitaval war äußerst berühmt; die deutsche Übersetzung besorgte Schiller/ Niethammer. Merkwürdige Rechtsfalle, 1792-1796. 252 Feuerbach: Criminal-Rechtsfaelle, 1808 u. Feuerbach: Aktenmäßige Darstellung, 1828-1829. Zu den juristischen Kriminalgeschichten vgl. außerdem das Nachwort in: Linder: Kriminalgeschichten, 1990, S. 231-256 u. Duhnke: Straff der Missethätter, 1996. 253 Zu den frühen medizinischen Fallsammlungen vgl. vor allem das Quellenverzeichnis von Lorenz: Kriminelle Körper, 1999, S. 462-467. 254 Doris Kaufmann verweist auf die kritische Reflexion bei Karl Ideler, dem ärztlichen Direktor der Irrenabteilung der Berliner Charité, die auf drei Problembereiche im Verhältnis zwischen Richter und ärztlichem Gutachter aufmerksam mache: erstens auf die juristische Kritik an den Ärzten, sie würden sich zu Advokaten der Angeklagten aufspielen und diese durch eine medizinische Diagnose von der Schuld freisprechen; zweitens auf die Angst der Juristen vor einem immer weiter gefaßten Krankheitsbegriff und einem damit

2.3 Zum Verhältnis von Verbrecherbild und Strafkonzeption

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medizinischen Gutachten tendenziell an. 255 Wenngleich sich die Richter fortan nicht einfach unkritisch den Gutachten anschlossen und insbesondere bei neueren Krankheitsdeutungen sowie bei in psychiatrischen Fragen unerfahrenen „Kreisphysici" Zweifel anmeldeten, fanden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert verstärkt pathologische Verbrechensdeutungen Eingang in die Strafrechtswissenschaft und Kriminaljustiz. 256 Die pathologischen Deutungsversuche von spektakulären Verbrechen, die ausgehend von der Norm eines vernunftgeleiteten Menschen unerklärlich erscheinen mußten, lokalisierten die Gründe der Taten in der individuellen Natur der Täter und argumentierten nicht auf einer sittlich-moralischen Ebene. Dieser Aspekt der neuzeitlichen Rechtsprechung kann nicht allein rechtsgeschichtlich interpretiert werden, sondern ist im Zusammenhang mit dem sich im Laufe des 18. Jahrhunderts verändernden Menschenbild 257 zu sehen. Aus einer philosophiegeschichtlichen Perspektive hat Odo Marquard die These von der „Übertribunalisierung der menschlichen Lebenswirklichkeit" aufgestellt, die er als Folge der Krise der Theodizee beschreibt: Durch den Verlust der göttlichen Allmacht sei der Mensch demnach auf sich selbst zurückgeworfen und zur Verantwortung für seine Handlungen gezwungen worden. Diese Übertribunalisierung habe einen „enormen Entlastungsbedarf' hervorgerufen, dem man unter anderem dadurch begegnete, daß die „Grenzen seiner Selbstursächlichkeit" in der spezifischen Natur des Menschen gesucht worden seien. 258 Übertragen auf den Umgang mit Verbrechen läßt sich angesichts der dem Strafrecht zugrundegelegten Konzeption vom freien Willen ableiten, daß gerade gewaltsame Straftaten wie Mord oder Brandstiftung, bei denen sich keine zweckgerichteten Motive erkennen ließen, das soziale Normensystem besonders erschüttern und daher dem Normalbild des Menschen entlastende Erklärungsstrategien zur Seite gestellt wurden, die letztlich auch dem staatlichen Regulierungsanspruch ein Entlastungsmoment verschafften. 259 einhergehenden Bedeutungszuwachs der Gerichtsmediziner; und schließlich drittens auf den Streit um den Status des Gutachtens bei der endgültigen Urteilsfindung (Kaufmann: Psychiatrie und Strafjustiz, 1991, S. 23-24). Zur Kompetenzkonkurrenz vgl. vor allem auch Greve: Richter und Sachverständige, 1999. 255 Vgl. dazu entsprechende Zahlen für Süddeutschland bei Kaufmann·. Psychiatrie und Strafjustiz, 1991, S. 25. 256 Greve: Richter und Sachverständige, 1999, S. 85-89 u. Kaufmann: Irre und Wahnsinnige, 1990, S. 203-213. 25 Im Anschluß an Achim Barsch und Peter M. Hejl sollen unter dem Begriff des Menschenbildes „konzeptuelle Netzwerke" verstanden werden, d.h. „Vorstellungssysteme" über menschliche Merkmale, die Teil gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktionen sind, als Orientierungswissen fur soziale Handlungen und Kommunikation funktionieren, kulturell, historisch und gruppenspezifisch variieren und mit anderen gesellschaftlichen Konzepten und Deutungsmustern verknüpft sind (Barsch/Hejl: Verweltlichung und Pluralisierung des Menschenbildes, 2000, S. 11, vgl. insgesamt S. 7-14). 258 Marquard: Mensch, 1980, S. 199, 121 u. 122. 259 Lorenz: Kriminelle Körper, 1999, S. 286.

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Im frühen 19. Jahrhundert erfüllten die medizinischen Erklärungszugänge eine wichtige Funktion angesichts der spannungsreichen Konstellation der Prinzipien freier Wille, Schuldzurechnung und Trennung von Recht und Moral. Die Schuldrechtsfrage in der Justizpraxis wurde zum Einfallstor für moralische Beurteilungen sowie soziale und geschlechterspezifische Differenzierungen. Die Objektivität kriminalpsychologischer Urteile sollte derartige Bewertungen ermöglichen, ohne das Grundprinzip des moralisch neutralen Rechts zu gefährden.260 So waren in den medizinischen Gutachten sittliche und physiologische Argumente eng miteinander verschränkt.261 Die Mediziner lösten bei Verhörprotokollen Verhaltensbeobachtungen aus dem sozialen Kontext heraus, um sie als somatische Zeichen lesen zu können, die dann kausal mit der Tat verknüpft wurden.262 Der psychiatrische Diskurs in der Gerichtsmedizin - so Michel Foucault - stehe „um ein Vielfaches unterhalb des epistemologischen Niveaus der Psychiatrie".263 Diese Differenz ist nicht als Niveaudiskrepanz zu fassen, sondern als Unterschied, der von den verschiedenen - rechtlichen und medizinischen - diskursiven Praktiken herrührt, die in der gerichtsmedizinischen Praxis aufeinandertreffen. Die Gutachten müssen nicht nur zwischen krank und gesund unterscheiden, sondern auch die Verknüpfung mit der Frage nach Schuld oder Unschuld leisten.264 Obwohl der Diskussion über psychische Zwänge, Triebe, Leidenschaften, Affekte, Geistesstörungen und Manien in den Fachdebatten des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts bereits eine bedeutende Rolle zukam, darf nicht vergessen werden, daß sich die neuen Verbrechenserklärungen nur auf eine begrenzte Zahl und spezielle Art von Delikten bezogen. Die hohe Aufmerksamkeit erklärt sich daraus, daß diese Fälle das Grundprinzip der Willensfreiheit herausforderten und dessen Grenzen aufzeigten. In einer Umfrage unter allen preußischen Gerichten, bei der das preußische Justizministerium 1836 die Juristen aufforderte, die Verbrechenszunahme zu beurteilen, wurde Kriminalität vorrangig als soziales Problem, und zwar als Folge selbstverschuldeter Not der Unterschichten, verstanden.265 Dieses sozialmoralische Kriminalitätsverständnis wies schon eher Parallelen zum Verbrechensdiskurs im Strafvollzug auf. Die Debatten um Zurechnungsfahigkeit sowie psychische Grenzzustände fanden dagegen fernab vom Gefangnisreformdiskurs statt. Der 260

Dainat: Unsträflichkeit, 1991, S. 194. Vgl. hierzu insgesamt die Ergebnisse von Lorenz: Kriminelle Körper, 1999. 262 Kaufmann·. Psychiatrie und Strafjustiz, 1991, S. 32-34 u. Kaufmann: Irre und Wahnsinnige, 1990, S. 203-212. 263 Foucault: Die Anormalen, 2003, S. 54 u. 55. 264 Ylva Greve konstatiert zu den Kompetenzstreitigkeiten zwischen Richtern und medizinischen Gutachtern: „Diese Trennung zwischen der reinen Beurteilung des physischen und psychischen Gesundheitszustandes eines Angeklagten und der daran anknüpfenden Bestimmung seiner Zurechnungsfahigkeit gelang jedoch in der Praxis nicht." Greve: Richter und Sachverständige, 1999, S. 86. 265 Hodenberg·. Partei der Unparteiischen, 1996, S. 216-226. 261

2.3 Zum Verhältnis von Verbrecherbild und Strafkonzeption

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Strafvollzug hatte es mit dem verurteilten Verbrecher zu tun. Wie die Urteile zustande gekommen waren, wurde hier nicht weiter erörtert. In der pädagogischen Perspektive der Gefangnisexperten produzierte das Besserungskonzept sein eigenes Verbrecherbild, das pathologische Defekte und physiologische Anomalien als Begründungszusammenhänge ausschloß und Affekte und Triebe zum Gegenstand von Disziplinierungstechniken machte. 266 Sozial-moralisches

Verbrecherbild

Die in der Gefangnisliteratur publizierten Tabellen und Statistiken dienten nicht nur als Kontrollinstrument der Reformpolitik, sondern sollten auch die Grundlage dafür liefern, Kriminalität als gesellschaftliches Problem, das heißt ihre Ursachen und die zu ergreifenden Gegenmaßnahmen, zu diskutieren. Nach den anfangs relativ einfach aufgebauten Tabellen mit zumeist unkommentierten anstaltseigenen Daten zu Insassen und Verwaltung läßt sich seit Ende der 1820er Jahre der komparative Gebrauch von Statistiken erkennen. 267 Die Reformer verglichen nicht nur Gefangenen- und Verbrechenszahlen verschiedener Länder miteinander, sondern setzten die Kriminalitätsdaten auch in Bezug zu verfugbaren Zahlen aus der Bevölkerungsstatistik. Gegenüber der älteren Anstaltsliteratur unterstrich die Gefangniskunde damit die Universalität ihres Wissens, das sich vom begrenzten Blick auf die reformbedürftige Anstalt löste und den gesellschaftlichen Kausalmustern von Kriminalität und Strafen nachging. Nikiaus Heinrich Julius erklärte in seinen „Vorlesungen über die Gefängniskunde" die statistische Ursachenanalyse zum wissenschaftlichen Fundament: „Ich werde daher jetzt, da die Erfahrung auch hier den sichersten Leitfaden durch dieses Dädalische Labyrinth des Elends und der Sünde gewähren muß, Angaben über die Zahlen und Arten der Verbrechen, und über die, aus mancherlei stets anzuführenden amtlichen Quellen gesammelten Anklagen und Verurteilungen im Verhältnisse zur Bevölkerung verschiedener Staaten, zusammenstellen, sie zurückschauend mit dem Zustande der religiösen, sittlichen und wissenschaftlichen Bildung der Völker, so wie ihres Wohlstandes vergleichen." 268

266

Diese Ungleichzeitigkeit der Strafdiskurse ist besonders gegenüber Thomas Nutz zu betonen, der zwar einerseits die genauen Grenzen zwischen Strafrechtswissenschaft und Gefangniskunde aufzeigt, diese jedoch hinsichtlich des Verbrecherbildes wieder verwischt, indem er auf gerichtsmedizinische und phrenologische Zugänge eines Lavater verweist, ohne ihren Eingang in den Gefängnisdiskurs nachweisen zu können. Die einzige Verbindung zwischen pathologischen und pädagogischen Erklärungsmustem, die er vorweisen kann, bewegt sich auf der metaphorischen Ebene. Siehe Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 7 2 76. 267

Ein Beispiel für diese einfachen Anstaltstatistiken ist Ristelhueber. Land-Arbeitshauses, 1828. 268 Julius: Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde, 1828, S. XIII-XIV.

Beschreibung des

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Die Forschung hat bereits auf die Bedeutung von Statistiken für politische Ordnung und öffentliche Meinung in der Moderne hingewiesen. Theodore Porter versteht die „culture of objectivity" als eine Art wissensstrategische Antwort auf Erkenntniskrisen und gesellschaftliche Unsicherheit: „An insistence on numbers contributes to the disciplining of research, and at the same time involves the imposition of new forms of order on the polity. It is associated with a culture that places little confidence in deep understanding - or should we say the pretension to deep understanding? - and distrusts what cannot be made explicit and reduced to rules. It reaches for universal standards of efficiency and rationality. [...] This is not to say that the modern methods of quantification are evil or false, but rather that both their preconditions and their impacts go far beyond the technical into the domain of morality, society, and governance." 269 Obwohl sich Behörden bereits im 18. Jahrhundert um statistische Objektivität bemühten, lagen den Vertretern der Gefangniskunde zu Beginn des 19. Jahrhunderts kaum quantifizierbare Daten über Straftaten vor. Vereinzelt lassen sich zwar Kriminalstatistiken nachweisen, wie etwa für Bayern 1803 und Baden 1806, doch sie wurden nicht fortlaufend geführt und waren darüber hinaus nur selten öffentlich zugänglich. 270 Zum preußischen Gefängniswesen erschien erst 1861 ein offizieller Überblick mit einheitlichen Angaben zu Verwaltung und Gefangenenbevölkerung, der allerdings nur die dem Innenministerium unterstehenden Strafanstalten umfaßte. 271 In England veröffentlichten die Parliamentary Papers dagegen seit 1805 jährlich Justizstatistiken, die ursprünglich anläßlich der Diskussion um die Todesstrafe angeregt worden waren. Kontinuierliche Gefängnisstatistiken mit Angaben zu Vorstrafen und Bildungsgrad der Inhaftierten liegen für die englischen Anstalten ab 1836 vor.272 Die ländervergleichenden Darstellungen des belgischen Generalinspekteurs für Gefängniswesen und Wohlfahrt, Eduard Ducpetiaux, machte die statistische Leerstelle in den deutschen Staaten besonders sichtbar. Entgegen der Ankündigung des Titels Statistique comparée de la criminalité en France, en Belgique, en Angleterre et en Allemagne fanden sich in der 1835 erschienenen Schrift kaum Angaben zu Deutschland, während das Material für Frankreich, Belgien, England und Irland relativ umfangreich und nach verschiedenen Faktoren wie Alter, Geschlecht, Rückfalligkeit und Deliktarten aufgeschlüsselt war.273 Frankreich und Belgien spielten für die weitere Entwicklung der modernen Sozial- und Kriminalstatistik 269

Porter. Statistics, 1996, S. 191. Mechler. Geschichte der Kriminalsoziologie, 1970, S. 9 - 1 2 u. Reinke: Kriminalität als „zweite" Wirklichkeit, 1987, S. 177. Zum Problem fehlender (zugänglicher) Daten vgl. auch Julius: Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde, 1828, S. XV. 271 Mitteilungen aus den amtlichen Berichten über die königlich Preußischen Straf- und Gefangnisanstalten, 1861. 272 Gatrell/Hadden: Criminal Statistics, 1994, S. 192-193. 273 Ducpetiaux·. Statistique, 1835. 270

2.3 Zum Verhältnis von Verbrecherbild und Strafkonzeption

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eine wichtige Rolle. 274 Die hier entwickelte Moralstatistik - der Begriff ist im französischen Sprachraum 1834 zum ersten Mal nachgewiesen 275 - wurde als Wissenschaft vom sozialen Körper verstanden, mit der die berechenbaren Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaft sichtbar gemacht werden sollten. Neben Selbstmordraten, Religionsstatistiken sowie Zahlen zu Eheschließungen und unehelichen Geburten gehörte die Kriminalitätsrate zu den zentralen Indikatoren für den „sittlichen" Zustand einer Gesellschaft. Der belgische Mathematiker Adolph Quetelet machte die Moralstatistik im 19. Jahrhundert international bekannt. Kriminalität verstand er als Resultat der sozialen Organisation, das es auf der Basis von Wahrscheinlichkeitsrechnungen zu kalkulieren galt, um damit dem Gesetzgeber zu ermöglichen, Verbrechensursachen zu erkennen und durch entsprechende Maßnahmen zu beheben. 276 Das Ziel, die eigene Arbeit auf statistische Ursachenanalysen aufzubauen, setzte sich auch die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft und bekräftige damit ihren Anspruch, als Reformgesellschaft zu agieren. Im zweiten Jahresbericht 1829 hatte der Vereinsausschuß „neben seiner Thätigkeit fur die Gefangenen und deren Schicksal auch einen Blick gewagt auf den sittlichen Standpunkt der Region, in welcher er seine Wirksamkeit begonnen hat. Seine Geschäftsverbindung mit den örtlichen Hülfsvereinen, und seine Nachforschungen über die Quellen der Verbrechen und Vergehen, mußte ihm dazu nothwendig Veranlassung geben." 277 Die selbstzusammengestellten Tabellen beschränkten sich zwar auf die Kreise des Regierungsbezirkes Düsseldorf, 278 doch mit dem Berliner Verein wurde vereinbart, die statistischen Erhebungen zukünftig abzustimmen. 279 Als zentralen Befund präsentierten die eigenen Kriminalstatistiken, daß die Zahl der schweren Verbrechen abgenommen und demgegenüber Diebstähle und leichte Vergehen wie Landstreicherei und Bettelei zugenommen hätten. 280 Die relativ hohen Verurteilungszahlen wurden zum Teil auf die Härte des französischen Kriminalgesetzes zurückgeführt. Als wichtigsten statistisch erkennbaren Zusammenhang stellte der Bericht allerdings die hohe Bevölkerungsdichte des Düsseldorfer Regierungsbezirks heraus. 281 Weitere Angaben zum Bildungsstand (gemessen an der Anzahl der Schulen und Lehrkräfte pro Einwohner), zur Zahl unehelicher Geburten, Selbstmorde und Schankwirtschaften im Verhältnis zur Einwohnerzahl sowie 274

Mechler. Geschichte der Kriminalsoziologie, 1970, S. 21. Böhme: Moralstatistik, 1971, bes. S. 9. 276 Mechler. Geschichte der Kriminalsoziologie, 1970, S. 33; zu Adolph Quetelets Forschungen vgl. außerdem ausfuhrlich Böhme·. Moralstatistik, 1971, S. 3 2 - 8 8 . 277 JB RWGG 1829/2, S. 2 5 - 2 6 . 278 JB RWGG 1829/2, Beilage V. Für die erste statistische Aufstellung zeichnete ein Regierungsassistent verantwortlich. 279 JB RWGG 1829/2, S. 30. 280 Zu den gleichen Ergebnissen kamen auch andere zeitgenössische Autoren. Vgl. z.B. Julius·. Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde, 1828, S. CXXV. 281 JB RWGG 1829/2, S. 2 6 - 2 9 . 275

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zur Kriminalitätsrate sollten die „bürgerlich-sittliche" Topographie des Regierungsbezirkes abbilden. 282 Da Zahlen zur Bevölkerungs- und Kriminalitätsentwicklung mühsam zusammengetragen werden mußten und der Verein anfangs vor allem organisatorische Arbeit leistete, ist es nicht verwunderlich, daß die statistischen Erhebungen nicht über zaghafte Ansätze hinauskamen. Zudem mangelte es an analytischer Reflexion, um kritisch diskutieren zu können, was die einzelnen Zahlen abbildeten. Jedoch glichen auch andere dieser frühen Statistiken wie beispielsweise bei Ducpetiaux einer endlosen Aneinanderreihung von Zahlenkolonnen, die offenbar für sich sprechen sollten. 283 Trotzdem verdeutlichen bereits die ersten Tabellenwerke, welches Kriminalitätsverständnis die Gefangnisreformer hier kommunizierten. Angesichts überfullter Gefangnisse erschien Verbrechen zuallererst als ein Massenphänomen. Die Zahlen machten dieses Problem sichtbar und untermauerten die Notwendigkeit zu handeln: „Es ist eine trübe Erfahrung, und die Gefangnisberichte und Uebersichten aus allen Ländern bestätigen es, daß die Zahl der zu Freiheitsstrafen verurteilten Verbrecher sich progressiv vermehrt, daß die Gefangnisse fast überall überfüllt, die Räume nicht hinreichend sind, und neue Anstalten nöthig werden, wodurch das Zeitbedürfnis um so dringender erscheint, diese letztern nach einem richtigen dem Zweck entsprechenden System und Plan anzulegen und zu bauen." 284 Während bei den Moralstatistiken Straftaten als Zeichen für die Gefährdung der „sittlichen" Ordnung fungierten, wurden Indikatoren der „Unsittlichkeit" reziprok als Kriminalitätsursachen gedeutet: „Die Gefangnisse enthalten in ihren traurigen Räumen eine vollständige Sammlung aller möglichen Formen des Lasters und der ,Unsittlichkeit'. Hier findet, wie in einem anatomischen Cabinett der Naturforscher, der Beobachter den hinreichendsten Stoff zu seinen Untersuchungen, die ihm gestatteten, die Unvollkommenheiten der Gesetze, die Pflichten der Gesellschaft hervorzuheben und zugleich auf die Vortheile guter und fürsorgerlicher Institutionen hinzuweisen, die noch ins Leben zu rufen sind, um die Zahl der Verbrechen zu vermindern." 285 Der Gefangniskundler Julius faßte die gesellschaftlichen Einflußgrößen in „drei Richtungen" zusammen, „in denen sich der gesamte geistige und leibliche Zustandes eines jeden Volkes, als Individuum betrachtet, kund giebt, sein Glauben, sein Wissen und sein Haben. Die Entwicklung welche diese drei [...] Richtungen unter einem jeden Volke genommen haben, sind es daher auch, welche nicht nur dessen Gesammtzustand, sondern auch die Verbrechen 282

JB RWGG 1829/2, Beilage V. Zur „sittlichen Ortsbeschreibung" als empirisches Hilfsmittel siehe auch Julius: Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde, 1828, S. CXXI. 283 Ducpetiaux erläuterte zwar Ursprung und Kontext der Daten, die zugrundeliegenden Annahmen über entsprechende Kausalzusammenhänge blieben dagegen weitgehend unkommentiert. Vgl. insgesamt Ducpetiaux·. Statistique, 1835. 284 Ristelhueber. Straf- und Besserungs-Anstalten, 1843, S. 10. 285 Appert: Geheimnisse des Verbrechens, Bd. 1, 1851, S. 7.

2.3 Zum Verhältnis von Verbrecherbild und Strafkonzeption

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in allen ihren Abschattungen bestimmten." 286 Um dem Kriminalitätsproblem zu begegnen, sollte nicht nur das Gefangniswesen reformiert werden, sondern die daran anschließenden Vorschläge sprachen sich auch für prophylaktische Maßnahmen der Volkserziehung wie Schulen und Erziehungsanstalten für bereits „verwahrloste" Kinder aus - das neuzeitliche Disziplinierungsprogramm wurde hier regelrecht durchbuchstabiert. Dem moralstatistischen und gefangniskundlichen Wissen war letztlich das seit der Aufklärung bestimmende Disziplinierungspositiv vorgelagert, das auch die Selektion der Erhebungskategorien bestimmte. „Unsittlichkeit", die in der Gefangnisliteratur mit Kriminalität logisch kurzgeschlossen wurde, bezeichnete weit mehr als unkontrollierte Sexualität. Der Begriff entwickelte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem „flexiblen Kollektivsymbol" mit negativer Konnotation, 287 das auf die ängstlich wahrgenommene Auflösung alter sozialer Ordnungsstrukturen hinwies und eine variable Summe von assoziativ verknüpften Verhaltenszuschreibungen, Eigenschaften und symbolischen Bedeutungen in sich vereinte. Im Unsittlichkeitsdiskurs verdichteten sich die verschiedensten sozialen, gesellschaftspolitischen und geschlechterspezifischen Festschreibungen sowie entsprechende Kontroll- und Regulierungsstrategien, mit denen der sozialen Verunsicherung begegnet werden sollte. 288 Der Differenzbegriff „Sittlichkeit" stellte auch die Bewertungsgrundlage für die von Julius genannten gesellschaftlichen Einflußgrößen Wissen, Glauben und Wohlstand dar. Religiösphilanthropische Reformer wie beispielsweise die Vertreter der RheinischWestfälischen Gefangnisgesellschafit beklagten vor allem eine zunehmende „Gottlosigkeit", die sie für Sittenverfall und wachsende Kriminalitätszahlen verantwortlich machten, ohne entsprechende Zahlen zu liefern. 289 Aber auch weniger religiös bestimmte Gefängnisexperten teilten die Meinung, Religion fungiere als Schutzschild gegen Verbrechen: „Verfall der Gottesfurcht erschlafft die Familienbande, und zerstört die Harmonie der Gesinnung und des Handelns, sie bricht die moralische Kraft, die den Menschen stärkt, der Verführung, dem Laster, dem Verbrechen zu widerstehen." 290 Die Bedeutung von Wissen und Wohlstand für die Gesellschaft bemaßen Gefangniskundler wie Julius ebenso an ihrem „sittlichen" Wert: „Freilich haben sich diejenigen beiden Anstalten, welche das Wissen und das Haben, den Kenntnis- und den Besitz-Zustand der Völker aussprechen und vertreten, 286

Julius: Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde, 1828, S. XCIX. Drews u.a.: Moderne Kollektivsymbolik, 1985, S. 256-270 u. 281-285. 288 Vgl. zur Vielschichtigkeit des Unsittlichkeitsdiskurses und seiner Funktion als „Kollektivsymbol" bereits Hüchtker. Unsittlichkeit, 2000. 289 Zur besonderen Bedeutung der religiösen Erziehung bei der RWGG siehe weiter unten, Abschnitt 2.4. 290 Ristelhueber. Straf- und Besserungs-Anstalten, 1843, S. 11. Der Direktor der Brauweiler Landesarbeitsanstalt wandte sich in derselben Schrift gegen das pennsyIvanische Haftsystem, deren Begründer er fanatische religiöse Schwärmerei vorwarf (ebd., S. 73). 287

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die Schule und das Armenwesen, in der neusten Zeit, weiter als sie gesollt, von der sichtbaren Erscheinung des Glaubens, von der Kirche losgerissen."291 Eine verbesserte Bildung, die allein auf Wissensvermittlung ausgerichtet und vom „Flitterglanze der Wissenschaft"292 geblendet sei, führe die Gesellschaft nicht aus der Krise. Die Schüler sollten daher nicht nur im Rechnen, Lesen und Schreiben, sondern vor allem in den sittlichen und religiösen Pflichten unterwiesen werden.293 An diesen sozial-konservativen Ausführungen läßt sich deutlich das Programm der Gegenaufklärung ablesen, das im besonderen dem Verständnis der Erweckungsbewegung entsprach.294 „Gesittung" wurde hier von einem zivilisatorischen Fortschritt abgegrenzt, der nur die „äußere Lage des Menschen" verbessere.295 Armut schließlich als Ausprägung des dritten Faktors „Haben" erschien unter dem Diktum der Sittlichkeit als Folge von Müßiggang und Unmäßigkeit und damit als selbstverschuldete Not. Die „Unmäßigkeit im Genüsse geistiger Getränke" wurde dabei besonders hervorgehoben.296 Indizien für weitere Formen des vermeintlich ausschweifenden Lebensstils der Unterschichten waren die Anzahl von Schankwirtschaften, Jahrmärkten und Kirchweihfesten sowie Schauspiele, Lottospiel und Tabakkonsum, welche in besonderem Maße als kennzeichnend für die städtische Kultur galten. Nicht aufgrund mangelnder finanzieller Ressourcen, sondern hauptsächlich wegen fehlender sittlicher Stärke ging hiervon nach Meinung der Autoren eine besondere Gefahr für die „unteren Volksklassen" aus.297 Selbst in den 1830er und 1840er Jahren, als es zu einer Massenverelendung breiter Bevölkerungsschichten kam und die Andersartigkeit des Pauperismus und seiner sozio-ökonomischen Bedingungen gegenüber früheren Armutsphänomenen durchaus erkannt wurde, bestimmten moralische Diagnosen und paternalistische sowie sozialdisziplinierende

291

Julius: Vorlesungen über die Gefangnis-Kunde, 1828, S. CI. Julius·. Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde, 1828, S. CVII. Zur Kritik am falschen Wissens- und Bildungsverständnis der Aufklärung vgl. vor allem auch Schriften von Anstaltsgeistlichen wie z.B. Moll: Besserung, 1841, S. 45-50. 293 Zum Verhältnis von Wissen und Sittlichkeit vgl. insgesamt Julius·. Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde, 1828, S. CI-CXXV. 294 Bei den gesellschaftlichen Krisendiagnosen religiöser Vertreter findet sich die Aufklärungskritik unverändert bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Ideale der Freiheit und Gleichheit wurden als „eine Emancipation des Pöbels, der Weiber, des Fleisches" gegeißelt, die alle alten „Schranken der Sitte, der Ehre, des Gesetzes" und somit ,jede Autorität" niederreiße (Moll: Besserung, 1841, S. 51). 295 Julius: Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde, 1828, S. CXXIII; siehe ähnlich auch J B R W G G 1841/13, S. 3. 296 Julius: Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde, 1828, S. CXXXII. 297 Julius: Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde, 1828, S. CXXXII-CXXXVII. Ähnlich auch Ristelhueber. Straf- und Besserungs-Anstalten, 1843, S. 12 u. 19-22; Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 1, 1801/1803, S. 5 - 6 u. Appert Geheimnisse des Verbrechens, Bd. 1, 1851, S. 19. 292

2.3 Zum Verhältnis von Verbrecherbild und Strafkonzeption

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Lösungskonzepte weiterhin den Blick auf die Unterschichten. 298 Die neuen wirtschaftlichen Verhältnisse und gewerblichen Freiheiten machten die Verfasser der Reformschriften gleichermaßen für das „Spiel des Zufalls der Conjuncturen" verantwortlich wie auch fur „Luxus, Aufwand und Genußsucht". 299 Durch das „Vorwiegen der materiellen Interessen" fanden „alle niederen selbstsüchtigen Triebe des Menschen kräftige Anregung und reichlich Nahrung". 300 Angesichts dieser Szenarien des moralischen Niedergangs ertönte der Ruf nach Kirche, Armenfürsorge, Gesetzen, Schulen, Erziehungsanstalten und einer bürgerlichen Vereinsbewegung - nach alten und neuen gesellschaftlichen Institutionen also - , die zur Sittlichkeit erziehen und damit die soziale Ordnung (wieder) garantieren sollten. Neben der Familie als Sozialisationsbasis der bürgerlichen Gesellschaft wurde ein Netz von ineinandergreifenden öffentlich institutionalisierten Disziplinarorten und anderen sozialen Vergewisserungsräumen wie Vereinen beschrieben, das nicht nur die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche durchdringen, sondern vor allem die einzelnen Individuen so früh wie möglich erfassen mußte. „Sittlich verwahrloste Kinder" fürchteten die Reformer als „Pflanzschule fur die erwachsenen Verbrecher". 301 Julius faßte seine Diagnose wie folgt zusammen: „So schließt sich den fehlerhaften Verhältnissen zwischen Glauben, Wissen und Haben, und zwischen Schule und Armenfürsorge, die mit der mangelnden häuslichen Erziehung Hand in Hand gehende, immer mehr zunehmende Auflockerung der Familienbande an, die nicht allein die Blutsverwandtschaft, sondern auch die Verhältnisse des Lehrherren zum Lehrling, des Hausvaters zum Gesinde umfassen sollen. Aus eben dieser Auflockerung, und der auf dem nähmlichen Boden des Unglaubens wuchernden Unsittlichkeit, entspringt die durch Abschaffung der Kirchenzucht und durch Zerbrechung der wohlthätigen, in den Zünften erhaltenen Schranke, ins Beispiellose vermehrte Zahl der unehelichen Geburten, und die gleich dem dreiköpfigen Wächter der Unterwelt stets neben einander gefundene, immer furchtbarer um sich greifende Vermehrung der Selbstmörder, der Geisteskranken und Verbrecher." 302 Trotz der weitreichenden Reformforderungen ist auffallend, daß sich die Gefangnisreformer größtenteils damit begnügten, ihre Vorschläge zum Strafvollzug zu konkretisieren. Auch die Gefángnisvereine wollten ihre „Wirkungssphäre" und Fürsorge auf Gefangene und Entlassene begrenzt sehen. 303 Die Straffälligen sollten nicht der allgemeinen Armenfiirsorge überantwortet werden. Diese Spezialisierung mag bis zu einem gewissen Grad der fort298

Vgl. z.B. Mechler. Geschichte der Kriminalsoziologie, 1970, S. 67-77. Ristelhueber. Straf- und Besserungs-Anstalten, 1843, S. 12. Vgl. ähnlich auch schon bei Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 1, 1801/1803, S. 6. 300 Moll: Besserung, 1841, S. 44. 301 Ristelhueber: Straf- und Besserungs-Anstalten, 1843, S. 17. 302 Julius: Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde, 1828, S. CXXXII-CXXXIII. 303 JB RWGG 1842/15, S. 4. 2,9

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schreitenden institutionellen Ausdifferenzierung geschuldet gewesen sein, wobei Beispiele aus anderen Staaten durchaus zeigen, daß nicht nur die Entlassenfürsorge im Rahmen allgemeiner Wohltätigkeit organisiert werden konnte,304 sondern auch die Debatten der Gefángnisreform mitunter wesentlich stärker in eine allgemeine Diskussion über soziale Reformen eingebettet war.305 Vor allem aber offenbart sich in dieser Begrenzung, daß nur wenige Vertreter der Gefängnisreformer Gewicht auf prophylaktische Maßnahmen legten und darauf setzten, daß dadurch auf weitere kostspielige Gefangnisanstalten verzichtet werden könnte.306 Zu groß war offensichtlich das Mißtrauen gegenüber den unteren Gesellschaftsschichten sowie die Skepsis gegenüber dem eigenen Besserungsprojekt: „So gewiß nun die traurigen Ergebnisse [...] Verbesserungen nach allen Seiten dringend wünschenswerth machen, so überzeugen wir uns auch, daß die auf's Beste eingerichteten Gefängnisanstalten keineswegs allein solche tief gewurzelten Uebel wieder gut, das Verkrüppelte wieder gesund machen können. Hier alles Versäumte nachzuholen, gehört zu den frommen Wünschen."307 Die Diskussion über Kriminalitätsursachen in den Gefangnisschriften setzte also zunächst an der Gesellschaft und ihren Problemen an, führte sie aber über einen weit verbreiteten Sittlichkeitsdiskurs auf die Verantwortlichkeit des Individuums zurück. Als Grund für die Dominanz des moralischen Verbrecherbildes bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts macht Peter Becker die fest verankerte Vorstellung vom freien Willen, der das menschliche Handeln bestimme, aus.308 Die in der Strafrechtswissenschaft diskutierten Grenzen der freien Willensentscheidung sowie die medizinische und psychologische Taterklärungen bildeten nur einen sehr begrenzten Ausschnitt der Kriminalitätsdebatten ab. Entsprechende diskursive Verknüpfungen zur Gefángnisreform lassen sich jedenfalls nicht entdecken. Die Medizin lieferte hier lediglich eine metaphorische Vergleichsebene, wenn bei Straffälligen etwa wiederholt von „moralisch Kranken" gesprochen wurde, deren Seele im Gefängnis zu heilen sei, oder Kriminalität als „Krebsschaden"309 oder gar als 304

Siehe etwa zur Fürsorge in der Schweiz Ludi: Fabrikation des Verbrechens, 1999, S. 360-369. 305 Freitag: Society is the Super-Criminal, 2007. 306 Ristelhueber: Straf- und Besserungs-Anstalten, 1843, S. 16 u. 18. Ristelhuebers Perspektive war freilich von den Insassen der Arbeitshäuser bestimmt. Seine kritische Diskussion über die Einfuhrung der Einzelhaft verknüpfte er mit konkreten Plänen zu einer kommunal streng kontrollierten, paternalistisch orientierten Armenfürsorge (ebd., S. 24-27) sowie der Forderung nach besonderen Erziehungsanstalten für „verwahrloste" Kinder und Jugendliche (ebd., S. 15-22). 307 Ristelhueber. Straf-und Besserungs-Anstalten, 1843, S. 13. 308 Vgl. insgesamt Becker. Verderbnis und Entartung, 2002, Kapitel 1-4. In seiner Darstellung wurden Texte aus dem Gefangnisdiskurs mit Ausnahme der Schriften von Johann Hinrich Wichern nicht berücksichtigt. 309 Gesuch des Predigers Bultmann zur Errichtung einer Rettungsanstalt für entlassene Strafgefangene zu Berlin v. 18.1.1839, in: GStAPK, I. HA., Rep. 89, Nr. 12627.

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„Pestbeulen" 310 des Gesellschaftskörpers bezeichnet wurde. Ein von Pathologien und physischen Abnormitäten gezeichnetes Verbrecherbild kam hier nicht zum Vorschein; die Gesellschaft mit einem Körper zu vergleichen und ihre Probleme im Vokabular der ärztlichen Diagnose zu beschreiben, war dagegen weit verbreitet. 3 ' 1 Die Gefangnisreformer hatten die kleineren Massendelikte vor Augen, deren Verursacher die Mehrzahl der Strafanstaltspopulation stellten. Ihrem Disziplinierungskonzept entsprach die Vorstellung vom „unerzogenen Verbrecher", 312 der in erster Linie aus der Masse der unteren Bevölkerungsschichten stammte; das Verbrecherbild war somit ein sozialmoralisches. Der statistische Blick hatte einen Durchschnittsstraftäter ermittelt, bei dem der „unsittliche" Lebenswandel fur nahezu jegliches gesetzeswidrige Verhalten verantwortlich gemacht wurde. Das Verbrecherbild war wenig differenziert und funktionierte letztlich wie Stereotype, die in vielfacher Form die alltägliche Wahrnehmung nach einer binären Logik strukturieren. 313 Es fußte auf einer assoziativen Liste von Sittlichkeitskriterien und Unsittlichkeitsausprägungen, die sich wechselseitig begründeten und unabhängig von den begangenen Delikten nahezu beliebig austauschbar erschienen. Der Laster-Katalog der Kriminalitätsdebatten orientierte sich am traditionellen christlichen Tugendkanon, der in die „bürgerlichen ,Kardinaltugenden'" 314 überfuhrt wurde und angesichts der sozialen Wandlungsprozesse eine neue Relevanz erhielt. Die Diskussion von Kriminalitätsursachen nahm immer weniger Raum in der gefangniskundlichen Literatur ein. Das Besserungskonzept war etabliert und mußte nicht weiter begründet werden; die Gefangniskundler konzentrierten sich darauf, konkrete Strafsysteme zu entwerfen. Seit den 1840er Jahren erschienen dafür immer häufiger lebensgeschichtliche Erzählungen über Straftäter, die insbesondere das Kriminalitätsverständnis der Fürsorgevertreter und Seelsorger widerspiegelten und denen eine ganz andere Funktion als den Statistiken zugedacht war. Ihre Verfasser waren vorwiegend Strafanstaltsgeistliche oder Personen aus dem Umfeld von Gefangnisvereinen. Die kleinen Schriften richteten sich als pastoralpädagogische Moralgeschichten an 310

J B R W G G 1856/29, S. 9 Zur Vorstellung des Volkskörpers vgl. z.B. Wischermann: Geschichte des Körpers, 2000, S. 12-13. Medizinische Analogien lassen sich auch in der Pädagogik finden: Kersting: Genese der Pädagogik, 1992, S. 195-228. 312 Zum Wandel des Delinquentenbildes vom Bösewicht zum Unerzogenen im Zeichen pädagogischer Euphorie siehe vor allem Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 75-76. 13 Sander L. Gilman beschreibt Stereotype als ein symbolisches System, das insbesondere bedrohlich empfundene Andersartigkeit durch die Analogie assoziierter, relativ disparater Zuschreibungskategorien repräsentiert und von einem bipolaren Deutungsmuster geprägt ist. Diese sozialpsychologisch hergeleitete „Tiefenstruktur" von Stereotypen erfahrt gleichzeitig durch jeweils spezifische soziale und politische Deutungsmuster ihre historische Konkretisierung. Stereotype sind somit auch Teil sozialer Identitätsprozesse (Gilman: Stereotype, 1992, vor allem S. 7-23). 314 Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 75. 311

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ein breiteres Publikum und waren nicht zuletzt als belehrende Bücher für Gefängnisinsassen gedacht. So heißt es in einem Vorwort: „und es ist mein inniger Wunsch, daß die Schrift durch den Druck ein Prediger der Buße und der Gerechtigkeit für Viele werde. Würde in jedem Gefängnis dieses Buch gelesen, so würde wohl mancher Sündenknecht der Freiheit des Geistes wiedergegeben und so auch der Freiheit in den äußern Banden würdig."315 Die Authentizität der Biographien,316 derer sich ihre Erzähler mit aller Anstrengung zu versichern suchten, sollte die belehrende Wirkung des negativen Beispiels317 verstärken.318 Die veröffentlichten Geständnisse wurden bisweilen sogar selbst als Akt der Buße und Sühne des begangenen Verbrechens verkauft.319 Daneben richteten sich diese Geschichten auch an die „Amtsbrüder", „welchen je die schwere Pflicht zu Theil werden sollte, Seelsorge zu üben an einem ganz unwissenden und verstockten Verbrecher".320 In diesen gleichförmigen Lebensgeschichten begegnet man dem Stereotyp vom „unerzogenen Verbrecher" in kondensierter Form wieder: Am Einzelschicksal wurden nahezu alle Facetten von Unsittlichkeit aufgezeigt und in einer stringenten Erzählung dargestellt, wie die Hauptfigur durch ihre Abkehr von Gott und ihren lasterhaften Lebensweg Schritt für Schritt, „von einer Sünde zur andern, von einem Laster und Verbrechen zum andern" auf die 315

Tscharner. Wunder der Gnade, 1852, S. 3 - das Vorwort stammt von einem Stuttgarter Prälaten. Im Anhang eines anderen, von einem Zuchthausgeistlichen veröffentlichten Buches mit verschiedenen Biographien sind beispielsweise zur weiteren religiösen Belehrung die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis, Gebete sowie Texte zum Abendmahl und zur Beichte abgedruckt (Gleiss: Der verlorne Sohn, 1847). 316 Die wenigen Autobiographien von Strafanstaltsinsassen aus dieser Zeit stammen ausschließlich von politischen Gefangenen, die vor allem in Folge der Revolution von 1848/49 verurteilt wurden. Einige waren im neuen Bruchsaler Zellengefangnis inhaftiert und diskutieren ausfuhrlich das Einzelhaftsystem. Für die Gefangnisexperten stellten sie allerdings nicht den Verbrechertypus dar, den sie bei ihren Reformdebatten vor Augen hatten. 317 Ein besonders schönes Beispiel für die Pädagogik der beispielhaften Belehrung ist die vom Direktor der Anstalt in Brauweiler übersetzte, preisgekrönte Schrift „Anton und Moritz". Dem reuigen Sünder Anton, der gebessert die Strafanstalt verläßt, in einer christlich gesinnten Gesellschaft wieder Aufnahme findet und daraufhin selbst Bekehrungsarbeit leistet, wird auf der anderen Seite die Figur des Moritz gegenübergestellt, der einst Anton zum lasterhaften Leben verführte, jede Chance der Umkehr verstreichen ließ und als verstockter Sünder schließlich ohne Reue und dem Wahnsinn verfallen auf das Schafott geführt wird. Vgl. Ristelhueber. Leben und Schicksale, 1836. 318

Es wird fast immer darauf hingewiesen, daß die Erzählungen von den „Sünderinnen" und „Sündern" selbst verfaßt - auch wenn aus den darauf folgenden Lebensbeschreibungen klar hervorgeht, daß sie selbst kaum lesen und schreiben konnten - oder zumindest selbst erzählt seien: vgl. z.B. Tscharner. Wunder der Gnade, 1852 u. Hinz: Leben, 1844. 319 Vgl. hierzu die Einleitung des Geistlichen zur Lebensgeschichte des „Mörders C. Hinz" (Hinz: Leben, 1844, S. VIII-IX). 320 Hinz·. Leben, 1844, S. XI. Die Schrift wurde schließlich 1845 von Wichems Verlag des Rauhen Hauses neu aufgelegt. Der herausgebende Seelsorger wollte noch eine dritte Zielgruppe erreichen, und zwar die Gefangnisbeamten, denen die kriminelle Ansteckungsgefahr in den Strafanstalten vor Augen gefuhrt werden sollte (ebd., S. XI-XII).

2.3 Zum Verhältnis von Verbrecherbild und Strafkonzeption

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schiefe Bahn geriet. 321 Das am biblischen Vokabular orientierte Erzählmuster von Sünde, Verderbnis und dem „gefallenen Menschen" hat die Forschung auch bereits für andere kriminalitätsrelevante Texte aus dem Umfeld von Polizei und Verwaltung herausgearbeitet, doch diese pädagogischen Moralschriften erfüllten nicht nur einen spezifischen Zweck, sondern hatten auch einen besonderen Entstehungskontext. 322 Die vermeintlichen Selbstaussagen waren Produkte seelsorgerischer Einzelgespräche, die nach dem Muster der religiösen Beichte verliefen. Auffallend ist darüber hinaus, daß im Gegensatz zu den gefangniskundlichen Schriften die gesellschaftliche Verhältnisse und ihre krisenhaften Folgen fur die soziale Situation der Einzelnen nahezu völlig ausgespart blieben. Der religiöse Besserungsappell stand im Zeichen moralischer Rigidität, die reuige Einsicht in die Selbstverschuldung evozieren sollte. Die als abschrekkende Beispiele gedachten Verbrecherbiographien begannen meist schon in der Kindheit und nahmen mit dem Stigma der unehelichen Geburt ihren Anfang. Mangelnde erzieherische Kontrolle und Ungehorsam gegenüber der väterlichen Gewalt oder anderen Autoritätspersonen prägten die Kinderjahre. Unabhängig davon, ob die vorgestellten Männer und Frauen wegen Mord oder Diebstahl verurteilt worden waren oder gar nur wegen Landstreicherei im Arbeitshaus einsaßen, führte ihr Lebensweg in den biographischen Darstellungen von Streichen wie dem Stehlen von Äpfeln aus Nachbars Garten über erste Notlügen gegenüber den Eltern und Onanie bei den männlichen Protagonisten geradeswegs zur ersten Straftat. Müßiggang, Vergnügungen, Eitelkeit, der Umgang mit falschen Freunden und insbesondere „Trunksucht" wurden dabei als weitere Etappen der „Verderbnis" detailreich ausgemalt. In einem nahezu endlosen Sündenregister entwickelten die Erzählungen sukzessive den individuellen Abstieg in die „Verbrecherwelt", der automatisch mit dem Abfall von Glauben und Kirche einherging. Die belehrende Moral stützte sich dabei immer wieder auf biblische Gleichnisse, womit sich die biographischen Geschichten in regelrechte Bußpredigten verwandelten. Wenn die Erzählungen dabei hin und wieder von der Schwarz-Weiß-Zeichnung abrückten und positive Charaktereigenschaften hervorhoben, so geschah dies nur, um gleichzeitig die Möglichkeit der Umkehr zu verdeutlichen. Der Subtext vermittelte das christliche Menschenbild vom ewigen Sünder mit all seinen menschlichen Trieben sowie den daraus resultierenden Versuchungen und verkündete gleichzeitig die religiöse Bekehrungsbotschaft. 323 Trotz der besonderen religiösen Einfärbung blieben die Gemeinsamkeiten mit den gefängniskundlichen Reformtexten hinsichtlich der für Kriminalität verantwortlich gemachten Faktoren des lasterhaften Lebenswandels insge321

//mz: Leben, 1844, S. VII. Becker. Verderbnis und Entartung, 2002, vor allem Kapitel 1-3. 323 Neben den bereits angeführten Verbrecherbiographien vgl. außerdem: Anonymiis: Zuchthaus- und Baugefangene, 1811 u. Anonymus: Zuchthausgeschichten, 1853. 322

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samt recht groß, was die religiösen Besserungsansätze größtenteils kompatibel mit denen des staatlichen Strafvollzugs machte. Die konstruierten Identitäten von Verbrecherinnen und Verbrechern fanden in der ersten Phase im Gefangnisdiskurs eine nahezu unveränderte Übertragung auf das Gefangenenbild, das für das Besserungsprojekt lediglich nach Alter, Geschlecht und Sittlichkeitsgrad eine funktionale Untergliederung erfuhr. Gefängnis als Schule des Verbrechens Die Vorstellung vom unerzogenen, „unsittlichen" Verbrecher bildete den Referenzpunkt für das Disziplinierungskonzept des modernen Strafvollzugs. Im Umkehrschluß deuteten die Gefangnisreformer damit aber auch kriminelles Verhalten als etwas Erlernbares. Die Beschreibung des Gefängnisses als „Schule des Verbrechens" ist ein Topos, der sich durch die gesamte Strafanstaltsliteratur der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus zog.324 Bereits aus den ersten Berichten über die Zustände in den Hafthäusern schlossen die Kritiker, daß das wahllose Zusammenpferchen der Anstaltsinsassen die Verurteilten nicht bessere, sondern im Gegenteil die Ausbildung zum Verbrecher komplettiere. 325 „Die Vielerfahrensten und Ausgelerntesten im Bösen rühmen sich hier ihrer Ränke und schlechten Thaten. Je empfindlicher sie ihren Nächsten verletzt und geschadet, je üppiger sie den ruchlosen Gewinn verpraßt, je frecher sie die Obrigkeit überlistet und betrogen, je rauschender tönt ihnen Beifall. Lästerungen Gottes und der Obrigkeit, Spott gegen die Tugend und Religion, Flüche und Zoten sind die gewöhnliche Unterhaltung. Durch dies beständige Anhören des Unmoralischen verliert selbst der Bessere allmählig die Scheu vor dem Schlechten, gibt sich, abgerissen von aller andern Geistesnahrung und Beschäftigung, den bösen Lehren der Schlechteren hin und wird systematisch zum Laster erzogen. Als Leichtsinniger eingesperrt, wird er als Bösewicht entlassen." 326 Als besondere Gefahr wurde gesehen, daß die Gefangenen im Gefängnis kriminelle Praktiken vermittelt bekamen und dadurch regelrecht das „Diebeshandwerk" erlernten.327 Die Mitgefangenen erschienen in diesem Szenario als eine Art Beratergremium, das Vorschläge zur bestmöglichen Ausführung künftiger Verbrechen machte, den kriminellen Wissensschatz mehrte und die Strafanstalt damit in eine „Hochschule des Verbrechens" verwandelte. 328 Die 324

Zum Topos der Verbrecherschule siehe bereits Freßle: Bruchsal, 1970, S. 24-25. Zum Interpretament der Schule des Verbrechens in den frühen Schriften siehe Wagnitz\ Historische Nachrichten, Bd. 2,2, 1794, S. 119-123; Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2/1-3, 1801/1803, vor allem S. 39 u. 254; Gruner. Sicherungsinstitute, 1802, S. 111-112 u. Fliedner: Collektenreise, Bd. 1, 1831, S. 363. 326 JB RWGG 1828/1, S. 19-20; siehe auch Fliedner: Collektenreise, Bd. 1, 1831, S. 363. 327 JB RWGG 1858/31, S. 54. 328 JB RWGG 1845/18, S. 6. Vgl. beispielhaft die Erzählung des „Mörders C. Hinz", der im Zuchthaus von einem Mitgefangenen Namen und Wohnort eines vermögenden Bauern 325

2.3 Zum Verhältnis von Verbrecherbild und Strafkonzeption

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Konstrukteure des Freiheitsentzugs fürchteten ganz konkret, daß das Gefängnis die Gelegenheit bot, folgenschwere Kontakte zu Gleichgesinnten zu knüpfen: „Hier im Gefängnis findet der Stehler den Hehler, der Betrüger den falschen Zeugen - sie verabreden die Pläne zu neuen Verbrechen und treten in Freiheit, um sicherer und in größerem Umfange zu schaden." 329 Dieser Problemanalyse entsprachen die Projektionen ganzer „Verbrecher-Familien" 330 und insgesamt einer verbrecherischen Gemeinschaft, deren Organisation mit Wissensaustausch und zweckdienlichen Zusammenschlüssen in „ränkevollen Genossenschaften" und „Verbrechervereinen" gewissermaßen analog zur bürgerlichen Gesellschaft gedacht wurde, nur eben unter entgegengesetzten Vorzeichen. 331 Mit größter Empörung bemerkten die damaligen Beobachter, daß ganze Diebesbanden aus ihrem „Gewerbe" inzwischen eine „Industrie", ein profitables „Handelsgeschäft" gemacht hätten und selbst nach erfolgter Verhaftung ihren Stolz auf ihre „Profession" nicht verhehlten. 332 Diese an bürgerlichen Kriterien wie Familie und Beruf orientierte „Konstruktion der kriminellen Gegenwelt" - wie Peter Becker es nennt - stand eigentlich im Widerspruch zum Verbrecherbild eines aus festen Familienstrukturen herausgelösten und ungebildeten Müßiggängers; die Annahme einer verkehrten Gesinnung des Straftäters überdeckte offenbar diese ambivalente Stereotypisierung. 333 Zu den kriminellen Praktiken, die für die Mitglieder dieser „Verbrecherwelt" als charakteristisch galten, gehörten unter anderem das Lügen, Täuschen und Sich-Verstellen. Für den polizeilichen Kriminalitätsdiskurs galt bezeichnenderweise der Gauner als Prototyp des männlichen Straftäters. Täuschungsstrategien sowie Betrugsdelikte zählten hier zum festen kriminellen Repertoire. 334 Von diesem Verbrecherbild wurde direkt auf das Verhalten in der Gefangenschaft geschlossen. Der Verdacht der Heuchelei bestimmte daher den Blick der Gefangnisexperten und -praktiker gegenüber den Strafanstaltsinsassen. 335 Den Inhaftierten wurde unterstellt, einerseits mit kriminellen Heldengeschichten ihre „Prahlsucht" zu befriedigen und andererseits ihre Straftaten vertuschen zu wollen. 336 Für das Besserungsziel stellte dies eine erfahrt, mit ihm Pläne für einen Raubzug diskutiert und nach seiner Entlassung einen Raubmord begeht {Hinz: Leben, 1844, S. 30). 329 JB RWGG 1828/1, S. 20. 330 Schreiben des Direktors des Landes- und Stadtgerichts in Soest an RWGG, 30.4.1829, in: HStAD, RW 1-28. Vgl. dazu außerdem Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Gutachten an den CA über die Aufgaben der Gefangnisreform ( 1851 ), S. 26-28, hier S. 27. 331 Boegehold: Beitrag zur inneren Mission, 1852, S. 11. 332 Appert: Geheimnisse des Verbrechens, Bd. 1, 1851, S. 3. 333 Becker: Verderbnis und Entartung, 2002, Kapitel 4. 334 Becker: Verderbnis und Entartung, 2002, S. 177-182 u. 220-248. 335 Siehe entsprechende Charakterisierungen in: JB RWGG 1841/14, S. 8; Wagnitz: Historische Nachrichten, Bd. 2,2, 1794, S. 145 u. Bericht des katholischen Gefängnisgeistlichen Giesen an RWGG v. 9.1.1830, in: HStAD, RW 1-192. 336 Vgl. z.B. Appert: Geheimnisse des Verbrechens, Bd. 1, 1851, S. 20; Julius: Weibliche Fürsorge, 1827, S. 57-58; JB RWGG 1830/3, S. 27 u. JB RWGG 1840/13, S. 12.

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zentrale Herausforderung dar: „Weil ein Zusammenleben der Sträflinge Heuchelei, Verstellung, Verabredungen jeglicher Art und heimliche Angebereien möglich macht, wird den Beamten die Kenntnis der einzelnen Individuen, damit aber auch die individuelle Behandlung der einzelnen sehr erschwert, die doch mit der Erreichung aller Strafzwecke in engen Zusammenhang treten soll." 337 Als Produkt dieser „Schule des Verbrechens" interpretierten die Gefängnisreformer die relativ hohe Rückfälligkeit der Verurteilten. Die Rückfallquoten stellten daher die zentrale Meßlatte fur die Güte und Effizienz der Haftsysteme dar.338 Das Leben innerhalb der Gefängnismauern mußte so reguliert sein, daß diese nachteiligen Lerneffekte ausgeschaltet werden konnten. Die entsprechende Maxime lautete daher: Die Gefangenen sind nach Graden der „moralischen Verderbtheit" zu klassifizieren und entsprechend getrennt unterzubringen. Von denjenigen, die wiederholt wegen Straftaten im Gefängnis einsaßen, ging nach dieser Logik die größte Ansteckungsgefahr aus. 339 „Die große Zahl der Rückfälligen in den Gefangnissen nimmt gewiß eine erhöhte Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand in Anspruch, da diese Menschen in der Regel Gewohnheitsverbrecher werden, eine Pest für alle, mit welchen sie in Berührung kommen." 340 Von ihnen seien unbedingt die „Leichtsinnigen" abzuschütten, denen gleichzeitig wesentlich höhere Chancen der Besserung prognostiziert wurden. 341 Die Selektion richtete sich also nach dem Kriterium der Besserungsfahigkeit. 342 Die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft unterbreitete 1832 dem rheinischen Oberpräsidenten Vorschläge zur Absonderung und besonderen Behandlung der Rückfälligen in den rheinischen Strafanstalten, die sich in einer späteren Ministerialverfassung aus dem Jahre 1834 durchaus wiedererkennen lassen. Der Verein hatte gefordert, die Haft der Rückfälligen zu verschärfen, indem man ihnen den Überverdienst einschränkte, die Gefangenenkost und die Besucherfrequenz verringerte, sie zu schwerer, unangenehmer Arbeit heranzog und durch besondere Kleidung kennzeichnete. 343 337

Anonymus: Zuchthausgeschichten, Bd. 1, 1853, S. 64. Zum Kriterium der Rückfallquote siehe z.B. Ristelhueber. Beschreibung des LandArbeitshauses, 1828, S. 58-59; JB RWGG 1834/7, S. 17 u. 1835/8, S. 27. 339 Vgl. beispielsweise die Einteilung in zwei Klassen beim Rawiczer Reglement (Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, S. 7). 340 Fliedner: Collektenreise, Bd. 1, 1831, S. 367. 341 Zur Absonderung der Leichtsinnigen vgl. bereits Wagnitz·. Historische Nachrichten, Bd. 2,2, 1794, S. 149-150. 342 Zu den frühen Klassifizierungen vgl. z.B. Julius: Weibliche Fürsorge, 1827, S. 67-69; Fliedner: Collektenreise, Bd. 1, 1831, S. 238 u. JB RWGG 1829/2, S. 55-58. 343 Überverdienst - auch Arbeitsgeschenk genannt - bezeichnete die Entlohnung des Gefangenen für die Arbeit, die er über das vorgeschriebene Pensum hinaus leistete. Er war vorrangig als finanzielle Vorsorge für die Zeit nach der Entlassung eingeführt worden. Die Möglichkeit eines Überverdienstes wurde jedoch auch pädagogisch als Anreiz für Fleiß und Tüchtigkeit verstanden. Je nach Anstalt durfte das Geld bis zu einem bestimmten An338

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Ganz im Sinne des Verständnisses von „Unsittlichkeit" setzten die Gefángnisexperten Rückfalligkeit mit fortgeschrittener „moralischer Verderbtheit" gleich. Nach dieser Logik zählten Landstreicher und Bettler zur gleichen Kategorie wie Diebe oder Gewaltverbrecher. 344 Die Schwere der Tat, wie sie etwa beim Proportionalitätsprinzip von Tat und Strafe im Recht zum Tragen kommt, trat damit innerhalb des Gefangnisdiskurses völlig in den Hintergrund; nicht am begangenen Delikt, sondern an der Besserungsfahigkeit sollte sich die Strafe ausrichten. 345 So heißt es etwa bereits bei Elizabeth Fry über die Einteilung der Gefangenenklassen: „Wenn eine der ältesten und verhärtetsten Missethäterinnen, nur eines kleinen Vergehens schuldig gefunden wird, und wenn ein bloßer Neuling in Verbrechen, gleiches Urtheil wegen derselben Uebertretung empfangen hat, ist es augenscheinlich sehr unpassend, zwei solche Wesen in eine Klasse zu setzen." 346 Zwar wurde auch in der Strafrechtswissenschaft der Rückfall zu einem festen Argument der StrafVerschärfung und teilweise der StrafVerlängerung, doch die deutschen Strafgesetze des 19. Jahrhunderts definierten den Rückfall deliktbezogen, das heißt von Rückfall wurde nur gesprochen, wenn der oder die Straffällige wiederholt wegen des gleichen Deliktes vor Gericht stand.347 Der gleichen Argumentationslogik entsprang das Klassifizierungsprinzip des Alters. Mit der Annahme eines progressiven Verlaufs der Verbrecherkarrieren richtete sich die besondere Aufmerksamkeit auf jugendliche Straftäter, das heißt auf diejenigen, die bereits strafmündig waren und verurteilt wurden. 348 Gegenüber den „im Laster ergrauten Verbrechern" standen sie nach teil auch während der Haftzeit für zusätzliche Lebensmittel ausgegeben werden. Vgl. z.B. die §§ 47-55 sowie zu den Haftverschärfüngen §§ 28, 35 u. 50 im Reglementfür die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, S. 11. Teilweise waren die Verfugungsrechte über den eigenen Arbeitslohn Bestandteil eines pädagogisierten Klassensystems (Müller. Entlassenenflirsorge in Baden, 1964, S. 54-55). 344 Siehe z.B. JB RWGG 1828/1, S. 18. 345 Diese konsequente Folgerung aus dem Besserungsideal wurde durchaus reflektiert, so etwa beim Kriminalrat der Anstalt in Dreibergen, Friedrich von Wiek: „...der Richter, wenn er auf Zuchthausstrafe erkennte, würde consequenter Weise nicht mehr auf die Strafbarkeit der That, sondern auf die Besserungsfähigkeit des Verbrechers sehen, und die natürliche Folge wäre, daß keine Strafgefangenschaft länger dauern dürfte, als bis zum Eintritt der Besserung." Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 42. 346 Julius·. Weibliche Fürsorge, 1827, S. 69-70 u. ähnlich Moll·. Besserung, 1841, S. 12. 347 Bereits der Code pénal von 1810 sah beim Rückfall eine Strafverschärfung vor, allerdings handelte es sich um eine generelle, vom Delikt unabhängige Strafverschärfung. Vgl. ausfuhrlich Holzhauer: Rückfall, 1990, hier S. 1184-1185. 348 Im „Strafgesetzbuch fur die Preußischen Staaten" von 1851 lag das Strafmündigkeitsalter bei 16 Jahren. Straftaten von Kindern oder Jugendlichen unter 16 Jahre waren damit nicht automatisch straffrei, sondern nur wenn sie „ohne Unterscheidungsvermögen gehandelt" hatten. Die Richter konnten bestimmen, ob sie alternativ zu einer regulären Strafe in eine Besserungsanstalt überwiesen werden sollten (Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, 1851, §42). Das kognitive Kriterium des Unterscheidungsvermögens wurde in den deutschen Strafgesetzen übernommen. Obwohl in den 1840er Jahren in Preußen défini-

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Meinung der Reformer erst am Anfang eines „unsittlichen" Lebenswandels, den sie sich noch nicht zur Gewohnheit gemacht haben konnten und von dessen vielfaltigen Spielarten ihnen noch viele unbekannt sein mußten.349 Ihr Besserungspotential wurde entsprechend am höchsten eingeschätzt. Eine mögliche Verbrecherlaufbahn sollte hier also bereits „im Keime ertödtet" werden.350 Der Ausschuß des Berliner Besserungsvereins unterhielt in den 1830er Jahren daher eine spezielle „Kommission zur Beaufsichtigung und Besserung jugendlicher Strafgefangener".351 Aber auch andere Gefängnisvereine und Strafanstaltsexperten forderten, junge Gefangene gesondert unterzubringen und anders zu behandeln.352 Die Forderung nach separaten Strafanstalten für Jugendliche mit besonderem Gewicht auf die schulische und berufliche Ausbildung tauchte bereits sehr früh auf, war aber dann vor allem seit den 1840er Jahren immer häufiger zu hören.353 Im Jahr 1847 verabschiedete der erste internationale Gefängniskongreß in Frankfurt einen entsprechenden Beschluß, der von Gefangnisvereinen wie der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschaft besonders begrüßt wurde.354 Zehn Jahre später hatten sich die kriminalpolitischen Positionen des Vereins gegenüber jugendlichen Straftäter zunehmend konkretisiert: Anstelle von besonderen Strafanstalten schlug der Ausschuß der Gesellschaft vor, junge Häftlinge in die bereits bestehenden Besserungsanstalten fur Jugendliche in St. Martin bei Boppard und in Steinfelden einzuweisen.355 Neben Rückfalligkeit und Alter war schließlich das Geschlecht das dritte wichtige Klassifikationskriterium. Obwohl bereits die frühen Zahlen der Justiz- und Strafanstalten verdeutlichten, daß Straftaten rein quantitativ gesehen überwiegend ein männliches Phänomen waren, spielten Frauen nicht nur als Opfer und als Bezugspersonen im Umfeld von Verbrechern, sondern auch als Täterinnen und Häftlinge eine Rolle. In der Strafrechtsdebatte wurden seit Ende des 18. Jahrhunderts frauenspezifische Delikte oder solche, die relativ häufig von Frauen begangen wurden, wie Kindsmord oder Brandstiftung, im Zeichen gesellschaftlicher Geschlechterdifferenzen diskutiert und hinsichtlich tive Altersgrenzen - also unter 12 Jahren straflos und über 16 Jahren strafmündig - diskutiert wurden, entschieden sich die Gesetzgeber schließlich für eine relative Strafmündigkeit nach französischem Vorbild. In anderen deutschen Staaten lag die Strafmündigkeitsgrenze teilweise erst bei 18 bis 21 Jahren. Zur historischen Entwicklung der Strafmündigkeit vgl. ausführlich Fuchs: Problem der Strafmündigkeit, 1906, S. 5-28. 349 JB RWGG 1845/18, S. 6. 350 Julius: Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde, 1828, S. CIV. 351 Siehe Rosenfeld: Geschichte des Berliner Vereins, 1901, S. 45. 352 Entsprechende Vorschläge in: JB RWGG 1844/17, S. 21-22. Für Holland finden sich Beispiele in: Drenth/Haan: Rise of Caring Power, 1999, S. 113; zur Schweiz siehe Curtí: Strafanstalt, 1988, S. 67. 353 Vgl. z.B. den Bericht über entsprechende Vorschläge in den holländischen Gefängnisvereinen, in: Fliedner. Collektenreise, Bd. 1, 1831, S. 237 u. 372. 354 JB RWGG 1848/21, S. 1. 355 JB RWGG 1858/31, S. 33.

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der Frage von Schuld und Zurechnungsfähigkeit neu verhandelt. Im Gegensatz dazu entsprang die Vorgabe, die Geschlechter in den Strafanstalten strikt voneinander zu trennen, in erster Linie der Sorge um die sexuelle Moral während der Haft. 356 In einem Vorschlag zur „Gründung eines Muster-Gefangnisses für 300 weibliche Sträflinge", den die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft 1829 bei den staatlichen Behörden einreichte, berief sich der Ausschuß auf die Berichte des Hausarztes der Haftanstalt in Werden: Es würden „durch Blicke und Winke mit den weiblichen Gefangenen Verbindungen angeknüpft, die man durch verstohlene Worte und Zeichen bei künstlich veranlaßten Begegnungen, selbst während des Gottesdienstes bestätigt und durch verheimlichte Correspondenzen unterhält. Das Schreibmaterial und die Geschenke, die durch Wasserträger oder andere verschmitzte Unterhändler befördert werden, sind durch Diebstahl und Betrug angeschafft. So veranlassen diese Intrigen mancherlei Unordnungen und selbst Verbrechen, und es ist sehr zu bezweifeln, daß alle Aufsicht diese Quelle moralischen Verderbens stopfen wird, so lange Männer und Weiber gemeinschaftlich dieses Haus bewohnen." Der „rege gehaltene Geschlechtstrieb" gefährdete nach Meinung des Vereinsausschusses nicht nur „Sicherheit und Ordnung", sondern wirkte insbesondere der „Bekämpfung der Sittenlosigkeit und Gottlosigkeit" entgegen, die sich die Gesellschaft im Zeichen des Besserungsprogramms zum Ziel gesetzt hatte. 357 Dem Vorschlag eines gesonderten, nach dem damals innovativen Strahlenplan zu erbauenden Frauengefängnisses folgten die Behörden zwar nicht. Obwohl es noch einige Jahrzehnte dauern sollte, bis es spezielle Frauengefangnisse gab, stellten man nicht das Klassifikationsprinzip generell in Frage. 358 Sexuelle Kontakte hatten während der Haft wiederholt zu Schwangerschaften gefuhrt, die ein Problem für die neuen klassifizierten Anstaltsordnungen darstellten. Elizabeth Frys Appell, weibliche Gefangene konsequent nur von Aufseherinnen überwachen zu lassen, entsprang derselben Sorge: „Die in unserem Gefängnisse eingeschlossenen Weiber, sind größtentheils leichtfertiger und ausgelassener Art. Sie der Obhut von Männern anzuvertrauen, ist daher augenscheinlich unvernünftig, und fallt gewöhnlich zum Verderben

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Zum strafrechtlichen und gerichtsmedizinischen Geschlechterdiskurs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Uhi: Das „verbrecherische Weib", 2003, Kapitel II-III. 357 HStAD, RW 1-191: Gründung eines Muster-Gefängnisses fur 300 weibliche Sträflinge (O.D.). Angesichts der noch ausstehenden Reformen in der Vielzahl der Haftanstalten im Rheinland und in Westfalen und der relativ geringen Zahl weiblicher Gefangener genoß die Errichtung eines speziellen Frauengefängnisses nicht oberste Priorität. Allerdings überlegte man - auch noch in den folgenden Jahren - , ob sich vorhandene Gebäude fur eine solche Einrichtung eigneten, um mehr Raum für männliche Gefangene zu gewinnen. Vgl. die entsprechenden Schreiben, in: GStA PK, I. HA Rep. 77, Tit. 270, Nr. 20 sowie LHK, Best. 403, Nr. 851. Allgemein zur Entwicklung des Frauenstrafvollzugs vgl. Leukel: Im „Weiberzuchthaus", 2007.

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beider Theile aus. Männliche Gefangenwärter oder andere untergeordnete Beamte dieses Geschlechts, sollten nach meinem Dafürhalten, niemals Zutritt zu der weiblichen Abtheilung des Gefängnisses haben, oder irgend eine persönliche Verbindung mit deren Bewohnern unterhalten". 359 Mit sexuellen Kontakten zwischen inhaftierten Frauen und Aufsehern oder anderen männlichen Beamten sahen sich die Anstaltsverwaltungen noch wiederholt konfrontiert. 360 Obwohl davon ausgegangen werden kann, daß es hier häufig zu gewalthaften Übergriffen der Beamten auf die Frauen gekommen war, bestimmt das Bild der sexuell leichtfertigen und zügellosen Verführerin eindeutig die Argumentation. Prostituierte gaben im Kriminalitätsdiskurs des 19. Jahrhunderts zweifellos das weibliche Pendant zum Gauner ab, und unter den weiblichen Insassen der Straf- und Korrektionshäuser machten sie neben Frauen, die wegen „Kuppelei" oder anderer Unzuchtdelikte verurteilt worden waren, die größte Gruppe aus. 361 So orientierte sich Elizabeth Fry bei ihren Vorschlägen hauptsächlich an Frauen wie der von ihr exemplarisch beschriebenen „vollendetefn] Londoner Diebin", die „durch jede Stufe und jede Scene der Schuld gegangen, ihre Jugend in Liederlichkeit, und ihr reifes Alter in Dieberei und Betrügerei zugebracht habe". 362 Prostitution galt als Ausgangspunkt der weiblichen kriminellen Karriere. Gleichwohl bildete der Kriminalitätsdiskurs ein recht ambivalentes Bild von Weiblichkeit ab, das Peter Becker als Erzählmuster der „verführten Verführerin" beschreibt. 363 Zu diesem Bild passend läßt sich in der Gefangnisliteratur der Vorwurf finden, bei den verurteilten Frauen sei ein Hang zur „Putzsucht" - zum übertriebenen Aufwand für die äußere Erscheinung 364 - zu beobachten, womit Laster wie Eitelkeit, Verschwendung, „Coquetterie" und Schamlosigkeit verbunden wurden. 365 Auf der hier entworfenen Projektionsfläche der Verführerin ließen sich schließlich die bereits bekannten Vorwürfe der Heuchelei und Verstellung beinahe noch prägnanter einschreiben als in den männlichen Gaunertypus. 366 359

Julius: Weibliche Fürsorge, 1827, S. 61. 1835 forderte die RWGG als Reaktion auf Berichte von „fragwürdigen Handlungen" in der Arbeitsanstalt Brauweiler, Aufseherinnen einzustellen (JB RWGG 1835/8, S. 33). 361 Vgl. Becker. Verderbnis und Entartung, 2002, Kapitel 3. 362 Julius: Weibliche Fürsorge, 1827, S. 9. 363 Becker: Verderbnis und Entartung, 2002, S. 144. 364 Im Umkehrschluß konnte diese Eigenschaft unter richtigen Zielvorgaben aber auch zu einem sittlichen Auftreten umgemünzt werden, wie aus folgender Beschreibung englischer Frauen hervorgeht: „Alle waren niedlich und anständig gekleidet; ihre Hauben reinlich und gut aufgesetzt, und bei einigen derselben konnte man wohl sehen, daß sie gewohnt waren, aufmerksam auf ihren Putz zu seyn." Julius·. Weibliche Fürsorge, 1827, S. 20. 365 Appert: Geheimnisse des Verbrechens, Bd. 1, 1851, S. 69-70. 366 Siehe die Verknüpfung bei Appert: Geheimnisse des Verbrechens, Bd. 1, 1851, S. 70: „Die Frauenzimmer, welche sich in Prostitutionshäusern und Gefängnissen befinden, sind in einem solchen Grade verschlagen, heuchlerisch und lügenhaft, daß ich unter hundert kaum zwei angetroffen habe, die mir aufrichtige Geständnisse machten." 360

2.3 Zum Verhältnis von Verbrecherbild und Strafkonzeption

103

Diese Verführerinnen verstanden die bürgerlichen Reformer zugleich selbst als Opfer von Verfiihrungskünsten anderer: sei es in Form von Anstiftung durch die eigenen Mütter, ältere Freundinnen, professionelle „Kupplerinnen" und Zuhälter oder auf indirektem Weg, durch den Glanz des luxuriösen Lebens und die damit verbundene Hoffnung, einmal selbst ein solches führen zu können. 367 Das weibliche Geschlecht sah man daneben besonders gefährdet durch „unsittliche" Kunst und Literatur: „Schlechte Romane, unzüchtige Werke und Bilder, Melodramen" hätten auf die inhaftierten Frauen eine „gefährliche Anziehungskraft" ausgeübt. 368 Diese Angst vor dem negativen Einfluß von Literatur auf die weibliche Phantasie und Sittlichkeit ist bereits aus den Debatten um die sogenannte Lesewut bürgerlicher Töchter seit Anfang des 19. Jahrhunderts bekannt, da aber bei den Gefängnisinsassen ansonsten Bildungsdefizite nachgewiesen wurden, erweist sich diese Charakterisierung als besonders widersprüchlich. 369 Sie reproduzierte in erster Linie allgemeine Geschlechterstereotype in bezug auf die verminderte Rationalität und Willensstärke von Mädchen und Frauen. Nach dieser Konstruktion konnten Frauen das schwache Geschlecht verkörpern und gleichzeitig als Verführerinnen gefahrlich sein. Insgesamt entsprachen die Kriminalitätserklärungen sowie die das Verbrecherbild konstituierenden Zuschreibungen innerhalb der Gefängnisdebatten größtenteils einem weitverbreiteten sozialmoralischen Blick auf die unteren Volksschichten, der auch in anderen Diskurszusammenhängen der Verwaltung bestimmend war. Das idealtypische Objekt, an dem sich das Besserungsdispositiv ausrichtete, zeichnete sich durch mangelnde sittlich-religiöse Bildung und fehlende Einbindung in feste soziale Ordnungsstrukturen aus. Pathologische Definitionsversuche, wie sie zu jener Zeit bereits Eingang in die Rechtsprechung und die Strafrechtswissenschaft gefunden hatten, gehörten dagegen nicht zum Bild des unerzogenen Verbrechers. Das Erziehungsparadigma, bei dem nicht nur mangelndes sittliches Wissen zum Ansatzpunkt der Besserungsstrategien wurde, sondern das auch kriminelles Verhalten als erlernbares und damit zu unterdrückendes Wissen deutete, machte jedoch eigens für den Freiheitsentzug weitere Differenzierungen notwendig. Geschlecht, Alter und das Kriterium der Rückfalligkeit stellten die zentralen Klassifikationsprinzipien dar, welche die innere Ordnung der Haft strukturieren und den Umgang mit den Gefangenen bestimmen sollten.

367

Vgl. z.B. JB RWGG 1843/16, S. 33-34 u. 1848/21, S. 31; siehe außerdem die Kommentare zu Insassen des Kaiserswerther Asyls, in: AKD, Asylchronik. 368 Appert: Geheimnisse des Verbrechens, Bd. 1, 1851, S. 74. 369 Vgl. z.B. Lyons: Die neuen Leser, 1999, S. 464-466.

104

2 Die Anfänge der Straffälligenffirsorge (1777-1861)

2.4 Traditionsbildung der Bekehrungsinstrumente Moralische und physische

Besserung

1858 konstatierte der Heidelberger Rechtsprofessor und Gefängnisexperte Karl J. A. Mittermaier für die Gefángnisdebatten: „Die Macht der Wahrheit hat immer mehr darin sich geltend gemacht, daß man die Besserung des Verbrechers, wenigstens die Besserung der zur Freiheitsstrafe Verurtheilten als die Idee erkennt, welche den Gesetzgeber leiten muß." 370 Das Besserungsideal hatte sich im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unverkennbar durchgesetzt, doch das bedeutete nicht, daß Einigkeit darüber bestand, welche konkreten Erziehungsziele und -methoden umzusetzen seien, ganz zu schweigen davon, daß Abschreckung daneben weiterhin ein konkurrierender Strafzweck blieb.371 Bei der Gefangnisreformbewegung unterscheidet die Forschung grundsätzlich zwei Disziplinarprogramme, und zwar das der moralischen und das der physischen Besserung.372 Das Ziel, während der Haftstrafe eine innere, moralisch-religiöse Umkehr der Verurteilten zu bewirken, stand vor allem in den frühen Reformschriften der Geistlichen und Pädagogen wie Wagnitz, Johann Heinrich Abicht und Carl August Zeller, aber auch bei den ersten Vorschlägen der preußischen Ministerialbürokratie, dem General-Plan zur allgemeinen Einfiihrung einer bessern Criminal-GerichtsVerfassung und zur Verbesserung der Gefängnis- und Straf-Anstalten373 von 1804, im Vordergrund. Vertreter eines eher technisch-mechanischen Erziehungsverständnisses, zu denen im deutschsprachigen Raum Justus Gruner und von Arnim zu zählen sind, lehnten diese sittliche Pädagogik ab. Sie stellten der moralischen Besserung eine „physische" entgegen, die auf „eine durch mechanische Gewöhnung an Arbeit und Ordnung bewirkte Unterdrükkung der verderbten Neigungen" setzte374 und der die - modern gesprochen 370 371

Mittermaier. Gefängnisverbesserung, 1858, S. 1.

Begriffsgeschichtlich bedeutete nach Georg Forrer „correction" im Strafrechtsdiskurs des 18. Jahrhunderts ursprünglich sogar, Verbrecher durch den Vollzug der Strafe an der Begehung weiterer Strafen zu hindern. Hierunter sei häufig die Abschreckung des Täters verstanden worden, während der Begriff nur vereinzelt bereits mit Vorstellungen einer moralischen Besserung verbunden worden sei. Vgl. Forrer. Freiheitsstrafe, 1975, S. 80-81. 372 Nutz·. Besserungsmaschine, 2001, S. 86-87. 373 Abgedruckt in: Krohne/Aber: Strafanstalten und Gefangnisse in Preussen, 1901, S. XXXIX-XLVIII. 374 Arnim·. Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 1, 1801/1803, S. 97. Die physische Besserung firmiert in Justus Gruners Terminologie als „politische Besserung" (ιGruner: Versuch über Strafen, 1799, S. 86). Daneben findet man auch die Gegenüberstellung einer „äußerlichen" und „inneren" Besserung (vgl. z.B. Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 36) sowie das Begriffspaar der „bürgerlichen" und „sittlichen" Besserung im Titel des 1. JB RWGG 1828. Eine frühe Abgrenzung zwischen Strafen, die nur äußerlich wirken, und solchen, die auf die Sittlichkeit abzielen, findet sich bereits bei Abicht: Belohnung und Strafe, 1796, v.a. Bd. 1, S. 453, der selbst ein radikales Konzept der „sittlichen Vergeltung"

2.4 Traditionsbildung der Bekehrungsinstrumente

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behavioristische Vorstellung vom Menschen als einem primär sinnlichen, von Affekten gesteuerten Wesen zugrunde lag.375 Am Aufkommen der „Besserungsmaschine" ist abzulesen, daß nach wenigen Jahrzehnten das Ideal der moralischen Besserung gegenüber dem der physischen in den Hintergrund rückte. Diese Wende ist nicht allein auf die Dominanz einer materialistischen Psychologie zurückzuführen, sondern muß, wie Thomas Nutz gezeigt hat, in erster Linie vor dem Hintergrund des staatsrechtlichen Denkens dieser Zeit interpretiert werden. 376 Auf der gedanklichen Abspaltung einer gesetzeskonformen äußeren Handlung von einem damit übereinstimmenden Gewissen basierte das sich in den Staatslehren seit dem 18. Jahrhundert durchsetzende gesellschaftliche Konstruktionsmodell, das sich in den Debatten um religiöse Toleranz und Gewissensfreiheit herausgebildet hatte. 377 Wie sich Gefängnisreform und Staatstheorie verschränkten, läßt sich bei von Arnim sehr gut nachvollziehen: „Es ist jetzt eine beinahe allgemein gewordene Idee: daß Besserung, und noch dazu moralische Besserung der Verbrecher, der Zweck der Strafen sei, mithin auch Besserung, und also auch moralische Besserung der Verbrecher, der Zweck aller Strafgefängnisse sein müsse. Ich kann mich von der Richtigkeit dieser Idee nicht überzeugen, so viel blendendes und anziehendes sie auch immer haben mag. Meines Ermessens liegt dabei eine ganz offenbare Verwirrung der Begriffe zum Grunde, welche dadurch entsteht, daß man die transcendentale Idee des Strafzwecks, ohne weitere Rücksicht und in ihrer abstracten Allgemeinheit, aus der Metaphysic in die bürgerliche Gesetzgebung überträgt." 378 Die staatliche Verfaßtheit der Gesellschaft wurde hier als rechtlicher und nicht als sittlicher Zustand definiert. Der Bürger könne für den Staat weder Zweck sein noch stelle er für ihn ein rein moralisches Wesen dar. Sittlichkeit und Moral gehörten in die bürgerliche Sphäre, die von staatlichen Reglementierungen ausgenommen sein sollte. „Wahre" Sittlichkeit war demnach nicht durch Zwang zu erreichen, sondern setzte die freie Willensentscheidung voraus. Dieser Vorstellung entsprechend, konnte die moralische Besserung nicht durch Zwangsinstrumente des Strafens herbeigeführt werden, der Staat besitze dazu auch gar nicht die Mittel. 379 Daraus folgte jedoch nicht automatisch, daß das moralische Erziehungsziel komplett aufgegeben wurde, auch nicht von der Ministerialbürokratie. Nutz' Erklärung, dies sei der „traditionell engen Verknüpfung von Recht und Moral

- gemeint war eine moralische Besserung - vertrat, indem er sinnliche Strafubel weitgehend ablehnte. 375 Vgl. bereits Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 8 6 - 9 6 . 376 Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 8 7 - 8 9 . Leider geht hieraus nicht hervor, inwieweit diese Differenzierung auch in anderen Ländern eine Rolle spielte. 377 Kittsteiner: Entstehung des modernen Gewissens, 1995, S. 2 3 7 - 2 3 8 . 378 Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2 / 1 - 3 , 1801/1803, S. 8 - 9 . 379 Arnim·. Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2 / 1 - 3 , 1801/1803, S. 9 u. 26.

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im Werthorizont preußischer Administrationsangehöriger" geschuldet, 380 verdeckt die Bedeutung der Differenz zwischen physischer und moralischer Besserung. Diese Abgrenzung war keine bloße Frage des ideologischen Standpunktes, des Unterschieds zwischen spätabsolutistischem und frühliberalem Staatsverständnis, sondern schlug sich langfristig ganz real in der Organisation des Strafvollzugs nieder. Mit der Unterscheidung wurden nämlich nicht nur Raum und Grenzen staatlichen Strafens verhandelt, sie entschied zugleich darüber, wie gesellschaftliche Erziehungsinstanzen einbezogen und die verschiedenen Disziplinarpraktiken miteinander verknüpft werden konnten. Die Geschichte der Gefangnisvereine und ihrer Handlungsspielräume ist ein Beispiel dafür. Es ging also weniger um die Entscheidung zwischen gegensätzlichen Optionen, sondern darum, das gefangnisreformerische Besserungsdispositiv an die rechtliche und institutionelle Grundmechanik neuzeitlicher Staatlichkeit anzupassen, an der sich eine konservative preußische Administrationsschicht ebenso wie religiös-philanthropische Reformer orientieren mußten. 381 Die Notwendigkeit, die neuen Strafkonzepte abzustimmen und zwischen Kriterien der Wirksamkeit und der Rechtmäßigkeit zu vermitteln, läßt sich aus Justus Gruners einleitend dargelegter Motivation seines Beitrags zur Gefängnisreformdebatte klar herauslesen: „Soll die ganze Untersuchung über die Strafenlehre nützlich seyn, das heißt soll sie zur Beförderung des Wohls der Menschheit etwas beitragen, so läßt sich dies nur von einer doppelten Ansicht derselben erwarten: die Strafen müssen dann nach ihrer Rechtmäßigkeit und Wirksamkeit beurtheilt werden. Nur dadurch ist es möglich, jenen Fehden zwischen Philosophen und Politikern ein Ende zu machen und als Kampfrichter zwischen diesen Partheien aufzutreten." 382 Im Idealfall sollten auf Sittlichkeit ausgerichtete Erziehungstechniken und solche der habituellen Gewöhnung ineinandergreifen. Die moralische Besserung - und hiermit war zunächst vorrangig der erzieherische Effekt der Religion gemeint 383 - war demnach ein wünschenswerter Nebenzweck, 384 auf den der Staat „negative Rücksicht zu nehmen" habe. 385 Gottesdienste und Einzelseelsorge mußten in den Anstalten gewährleistet sein, dem stimmte auch von Arnim zu, auch

380

Nutz·. Besserungsmaschine, 2001, S. 87. Vgl. hierzu insgesamt die differenzierte Argumentation und Einbettung in die Strafzweckdiskussion bei Moll: Besserung, 1841 u. Wiek: Strafe und Besserung, 1853. Außerdem ist es ohnehin schwierig, eine klare ideologische Linie in den Gefängnisdebatten zu ziehen. So vertraten auch Strafrechtswissenschaftler wie Karl David August Roeder ein vorwiegend sittlich-moralisches Besserungskonzept (Roeder: Besserungsstrafe, 1864, S. 104-107). 382 Gruner. Versuch über Strafen, 1799, S. 19. 383 Bei Wagnitz erschöpften sich die moralischen Besserungsstrategien in Seelsorge und religiöser Unterweisung (vgl. Wagnitz: Historische Nachrichten, Bd. 2,1, 1792, S. 26-27). 384 Gruner: Versuch über Strafen, 1799, S. 86 u. Gruner: Sicherungsinstitute, 1802, S. 113. 385 Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2/1-3, 1801/1803, S. 41. Vgl. ähnlich auch Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 40. 381

2.4 Traditionsbildung der Bekehrungsinstrumente

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wenn er der tatsächlich zu erwartenden sittlichen Wirkung skeptischer gegenüberstand als andere Reformer: 386 „Dies ist gleichwohl das allerwichtigste, was meines Ermessens für die moralische Besserung der Gefangenen geschehen kann". 387 Insofern spiegelten die Gefängnisreformdebatten das Verhältnis von Staat und Kirche wider. Die Ablösung kirchlich-religiöser durch überwiegend staatliche Disziplinarstrategien, wie sie noch im modernisierungstheoretischen und am Säkularisierungsnarrativ ausgerichteten Phasenmodell Gerhard Oestreichs - von der „Sozialregulierung" zur „Sozialdisziplinierung" - anklang, ist daher zu differenzieren. 388 Den Glauben an die disziplinierende Kraft von Religion und Kirche und ihre stabilisierenden Effekte auf die gesellschaftliche Ordnung reaktivierten nicht nur die religiösen Erneuerungsbewegungen durch ihre Versuche der Inneren Mission. Zwischen dem frühneuzeitlichen Modell der „Kirchenzucht" und der Erziehung zum Staatsbürger oder genauer gesagt zum Untertan - wurde anfangs nicht überall so klar unterschieden wie es die Differenzierung zwischen physischer und moralischer Besserung suggerierte. Frömmigkeit als religiös motivierter Gehorsam und Gesetzestreue gingen in diesem Verständnis nahezu ineinander auf - vor allem hinsichtlich der unteren und ungebildeten Volksschichten. Die folgende, an die Gefangenen gerichtete Ermahnung verdeutlicht diese enge Verknüpfung: „Darum, seid mäßig, sparsam, meidet den Umgang mit schlechten Menschen; seid fromm und gehorsam gegen die bestehenden Landesgesetze, liebet Euren Landesfürsten und seid Ihm treu bis zum letzten Lebenshauch; achtet Eure Vorgesetzten; überhaupt seid rechtschaffen und verträglich mit Euren Mitmenschen und Ihr werdet einst mit Dank gegen den Himmel und die Obrigkeit, die von Gott dem Herrn gesetzt ist, zurückblicken und Diejenigen segnen, die Euch auf dem Wege des Verderbens aufgegriffen und den Grund zu Eurem künftigen Lebensglück gelegt haben." 389 Die Kombination beider Besserungspraktiken entwickelte sich zu einem festen Bestandteil des Gefängniswesens, der bis ins 20. Jahrhundert hinein Bestand hatte. Die dem neuzeitlichen Staatsverständnis entsprechende Lösung sah vor, die religiös-moralische Besserung den Gefängnisgeistlichen zu übertragen und deren Kompetenzbereich klar von dem der übrigen Anstaltsbeamten abzugrenzen. Die Dienstordnungen regelten nicht nur die seelsorgerischen Pflichten und Aufgaben, sondern bestimmten auch die Position der Geistlichen innerhalb der Strafanstaltsverwaltung. Geistliche und Kirchenbehörden forderten diese Grenzziehung regelrecht ein, um zu gewährleisten, daß Seelsorge und religiöse Erziehung nicht von anderen Strafvollzugsmaß386

Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2/1-3, 1801/1803, S. 41. Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2/1-3, 1801/1803, S. 231. 388 Oestreich: Strukturprobleme, 1969. 389 Ristelhueber: Leben und Schicksale, 1836, S. XXII. Vgl. ähnlich auch bei Vertretern einer religiösen Besserung Maltitz: Vorschläge zur Gefangnisreform, 1848, S. 33. 387

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nahmen behindert wurde.390 Wenngleich sich im Konfliktfall der Seelsorger und damit zugleich das Ziel der moralischen Besserung den übrigen Strafzwecken weitgehend unterzuordnen hatten,391 ermöglichten die Reglements den Geistlichen eine eigenständige Ausgestaltung der sittlich-religiösen Erziehung.392 Nachdem sich die Aufgabenteilung weitgehend etabliert hatte, verstanden die Vertreter der kirchlichen Behörden ihre Sonderstellung letztendlich selbst als notwendige Grundvoraussetzung ihrer seelsorgerischen Arbeit. Die Seelsorger wollten sich außerhalb der strafenden Zwangsmechanismen verortet wissen. Bis zu einem gewissen Grad konnte sich die Argumentation auch umkehren, wenn beispielsweise ein Geistlicher der Strafanstalt Dreibergen die sittliche Besserung innerhalb einer Zwangsanstalt als schwierig problematisierte und dabei das ehemals vorwiegend von Vertretern der physischen Besserung vorgebrachte Interpretament übernahm, der freie Wille sei die notwendige Basis der „wahren" Sittlichkeit: „Die wahre Besserung muß durchaus ein Resultat der freien Aneignung sein, und in dieser Beziehung möchte man es selbst wünschen, daß die Behörde der Strafanstalt als solche, das heißt diejenige Behörde, welche die Strafe als solche zu vollstrecken hat, sich von aller absichtlichen Einwirkung auf die Detinirten entfernt hielte und dieses Geschäft der Sorge anderer Behörden oder der freien Fürsorge Einzelner überließe, die in keinem Aufsichtsund Zwangsverhältnis zu den Detinirten stehen. Man möchte wünschen, daß die Strafanstalt den Zweck der sittlichen Besserung überall nicht als eine positive Aufgabe in ihren Plan aufnähme, sondern ihm nur eine negative Berücksichtigung dadurch zu Theil werden ließe, daß sie allen denen die kraft inneren oder äußeren Berufs für jenen Zweck zu arbeiten unternähmen, die möglichst die Freiheit gewährte."393 390

Siehe unter Hinweis auf frühere Übergriffe der Anstaltsverwaltung Jablonowski: Kirchliches Element, 1842, S. 74 u. den Bericht von Pfarrer Scholl an das Koblenzer Konsistorium v. 31.10.1851, in: EZA, Best. 7, Nr. 1688, Bl. lOlv. Vgl. ähnlich auch in der Schrift des ehemaligen Kriminalrats in Dreibergen, Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 56-61, dessen Ausführungen bei den Strafanstaltsgeistlichen sehr positiv aufgenommen wurden (siehe dazu Bericht von Pastor Liebich zur Strafanstalt Neugard an den EOK, Februar 1853, in: EZA, Best. 7, Nr. 1688, Bl. 197v.). Für die katholischen Geistlichen vgl. AEK, Gen. 32.8v. 1 : Ausfuhrliches Schreiben des Aachener Anstaltsgeistlichen Mettmann an Erzbistum Köln v. 4.6.1855. 391 Es wird zumeist von einer polizeilichen Unterordnung des Geistlichen unter die staatliche Anstaltsverwaltung gesprochen (Jablonowski: Kirchliches Element, 1842, S. 74). 392 Vgl. dazu ausfuhrlicher Abschnitt 2.4. 393 Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 39-40. Zum Problem, daß die Gefangenen die Geistlichen als Vertreter der Zwangsanstalt sahen, vgl. auch Nitzsch: Seelenpflege, 1857, S. 235 u. Wichern·. Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Denkschrift des Centraiausschusses fur die Innere Mission an den Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin v. 18.5.1853, S. 52 56, hier S. 54. Siehe außerdem die Empfehlung des Anstaltsgeistlichen von Insterburg, nur in absoluten Ausnahmefallen den Schutz der Verwaltung in Anspruch zu nehmen (Jablonowski: Kirchliches Element, 1842, S. 77).

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Trotz des wachsenden Problembewußtseins für die Grenzen der sittlichen Erziehbarkeit innerhalb des Strafvollzugs galt ihren Befürwortern - allen voran den Seelsorgern - die moralische Besserung als höchstes Ziel der Freiheitsstrafe.394 Sonst werde das „Aeussere ohne das Innere [...] zum bloßen Schein, während andererseits der gute Lebenswandel der inneren Besserung von selbst" folge. Dem Staat müsse „schon aus Eigennutz" an der moralischen Besserung der Strafgefangenen gelegen sein, „denn nur dadurch erreicht er wahre Sicherheit vor Rückfallen".395 Daher ließen sich mechanische Disziplinierungstechniken wie die Klassifizierung der Gefangenen und die strikte Anstaltsordnung mit ihren Zwangsmitteln bis zu einem gewissen Grad sogar als Vorbereitung auf die moralische Besserung verstehen, die dem Gefangenen den „sittlichen Ernst der Strafe"396 vor Augen führe.397 Der Ungehorsam und Widerstand, den viele der Gefangenen den Anstaltspfarrern und ihren religiösen Bekehrungsversuchen entgegenbrachten,398 mußte demnach erst gebrochen werden, um mit Hilfe der religiösen Gnadenmittel eine Besserung bewirken zu können. Härteres Durchgreifen und die strenge Anwendung der Disziplinarmaßnahmen stießen dabei durchaus auf Zustimmung der Anstaltsseelsorger.399 Die Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche fand ihre Legitimation in einem christlichen Staatsverständnis, wonach die weltliche und die religiöse Sphäre „niemals völlig getrennt werden"400 könne und der Staat auch für das „sittliche Wohl seiner Unterthanen zu sorgen"401 habe.402 Neben der Gewähr394

Vgl. z.B. in besonders emphatischer Form Moll: Besserung, 1841, S. 23-24. Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 36. 396 Wiek·. Strafe und Besserung, 1853, S. 48. 397 Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 43 u. 46-48. Vgl. außerdem Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Das Personal in den Gefangnissen (1850), S. 24-25, hier S. 24 sowie ähnlich, wenn auch kritischer zu Strenge und Zwang, Moll: Besserung, 1841, S. 15. 398 Vgl. z.B. die Schilderungen über Gotteslästerungen und Verhöhnungen des Geistlichen, in: Hinz: Leben, 1844, S. 20 u. 23. 399 J B R W G G 1833/6, S. 14 u. 1835/8, S. 28. So sind auch die Ausführungen des bekannten evangelischen Pastoraltheologen und Mitglieds der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschaft, Carl Immanuel Nitzsch, zu verstehen: „In jener Hinsicht hat er [gemeint ist der Geistliche] nun gewiß nichts anzurathen und zu erbitten, was den Zucht- und Strafzustand, was der Obrigkeit Ansehn und die Wirkung des Gesetzes, unter welches sie alle verhaftet sind, schwächen würde, im Gegentheil würde er, was daran fehlen könnte, zu erbitten haben" (Nitzsch: Seelenpflege, 1857, S. 234-235). Physische Gewöhnung und moralische Besserung wurden mitunter als aufeinanderfolgende Stufen der Gefangenenbehandlung verstanden (Vorschläge und Ansichten zweier Geistlicher, in Hinsicht auf Klassenabtheilung der Sträflinge, in: Jahrbücher der Gefängniskunde und Besserungsanstalten 1828/2, S. 266-277, Zitat S. 267). 395

400

Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 40. Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 41. 402 Vgl. ähnlich Jablonowski: Kirchliches Element, 1842, S. 21-23. Den Verlust religiöser Legitimation staatlichen Handelns versuchten die Kirchenvertreter mit dem Hinweis wettzumachen, daß selbst „das äußere positive Gesetz" sich letztlich an einer sittlich-religiösen 401

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leistung des Schutzes von Kirche und Religion sollte sich der Staat zu einer positiven Förderung verpflichten, die bei den Strafanstalten darin gesehen wurde, fur die materiellen und infrastrukturellen Grundlagen - Finanzierung von Seelsorgerstellen oder Erbauungsschriften - zu sorgen. 403 In Preußen hatte sich mit dem Zusammenschluß der evangelischen Konfessionen zur preußischen Landeskirche 1817 ein Staatskirchentum etabliert, das über eine bürokratisch-hierarchische Organisationsstruktur verfugte. Die Beziehungen zwischen Staat und Kirchenbehörden verliefen über zentral eingerichtete Konsistorien und über das Ministerium für geistliche Angelegenheiten und Unterricht, die kirchliche Belange und Personalfragen aufeinander abstimmten. 404 Für Einrichtung und Aufsicht der katholischen Seelsorge waren auf staatlicher Seite die Oberpräsidenten und später ebenso das Kultusministerium verantwortlich 405 - die erzwungene Kooperation fand hier freilich unter anderen Vorzeichen statt. Trotz der funktionalen Aufteilung fungierte die Unterscheidung zwischen physischer und moralischer Besserung weiterhin als wichtiges Kriterium der Disziplinarstrategien, und je nach Urteil wurden damit unterschiedliche Prioritäten für den Strafvollzug gesetzt. Nicht alle Maßnahmen waren so kompatibel wie die Einzelhaft, die der ultimativen Konsequenz der Klassifikationslogik entsprach und zugleich propagiert wurde, weil man hoffte, den für die sittliche Umkehr notwendigen Erkenntnisprozeß anzustoßen. Die Frage der Gefangenenarbeit gestaltete sich wesentlich kontroverser, wie die Debatte um die Einfuhrung von Tretmühlen zeigt, die in englischen Gefangnissen bereits seit den 1820er Jahren eingesetzt wurden. 406 Für die RheinischWestfälische Gefängnisgesellschaft, für die eine bürgerliche Besserung immer mit einer sittlichen einhergehen sollte, ging es bei der Lösung der Arbeitsfrage um mehr als nur eine kontinuierliche körperliche Beschäftigung, die allein auf einen Gewöhnungseffekt setzte und Arbeitsdisziplin als Zweck an sich verfolgte. Die Einwände bezogen sich nicht nur auf das Gesundheitsrisiko und das Kriterium der körperlichen Unversehrtheit der Gefangenen, das in der Tradition der älteren Anstaltskritik fest im Gefängnisdiskurs etabliert war. Entscheidender war, daß die Beschäftigung auf der Tretmühle

Ordnung orientiere {Moll·. Besserung, 1841, S. 13). Zur durchaus ambivalenten protestantischen Staatsauffassung vgl. allgemein Seidel: Anfange der katholischen und protestantischen sozialen Bewegung, 1970, S. 27-29. 403 Wiek·. Strafe und Besserung, 1853, S. 54-56; zu Frankreich siehe z.B. Vinet: Pflicht des Staates, 1844. 404 Janze: Bürger, 1990, S. 14-17. Zum Kompromißcharakter der preußischen Landeskirche zwischen autoritärer Staatskirche und Synodalprinzip vgl. Seidel: Anfange der katholischen und protestantischen sozialen Bewegung, 1970, S. 36. 405 1 841 richtete das Ministerium auch eine katholische Abteilung ein (Seidel: Anfange der katholischen und protestantischen sozialen Bewegung, 1970, S. 43). 406 Der Einsatz von Tretmühlen war nicht neu; er war bereits in den frühneuzeitlichen Arbeits- und Zuchthäusern zu finden (vgl. Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 150).

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keinerlei Sinnhaftigkeit von Arbeitsamkeit und Fleiß vermittle und die „Nutzlosigkeit" geradezu „Abscheu vor der Arbeit" erzeuge. 407 Aus der Perspektive der Entlassenenfursorge verhinderte diese Art der Disziplinierung außerdem „das Erlernen einer Arbeit, die nach der Entlassung zum Erwerb beitrage". 408 Mit der Beurteilung der Gefangenenarbeit nach Kriterien der moralischen und physischen Besserung wurde auch die Kontroverse über industriell organisierte Beschäftigung versus handwerkliche Arbeit ausgetragen. Genauso wie die religiös orientierten Vertreter der Gefangnisreform bereits die neueren gewerblichen Entwicklungen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts für die gesellschaftlichen Krisenerscheinungen und damit auch für den Anstieg der Kriminalität verantwortlich machten, prägten ihre industriefeindliche Haltung und die ständisch begründete Bevorzugung von Agrarwirtschaft und Handwerk ihre Positionen zur Gefangenenbeschäftigung. 409 So kritisierten sie nicht nur die „polizeilichen Zwecke der Beschäftigung, der Ermüdung und Sicherheit", sondern hauptsächlich die industrielle Arbeitsorganisation und damit die finanzielle Ausrichtung der Beschäftigungsfrage; „der industrielle Flor" dürfe niemals „das Urtheil über ihren Werth bestimmen". 410 Ein anderes Beispiel für das unterschiedliche Verständnis von Gefangenenarbeit liefert die Auseinandersetzung des Vereins mit dem Gesetzentwurf des preußische Abgeordneten August Wentzel, den dieser im Anschluß an das 1854 erlassene Gesetz über die Zulassung von Außenarbeiten im Strafvollzug in die preußische Abgeordnetenkammer eingebracht hatte. Angesichts der überfüllten Gefängnisse, den Problemen der Arbeitsbeschaffung und den Kosten des Strafvollzugs zielte Wentzels Argumentation vor allem auf die ökonomischen Vorteile der Beschäftigung von Häftlingen auch außerhalb der Strafanstalten ab. Zugleich machten seine Vorschläge Anleihen am irischen Markensystem, dem vor allem ein materialistisches Besserungsverständnis zugrundelag, das explizit die sittlichen Erziehungsziele abwertete. Entsprechend der bürgerlichen Leistungsnorm sollten allein die Arbeitsprämien zur Besserung motivieren. 4 " Der Verein kritisierte nicht nur, daß die Außenarbeiten den seelsorgerischen Zugriff erschwerten, sondern auch, daß das Kriterium der moralischen Besserung beim Belohnungssystem völlig außer acht gelassen werde. „Vom Standpunkt der evang. Kirche beleuchtet", 412 warf der auf der Jahresversammlung die Pläne kommentierende Pastor Boegehold gegenüber Wentzel ein, werde die religiös-sittliche Besserung zugunsten einer 407

JB RWGG 1832/5, S. 35. JB RWGG 1832/5, S. 35. 409 Vgl. zur sozio-ökonomischen Diagnose Moll: Besserung, 1841, S. 42^13 sowie zur Kritik an der „fabrikmäßigen" Gefangenenarbeit, die keine Rücksicht auf die handwerklichen Fähigkeiten der Gefangenen nehme, Fliedner. Collektenreise, Bd. 1, 1831, S. 339. 410 Moll: Besserung, 1841, S. 17. 411 Zum Gesetz über Außenarbeiten und zu den Vorschlägen Wentzels vgl. ausfuhrlicher Berger. Konstante Repression, 1974, S. 135-142. 412 JB RWGG 1855/18, S. 3. 408

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rein rechtlichen und ökonomischen Zielsetzung zum Nebenzweck degradiert.413 Die vorgeschlagenen Erziehungsinstrumente bestünden in der „Aufstachelung einer dem menschlichen Herzen schon so tief eingewurzelten Leidenschaft, durch den Eigennutz und durch die Gewohnheit".414 Das sittliche Arbeitsverständnis sowie die Kritik an der rein körperlichen Konditionierung und der ökonomischen Zweckbestimmung der Gefangenenbeschäftigung beschränkten sich freilich nicht nur auf die religiösen Kreise unter den Reformern. Die Begründungszusammenhänge und sozio-politischen Konnotationen der Argumente waren dabei allerdings nicht völlig kongruent. Der Nutzen der rein auf Gewöhnung ausgerichteten Tretmühlen wurde relativ schnell in Zweifel gezogen, so daß diese bereits in den 1830er Jahren aus dem Anstaltsbild verschwanden. Daneben verlor die industrielle Arbeitsweise nicht zuletzt wegen ihrer praktischen Unvereinbarkeit mit dem angestrebten Einzelhaftsystem an Bedeutung, während gleichzeitig der sittliche Wert der handwerklichen Arbeit gegenüber der Entfremdung durch einen arbeitsteiligen Prozeß höher eingeschätzt wurde.415 Auch Wentzels Vorschläge blieben schließlich unberücksichtigt, und das Gesetz über die Außenarbeiten kam in den darauffolgenden Jahren kaum zur Anwendung.416 Trotz der insgesamt zu beobachtenden Abstimmung zwischen dem physischen und dem moralischen Besserungsprinzip für den Bereich der Gefangenenarbeit417 trat das Auseinanderdriften der verschiedenen Strategien in den 1850er Jahren bei anderen Fragen immer deutlicher hervor und erreichte mit der Auseinandersetzung um Wicherns Gefangniskonzepte seinen vorläufigen Höhepunkt.

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J B R W G G 1855/18, S. 4. J B R W G G 1855/18, S. 9. Pastor Boegehold spielte außerdem auf verbale Angriffe Wentzels gegenüber Vertretern des evangelischen Kirchentages an. Die inhaltliche Verknüpfung mit dem Thema der christlich gesinnten Aufseher macht deutlich (ebd., S. 12— 15), daß die ganze Debatte vor den Hintergrund der liberalen Kritik an Wicherns religiös orientierten Gefangniskonzepten einzuordnen ist. Vgl. dazu ausfuhrlicher Abschnitt 2.5. 415 Zur Pädagogisierung der Arbeit vgl. Nutz: Besserungsmaschine, 2001, Kapitel C.II. 416 Die Möglichkeit, Gefangene auch außerhalb der Strafanstalt zu beschäftigen und für gemeinnützige Kulturarbeiten einzusetzen, blieb jedoch auch in der zweiten Jahrhunderthälfte ein Thema: siehe z.B. die entsprechenden Referate in: JB RWGG 1881/53, S. 12—47 u. 1905/79, S. 76-132 sowie Melde: Gefängniskunde, [1878], S. 70-76. 417 Das Problem der Gefangenenarbeit blieb weiterhin aktuell, denn es ging nicht nur darum, gefängnisinterne Ziele aufeinander abzustimmen, sondern auch darum, dem umliegenden Gewerbe keine Konkurrenz zu machen. Damit nahm man aber den Häftlingen die Möglichkeit, sich in eine Arbeit einweisen zu lassen, die ihnen nach der Entlassung Beschäftigung garantieren konnte. Gleichzeitig war die Rentabilität der Arbeit nicht nur eine Frage der Verwaltungskosten, sondern spielte ebenso eine wichtige Rolle für die Erwirtschaftung eines Überverdienstes, der für die Wiedereingliederung nach der Haft gedacht war (siehe bereits Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 155). 414

2.4 Traditionsbildung der Bekehrungsinstrumente

Gefängnisseelsorger

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als moralische Erzieher

Bis ins 18. Jahrhundert hinein hatten die verbreiteten religiösen Sühnevorstellungen den Kirchenvertretern beim Vollzug der Strafen eine zentrale Rolle zugeschrieben. Gegenüber ihren Amtsnachfolgern in den Gefängnissen im 19. Jahrhundert unterschieden sich allerdings die Aufgaben der frühneuzeitlichen Seelsorger deutlich. Sie hatten die Verurteilten in erster Linie auf den öffentlichen Part des armen Sünders vorzubereiten, der sich auf dem Schafott demütig dem Urteilsspruch ergeben mußte, um einen Gott des Zorns wieder mit der menschlichen Sündengemeinschaft zu versöhnen. Neben den jenseitsorientierten Büß- und Gnadenritualen, die der Geistliche gemeinsam mit dem Verurteilten auf dem Weg zum und auf dem Schafott ausführen sollte, richteten sich Predigtansprachen auch immer häufiger in moralpädagogischer Absicht an das Publikum. 418 Im Absolutismus trat neben dem zu sühnenden Gott dann jedoch die weltliche vergeltende Staatsmacht in den Vordergrund des frühneuzeitlichen Straftheaters. Bis Ende des 18. Jahrhunderts verlor die religiöse Dramaturgie bei den öffentlich inszenierten Strafritualen weiter an Bedeutung, und zwar aus zweierlei Gründen: Erstens verurteilte die aufklärerische Kritik neben der inquisitorischen Methode der Folter und der öffentlich vollzogenen Marterqualen auch das „Buß-Theater" wegen seines rein ritualisierten Bußverständnisses. Zweitens fürchteten die Beamten immer mehr, daß die religiösen Erlösungsbotschaften dem beabsichtigten Abschreckungstheater geradezu entgegenwirkten. Bei der Vollstreckung der Todesstrafe schrumpfte daher die Rolle der Geistlichen zusehends von der eines offiziellen Bedeutungsträgers auf die eines eher privaten Seelsorgers, der sich vorrangig um das Seelenheil des Verurteilten bemühte. 419 Nachdem der Vollzug der Todesstrafe im 19. Jahrhundert hinter den Mauern der Strafanstalten und damit aus den Augen der Öffentlichkeit verschwand, ging die seelsorgerische Betreuung der Todeskandidaten - nun vollständig reduziert darauf, dem Delinquenten in den letzten Stunden Trost und Zuspruch zu spenden - auch in den Tätigkeitsbereich des neuzeitlichen Gefängnisgeistlichen über. 420 Die Betreuung der zum Tode Verurteilten nahm jedoch nur wenig Raum in der seelsorgerischen Arbeit ein, da die Anstaltsordnungen die Hauptaufgabe der Seelsorger nun grundsätzlich anders bestimmten: Sie sollten im Gefangniswesen in erster Linie als religiös-moralische Erzieher und Disziplinierungsagenten wirken.

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Siehe Evans: Rituale der Vergeltung, 2001, S. 98-111, 119-120 u. 197-202; Martschukaf. Inszeniertes Töten, 2000, S. 33-42 u. Overath: Tod und Gnade, 2001, S. 194. 419 Vgl. Killsteiner. Entstehung des modernen Gewissens, 1995, S. 333 u. 337; Evans: Rituale der Vergeltung, 2001, S. 161-164, 259 u. 317-329 sowie Martschukaf. Inszeniertes Töten, 2000, S. 62-65 u. 85-90. 420 Zur Todesstrafe im 19. Jahrhundert vgl. Evans: Rituale der Vergeltung, 2001, S. 2 4 1 591; Martschukaf. Inszeniertes Töten, 2000 u. Overath: Tod und Gnade, 2001.

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Außerhalb des Strafvollzugs war die erzieherische Funktion der Geistlichen nichts grundsätzlich Neues. Die Frühe-Neuzeit-Forschung hat die Kirchenzucht als Vor- beziehungsweise Frühform der Sozialdisziplinierung identifiziert, die sich zwar am jenseitigen Erlösungsglauben ausrichtete, jedoch eine irdische Funktion der gesellschaftlichen Regulierung erfüllen sollte. 421 Heinz Kittsteiner interpretiert in seiner Geschichte zur „Entstehung des modernen Gewissens" die religiöse Bußdisziplin als „Kultivierungsversuche" normsetzender gebildeter Schichten gegenüber der breiteren Bevölkerung, die zunehmend auf eine stärkere Verinnerlichung der Normen und nicht mehr lediglich auf einen durch Furcht erzeugten Gehorsam abzielten. 422 Hierbei handle es sich jedoch nicht um eine Erfolgsgeschichte, die konfessionell fixierten und in Ritualen erstarrten Gewissensäußerungen seien vielmehr fur eine Krise des Gewissenskonzepts verantwortlich und hätten zu einem Menschenbild gefuhrt, das rein von zu kontrollierenden Affekten bestimmt sei, wie es sich in den philosophischen Theorien des 17. Jahrhunderts entwickelt habe. Erst die Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts habe im Verbund mit einer veränderten Geschichtsphilosophie diese Krise überwunden und die Familie als neue Sozialisationsinstanz eingesetzt: „Die Gewissenskonzeption der älteren Kasuistik war ausgespannt zwischen Gott und Welt. Dabei war die Welt statisch gedacht - es galt mit ihr zurechtzukommen, so wie sie ist, und gleichwohl das Seelenheil zu bewahren. Jetzt wird die Welt veränderlich gedacht: in einer gewaltigen moralischen Anstrengung soll sie auf den Weg des Besseren gebracht werden. Diese Anstrengungen erfordern Opfer: Abweichungen von Legalität und Moralität dürfen nicht mehr zugelassen werden. Das moralische Verhalten des Hausvaters bekommt eine welthistorische Dimension." 423 Diese Entwicklungsgeschichten - sei es nun von der Kirchenzucht zur staatlichen Disziplinierung oder von der religiösen zur familiären Instanz der Gewissenskultivierung - neigen wie alle Narrative der Moderne dazu, das Neuartige überzubetonen und Kontinuitäten zu übersehen. Mit Blick auf die Gefangnisdebatten erkennen wir in den physischen Disziplinierungsstrategien das vermeintlich veraltete affektdominierte Menschenbild wieder, und auch den Geistlichen wird trotz früherer Fehlschläge und Kritik offensichtlich wieder die Erzieherrolle zugetraut. Verschiedene Disziplinierungsstrategien sollten also parallel oder ineinandergreifend die gesellschaftliche Ordnung garantieren. Neuere Arbeiten haben inzwischen verdeutlicht, daß mit der Aufklä421

Oestreich: Strukturprobleme, 1969. Die Sozialdisziplinierungsthese wurde inzwischen mehrmals kritisch diskutiert (siehe etwa Lottes: Disziplin, 1992 oder auch Kaschuba: Volkskultur, 1988, S. 123-126): Gegen die verschiedenen Varianten der These, sei es nun von Gerhard Oestreich, Norbert Elias oder auch Michel Foucault, wurde die Kritik vorgebracht, sie implizierten, daß es zuvor keine Sozialisationsinstanzen gegeben habe und das Verhalten nur affektgeleitet gewesen sei. 422 Kittsteiner. Entstehung des modernen Gewissens, 1995, S. 294, Zitat S. 15. 423 Kittsteiner: Entstehung des modernen Gewissens, 1995, S. 210.

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rung nicht einfach das kirchliche Disziplinierungsprojekt endete, sondern daß die Seelsorge an die gesellschaftlichen Bedingungen angepaßt, professionalisiert, neu legitimiert und schließlich sogar noch ausgedehnt wurde. Die sich herausbildende, wissenschaftlich begründete Pastoraltheologie definierte in erster Linie ein moral-pädagogisches Ideal des Seelsorgers. Als Berater des Pastoranden sollte er nicht nur Glaubenshilfe leisten und sozial-ethische Weisungen erteilen, sondern die gesamte Bandbreite alltäglicher Lebensführung abdecken. Einzelseelsorge, Predigt und Unterricht dienten ihm als Medien. 424 Staatlicherseits wurde dieser Kompetenzanspruch regelrecht gefördert, weswegen die Pastoraltheologie in der Forschung als „ein Kind staatlicher Religionspolitik" gilt.425 Das Selbstverständnis der evangelischen wie der katholischen Geistlichen wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend von einer Amts- und Seelsorgeauffassung geprägt, die in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen ihren Mitwirkungsanspruch geltend machte. Das breit angelegte religiöse Vereinsangebot und insbesondere die karitativen Organisationen, in denen Geistliche eine führende Rolle übernahmen, zeugen davon. 426 Die Aufgabe des Erziehers verlangte von ihnen nicht nur eine vorbildliche Lebensführung und die Beherrschung von Selbst-Seelsorge-Techniken, sondern vor allem auch eine umfassende Bildung und Menschenkenntnis 427 Die zentrale Modifikation der pastoralen Praxis bestand in einer Individualisierung in Form vorbeugender Einzelseelsorge. Hier stand das persönliche Gespräch mit dem Pastoranden im Vordergrund, wofür der Geistliche unter Berücksichtigung der individuellen Lebensumstände und des Werdegangs des Gläubigen diagnostische Fähigkeiten entwickeln sollte. 428 Die gesteigerten Ansprüche innerhalb der Seelsorgearbeit gingen einher mit der wissenschaft-

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Zur Konzeptionalisierung des Pastors als Volkserzieher sowie zum Wandel der Seelsorge in der Aufklärung vgl. Kuhn: Religion, 2003, S. 79-223; Schulte-Umberg: Professionalisierung des katholischen Klerus, 2003, S. 35; Vonderau: Seelsorge im Bistum Fulda, 2001, S. 63; Stahlberg·. Seelsorge, 1998, S. 20 u. Steiger: Seelsorge, 2000, S. 21-23. 425 Bendel: Seelsorger, 1996, S. 174. 426 Vgl. die Studie über badische Pfarrer von Kuhlemann: Bürgerlichkeit und Religion, 2002 und die zu Preußen von Janze\ Bürger, 1990. Siehe außerdem Herres: Städtische Gesellschaft, 1996. Im Kontext der Milieuforschung wird den Pfarrern und Klerikern vor allem für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Position eines Milieumanagers zugesprochen (Blaschke: Kolonialisierung der Laienwelt, 1996 u. Schulte-Umberg·. Professionalisierung des katholischen Klerus, 2003, S. 31-32). Die Grenzen dieses Führungsanspruches werden allerdings zu wenig diskutiert. 4 7 Bendel·. Seelsorger, 1996, S. 170. In der rheinisch-westfälischen Kirchenordnung wurde die von der Pastoraltheologie geforderte vorbildliche Lebensführung sogar rechtlich fixiert (.Jame: Bürger, 1990, S. 43). 428 Siehe den Überblick zur Entwicklung der evangelischen Pastoraltheologie bei Hauschiidt: Seelsorgelehre, 2000, S. 56-59; Stahlberg: Seelsorge, 1998, S. 129-133 u. Schmidt-Rost. Seelsorge, 1988, S. 11-19. Diese Transformation war keine deutsche Besonderheit, zu England vgl. z.B. Cornick: Pastoral Care, 2000, S. 369-372.

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lichen Herausbildung der Pastoraltheologie als praxisbezogene Seelsorgelehre und der Einfuhrung von Ausbildungsstandards fur Geistliche - ein Prozeß, der bereits Ende des 18. Jahrhunderts eingesetzt hatte.429 Trotz gewisser konfessioneller Unterschiede bei konkreten Inhalten der Seelsorgelehre sowie beim Amtsverständnis430 läßt sich für den Katholizismus und für den Protestantismus im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Ausweitung der Seelsorgetätigkeit sowie eine Professionalisierung der Pfarrgeistlichen nachvollziehen.431 In der Konzeption der Besserungsstrafe war dem Geistlichen von Anfang an die Rolle eines moralischen Erziehers zugedacht, die über eine rein religiöse Versorgung sowie über die Funktion eines Trostspenders hinausging. Für manche Zuchthäuser und Strafanstalten mit institutionellen Vorläufern war die Seelsorge, wie bei anderen frühneuzeitlichen Arbeits- und Verwahranstalten auch, bereits organisiert.432 Doch mit der Vermehrung der Strafanstalten stieg auch der Bedarf an Anstaltsgeistlichen. Wie die Initiativen der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschaft zu Beginn ihrer Tätigkeit zeigen,433 hatten die Anstaltsverwaltungen zunächst nicht überall für hinreichende Gefangenenseelsorge gesorgt 434 Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kann man allerdings davon ausgehen, daß an allen großen Zuchthäusern und zentralen Gefangnissen hauptamtlich angestellte Geistliche ihren Dienst taten und teilweise sogar von Hilfsgeistlichen unterstützt wurden. Seit den 1850er Jahren läßt sich jedenfalls für Preußen von einer solchen Bedarfsabdeckung ausgehen, da sich die Aufmerksamkeit von da an auf die kleineren Anstalten und insbesondere die Gerichtsgefängnisse richtete, die größtenteils dem Justizministerium unterstanden. Nicht nur die Rheinisch-Westfälische Ge-

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Schorn-Schiiite: Amt und Beruf, 1997, S. 16-21. Die evangelische Pastoraltheologie grenzte sich beispielsweise von der katholischen durch das Prinzip der Freiwilligkeit bei der Aufnahme der Seelsorgeerziehung ab. Ein weitere Differenz besteht darin, daß im Katholizismus die Seelsorge streng an das Amt des Priesters gebunden blieb, während in der protestantischen Poimenik stärker die individuelle Persönlichkeit des Seelsorgers betont wurde (Hauschildt: Seelsorgelehre, 2000, S. 58-59; zur katholischen Seelsorgeauffassung siehe Schulte-Umberg: Professionalisierung des katholischen Klerus, 2003, S. 46-48). 431 Zum Berufsverständnis der evangelischen Pfarrer vgl. Kuhlemann: Die evangelischen Geistlichen, 2003 u. Stahlberg·. Seelsorge, 1998, S. 61-63. Zum professionellen Seelsorgekonzept des katholischen Klerus siehe den Überblick am Beispiel des Bistums Münster bei Schulte-Umberg: Professionalisierung des katholischen Klerus, 2003. 432 Wagnitz: Historische Nachrichten, Bd. 2,1, 1792, S. 192. 433 Zur seelsorgerischen Versorgung der rheinischen und westfälischen Strafanstalten und Besserungshäuser siehe ausfuhrlich Recklies-Dahlmann: Religion und Bildung, Arbeit und Fürsorge, 2001, S. 115-138. 434 Vgl. dazu die „Darstellung der gegenwärtigen Einrichtungen für Gottesdienst und Unterricht, in den Civil-, Straf- und Corrections-Anstalten der Preußischen Monarchie", in: Jahrbücher der Straf- und Besserungs-Anstalten, Erziehungshäuser, Armenfursorge, und anderer Werke der christlichen Liebe 1830/3, S. 129-154. Hier wird der Stand aus dem Jahr 1828 wiedergegeben. 430

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fángnisgesellschaft lenkte ihren Blick stärker auf diese Versorgungslücke. 4 3 5 N u n bemühten sich auch die kirchlichen Behörden selbst darum, im Einvernehmen mit den Ministerien ihre Seelsorgedienste flächendeckend auszuweiten und auf eine vertragliche Grundlage zu stellen, indem die nebenamtliche Tätigkeit von Geistlichen vertraglich festgelegt und die Kirchenvertreter mit einheitlichen Dienstinstruktionen versehen wurden. 4 3 6 A l s diese zweite Welle der pastoralen Erfassung des Gefangniswesens losbrach, waren die Standards der Seelsorgearbeit zum Z w e c k der moralischen Besserung von Strafgefangenen bereits weitgehend gesetzt. 4 3 7 Zwar gab es selbst in Preußen regionale Unterschiede bei den Dienst- und Anstaltsordnungen, aber die Reglements und der Seelsorgediskurs zeigten gemeinsame Grundzüge hinsichtlich der Funktionen und Handlungsnormen. 4 3 8 D i e Arbeit 435

JB RWGG 1857-1858/31, S. 39^13. Siehe insgesamt EZA, Best. 7, Nr. 1810 sowie den Bericht des Konsistoriums Brandenburg an den EOK v. 28.4.1855, in: EZA, Best. 7, Nr. 1689, Bl. 76v-118r sowie das Rundschreiben des EOK an die Konsistorien v. 10.6.1856, in: ebd., Bl. 164v-165v. Für die katholische Seite vgl. AEK, Gen. 32.8v. 1: Anfrage des Bistums Magdeburg v. 3.11.1852, Schreiben des Aachener Anstaltsseelsorgers Mettmann v. 15.8.1854. 437 Bei der Seelsorge in den kleineren Haftanstalten und den Gerichtsgefangnissen konnte weitgehend auf vorhandene Regelungen und seelsorgerische Erfahrungen aufgebaut werden. Jedoch handelte es sich bei den Gerichtsgefangnissen um besondere Anstalten, da hier in der Hauptsache Untersuchungsgefangene untergebracht waren, deren Schuld gerichtlich noch nicht erwiesen war. Der besonderen Lage dieser Häftlinge sollten die Geistlichen nach den Instruktionen des preußischen Oberkirchenrates Rechnung tragen: „Nehmen an dem Gottesdienste auch Untersuchungsgefangene Theil, so können in dieser Fürbitte auch die Worte der Litanei: ,alle unschuldig Gefangene los und ledig zu lassen' eine angemessene Stelle finden" (Anweisung für evangelische Geistliche, 1858/1893, § 13, S. 10). Der entscheidende Punkt war die Aussparung des laufenden Gerichtsverfahrens: Erstens durften die Geistlichen keine Informationen über Stand der Verhandlungen an die Gefangenen weitergeben (ebd., § 22, S. 13-14). Die zweite Rücksichtnahme betraf das Beichtgeheimnis bzw. die geistliche Amtsverschwiegenheit. Nur wenn das seelsorgerisch erworbene Wissen weiteren Schaden verhindern konnte, mußte das Schweigen gegenüber den staatlichen Stellen gebrochen werden (ebd., § 23, S. 14-15). Sehr wohl sollte bei einem Schuldgeständnis allerdings der Geistliche dem Gefangenen deutlich machen, „daß er für seine Schuld schlechthin keine Vergebung von Gott zu erhoffen habe, sofern er sie nicht auch dem Richter bekenne" (Palmer. Pastoraltheologie, 1863, S. 607). 436

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Die sukzessive eingeführten Strafanstaltsreglements definierten die Aufgaben und Befugnisse des moralischen Erziehers, ohne daß die Kirchenbehörden daran Anteil hatten. Für Preußen ist die Wende beim kirchlichen Engagement in Geföngnisfragen - zumindest fur die evangelische Konfession - relativ klar auszumachen, und zwar mit der Berufung Wicherns 1857 zum Referenten fur Geföngnisfragen im preußischen Innenministerium. Außerdem wurde 1850 mit dem Oberkirchenrat, dem Wiehern später auch angehörte, eine zentrale Instanz zur Koordination, Diskussion und Kontrolle geschaffen. Die früheren Beiträge zu Gefängnisseelsorge und Gefangenenfragen stammten zumeist von einzelnen engagierten Anstaltsgeistlichen, die damit auf einen direkten Diskussionsbedarf hinwiesen. Auch hier ist ein konfessionelles Interessensgefalle klar erkennbar, denn in der Mehrzahl waren es evangelische Schriften. In den Provinzen Rheinland und Westfalen lag der Fall zumindest für die ersten Jahre, in denen die RWGG die Anstellung der Geistlichen über-

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der Anstaltsgeistlichen umfaßte vier Aufgabenbereiche: erstens die regelmäßige Abhaltung von Gottesdiensten mit allen religiösen Ritualen und Sakramenten - Taufen, Eucharistie und Totenfeiern - sowie von gemeinsamen Andachtsübungen, Gebets- und Erbauungsstunden; zweitens die Erteilung von Religionsunterricht und katechetischer Unterweisung; drittens die Einzelseelsorge, bei der sich der Geistliche genaue Kenntnis der Gefangenen verschaffen sollte, um einen individuellen, umfassenden und damit erfolgversprechenden Zugriff auf die Bestraften zu ermöglichen; und schließlich viertens die Einleitung der Entlassenenfursorge, worauf im Folgenden noch gesondert eingegangen wird. Diese Anforderungen finden sich bereits in der ersten Dienstinstruktion fur einen von der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschaft angestellten Anstaltsgeistlichen.439 Gottesdienst, Gebete und Erbauungsstunden waren in der Regel fest in den Tages- und Wochenablauf integriert, und die Teilnahme daran war vom Reglement vorgeschrieben.440 Für Kranke mußten gesonderte gottesdienstliche Andachten abgehalten werden. Während der Gottesdienste sollte die Klassifikation der Gefangenen gewahrt bleiben, was mehrere Gottesdienste jeweils für die einzelnen Klassen bedeuten konnte 441 Die Vorschriften berührten nicht die Liturgie, die allein den Vorgaben der Kirchenbehörden unterlag. Die Empfehlungen für die evangelischen Gefangnispredigten rieten zu einer „möglichst einfachen und eindringlichen Darstellung der evangelischen Grundwahrheiten von der Sünde und Gnade",442 während von einseitigen Bußpredigten abgeraten wurde.443 Ebenso stand es den Kirchenvertretern

nommen hatte, etwas anders. Der Vereinsausschuß, d.h. insbesondere Theodor Fliedner, versah die Angestellten der Gesellschaft mit genauen Instruktionen und Ratschlägen. 439 HStAD, RW 1-142: Instruktion fur den evangelischen Pfarrer Aretz in Brauweiler [1828], 440 Zur Einbettung der religiösen Andachten in den täglichen Ablauf vgl. die Rawiczer Tagesordnung (Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, S. 29-32). Für die jüdischen Gefangenen galten Sonderregeln. Auf ihren religiösen Festkalender und ihre Riten wurde nur sehr eingeschränkt Rücksicht genommen (ebd., §§ 108-112, S. 19). 441 §§ 88-91 des Reglements für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, S. 16-17. Während der Gottesdienst und die Tagesgebete für die Gefangenen Pflicht waren, konnte die an Sonn- und Feiertagen für die religiöse Erbauung vorgesehene Zeit von den Insassen auch alternativ zur Arbeit und damit zur Aufbesserung des Überverdienstes genutzt werden (ebd., §§98-99, S. 18). Zur Gottesdienstpflicht in den württembergischen Strafanstalten siehe Sauer: Im Namen des Königs, 1984, S. 92. Die Gottesdienstteilnahme war selbst in den Gerichtsgefangnissen, in denen mehrheitlich Untersuchungsgefangene untergebracht waren, obligatorisch (Anweisung für evangelische Geistliche, 1858/1893, § 9, S. 8). 442 Anweisung für evangelische Geistliche, 1858/1893, § 14, S. 10. Siehe auch Hindberg: Berufstätigkeit des Gefängnisgeistlichen, 1866, S. 14. Zu den Predigten vgl. exemplarisch Anonymus: Zwei Predigten, 1861. Die Predigten sprachen in allgemeiner Form von Sünde und Gnade. 443 Besser. Gefängnisfrage, 1853, S. 22-25; Hindberg: Berufstätigkeit des Gefängnisgeistlichen, 1866, S. 12-13 u. Jablonowski: Kirchliches Element, 1842, S. 33.

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frei, über die Zulassung der Gefangenen zu den Sakramenten und zur Abendmahlsfeier zu entscheiden. Nach Vorgabe des preußischen Oberkirchenrates sollte das heilige Abendmahl „nur an diejenigen Gefangenen, deren Herzenszustand dem Geistlichen bekannt ist, und von deren Bußfertigkeit und Heilsbegierde er unzweideutige Zeichen empfangen hat, ausgeteilt werden, um Mißbräuche des Sakraments zu vermeiden". 444 Gleichzeitig waren die Geistlichen allerdings angehalten, beim Abendmahl die fernbleibenden Gefangenen „besonders zu ermahnen". 445 Auf die feierliche Wirkungskraft der Sakramente setzten die Gefängnisreformer somit ebenso wie die kirchlichen Behörden. Über die regelmäßigen Gottesdienste und Abendmahlsfeiern hinaus wurden die kirchlichen Rituale aber auch ganz speziell pädagogisch im Rahmen der Besserungsstrafe funktionalisiert. So bürgerte es sich in manchen Anstalten ein, die „feierliche Verkündigung der Begnadigung" im Gottesdienste zu zelebrieren, womit die Anerkennung und Belohnung für ein gebessertes Verhalten unmittelbar vor aller Augen als Anreiz inszeniert wurde. Mit der Entlassungsrede des Predigers kam ein weiteres Besserungsritual hinzu. 446 Die alten entehrenden Rituale des „Abschieds", bei dem die Gefangenen wie bereits beim sogenannten Willkommen zur Entlassung eine Tracht Prügel über sich ergehen lassen mußten oder ausgepeitscht wurden, 447 sollten nun durch eine letzte ernste Ermahnung und durch eine Art „rite de passage" in ein pädagogisch zweckmäßiges Besserungsinstrument verwandelt werden. Die zweite Aufgabe bestand im „Unterricht in der Religion und Sittenlehre", da bei der Mehrzahl der Straftäter von einer mangelnden Kenntnis der fundamentalen christlichen Glaubensinhalte ausgegangen werden mußte, was in den Verbrechensanalysen als Kriminalitätsursache ausgemacht wurde. 448 Das Rawiczer Reglement sah den Religionsunterricht für alle Gefangenen jeweils zweimal wöchentlich vor - natürlich entsprechend der Klasseneinteilung und den Konfessionen. Die Katechismusstunden waren außerdem dazu gedacht, diejenigen Anstaltsinsassen, die noch nicht konfirmiert oder firmiert

Vgl. auch die seelsorgerischen Erfahrungen, in: HStAD, RW 1-192: Bericht von Vikar Heinen über den Zeitraum von Januar bis April 1831. 444 Anweisung für evangelische Geistliche, 1858/1893, § 17, S. 11. Vgl. ebenso die Empfehlungen bei Hindberg: Berufstätigkeit des Gefängnisgeistlichen, 1866, S. 38-39. 445 Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, § 93, S. 17. Vgl. auch Anweisung fur evangelische Geistliche, 1858/1893, § 16, S. 11. 446 Erlaß des preußischen Innenministeriums v. 11.4.1842, abgedruckt in: Reglement fiir die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, S. 99. 447 Siehe die Kritik an der entehrenden Wirkung dieser Rituale bei Köster. Gefangnisse, 1780, S. 236-237; Wagnitz: Historische Nachrichten, Bd. 2,1, 1792, S. 53-54 u. Arnim·. Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 1, 1801/1803, S. 83-84. 448 Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, S. 18. Zur zentralen Bedeutung des religiösen Unterrichts vgl. Julius·. Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde, 1828, S. 139.

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waren, darauf vorzubereiten.449 Das Unterrichtskonzept bestimmte darüber hinaus die Vermittlung elementarer Kenntnisse im Schreiben, Lesen und Rechnen, wozu teilweise bereits zusätzlich Lehrer angestellt wurden,450 wie es beispielsweise auch die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft von Anfang an anstrebte.451 Regelmäßigen Elementarunterricht sollten jedoch lediglich die „bedürftigen und durch ihr Alter noch dazu geeigneten Sträflinge" erhalten.452 Zentrale Bedeutung mit einer entsprechend umfassend veranschlagten Stundenzahl gewann das Unterrichtsprojekt allerdings letztendlich nur fur inhaftierte Jugendliche.453 Für die Erwachsenen hatte der Arbeitszwang Vorrang. Auch wenn die Anstaltsgeistlichen mit steigender Zahl der Gefangnislehrer nur noch einen Teil des vorgesehen Unterrichts übernahmen, dominierte in den Strafanstalten bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein ein religiöses Bildungsverständnis. Neben Rechnen, Lesen und Schreiben beinhalteten die Schulstunden immer auch eine Einfuhrung in die biblische Geschichte.454 Außerdem diente der Unterricht häufig dazu, den Kirchengesang einzuüben.455 Des weiteren unterstanden die Lehrer und ihr Unterricht der geistlichen Aufsicht, was der Organisation der allgemeinen Schulaufsicht in den meisten deutschen Staaten zu dieser Zeit entsprach 456 Gleichzeitig hatte der Seelsorger die Gefangnisbibliothek zu leiten und entschied darüber, welche Bücher dem religiös-sittlichen Besserungsziel entsprachen. Entsprechend stark vertreten waren daher religiöse Andachts- und Erbauungsbücher, wohingegen Romane und Novellen aufgrund ihres rein unterhaltenden Charakters nicht zur Anschaffung empfohlen wurden.457 Die Leseregulierung Schloß sogar die Heilige Schrift ein: Die gewaltreichen Szenen des Alten Testamentes wurden den Gefangenen vorenthalten, da die Geistlichen Miß-

449

Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, § 101 u. 104, S. 18. Im Gottesdienst hatten die Lehrer meistens die Funktion eines Küsters und Organisten zu erfüllen (Reglement fiir die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, S. 3, Fn 1). 451 Zur Arbeit der von der RWGG angestellten Lehrer siehe ausfuhrlich Recklies-Dahlmann: Religion und Bildung, Arbeit und Fürsorge, 2001, S. 157-178. 452 Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, § 106, S. 18. 453 Das Rawiczer Reglement sah sonntags eine Unterrichtsstunde vor (Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, § 105, S. 18). Jüngere Inhaftierte ohne ausreichende Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen sollten darüber hinaus „auch in der Woche noch einige Unterrichtsstunden erhalten" (ebd., § 106, S. 18). Nur für jugendliche Sträflinge war täglich Unterricht vorgesehen (ebd., § 107, S. 18-19). 454 Siehe die Bestimmungen des Innenministeriums zum Unterrichtswesen im Strafvollzug v. 3.7.1860, in: Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, S. 133. 455 Wiek·. Strafe und Besserung, 1853, S. 64. 456 Im Rawiczer Reglement heißt es noch ganz allgemein, daß die Verwaltung von Gottesdienst, Seelsorge, und Elementarunterricht zu den Aufgaben der Geistlichen gehöre (Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, § 4/5, S. 2-3). 457 Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 64-65; Hindberg: Berufsthätigkeit des Gefängnisgeistlichen, 1866, S. 95-98 u. Palmer: Pastoraltheologie, 1863, S. 651-652. 450

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deutungen fürchteten. 458 Somit oblag den Anstaltsgeistlichen also die Kontrolle sämtlicher belehrender Besserungsversuche und der privaten geistigen Beschäftigung der Gefangenen außerhalb des Arbeitsalltags. Im Zentrum aller seelsorgerischen Bemühungen sollte jedoch die individuelle Seelsorge stehen. Zu diesem Zweck mußte jeder neue Sträfling bereits kurz nach seiner Ankunft in der Strafanstalt dem Geistlichen seiner jeweiligen Konfession vorgestellt werden, damit dieser ihn „in Bezug auf den Grad seiner sittlichen und religiösen Ausbildung" prüfe. 459 Für die Seelsorge sahen die Anstaltsordnungen vor, daß die Geistlichen jederzeit ungehinderten Zugang zu den Gefangenen hatten. Neben den Lazaretten, wo es hauptsächlich galt, den Kranken Trost zu spenden, waren regelmäßige Besuche des Seelsorgers ausdrücklich auch in den Arbeitssälen erwünscht. 460 In einem Handbuch für Anstaltsseelsorger heißt es dazu: „Der Geistliche tritt ihnen nicht auf der Kanzel gegenüber, sondern er tritt herab zu ihnen, in ihre Mitte, er geht unter ihnen umher, und mit der Heiligen Schrift in der Hand spricht er zu ihnen und mit ihnen." 461 Anvisiert war eine pastorale Omnipräsenz im Gefängnisalltag. Das seelsorgerische Erziehungsinstrumentarium reichte dabei über das pastorale Wechselspiel zwischen moralischem Zeigefinger und tröstender Ermutigung hinaus, indem das ältere Projekt der religiös angeleiteten Gewissenserkundung mit neuen Techniken wieder aufgenommen wurde. „Die Geistlichen sind aber insbesondere verpflichtet, sich zu bemühen, von dem Gemüthszustande jedes einzelnen Sträflings seiner Confession gelegentlich Kenntnis zu gewinnen, nach Maaßgabe dieses Zustandes und der Individualität des Sträflings auf die sittliche und religiöse Besserung desselben hinzuwirken, [...] und von Zeit zu Zeit mit den einzelnen Sträflingen unter vier Augen moralische Besprechungen zu halten." 462 Wie hier im Rawiczer Reglement sagten die Anstaltsordnungen nichts darüber, wie die moralische Konversion in den Gesprächen herbeizuführen sei; dies gehörte in den kirchlichen Kompetenzbereich, und hier vertrauten die Reformer offenbar (weiterhin) auf die pastoralen und erzieherischen Fähigkeiten der Geistlichkeit. Über die Grandlage des moralischen Erziehungskonzepts war man sich jedoch einig: die umfassende biographische Erfassung des Gefangenen.

458

Schuck·. Einzelhaft, 1862, S. 6 7 - 6 8 . Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, § 25, S. 7. Ähnlich auch für die rheinischen und westfälischen Anstalten JB RWGG 1829/2, S. 5 5 - 5 8 , zu Dreibergen Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 68 u. Württemberg Jäger·. Civil-Strafanstalten Württembergs, 1831, S. 207. 460 Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, § 100, S. 18; Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 63. Über die angestrebte Frequenz der Gespräche gibt es selten Angaben. Der Kriminalrat der preußischen Strafanstalt Dreibergen sprach sich dafür aus, daß die Sträflinge „wöchentlich wenigstens einmal" vom Geistlichen aufgesucht werden sollten (Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 63). 459

461 462

Hindberg: Berufstätigkeit des Gefängnisgeistlichen, 1866, S. 15. Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, § 100, S. 18.

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Die Anstaltsleitung mußte dem Geistlichen hierfür freie Einsicht in die Gefangenenakten gewähren und ihn über alle disziplinarischen Maßnahmen gegen den Einzelnen informieren. 463 Die Kirchenbehörden versuchten seit den 1850er Jahren ihrerseits, die pastorale Wissensmacht zu stärken, indem sie die Heimatseelsorger dazu aufriefen, ihren Kollegen in den Strafanstalten die fehlenden Informationen über Kindheit, Jugend und Familie nachzuliefern. 464 Mit der Einsicht der ein- und ausgehenden Briefe der Gefangenen besaßen die Geistlichen eine weitere Quelle, die ihnen Aufschlüsse über die Gemütsverfassung der Inhaftierten und ihren familiären Verhältnissen geben konnten. 465 In vielen Anstalten war den Seelsorgern die hauptsächlich sicherheitspolitisch motivierte Kontrolle der Korrespondenz mit der Außenwelt übertragen. 466 Dieses möglichst lückenlose Wissen über die Lebensgeschichte der Verurteilten bildete die Basis für das Einzelgespräch, das darauf abzielte, die Gefangenen zur „Erkenntnis ihrer selbst" zu führen und ihr Schuldbewußtsein zu wecken. 467 Reue, Buße und christliche Bekehrung folgten hierauf im pastoraltheologischen Diskurs. Im Vergleich zur früheren ritualisierten Dramaturgie von Reue und Buße auf dem Richtplatz hatten sich nun allerdings die Bezugspunkte verschoben. Das seelsorgerische Gespräch kreiste nicht mehr allein um die Straftat, sondern konstruierte den individuellen Weg in die „Sünde" und identifizierte die zentralen Weichenstellungen im Leben des Verurteilten. 468 Es ging darum, eine langfristige Verhaltenskorrektur herbeizufuhren. Diese Bekehrungsbemühungen zielten darauf ab, ein selbstreflektiertes und -diszipliniertes Ich hervorzubringen, das seine Handlungsorientierung unabhängig vom jeweiligen sozialen Kontext an übergeordneten moralischen Grundsätzen ausrichten und ohne weiteren Zwang straffrei bleiben sollte. 463

Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 68; Anweisung für evangelische Geistliche, 1858/1893, § 19, S. 12; Jäger. Civil-Strafanstalten Württembergs, 1831, S. 207; Jablonowski: Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 70 u. Burehardt u.a.: Vorschlag, 1830, S. 157. 464 Verfügung des Kölner Erzbistums v. 14.3.1850 (Nr. 2028), in: AEK, CR 27.5,1. Vgl. außerdem Zirkularverfügung des Konsistoriums Sachsen an die Geistlichen, Magdeburg, den 18.9.1854, in: EZA, Best. 7, Nr. 1689, Bl. 42v -r. Die Praxis, die Heimatgeistlichen zu kontaktieren, findet sich jedoch auch schon früher (HStAD, RW 1-192: Bericht vom Anstaltsgeistlichen Giesen v. 9.11.1830). 465 Wick\ Strafe und Besserung, 1853, S. 68; zu Bruchsal vgl. Füesslin: Einzelhaft, 1855, S. 114. 466 Siehe dazu Fasoli: Strafverfahrensrecht, 1985, S. 165. In den Modellanstalten Bruchsal und Moabit ging der Briefverkehr sowohl durch die Hände des Direktors als auch durch die der Anstaltsgeistlichen (Schück: Einzelhaft, 1862, S. 77-78). 467 HStAD, RW 1-192: Bericht des katholischen Gefängnisgeistlichen Giesen v. 12.9.1829. Vgl. auch Julius: Vorlesungen über die Gefangnis-Kunde, 1828, S. 141. 468 Siehe die Beichtvorstellungen des katholischen Anstaltsgeistlichen in Aachen: Jahresbericht über die Seelsorge in dem hiesigen Arresthause vom Geistlichen Mettmann für den Zeitraum 1.8.1849-1.1.1851 in: EZA, Best. 7, Nr. 1688, Bl. 105v-r.

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Für die Anleitung zur Selbsterforschung durch den Geistlichen bildeten die biographischen Informationen aus den Akten und aus dritter Hand ein objektives Korrektiv zu den Selbsterzählungen. Ausgehend vom Bild des heuchlerischen Verbrechers erwarteten den Seelsorger in den Einzelgesprächen zunächst nur geschönte Lebensgeschichten, die es zu überwinden galt, indem der Seelsorger den vermeintlichen Selbstbetrug entlarvte. 469 Die Konfrontation des Sünders mit seinen eigenen Verfehlungen sollte eine „Beschämung des Züchtlings" und damit eine langfristige, tief empfundene Reue hervorrufen. 470 Auf die Phase der Selbsterkenntnis folgte im konzipierten Erziehungsprozeß schließlich als eine Art Belohnung die christliche Gnadenbotschaft. 47 ' Dabei galt jedoch, daß erst „wo die Sünde in ihrer furchtbaren Wirklichkeit im Geiste erkannt und wahrhaft durchgelitten wird, die Gnade in Christo entgegengebracht werden könne". 472 Im Anschluß an diese Läuterung sollte die Seelsorge den Gefangenen stärken und seine Selbstachtung wecken. 473 Als besonderes Hilfsmittel setzte die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft hierfür eine „Sittentafel" als anspornendes Zensursystem ein 474 und orientierte sich damit an pädagogischen Strategien, deren Wirkungsmechanismus hauptsächlich auf der Spannung zwischen sozialer Achtung und Schande beruhte: „Beschämung, Reue und Wiederversöhnung sind die Stationen auf diesem Wege" 475 Die Seelsorgeliteratur sah folgenden Ablauf vor: Zuerst sollten die Emotionen der Gefangenen geweckt und ihre Gemütsverfassung ergründet werden. „Mit der Verstandesbildung" mußte nach seelsorgerischer Auffassung immer „die Herzensbildung verbunden sein". 476 Aus den Indizien der strafrechtlichen Schuld allein ließen sich im seelsorgerischen Verständnis keine Regeln für die „Behandlungsweise" ableiten; hierfür war ein tieferes Wissen, die Kenntnis des Gemütszustandes notwendig. 477 Die Seelsorgeliteratur forderte die Fähigkeiten eines „Psychologe" ein, der wie ein Arzt diagnosti-

469

Nitzsch: Seelenpflege, 1857, S. 236-237. Moll: Besserung, 1841, S. 28. Vgl. auch den Erfahrungsbericht eines Geistlichen der RWGG, der „unbußfertige, verhärtete Sünder" weniger mit religiösen Belehrungen als mit „Vorstellungen des Unangenehmen" psychologisch zur Buße führte (HStAD, RW 1-192: Bericht des katholischen Anstaltsgeistlichen Giesen v. 9.1.1830). 471 Ristelhueber. Leben und Schicksale, 1836, S. 43 u. JB RWGG 1835/8, S. 15. 472 Jablonowski: Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 77. Siehe ähnlich auch Haenell: Gefängniskunde, 1866, S. 222-228. 473 Moll: Besserung, 1841, S. 22 u. Jablonowski: Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 77. 474 JB RWGG 1829/2, S. 55. Siehe bereits entsprechende Vorschläge bei Fry und Zeller: Julius·. Weibliche Fürsorge, 1827, S. 50 u. Zeller. Grundriß der Strafanstalt, 1824, S. 125. 475 Kitisteiner: Entstehung des modernen Gewissens, 1995, S. 373. 476 HStAD, RW 1-192: Bericht des katholischen Geistlichen Grünmeyer v. 9.12.1834. 477 Hinz: Leben, 1844, S. 46. Vgl. auch Moll·. Besserung, 1841, S. 11-12 u. AEK, CR 27.5,1: Schreiben des katholischen Strafanstaltsgeistlichen in Köln an das Erzbistum Köln v. 4.3.1850. 470

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zierte.478 Die Geistlichen versuchten beispielsweise durch Schicksalsparabeln aus der Welt der Straffälligen die Gefangenen empfänglich zu machen und durch Anteilnahme ihr Vertrauen zu gewinnen.479 Von ergreifenden Predigten und der Feierlichkeit des Abendmahls erhofften sich die Seelsorger erste „tiefsinnige Rührung", die den Boden fur das Einzelgespräch bereiten sollte.480 In Anlehnung an die Pastoraltheologie wurde dabei auf die besondere Kraft des Gesangs gesetzt.481 Diesen emotionalen Zugang glaubten die Seelsorger leichter bei den weiblichen als bei den männlichen Gefangenen erlangen zu können: „Das Weib hat in seiner sensiblen Natur ein reineres und unmittelbares Gefühl von dem Höheren und Ewigen, als der Mann, und es greift deshalb auch mit einer größeren Innigkeit der Seele nach dem Heiligen, das geboten wird, es zeigt eine willigere Annahme eines höheren Lebens, einer höheren Macht. Auch das in Schuld und Laster versunkene Weib muß doch etwas von diesem ursprünglich Weiblichen in seinem Wesen zurückbehalten haben, und es wird deshalb leichter sein, es zu wecken und zu rühren und ihm das Wort ins Herzu reden, als dies bei dem männlichen Verbrecher der Fall ist."482 Subjektive Quellen wie Briefe an Verwandte und Bekannte lieferten nach Ansicht der Seelsorger wichtige Ansatzpunkte für den emotionalen Zugang. Mit einem religiösen Bekehrungsoptimismus, wie er sich insbesondere im Motto der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschafi, „niemanden und nichts aufzugeben", ausdrückte,483 suchten die Seelsorger hier auch nach positiven Eigenschaften, die Anknüpfungspunkte für die Erziehungsarbeit lieferten 484 Mit diesen Informationen sollten die Geistlichen in der Lage sein, ein Charakterbild zu entwerfen, es lesbar zu machen und daraus eine Prognose für die individuelle „Besserungsfahigkeit" abzuleiten. Die dafür herangezogenen Verhaltensindizien konnten entsprechend heterogen sein: „So sind 478

Jablonowski: Kirchliches Element, 1842, S. 27. Zum Vergleich mit der Medizin siehe etwa Burchardt u.a.·. Vorschlag, 1830, S. 156-157 u. Maltitz\ Vorschläge zur Gefängnisreform, 1848, S. 33. Zur langen Tradition, die Seelsorge mit der Arzneikunst zu vergleichen, vgl. Steiger: Seelsorge, 2000, S. 9-10. 479 Siehe z.B. Ristelhueber: Leben und Schicksale, 1836, S. 37 u. Jablonowski: Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 69 u. 75. 480 Jablonowski: Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 83. Vgl. auch Laroque: Einzelhaft, 1848, S. 76 u. Jahresbericht über die Seelsorge in dem hiesigen Arresthause vom katholischen Geistlichen Mettmann für den Zeitraum 1.8.1849-1.1.1851 in: EZA, Best. 7, Nr. 1688, Bl. 107v. 481 Burchardt u.a.: Vorschlag, 1830, S. 159 u. Hindberg: Berufstätigkeit des Gefängnisgeistlichen, 1866, S. 9. 482 Hindberg: Berufstätigkeit des Gefängnisgeistlichen, 1866, S. 15. 483 Das Zitat ging auf den Düsseldorfer Gefängnisgeistlichen Carl Wilms zurück und wurde zu einem Leitspruch der RWGG (Natorp: Kreuz und Kerker, 1867, S. 114). 484 HStAD, RW 1-193: Bericht des evangelischen Geistlichen Verhoeff in Werden für den Zeitraum von Mai bis Juli 1929; Moll: Besserung, 1841, S. 21 u. Fiiesslin: Einzelhaft, 1855, S. 114.

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z.B. die Sträflinge, welche Blumen ziehen, welche Vögel hegen, welche sich gern mit Musik beschäftigen und an Gesängen Gefallen finden, der Besserung und der Reue weit fähiger als andere." 485 Derartige Neigungen interpretierten die Seelsorger als Zeichen von Gefühlsregung und damit von Resten moralischer Empfindung, die sie gemäß des zeitgenössischen Kriminalitätsverständnisses beim Verbrecher als weitgehend abgestumpft ansahen. Aus den Briefen ließ sich Kenntnis über die familiären Verhältnisse der Gefangenen und die emotionale Verbindung zu den nächsten Verwandten gewinnen: „Die Liebe und Teilnahme, welche man seiner unglücklichen Familie erzeigt, vermag daher nicht selten, das Herz des Sträflings zu rühren und zur dankbaren Gegenliebe zu stimmen." 486 Durch die mitfühlende Sorge um die zurückgelassene Familie hofften die Gefangnisseelsorger insbesondere, das Vertrauen der Gefangenen zu gewinnen und die Ausgangsposition für ihre Besserungsmission zu stärken. 487 „Daß bei solcher Versetzung des Gesetzes in die Seele hinein jede Dressur von Außen, jede bloße Angewöhnung und jedes passive Verhalten oder Werkbuße und Werkverdienstlichkeit wegfallt, sieht man ein", heißt es hierzu in der Seelsorgeliteratur. 488 Diese Strategie der individuellen Einflußnahme Schloß prinzipiell eine drängende Seelsorge aus, vielmehr sollten Geduld und Nachsicht sowie Vertrauen, Teilnahme und freundschaftlicher Rat den Weg der Seelsorge ebnen, auf „daß nicht allein die religiösen, sondern auch die persönlichen Bedürfnisse eines Jeden Berücksichtigung finden".489 Dem Ziel der moralischen Besserung auf dem Weg der „Selbsterziehung" entsprach das pastorale Selbstverständnis, den Straffälligen als Freund dazu anzuleiten. 490 „Es muß der Verbrecher stets dahin geführt werden, daß die Sünden sich weder wegweinen, noch wegtrauern, noch auch so oder so äußerlich abbüßen (abverdienen), sondern daß einzig und allein wahre Geistesbuße auf Vergebung (welche keineswegs als etwas Fertiges irgendwie äußerlich zu nehmen sei), hoffen lasse." 491 Dieses idealisierte Bild des Seelsorgers Schloß die Erwartung mit ein, durch den 485

Appert·. Geheimnisse des Verbrechens, Bd. 1, 1851, S. 54. Jahresbericht über die Seelsorge am Aachener Arresthause vom katholischen Geistlichen Mettmann für den Zeitraum 1.8.1849-1.1.1851 in: EZA, Best. 7, Nr. 1688, Bl. 117r. Vgl. auch Jablonowski: Kirchliches Element, 1842, S. 41; Anweisung fur evangelische Geistliche, 1858/1893, § 20, S. 12 u. Nitzsch: Seelenpflege, 1857, S. 236. 487 In Gottesdiensten an hohen Festtagen wie Weihnachten war die Trennung von der Familie ein zentrales Thema der Predigten (z.B. Anonymus: Zwei Predigten, 1861, S. 21). 488 Jablonowski: Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 76. 489 Jablonowski: Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 75. Zum Leitbild des Gefängnisgeistlichen als geduldiger und nachsichtiger Vertrauter, Freund und persönlicher Berater des Gefangenen siehe auch ebd., S. 82; Appert: Geheimnisse des Verbrechens, Bd. 1, 1851, S. 11; Haenell: Gefängniskunde, 1866, S. 218-220; JB RWGG 1829/2, S. 11; HStAD, RW 1-192, Bericht des katholischen Geistlichen Grünmeyer für die zweite Hälfte des Jahres 1833. u. Moll·. Besserung, 1841, S. 31. 490 Jablonowski·. Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 77, vgl. außerdem S. 78-82. 491 Jablonowski: Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 82. 486

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tröstenden, religiösen Zuspruch Niedergeschlagenheit und Zorn der Verurteilten während der Haft überwinden zu helfen, die die Bereitschaft, sich zu ändern, blockieren mußten.492 Die Botschaft der religiösen Gnade wurde darüber hinaus als Geste der gesellschaftlichen Versöhnung mit den Straftätern überhöht.493 Trotz der Abgrenzung von den primär physischen Zwangsmitteln der Gefängnisverwaltung definierten sich die Gefängnisgeistlichen als Besserungsagenten im Einklang mit den staatlichen Strafvollzugszielen. Dieses Selbstverständnis war widerspruchslos möglich, nachdem das religiöse Sündenverständnis mit dem gesetzlichen Verbrechensbegriff nahezu gleichgesetzt wurde.494 Insgesamt spiegeln sich in der hier skizzierten Konzeption der Gefangenenseelsorge also deutlich der allgemeine Wandel der pastoralen Theorien und Techniken und ihre weitgefaßte gesellschaftliche Bedeutungszuweisung im 19. Jahrhundert wider. Die von der modernen Poimenik, der Lehre von der Seelsorge, eingeforderten diagnostischen Fähigkeiten und therapeutischen Ansätze, die in pädagogischer Absicht kombiniert auf Herz und Verstand einwirken sollten, kamen hier zum Zweck der moralischen Besserung der Verbrecher zum Einsatz. Produkt dieser pädagogischen Seelsorge war eine Vielzahl publizierter Straffalligenbiographien, die wiederum für das Besserungsarbeit fruchtbar gemacht werden sollten. Diese vermeintlich autobiographischen Konstruktionen sind voll von Selbstbezichtigungen, die bereits kleinste Verfehlungen auf dem Sündenkonto verbuchen: den jugendlichen Hang zur Musik oder die kindliche Neigung, Blumen auszureißen.495 Zuweilen tragen diese Gefangenengeschichten hagiographische Züge, denn sie beschreiben nicht nur die Laster, sondern auch die darauf folgenden Gewissensqualen, die eine zentrale Funktion in der Dramaturgie der Rettungsgeschichten zukam.496 Auf dem 492

Appert: Geheimnisse des Verbrechens, Bd. 1, 1851, S. 16 u. 17-18; Haenell: Gefangniskunde, 1866, S. 217 u. Hindberg: Berufsthätigkeit des Gefängnisgeistlichen, 1866, S. 12-13; Duhn: Gefängnisfrage, 1862, S. 55-56; HStAD, RW 1-192: Bericht von Vikar Heinen über den Zeitraum von Januar bis April 1831; Heinze: Strafanstalten, 1842, S. 28 sowie Wichern'. Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Die Behandlung der Verbrecher in den Gefangnissen und der entlassenen Sträflinge (1852/53), S. 31-51, hier S. 40. 493 Appert: Geheimnisse des Verbrechens, Bd. 1, 1851, S. 15; Anonymus: Zuchthausgeschichten, Bd. 2, 1853, S. 222 u. Hindberg: Berufsthätigkeit des Gefängnisgeistlichen, 1866, S. 3. Klassisch war der Verweis auf das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn (z.B. Ristelhueber: Leben und Schicksale, 1836, S. 140-143). 494 Die Gefangnisseelsorge war weder eine religiöse Verbrämung des staatlichen Strafzwecks, wie Thomas Berger aus ideologiekritischer Perspektive bemerkte (Berger. Konstante Repression, 1974, S. 109), noch ist es historisch überzeugend, den Einklang der Gefangnisseelsorge mit den staatlichen Zielen als seelsorgerisches Versäumnis auszulegen, wie der Theologe Peter Brandt kritisch anmerkte (Brandt: Evangelische Strafgefangenenseelsorge, 1985, S. 99). Die Seelsorger waren eingebunden in das Besserungsprojekt der Strafanstalten und von ihrer so definierten Aufgabe überzeugt. 495

Tscharner: Wunder der Gnade, 1852, S. 40-41. Siehe die Schilderungen der „Gewissensunruhe" des Verbrechers: Ristelhueber: und Schicksale, 1836, S. VII.

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Leben

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Höhepunkt solcher Viten ereignete sich typischerweise nicht allein die Bekehrung des Sünders zu einem gottgefälligen Leben, vielmehr entwickelten die „Bekehrten" nun selbst missionarischen Eifer. Immerhin versprachen diese Erzählungen dem Bekehrten vornehmlich einen irdischen Lohn, wie es die Geschichte des gebesserten Straftäters Anton beispielhaft verdeutlichen sollte: „Unglückliche, verzagt nicht, sondern folget der Frömmigkeit Antons, seiner Arbeitsamkeit und seiner Standhaftigkeit nach. Ihr seht, welchen Lohn er davon geerntet; noch heute erfreuet er sich im Schooße seiner ihn liebenden Familie eines ungestörten und reinen Glückes; er besitzt die Achtung seiner Mitbürger; derselbe Lohn wird Eure Anstrengung krönen." 497 Im Vergleich zur physischen Disziplinierung durch Arbeit und einen durchregulierten Anstaltsalltag sahen die Geistlichen den Vorteil ihrer Strategie darin, die Behandlung zu individualisieren: „Bis jetzt sind die Gesetzgeber wie ungeschickte Aerzte verfahren, welche ihre Kranken heilen wollen, ohne erst die Constitution derselben zu untersuchen. Sie haben repressive und Besserungsmittel in Anwendung zu bringen geboten, dabei weder auf Charakter und Temperament der Verbrecher, noch auf die Ursachen ihrer Vergehungen Rücksicht genommen." 498 Für diese individuelle Seelsorge mußte der Geistliche lernen, die Häftlinge nach der „Verschiedenheit der Temperamente; Verschiedenheit der geistigen Anlagen und Kräfte; Verschiedenheit der Bildungsstufen, der Neigungen, der Laster - und nach jeder Verschiedenheit der Seele" zu unterscheiden, um die „Triebfedern" zu erkennen und gezielt auf den Gefangenen erzieherisch einwirken zu können. 499 Seine Beobachtungen hatte er in einem Seelsorgetagebuch oder in „Conduitenlisten" genau zu dokumentieren. 500 Auf der Grundlage dieses Wissens wiesen viele Anstaltsordnungen den Geistlichen eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung der Gefangenen zu. Ihr Urteil flöß in die Klassifizierung der Neuankömmlinge und in Klassenversetzungen ebenso ein wie in die abschließende Besserungsdiagnose, die zuweilen über Begnadigung oder Maßnahmen nach der Entlassung entschied. In manchen Anstalten ging die Zusammenarbeit zwischen Anstaltsdirektor und Geistlichen sogar so weit, daß diese bei Fragen der disziplinarischen Behandlung zu Rate gezogen wurden. 501 Während die Haftsysteme auf eine gleichförmige Behandlung eines durchschnittlich konstruierten Verbrechertyps abzielten, war in den ersten Jahrzehnten des 497

Ristelhueber: Leben und Schicksale, 1836, S. 65-71 u. 102-107, Zitat S. 159. Appert: Geheimnisse des Verbrechens, Bd. 1, 1851, S. 8. 499 Hinz: Leben, 1844, S. 44. 500 Fliedner: Collektenreise, Bd. 1, 1831, S. 342. Zum Seelsorgetagebuch vgl. JB RWGG 1829/2, S. 53-55. Die RWGG hatte für ihre Geistlichen ein einheitliches Schema für die „Konduitenlisten" ausgearbeitet (HStAD, RW 1-142: Schreiben der RWGG an den Anstaltsgeistlichen Müller v. 8.8.1831). 501 Jablonowskr. Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 70 u. 89; JB RWGG 1829/2, S. 5 4 58 u. Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 68-70. Zum Besserungsgutachten für die Entlassung siehe Reglementfiir die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, § 141, S. 23. 498

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19. Jahrhunderts die totale Durchdringung der einzelnen Täterpersönlichkeit innerhalb des Strafvollzugs vornehmlich eine Aufgabe der seelsorgerischen Tätigkeit. Mit der Diskussion um das Einzelhaftsystem und den ersten Erfahrungen in den deutschen Staaten bekam die Frage nach einem individuellen Zugriff auf die Häftlinge um die Jahrhundertmitte eine neue Bedeutung. Nachdem die pennsylvanische Haftform zunächst als Siegerin aus der gefängniskundlichen Kontroverse hervorgegangen war, weil man von ihr ein nahezu gewaltfreies und überwachungstechnisch effektives Strafen erhoffte, folgte bald Kritik an der völligen Isolierung und ihren mentalen Risiken.502 Die weiteren Debatten kreisten daher um die Frage, wie man mit einer individuelleren Behandlung der Gefangenen diesem Problem begegnen könne. Damit die Häftlinge in der Einzelhaft nicht wahnsinnig wurden oder Selbstmord begingen, sollten sie regelmäßig Zuspruch des Anstaltspersonals erhalten. Die Anstaltsordnungen der Modellanstalten sahen nun vor, daß neben den Einzelgesprächen mit dem Gefängnisgeistlichen insbesondere der Anstaltsdirektor sowie die Aufsichtsbeamten den Gefangenen mehrmals täglich in seiner Zelle aufzusuchen hatten. Im Bruchsaler Zellengefangnis wurden beispielsweise sechs Besuche pro Tag als Minimum festgelegt.503 „Die Nothwendigkeit, sogar das Unvermeidliche dieser individuellen Einwirkung des Systems wie der Beamten auf die Gefangenen ist einer der Haupt-Vorzüge der Einzelhaft, und es wird deshalb auch nur in diesem Systeme eine aus Einsicht, freiem Entschlüsse und Ueberzeugung hervorgegangene Besserung der verderbten und verstockten Gemüther hervorgebracht werden können."504 So pries der Bruchsaler Anstaltsdirektor Füesslin die individuelle Einwirkungsmöglichkeit, die nicht mehr nur eine habituelle physische Besserung, sondern eine moralische Umkehr der Verurteilten garantieren sollte. Dementsprechend erinnerte die Anleitung der Beamten für den Umgang mit den Isolierhäftlingen an die seelsorgerischen Behandlungsvorgaben. Die bereits für die Seelsorge formulierten Richtlinien, den Gefangenen mit freundschaftlicher Anteilnahme zu begegnen und ihr Vertrauen zu gewinnen, sollten nun auf die übrigen Gefangnisbeamten ausgedehnt werden.505 Obwohl den Anstaltsseelsorgern aus dieser modifizierten Konzeption der Einzelhaft Konkurrenz erwuchs, befürworteten sie mehrheitlich die Einführung des Isoliersystems in den deutschen Strafhäusern. Diese Affinität zur Einzelhaft ist nicht dadurch zu erklären, daß das Isoliersystem an ältere monastische Disziplinarformen erinnerte.506 Die Einzelhaft ermöglichte nach

502

Beispielhaft für die statistische Diskussion um Wahnsinns- und Selbstmordraten siehe Engel: Morbidität, 1865. 503 Vgl. dazu Fasoli: Strafverfahrensrecht, 1985, S. 128. 504 Füesslin: Einzelhaft, 1855, S. 105. 505 Siehe Füesslin: Einzelhaft, 1855, S. 117-119. 506 Vgl. Léonard: L'historien et le philosophe, 1980, S. 13.

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129

Meinung der Geistlichen erst eine wirkungsvolle Einzelseelsorge. Im Hohn und Spott, den die „Verbrechergesellschaft" der Religion und den Kirchenvertretern erfahrungsgemäß entgegenbrachte, sahen sie das Haupthindernis fur ihren Bekehrungsauftrag: Die „guten und frommen Eindrücke, welche der Gottesdienst auf sie gemacht hätte", versuchten Mitgefangene „durch Spottreden und häßliche Scherze zu verwischen, ja selbst die Privaterbauung, Dieses oder Jenes im Gesangbuche, oder in der Bibel oder in einer anderen Erbauungsschrift, durch allerlei Zerstreuung und Frivolität, zu hintertreiben". 507 Die Seelsorger fürchteten sich davor, daß durch solche Schmähreden das geistliche Amt diskreditiert und damit eine soziale Dynamik der Verachtung in Gang gesetzt würde. 508 Des weiteren erwarteten die Geistlichen, daß den Gefangenen, isoliert von der kriminellen Gesellschaft und einsam in der Zelle, nach anfänglichen Widerständen jeder Kontakt und Zuspruch willkommen sein müsse. 509 Im Gegensatz zur Gemeinschaftshaft ermögliche die Einzelzelle, durch „frommes Nachdenken" das Schuldbewußtsein zu befördern. Die fehlende Ablenkung und die notgedrungene Beschäftigung mit dem eigenen Selbst sollten darüber hinaus auch eine nachhaltige emotionale Erschütterung des Gewissens und damit die moralisch-religiöse „Wiedergeburt" garantieren. 510 Nicht anders als bei den physischen Zuchtmitteln war die Einzelhaft in der Perspektive der Anstaltsseelsorger eine bewußt kalkulierte, vor allem psychische Qual. 511 Lediglich den jugendlichen Verbrechern, deren „Besserungsfähigkeit" wesentlich höher eingeschätzt wurde, wollten die Seelsorger diese harte Maßnahme ersparen. 512 Die mentalen Risiken blendeten die Seelsorger damit nicht aus, vielmehr formulierten sie diese Gefahren als Behandlungsprobleme, die durch eine intensive Betreuung der Häftlinge zu vermeiden seien. 513 Angesichts der 507

Jablonowski: Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 78. Boegehold: Beitrag zur inneren Mission, 1852, S. 17; Bericht des katholischen Anstaltsgeistlichen in Bruchsal, in: Füesslin: Einzelhaft, 1855, S. 7 2 - 7 3 sowie EZA, Best. 7, Nr. 1688: Bericht des katholischen Anstaltsgeistlichen Mettmann in Aachen für den Zeitraum v. 1.8.1849-1.1.1851, Bl. 117v. 508

509

Siehe Julius: Die amerikanischen Besserungs-Systeme, 1837, S. 45; Jablonowski: Kirchliches Element, 1842, S. 41; Art. „Stimmen katholischer Seelsorger über die Isolierung", in: Jahrbücher für Gefangniskunde und Besserungsanstalten 1846/8, S. 3 1 - 4 1 , hier S. 39; Anonymus: Zuchthausgeschichten, Bd. 1, 1853, S. 65; Palmer: Pastoraltheologie, 1863, S. 629 u. Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Die neue Strafanstalt spez. das Zellengefángnis (zu Moabit) in Berlin (1861), S. 192-268, hier S. 232. 510

Jablonowski: Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 78. Vgl. bereits die von der RWGG geforderte einsame Unterbringung: JB RWGG 1828/1, S. 18. " Siehe Boegehold: Beitrag zur inneren Mission, 1852, S. 11; Moll: Besserung, 1841, S. 24; Bultmann: Einzelhaft, 1846 u. Bericht des katholischen Anstaltsgeistlichen in Bruchsal, in: Füesslin: Einzelhaft, 1855, S. 74. Für Frankreich, w o das Einzelhaftsystem auf mehr Widerstand stieß, vgl. - wenn auch kritischer - Laroque: Einzelhaft, 1848, S. 7 1 - 7 2 . 512

EZA, Best. 7, Nr. 1688: Schrift des Berliner Anstaltspfarrers Andrae v. 30.8.1845, Bl. 8. JB RWGG 1852/25, S. 4 - 6 ; Boegehold: Beitrag zur inneren Mission, 1852, S. 17 u. Haenell: Gefangniskunde, 1866, S. 130. Zur unterschiedlichen mentalen Wirkung der Ein513

130

2 Die Anfänge der Straffalligenffirsorge (1777-1861)

Doppelbelastung der Anstaltsbeamten durch entsprechende Besuche, sahen die Seelsorger ihre Position innerhalb des Gefangniswesens eher gestärkt. 514 Das Einzelhaftsystem stellte allerdings auch die Seelsorge vor Probleme: Da jeglicher Kontakt zwischen den Gefangenen vermieden werden sollte, konnte der Gottesdienst nicht in gewohnter Form abgehalten werden. Die Prediger auf den Gängen oder an anderen zentralen Stellen im Gefängnis zu postieren und die Häftlinge durch die offene Zellentür zuhören zu lassen, war für die Seelsorger keine befriedigende Lösung. 515 Sie und andere Reformer fürchteten um die feierliche Stimmung und die erschütternde Wirkung „des unwiderstehlichen Nachdrucks der Kanzel-Beredsamkeit", auf der sie ihre individuelle Bekehrungsarbeit aufbauen wollten. 516 Die modifizierte Lösung entsprach dann ganz dem technizistischen Charakter der ersten Gefangnisreformphase: An den bekannten deutschen Modellanstalten in Bruchsal und Moabit wurden besondere Kirchenräume eingerichtet, in denen die einzelnen Gefangenen in „amphiteatralisch aufsteigenden Stühlen" untergebracht wurden, die lediglich den Blick auf den Prediger freigeben sollten. 517 Dafür mußte jeder Häftling einzeln in seine Zuhörerzelle geführt und nach dem Gottesdienst von dort wieder einzeln abgeführt werden. Gleichzeitig hatte sich auch bei den Einzelhaftbefürwortern die Erkenntnis durchgesetzt, daß in den großen Anstalten die intensive Seelsorgearbeit die Geistlichen rein quantitativ überfordere und dieser Mißstand letztlich nur durch mehr Personal behoben werden könne. 518 Zwölf Zellenbesuche pro Wochentag seien die Obergrenze der Auslastung eines Gefängnisgeistlichen. 519 Letztlich wogen jedoch diese Schwierigkeiten geringer als die Vorteile, die die Seelsorger der Einzelhaft bei der moralischen Besserung beimaßen. In den wenigen deutschen Haftanstalten, in denen die Einzelhaft konsequent durchgeführt wurde, nahmen die Seelsorger tatsächlich eine wichtige Position ein. Selbst in Baden, wo die bekanntesten deutschen Befürworter der Einzelhaft, Mittermaier und von Jagemann, aus ihrer liberalen und rechtszelhaft und zur geforderten Individualisierung siehe Julius·. Die amerikanischen Besserungs-Systeme, 1837, S. 41. 514 Boegehold: Beitrag zur inneren Mission, 1852, S. 17-18. 515 Nach dem Bericht des katholischen Geistlichen in Bruchsal, in: Füesslin: Einzelhaft, 1855, S. 70-71. 516 Laroque: Einzelhaft, 1848, S. 76. Vgl. auch Heinze: Strafanstalten, 1842, S. 9-10. 5,7 Füesslin·. Einzelhaft, 1855, S. 71. Auch bekannte Einzelhaftbefürworter wie z.B. Mittermaier äußerten Kritik an dieser technizistischen Lösung (vgl. hierzu Fasoli: Strafverfahrensrecht, 1985, S. 131). 518 Wiek: Isolierung, 1848, S. 16-17. Vor diesem Hintergrund sind auch die Vorschläge zu sehen, den Gefängnisgeistlichen religiöse Pfleger als Gehilfen zur Seite zu stellen: Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Separatvotum zu dem Kommissionsbericht über die neue Strafanstalt zu Moabit, die Durchführung des pennsylvanischen Systems daselbst und die in Moabit vorgekommenen Wahnsinnsfalle und Selbstmorde (1854), S. 57-76, hier S. 73-76. 519 Wiek·. Isolierung, 1848, S. 17.

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staatlichen Sicht heraus Vorbehalte gegenüber der Rolle von Kirchenvertretern innerhalb des staatlichen Strafvollzugs äußerten, blieben die bis dahin etablierten Aufgabenbereiche der Geistlichen sowie ihr Status als Begutachter in Fragen der Besserungsbeurteilung weiterhin institutionell verankert. 520 Die kritischere Haltung gegenüber der Seelsorge richtete sich vor allem gegen ein einseitig religiöses Besserungsverständnis, wobei entsprechende Vorbehalte vor allem infolge der Berufung Wicherns in den preußischen Staatsdienst geäußert wurden. Die bereits geregelte Aufgabenteilung zwischen Staat und Kirche sahen insbesondere die badischen Befürworter der Einzelhaft gefährdet und warnten daher vor einem rein religiös-schwärmerischen Bekehrungsverständnis, das die bürgerlich-sittlichen Erziehungsideale aus den Augen verliere. 521 Die Gefangnisseelsorge wurde daher nicht als obsolete Alternative zu einer rein säkularisierten Seelenpflege durch Anstaltsdirektoren und Beamte formuliert, 522 sondern als eine Frage von richtig und falsch ausgeführter Seelsorge behandelt; „entfernt von pietistischen zur Verzweiflung treibenden Quälereien", seien die Besuche der Geistlichen dazu „geeignet, Vertrauen einzuflößen". 523 Aber „wenn ein der mystischen Richtung zu sehr huldigender Geistlicher mit heftigen moralischen Erschütterungen über Verdammniß u.A. einstürmt", seien Seelenstörungen bei den Gefangenen zu befurchten." 524 Insgesamt war das Bild der Seelsorger sehr ambivalent: 525 Einerseits

520

Nach Angabe des ehemaligen leitenden Gefangnisbeamten in Moabit, Carl Eduard Schück, stellte sich in Bruchsal sogar das quantitative Gewicht der „geistlichen Kräfte" besser dar als in Moabit unter Wicherns Aufsicht: während in Bruchsal 350 Personen von zwei Geistlichen betreut wurden, lag in Berlin die Relation bei zwei Seelsorgern für 450 Gefangene (Schück: Einzelhaft, 1862, S. 40, Fn). 521 Kritisch zur Bekehrungsstrategie: Mittermaier. Gefangnisfrage, 1860, S. 71. Von Jagemann betonte einerseits die Wesensverschiedenheit zwischen staatlichem Strafen und religiöser Buße (Fasoli: Strafverfahrensrecht, 1985, S. 77), andererseits wollte er den Einfluß der Geistlichen auf die Strafgefangenen nutzen, um sie vom Unrecht ihrer Tat zu überzeugen (ebd., S. 129). 522 Der Kritik an der falsch ausgeführten Seelsorge vorangestellt, betont Mittermaier: „Eine Hauptpeson in Bezug auf die Erreichung des Besserungszwecks ist der Gefängnisgeistliche..." (Mittermaier. Gefängnisverbesserung, 1858, S. 93). 23 Mittermaier. Gefangnisverbesserung, 1858, S. 129. Vgl. ähnlich auch an anderer Stelle, wo Mittermaier die Aufgabe des Geistlichen hauptsächlich in der „moralischen, praktischen Belehrung" des Gefangenen sah (Mittermaier. Gefängnisfrage, 1860, S. 136). 524 Mittermaier: Gefangnisverbesserung, 1858, S. 126. Weniger kritisch äußerte sich Fiiesslin, der die Wahnsinnsfalle auf ein tiefgreifendes Schuldbewußtsein und „die gewaltige Macht der Einwirkung der Hausgeistlichen" zurückführte (Fiiesslin·. Einzelhaft, 1855, S. 314; ähnlich auch Schück: Einzelhaft, 1862, S. 63-67). 3 3

" Die Ambivalenz drückt sich sehr gut in der widersprüchlichen Beurteilung der Geistlichen aus: Während ihnen einerseits Menschenkenntnis und psychologische Fertigkeiten zugesprochen wurden, hielten die Gefangnisreformer die Seelsorger am anfalligsten für Täuschungsversuche durch Besserung vortäuschende Gefangene (siehe z.B. Mittermaier: Gefängnisfrage, 1860, S. 147).

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war der Seelsorger in der Rolle des Disziplinierungsagenten noch weitgehend akzeptiert. Andererseits mißtrauten viele der Strafanstaltsdirektoren den gesellschaftlichen Gestaltungsansprüchen einer erstarkten religiösen Bewegung, die gerade in der Gefangenenfrage eine ihrer wichtigsten missionarischen Berufungen sah. Doch für die religiöse Aufgabe der Trostspendung, die zum Zwecke der Besserung die Bürden der Strafen psychologisch abfedern sollte, war zur Jahrhundertmitte noch kein alternativer Funktionsträger in Sicht. Während also seit Mitte der 1840er Jahre vermehrt Kritik an den religiösmoralischen Besserungskonzepten formuliert wurde, vollendete sich gerade in dieser Phase - bis etwa Anfang der 1860er Jahre - die institutionelle Etablierung der Gefangnisseelsorge als funktionaler Bestandteil des staatlichen Strafvollzugs. Wie die Anstaltsordnungen und insbesondere die Anweisung für die Berichterstattung der Gefängnisgeistlichen des preußischen Innenministeriums vom 31. Januar 1859 zeigen, erwartete man von der Seelsorgearbeit nicht nur einen direkten Beitrag zur moralischen Besserung der Gefangenen selbst, sondern hoffte zugleich, Kenntnisse der Seelsorger über die „Verbrecherwelt" für die staatliche Straf- und Kriminalpolitik nutzbar machen zu können. 526 „Namentlich auch bietet ein Theil der von den Strafanstalts-Geistlichen erstatteten Berichte einen werthvollen Schatz von Erfahrungen, die den lehrreichsten Einblick nicht blos in die Verhältnisse der Strafanstalten, sondern überhaupt in wichtige Partien unseres Volkslebens gewähren." 527 Der regelmäßige Erfahrungsaustausch sollte sowohl die Strafvollzugsverwaltung optimieren als auch den wissenschaftlichen Kenntnisstand der Gefängniskunde voranbringen. 528 Die Anstaltsseelsorger spielten dabei die Rolle eines Experten für die Seele der Inhaftierten. Im Vergleich zu den Anfangen der Gefängnisseelsorge, bei denen der christliche Missionsgedanke Prediger wie Theodor Fliedner weitgehend auf private Initiative hin zur religiösen Verkündigung in die Gefangnisse führte, hatte sich bis Anfang der 1860er Jahre an den staatlichen Strafanstalten ein Bedarf an spezialisierten Seelsorgern herausgebildet, die sich über ihre pastorale Ausbildung hinaus auch gefangniskundliches Wissen aneignen sollten. Hierfür war freilich Vor526

Mitteilungen aus den amtlichen Berichten über die königlich Preußischen Straf- und Gefangnisanstalten, 1861, S. 120-121. Berichte von Gefängnisgeistlichen waren bis dahin eher sporadisch an die oberen Verwaltungsbehörden gelangt. 527 Mitteilungen aus den amtlichen Berichten über die königlich Preußischen Straf- und Gefangnisanstalten, 1861, S. 1-2. 528 Mitteilungen aus den amtlichen Berichten über die königlich Preußischen Straf- und Gefangnisanstalten, 1861, S. 1-3. Mit den einheitlichen Anweisungen wurden Regelmäßigkeit und Vergleichbarkeit der Verwaltungs- und Dienstberichte angestrebt, die für eine systematische Informationsverarbeitung notwendig wurden. Bei der RWGG sind entsprechenden Vorgaben bereits früh zu finden (Fliedner-Archiv, Rep. II: Ed, Schreiben der RWGG an den Anstaltsgeistlichen Müller, Juli 1831 ).

2.4 Traditionsbildung der Bekehrungsinstrumente

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aussetzung, daß die Geistlichen den Gefangnisdienst nicht mehr als Zwischenstation in ihrer beruflichen Karriere betrachteten, wie die Rheinisch· Westfälische Gefangnisgesellschaft in den Anfangsjahren häufig festgestellt hatte. Mit diesen professionellen Zielen reagierten die Gefängnisgeistlichen der ersten Generation auf ihre Erfahrungen im Strafanstalts529 wesen. Fürsorge außerhalb der

Anstaltsmauern

In Abkehr vom reinen Vergeltungsgedanken zielte die moderne Besserungsstrafe langfristig darauf ab, Straffällige wieder in die Gesellschaft einzugliedern und Rückfalle nach verbüßtem Freiheitsentzug zu verhindern. Grundvoraussetzung hierfür war, daß die Verurteilten infolge des Strafvollzugs keine dauerhaften gesundheitlichen Schäden davontrugen, was die hygienisch-medizinischen Reformen im Strafanstaltswesen gewährleisten sollten. Die Disziplinierung während der Haft stellte den nächsten und entscheidenden Schritt dieses Vorhabens dar, doch bereits zu Beginn der Gefangnisdebatten erkannten die Reformer, daß weitere Maßnahmen notwendig waren, da sich gerade die Zeit direkt nach der Entlassung aus der Zwangsanstalt häufig als besonders schwierig herausstellte und in dieser Phase das Rückfallrisiko recht hoch war. Unter den Gefangnisexperten bestand Konsens darüber, die Gefangenen „in dem kritischen Momente der Freilassung nach verbüßter Strafe zu unterstützen, die in der Anstalt ihnen eingeprägten Grundsätze des Rechts zu erhalten, sie in das bürgerliche Leben wieder einzuführen und mit der öffentlichen Meinung zu versöhnen und dadurch dem Staate gleichsam die letzte Gewähr, daß der Zweck der Strafe erreicht sei, zu leisten". 530 Entsprechende Maßnahmen hatten an zwei Stellen anzusetzen: erstens an der konkreten Situation des Entlassenen und zweitens an seinem gesellschaftlichen Umfeld, das für Erfolg und Mißerfolg der Reintegration mitverantwortlich gemacht wurde. Mangelnde Fähigkeiten und Ressourcen auf der Suche nach Arbeit und Unterkommen sowie Vorurteile gegenüber den Entlassenen konnten, so hatten bereits die ersten Erfahrungen gezeigt, selbst für die sogenannten Gebesserten ein schwer zu überwindendes Hindernis bei der Rückkehr in die Freiheit darstellen. 531 Gleichzeitig offenbarte jedoch die Diskussion um die Probleme der gesellschaftlichen Wiedereingliederung, daß auch die Vereine selbst den ehemaligen Gefangenen großes Mißtrauen entgegen-

529

EZA, Best. 7, Nr. 1688: Bericht des ehemaligen Neugarder Anstaltsgeistlichen Liebich an den EOK vom Februar 1853, Bl. 171-226, hier Bl. 218r-219r. 530 Nöllner. Bemerkungen, 1843, S. 305; ähnlich auch Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 50; Schrift des Berliner Pfarrers Andrae „Über Strafgefängnisse aus dem Gesichtspunkte des Besserungs-Systems betrachtet", in: EZA, Best. 7, Nr. 1688, S. 1-10/B1. 37-38, hier S. 5. 531 Siehe bereits Wagnitz·. Historische Nachrichten, Bd. 2,2, 1794, S. 162-166.

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brachten und Hilfsleistungen mit umfassenden Kontrollansprüchen verbanden. 532 Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelte die preußische Verwaltung ein Problembewußtsein für die Situation von Haftentlassenen und versuchte zunächst, die lokalen Behörden anzuweisen, dafür Sorge zu tragen, daß die Entlassenen Arbeit und Unterkommen fanden. 533 In Breslau und Glogau etwa verpflichteten 1783 entsprechende Zirkulare die Grundherren, Strafentlassene „wenigstens auf ein Jahr gegen hinlängliche Kost und nothdürftigen Lohn in fleißige Arbeit anzustellen und auf deren Betragen genaue Aufsicht nehmen zu lassen". 534 In den 1790er Jahren regten Einzelfalle, bei denen Strafentlassene aufgrund direkter Notlagen rückfällig geworden waren, weitere Überlegungen an. Die Schlußfolgerung, „daß nicht immer gänzliche Verderbtheit der Verbrecher, sondern nicht selten blos die ihnen fehlende Gelegenheit, sich ihren nur notdürftigen Unterhalt rechtmäßigerweise erwerben zu können, die nächste Ursache jenes fortgesetzten strafbaren Betragens" sei, fand in Preußen schließlich im März 1797 in einer zentralen Instruktion ihre ausführliche behördliche Umsetzung. 535 Neben einer Ausstattung mit ordentlicher Kleidung und „Zehrpfennig" durch das Arresthaus bestanden die entscheidenden Punkte dieser Anweisungen darin, mit Hilfe einer richterlichen Anhörung bereits frühzeitig vor dem Entlassungstermin zu klären, wie und wo der Gefangene beabsichtigte, nach verbüßter Strafe seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Konnte er Ort und Arbeit angeben, mußte sich der Entlassene direkt dorthin begeben, und zwar „unter der Warnung, daß, wenn er dieses nicht thun, sondern sich an andern Orten und sonst im Lande herumtreiben würde, er von den Landes-PolizeyBehörden als ein verdächtiger Mensch angesehen und behandelt, auch wenn zu der Zeit und in der Gegend, wo er sich solchergestalt herumtreibt, Verbrechen vorfallen, sein Herumtreiben, als eine Anzeige seiner Verschuldung und Theilnahme daran, angesehen werden solle". 536 Ohne Arbeitsmöglichkeit oder im Krankheitsfalle waren die Heimatgemeinden dazu verpflichtet, sich um Arbeit und Unterkunft zu kümmern. Im Notfall sollten die Provinzialbehörden den Entlassenen für öffentliche Arbeiten anstellen. 537 Vereinzelt wa-

532 Siehe z.B. die explizite Klagen der RWGG, daß man Entlassenen nicht trauen könne: JB RWGG 1857-1858/31, S. 45. 533 Zu den frühen preußischen Verordnungen über den Umgang mit Entlassenen siehe insgesamt die zeitgenössische Zusammenstellung von Heinze: Einlieferung, 1836. Schlesisches Zirkular, abgedruckt in: Rosenfeld: Zwei Hundert Jahre Fürsorge, 1905, S. 14-16, hier S. 15. 535 Preußischen Instruktion v. 27.3.1797, abgedruckt in: Rosenfeld: Zwei Hundert Jahre Fürsorge, 1905, S. 19-27, hier S. 19. 536 Preußische Instruktion v. 27.3.1797, abgedruckt in: Rosenfeld: Zwei Hundert Jahre Fürsorge, 1905, S. 19-27, hier S. 22. 537 Preußische Instruktion v. 27.3.1797, abgedruckt in: Rosenfeld: Zwei Hundert Jahre Fürsorge, 1905, S. 19-27, hier S. 23-25.

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ren auch die zuständigen Ortsgeistlichen angewiesen, durch regelmäßige Ermahnungen die Entlassenen auf dem „rechten Weg" zu halten. Weitere Zirkulare bestimmten, daß die Regierungen periodisch über die Situation der in ihrem Bezirk befindlichen Entlassenen zu berichten hatten. 538 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden auch in anderen deutschen Staaten entsprechende Regelungen zur Erstattung von Reisegeldern oder zur Unterstützung ehemaliger Strafgefangener durch die lokalen Behörden erlassen. 539 Die repressivste Strategie gegen Rückfalligkeit bestand in Preußen darin, die Entlassung vom Nachweis einer Erwerbsmöglichkeit oder von der in der Strafanstalt nachgewiesenen „Besserungsfähigkeit" abhängig zu machen. 540 Diese fortgesetzte Einsperrung auf unbestimmte Zeit, die vorrangig bei Delikten wie Raub und Diebstahl angewendet wurde, war eine reine Verwaltungsmaßnahme, obwohl sie sich faktisch nicht vom vorhergehenden Strafvollzug unterschied. Der problematische Rechtsstatus und der indirekte Widerspruch zu den strafrechtlichen Prinzipien der Tatvergeltung sowie der rechtlich fixierten Strafdauer waren den Ministerialbeamten durchaus bewußt. 541 Nachbesserungen zur entsprechenden Bestimmung in der Preußischen Kriminalordnung von 1805 (Paragraphen 569 bis 571) verraten jedoch, daß die Praxis anders aussah. Da die Strafanstalten nahezu permanent überfüllt waren, kam es offenbar vermehrt zu Entlassungen ohne Erwerbsnachweis, woraufhin das Ministerium die Anforderungen für einen Nachweis herabsetzte. Dieser wurde nun hauptsächlich von der „Individualität des Sträflings", das heißt von seinem „Willen", einem „ehrlichen Erwerb" nachzugehen, und von seiner körperlichen Arbeitsfähigkeit abhängig gemacht. 542 Der Regelung, die Verantwortung fur die Entlassenen den lokalen Gerichts· und Polizeibehörden zu übertragen, schien wenig erfolgreich zu sein, da immer neue Vorschläge folgten. Mit der Gründung der ersten Gefangnisvereine Ende der 1820er und Anfang der 1830er Jahre taten sich dann jedoch bei der Arbeitsbeschaffung und materielle Unterstützung der Strafentlassenen neue Möglichkeiten auf, die die staatlichen Behörden nur allzu bereitwillig in 538

Vgl. dazu Rosenfeld. Zwei Hundert Jahre Fürsorge, 1905, S. 35-39. Zu Baden etwa vgl. Müller: Entlassenenfiirsorge in Baden, 1964, S. 51-53. 540 Prinzipiell gab es noch die Möglichkeit, während der unbegrenzten Einsperrung begnadigt zu werden. Allerdings wurden auch die Anträge auf Begnadigung letztlich vom Nachweis einer Erwerbsgelegenheit abhängig gemacht (Reskript des Justizministers v. Kircheisen v. 15.12.1822, abgedruckt in: Heinze: Einlieferung, 1836, S. 121). Die Begnadigung Schloß im übrigen nicht die in der französischen Rechtssphäre verbreitete Polizeiaufsicht mit ein (Schreiben des Innenministeriums an die Rheinischen Regierungen v. 30.8.1823, abgedruckt in: ebd., S. 106-107). 539

541

Da sie ursprünglich keiner Begrenzung unterlag, legte Innenminister v. Beyme 1810 eine maximale Dauer von zwei Jahren fest (Rundschreiben v. Beymes an die Königlichen Kammer- und Oberlandesgerichte v. 18.4.1810, abgedruckt in: Heinze·. Einlieferung, 1836, S. 111-112). 542 Bestimmung des Polizeiministeriums v. 23.1.1819, abgedruckt in: Heinze·. Einlieferung, 1836, S. 114.

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Anspruch nahmen.543 Die Unterstützung der Entlassenenfursorge durch Vereine war jedoch nicht allein eine Reaktion auf behördliche Mißerfolge, sondern entsprach auch einem veränderten Staatsverständnis, das im Gegensatz zum umfassenden Policey-Verständnis des Spätabsolutismus die Fürsorge der bürgerlichen Gesellschaft überantwortete. Mit einer spezialisierten Fürsorge durch Gefängnisvereine außerhalb der allgemeinen Armenfürsorge erhoffte man sich offenbar eine effektivere Problemlösung. Für die bürgerliche Reformbewegung komplettierte die Entlassenenfursorge die Gefängnisreform durch eine umfassende Fürsorge von der Betreuung der Angehörigen über die Gefangenenseelsorge bis zur Fürsorge nach dem Austritt aus dem Gefängnis. Obwohl sich die Regierungen damit der Aufgabe zu entledigen suchten, die materiellen Lebensgrundlagen für einen Neubeginn zu gewährleisten, trafen sie einige wenige Regelungen, um den Übergang in die Freiheit zu erleichtern. Im Rawiczer Reglement finden sich einige der preußischen Anordnungen wieder,544 so etwa die Ausstattung mit intakten Kleidungsstücken sowie die Aushändigung eines Reisegeldes für den vorher bestimmten Zielort der Entlassung. Beides hatte die Anstaltskasse zu finanzieren, sofern der zu Entlassende nicht selbst über Mittel verfügte.545 Kranke und insbesondere solche, die an ansteckenden Krankheiten litten, sollten trotz abgelaufener Haftstrafe erst nach ihrer Genesung entlassen werden.546 Außerdem war die Anstaltsverwaltung angewiesen, bereits bei der Einlieferung das „HeimathsVerhältnis" der Verurteilten zu klären, denn bei Arbeitsunfähigkeit waren die Angehörigen oder, sofern keine ermittelt werden konnten, die Kommunen fur Unterbringung und Verpflegung verantwortlich.547 Entlassene, die nur als eingeschränkt arbeitsfähig eingestuft wurden und keiner Kommune angehörten, erwartete in der Regel die Einweisung in eine Landesarmenanstalt.548 Um konkrete Fürsorgemaßnahmen rechtzeitig einzuleiten, sah das Reglement vor, Gefangene bereits drei Monate vor Ablauf ihrer Strafzeit über ihre weiteren Pläne zu befragen, um die zuständigen lokalen Behörden informieren beziehungsweise ihre Zustimmung einholen zu können:549 „In allen Fäl543

Rosenfeld: Zwei Hundert Jahre Fürsorge, 1905, S. 36-39. Die im folgenden ausgeführten Bestimmungen bezogen sich nur auf „Inländer". Ausländer, auch wenn sie nicht explizit mit einer Landesverweisung belegt waren, wurden den Behörden ihrer Heimatländer überantwortet (vgl. dazu Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, §§ 128 u. 129, S. 21). 545 Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, §§ 134 u. 135. 546 Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, §§ 123 u. 124. 547 Reglement fur die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, § 127, S. 21, siehe außerdem §131. 548 Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, § 132, S. 22. 549 Für die Berliner Modellanstalt gab es extra einen formalisierten Fragebogen für die Heimatbehörden, der nicht nur nach den materiellen Voraussetzungen fragte, sondern insbesondere auch das Verhalten der Ehefrau während der Haftzeit ihres Gatten zu erforschen suchte: Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Die neue Strafanstalt spez. das Zellengefängnis (zu Moabit) in Berlin (1861), Beilage 5, S. 267-268. 544

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len ohne Unterschied, wo fur einen inländischen Sträfling entweder durch die unmittelbaren Bemühungen der Direction oder durch die Vermittlung des Vereins zur Versorgung fur entlassene Sträflinge ein bestimmtes Unterkommen ermittelt ist, muß der Sträfling, sofern er nicht ein anderes bestimmtes Unterkommen inzwischen nachgewiesen hat, dorthin dirigirt werden." 550 Der Überverdienst des Entlassenen wurde dann an die Behörden seines künftigen Aufenthaltsorts überwiesen, um den staatlichen Stellen ein Kontrollinstrument an die Hand zu geben, mit dem der Lebenswandel über die Haftzeit hinaus beeinflußt werden konnte. 551 Wie in anderen Staaten war der Überverdienst in Preußen hauptsächlich eingeführt worden, damit der Gefangene sich während der Haft durch Mehrarbeit über das vorgeschriebene Leistungspensum hinaus etwas Geld verdiente, das dann als Startgrundlage fur den Neuanfang dienen sollte. 552 Hatte der Strafgefangene überhaupt die Gelegenheit, sich etwas Überverdienst zu erarbeiten - dafür mußte nicht zuletzt auch entsprechend lohnenswerte Arbeit in der Anstalt organisiert sein - , so behielt die Anstaltsverwaltung daher das Geld während der Haft ein.553 Gegenüber rückfälligen Straftätern und solchen, die nach Ablauf ihrer Haftzeit von der Beamtenkonferenz der Strafanstalt als ungebessert eingestuft wurden, war in Preußen ähnlich wie auch in anderen europäischen Staaten eine strenge Überwachung nach der Entlassung in Form von Polizeiaufsicht vorgesehen. 554 Mit dieser Maßnahme verbanden sich zumeist direkte Beschränkungen für die unter Aufsicht stehende Person, wozu eine regelmäßige Meldepflicht bei der Polizeibehörde, aber auch Auflagen wie Wirtshausverbote gehörten. Nicht nur in Deutschland wurde in der Diskussion zur Polizeiaufsicht bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die von Vereinen und Strafanstaltsbehörden geäußerte Erfahrung problematisiert, daß diese vermeintliche Sicherheitsgarantie gegen erneute Rückfalle häufig gerade das Ge550

Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, § 133, S. 22. Vgl. zu ähnlichen Regelungen in Baden Müller. Entlassenenfiirsorge in Baden, 1964, S. 2 0 4 - 2 0 6 . 551 Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, § 135b, S. 2 2 - 2 3 . In anderen Staaten wie z.B. Baden wurden die Entlassenen nach den armenpolizeilichen Grundsätzen beaufsichtigt (siehe Müller. Entlassenenfiirsorge in Baden, 1964, S. 59-60). Dieselbe Regelung gab es auch für die aus den Arbeitshäusern Entlassenen (Ristelhueber: Beschreibung des Land-Arbeitshauses, 1828, S. 89). 552

Siehe bereits die Vorschläge bei Arnim: Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Bd. 2 / 1 - 3 , 1801/1803, S. 42. Vgl. außerdem bereits Abschnitt 2.3. 553 Zur weiteren Regelung der Versendung des Überverdienstes an die Behörden siehe die preußische Zirkularverfügung v. 29.9.1859, in: Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, S. 147-148. Im Februar 1859 bestimmte das Innenministerium außerdem, daß die Überverdienstgelder der Anstaltsinsassen für die Dauer der Haft zinsträchtig angelegt werden sollten (Verfügung v. 22.2.1859, in: ebd., S. 146-147). 554

Die Polizeiaufsicht galt als „Nebenstrafe", die nach Ermessen des Richters verhängt werden konnte. Die Zuchthausstrafe schloß von vornherein die Polizeiaufsicht ein. Zur Polizeiaufsicht in Preußen siehe Berger. Konstante Repression, 1974, S. 115-119. Zu anderen Staaten vgl. z.B. Müller. Entlassenenfiirsorge in Baden, 1964, S. 6 0 - 6 1 .

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genteil bewirke, indem sie die gesellschaftliche Wiedereingliederung des Entlassenen behindere. Dabei handelte es sich also um einen klaren Zielkonflikt.555 Trotz der Einwände wurde die Polizeiaufsicht nicht abgeschafft, sondern lediglich modifiziert. Die beratschlagenden Ministerialbeamten machten in der Hauptsache „die rücksichtlose Art und Weise, mit welcher viele Polizei-Behörden die Polizei-Aufsicht handhaben", für die Mißerfolge verantwortlich. 556 Für die Strafentlassenenfürsorge wurde also insgesamt eine gemischte Strategie festgelegt: Die staatliche Seite garantierte lediglich eine notdürftige Ausstattung beim Gefangnisaustritt und unterhielt ein behördliches Kontrollsystem mit Zwangsmitteln, während sie die anschließende Unterstützung privaten Initiativen überließ, von denen vorrangig die Eingliederung ins Erwerbsleben erwartet wurde. Zur entscheidenden Figur der Entlassenenfürsorge entwickelte sich, ungeachtet der regionalen Unterschiede zwischen den Vereinen und den länderspezifischen Strafanstaltsorganisationen, der Anstaltsgeistliche. 557 Als Kontaktperson zwischen Verein und Anstalt sollte der Gefangnisseelsorger die Hilfsmaßnahmen für die Familienangehörigen anregen sowie die Entlassenenfürsorge einleiten, wobei er auf die Mitwirkung der Heimatgeistlichen hoffte. 558 Die Familienfürsorge als zweiter externer Arbeitsbereich stellte sich von Anfang an zwei Aufgaben. Erstens sollten durch direkte materielle Hilfe existentielle Probleme abgemildert werden, die den Angehörigen durch den Wegfall eines Ernährers oder einer Ernährerin entstanden. 559 Als zweites sollten die Vereine dafür sorgen, daß die Kinder von Strafgefangenen eine sittlich-religiöse Erziehung erhielten, um einer „sittlichen Verwahrlosung" entgegenzuwirken. Dem verbreiteten Schreckensbild der „Verbrecherfamilie"

555

Siehe z.B. Moll. Besserung, 1841, S. 40; Ristelhueber. Straf- und Besserungs-Anstalten, 1843, S. 14, 122-125; JB RWGG 1857-1858/31, S. 4 5 ^ 6 u. Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Gutachten über die Polizeiaufsicht (1868), S. 372-375; siehe außerdem die Kritik bei Mittermaier: Gefängnisfrage, 1860, S. 88 u. 155. 556 Zirkularverfugung des preußischen Innenministeriums v. 22.5.1866, abgedruckt in: Reglement fur die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, S. 99-101, hier S. 99. 57 Für Preußen vgl. die Anweisungen zur Erstattung der Jahresberichte der Anstaltsgeistlichen (Instruktionen des Innenministeriums v. 31.1.1859, in: Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, S. 129-132, hier S. 131). Auch die Bruchsaler Dienstordnung legte die Einleitung der Entlassenenfürsorge sowie die hierfür notwendige Korrespondenz mit den Heimatgeistlichen in die Hände der Anstaltsseelsorger (vgl. dazu Fasoli: Strafverfahrensrecht, 1985, S. 182). 558 AEK, CR 27. 5,1: Schreiben des Aachener Gefangnisvereins an den Kölner Dechant Hüsgenv. 5.7.1838. 559 Die RWGG sah in ihren Instruktionen fur die Hilfsvereine zunächst vor, daß die Ortsgruppen zwar die Familienverhältnisse besonders im Auge behalten, die eigentliche materielle Unterstützung jedoch der örtlichen Armenfürsorge überlassen sollten (JB RWGG 1829/2, S. 41^12). Die lokalen Gefängnisvereine unterstützten mitunter trotzdem die angehörigen Familien.

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entsprechend, galten die Kinder von verurteilten Straftätern als besonders gefährdet, eine kriminelle Laufbahn einzuschlagen. Daß die Sorge um die Familienmitglieder der Gefangenen nicht allein der Armenfürsorge überlassen wurde, richtete sich jedoch nicht nur gegen „Unsittlichkeit" und kriminelle Ansteckungsgefahr, vielmehr diente die Familienfürsorge auch der besseren Integration der Entlassenen. 560 Bereits die Gefängnisgeistlichen legten großen Wert darauf, den Kontakt zwischen den Gefangenen und ihren Angehörigen aufrecht zu erhalten: „Der Verkehr in diesem Familienheiligtum muß gepflegt und geheiligt, dies Verhältnis zur Familie darf um keinen Preis zerstört werden, es wird also sehr darauf ankommen, ob die Pflege dieses Familienbandes vorhanden ist und in welchen Händen sie ruht. Es steht sehr zu bezweifeln, daß das Bewußtsein der Gefangenen, die ihrigen unter der polizeilichen oder Kommunalpflege zu wissen, ein sehr trostreiches ist oder überhaupt sein kann." 56 ' Die Rückkehr in die Familie galt, zumindest wenn ihr nicht bereits weitere Straffällige angehörten, immer noch als Garant für die soziale Wiedereingliederung und eine verantwortungsbewußte, sittliche Lebensführung der Straftäter. 562 Sowohl im bürgerlich-liberalen als auch im christlich-religiösen Gesellschaftsideal bildete die Familie seit Ende des 18. Jahrhunderts die soziale Grundeinheit. Trotz dieser Bemühungen lag der Schwerpunkt der Vereinsarbeit auf der Entlassenenfürsorge. Die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft bemühte sich, noch während der Haft Kontakt zwischen Verein und Gefangenem herzustellen, indem sie die Vereinsmitglieder zu Besuchen in den Gefängnissen ermunterte. 563 Die Bezirksregierungen unterstützten die Zusammenarbeit mit den privaten Organisationen, indem sie die Polizeibehörden anwiesen, die Vereine über die vor Ort eingetroffenen Entlassenen zu informieren. 564 Die Hilfsvereine wie auch andere deutsche Fürsorgevereine 560

Gegen ein derart umfassendes Fürsorgekonzept der Vereine gab es auch kritische Stimmen. Der Bruchsaler Strafanstaltsdirektor Diez sprach sich gegen die Familienfursorge aus, da dies allein in den Aufgabenbereich der Armenverwaltungen falle. Eine zusätzliche Familienfursorge für Angehörige von Straftätem widerspreche dem Gerechtigkeitsempfinden (vgl. dazu Müller: Entlassenenfürsorge in Baden, 1964, S. 101). 561 Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Die Behandlung der Verbrecher in den Gefangnissen und der entlassenen Sträflinge. Referat und Schlußwort zur Diskussion auf dem fünften deutschen evangelischen Kirchentag (1852), S. 31-49, hier S. 37-38. Zur Einbeziehung der Familienverhältnisse des Gefangenen in die Fürsorgearbeit siehe bereits die Instruktion für die Hilfsvereine der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschaft, in: J B R W G G 1829/2, S. 40-41. 562 Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Die neue Strafanstalt spez. das Zellengefängnis (zu Moabit) in Berlin (1861), S. 192-268, hier S. 233; Haenell: Gefängniskunde, 1866, S. 188 u. Jahresbericht für das Aachener Arresthaus des katholischen Seelsorgers Mettmann für den Zeitraum 1.8.1849-1.1.1851, in: EZA, Best. 7, Nr. 1688, Bl. 103-139, hier Bl. I17r. 563 JB RWGG 1838/11, S. 15-16. Ähnlich auch bei Nöllner. Bemerkungen, 1843, S. 314. 564 Vgl. Rosenfeld: Zwei Hundert Jahre Fürsorge, 1905, S. 44.

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unterstützten die Gefangenen hauptsächlich auf zweierlei Weise: indem sie versuchten, ihnen Arbeit und Unterkunft zu vermitteln, oder indem sie sie mit Arbeitsgeräten und Arbeitsmaterialien ausstatteten. Die Vereine verfuhren dabei nach dem „als zweckmäßig erkannten Grundsatze", „niemals eine Gabe in baarem Gelde" zu bewilligen.565 Um außerdem sicherzustellen, daß der Entlassene die Unterstützung wirklich zur Existenzsicherung verwendete, galt die Regel, die Handwerksgeräte und Rohstoffe dem Entlassenen „vorab nur leih- oder vorschußweise" zu erstatten „und erst dann definitiv als Eigenthum zu übergeben, nachdem eine festgesetzte Probezeit mit befriedigendem Resultate verstrichen war".566 Generell gewährten die Gefangnisvereine ihre Hilfe nur mit Auflagen. Die Zielgruppe war begrenzt auf diejenigen Entlassenen, die bereits in der Anstalt Zeichen der Besserung gezeigt hatten. Als Ausgangspunkt „zur summarischen Recapitulation dessen, was über Werth und Unwerth jedes Gefangenen zur Kunde der Gesellschaft gelangt ist, um darnach das Vertrauen, das sie ihm zu schenken, und die Hülfe, die sie ihm vorkommenden Falls zu leisten hat, zu bemessen," diente der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschafit die Zensurbewertung in den Conduitenlisten.567 Andere Vereine verfuhren ähnlich.568 Ein Problem für die Hilfesuchenden selbst stellte jedoch die begrenzte Reichweite der Vereine dar. Besonders in Baden war die Vereinsdichte relativ gering.569 Diese Begrenzung der privaten Straffalligenfursorge konnte auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht überwunden werden. Die Inanspruchnahme der privaten Fürsorge war grundsätzlich freiwillig und zwang den Hilfesuchenden, sich der Aufsicht durch die Gefängnisvereine zu unterstellen. Ähnlich wie in der kommunalen Armenfursorge sollten einzelne Personen die Betreuung und Kontrolle der ehemaligen Strafgefangenen übernehmen.570 Von „dem freilich mit Vorsicht zu beachtenden Wunsch des 565

JBRWGG 1838/11, S. 9. JBRWGG 1838/11, S. 9. 567 JB RWGG 1829/2, S. 57. Ähnlich wurde auch in Baden vorgegangen (vgl. dazu Müller. Entlassenenfursorge in Baden, 1964, S. 86). 568 Siehe z.B. den Vortrag des Ausschusses des Nassauischen Vereins zur Unterstützung und Beaufsichtigung aus dem Corrections-, Zucht- und Irrenhause entlassener Individuen, in: Jahrbücher der Gefängniskunde und Besserungsanstalten 1832/7, S. 333-339, hier S. 335; Zweiter Bericht des Vereins für die Besserung der Strafgefangenen in den östlichen Provinzen des Preußischen Staates, in: Jahrbücher der Gefängniskunde und Besserungsanstalten 1833/9, S. 197-246, hier S. 214 u. Belehrung und Anweisung fur den Pflegling des Vereins zur Unterstützung und Beaufsichtigung der aus den großherzoglich Hessischen Landes- und Provinzial-Strafanstalten Entlassenen, in: Jahrbücher für Gefangniskunde und Besserungsanstalten 1846/8, S. 397-399, hier S. 398. 569 Siehe dazu Müller. Entlassenenfursorge in Baden, 1964, S. 88. 570 Bei Zeller findet sich bereits die Idee, Verurteilte mit geringfügigen Straftaten alternativ zur Haftstrafe der Aufsicht von Vereinen zu unterstellen (Zeller. Grundriß der Strafanstalt, 1824, S. 3-16). 566

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Gefangenen über die Art der ihm nach seiner Entlassung zu leistenden Hülfe" ausgehend,571 hatten die zuständigen Vereinsmitglieder über die notwendigen Maßnahmen zu entscheiden und im weiteren „mit väterlich strenger Aufsicht" über den eingeschlagenen Weg des Entlassenen zu wachen.572 Der Schleswiger Verein zur Fürsorge fiir entlassene Sträflinge und verwahrloste Kinder rechnete mit einer Betreuungsdauer von drei bis fünf Jahren.573 Sofern die Haftentlassenen keine Familie hatten, zu der sie zurückkehren konnten, sollten sie nach Vorstellung der Reformer idealerweise in einem Haushalt unterkommen, in dem sie Beschäftigung fanden und unter quasi väterlicher Kontrolle standen. Die Unterbringung im Handwerk oder in der Landwirtschaft entsprach daher am ehesten dem individuellen und kontrollbestimmten Fürsorgekonzept.574 Angestrebt wurden solche Lösungsmodelle vor allem für die „Verpflanzung der gebesserten Sträflinge".575 Diese Maßnahme legte die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft für den Typus des Gefangenen nahe, „dessen verbrecherische Verbindungen sich vielleicht nach der Entlassung in der Gegend leicht wieder anknüpfen, und ihn, wenn auch nicht in dem ersten Augenblicke, doch nach und nach wieder umstricken möchten. Könnte ihm dagegen ein entferntes Unterkommen, bei ihm fremden, guten Leuten verschafft werden, so wäre Hoffnung, daß die Keime der religiösen und sittlichen Besserung, welche die Einwirkung der Gefängnisgesellschaft in ihm gelegt hat, gedeihen würden".576 Eine andere Möglichkeit, nämlich die Auswanderung von Entlassenen zu befördern, spielte dagegen im Fürsorgediskurs lediglich eine marginale Rolle.577 Der Kontrollanspruch der Vereine zog schon bald die Forderung nach sich, daß nicht mehr die lokalen Behörden den Überverdienst verwalten sollten,

571

J B R W G G 1829/2, S. 42. JB RWGG 1829/2, S. 43. 573 Jahrbücher der Straf- und Besserungs-Anstalten, Erziehungshäuser, Armenfursorge, und anderer Werke der christlichen Liebe 1830/3, S. 371. 574 Julius: Gefängnis-Vereine, 1847, S. 122-123. 575 J B R W G G 1829/2, S. 44. 576 J B R W G G 1829/2, S. 44. 577 Julius sprach diese Lösung als Alternative zum Plan von Ackerkolonien an, wobei er auf christliche Koloniengründungen in Amerika verwies (Julius: Gutachten, 1846, S. 2 7 3 374). Von behördlicher Seite wurde in manchen Regionen - z.B. innerhalb Badens - die Auswanderung von Entlassenen aus Straf- und Besserungshäusern direkt eingeleitet. Für gebesserte Entlassene, so die Begründung der Behörden, sei es in der Fremde ohne üblen Leumund leichter, Arbeit finden, und bei rückfälligen Straftätern könnten mit der Auswanderung die öffentlichen Kassen entlastet werden (vgl. dazu Müller. Entlassenenfürsorge in Baden, 1964, S. 2 1 2 - 2 2 1 ) . Teilweise stellten Gefangene selbst Anträge auf Begnadigung, die an eine Auswanderung geknüpft werden sollte. Die Praxis der „freiwilligen" Deportation war jedoch kein Massenphänomen und stieß sowohl auf zunehmende Einwanderungsrestriktionen in den Zielländem als auch auf Beschränkungen in den entsprechenden deutschen Hafenstädten, die um ihre guten Handelsbeziehungen fürchteten (vgl. Rössler: Hollandgänger, 2000, S. 193-246). 572

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sondern die Fürsorger. 578 Die Vereine erhofften sich davon nicht nur mehr Disziplinierungsmacht, sondern auch eine bessere Kenntnis der finanziellen Lage der Entlassenen. Die Vereine argumentierten hier, die Behörden vernachlässigten ihre Kontrollpflichten und händigten den Entlassenen die Gelder trotz anderslautender Anordnung direkt nach ihrer Ankunft aus. 579 Mancherorts war man bereits dazu übergegangen, den Pfarrämtern die Beträge zur betreuten Ausgabe zu überweisen. In Preußen wie auch in anderen deutschen Staaten war ohnehin bereits vorgesehen, die Heimatgeistlichen zusätzlich zu den Behörden in die Aufsicht der Strafentlassenen einzubeziehen. Dazu hatten die Gefängnisgeistlichen kurz vor Ende der Haftzeit ihre Amtsbrüder am anvisierten Aufenthaltsort über Charakter, Benehmen, Kenntnisse und Fähigkeiten der Entlassenen zu informieren. 580 Während Julius noch die Arbeitsteilung zwischen der weltlichen Behörde, die den Überverdienst verwaltete, und der geistlichen, von der die „eigentliche Bevormundung" des Entlassenen übernommen werden sollte, als „eine Verknüpfung der Vortheile der polizeilichen und der geistlichen Obhut für den Entlassenen" pries, war es von der Einbeziehung der kirchlichen Behörden in die Entlassenenfürsorge nur noch ein kleiner Schritt zu ihrer Indienstnahme für die Verwaltung der ausgezahlten Arbeitsprämien. 581 Der Bruchsaler Anstaltsdirektor Füesslin bevorzugte die geistliche Aufsicht: „Wir halten das Pfarramt zum Empfang des Peculiums für geeigneter, als die weltlichen Behörden, weil die Art der Aufnahme des Entlassenen zu Hause viel zu der Bewährung der Besserung desselben beiträgt. Dem Geistlichen sind die Entlassenen in der Regel eher zugänglich, als dem Bürgermeister, weil dieser in den Zurückkehrenden immer noch die früheren, verdorbenen und arbeitscheuen Menschen zu erkennen glaubt, und sie deshalb nicht immer in aufmunternder und ermuthigender Weise empfängt." 582 Die unterschiedliche Rollenauffassung von Staat und Kirche, wie sie sich bereits innerhalb der Strafanstalt etabliert hatte, setzte sich in der Entlassungsphase fort. Während die lokalen Beamten in den entlassenen Gefangenen vorrangig ein materielles und sicherheitstechnisches Problem sahen, sollten die Kirchenver-

578

JB RWGG 1829/2, S. 43. AEK, CR 27. 5,1: Schreiben des Aachener Gefängnisgeistlichen Mettmann an das Generalvikariat des Kölner Erzbistums v. 10.11.1858. 580 Entsprechende Anordnungen finden sich in Preußen bereits Anfang des 19. Jahrhunderts (vgl. Rosenfeld·. Zwei Hundert Jahre Fürsorge, 1905, S. 35). Vgl. zu Baden Füesslin: Einzelhaft, 1855, S. 123-124. 581 GStAPK, I. Rep. 89, Nr. 18590/1: Erläuterung zum pennsylvanischen Strafhaus von Dr. Julius v. 7.3.1841, Bl. 2-18, hier Bl. 9v. 582 Füesslin: Einzelhaft, 1855, S. 125. Diese Maßnahme war in Baden noch nicht allgemein üblich. Viele Anstalten zahlten den Überverdienst bis in die 1850er Jahre hinein direkt an die Entlassenen aus. Erst Ende der 1850er und Anfang der 1860er Jahre schrieben die großen Strafanstalten in Baden die Verwaltung des Überverdienstes durch die Pfarrämter fest (vgl. dazu Müller. Entlassenenfürsorge in Baden, 1964, S. 226-227). 579

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treter mit Ermahnung und Ermutigung den Besserungswillen der Entlassenen stärken, was ganz der Utopie eines funktionierenden Wechselspiels zwischen staatlichem Strafen und gesellschaftlicher Versöhnung entsprach. Welche der erwähnten Regelungen sich letztlich durchsetzte, war von Region zu Region unterschiedlich und hing davon ab, wie eng und gut die Vereine mit den lokalen Behörden zusammenarbeiteten. Die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft suchte von Anfang an die Zusammenarbeit mit den Behörden und legte ihren Hilfsvereinen nahe, neben den kirchlichen Vertretern auch Polizeibeamte fur den Vereinsausschuß zu gewinnen. 583 Bei der Diskussion über die Entlassenenfursorge ging es also immer auch um die Grenzen staatlicher Zuständigkeit und ihr Verhältnis zur bürgerlichen Verantwortlichkeit. 584 Dieser Aushandlungsprozeß läßt sich sehr gut an der Debatte um Alternativen zur staatlichen Polizeiaufsicht ablesen. Um die Jahrhundertmitte kamen auch diesbezüglich Vorschläge fur eine subsidiäre Kontrolle durch die Gefangnisvereine auf. Unter Hinweis auf das „toskanische System" sprach sich der Heidelberger Gefangnisexperte Mittermaier dafür aus, auf polizeiliche Maßnahmen zu verzichten, sobald sich ein Entlassener in die Schutzaufsicht eines Gefängnisvereins begebe: „Es kann der Entwicklung der Besserung günstigen Stimmung nur hindernd entgegenwirken, wenn der Sträfling die Aussicht hat, daß, mag er noch so gebessert die Anstalt verlassen, auf jedem Schritte die Polizei ihm Beschränkungen auflegen, Haussuchungen bei ihm vornehmen kann, was die nothwendige Folge hat, daß der Entlassene nicht blos in seinem Ehrgefühl tief herabwürdigt wird, sondern auch weiß, daß schwerlich ein Dienstherr Lust hat, ihn aufzunehmen, um so weniger als die übrigen Arbeiter sich weigern werden, mit dem Gebrandmarkten zu dienen." 585 Die Vorschläge zur alternativen privaten Schutzaufsicht waren Teil einer weiterfuhrenden Debatte über Formen der Strafmilderung. Im Ausgleich zu den strengen Haftbedingungen in der Einzelhaft diskutierten Reformer bereits auf den ersten internationalen Gefangniskongressen darüber, Strafen zu verkürzen und die sogenannte bedingte Entlassung einzuführen. 586 Daran schlossen sich Pläne an, die Verurteilten über ein System abgestufter Haft-

583

Siehe § 2 der Instruktionen für den Kölner Hilfsverein v. 3.5.1843, in: HStAD, RW 1206. 584 Die Forderung nach einer staatlich finanzierten und organisierten Entlassenenfursorge findet man zu dieser Zeit nirgends. Gefangnisexperten wie der badische Ministerialbeamte von Jagemann forderten lediglich die Unterstützung der Hilfsvereine (vgl. Fasoli: Strafverfahrensrecht, 1985, S. 183). 385 Mittermater. Gefängnisverbesserung, 1858, S. 141. Ein ähnlicher Vorschlag findet sich auch bei Ristelhueber: Straf- und Besserungs-Anstalten, 1843, S. 122-125. 586 Vgl. die Abschnitte zur „bedingten Freilassung" und zur Arbeit der Schutzvereine bei Mittermaier. Gefangnisfrage, 1860, S. 146-166. Zum Zusammenhang von Einzelhaft und Schutzaufsicht siehe außerdem Fiiesslin: Gefängnis-Reform, 1865, S. 215-216.

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formen zurück in die gesellschaftliche Freiheit zu fuhren.587 Nachdem sich die Suche nach dem idealen Strafsystem noch in den 1840er Jahren auf die Haftgestaltung konzentriert hatte, richtete sich mit der Idee der „bedingten Entlassung" der Blick nun stärker auf die Phase der Entlassung, die damit zu einem Teil des Strafvollzugs wurde. Diese Debatte hätte den Gefängnisvereinen eine Chance geboten, sich sowohl von ihrer innerhalb der Gefangniskunde zunehmend randständig werdenden Position zu befreien und sich wieder stärker in den Strafdiskurs einzubringen als auch dem Fürsorgethema mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Doch gerade zu diesem Zeitpunkt trat die Hilflosigkeit einer privaten Entlassenenfürsorge, die auf freiwilliges bürgerliches Engagement angewiesen war, besonders deutlich hervor. Wie bereits geschildert, stagnierte die Vereinsentwicklung innerhalb der deutschen Staaten in den 1850er Jahren zusehends. Neben den ursprünglich dezentralen Fürsorgemaßnahmen gingen manche deutsche Vereine bereits in den 1830er Jahren dazu über, für einen Teil der Entlassenen eine stationäre Unterbringung für die erste Zeit zu organisieren. Aufgrund der mangelnden Bereitschaft der Gesellschaft, entlassenen Strafgefangenen Unterkunft und Arbeit zu bieten, diskutierte die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft auf ihrer Jahresversammlung 1833 zum ersten Mal die Notwendigkeit, Asyle zu gründen, wobei entsprechende Vorschläge bereits bei Elizabeth Fry und John Gurney zu finden waren.588 Besonderen Handlungsbedarf sah der Ausschuß für die weiblichen Strafentlassenen, während „die männlichen Entlassenen weniger Hindernisse bei ihrem Wiedereintritt in die bürgerliche Gesellschaft und leichter ein Unterkommen finden" würden.589 Als Vorbild dienten die in England seit Mitte des 18. Jahrhunderts gegründeten Magdalenenstifte, die jedoch vorrangig als Erziehungsanstalten fur ehemalige Prostituierte gedacht waren.590 Die Gefängnisgesellschaft plante von vornherein konfessionell organisierte Einrichtungen, und während die Pläne zu einem katholischen Asyl zunächst scheiterten,591 begann Theodor Fliedner bereits 1833 damit, Frauen, die nach der Haft kein Unterkom-

587

Zur deutschen Debatte über die „bedingte Entlassung" und über die Versuche mit einem Stufensystem in Irland, England und Schottland siehe z.B. Mittermaier. Geföngnisverbesserung, 1858, S. 142-151. Vorschläge zu einer Entlassung auf Probe verbunden mit einer Familienunterbringung und einer Aufsicht mit Zensuren gab es auch schon früher, siehe z.B. Jahrbücher der Straf- und Besserungs-Anstalten, Erziehungshäuser, Armenfursorge, und anderer Werke der christlichen Liebe 1829/2: Vorschläge und Ansichten zweier Geistlicher, in Hinsicht auf Klassenabtheilung der Sträflinge, S. 266-277, hier S. 274-275. Diese fanden jedoch zu dieser Zeit noch keine Resonanz unter den Experten. 588

Fry/Gurney: Report, 1828, S. 31. JB RWGG 1834/7, S. 5. 590 Vgl. Fliedners Recherchen zu den englischen Magdalenenstiften in: FA, Rep. II: Ec. 591 Zu einer ersten Initiative für ein katholisches Asyl siehe Fliedners Schreiben an die Düsseldorfer Regierung v. 13.10.1833, in: AKD 10. Die Gründe für das Scheitern dieser Initiative lassen sich auf der Grundlage der Akten nicht klären. 589

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men fanden, in Kaiserswerth aufzunehmen - zunächst provisorisch in einem Gartenhäuschen, später dann in einem ehemaligen Pfarrhaus. 592 Das „evangelische Asyl fiir weibliche Entlassene zu Kaiserswerth" gilt als erstes bekanntes Entlassenenasyl innerhalb der deutschen Staaten und bestand über mehrere Jahrzehnte hinweg, weshalb seine Entwicklung hier beispielhaft skizziert werden soll. Die Asylberichte 593 formulierten das anvisierte Ziel wie folgt: „Der Zweck des Asyls ist, solchen weiblichen Entlassenen, welche während der Haft Hoffnung zu einer gründlichen Sinnesänderung gegeben haben, und bei ihrer Entlassung nicht alsbald ein passendes Unterkommen finden können, hier einen Zufluchtsort zu gewähren, damit sie nicht in Ermangelung eines Dienstes oder bei fehlender Arbeit in neue Vergehungen gerathen. Hier finden sie für einige Monate Unterkunft und Arbeit, und unter beständiger Leitung und Aufsicht einer christlichen Aufseherin Gelegenheit, ihre Besserung zu bewähren, in derselben zuzunehmen durch die ihnen zu Theil werdende christliche Unterweisung und Zucht, und die fiir ihr künftiges Verhältnis als Mägde nöthige Arbeit zu erlernen oder sich darin zu vervollkommnen." 594 Das Asyl war für die Betreiber ein „Prüfungs- und geistlicher StärkungsOrt" im Anschluß an die Erziehungsversuche der Strafanstalten. 595 Das Asyl sei, anders als das staatliche Gefängnis, keine Zwangsanstalt; die Insassen müßten sich freiwillig der Zucht unterwerfen. 596 Als „einzige Strafe für Ungehorsam, Faulheit, Heuchelei" kenne man lediglich „das Wort", und wer sich dem nicht füge, werde entlassen. 597 Eine erneute Aufnahme sah das Reglement des Asyls nicht vor.598 „Nur bei den jungen Pfleglingen, die als Kinder behandelt werden müssen, niemals bei den älteren, wenden wir als Zuchtmittel bei großer, fortgesetzter Faulheit das Wort des Apostels an: ,Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen', das heißt wir entziehen ihnen einen Theil 592

Das provisorische Asyl im Gartenhäuschen Fliedners sowie der erste „Pflegling" Minna gehören in der Diakonie-Forschung zu den Grundsteinen des M y t h o s Fliedners und seiner Diakonischen Anstalten (vgl. Gerhardt: Fliedner, Bd. 2, 1937, S. 2 5 9 - 2 6 9 ) . 593 Als Teil der Kaiserswerther Diakonie, die mit diesem Asyl ihren A n f a n g nahm, erschienen die Jahresbilanzen des Asyls sowohl als eigenständige Berichte als auch auszugsweise in den Jahresberichten der R W G G 594 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1833/1 [1834 erschienen], S. 1. 595 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1840-1841/9, S. 3. 596 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1840-1841/9, S. 3-4. Vgl. auch die A u f n a h m e b e d i n g u n g e n für das Asyl, in: A K D 10. In der Regel wurden die Frauen v o m Anstaltsgeistlichen oder -direkter an das Asyl vermittelt. Es k a m nur selten vor, daß sich Frauen aufgrund ihrer Notlage selbst an das Asyl wandten (siehe etwa die Bittschrift einer ehemaligen Insassin v. 8.4.1846, in: A K D 10). 597

Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1860-1861/28, S. 4. A K D 10: A u f n a h m e b e d i n g u n g e n für das Asyl. Diese Regelung w u r d e A n f a n g der 1870er Jahre aufgeweicht. Allerdings verzeichnete das Asyl zu diesem Zeitpunkt auch einen spürbaren Rückgang an Insassinnen (Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1871-1872/40, S. 2 u. 1872-1873/41, S. 6). 598

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der Hauptmahlzeit."599 Mit den Jahren kamen weitere Bestrafungsmethoden wie „Entzug der Sonntagsfreuden" und Isolierung hinzu.600 Die Parallelen zur Gefangnisdisziplin sind also deutlich zu erkennen. Das Asyl war explizit nicht nur als eine Versorgungsstation fur entlassene Frauen für die Zeit gedacht, bis sie Arbeit oder eine andere Unterkunft gefunden hatten, sondern verlängerte den Erziehungsauftrag, wobei religiös-moralische Strategien vorherrschten. Während anfangs mit einer Aufnahme für drei bis vier Monate gerechnet wurde,601 verwies die Asylverwaltung bereits nach den ersten Jahren auf die Erfahrung, daß die Besserungsarbeit sehr langwierig sei, weshalb die Verweildauer nicht einmal mehr auf ein Jahr beschränkt wurde.602 Regelmäßige Beschäftigung, durchregulierte Hausordnung, beständige Aufsicht und Zucht sowie geistig-religiöse Pflege stellten die aus dem Gefangnisdiskurs bekannten Eckpunkte des Asylkonzepts dar. In den Aufnahmebedingungen für das Asyl heißt es: „Beim Eintritt in die Anstalt haben sie die Papiere, auch die etwa vorhandenen Liebesbriefe, ihr Geld und sonstigen Schmuck abzugeben, und die Haustracht anzulegen. Sie haben sich in die Hausordnung zu fügen, und den vorgesetzten Schwestern unbedingten Gehorsam zu leisten."603 Im Asyl untergebracht und unter ständiger Aufsicht stehend, waren die Frauen weitgehend von der gesellschaftlichen Umwelt abgeschlossen - vom sonntäglichen Kirchgang abgesehen. Der Kontakt mit Angehörigen und Bekannten war wie in den Gefangnissen strikt reguliert.604 Den dreimal wöchentlich stattfindenden Religionsunterricht übernahm Fliedner in den Anfangsjahren selbst,605 und für die Leitung der Anstalt fand er zunächst zwei christlich gesinnte Frauen.606 Mit dem Aufbau der Diakonissenanstalt in Kaiserswerth übernahmen dann langfristig zwei, später bis zu vier Diakonissen die Arbeit im Asyl.607 In abgewandelter Form griff die Kaiserswerther Anstalt außerdem das Klassifizierungsprinzip auf. Für die neuen „Pfleglinge" war eine „ProbeStation" vorgesehen, um ihren Charakter zu Beginn des Aufenthalts genauer einzuschätzen, wobei die Rückfälligen eine gesonderte Klasse bilden sollten.608 Wie beim Klassenprinzip der Gefangnisse sollte die Behandlung der

599

Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1860-1861/28, S. 4. Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1869-1870/37, S. 5. 601 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1833/1, S. 2. 602 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1854-1855/22, S. 2. 603 AKD 10. 604 Die Anstaltsleitung sah sich berechtigt, Briefe an die Insassinnen zurückzuhalten und über Besuche zu entscheiden (Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 18651866/33, S. 4). 605 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1833/1, S. 3. 606 Gerhardt·. Fliedner, Bd. 2, 1937, S. 259 u. 267. 607 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1844-1845/12, S. 3 u. 1854-1855/22, S. 2-3. 608 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1854-1855/22, S. 2. 600

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Anstaltsinsassinnen abgestuft werden: „Sobald sie sich mehr Vertrauen erworben haben, werden sie an Arbeiten gestellt, wo sie weniger unter Aufsicht stehen, damit sie sich allmählig selbst bewachen und beaufsichtigen lernen und an den rechten Gebrauch der Freiheit gewöhnen." 609 Entsprechend genau dokumentierte die Asylvorsteherin das Verhalten der Insassinnen. Aus dem Zeugnis der Gefangnisverwaltung und dem Vermittlungsschreiben der Anstaltsgeistlichen erhielt sie außerdem Informationen über das Betragen während der Haftzeit sowie über die früheren Lebensumstände. 610 Ähnlich wie die Gefangenenseelsorge innerhalb der Gefangnismauern strebten die christlich geführten Asyle an, die Entlassenen zur Selbsterziehung und Selbsterforschung anzuleiten. Nicht selten wurde dies von Ermahnungen begleitet, bei denen der Rückfall in das „Sündenleben" im grellsten religiösen Vokabular geschildert und die Drohung der göttlichen Bestrafung gezielt eingesetzt wurde. 611 In Kaiserswerth hatte sich hierfür ein spezielles Ritual herausgebildet: „Jeden Monat nämlich, meist an einem SonntagAbend, erzählt der Geistliche des Hauses den Pfleglingen im Beisein der Schwestern von den auswärts lebenden, ehemaligen Asylistinnen [...]. So dann werden nach dem, von der vorstehenden Schwester geführten Tagebuche alle Erlebnisse des vergangenen Monats in's Gedächtnis zurückgerufen, die Einzelnen werden an ihr Betragen erinnert und erhalten die nöthigen Ermunterungen und Ermahnungen. Ein Gebet für die Auswärtigen, sowohl die auf dem rechten Wege wandeln, als die Irrenden, für die Pfleglinge des Hauses und die ganze Anstalt macht den Schluß." 612 Ähnlichen monatlichen Selbstprüfungsfragen hatten sich auch die Diakonissen des Kaiserswerther Mutterhauses zu unterziehen. 613 Hatten sich die Frauen während ihres Aufenthalts im Asyl durch regelkonformes Verhalten Vertrauen erworben, übernahm der Anstaltsleiter die Vermittlung einer Arbeits- und Unterkunftsstelle. Für die Arbeitsvermittlung hatte Fliedner klare Prinzipien aufgestellt, die er durch Arbeitsverträge, die dem Arbeitgeber genaue Verpflichtungen auferlegten, zu garantieren suchte. 614 Dem rein sittlich-moralischen Kriminalitätsverständnis entspre609

Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1833/1, S. 3. Vgl. dazu die Insassinnenverzeichnisse, die nach einem festen Raster aufgebaut sind (AKD, Asylchronik, Bd. 1-3). 611 Knochenbrüche und sonstige Unfälle wurden in diesem Zusammenhang als göttliche Strafe für Ungehorsam und andere Verfehlungen dargestellt. Vgl. z.B. Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1856-1857/24, S. 3 - 4 . 612 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1856-1857/24, S. 8. 613 Siehe Käser: Diakonisse, 2006, S. 2 1 7 - 2 1 8 u. 292. 614 Die Arbeitsverträge sahen nicht nur Bestimmungen über Lohn und Arbeitszeit vor, sondern verpflichteten den Arbeitgeber vor allem, die in Dienst Genommene zur Erfüllung ihrer religiösen Pflichten anzuhalten und „sie von äußerlichen sinnlichen Lustbarkeiten zurückzuhalten". Die Verträge legten außerdem fest, daß bei unbefriedigender Leistung die Entlassung nicht erfolgen dürfe, bevor Fliedner oder die Vorsteherin des Asyls informiert worden sei. Sollte die Frau selbst den Dienst quittieren, durfte ihr der Dienstherr Papiere 610

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chend, sollte bei der zukünftigen Arbeitsstelle alles vermieden werden, was die Frauen seiner Meinung nach erneut auf Abwege bringen könnte. Das Schreckensbild der religiösen Reformer, das Wirtshaus, kam als Ort, an dem sexuelle Kontakte angebahnt würden und der „Genußsucht" gefrönt werde, als Arbeitsstelle auf keinen Fall in Frage.615 Aus ähnlichen Gründen wollte Fliedner die Frauen auf dem Land und nicht in größeren Städten unterbringen.616 Nach erfolgreicher Vermittlung versuchte die Anstaltsverwaltung, den weiteren Lebensweg der ehemaligen Asylinsassinnen im Auge zu behalten.617 Die Aufnahmebedingungen legten fest, daß die Frauen noch ein Jahr nach ihrem Austritt aus dem Asyl dem Vorstand „den schuldigen Gehorsam zu leisten [hatten] und keine eigenmächtigen Schritte thun" durften.618 Diese langfristigen Kontrollpläne verdeutlichen, daß die höhere Priorität von Asylen für weibliche Entlassene nicht allein darin begründet war, daß man alleinstehenden Frauen geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt einräumte, sondern vor allem mit dem im Kriminalitätsdiskurs dominierenden Bild der leicht verfuhrbaren, willensschwachen Frau zu erklären ist.619 Bei den Insassinnen der Kaiserswerther Anstalt lassen sich bis in die 1860er Jahre bereits erste Verschiebungen erkennen. Ursprünglich war das Heim nur für wenige Frauen vorgesehen; der erste Jahresbericht zählte zehn Frauen.620 Ähnlich wie in dem von Wichern als Erziehungsanstalt für straffällig gewordene Kinder gegründeten Rauhen Haus bei Hamburg sollte die begrenzte Zahl eine „christliche Familienerziehung" ermöglichen.621 In den 1850er Jahren erhöhte man die Zahl der Insassinnen auf 24.622 Ebenso veränderte sich das Profil der aufgenommenen Frauen. Nachdem Fliedner das Asyl im Kontext der Entlassenenfürsorge der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschaft gegründet hatte, war es zunächst allein für Strafentlassene Frauen vorgesehen. Die ersten Insassinnen kamen aus den rheinischen und westfälischen Strafanstalten und Arbeitshäusern;623 sie waren wegen Delikten wie

und Zeugnis nicht aushändigen, ohne das Asyl darüber zu informieren (AKD 10: Arbeitsvertrag nach der Entlassung - Vordruck). 615 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1840-1841/9, S. 5. 616 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1843-1844/11, S. 2. 617 In nahezu allen Berichten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts lassen sich Einzelschilderungen über den Werdegang ehemaliger Insassinnen des Kaiserswerther Asyls finden. 618 AKD 10: Aufnahmebedingungen für das Asyl. 6,9 Zur vermeintlich besonderen sittlichen Gefahrdung der Frauen nach der Entlassung siehe auch AEK, Gen. 32.8v. 1 : Schreiben des Aachener Anstaltsgeistlichen Mettmann an das Kölner Erzbistum v. 4.6.1855. 620 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1833/1, S. 2. 621 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1840-1841/9, S. 3 ^ . 622 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1858-1859/26, S. 5. 623 Die Mehrzahl der Frauen kam aus der rheinischen Landesarbeitsanstalt Brauweiler. Wichtige Entsendungsorte waren außerdem das Düsseldorfer Gefängnis, das Arbeitshaus Benninghausen sowie das Frauengefangnis Pützchen in Bonn. Auffallend ist die Aufnahme

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Diebstahl, Kindsmord, „Vagabundieren", Prostitution sowie „Verschwendungs- und Trunksucht" eingesperrt worden. 624 Obwohl die Regel galt, nur Frauen aufzunehmen, die bereits in der Haft ihren Willen zur Besserung gezeigt hatten, nahm die Asylleitung immer häufiger weibliche Entlassene auf, die für das religiös-moralische Bekehrungsvorhaben von vornherein eine besondere Herausforderung darstellen mußten. Darunter waren Frauen, die bereits mehrfach Haftstrafen mit vielen Disziplinarstrafen verbüßt hatten, sowie solche, die von den vermittelnden Anstaltsdirektoren selbst „zu den schlechtesten unserer Subjecte" gezählt wurden, sich dann auch nicht freiwillig den Asylregeln unterordneten und entlassen wurden oder selbst aus der Anstalt flüchteten.625 Die Altersspanne der Insassinnen reichte daher von jungen Mädchen bis zu älteren Frauen. 626 Dieses Abweichen von den ursprünglichen Grundsätzen läßt sich lediglich mit den tiefverwurzelten religiösen Bekehrungsmotiven erklären, doch der missionarische Ehrgeiz scheint vergeblich gewesen zu sein: 627 „Mit jedem neuen Jahre, mit jedem neuen Pfleglinge erscheint uns die Aufgabe der Anstalt schwieriger, so tief gesunkenen Geschöpfen, die größtentheils noch im Frühling des Lebens stehen, und doch oft schon bis ins Innerste vom Gift der Sünde durchdrungen sind, eine Genesung zu neuem geistlichem Leben vermitteln zu helfen. Aber mit jedem neuen Jahre, mit jedem neuen Pfleglinge erscheint uns auch diese Aufgabe als eine heiligere Pflicht. Sind es doch alle verirrte Schafe, von denen der gute Hirte nicht will, daß auch nur eines verloren geht." 628 Seit den 1840er Jahren kamen zu den aus der Haft entlassenen Frauen immer häufiger solche, die von Eltern, Verwandten oder Geistlichen geschickt wurden, weil sie sich nicht in ihre soziale Umgebung eingepaßt hatten - „liederlicher Lebenswandel", „Leichtsinn", „Eitelkeit", „Arbeitsscheu", „Widerspenstigkeit", „Verwahrlosung" und „Trunkenheit" waren die üblichen Bevern Frauen aus weiter entfernten Gefängnissen wie den Anstalten in Frankfurt und Osnabrück (vgl. dazu A K D , Asylchronik: Verzeichnisse, Bd. 1-3). 624

Für den Zeitraum von 1843 bis 1856 war die Mehrheit der 276 verzeichneten Frauen wegen „Unzucht", Bettelei, Landstreicherei oder Diebstahl verurteilt worden. Drei Kindsmörderinnen und vier Frauen, die Strafen wegen Hehlerei und Prellerei verbüßt hatten, bildeten hier eher die Ausnahme (AKD, Asylchronik: Verzeichnisse, Bd. 1 ). 625 A K D 10: Schreiben des Brauweiler Anstaltspfarrers Rommel mit einem Kommentar des Anstaltsdirektors Ristelhueber v. 15.11.1836. Vgl. dazu insgesamt die Korrespondenz zur Vermittlung der einzelnen Frauen in: A K D 10 sowie z.B. die geschilderten Einzelfalle in: Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1835/3, S. 3 u. 1838/5, S. 1-2. 626 Aus dem Bericht über die Jahre 1838/1839 geht hervor, daß dem Asyl damals Insassinnen im Alter zwischen 15 und 47 Jahren angehörten. Vgl. Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1838-1839/6, S. 3. 627 In den Anfangsjahren, bevor das Kaiserswerther Asyl existierte, hatten rheinische Hilfsvereine in Absprache mit den Bezirksregierungen dafür gesorgt, daß diejenigen Frauen, die als Problemfalle galten, gegen Kostgeld ins Brauweiler Arbeitshaus eingewiesen wurden (Schreiben der RWGG an den Brauweiler Anstaltsdirektor Ristelhueber v. 12.5.1830). 628 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1838-1839/6, S. 1.

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gründungen.629 Dahinter standen nicht zuletzt Kostenerwägungen, denn die privat zugeführten Mädchen und Frauen brachten Kostgelder ein, während für die Unterbringung der aus der Haft entlassenen Frauen die RheinischWestfälische Gefängnisgesellschaft beziehungsweise ihre Hilfsvereine aufkommen mußten.630 Der Gegenwert für die Handarbeiten und die Früchte der Gartenarbeit der Frauen, die anfangs verkauft wurden, reichte bei weitem nicht aus, um die Kosten des Asyls zu decken.631 Neben einzelnen Spenden darunter auch Schenkungen der Gemahlin des preußischen Prinzen Wilhelm 1835 und 1836 - finanzierte sich das Asyl in den ersten Jahren durch eine Lotterie sowie durch den Verkauf von Fliedners Predigttexten.632 Zusätzlich erhielt die Einrichtung auch Zuschüsse von Behörden, so etwa aus dem „Polizei-Strafgelder-Fonds" der Düsseldorfer Regierung.633 Schließlich verhandelte die Gefangnisgesellschaft mit den Armenverwaltungen, die teilweise ein Drittel der Kosten fur die Unterbringung der Entlassenen im Asyl übernahmen.634 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelte sich jedoch das Asyl fur entlassene weibliche Strafgefangene nach und nach zu einer privaten Erziehungs- und Besserungsanstalt. Daß die Finanzierung einer solchen Anstalt sehr schwierig war, zeigte das katholische Pendant, das auf Betreiben der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft auf das evangelische Asyl folgte. Es wurde in Kaiserswerth im Mai 1836 eröffnet und nahm im ersten Jahr 15 Frauen aus den Anstalten in Werden, Brauweiler, Benninghausen und Düsseldorf auf.635 Doch bereits 1839 mußte das Asyl trotz Spendenaufrufen der katholischen Kirche wegen Verschuldung geschlossen werden.636 Kurz darauf folgte eine zweite Gründung - dieses Mal in Ratingen. Dieses Asyl beschränkte sich wie die Kaiserswerther Anstalt bald nicht mehr nur auf die Aufnahme von Frauen, die aus Strafanstalten und Arbeitshäusern kamen.637 Doch die Finanzierung erwies sich erneut als problematisch, und das Innenministerium erschwerte Versu-

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Vgl. insgesamt die Verzeichnisse, in: AKD, Asylchronik. Siehe AKD, Asylchronik: Verzeichnisse, Bd. 2. 631 Vgl. die Ein- und Ausgaben, in: Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1833/1, S. 4-6. 632 Siehe insgesamt AKD 10. 633 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1858-1859/26, S. 5. 634 JB RWGG 1858-1859/32, S. 11. 635 JB RWGG 1837/10, S. 41. Im überwiegend katholischen Frankreich entstand nach Angaben von Julius erst 1842 ein erstes „Zufluchthaus fur entlassene weibliche Gefangene" - das Haus Wüste Nazareth wurde von den Josephinerinnen geleitet (Art. „Die Frauen als Gefangene", in: Jahrbücher der Gefangniskunde und Besserungsanstalten 1846/6, S. 382^102, hier S. 399^100). 636 Das Erzbistum hatte Kirchenkollekten für diesen Zweck genehmigt und die Pfarrer angewiesen, für das Asyl Spenden zu sammeln (AEK, CR 27. 5,1 : Rundschreiben des Kölner Erzbischofs v. 8.10.1836). 637 JB RWGG 1840/13, S. 25-27. 630

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che, die Lage durch Spenden zu bessern. 638 Nach zehn Jahren schloß auch das zweite katholische Asyl wegen Verschuldung. 639 Die seit Mitte der 1850er Jahre zunehmenden konfessionellen Spannungen scheinen weitere Asylgründungen verhindert zu haben. In Aachen ging der besonders engagierte katholische Gefängnisgeistliche Mettmann statt dessen eigene Wege. Prostituierte, „welche mit ihrem früheren Lasterleben brechen" wollten, schickte er ins dortige Kloster „Zum guten Hirten", wo ein katholischer Orden sich in der sogenannten Magdalenenfürsorge engagierte. Für andere Frauen, die nach der Entlassung kein Unterkommen fanden, richtete Mettmann im Aachener Dominikanerkloster ein aus zwei Zimmern bestehendes „Asyl" ein, das den Franziskanerinnen unterstellt war.640 Dies blieben jedoch vereinzelte Aktionen mit begrenzter Kapazität. Die Asylfursorge erwies sich insgesamt als schwieriges Unterfangen; dies bestätigen auch die Bemühungen in anderen Provinzen und deutschen Staaten. 641 Innerhalb der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschaft wurde erst 1849 ein erneuter Versuch unternommen. Als Antwort auf die sozio-ökonomischen Krisen vor und im Gefolge der 1848er Revolution, die eine Vermittlung der Entlassenen erschwerten, sah der Vereinsausschuß nun auch die Notwendigkeit, ein Asyl für Männer zu errichten, 642 das von der Elberfelder Tochtergesellschaft 1849 gegründet und vom dortigen Gefängnisgeistlichen und einem angestellten Hausvater geleitet wurde. 643 In Zusammenarbeit mit der Duisburger Diakonen-Anstalt und mit Zuschüssen des Provinzialausschusses der Inneren Mission in Langenberg gründete die Muttergesellschaft kurze Zeit darauf das „Asyl für erwachsene Verwahrloste männlichen Geschlechts zu L i n t o r f , das für Strafentlassene sowie „sittlich verkommene Individuen" konzipiert war.644 Beide Einrichtungen ähnelten den Asylen fur Frauen: Hausordnung mit genauen Verhaltensregeln und festgelegtem Tagesablauf, Ideal der Familienorganisation sowie religiöse Anstaltsleitung. Im Gegensatz zu den Frauen, die hauptsächlich mit Haus- und Gartenarbeit beschäftigt wurden, lag der Schwerpunkt in den Asylen für Männer allerdings auf Feldarbeit und hand638

Siehe die entsprechende Korrespondenz mit den Behörden, in: LHK, Best. 403, Nr. 883, Bl. 1-3. 639 JB RWGG 1849/22, S 4-5. 640 AEK, Gen. 32.8.v. 1: Schreiben Mettmanns an das Kölner Erzbistum v. 4.6.1855. Siehe auch die Information über das Aachener Asyl, in: JB RWGG 1856/29, S . U . 641 Zu Württemberg vgl. etwa Sauer. Im Namen des Königs, 1984, S. 234-237. Selbst das Berliner Männerasyl mußte trotz Unterstützung aus höchsten Regierungskreisen aus ökonomischen Gründen schließen (vgl. die entsprechende Korrespondenz des Zivilkabinetts vom Jahr 1839 bis 1857, in: GStA PK, I. Rep. 89, Nr. 12627). 642 Es ist auffallend, wie wenig die Entlassenenfürsorge im Zuge der sozio-ökonomischen Krisen der 1830er und 1840er Jahre diskutiert wurde. Dies mag vom damals vorherrschenden sittlich-moralischen Kriminalitätsverständnis herrühren. 643 JB RWGG 1850/23, S. 47^18. 644 JB RWGG 1851/24, S. 44.

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werklicher Tätigkeit. Das Lintorfer Asyl hatte hierfür - analog zu den Strafanstalten - einen Werkmeister angestellt. Daneben läßt sich noch eine andere geschlechtsspezifische Differenz an den Hausordnungen ablesen: Im Unterschied zu den Frauenasylen, bei denen die Reglements insbesondere die „Putzsucht" als spezifisch weibliches Laster unterbinden sollten, stand bei den Männerasylen das Alkoholverbot und damit das kriminalpolitische Ziel der Bekämpfung des Alkoholismus im Vordergrund. Da die Aufnahme, wie im Fall des Lintorfer Asyls, für mindestens ein Jahr vorgesehen war, ging es auch hier vorrangig um Disziplinierung und weniger um eine existentielle Hilfe nach der Entlassung. 645 Während die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft mit Kaiserswerth und Lintorf bereits früh zwei - allerdings nur für evangelische Entlassene vorgesehene - Einrichtungen initiiert hatte, begann die große Gründungswelle von Asylen und Übergangsheimen in Deutschland wie in anderen europäischen Staaten erst ab den 1860er Jahren. Die Mehrzahl der größeren Gefängnis- beziehungsweise Entlassenenvereine eröffnete in den folgenden Jahren eigene Heime. 646 Mit den größeren, vorrangig auf eine agrarische Bewirtschaftung ausgerichteten Arbeiterkolonien kam Ende des Jahrhunderts eine weitere Form der Anstaltsunterbringung für Entlassene hinzu, die jedoch schon in der ersten Jahrhunderthälfte angedacht und in der holländischen und belgischen Armenfürsorge erprobt worden war. 647 Mit der Anstaltsfürsorge sowie der individuellen Familien- und Entlassenenfürsorge hatten sich bis 1860 also die Grundformen der Gefangenenfürsorge außerhalb der Strafanstalt herausgebildet. Im Vergleich zur Gefangnisseelsorge war diese Entwicklung jedoch von vornherein von weitaus kritischeren Stimmen begleitet. Während bei der Gefangenenseelsorge zwar Umfang und Einbettung in das Besserungssystem umstritten waren, stand ihre Wirksamkeit nie in dem Maße zur Diskussion wie die der Entlassenenfürsorge. Als Teil eines zusammenhängenden Disziplinierungsprojekts mit ineinandergreifenden Instrumenten und Techniken ließ sich die seelsorgerische Erfolgsbilanz kaum isoliert bewerten. Bei der Entlassenenfürsorge dagegen traten die Mißerfolge klarer zu Tage: Die Rückfallquote war ein direkt ablesbarer Erfolgsindikator. Die Zahl der Vereine, ihre regionale Ausbreitung und ihre Mitgliederstärke boten daneben einen leicht interpretierbaren Maßstab für die Bereitschaft der Bevölkerung, an der Entlassenenfürsorge mitzuwirken. 648 Ohne daß in dieser 645

JB RWGG 1851/24, S. 43-52 u. 1850/23, S. 45-48. Zur Bestandsaufnahme von Asylen und Übergangsheimen der europäischen Entlassenenfürsorge siehe insgesamt Fuchs: Vereinsfursorge, 1888. 647 Vgl. dazu z.B. Julius: Gutachten, 1846. Julius selbst äußerte in seinem Gutachten Bedenken gegenüber solchen Einrichtungen, da er die gemeinschaftliche Unterbringung wegen der moralischen Ansteckungsgefahr ablehnte. 648 Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Die Behandlung der Verbrecher in den Gefängnissen und der entlassenen Sträflinge, Referat und Schlußwort zur Diskussion auf dem fünften deutschen evangelischen Kirchentag (1852), S. 31^19, hier S. 43. 646

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Zeit umfassende, überregionale Berechnungen angestellt wurden, in denen die jährliche Zahl der betreuten Entlassenen in Relation zur Gesamtzahl der entlassenen Strafgefangenen gesetzt oder eine additive Bilanz der Gefängnisvereine erstellt worden wäre,649 sahen sich die Hilfsvereine und Gefangnisgesellschaften recht schnell mit den Mißerfolgen der Entlassenenflirsorge konfrontiert. In der Forschungsliteratur zur Geschichte des Strafanstaltswesens wird die Wirksamkeit der Gefangnisvereine unter Hinweis auf ihre begrenzte Ausbreitung und geringe Finanzkraft zu Recht als gering eingeschätzt.650 Als zentrales Problem der Entlassenenflirsorge erwies sich allerdings der aus der Vereinsgeschichte ablesbare Mangel an Bereitschaft weiterer Bevölkerungskreise, den entlassenen Gefangenen Arbeit und Unterkunft zu bieten. Die Vereine schafften es nicht, die Stigmatisierung der Entlassenen überwinden zu helfen.651 Im Gegenteil: Die bevormundende und kontrollierende Fürsorge der Vereine verfestigten letztlich mehr die Vorurteile gegenüber den Entlassenen als daß sie Abhilfe schuf.652 Die behördliche Polizeiaufsicht, die Dirk Blasius als Primat der „repressiven Strategie der Verbrechenskontrolle" interpretiert, erschwerte die gesellschaftliche Rückkehr der Verurteilten zusätzlich.653 Viele der angesprochenen Probleme wurden auch in den Fürsorgevereinen thematisiert; die Mißerfolge konnten nicht ignoriert werden.654 Aus den Befunden zogen die Protagonisten allerdings ganz andere Schlüsse. Zuallererst zweifelten die für die Fürsorge Verantwortlichen am Willen der unterstützten

649

Während man für die Modellanstalt Moabit versuchte, die Rückfalligenzahlen als Beweis für den Erfolg des Einzelhaftsystems systematisch zu sammeln, fehlte für ganz Preußen eine vergleichbare Datenerhebung. Aber selbst für die Berliner Anstalt bereitete die statistische Erhebungen Probleme, da den Entlassenen häufig nachrecherchiert werden mußte und dadurch die gesellschaftliche Integration der Gefangenen gestört wurde: Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Die neue Strafanstalt spez. das Zellengefängnis (zu Moabit) in Berlin (1861), S. 192-268, hier S. 256-257. 650 Blasius: Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität, 1976, S. 84-85 u. Berger. Konstante Repression, 1974, S. 122-123. Vgl. auch Recklies-Dahlmann·. Religion und Bildung, Arbeit und Fürsorge, 2001, S. 222, die jedoch auch die Gefangenen selbst dafür verantwortlich macht, daß sie keine Unterstützung erhielten. Sie übernimmt unkritisch die Sichtweise der Vereine, indem sie erklärt, daß „einige Gefangene nicht bereit waren, sich auf den Weg der Besserung zu begeben" (ebd.). 651 Siehe auch Recklies-Dahlmann·. Religion und Bildung, Arbeit und Fürsorge, 2001, S. 222 u. Berger: Konstante Repression, 1974, S. 115. 652 Berger. Konstante Repression, 1974, S. 123. 653 Blasius: Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität, 1976, S. 72. Blasius bezieht sich hier auf die Maßnahme „Detention bis zum Nachweis eines ehrlichen Erwerbs respective bis zur Besserung", die erst 1832 im Zuge der überfüllten Gefängnisse aufgeweicht wurde, sowie auf die restriktive Polizeiaufsicht (vgl. insgesamt ebd., S. 75-78). 654 Anläßlich der vielen Klagen der Hilfsvereine widmete die RWGG die Jahresversammlung 1858 diesem Thema (JB RWGG 1857-1858/31, S. 4 3 ^ 8 ) .

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Entlassenen, sich zu ändern. 655 Insbesondere die Asyle berichteten wiederholt über Rückfalle, entflohene Insassen und die Entlassung von Personen, die als „unverbesserlich" eingestuft wurden. 656 Der Verweis auf das ungelöste Problem der „Schule des Verbrechens" diente als Entlastungsargument für die Vereine. Sowohl die ihrer Meinung nach häufig mangelhafte Klassifizierung als auch die vernachlässigte gewerbliche Ausbildung führten die Gefangnisgesellschaften als Ursachen für die Probleme an. 657 „Man darf wohl auf allgemeine Zustimmung rechnen, wenn man behauptet, daß die meisten deutschen Besserungsvereine erst alsdann ihre wahre Bedeutung erhalten, wenn die Strafanstalten keine Verschlechterungsvereine mehr sein werden." 658 Die Vereine kritisierten außerdem die lokalen Behörden, die trotz entsprechender Anweisungen nur selten Verantwortung für den Entlassenen übernähmen. Insbesondere in Baden, wo die Vereinsarbeit schon bald zum Erliegen kam, richtete sich der Blick auf die behördlichen Mißstände. 659 Aber auch dort, wo Vereine vorhanden waren, gab es Klagen darüber, daß die Behörden ihren Pflichten wie der Verwaltung der Arbeitsprämien nicht nachkämen, die Kontrolle der Entlassenen als lästige Pflicht ansähen und ihre Funktion daher nicht mit dem nötigen Nachdruck erfüllten, was die private Fürsorge erschwere. 660 Nur in begrenztem Maße traf die Kritik die Vereinsfursorge. Ein Problem sahen die Gefangnisreformer im Prinzip der Freiwilligkeit der Entlassenenfiirsorge, und zwar sowohl in bezug auf das Engagement der Vereine als auch hinsichtlich der Inanspruchnahme durch die Gefangenen selbst. Die bereits in den 1840er und 1850er Jahren erkennbare mangelnde Bereitschaft der wohlhabenden Gesellschaftsschichten, in den Fürsorgeorganisationen mitzuwirken oder diese finanziell zu unterstützen, hatte das Dilemma der gesellschaftlichstaatlichen Arbeitsteilung offengelegt. Um staatlicherseits das Besserungsziel innerhalb und außerhalb der Anstaltsmauern positiv zu befördern, dürfe es „nicht dem Zufall überlassen bleiben, ob sich freiwillige Hülfe leistende Ver-

655

JB RWGG 1832/5, S. 19. Zur Klage der badischen Vereine über die Mißerfolge vgl. Müller. Entlassenenfiirsorge in Baden, 1964, S. 89 u. Wingler. Gefangenenfursorge in Baden, 1932, S. 13. 656 Siehe z.B. JB RWGG 1848/21, S. 31-32; Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1833/1, S. 3; 1834/2, S. 3; 1853/3, S. 3-4 sowie 1838/5, S. 2. 657 JB RWGG 1857-1858/31, S. 44^15; Wichern·. Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Gutachten an den CA fur die Innere Mission über die Aufgaben der Gefangnisreform (1851), S. 26-28, hier S. 28 sowie Denkschrift über die Einzelhaft (1861), S. 279-302, hier S. 279; zu Baden vgl. Müller: Entlassenenfiirsorge in Baden, 1964, S. 141. 658 Nöllner: Bemerkungen, 1843, S. 305. 659 Müller. Entlassenenfiirsorge in Baden, 1964, S. 209 u. Haenelh Gefängniskunde, 1866, S. 185. 660 AEK, CR 27.5,1: Schreiben des Aachener Anstaltseelsorgers Mettmann an das Kölner Erzbistum v. 10.11.1858.

2.4 Traditionsbildung der Bekehrungsinstrumente

155

eine bilden". 661 Innerhalb der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft schlug der Strafanstaltsgeistliche Schultze vor, einen „Pflegerberuf' einzuführen, der „behördlich und kirchlich eingebunden sein" und mit klaren Instruktionen versehen werden müßte. 662 Hiermit war bereits ganz allgemein die Frage nach der sozialen Verantwortung des Staates angeschnitten, wie sie später im Kaiserreich aktuell werden sollte. Die ersten Jahrzehnte der Entlassenenfiirsorge hatten außerdem gezeigt, daß die Gefangenen die Fürsorgemaßnahmen nur sehr selten überhaupt in Anspruch nahmen. 663 Die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft reagierte mit gezielter Informationspolitik über die vorhandenen Hilfsvereine in Form eines Auskunftsblattes. 664 Während die geringe Resonanz in Düsseldorf vor allem als Vermittlungsproblem galt, kam man in Baden zu ganz anderen Schlüssen. Die Verwaltung der Bruchsaler Modellanstalt sah darin eine Ablehnung der bevormundenden Vereinsmaßnahmen sowie ein großes Mißtrauen der Gefangenen gegenüber den sogenannten Schutzvereinen. 665 Die Vertreter des badischen Justizministeriums waren überzeugt, daß sich die Straffälligen in Freiheit nicht weiteren Kontrollmaßnahmen unterwerfen wollten, schrieben dies allerdings hauptsächlich der Unkenntnis über die eigentliche Vereinsarbeit zu. 666 Lediglich Ludwig von Jagemann, der Gefängnisbeauftragte im badischen Justizministerium, warnte vor einer zu großen Bevormundung durch die Fürsorgevereine. Die Entlassenenfiirsorge solle primär zur Selbsthilfe anleiten und sich auf die materielle Unterstützung nach der Entlassung beschränken, ohne zu einem Versorgungsinstitut zu werden. Die fortgeführte Disziplinierung der Entlassenen sei dagegen keine Aufgabe der privaten Fürsorgevereine. 667 661

Nöilner: Bemerkungen, 1843, S. 312. Ähnlich auch das Gutachten des Direktors der Brauweiler Arbeitsanstalt Ristelhueber in: GStA PK, 1. Rep. 89, Nr. 18597: Mein Beitrag zur Organisation des Gefängniswesens im Preußischen Staate, Brauweiler, den 15.5.1841, Bl. 19v-61r, hier Bl. 31v-32v. Ristelhueber wollte die Fürsorge unter dem Dach der Landesbehörden organisieren und außerdem durch disziplinarische Mittel eine stärkere Mitarbeit der Beamten erreichen sowie durch Auszeichnungen Anreize für das private Engagement schaffen. Siehe auch die Bemerkung von Haenell, die Vereine könnten nur ein „Notbehelf sein (Haenell: Gefängniskunde, 1866, S. 185). Wichern glaubte, daß mit einer zentralen Verwaltung des Gefängniswesens auch die Vereine gezielter gefordert werden könnten: Wiehern·. Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Gutachten über den Ressortdualismus und zur Reorganisation der Verwaltung des Gefängniswesens (1868), S. 366-371, hier S. 370. 662 JB RWGG 1857-1858/31, S. 48. 663 JB RWGG 1851/24, S. 2. 664 JB RWGG 1858-1859/32, S. 9. 665 Vgl. dazu Müller. Entlassenenfiirsorge in Baden, 1964, S. 193. Wiehern sprach ebenfalls die Ablehnung der Entlassenenfiirsorge durch die Gefangenen an: Wiehern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Die neue Strafanstalt spez. das Zellengefängnis (zu Moabit) in Berlin ( 1861 ), S. 192-268, hier S. 256. 666 Siehe hierzu Wingler. Gefangenenfürsorge in Baden, 1932, S. 26. 667 Vgl. dazu Fasoli·. Strafverfahrensrecht, 1985, S. 184-185.

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2 Die Anfange der Straffalligenfiïrsorge ( 1777-1861 )

Insgesamt zeigen diese Debatten über die Mißerfolge der Fürsorge, daß die Konzeptionalisierung der Besserungsstrategien immer zugleich von einer diskursiven Verarbeitung der auftretenden Probleme begleitet war. Infolge der im Gefangnisdiskurs aufgebauten Erwartungen stand das Besserungsprojekt wiederholt auf dem Prüfstand. Die Planung erforderte interpretierbare Prognosen und Einschätzungen über die „Besserungsfahigkeit" der Gefangenen sowie über Potential und Reichweite der auf sie angewendeten Maßnahmen. Im folgenden, letzten Unterabschnitt dieses Kapitels sollen daher die diskursiven Logiken von Erfahrungswahrnehmung und -Verwertung sowie das Aushandeln von Machbarkeiten anhand von drei für die Strafíalligenfürsorge zentralen Problemkreisen genauer analysiert werden.

2.5 Christliche Besserungsutopien und ihre Grenzen Das Scheitern christlicher Versöhnungspraktiken Der Gefangnisreformdiskurs war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts von der Suche nach dem effektivsten Strafsystem bestimmt. Dagegen spielte die Diskussion um die Entlassenenfursorge nicht zuletzt aufgrund der geringen bürgerlichen Resonanz eine vergleichsweise marginale Rolle. Infolge der sichtbaren Krise der Gefängnis- und Schutzvereine für entlassene Strafgefangene schienen in den 1850er Jahren vielerorts alle Hoffnungen auf eine konfessionelle Lösung für diesen sehr speziellen Fürsorgebereich gesetzt zu werden, die auf dem Idealbild einer lebendigen christlichen Gemeinde, angeleitet von einem für alle wichtigen Fragen der Lebensführung kundigen Seelsorger, aufbaute. Zugleich geriet die interkonfessionelle Zusammenarbeit der ersten Gefangnisvereine zunehmend in Kritik.668 Die kirchlichen Behörden, ihre lokalen Vertreter sowie religiöse Organisationen sollten sich daher nach Meinung der Gefángnisreformer stärker am Prozeß der Wiedereingliederung der Gefangenen beteiligen. Auf katholischer Seite begannen Gefängnisgeistliche, wie beispielsweise in Aachen, Ordenskongregationen für die Entlassenenfursorge heranzuziehen. Auf evangelischer Seite versuchte die Innere Mission unter Führung Wicherns, die Gefangenen- und Entlassenenfursorge zur Pflicht jeder christlichen Gemeinde zu erheben und damit auch den Blick der oberen

668

Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Die Behandlung der Verbrecher in den Gefängnissen und der entlassenen Sträflinge. Referat und Schlußwort zur Diskussion auf dem fünften deutschen evangelischen Kirchentag (1852), S. 30-49, hier S. 47; Gutachtlicher Bericht von Pfarrer Scholl an das Koblenzer Konsistorium v. 31.10.1851, in: EZA, Best. 7, Nr. 1688, Bl. 51v-102v, hier Bl. 56v-r. Siehe außerdem den Aufruf der Rheinischen Provinzialsynode zur Gründung von evangelischen Gefangnisvereinen (Verhandlungen der sechsten Rheinischen Provinzial-Synode, 1849, S. 162).

2.5 Christliche Besserungsutopien und ihre Grenzen

157

Kirchenbehörden stärker auf diesen Bereich zu lenken. 669 Die Gemeinden, so die Argumentation, brächten mehr Kräfte auf als die vereinzelt gegründeten Vereine. 670 Doch diese Kraft der christlichen Gemeinden war mehr ein Wunsch der religiösen Erneuerungsbewegungen denn tatsächliche Realität, auf die man eine effektive Straffalligenfursorge hätte aufbauen können. Den Klagen über abnehmende Religiosität, die gerade unter den christlichphilanthropisch orientierten Vertretern der Gefangnisreform als zentrales Krisenphänomen und Ursache der zunehmenden StrafFälligkeit galt, standen im 19. Jahrhundert Versuche einer Rechristianisierung gegenüber. Das pastoraltheologische Konzept eines für nahezu alle Lebensbereiche kompetenten Seelsorgers war integraler Bestandteil dieser „inneren" Missionierung, dem in evangelischer Perspektive das Idealbild einer festgefugten christlichen Gemeinde zur Seite gestellt war. Die historische Forschung hat hierfür insbesondere mit Blick auf das Kaiserreich - den Begriff des „Milieumanagers" geprägt. Sowohl die staatlichen als auch die kirchlichen Anweisungen für die Heimatgeistlichen verdeutlichen, was von den Seelsorger bei der Gefangenen- und Entlassenfursorge erwartet wurde: Sie sollten nicht nur mit allen Mitgliedern ihrer Gemeinde persönlich vertraut sein, sondern auch mit den Verurteilten unter ihnen während der Haft Kontakt halten und ihnen nach verbüßter Strafe mit pastoraler Autorität wieder den Weg zurück in ein sittliches und gesetzestreues Leben weisen. 671 Die evangelischen Vorschläge zur Gefangenenfürsorge nahmen neben dem Ortsgeistlichen aber auch die Heimatgemeinde in die Pflicht. 672 Entsprechende Aufrufe wurden nicht allein mit dem allgemeinen Gebot der christlichen Nächstenliebe und der Vorstellung der Sündergemeinschaft begründet, 673 sondern auch mit dem Hinweis auf die Gefangenenbesuche während der antiken Christenverfolgungen unterstrichen. 674 Bereits die von Elizabeth 669

Siehe z.B. Schreiben des CA an den EOK v. 6.2.1851, mit dem fur die Gefangenenfrage geworben wurde (in: EZA, Best. 7, Nr. 1688). Das verstärkte Engagement des EOK ließ sich nicht zuletzt auf Wichems Initiativen zurückfuhren, der dort von 1857 bis 1874 Oberkonsistorialrat war. Vgl. dazu auch Gerhardt: Innere Mission, Bd. 1, 1948, S. 147-148. 670 Haenelt Gefängniskunde, 1866, S. 186. 671 Die Generalversammlung der RWGG forderte z.B. von den Konsistorien und Provinzialsynoden, die Pfarrer anzuweisen, ihre verurteilten Gemeindemitglieder mindestens einmal im Jahr im Gefängnis zu besuchen (JB RWGG 1853/26, S. 3). Vgl. außerdem Griesemann: Seelsorge, 1855, S. 19. 672 Unter der Losung „Wir müssen unseres Bruders Hüter sein" wies das Münsteraner Konsistorium seine Presbyterien an, sich der Entlassenen, Gefangenen und ihrer Familien anzunehmen und zugleich vorbeugend „Müßiggang", „Trunksucht", Spiel und anderen Lastern entgegenzutreten (Abschrift des Rundschreibens v. 1.5.1854, in: EZA, Best. 7, Nr. 1689, Bl. 25v-26r, hier Bl. 25v). 673 EZA, Best. 7, Nr. 1688: Schreiben des CA an den EOK v. 18.5.1853, Bl. 148v-155v, hier Bl. 151 v-r. 674 Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Die Gefangenenfrage im Lichte der Geschichte und des Evangeliums (1857), S. 85-100 u. Moll: Besserung, 1841, S. 4.

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2 Die Anfange der Straffalligenfìirsorge (1777-1861)

Fry umgesetzte Idee der Besuchervereine sah vor, daß engagierte Laien den Gefangenen religiösen Zuspruch leisten sollten. Die „durch freiwilligen Zuspruch vermittelte Gemütspflege" sollte die seelsorgerischen Bemühungen des Anstaltsgeistlichen unterstützen. Aufgrund des rein privaten Charakters wurde sie darüber hinaus als gesellschaftliche Versöhnungsgeste verstanden.675 Vom Ideal der christlichen Gemeinschaft geleitet, suchte man nach Möglichkeiten, zwischen Gefangenen und Gemeinde zu vermitteln, um so zu verhindern, daß die Entlassenen später ausgegrenzt wurden, wie es Wichern besonders prägnant formulierte: „Noch markierter würde der Entschluß der Kirche, den Gefangenen das Herz der christlichen Gemeinde zu erschließen und die Gemeinde in eine lebensvolle Beziehung zu ihnen, den Gefangenen, zu setzen, hervortreten, wenn auch die Gefängnisgeistlichen an den größeren und kleineren Strafhäusern beauftragt würden, jährlich einmal oder einige Male in öffentlichen Predigten ein Zeugnis des Lebens abzulegen, das in ihnen in den ernsten und schweren Erfahrungen der Seelsorge unter den Züchtlingen geboren sein muß. Die Gefangnisse und seelsorgerischen Gefängniserfahrungen enthalten in sich einen Teil des wirklichen Sündenlebens im Volk, das dem wirklichen Gemeindeleben am wenigsten ferngehalten, sondern recht nahegebracht werden sollte, damit die Gemeinden sich recht erkennen und darin zugleich das rechte Erbarmen mit den Gefangenen lernten. Und wer könnte hier besser Dolmetscher sein als der Gefängnisgeistliche, und wer ein besserer Advokat und Fürsprecher der Gefangenen bei der Gemeinde als wiederum er, und wer überhaupt außer ihm könnte wiederum das Zeugnis der Gemeinde an die Gefangenen vermitteln und so der christlichen Gemeinschaft zwischen denen, die drinnen und denen die draußen sind, einen lebendigen wirksamen Ausdruck geben?"676 Nach dem Vorbild der Inneren Mission schuf die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft 1857 die Stelle eines Vereinsagenten, die zunächst an den Seelsorgerposten in der Düsseldorfer Strafanstalt gebunden war, und schlug damit einen professionellen Weg ein, um für die Gefangenenfursorge in den Gemeinden zu werben.677 Des weiteren war vorgesehen, an diese Form der Fürsprache, mit der sich zugleich auch eine erzieherische Funktion für die Gemeinde selbst verband, religiöse Rituale wie sonntägliche Fürbitten für die Gefangenen sowie Gottesdienste anzuschließen, durch die der entlassene Gefangene in einer feierlichen Zeremonie wieder in die Gemeinde aufgenom-

675

Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Vorschläge zur Regulierung des privaten Besuchs bei Strafgefangenen (1855), S. 77-79, hier S. 77. 676 Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Die Behandlung der Verbrecher in den Gefängnissen und der entlassenen Sträflinge. Referat und Schlußwort zur Diskussion auf dem fünften deutschen evangelischen Kirchentag (1852), S. 30-49, hier S. 39. 677 Zur Agentenstelle siehe die längere Diskussion in: JB RWGG 1848/21, S. 27-28; 1854/27, S. 2-3 u. 1856/29, S. 4.

2.5 Christliche Besserungsutopien und ihre Grenzen

159

men werden sollte. 678 „Das Bußtagsgebet gedenkt der ,unschuldig' Gefangenen, - aber der .schuldigen' gedenkt es nicht; auch dieses schließt sie aus, wie die Gesellschaft es bis daher gethan, fur die schuldigen hat sie kein Herz, keine Bitte, keine Fürbitte." 679 Die rheinische Provinzialsynode hatte bereits 1849 Anträge ihrer Kommission für Innere Mission angenommen, die Pfarrer entsprechend zu instruieren. 680 1867 folgten weitere Bestimmungen, die die Heimatgemeinden anwiesen, Vertreter zu den Versammlungen der RheinischWestfälischen Gefangnisgesellschaft zu entsenden, um die Zusammenarbeit zu verbessern. 681 Nach Vorschlägen Wicherns sollten die Ortsgeistlichen sogar von der Kirche amtlich zur Fürsorge gegenüber den Entlassenen verpflichtet werden: „Die Kirche würde so recht eigentlich das Asyl fur die entlassenen Sträflinge, der Herr der Kirche selbst ihr Schutzherr und seine Gemeinde die Fürsprecherin bei der bürgerlichen Kommune." 682 All diese Vorschläge, die seit den 1850er Jahren verstärkt diskutiert und teilweise auch erprobt wurden, waren bereits Reaktionen auf die mangelnde gesellschaftliche Resonanz, mit der sich die Gefangnisgesellschaften und Fürsorgevereine in der ersten Jahrhunderthälfte konfrontiert sahen. Sie gründeten auf dem beobachteten Versagen der Gemeindemitglieder, die durch ihr „Verstoßen die Verbrecher wieder in das Gefängnis zurücktreiben" würden. 683 Soweit die verschiedenen Vereinsberichte verdeutlichen, hatten Privatbesuche von Mitgliedern der Heimatgemeinden oder der Vereine, außerhalb konkreter Maßnahmen der Entlassenenfursorge, in den deutschen Staaten keine große Bedeutung erlangt. Wenngleich dies nicht allein der fehlenden gesellschaftlichen Teilnahme zuzuschreiben, sondern vor allem auch der staatlichen Grenzziehung gegenüber den privaten Initiativen geschuldet sein mag, 684 so zeigt die anhaltende öffentliche Kritik an den Vereinen und ihren

678

EZA, Best. 7, Nr. 1688: Schreiben des CA an den EOK v. 18.5.1853, Bl. 148v-155v, hier Bl. 154r; Besser: Gefängnisfrage, 1853, S. 29-32; Haene/1: Gefängniskunde, 1866, S. 186. 679 Palmer. Pastoraltheologie, 1863, S. 618. 680 Verhandlungen der sechsten Rheinischen Provinzial-Synode, 1849, S. 161-164. 681 Rohden: Geschichte der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft, 1901, S. 4849. 682 Wichern·. Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Die Behandlung der Verbrecher in den Gefängnissen und der entlassenen Sträflinge. Referat und Schlußwort zur Diskussion auf dem fünften deutschen evangelischen Kirchentag (1852), S. 30-49, hier S. 43. 683 EZA, Best. 7, Nr. 1688: Schreiben des CA an den EOK v. 18.5.1853, Bl. 148v-155v, hier Bl. 150r. Vgl. ähnlich auch gutachtlicher Bericht von Pfarrer Scholl an das Koblenzer Konsistorium v. 31.10.1851, in: EZA, Best. 7, Nr. 1688, Bl. 51v-102v, hierBl. 58r-59r. 684 Siehe die Hinweise auf den Widerstand der Anstaltsleitungen bei Wiehern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Vorschläge zur Regelung des privaten Besuches bei Strafgefangenen (1855), S. 77-79, hier S. 78. Vgl. außerdem die ablehnenden Kommentare des Justizministeriums zu den entsprechenden Passagen im Instruktionsentwurf für die Seelsorge an den Gerichtsgefängnissen (Kommentar von Justizminister Simon v. 28.5.1858, in: EZA, Best. 7, Nr. 1811, Bl. 10v-14r, hier Bl. 13v-14v).

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2 Die Anfänge der Strañalligenfürsorge ( 1777-1861 )

Fürsorgemaßnahmen doch, daß auf den christlichen Gemeindeverbund nicht zu zählen war. Dem Ideal der christlichen Gemeinschaft standen Vorurteile und gesellschaftliche Stigmatisierung gegenüber, die nicht durch Appelle an die christliche Nächstenliebe überwunden werden konnten. Die auf die Ablehnung folgenden kirchlichen Versuche, die Gemeinden und Amtsbrüder zur Mitarbeit zu verpflichten, machten die Grenzen der freiwilligen christlichen Fürsorge nur um so deutlicher sichtbar. Im Vertrauen, die Kirchengemeinden vitalisieren zu können, wurde dieses grundsätzliche Problem jedoch nicht wirklich ernst genommen, sondern lediglich im Sinne der bekannten biblischen Geschichte der Pharisäer abgehandelt.685 Die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft trat bereits 1832 der öffentlichen Kritik entgegen. In den Vorwürfen wurde unter Hinweis auf die Rückfallquote nicht nur die Wirksamkeit der Vereinsarbeit bestritten, sondern vor allem im Sinne des Vergeltungsgedanken argumentiert, Fürsorge und Strafe seien unvereinbar.686 Obwohl in den öffentlichen Debatten die Unterscheidung zwischen Armut und Kriminalität zusehends verwischte, wurde auf der Ebene der Fürsorge eine klare Abgrenzung eingefordert. Daneben sahen sich die Gefängnisvereine mit dem Argument konfrontiert, Strafen und somit auch die Gefangenenfrage sei Sache des Staates.687 Als Mitglied der Rheinisch-Westfälischen Gefangnisgesellschaft versuchte der Bonner Theologieprofessor Carl Immanuel Nitzsch, das Ziel der Besserungsstrafe als Wechselspiel zwischen strenger Zucht und religiöser Fürsorge zu vermitteln. Zur gesellschaftlichen Verantwortung bemerkte er: „Der Staat kann mich nicht zwingen, daß ich dem gewesenen Züchtlinge irgend etwas in meinem Hause oder Dienste anvertraue, viel weniger daß ich ihm Liebe, Zucht und Wachsamkeit schenke. Die Gesellschaft aber, die freie, bürgerliche und häusliche, wird ihre völlige Gleichgültigkeit in dieser Hinsicht nach und nach, selbst immer schwerer büßen müssen."688 Die Verteidigungsreden der Fürsorgevertreter wehrten einerseits den Vorwurf eines moralischen Freispruchs der Straffälligen ab und forderten andererseits die Unterstützung für Straffällige mit dem Ziel der Prävention ein. Sie distanzierten sich daher von einer vermeintlich falsch verstandenen Humanität, das heißt von „poetisch-philosophischen Schwärmern, die von der Dichtung einer angeborenen Güte der menschlichen Natur berauscht und voll von Träumen über den Adel derselben die Natur über die Cultur setzen, die Ordnung der Gesellschaft als ein unerträgliches Joch, die Einrichtungen des 685

Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Gutachten an den CA für die Innere Mission über die Aufgaben der Gefángnisreform ( 1851 ), S. 26-30, hier S. 30. 686 JB RWGG 1832/5, S. 2 - 3 u. ähnlich auch 1837/10, S. 2. Auch die später gegründeten Anstalten des Vereins gerieten in Kritik (JB RWGG 1850/23, S. 41-44). 687 JB RWGG 1842/15, S. 4. 688 Jahrbücher der Straf- und Besserungs-Anstalten, Erziehungshäuser, Armenfürsorge, und anderer Werke der christlichen Liebe 1831/8, S. 198. Das Schreiben ist ebenso in den JB RWGG 1832/5, S. 36-38, abgedruckt.

2.5 Christliche Besserungsutopien und ihre Grenzen

161

Staates als eine Erfindung der Willkühr, als eine Handhabe der Tyrannei betrachten, und den Missethäter als ein Opfer der Societät und Civilisation beweinen". 689 Während innerhalb der Gefangnisreform das moralische Verbrecherbild den Ausgangspunkt des Disziplinierungsprojekts bildete, das vor allem durch die Bewertungskoordinaten gebessert/ungebessert bestimmt wurde, ging es in der weiteren Öffentlichkeit weiterhin darum, durch Strafen die moralische Schuld der Delinquenten festzuschreiben. Für die Außendarstellung der Gefangenen- und Entlassenenfürsorge mußten daher nach Meinung der Vereinsvertreter Verteidigungsstrategien eingesetzt werden, damit die Maßnahmen nicht als „Versorgungsprämie auf die Begehung eines Verbrechens" ausgelegt würden. 690 Die Fürsorge dürfe, so der Bruchsaler Anstaltsdirektor Diez, nicht den Anschein erwecken, die Strafentlassenen würden gegenüber den Armen bevorzugt. 691 Die Schwierigkeiten, für das Besserungskonzept außerhalb des Expertenkreises und unter den Vereinsmitgliedern zu werben, wurden als Problem und Aufgabe der Fürsorgearbeit formuliert. Schließlich übertönten die Klagen über die mangelnde moralische Umkehr der Entlassenen bei den Vereinsvertretern selbst zuweilen die religiöse Vergebungsbotschaft und die Beschwörung der christlichen Gemeinschaft. 692 Wie weit die Kirchen- und Gemeindeorganisation ihrerseits vom Ideal der christlichen Gemeinschaft entfernt war, zeigt die isolierte Position der Gefängnisgeistlichen innerhalb der evangelischen Kirche und ihrer Synoden. Die Abgeschlossenheit der Strafanstalt sonderte nicht nur die Straffälligen von der Gesellschaft ab, sondern sorgte auch dafür, daß die Anstaltsgeistlichen bis in die 1850er Jahre hinein nur unzureichend in den kirchlichen Verband integriert waren. Nach Klagen von Gefangnisseelsorgern mußte der preußische Oberkirchenrat konstatieren: „Im Großen und Ganzen stehen die Strafanstaltsgeistlichen, wie dies von ihnen übereinstimmend behauptet wird, isoliert, ohne Rath und Anleitung, gleichsam auf einem vorgeschobenen Posten". 693 Insbesondere nachdem Wichern auf dem fünften evangelischen Kirchentag 1852 die Gefangenenfrage zu einem vordringlichen Thema des religiösen Interesses gemacht hatte, begannen sich die Kirchenbehörden und die Provinzialsynoden darum zu bemühen, die Gefangenenseelsorger stärker einzubinden. Gemeinsam mit den Konsistorien diskutierte der preußische Oberkirchenrat darüber, wie die Stellung der dem kirchlichen Leben „entfremdeten" 694 Strafanstaltsgeistlichen gestärkt werden könnte und diese in den „größeren 689

Moll: Besserung, 1841, S. 9. Ähnlich auch bei Griesemann: Seelsorge, 1855, S. 17. Julius: Gutachten, 1846, S. 369. 691 Vgl. dazu Wingler. Gefangenenftirsorge in Baden, 1932, S. 21. 692 Nöllner. Bemerkungen, 1843, S. 306. 693 EZA, Best. 7, Nr. 1768: Konzept einer Denkschrift über die Lage der Strafgefangenen v. 10.1.1856, Bl. 161v-169v, hier Bl. 162v. Vgl. dazu vor allem auch den Bericht des Superintendenten aus Neugard v. 1.2.1853, in: ebd., Bl. 227-244r, Bl. 238r-239r. 694 EZA, Best. 7, Nr. 1768: Rundschreiben v. 19.12.1852, Bl. 12r. 690

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2 Die Anfänge der Straffalligenfürsorge (1777-1861)

Organismus der Kirche" eingebunden werden könnten.695 Davon versprach sich die Kirchenobrigkeit eine Vitalisierung der Gefángnisseelsorge, und zwar über einen Dienst nach „nur äußerlicher Weise" hinaus.696 Schließlich ergebe sich aus der anhaltenden Unzufriedenheit der Anstaltsseelsorge das Problem, Anwärter für diese Stellen zu finden und sie zu halten.697 Die Gefangenenfrage stellte sich für den Oberkirchenrat zunächst als Personalfrage dar. Ein erster Lösungsschritt bestand darin, die Kommunikation der Gefängnisgeistlichen untereinander zu fördern sowie sie in die Pastoralkonferenzen und Synodalversammlungen einzubinden.698 Im Rheinland, wo die Provinzialsynode schon 1849 beschlossen hatte, die Gefängnisprediger zu Mitgliedern der Kreissynoden zu machen, erhofften sich die Kirchenbehörden, ihrerseits vom Austausch über das Gefangniswesen zu profitieren.699 Trotz der hohen Anforderungen, die diese besondere Seelsorge mit sich brachte, war die Entlohnung der Gefangnisposten gering, weswegen sich der Oberkirchenrat nach unzähligen Klagen,700 wenn auch zunächst erfolglos, beim Innenministerium für eine Erhöhung der Gehälter einsetzte. Die Zusicherung, nach zehnjährigem Gefängnisdienst eine fest dotierte Pfarrstelle zu erhalten, sollte zusätzliche Anreize schaffen,701 doch eine entsprechend geplante Stellenvergabe erwies sich als durchaus schwierig.702 Der Oberkirchenrat versuchte gleichzeitig, die Amtswürde auf symbolischer Ebene aufzuwerten, indem zum Amtsantritt eine besondere Konfirmationsurkunde neben der staatlichen Vokationsurkunde ausgestellt wurde - eine Maßnahme, die vergleichsweise unproblematisch umzusetzen war.703

695

EZA, Best. 7, Nr. 1768: Rundschreiben des EOK an die Generalsuperintendenten v. 15.12.1852, Bl. 14v-15r, hier Bl. 15r. 696 EZA, Best. 7, Nr. 1768: Konzept einer Denkschrift über die Lage der Strafgefangenen v. 10.1.1856, Bl. 161 v-169v, hier Bl. 162v. 697 Die Schwere des seelsorgerischen Berufs verdeutlichen auch die oftmals von den Seelsorgern berichteten Enttäuschungen über die Widerstände der Gefangenen. Um so euphorischer priesen Pastoraltheologen die Früchte der Seelsorge (Palmer. Pastoraltheologie, 1863, S. 621-622). 698 Siehe bereits die Anweisungen des schlesischen Konsistoriums, in: EZA, Best. 7, Nr. 1768: Schreiben an den EOK v. 16.8.1851, Bl. lv-3v. 699 Verhandlungen der sechsten Rheinischen Provinzial-Synode, 1849, S. 163. 700 Siehe z.B. Jablonowski: Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 68; Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 91 sowie Bericht des Superintendenten aus Neugard v. 1.2.1853, in: EZA, Best. 7, Nr. 1768, Bl. 227-244r, Bl. 242r. 701 Schreiben des EOK an das Ministerium für geistliche, Unterrichts- und MedizinalAngelegenheiten v. 18.8.1853 und das Antwortschreiben v. 28.11.1853, in: EZA, Best. 7, Nr. 1768, Bl. 80v-97v. 702 Vgl. die Klagen der Konsistorien, in: EZA, Best. 7, Nr. 1768: Schreiben des schlesischen Konsistoriums an den EOK v. 24.4.1853, Bl. 43v-45v. 703 EZA, Best. 7, Nr. 1768: Rundschreiben des Ministeriums der geistlichen, Unterrichtsund Medizinal-Angelegenheiten an die Konsistorien u. Generalsuperintendenten v. 28.11.1853, Bl. 90.

2.5 Christliche Besserungsutopien und ihre Grenzen

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Weitere Pläne, die der mangelnden amtlichen Einbindung der Anstaltsseelsorger in die Konsistorien entgegenwirken sollten, sahen erstens vor, Instruktionen der Kirchenbehörde fur den seelsorgerischen Dienst in den Strafanstalten einzuführen. Zweitens erhoffte man sich Erfolge von regelmäßigen Visitationen und einer stärkeren Mitwirkung der Kirchenbehörden bei der Kandidatenauswahl. Alle Maßnahmen griffen jedoch in die staatliche Verwaltung der Strafanstalten ein und mußten daher mit den Ministerien abgestimmt werden. Eine allgemeine Instruktion für die evangelischen Geistlichen wurde 1858 lediglich für die bis dahin kaum seelsorgerisch versorgten Gerichtsgefangnisse, das heißt für die Strafanstalten im Verwaltungsbereich des Justizministeriums, verabschiedet. 704 Sie entsprach im großen und ganzen den Praktiken, wie sie sich in der Seelsorgeliteratur und in den Anstaltsordnungen niedergeschlagen hatten. Dem Wunsch des evangelischen Oberkirchenrats nach einer einheitlichen pastoralen Instruktion für die Strafanstalten stand das Innenministerium eher kritisch gegenüber - es wollte Eingriffe in die staatliche Anstaltsverwaltung abwehren. 705 Die Visitationen, die künftig alle drei Jahre in den Gefangnissen abgehalten werden sollten, mußten mit der StrafanstaltsVerwaltung vorher abgestimmt werden. Um die Gefangnisseelsorger besser beaufsichtigen zu können und ihnen einen exklusiv für sie zuständigen Ansprechpartner zu bieten, hatte der preußische Oberkirchenrat sogar ursprünglich einen eigenen Inspektor vorgesehen - ähnlich dem Feldprobst für die Militärgeistlichen. 706 Die Bemühungen, den kirchlichen Behörden bei der Anstellung von Anstaltsgeistlichen zur ausschlaggebenden Stimme zu verhelfen, fruchteten kaum. Durch die eigene Auswahl wollten Oberkirchenrat und Konsistorien sicherstellen, daß nur geeignete, mit ausreichender seelsorgerischer Erfahrung ausgestattete Kandidaten für diese anspruchsvollen und schwierigen Posten herangezogen wurden. 707 Nachdem auch die Konsistorien eine zentrale Stellenpolitik des evangelischen Oberkirchenrates ablehnten, 708 räumten die Ministerien den Konsistorien lediglich das Recht ein, unverbindliche Kandidatenvorschläge machen zu dürfen. 709 So belasteten Konflikte um Einstellun-

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Anweisung fur evangelische Geistliche, 1858/1893. EZA, Best. 7, Nr. 1689: Schreiben des Innenministeriums an den EOK v. 11.12.1861, Bl. 382v-386v. 706 EZA, Best. 7, Nr. 1768: Konzept einer Denkschrift über die Lage der Strafanstaltsgeistlichen v. 10.1.1856, Bl. 161v-169v. Aus der Akte geht nicht hervor, ob ein entsprechender Posten eingerichtet wurde. 707 Vgl. dazu die Anweisung an die Konsistorien und Generalsuperintendenten, in: EZA, Best. 7, Nr. 1768: Rundschreiben des EOK v. 19.12.1852, Bl. 7v-13r, hier Bl. 9r-10v; Rundschreiben v. 15.12.1852, Bl. 14v-15r, hier Bl. 14v. 708 Vgl. dazu die verschiedenen Antwortschreiben der preußischen Konsistorien, in: EZA, Best. 7, Nr. 1768, Bl. 24v-79v. 709 Die Vereinbarung zwischen dem Innen- und dem Kultusminister sah vor, daß die Anstalten freiwerdende Stellen beim jeweiligen Konsistorium zu melden hatten. Hatte die An705

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2 Die Anfänge der Straffálligenffirsorge (1777-1861)

gen das Verhältnis zwischen den regionalen Kirchenbehörden und den Anstaltsverwaltungen.710 Nach einer Regelung aus dem Jahre 1859 behielt sich das Innenministerium vor, über den evangelischen Oberkirchenrat Gutachten über die Qualifikation der Bewerber einzuholen.711 Auf katholischer Seite forderten die Strafanstaltsgeistlichen in den 1850er Jahren ebenfalls mehr Engagement ihrer Kirchenbehörden in der Gefangenenfrage, insbesondere nachdem die evangelischen Vereine der Inneren Mission und Bibelgesellschaften ihre Arbeit auf die Strafanstalten weiter auszudehnen versuchten.712 Der katholische Gefangnisseelsorger von Werden beklagte sich beispielsweise beim Generalvikariat des Erzbistums Köln darüber, daß er auf seine Vorschläge zur Verbesserung des Gefangniswesens und der Entlassenenfürsorge nie eine Reaktion erhalten habe.713 Er schloß daran die Bitte an, die Ortsgeistlichen zur Mitarbeit an der Gefangenen- und Entlassenenfürsorge zu bewegen. Trotz kirchlicher Verfugung, wie im Fall des Kölner Erzbistums, versäumten die Seelsorger immer wieder, ihren Amtsbrüdern in den Strafanstalten die geforderten Informationen über die Verurteilten ihres Kirchensprengels zu liefern.714 Um die Isolierung der Strafanstaltsgeistlichen innerhalb der Kirche zu überwinden, forderten auch die im Rheinland an den Gefangnissen tätigen katholischen Seelsorger, künftig Fachversammlungen zum Erfahrungsaustausch zu veranstalten - jedoch ohne Erfolg.715 Inwieweit die Kirchenbehörden es schaffen konnten, die christlichen Gemeinden und insbesondere die Ortsgeistlichen für diese spezielle Aufgabe zu aktivieren, um die mangelnde Beteiligung an den Gefangnisvereinen wettzumachen, sollte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erweisen. Wie jedoch bereits die ersten Versuche in den 1850er Jahren andeuteten, verhallte der Appell an die christliche Gemeinschaft, sich verstärkt um die Gefangenen zu kümmern, weitestgehend. Außerdem muß angesichts der zunehmenden sozialen Mobilität während der Hochindustrialisierung angenommen werden, daß der pastorale Zugriff nicht allzu weit über den Kreis der bereits aktiven Gemeindemitglieder hinaus reichte. Die mit der Konfessionalisierung zunehmend wahrnehmbare Konkurrenz mag zwar einerseits die Initiativen für die Straffalligenfürsorge angekurbelt haben, doch die schärfer

staltsverwaltung eigene Kandidaten, so brauchte sie vom zuständigen Generalsuperintendenten die Zusicherung, daß dem „von kirchlicher Seite keine Bedenken entgegenstehen". 710 EZA, Best. 7, Nr. 1768: Schreiben des EOK an das Innenministerium v. 15.1.1859, Bl. 139v-140v. 711 EZA, Best. 7, Nr. 1768: Rundschreiben des EOK an die Konsistorien v. 22.7.1859. 712 Siehe die Hinweise des Aachener Anstaltsgeistlichen auf die Aktivitäten der IM, in: AEK, Gen. 32.8 v.l: Schreiben Mettmanns an das Kölner Generalvikariat v. 15.8.1854. 713 AEK, Gen. 32.8 v.l: Schreiben des Anstaltsgeistlichen Krebs v. 28.2.1856. 714 AEK, Gen. 32.8 v.l: Schreiben des katholischen Anstaltsgeistlichen Krebs aus Werden an das Kölner Generalvikariat v. 30.11.1854. 715 AEK, Gen. 32.8 v.l: Schreiben der Anstaltsgeistlichen aus Werden (24.5.1855), Düsseldorf (31.5.1855), Aachen (4.6.1855) und Köln (19.6.1855).

2.5 Christliche Besserungsutopien und ihre Grenzen

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werdenden konfessionellen Differenzen führten andererseits dazu, daß die Fürsorge vom jeweiligen Glaubensbekenntnis der Entlassenen abhängig gemacht und damit begrenzt wurde. Schließlich bedeutete die Sonderstellung der Anstaltsgeistlichen eine Herausforderung für das Ideal der christlichen Gemeinschaft, dessen Realisierungsmöglichkeit vor allem auch von staatlicher Seite bestimmt wurde. Obwohl sich die Seelsorge bis zum Anfang der 1860er Jahre als festes Element der Besserungsstrafe etabliert hatte, traten an dieser Nahtstelle zwischen Staat und Kirche klar die Grenzen der religiösen Besserungskonzeption hervor. Der Ausgang der Auseinandersetzung um Wicherns Pläne, religiös geschulte Gefangenenpfleger in den Anstalten zu etablieren, zementierte schließlich diese Grenzziehung. Die Einheit der Strafanstalt im „christlichen

Geist"?

Die Einbindung der Seelsorge in die Organisation des modernen staatlichen Strafvollzugs hatte sich von Anfang an als schwierig erwiesen, da physische und religiös-moralische Besserungsvorstellungen schwer zu vereinbaren waren. Trotz der Dienstordnungen gab es im Verhältnis zwischen dem Geistliche einerseits und dem Anstaltsdirektor sowie den übrigen Beamten andererseits strukturelle Probleme. Die Klage der Seelsorger über ihre Isolierung gründeten vor allem darin, daß sie eine eigentümliche Sonderposition - sozusagen außerhalb der übrigen Anstaltshierarchie - einnahmen, die von vornherein im Widerspruch zum religiös-philanthropischen Reformideal stand, wonach eine kollektive christliche Gesinnung ein einheitliches Zusammenwirken der unterschiedlichen Aufgaben und Funktionsträger stiften sollte. Die kirchliche Gesinnung der Strafanstaltsbeamten und ihre Zusammenarbeit in christlichem Einvernehmen wurden als Voraussetzung für eine erfolgreiche moralische Besserung der Straffälligen und zugleich als eine der Gefangenenseelsorge übergeordnete Aufgabe der Strafanstaltsprediger formuliert: „Doch würde der Geistliche noch immer nur Einzelnes und darum stets mit den Individuen Verschwindendes thun, wenn er blos auf die fertige Besserung Dieses oder Jenes und Dieser oder Jener hinarbeiten wollte. Er muß sich stets bemühen, vielmehr einen religiösen und frommen Geist in der Anstalt heimisch und herrschend zu machen, welcher dann selbst heiligend und bessernd den ganzen Organismus gleichsam durchpulset, und neues Leben schafft. [...] Die Direction einer Anstalt wird dem Geistlichen in diesem seinem Streben, nach Begründung eines religiösen und kirchlichen Sinnes, dann schon stets wesentlich vorarbeiten, wenn sie selbst von einem obersten Gedanken aus, ihre ganze Verwaltung organisch zu gestalten weiß, und mit einem lebendigen Geiste zu durchdringen versteht. Wo jedoch nur der bloße Empirismus mit allen seine Zufälligkeiten des Aufeinander und Durcheinander äußerlicher Erscheinungen herrscht, und das Regiment führt, kann weder von einem einheitlichen Gedanken oder Prinzip in der Verwaltung, noch weniger aber von einem „Geist" der Anstalt die Rede sein; wollte man aber in

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2 Die Anfange der Straffälligenfürsorge (1777-1861)

diesem Falle den Ruhm „praktisch zu sein", fur sich in Anspruch nehmen, man ist es dann auch nicht, so lange praktisch sein etwas anderes bedeutet, als sich von einer Masse mechanisch an einander gereihter Erfahrungen, ohne ein Bewußtsein ihres gemeinsamen Zusammenhanges zu haben, treiben und schieben zu lassen."716 Religiöse Besserungskonzepte bezogen sich also nicht nur auf die religiöse Seelsorgearbeit an den Gefangenen, sondern zielten darauf ab, die gesamte Strafanstalt im christlichen Geist zu durchdringen. Die religiöse Gesinnung wurde daher bei der Auswahl des Personals - von den Aufsehern über die höheren Beamten bis hin zum Gefangnisdirektor - zu einem entscheidenden Kriterium erhoben.717 Vor allem aber beanspruchten die Anstaltsgeistlichen für sich die allgemeine moralisch-religiöse Autorität auch gegenüber dem Anstaltspersonal. Während der Gefängnisdirektor die Disziplinargewalt über die Beamten besaß, wollten die Seelsorger sowohl über die Dienstfuhrung als auch über die gesamte sittliche Lebensführung insbesondere der Aufseher wachen.718 Das umfassende Seelsorgeverständnis ging damit weit über die festgeschriebenen Verhaltensvorschriften der Dienstordnungen hinaus. Aus dem Ideal der christlichen Einheit der Strafanstalt leitete sich ferner die Forderung ab, die Seelsorgerstellen mit einer Parochie zu verbinden, die das gesamte Gefängnis zu einer christlichen Gemeinde zusammenfassen würde, der die Gefangenen ebenso wie die Beamten angehören sollten. Der evangelische Geistliche der Strafanstalt Insterburg beklagte, daß die Seelsorge vom Staat nur als „Coerzitivmittel" zur Zügelung der Gefangenen oder allgemein des Volkes angesehen werde: „Würde der Geistliche einer Strafanstalt von der Kirche gesendet, so könnte er wohl auch den Beamten gewissermaßen ein wanderndes Gewissen werden."719 In letzter Konsequenz hätte die Utopie des christlichen Organismus eine Konfessionalisierung der Strafanstalten oder zumindest eine konfessionelle Trennung der Gefangenen bedeutet - ein Wunschziel, das katholische und evangelische Seelsorger teilten.720 716

Jablonowski: Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 87-88. Vgl. ähnlich Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Separatvotum zu dem Kommissionsbericht über die neue Strafanstalt zu Moabit (1854), S. 56-76, hier S. 73-74. 717 Jablonowski: Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 88; Moll: Besserung, 1841, S. 64; Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 56; EZA: Bericht eines Superintendenten v. 1.2.1853, Bl. 227-244r, hier Bl. 235v-237r. 718 Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 66-67; Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Separatvotum zu dem Kommissionsbericht über die neue Strafanstalt zu Moabit (1854), S. 56-76, hier S. 73-74. 719 Jablonowski: Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 88 (Fn). Ähnlich auch EZA, Best. 7, Nr. 1688: Bericht des ehemaligen Neugarder Anstaltsgeistlichen Liebich an den EOK vom Februar 1853, Bl. 171-226, hier Bl. 212v-r; ebd.: Bericht eines Superintendenten v. 1.2.1853, Bl. 227-244r u. Palmer. Pastoraltheologie, 1863, S. 654. 720 AEK, Gen. 32.8 v.l: Schreiben des katholischen Gefängnisgeistlichen Mettmann aus Aachen an das Kölner Generalvikariat v. 4.6.1855; EZA, Best. 7, Nr. 1688: gutachtlicher Bericht des Pfarrers Scholl an das Koblenzer Konsistorium v. 31.10.1851, Bl. 51v-194v,

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Doch erst in Wicherns Amtszeit als Referent für das preußische Gefangniswesen ließen sich solche Vorschläge laut äußern. 721 Auch die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft nahm diesen Punkt in ihre Reformagenda auf. 722 In Preußen gab es bis dahin immerhin einige Strafanstalten für Gefangene einer einzigen Konfession: Die Gefängnisse in Ratibor und Münster nahmen nur katholische Gefangene auf, die Anstalt in Herford war für evangelische Verurteilte gedacht. Doch außerhalb der religiösen Reformerkreise war eine konfessionelle Trennung nicht vermittelbar; weder Behörden noch Gefangnisexperten verhandelten diese Idee ernsthaft. Zentrale Bedeutung fur das Ineinandergreifen von physischer und moralischer Besserung kam dem Verhältnis zwischen dem Strafanstaltsdirektor und den Gefangnisseelsorgern zu. Von einem christlich gesinnten Gefangnisvorsteher erwarteten die Geistlichen, ihre religiöse Disziplinierungsarbeit ungehindert ausführen zu können, ohne zugunsten anderer Besserungs- oder Sicherheitsmaßnahmen eingeschränkt zu werden. Außerdem forderten sie die Anerkennung ihrer sittlich-moralischen Autorität, das heißt daß ihr Urteil in allen Fragen der Behandlung der Gefangenen, insbesondere bei Maßnahmen der Entlassung, der Klassifizierung und der Verhängung von Disziplinarstrafen herangezogen werde. 723 Wenngleich die Arbeitsteilung nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde und sich die Geistlichen durchaus bewußt waren, daß „die kirchlichen Angelegenheiten in einer Strafanstalt nur ein verschwindendes Moment in der allgemeinen Polizeiverwaltung" darstellten, waren sie als Oberbeamte Mitglieder der Direktion, nahmen damit an den zentralen Konferenzen teil und konnten so ihre Gutachten und Vorschläge einbringen. 724 Die Klagen über die isolierte Stellung der Kirchenvertreter im Gefängnis sowie die mangelnde Einbeziehung und das konfliktträchtige Verhältnis zu den Anstaltsdirektoren standen in krassem Widerspruch zum Ziel einer einvernehmlichen Zusammenarbeit zwischen Beamten und Seelsorgern. 725 Im hier Bl. 72v-74r; EZA, Best. 7, Nr. 1689: Bericht des Strafanstaltsgeistlichen Viol ν. 15.3.1854, Bl. 126v-132v, hier Bl. 130r-131v. 721 Zur Forderung von konfessionellen Strafanstalten bei Wichern selbst siehe Wiehern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Separatvotum zu dem Kommissionsbericht über die neue Strafanstalt zu Moabit (1854), S. 56-76, hier S. 76. 722 JB RWGG 1857-1858/31, S. 7 u. 1861/34, S. 49-50. 723 jMoll·. Besserung, 1841, S. 64-65; Boegehold: Beitrag zur inneren Mission, 1852, S. 5 und vor allem Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 69-73. Zur einvernehmlichen Entscheidung zwischen Direktor und Geistlichem vgl. die Bestimmung des preußischen Innenministeriums v. 11.4.1842, abgedruckt in: Reglement für die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, S. 97 99. 724 Bestimmung des preußischen Innenministeriums v. 11.4.1842, abgedruckt in: Reglement fur die königlich Preußischen Strafanstalten, 1868, S. 97-99 u. Jablonowski: Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 89. 25 Die Klagen über die isolierte Position äußerten die Geistlichen schon in stereotyper Form, ohne noch konkrete Konflikte anzugeben. Siehe HStAD, RW 1-192: Schreiben des katholischen Anstaltsseelsorgers Prisack an die Düsseldorfer Regierung v. 7.3.1836. Ein

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Rheinland wie auch anderswo wurden diese Unstimmigkeiten nicht als Einzelfalle verstanden, sondern als grundlegende Probleme gedeutet.726 Obwohl die Geistlichen nicht der Disziplinargewalt der Anstaltsdirektoren unterstellt waren und ihre kirchlichen sowie seelsorgerischen Amtshandlungen von den Direktoren nicht direkt kontrolliert werden konnten, hatten sie sich bei ihrer religiösen Erziehungsarbeit in Fragen der Sicherheit und Ordnung den Vorstehern unterzuordnen,727 und gerade hier bestand Konfliktpotential. Trotz fester Aufgabenverteilung und Ansätzen eines Kollegialprinzips richtete sich die Anstaltshierarchie, insbesondere im Rawiczer Reglement, eindeutig am Anstaltsdirektor aus und legte damit einen Schwerpunkt auf das physische Besserungskonzept und die Sicherheitsanforderungen. „Die Kirche als Polizeianstalt" - so lautete die Kritik der Geistlichen an der preußischen Anstaltsordnung.728 So kam es etwa 1830 angesichts der im Zuge der französischen JuliRevolution stattfindenden politischen Unruhen in Werden zu einem Ausbruchsversuch, für den die Anstaltsverwaltung die Sicherheitsmängel während des Gottesdienstes mitverantwortlich machte. Obwohl sich die beiden Anstaltsgeistlichen als eigentliche Entdecker des Komplotts verstanden und versuchten, die Gefangenen zur Aufgabe zu überreden, sahen sie sich später mit dem Vorwurf konfrontiert, die Gottesdienste hätten den Gefangenen erst die Möglichkeit dazu gegeben, die Aktionen gemeinsam abzusprechen.729 Die Geistlichen beschuldigten viele Direktoren und Beamte, Ressentiments gegen sie zu hegen. Die Geistlichen warfen den Anstaltsdirektoren sogar vor, die Gefangenen von Seelsorge und Unterricht bewußt fernzuhalten und unterstellten ihnen, sie mißtrauten dem Urteil der Seelsorger, indem sie religiös

weiterer Hinweis dafür, daß es sich hier um einen strukturellen Konflikt handelte, findet sich bei Christian Palmer, der den Seelsorgern in seinem Handbuch „Evangelische Pastoraltheologie", in einem gesonderten Abschnitt zur „Seelsorge bei Gefangenen und Verbrechern", riet, ihre Stellung gegenüber dem Anstaltsverwalter oder Direktor zu behaupten {Palmer: Pastoraltheologie, 1863, S. 625). 726 EZA, Best. 7, Nr. 1688: Gutachtlicher Bericht des Pfarrers Scholl an das Koblenzer Konsistorium v. 31.10.1851, Bl. 51 ν 194ν, bes. Bl. 66v-74r; ebd.: Bericht eines Superintendenten v. 1.2.1853, Bl. 227-244r; Boegehold: Beitrag zur inneren Mission, 1852, S. 3 u. Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Denkschrift v. 18.6.1856, S. 82-84, hier S. 83. 727 Wiek: Strafe und Besserung, 1853, S. 65-66. 728 EZA, Best. 7, Nr. 1688: Bericht des ehemaligen Neugarder Anstaltsgeistlichen Liebich an den EOK vom Februar 1853, Bl. 171-226, hier Bl. 196r. Zur Kritik an der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Direktor und Seelsorger im Rawiczer Reglement vgl. außerdem ebd.: Bericht von Pfarrer Scholl an das Koblenzer Konsistorium v. 31.10.1851, Bl. 51v102v, hier Bl. 83v- 84r; ebd.: Bericht eines Superintendenten v. 1.2.1853, Bl. 227-244r, hier Bl. 234r-235r; EZA, Best. 7, Nr. 1689: Bericht des Strafanstaltsgeistlichen Viol ν. 15.3.1854, Bl. 126v-132v, hier Bl. 128v; EZA, Best. 7, Nr. 1811: Visitationsbericht über die Seelsorge im Gefängnis des Regierungsbezirks Bromberg v. 6.12.1858, Bl. 99v-104r, hier Bl. lOOr-lOlv u. Griesemann·. Seelsorge, 1855, S. 7. 729 JB RWGG 1831/4, S. 20-21.

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bekehrte Gefangene der Heuchelei bezichtigten. 730 Liberale Gefängnisreformer sowie verschiedene Anstaltsdirektoren bekräftigten ihrerseits, daß sie den Seelsorgern nicht zutrauten, das Verhalten der Gefangenen richtig einzuschätzen, weil „Geistliche zu leicht von schlauen Sträflingen getäuscht" würden. 731 Während die Gefängnisgeistlichen wegen ihrer seelsorgerischen Arbeit und der in ihrem Beruf erworbenen Menschenkenntnis auch die Fähigkeit, die Strafanstaltsinsassen zu beurteilen, für sich reklamierten, mißtrauten ihnen die Anstaltsdirektoren gerade aufgrund ihrer pastoralen Aufgaben. Ihre Gutachten bei Begnadigung oder Disziplinarstrafen waren daher nicht so gefragt, wie es die Geistlichen aufgrund ihres Rollenverständnisses erwarteten. Wiederholt beschwerten sich die Seelsorger, bei Entscheidungen über Gefangene nicht einbezogen worden zu sein, selbst bei Begnadigungsfragen, zu denen das Votum des Geistlichen nach dem Rawiczer Reglement ausdrücklich verlangt war.732 Ebenso machten sie die feindselige Atmosphäre dafür verantwortlich, daß sie ihre Kritik und Verbesserungsvorschläge nicht in die Verwaltung der Strafanstalten einbringen könnten. 733 Die Gefängnisvorsteher dagegen verstanden den Mitwirkungsanspruch der Seelsorger als unberechtigte Einmischung, sei es nun bei der Festsetzung von Disziplinarstrafen, bei der Unterweisung der Gefängnisaufseher oder bei anderen Fragen der Behandlung von Gefangenen. 734 Diese Meinungsverschiedenheiten offenbaren die strukturellen Zielkonflikte sowie die Schwierigkeit, die Arbeitsverteilung klar zu regeln und die verschiedenen Besserungsstrategien miteinander zu vereinbaren. So hatte beispielsweise ein Düsseldorfer Gefängnisgeistlicher gefordert, die Arbeitszuweisung nach moralischen Gesichtspunkten zu organisieren - etwa, indem man den Müßiggängern die schwersten Tätigkeiten zuwies. Der Anstaltsdirektor sah dagegen die Gefangenenarbeit als seinen alleinigen Verantwortungsbereich an und teilte daher die Arbeit weiterhin

730

EZA, Best. 7, Nr. 1688: Bericht des ehemaligen Neugarder Anstaltsgeistlichen Liebich an den EOK vom Februar 1853, Bl. 171-226, hier Bl. 184r sowie ebd.: Gutachtlicher Bericht des Pfarrers Scholl an das Koblenzer Konsistorium v. 31.10.1851, Bl. 51v-194v, hier Bl. 66v-r. 731 Mittermaier. Gefangnisverbesserung, 1858, S. 144. 732 EZA, Best. 7, Nr. 1688: Bericht des ehemaligen Neugarder Anstaltsgeistlichen Liebich an den EOK vom Februar 1853, Bl. 171-226, hier Bl. 178v-179v, ebd.: Bericht von Pfarrer Scholl an das Koblenzer Konsistorium v. 31.10.1851, Bl. 5 1 v - 1 0 2 v , hier Bl. 8 9 v - 8 9 r u. EZA, Best. 7, Nr. 1689: Bericht des Strafanstaltsgeistlichen Viol ν. 15.3.1854, Bl. 1 2 6 v 132v, hier Bl. 131r. 733

EZA, Best. 7, Nr. 1688: Bericht des Stettiner Konsistorialrats Mehring an den EOK v. 17.3.1853, Bl. 160-170v. 734 Durch die RWGG, deren Jahresberichte die Kritik der Anstaltsgeistlichen in ein breiteres öffentliches Forum trugen, konnten entsprechende Spannungen noch verstärkt werden. Vgl. dazu die Beschwerdeschreiben des Werdener Anstaltsdirektors Schelowsky v. 3.1.1846 und 10.3.1850 an die RWGG in: HStAD, RW 1-197 sowie JB RWGG 1848/21, S. 12 u. 1849/22, S. 2 - 3 .

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nach Effizienzkriterien zu.735 Andersherum mußten Geistliche Eingriffe in ihre seelsorgerische Arbeit abwehren, die manche Direktoren mit ihrem Kompetenzanspruch im Bereich Sicherheit und Disziplin begründeten.736 Die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft machte den von ihr bezahlten und in die Gefängnisse entsandten Seelsorgern zur Aufgabe, das sittliche Verhalten der Aufseher zu überwachen.737 Infolgedessen zeigten sie Disziplinarverstöße wie zum Beispiel die Übermittlung von Liebesbriefen zwischen Gefangenen oder den Schmuggel von Schnaps und anderen Genußwaren gegen Bezahlung an.738 Das korrupte Verhalten von Wärtern war bereits ein bekanntes Thema der älteren Anstaltskritik,739 das nun jedoch nicht nur im Hinblick auf die sittliche Qualität des Personals diskutiert wurde, sondern ebenso als Problem der mangelnden Entlohnung. Fliedner hatte diese Frage bereits in seiner ersten Analyse angesprochen: „Diese Menschen gehen nun mit Trunkenheit, Fluchen und Schwören den Gefangenen voran, und wirken dadurch natürlich auf deren Sittlichkeit höchst nachteilig. Was der Geistliche unter diesen aufzubauen sucht, reißen jene, statt ihn zu unterstützten, mit ihren Thaten und Reden wieder zusammen. Weil sie nun mit ihrer viel zu kärglichen Besoldung ihre Familie nicht ernähren können, so werden sie dadurch fast gezwungen, sich von den Gefangenen und deren Verwandten bestechen zu lassen, wodurch allen Unsitten in den Kerkern Thüre und Thor geöffnet wird."740 Für das religiös-moralische Besserungskonzept war das Idealbild eines Gefangenenwärters „ein eben so milder, als fester Charakter, nicht weniger Besonnenheit als Gottesfurcht".741 Die militärisch ausgebildeten Wärter waren 735

H StAD, RW 1-192: Bericht des katholischen Gefängnisgeistlichen Giesen v. 12.9.1829. Das typische Problem bestand darin, daß sich Seelsorger und Lehrer mit ihren Besserungsaufträgen gegenüber den übrigen Feldern der Anstaltsverwaltung und dem Bereich der physischen Besserung zurückgesetzt sahen. Vgl. dazu HStAD, RW 1-193: Bericht des evangelischen Geistlichen Verhoeff in Werden über den Dienstzeitraum Mai bis Juni 1829. 736 AEK, Gen. 32.8 v.l: Schreiben des katholischen Gefängnisgeistlichen Mettmann aus Aachen an das Kölner Generalvikariat v. 4.6.1855. 737 HStAD, RW 1-192: Schreiben des Ausschußmitglieds Faßbender v. 18.1.1829. Man hatte von vornherein Sorge, daß die Bezirksregierungen diese Aufsicht über das Anstaltspersonal ablehnen könnten. 38 HStAD, RW 1-192: Bericht des katholischen Gefängnisgeistlichen Giesen über seinen Dienst in der Düsseldorfer Strafanstalt v. 12.9.1829; ebd., RW 1-199: Bericht des evangelischen Geistlichen Verhoeff in Werden für den Zeitraum v. 1.3.1831-1.1.1832. Auch die Angestellten der RWGG begingen Verstöße gegen die Hausordnungen. Ein für das Werdener Zuchthaus angestellter Lehrer hatte sich von Gefangenen handwerkliche Produkte anfertigen lassen, die er dann außerhalb der Anstalt zu hohen Preisen verkaufte (vgl. dazu HStAD, RW 1-199: Schreiben des Werdener Zuchthausdirektors Semper an die RWGG v. 14.8.1832). 739 Siehe bereits Howard: State of the Prisons, Bd. 1, 1777, S. 12 u. 15. 740 Fliedner. Collektenreise, Bd. 1, 1831, S. 380-381. Fliedner bezog sich in seiner Darstellung auch auf entsprechende Klagen von Seiten der Anstaltsdirektoren. 741 Fliedner. Collektenreise, Bd. 1, 1831, S. 381.

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weit von diesem Idealbild entfernt, was auch die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft wiederholt anmerkte. 742 Zu Beginn ihrer Arbeit versuchte sie sogar, bei der Düsseldorfer Strafanstalt durch einmalige Zuschüsse die finanzielle Situation des Personals zu verbessern. 743 Daß derartige Maßnahmen nicht allein wegen der Vereinsentwicklung und des schwierigen Verhältnisses zu den staatlichen Behörden keine Dauerlösung sein konnten und sollten, läßt sich daran ablesen, daß die staatliche Besoldungspolitik von der Gefangnisgesellschaft als „Scheinersparungen" kritisiert wurde. 744 Mit der Debatte um die Einzelhaft gewann der Mangel an geeignetem Aufseherpersonal neue Bedeutung. In Preußen w i e auch in vielen anderen deutschen und europäischen Staaten sahen die Behörden ehemalige Militärangehörige für die Posten der Aufseher vor, da diese nach ihrem Ausscheiden aus der Armee versorgungsberechtigt waren. Doch die Aufseherposten waren selbst unter Armeeangehörigen wenig beliebt, so daß die Behörden Mühe hatten, die offenen Stellen zu besetzen. 745 Religiös orientierte wie liberale Gefängnisreformer kritisierten die Aufseher wegen ihrer schlechten körperlichen Konstitution, ihrer geringen Bildung und ihrem schroffen Verhalten gegenüber den Gefangenen. 7 4 6 So forderten die Teilnehmer des 1847 in Brüssel stattfindenden internationalen Gefangniskongresses, die Staatsregierungen sollten eine Ausbildung fur die Aufseher einführen. Außerdem fand sich in

742 Zur Kritik an der Einstellung der zivilversorgungsberechtigten Unteroffiziere vgl. Boegehold: Beitrag zur inneren Mission, 1852, S. 3; JB RWGG 1850/23, S. 11; 1851/24, S. 10 sowie 1856/29, S. 3 u. 9. 743 Aus einem Schreiben verschiedener Düsseldorfer Wärter an die RWGG geht hervor, daß sie zuvor bereits Zuschüsse von der Gefangnisgesellschaft erhalten hatten (HStAD, RW 1-196: Schreiben v. 26.8.1831). In den 1830er Jahren baten sie wiederholt um finanzielle Unterstützung (ebd.: Schreiben v. 24.5.1832, v. 20.12.1832, v. 7.12.1834 u. v. 9.1.1837). Ebenso hatten sich Wärter aus dem Werdener Zuchthaus über ausbleibenden Lohn beim Vereinsausschuß beschwert (ebd., RW 1-201: Schreiben v. 25.8.1829). Die RWGG ließ Anfang der 1830er Jahre auf eigene Kosten einen Wärter an der Düsseldorfer Strafanstalt anstellen (ebd.: Schreiben der RWGG an den Düsseldorfer Landrat v. 17.11.1830 u. Schreiben des Landrates an die RWGG v. 19.1.1831 ). 744 Fliedner. Collektenreise, Bd. 1, 1831, S. 381. 745 Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Über die Einzelhaft und die Tätigkeit der Brüderschaft des Rauhen Hauses in dem Gefängnis zu Moabit - Rede, gehalten in der 57. Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses (1862), S. 336-355, hier S. 337 sowie GStAPK, I. Rep. 89, Nr. 18630: Schreiben Eulenburgs an den preußischen König v. 16.7.1864, Bl. 113v-l 14v, hier Bl. 113v. 746 Füesslin: Einzelhaft, 1855, S. 127-128. Zur Kritik an der Einstellung der zivilversorgungsberechtigten Unteroffiziere von Seiten der Geistlichen siehe AEK, Gen. 32.8 v.l: Schreiben des Aachener Anstaltsgeistlichen Mettmann an das Kölner Generalvikariat v. 4.6.1855; EZA, Best. 7, Nr. 1688: Bericht des ehemaligen Neugarder Anstaltsgeistlichen Liebich an den EOK vom Februar 1853, Bl. 171-226, hier Bl. 204r-205v; ebd.: Bericht des Aachener Anstaltsgeistlichen Mettmann für den Zeitraum 1.8.1849-1.1.1851, Bl. 103v139r, hier Bl. 133v-r sowie ebd.: Bericht eines Superintendenten v. 1.2.1853, Bl. 227-244r, hier Bl. 24 lv.

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den gemeinsamen Beschlüssen der Vorschlag, zwei Arten von Wärtern mit verschiedenen Aufgaben zu unterscheiden. Neben „materiellen Wärtern" sollten zusätzlich „moralische Wärter" eingestellt werden.747 Mit dem Vorwurf konfrontiert, die Einzelhaft rufe Geisteskrankheiten hervor, stellte sich für die Befürworter um so dringlicher die Frage, wie eine Betreuung der Gefangenen aussehen mußte, um dies zu verhindern.748 Da die wenigen Oberbeamten die Vielzahl der Isolierten nur in größeren Abständen besuchen konnten, hatten die Aufseher am häufigsten Kontakt mit den einzelnen Gefangenen. Ihrem korrekten Verhalten kam daher um so mehr Bedeutung zu. Die Aufseher müßten sich nach Meinung der Einzelhaftbefürworter „als erste, aber wohlmeinende Vorgesetzte und Rathgeber, als eifrige und freundliche Lehrer, als gebildete Gehilfen der höheren Beamten erweisen und bethätigen, deren ganzes dienstliches Handeln von Menschenkenntnis, Geduld, Nachsicht, Selbstbeherrschung, unerschütterlichem Pflichtgefühl und christlicher Nächstenliebe geleitet" sein sollte.749 Mit der Debatte um die durch Isolierung ausgelösten „Geistesstörungen" verloren die noch in den 1840er Jahren sehr technizistisch geprägten Lösungsversuche an Legitimität und ließen mehr Raum für im weitesten Sinne therapeutische Ansätze, die den religiösen Reformkreisen und den moralischen Besserungskonzepten entgegenkamen. Pädagogisch geschulte Pfleger statt militärisch habitualisierte Aufseher so lautete die Forderung der Vertreter einer primär moralisch konzipierten Besserungsstrafe und der Befürworter der Einzelhaft. Im täglichen Kontakt mit den Gefangenen in den Isolierzellen sollte das Aufsichtspersonal neben den üblichen Arbeitsvorgängen (Essensausgabe, Versorgung mit Werkmaterialien, Begleitung zu und von den Spazierhöfen) den Besserungsprozeß durch die bereits in der Seelsorge angewandte pädagogische Formel von Ermahnung und Zuspruch zusätzlich zu den Besuchen durch den Geistlichen und die Oberbeamten unterstützen. Sprachen sich die Gefangnisexperten zunächst generell gegen die zwingende Einstellung der Zivilversorgungsberechtigten aus, gab es zunehmend auch Stimmen, die die ehemaligen Militärangehörigen als Schließer für Sicherheitsaufgaben behalten wollten, allerdings vorschlugen, zusätzlich pädagogisch geschulte Aufseher wie etwa Volks747

Vgl. den Bericht über die Verhandlungen in: JB RWGG 1848/21, S. 7. Die Überprüfung möglicher psychischer Folgen bei Isolierten bedeutete langfristig, daß die medizinische Expertise über den Aspekt der Anstaltshygiene hinaus an Bedeutung gewann. Ärzte wie der Direktor der „Irrenanstalt" Hall, Medizinalrat Dr. Damerow, der für das preußische Innenministerium ein Gutachten zur Einzelhaft erstellt hatte, wiesen darauf hin, daß eine „absolute Isolir-Strafanstalt [.] eben so hohe Anforderungen an das gesammte Beamten-Personal" stelle „als eine Irrenheilanstalt" (GStAPK, I. Rep. 89, Nr. 18598: Gutachten Dr. Damerows v. 6.3.1844, Bl. 70v-88v, hierBl. 72v). 749 Füesslin: Einzelhaft, 1855, S. 127. Zur notwendigen Ausbildung der Gefangnisbeamten siehe bereits Julius' „Erläuterung zum pennsylvanischen Strafhaus" aus dem Jahre 1841, in: GStA PK, I. Rep. 89, Nr. 18590/1, Bl. 2v-18v, hier Bl. 17v-18v. 748

2.5 Christliche Besserungsutopien und ihre Grenzen

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schullehrern einzustellen. 7 5 0 Von konfessioneller Seite wurde gefordert, relig i ö s e Genossenschaften und Orden fur den Aufsichtsdienst heranzuziehen. 7 5 1 Sie konnten sich dabei etwa auf französische Erfahrungen berufen. 7 5 2 Dort gab es seit Mitte der 1830er Jahre einzelne Projekte, bei denen Mitglieder geistlicher Orden als Aufseher, Lehrer und Werkmeister herangezogen wurden, worüber auch im deutschsprachigen Gefangnisdiskurs berichtet wurde. D o c h die Berichterstattung darüber offenbarte bereits die diskursiven Grenzen, denen derartige religiöse Besserungsprojekte in den deutschen Staaten begegneten. 7 5 3 Wicherns bekanntestes, letztlich jedoch gescheitertes Gefángnisreformprojekt während seiner Tätigkeit im preußischen Staatsdienst bestand darin, Diakone in den Aufseherdienst zu berufen, und zwar bei der fur Preußen modellhaft geplanten Umsetzung der Einzelhaft in der Berliner Anstalt Moabit, zu dessen Revision er 1853 v o m preußischen Innenministerium beauftragt worden war. 754 Wegen mangelnder Beteiligung an den christlichen Besuchsverei-

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GStA PK, I. Rep. 89, Nr. 18590/1 : Erläuterungen zum pennsylvanischen Strafhaus des Dr. Julius v. 7.3.1841, Bl. 2v-18v, hier Bl. 17v; EZA, Best. 7, Nr. 1688: Bericht des Aachener Anstaltsgeistlichen Mettmann für den Zeitraum 1.8.1849-1.1.1851, Bl. 103v-139r, hier Bl. 134r. 751 AEK, Gen. 32.8 v.l: Schreiben des katholischen Gefängnisgeistlichen Mettmann aus Aachen an das Kölner Generalvikariat v. 4.6.1855. Im katholischen Rheinland ging es bei der Diskussion um die Aufseher gleichzeitig immer auch um die Forderung nach konfessioneller Parität (vgl. z.B. AEK, Gen. 32.8 v.l: Schreiben des Werdener Seelsorgers Krebs an das Kölner Generalvikariat v. 28.2.1856). 752 Wiehern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Die Gestaltung der Gefangenenfrage in Deutschland, Amerika, England und Frankreich seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts (1857), S. 101-122, hier S. 115. In England habe es dagegen nur vereinzelt den Ruf nach religiösem Gefängnispersonal gegeben: ebd., Votum betreffend die Gewinnung geeigneter Kräfte für den Strafanstaltsdienst (1857), S. 123-130, hier S. 123. 753 In Frankreich, wo die christliche Tradition der Gefangenenfürsorge bereits auf Vincent de Paul zurückgeführt wurde, übernahmen einem Bericht aus dem Jahre 1848 zufolge sowohl vorhandene Orden wie die Frères de la doctrine chrétienne, die Sœurs de la sagesse und die Sœurs de St. Vincent de Paul als auch eigens zu diesem Zweck neugegründete Orden wie die Frères St. Joseph und die Sœurs Marie Joseph Dienste an verschieden Strafund Besserungsanstalten (Art. „Geistliche Orden in den französischen Gefängnissen", in: Jahrbücher der Gefangniskunde und Besserungsanstalten 1848/11, Heft 3, S. 247-248; vgl. auch Art. „Die Frauen als Gefangene", in: Jahrbücher der Gefangniskunde und Besserungsanstalten 1845/6, S. 382^102, hier S. 393-399 u. Art. „Die Mission in den französischen Gefangnissen", in: Jahrbücher der Gefangniskunde und Besserungsanstalten 1846/8, S. 1422 sowie ebd., Art. „Die barmherzigen Schwestern in Gefängnissen", S. 22-30). Nach Julius, der sich selbst in Lyon über die dortigen Einrichtungen informiert hatte, fand die Einstellung von Ordensbrüdern und -schwestem die Unterstützung der französischen Staatsregierung, die diese Reformprojekte auf ganz Frankreich ausdehnen wollte (Julius: Brüder und Schwestern, 1844, S. 321-322). 754

Wichern war bereits 1851 und 1852 mit der kommissarischen Revision der preußischen Strafanstalt betraut worden (vgl. Muntau: Strafvollzug und Gefangenenfürsorge, 1961, S. 31-32).

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2 Die Anfänge der Straffalligenfìirsorge (1777-1861)

nen und Widerständen der Strafanstaltverwaltung gegenüber Privatpersonen in den Gefängnissen hatte Wichern die Einführung v o n Berufspflegern gefordert, die dem Seelsorger und dem Lehrer als „Gehilfen" dienen sollten. 7 5 5 Nachdem es bereits 1845 erste Verhandlungen mit den Vertretern der preußischen Ministerialbürokratie gegeben hatte und ein Jahr später die staatliche Finanzierung der Ausbildung einer begrenzten Zahl von Diakonen zu Gefängniswärtern in Wicherns Rauhem Haus zugesichert wurde, folgte 1851 eine Kabinettsorder, die den sogenannten Staatspensionären des Rauhen Hauses die Anstellungsberechtigung für den Gefängnisdienst erteilte. 756 Im Jahr 1856 traten dann die ersten Diakone ihren Dienst in der Berliner Strafanstalt an. 757 Die etwa 20 im Jahr 1857 im preußischen Gefangniswesen tätigen Rauhhäusler758 waren zuvor in Wicherns „Gehülfen-Instituten" - ein erstes war 1844 im Rauhen Haus bei Hamburg gegründet worden, ihm folgte mit dem seit 1858 bestehenden Berliner Johannesstift ein zweites - pädagogisch und religiös ausgebildet worden. 7 5 9 Im Rheinland hatte die Direktion der Duisburger Diakonenanstalt bereits seit 1850 versucht, mit Unterstützung der evangelischen Gefängnisgeistlichen Diakone im Gefängnisdienst unterzubringen. 7 6 0 Nach Angaben Wicherns aus dem Jahr 1862 hatten 60 Rauhhäusler in 755

Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Vorschläge zur Regelung des privaten Besuches bei Strafgefangenen (1855), S. 77-79, hier S. 79. Bereits Julius hatte in seinem Gutachten zum Sendschreiben von Elizabeth Fry und ihrem Bruder an den preußischen König vorgeschlagen, lieber religiöse und sittliche Gehilfen auszubilden anstatt christlich gesinnte Besucher zuzulassen (GStAPK, I. Rep. 89, Nr. 18597: Julius' Anmerkungen zum Sendschreiben v. 4.12.1841, Bl. 195v-l 18r, hier Bl. 106v). 756 Oldenberg: Wichern, Bd. 2, 1887, S. 155-156. Bereits seit 1844 hatte der Staat die Ausbildung der Brüder für die Armen- und Waisenpflege sowie Kindererziehung unterstützt (Beyreuther: Diakonie und Innere Mission, 1983, S. 100-101). 757 Für die Aufgabe in Moabit wählte Wichern solche Brüder aus, die bereits in preußischen Strafanstalten gearbeitet hatten (Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Die Neue Strafanstalt spez. das Zellengefangnis in Berlin, Bericht an das Innenministerium fur die Jahre 1857-1860, S. 192-268, hier S. 206). 758 Vgl. Berger. Konstante Repression, 1974, S. 158. 759 Das an die 1833 gegründete Erziehungsanstalt des Rauhen Hauses angegliederte „Gehülfen-Institut" war als Seminar für die IM und ihre verschiedenen Tätigkeitsbereiche konzipiert (vgl. dazu Gerhardt Innere Mission, Bd. 1, 1948, S. 40-49). Zur Ausbildung der Rauhhäusler finden sich bei Wichern folgende weitere Informationen: Die aufgenommenen Männer waren in der Regel zwischen 20 und 29 Jahren alt. Für sie wurde in der Erziehungsanstalt des Rauhen Hauses, die für etwa 120 Kinder ausgerichtet war, ein „2 bis 3jähriger theoretischer und praktischer Unterrichtskursus" abgehalten: Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Staatspensionäre aus der Reihe der Brüder des Rauhen Hauses (1861), S. 259-261, hier S. 259. Nach der Entsendung hielten die Diakone Kontakt mit der Einrichtung, wenngleich die Bruderschaft versicherte, daß sie sich jeglicher Einmischung in die neuen Anstellungsverhältnissen enthalte (ebd., S. 259-260). 760 HStAD, RW 1-193: Jahresbericht des evangelischen Geistlichen Boegehold v. 8.7.1850. In den Jahresberichten der RWGG gibt es Hinweise darauf, daß seit der Zulassung der Rauhhäusler für den Gefangnisdienst auch einige im Düsseldorfer Gefängnis ihre

2.5 Christliche Besserungsutopien und ihre Grenzen

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preußischen Strafanstalten eine Stelle angetreten; ihnen standen etwa 700 bis 800 der üblichen Aufseher gegenüber. 761 Während im überwiegend katholischen Frankreich schon 1835 eine Ausbildungsanstalt fur Gefangenenwärter im Zusammenhang mit einem „Rettungshaus für verwahrloste und verbrecherische Knaben" eingerichtet worden war, die unter der Leitung des Josefordens stand, gab es in den deutschen Staaten, soweit es auf der hier verwendeten Quellengrundlage ersichtlich ist, keinen vergleichbaren Einsatz katholischer Ordensbrüder im Gefängnisdienst. 762 Die Strafanstaltsgeistlichen, die wiederholt ihre schwache Stellung innerhalb der Strafanstaltsorganisation moniert hatten, betrachteten die religiösen Aufseher als Unterstützung ihrer seelsorgerischen Tätigkeit und damit zugleich als einen Schritt hin zum Ideal einer einheitlichen Gefangnisverwaltung im christlichen Geiste. 763 Während religiös und vor allem protestantisch dominierte Vereine wie die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft den Einsatz der Rauhhäusler begrüßten und auf eine Ausweitung ihres Einsatzes hoffen, 764 lehnte die Mehrheit der Gefangnisreformer dieses religiöse Lösungsmodell fur den Staatesdienst trotz der Kritik am Verhalten und der Härte des militärisch trainierten Aufsichtspersonals ab. Zusätzlich zu den Widerständen bei den Gefängnisexperten verlor Wichern mit dem endgültigen Thronwechsel 1861, bei dem Wilhelm I. an die Macht kam, die Unterstützung seiner Gefangnispläne durch die Staatsführung, die er noch unter Friedrich Wilhelm IV. und seinen Beamten genossen hatte. Im preußischen Abgeordnetenhaus gab es von da an wiederholt Debatten über die Beschäftigung der religiösen Brüder im Gefangniswesen. Mit der Weigerung der preußischen Abgeordneten, den bis 1863 laufenden Vertrag mit dem Rauhen Haus zu verlängern, war Wicherns Reformprojekt endgültig gescheitert. 765 Wichern selbst blieb zwar bis 1874 formell als Referent für das Gefangniswesen im

Arbeit aufnahmen (JB RWGG 1856/29, S. 3). Vgl. die Forderungen, die Diakone zumindest als Krankenwärter in den Anstalten anzustellen: EZA, Best. 7, Nr. 1688: Bericht von Pfarrer Scholl an das Koblenzer Konsistorium v. 31.10.1851, Bl. 51v-102v, hier Bl. 77v81v. Auch der EOK versuchte, sich bei Minister von Raumer für die Verwendung von Diakonen aus anderen Brüderhäusem einzusetzen (EZA, Best. 7, Nr. 1689: Schreiben v. 17.2.1855, Bl. 58v-r). 761 Wiehern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Über die Einzelhaft und die Tätigkeit der Brüderschaft des Rauhen Hauses in dem Gefängnis zu Moabit - Rede, gehalten in der 57. Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses (1862), S. 336-355, hier S. 337. 762 Julius: Brüder und Schwestern, 1844, S. 320. 763 Nach Wicherns Vorstellungen sollte mit den Diakonen ein reger Austausch zwischen dem Geistlichen und den Aufsehern ermöglicht werden: Wichern·. Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Votum betreffend die Gewinnung geeigneter Kräfte für den Strafanstaltsdienst (1857), S. 123-130, hier S. 126. 764 JB RWGG 1856/29, S. 2-3. 765 Wicherns Mißerfolg in der Personalfrage war außerdem mit der zunehmenden Ablehnung der Ministerialbürokratie gegenüber der Einzelhaft verbunden. Zum Scheitern vgl. Berger: Konstante Repression, 1974, S. 163-164 u. 173-175.

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Staatsdienst tätig, ohne die Strafvollzugspolitik jedoch weiterhin erkennbar mitzugestalten. 766 Die bereits angestellten Diakone verblieben im Strafanstaltsdienst und ihre Stellen wurden sogar noch bis in die 1870er Jahre hinein mit neuen Diakonen besetzt, so daß die Rauhhäusler erst in den 1880er Jahren endgültig aus dem Strafvollzugsdienst verschwanden. 767 Ihre Zahl war jedoch von Anfang an vergleichsweise gering gewesen. Die evangelische Geschichtsschreibung reproduzierte in ihrer Interpretation der Ablehnung von Wicherns Reformprojekten die damalige ideologische Rhetorik und zeichnete damit ein verzerrtes Bild der Debatte um die Aufseherfrage: „Am Liberalismus und Materialismus, welche im Bürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich fest eingenistet hatten, scheiterten die bescheidenen Anfange einer Sozialpolitik, die Wichern auszulösen suchte."768 Wenn auch nicht zu leugnen ist, daß nach Wicherns Scheitern vorerst weitere Reformbemühungen ausblieben, so ging es hier, soweit es die Einwände der Gefängnisexperten betrifft, doch nicht darum, die qualitative Verbesserung des Gefängnispersonals im Sinne des Besserungsdiskurses abzulehnen, sondern vorrangig um eine Kritik an der Vermengung von staatlicher und kirchlich-religiöser Sphäre.769 Dieser Kritikpunkt ist zweifelsohne am prononciertesten von liberal gesinnten Gefängnisexperten wie dem Rechtswissenschaftler Franz von Holtzendorff vorgetragen worden. 770 Mit der Veröffentlichung seiner bekannten Streitschrift erreichte die Auseinandersetzung um Wicherns Personalreform ihren Höhepunkt.771 766

Berger. Konstante Repression, 1974, S. 148 u. 177. Vgl. dazu Gerhardt: Innere Mission, Bd. 2, 1948, S. 170. 768 Beyreuther. Diakonie und Innere Mission, 1983, S. 122. 769 Der Bruchsaler Anstaltsdirektor hatte sich im Zuge der französischen Versuche mit Ordensbrüdern als Aufsehern bereits in den 1840er Jahren mit diesem Argument gegen die Indienstnahme religiöser Bruderschaften ausgesprochen (Diez: Aufseher, 1846, S. 285286). Vgl. außerdem Mittermaier: Gefangnisverbesserung, 1858, S. 97-98. Roeder zog aus seiner Erörterung des staatsrechtlichen Problems des religiösen und missionierenden Personals die Konsequenz: „Soviel ist gewiß: Ohne Einzelhaft ist kein nennenswerthes Fortschreiten im Bereich des Strafvollzugs möglich, und ohne Beseitigung der Brüderschaft ist nicht zu denken an ein gedeihliches Voranschreiten auf dem Wege der Einzelhaft!" Roeder. Strafvollzug, 1863, S. 276. 770 Die Einführung der Diakone in das preußische Gefangniswesen war freilich nicht der einzige Streitpunkt in Wichems Reformpolitik. Wichems Ablehnung, die Einzelhaft in gesetzlicher Form einzuführen, wie es in Baden bereits geschehen war, hatte Widerstände von Seiten der Gefangnisexperten rechtswissenschaftlicher Provenienz ausgelöst. Vgl. dazu ausführlicher Berger: Konstante Repression, 1974, S. 167-171. 771 Holtzendorff: Brüderschaft, 1861. Die Streitschrift erschien noch im selben Jahr in zweiter Auflage. Nach Verteidigungsschriften aus dem Umkreis der IM ließ von Holtzendorff noch eine weitere Schrift mit zusätzlichen Zahlen folgen: Holtzendorff: Brüderorden, 1862. Zur Debatte vgl. außerdem die Repliken aus dem Rauhen Haus bzw. von Rauhhäuslem, die in ihrem Organ, den „Fliegenden Blättern", erschienen (abgedruckt in: Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973, S. 331-333) und als Broschüre veröffentlicht wurden (Oldenberg: Brüder des Rauhen Hauses, 1861). Eine eher vermittelnde Schrift 767

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Die Streitschrift konzentrierte sich darauf, den religiösen und konfessionellen Charakter der Bruderschaft des Rauhen Hauses herauszustreichen, die „in den Augen des Staates als Orden betrachtet werden muß". 772 Mit Blick auf die internen Regeln der Bruderschaft wies von Holtzendorff darauf hin, daß die sogenannten Sendbrüder in den Gefängnissen trotz ihrer Pflicht gegenüber der staatlichen Anstaltsverwaltung an die Weisungen ihrer Gemeinschaft gebunden seien, was sie innerhalb der Strafanstaltsbeamten zu einem Fremdkörper mache, wodurch Konflikte vorprogrammiert seien. 773 Da die Brüder über ihre Gefangnisarbeit allein an ihre Sendorganisation zu berichten hatten, kritisierte von Holtzendorff vor allem die mangelnde Öffentlichkeit und Transparenz der Bruderschaft nach dem „Muster der Freimaurerlogen", die sie von den Vereinen und freien bürgerlichen Vereinigungen unterscheide. 774 Sie seien daher „dem Staat gerade ebenso gefahrlich, wie die Thätigkeit der Jesuiten". 775 Die Vermengung von religiösen Zielen mit dem staatlichen Strafvollzug wurde hier besonders aufgrund der Personalunion Wicherns als zuständiger Referent fur das Gefangniswesen und als „Convictmeister" 776 des „Brüderordens" kritisiert, worin von Holtzendorff die Gefahr einer einseitigen Begünstigung der Rauhhäusler und eines Übergewichts der religiösen Tendenz erblickte: „Sollte ein Gefängnisaufseher des Rauhen Hauses, mit seinem Ordensbewußtsein, in einem falsch verstandenen Pflichteifer, mit dem Säbel an der Seite, seine vermeintliche Aufgabe, das Reich Gottes auszubreiten, vergessen können, sollte er als Mitglied des ,königlichen Priestervolks' sich darauf beschränken können, die Gefángnissuppe zu verabreichen?" 777

stammte vom ehemaligen Moabiter Vorsteher und späteren Breslauer Strafanstaltsdirektor Schück, der als preußischer Beamter jedoch eher versuchte, die konfliktreichen Klippen der Kontroverse durch ungenaue Positionierung zu umschiffen (Schück: Einzelhaft, 1862, v.a. S. 90-112). 772 Holtzendorff. Brüderschaft, 1861, S. 37. Auch die Debatte im Abgeordnetenhaus konzentrierte sich auf diesen Aspekt (siehe ausfuhrlicher Berger. Konstante Repression, 1974, S. 173-175). 773 Holtzendorff. Brüderorden, 1862, S. 7-21, 32-43. Konflikte zwischen den Diakonen und dem übrigen Gefängnispersonal wurden auch von evangelischen Gefängnisseelsorgern beklagt. Vgl. dazu EZA, Best. 7, Nr. 1688: Bericht des ehemaligen Neugarder Anstaltsgeistlichen Liebich an den EOK vom Februar 1853, Bl. 171-226, hier Bl. 174r-176r. Holtzendorff. Brüderschaft, 1861, S. 28. 775 Holtzendorff: Brüderschaft, 1861, S. 38. 776 Holtzendorff: Brüderschaft, 1861, S. 35. 777 Holtzendorff: Brüderschaft, 1861, S. 46. Daß hier das grundsätzliche Verhältnis von Religion und Staat im Vordergrund stand, ist daran erkennbar, daß die konkreten Konflikte mit den Rauhhäuslern eher am Rande erwähnt wurden, obwohl in der Debatte auch Fälle von unangemessener Härte auf Seiten der Brüder für Aufsehen gesorgt hatten {Holtzendorff: Brüderschaft, 1861, S. 41-42 u. Holtzendorff: Brüderorden, 1862, S. 49-50). Und auch nur nebenbei äußerte von Holtzendorff seine Zweifel an der Qualifikation der Brüder durch ihre Ausbildung im Rauhen Haus (Holtzendorff: Brüderorden, 1862, S. 59). Vgl. ähnlich, wenn auch in weniger scharfem Ton: Roeder: Strafvollzug, 1863, S. 239-276;

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Die Kritik an den einseitig religiösen Besserungskonzepten zielte jedoch nicht nur auf die Unvereinbarkeit von konfessioneller Organisation und einheitlicher staatlicher Gefängnisverwaltung ab, sondern sprach außerdem Wiehern aus gefángniskundlicher Perspektive die Rolle eines Experten ab. Seine theologische und konfessionelle Verortung hielt von Holtzendorff für nicht vereinbar mit Kriterien der Objektivität und Wissenschaftlichkeit, die das gefängniskundliche Expertenwissen legitimierten. Konkret bezog sich der Vorwurf der mangelnden Objektivität und Wissenschaftlichkeit auf die von Wichern 1861 herausgegebenen offiziellen „Mitteilungen aus den amtlichen Berichten über die königlich Preußischen Straf- und Gefangnisanstalten",778 mit denen er einen Beitrag zur weiteren Erforschung des Gefangniswesens leisten wollte. Die darin enthaltenen Informationen und Berichte seien tendenziös und in ihrer Selektion nicht nachprüfbar. Man erfahre darin mehr über die Anzahl der Gesangbücher und der Kommunionen als über andere Bereiche des Strafvollzugs. „Da Herr Wichern Oberconsistorialrath ist und die theologische Doctorwürde besitzt, so kann es Niemand auffallig finden, wenn er der Seelsorge in den Strafanstalten eine größere Aufmerksamkeit zuwendet, als ein Mediziner oder ein Jurist in gleicher amtlicher Stellung thun würde."779 Dem stellte von Holtzendorff die Strafrechtswissenschaftler Mittermaier und Röder als Autoritäten der Gefängniskunde gegenüber.780 Doch unabhängig von der zunehmend politisierten Debatte um den Einsatz der evangelischen Diakone im preußischen Strafanstaltsdienst hatten die weitverbreiteten Konflikte zwischen Anstaltsdirektoren und Gefängnisseelsorgern bereits gezeigt, daß der Utopie einer christlichen Besserungsanstalt strukturelle Probleme entgegenstanden, die von der bereits weit fortgeschrittenen Ausdifferenzierung zwischen Staat und Kirche herrührten. Ganz abgesehen davon hätten Wicherns Diakone ohnehin nicht den Gesamtbedarf an Aufsehern in Preußen decken können.781 Dafür wäre schon eine staatlich organisierte Ausbildung von Nöten gewesen. Während sich jedoch einerseits die Religion bei der Volkserziehung noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein ihre Bedeutung erhalten konnte und die Pastoraltheologie mit ihren individualisierenden und spezifizierten Seelsorgekonzepten moderne Disziplinierungstechniken anbot, die sich funktional in das vielschichtige Disziplinarsystem der Besserungsstrafe einpassen ließen, Füesslin: Gefángnis-Reform, 1865, S. 101-102 u. Mittermaier: Gefängnisfrage, 1860, S. 137-138. 778 Mitteilungen aus den amtlichen Berichten über die königlich Preußischen Straf- und Gefangnisanstalten, 1861. Vgl. außerdem Wichern: Gesammelte Werke, Bd. 6, 1973: Promemoria betreffend die Veröffentlichung von Jahresberichten über die zum Ressort des Ministerii des Inneren gehörigen Königlichen Preußischen Straf- und Gefangnisanstalten (1860), S. 170-175. 779 Holtzendorff. Brüderorden, 1862, S. 27. 780 Holtzendorff: Brüderorden, 1862, S. 29. 781 Muntau·. Strafvollzug und Gefangenenfursorge, 1961, S. 40.

2.5 Christliche Besserungsutopien und ihre Grenzen

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wurde andererseits alles einseitig Religiöse, was über die sozial-moralische Instrumentalisierung hinausging, als Gefährdung des staatlichen Ziels der gesellschaftlichen Wiedereingliederung gesehen. Durch die religiösen Orden in Frankreich oder die Brüder aus dem Rauhen Haus sahen Reformer wie auch Anstaltsdirektoren diese rein funktionelle Einbeziehung bedroht, weshalb sie einen zu großen Einfluß religiöser Organisationen verhindern wollten. Das anvisierte Wechselspiel zwischen physischer Besserung und Strenge einerseits und tröstender Versöhnung und Ermutigung andererseits schien hiermit zu kippen. Den religiösen Aufsehern warf man vor, sie vernachlässigten über ihren religiösen Bekehrungsversuchen ihre eigentlichen Pflichten. 782 Gleichzeitig galten die freiwilligen Ordensvereinigungen nicht als verläßliche Partner einer staatlichen Verwaltungsorganisation. 783 Während sich Wicherns Initiative und der darum kreisende Konflikt nur auf das Aufsichtspersonal für die männlichen Strafgefangenen konzentrierten, gab es nahezu unbemerkt im Rheinland und in Westfalen Gefangnisse, an denen katholische Ordensschwestern und Kaiserswerther Diakonissen ihren Dienst im Frauenstrafvollzug leisteten. Für die Bonner Besserungsanstalt Pützchen, in der vorwiegend die korrektioneile Nachhaft an Prostituierten vollzogen wurde, forderte die Rheinisch-Westfälische Gefangnisgesellschaft 1850, die Aufsicht „weiblichen christlichen Corporationen zuzuweisen". 784 Der Vorschlag stieß beim rheinischen Oberpräsidium prinzipiell durchaus auf Interesse, vor allem nachdem es zu sexuellen Übergriffen gegenüber den Frauen durch den Oberinspektor gekommen war. Für die Betreuung der katholischen Frauen dachten die Beamten etwa an den Einsatz der Schwestern vom guten Hirten, die ihre besondere Aufmerksamkeit der Prostituiertenfursorge

782 Im Bericht über die im Strafanstaltsdienst tätigen Orden in Frankreich wurde kritisiert, daß sie den größten Teil ihrer Zeit mit Beten verbrächten. Weitere angeführte Probleme waren die unzureichende Zahl der Ordensbrüder sowie interne Richtungskämpfe, die somit die Ordensgemeinschaften zu einem schwer kalkulierbaren Faktor für den staatlichen Strafvollzug machten. Daneben wies der Artikel darauf hin, daß es bereits tödliche Angriffe auf die Ordensbrüder in den Anstalten gegeben habe (Art. „Geistliche Orden in den französischen Gefangnissen", in: Jahrbücher der Gefängniskunde und Besserungsanstalten 1848/11, Heft 3, S. 2 4 7 - 2 4 8 ) . 783

Selbst Julius, der unter den deutschsprachigen Gefangnisexperten noch am stärksten an einem religiös definierten Besserungskonzept festhielt und in seinem Bericht über die Arbeit der französischen Orden eine Übertragung auf die deutschen Gefängnisse für begrüßenswert hielt, wies sowohl auf die Finanzierungsprobleme der Ausbildungsanstalt als auch auf die geringen Kapazitäten der Orden hin, die den Personalbedarf der französischen Gefangnisse bei weitem nicht zu decken vermochten (Julius: Brüder und Schwestern, 1844, S. 3 2 1 - 3 2 2 ) . 784

JB RWGG 1851/23, S. 11. In einem späteren Bericht konnte der Verein vermelden, daß für die Oberaufsicht der Anstalt eine Pfarrerswitwe angestellt worden sei, die sich sowohl um Unterricht als auch um die Seelenpflege der inhaftierten Frauen kümmern sollte (JB RWGG 1857-1858/31, S. 24).

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2 Die Anfänge der Strañalligenfiirsorge (1777-1861)

widmeten. 785 Im katholischen Zuchthaus und Kriminalgefängnis in Münster hatten bereits seit 1846 die Barmherzigen Schwestern immerhin die Krankenpflege der weiblichen Insassen übernommen. 786 Während die Ordensschwestern häufig in der Krankenpflege arbeiteten, bildete die Aachener Strafanstalt, wo seit den 1850er Jahren Franziskanerinnen den Aufsichtsdienst über die inhaftierten Frauen übernommen hatten und bis zum Ausbruch des Kulturkampfes dort tätig waren, sicherlich eine Ausnahme unter den deutschen Gefängnissen. 787 Die Übernahme der Gefangenenaufsicht durch die Schwestern wurde vom damaligen Anstaltsdirektor ausdrücklich unterstützt. In einem Bericht an den Ausschuß der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft zog er eine positive Bilanz: „Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht unerwähnt lassen, welchen günstigen Einfluß die im Weiberrevier als Aufseherinnen fungierenden geistlichen Schwestern vom Orden des heiligen Franziskus, auf die Gefangenen ausüben, durch ihr stilles, einfaches, mit wahrer Frömmigkeit verbundenes Wesen herrscht in diesem Revier jetzt eine Ruhe, an die früher gar nicht zu denken war - bekanntlich ist ein gefallenes Weib frecher und gemeiner, denn der schlechteste Mann - die Gefangenen wissen, daß die reine Nächstenliebe der Schwestern ihren schwierigen Beruf ausüben läßt und dadurch wird das boshafteste, ränkevollste Gemüht gebrochen; ebenso wie ihr Ordenskleid sie vor thätlicher Widersetzlichkeit schützt, so schützt ihre Bildung, ihr bescheidenes Wesen vor Ausbrüchen der Roheit oder Gemeinheit." 788 Von evangelischer Seite wurden ebenfalls Anstrengungen unternommen, im Rheinland christlich gesinnte Frauen für die Aufsicht von weiblichen Gefangenen zu gewinnen. Wie aus der Korrespondenz Theodor Fliedners hervorgeht, bemühte er sich bereits Anfang der 1830er Jahre um die Vermittlung geeigneter Kandidatinnen. 789 Mit dem Aufbau des ersten deutschen Diakonissenhauses in Kaiserswerth, das 1836 gegründet wurde, plante Fliedner, selbst Schwestern für die Gefangenenarbeit auszubilden. Im ebenfalls auf ihn zurückgehenden Asyl für weibliche Entlassene sollte den dort leitenden Diakonissen jeweils eine junge Schwester zur Seite gestellt werden, „damit diese die Gefangenen-Pflege hier praktisch übe und erlerne". 790 Diese Einführung in die Arbeit mit weiblichen Straffälligen war langfristig darauf ausgerichtet, Diakonissen ebenso wie die Franziskanerinnen beim Aufsichtsdienst in Frauengefangnissen oder Frauenabteilungen von Gefangnissen einzuset785

Siehe dazu die entsprechende Korrespondenz Fliedners mit den rheinischen Behörden im Jahre 1851, in: AKD 10. 786 Julius: Gefängnis-Vereine, 1847, S. 118 u. JB RWGG 1848/21, S. 16. 787 JB RWGG 1856/29, S. 9. 788 HStAD, RW 1-186: Bericht des Aachener Anstaltsdirektors Herford an die RWGG v. 8.11.1856. 789 FA, Rep. II Ee: Schreiben des Werdener Anstaltsgeistlichen Verhoeff an Fliedner v. 23.12.1833. 790 Bericht über das evangelische Asyl, Kaiserswerth 1844-1845/12, S. 3.

2.5 Christliche Besserungsutopien und ihre Grenzen

181

zen, ähnlich wie es das Konzept des Rauhen Hauses vorsah. Zu einem tatsächlichen (wenn auch nur partiellen) Einsatz sollte es jedoch erst in den 1870er Jahren kommen. 791 Der Einsatz von katholischen Schwestern als Gefängnisaufseherinnen und die Diskussion um eine entsprechende Verwendung von Diakonissen waren in dieser ersten Periode der Gefängnisreform eher eine regionale Randerscheinung. Doch im Gegensatz zum männlichen Aufsichtspersonal gab es im Kaiserreich weitere Projekte, bei denen Frauen in konfessionellen Anstalten auf den Strafanstaltsdienst vorbereitet werden sollten. Das geringe Aufsehen, das diese offensichtlich vor allem im lokalen Einvernehmen gegründeten Einrichtungen angesichts der Kontroverse um die evangelischen Diakonie erregten, verweist jedoch auf zwei Merkmale des Gefängnisdiskurses: Erstens konzentrierten sich die Gefängnisreformbestrebungen auf die männlichen Straftäter und damit auf die Mehrheit der Gefängnisinsassen. Zweitens zeichnete sich eine geschlechterspezifische Differenzierung der Besserungskonzepte ab, wonach die religiöse Erziehung für Frauen größere Legitimität besaß. Diese Argumentation wurzelte in der allgemeinen Geschlechterdifferenz, die dem Weiblichen ein größeres Bedürfnis an Religiosität zuschrieb und zugleich davon ausging, daß der Religion aufgrund der besonders gefürchteten sittlichen Gefahrdung von Frauen eine große Bedeutung für die Disziplinierung zukomme - zumindest sofern sie nicht in religiöse Schwärmerei ausarte. 792 Das Diakonenprojekt konnte dagegen im Kaiserreich nicht mehr revitalisiert werden, obwohl das Problem der mangelnden Qualifikation der Aufseher ein zentraler Diskussionspunkt der Gefängniskunde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb. Die Auseinandersetzung um die Rauhhäusler verdeutlichte jedenfalls den wachsenden Legitimationsverlust religiöser Besserungskonzepte und ihrer Vertreter innerhalb des Gefangnisdiskurses und stellte damit langfristig auch den Wissens- und Expertenstatus der Gefangnisseelsorger in Frage. Herausforderungen der

Besserungsstrategien

Während sich bis Anfang der 1860er Jahre einerseits die Gefangenenseelsorge als fester Bestandteil der modernen Besserungsstrafe im Gefangniswesen etablierte und institutionalisierte, sahen sich die Anstaltsgeistlichen andererseits seit der Jahrhundertmitte einer beginnenden Relativierung ihrer funktionellen Einbindung und zunehmend kritischer werdenden Stimmen gegenüber. Religiöse Bekehrung galt nicht mehr im gleichen Maße wie früher als Garant fur eine sittlich-moralische Besserung. Vielmehr äußerte sich in 791

Vgl. dazu Abschnitt 3.5. Zu den durchaus ambivalenten Debatten angesichts der Feminisierung der Religion im 19. Jahrhundert vgl. z.B. De Giorgio·. Gläubige, 1999; Habermas: Weibliche Religiosität, 1994 u. McLeod: Weibliche Frömmigkeit, 1988.

792

182

2 Die Anfänge der Straffálligenfiirsorge (1777-1861)

den Vorwürfen der Frömmelei und der Erziehung zur Heuchelei die Forderung, die pastoralen Strategien stärker zu begrenzen. Die religiös-philanthropische Dimension der Strafvollzugsreform im Zeichen der christlichen Nächstenliebe verlor insgesamt an Bedeutung, während rechtliche und staatspolitische Argumentationsmuster nun im Vordergrund standen. Die konzeptionellen Experimente mußten langsam aber sicher ihre Wirksamkeit erweisen, und ihr Erfolg hing in immer stärkerem Maße von einer verläßlichen Prognose der „Besserungsfähigkeit" der Strafgefangenen ab. Das mangelnde Zutrauen in die objektive Urteilsfähigkeit der Geistlichen sowie das häufig gespannte Verhältnis zu den Anstaltsdirektoren ließ die Grenzen der christlichen Besserungsideale klar hervortreten. Die erfahrbare Geringschätzung sowohl ihres sittlichen und moralischen Urteils als auch ihrer Meinung als Gefangnisexperten stellte fur die Anstaltsgeistlichen, die sich selbst aufgrund ihrer individuellen Seelsorge und ihrer Aufsicht über die Beamten genauester Kenntnis der Gefangenen und der Anstalten rühmten, eine Herausforderung dar. Mit grundlegender gefangniskundlicher Bildung, institutionalisierten Instruktionen und beruflichen Garantien sollte diesem drohenden Bedeutungsverlust begegnet werden. Zugleich korrigierten die Gefängnisgeistlichen durch diese Erfahrungen ihre Selbstwahrnehmung und ihr Verhältnis zu den Gefangenen. Viele Seelsorger klagten über ihre schwere Aufgabe angesichts von Widerständen und Verhöhnung durch die Gefangenen sowie über ihre „schmerzlichen Erfahrungen von fortdauernder Halsstarrigkeit und Verstocktheit oder Heuchelei".793 Weil sich in ihren Augen „Unsittlichkeit" und mangelnde Religiosität gegenseitig bedingten, mußten sie Schwierigkeiten bei der Bekehrung dieser besonderen Gemeinde erwarten. Doch die erprobten Seelsorgetechniken stießen in der Strafanstalt, integriert in ein komplexes Besserungsdispositiv, auf besondere Bedingungen, deren Zusammenwirken es in dieser experimentellen Entwicklungsphase des modernen Strafvollzugs erst noch zu erproben und kennenzulernen galt. Insbesondere das Verhalten der Verurteilten in der Gefangenschaft war zu Beginn der Konzeptionalisierung der Besserungsstrafe weitgehend unbekannt - alles konzentrierte sich darauf, Maßnahmen und architektonische Lösungen auszuarbeiten, während die Gefangenen lediglich als Objekte der Erziehung wahrgenommen wurden. Gemäß des Seelsorgekonzepts, den Gefangenen ein strenger moralischer Ermahner und zugleich Ratgeber, Vermittler und Freund zu sein, sollte sich die Aufgabe des Geistlichen von den anderen Zwangsinstrumenten der Strafanstalten unterscheiden. Gleichzeitig sahen die Reglements vor, daß die Geistlichen mit den anderen Oberbeamten über Disziplinarstrafen entschieden - eine Aufgabe, die sie nicht zuletzt im Falle der Mißachtung durch den Anstaltsdirektor einforderten. Dieses Rollenverständnis wies Widersprüchlichkeiten auf, die auch die Seelsorger bemerkten. Während beispielsweise 793

JB RWGG 1830/3, S. 27.

2.5 Christliche Besserungsutopien und ihre Grenzen

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die pastoralen Handlungsanleitungen den Seelsorgern vorgaben, die strafrechtlich festgestellte Schuld nicht zum Gegenstand ihrer Zwiegespräche zu machen, sondern ihre Bemühungen auf die religiöse Sündenproblematik einerseits und auf die christliche Gnadenlehre und die persönliche Anteilnahme und Hilfe andererseits zu konzentrieren, ließen sich in den Berichten doch immer wieder Überreste ihrer früheren Funktion innerhalb des frühneuzeitlichen Straftheaters, der Herbeiführung des Schuldbekenntnisses, erkennen. Als besonderes Verdienst hoben die Gefängnisgeistlichen wiederholt hervor, daß erst auf ihre Einwirkung hin, „mehrere der Lüge ergebene Personen [.] durch Gottes Gnade das Schändliche derselben eingesehen, und vor Gericht Vieles gestanden [hätten], was sie vorher entschieden leugneten". 794 In ähnlicher Weise widersprüchlich erwiesen sich auch alle Vorkommnisse, bei denen Geistliche Disziplinarverstöße der Gefangenen zur Anzeige brachten, die streng genommen in den Aufgabenbereich der Aufseher gehörten. 795 Die Erfolgsquote der religiösen Erziehung war jedoch nach Angaben der Seelsorger insgesamt nicht sehr hoch. Die Widerstände der Gefangenen gegen eine „freiwillige" Öffnung ihrer Seelenzustände gegenüber dem sich in Geduld übenden und mitfühlenden Anstaltsgeistlichen lassen sich aus den Erfahrungsberichten deutlich herauslesen. Für diese Negativbilanz gab es zwei pastorale Lesarten: Erstens schieden die Mißerfolge die „unverbesserlichen", moralisch „verderbten" Anstaltsinsassen von den „besserungsfähigen" Sträflingen. 796 Zweitens wurde die fehlende Wirkung der individuellen Seelsorge als Folge unzureichender Gefängnisreformen und insbesondere mangelnder Klassifizierung in den Anstalten interpretiert. Die sichersten Bekehrungserfolge erzielte die Gefangnisseelsorge lediglich auf dem Totenbett oder auf dem Krankenlager. In den Reporten der rheinischen und westfälischen Anstaltsgeistlichen stachen diese Bekehrungsgeschichten durch ihre Regelmäßigkeit besonders hervor. 797 Wie bereits Kittsteiner für die frühneuzeitlichen kirchlichen Disziplinierungsversuche zeigen konnte, bekam die Religion bei der Mehrzahl der Bevölkerung erst im Angesicht des nahenden Todes ihre Bedeutung. 798 Doch dabei verfehlten sowohl die früheren kirchlichen Disziplinierungsversuche als auch die Gefangnisseelsorge ihre weltliche Erziehungsaufgabe. Eine Herausforderung der besonderen Art stellten für die Seelsorger die politischen Gefangenen dar. Im Kern richtete sich die Konzeption der Besserungsstrafe freilich nicht an dieser Form von Kriminalität aus, sondern orien794 JB RWGG 1836/9, S. 16. Vgl. auch die Bemerkungen des katholischen Anstaltsgeistlichen in Bruchsal nach Füesslin: Einzelhaft, 1855, S. 117. 795 Siehe z.B. die Anzeige eines Insassen wegen Diebstahls: HStAD, RW 1-192: Bericht des katholischen Gefängnisgeistlichen Giesen in Düsseldorf v. 12.9.1829. 796 Vgl. z.B. JB RWGG 1841/14, S. 8. 797 Vgl. z.B. JB RWGG 1835/8, S. 15; 1837/10, S. 9 u. 12; 1841/14, S. 10; 1845/18, S. 6 u. 7-9; 1846/19, S. 9 u. 1849/22, S. 8-9. 798 Kittsteiner. Entstehung des modernen Gewissens, 1995, S. 299.

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2 Die Anfänge der StrafFálligenfürsorge (1777-1861)

tierte sich an einem sozial-moralischen Verbrecherbild. Politische Gefangene, wie sie vor allem im Zuge der politischen Bewegungen im Vormärz und der politischen Verfolgungen durch die Restaurationspolitik sowie infolge der 1848er Revolution in größerer Zahl inhaftiert wurden, waren für den Gefangnisdiskurs der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert kein wichtiges Thema. Obwohl derartige Sträflinge auch für Anstaltsgeistliche eher eine Ausnahme bildeten, sahen sie in ihnen und ihren politischen Auffassungen eine besondere Gefährdung ihrer religiösen Autorität. Die politischen Gefangenen würden „alle Religion verläugnen und nur für eine Erfindung politischer Tyrannei halten, welche durch geistliche Vermittlung den letzten Rest von Freiheit zu bedrücken beabsichtigen. Bei solchen erzeugt die Ansprache des Geistlichen und der Gottesdienst nur heimliche Erbitterung und Verstockung und ist ihnen weder mit Liebe noch mit Wahrheit beizukommen, da sie in ihrer geistigen Zerrüttung jeden, der sich im Gefangnisse um sie bekümmert, für ihren Feind anerkennt".799 Die Feindwahrnehmung bestimmte freilich auch die Seelsorger, von denen die „Freigeisterei" zuweilen als „eine Pest der Anstalt" gegeißelt wurde.800 Ein zentraler Aspekt der Erfahrungsverarbeitung innerhalb des seelsorgerischen Gefängnisdiskurses war allerdings das Problem der Heuchelei und damit die richtige Einschätzung des Verhaltens der Gefangenen. Das Verhältnis zwischen Disziplinierungsagent und Disziplinierungsobjekt erwies sich als nicht so einseitig, wie es die religiösen Besserungskonzepte vorzeichneten. Die Seelsorger nahmen wahr, daß die Gefangenen selbst Strategien entwikkelten, um den Gefängnisalltag ertragbar zu machen. Sie mußten befremdet feststellen, daß die Strafanstaltsinsassen ihrerseits versuchten, sie über die zum Ziel der Besserung angebotene Vermittlung hinaus für ihre Interessen zu instrumentalisieren.801 Der katholische Anstaltsgeistliche in Bruchsal empörte sich darüber, mit welchen Bitten sich die Inhaftierten an ihn wandten: „Zuerst sandten sie eine Deputation an mich, die mir erklärte, daß sie bei der gegenwärtigen Kost nicht leben könnten, und daß es Gewissenspflicht eines christlichen Seelsorgers sei, sie vom Hungertode zu erretten. Bald wollte Einer begnadigt sein, bald wurde mir Fleisch und Brod gezeigt, welches nicht vorschriftsgemäß sei, bald wollte einer von der Verwaltung ungerechte Strafe 799

FA, Rep. II E e: Bericht des evangelischen Gefangnispfarrers in Werden für 1830. JB RWGG 1832/5, S. 16. Siehe ähnlich auch JB RWGG 1850/23, S. 15. Vgl. auch die Kritik politischer Gefangener an der konfessionellen Behandlung wie z.B. bei dem politischen Gefangenen Otto J.B. Corvin-Wiersbitzki: „An meine Thür ist ein Täfelchen befestigt mit einem E, das heißt .Evangelisch'. Ich weiß nicht, wie man dazu kommt, mich gerade in diesen Kirchenstuhl zu sperren. Getauft bin ich lutherisch und da wir in Deutschland wenigstens Glaubensfreiheit haben, so brauche ich mich zu keiner bestehenden christlichen Secte bekennen; daß ich weder ein Jude, nicht ein Mohammedaner, noch ein Heide, sondern daß ich durchaus Corvinianer und vielleicht das einzige Mitglied meiner Kirche bin". Corvin-Wiersbitzki: Aus dem Zellengefangnis, [1884], S. 287. 800

801

JB RWGG 1840/13, S. 12.

2.5 Christliche Besserungsutopien und ihre Grenzen

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erhalten haben; ein Anderer hatte Streit mit seinen Mitgefangenen und wollte, daß ich die Sache ausgleiche, aber natürlich nur ihn hören und nur ihm Recht geben sollte." 802 Inwieweit die Strafgefangenen ihre Buße und sittliche Umkehr nur vortäuschten, entwickelte sich daher zu einer wichtigen Frage der Seelsorgepraxis. Die beklagte Heuchelei der Gefangenen ließ sich nun nicht mehr allein als fehlende Sündeneinsicht und als einfache Ableitung vom moralischen Verbrecherbild lesen. Ihre Entlarvung und der Beweis wahrhafter Buße und Reue war freilich bereits ein Thema der allgemeinen Seelsorgelehre, 803 doch angesichts konstant hoher Rückfallzahlen, dem langfristig zunehmenden Erfolgsdruck auf die Besserungssysteme und der von vielen Anstaltsdirektoren und Reformer in Zweifel gezogenen Urteilskraft der Geistlichen entschied die Bewältigung dieses Problems schließlich auch über die Rolle der religiösen Besserungskonzepte und ihrer Agenten innerhalb des staatlichen Strafvollzugs. In der pastoraltheologischen Tradition und vor allem nach pietistischer Auffassung galten Tränen als untrügliches Zeichen von Reue und tiefer Rührung. 804 In den Schriften und Tätigkeitsberichten der Gefängnisseelsorger findet sich diese Beweisführung ebenso in bezug auf die Strafgefangenen. 805 In den feuchten Augen während des Gottesdienstes sahen die Geistlichen die ersten Anzeichen der emotionalen Erschütterung, auf deren Grundlage sie dann in den Einzelgesprächen die Verurteilten zum Sündenbekenntnis und schließlich zur sittlichen Umkehr zu bewegen hofften. Doch die Unsicherheit der Geistlichen blieb: „Ich bin durch vielfache Erfahrungen zu dem Urtheile gedrängt, daß Bekehrungen im Zuchthaus sehr trügerische Erscheinungen sind." 806 Das religiöse Bekehrungsverständnis vom verblendeten Sünder, der über den Weg seelischer Qualen und emotionaler Bewegung schließlich seine „sittliche Wiedergeburt" erfahrt, begann seine Bedeutung zu verlieren, als die Gefangenschaft als besondere Handlungssituation entdeckt wurde, von der nicht auf allgemeine Verhältnisse und vor allem nicht auf die Zeit nach der Entlassung geschlossen werden konnte. „Gerade die verworfensten und ver-

802

Nach Füesslin: Einzelhaft, 1855, S. 72. Steiger. Seelsorge, 2000, S. 21. 804 Kittsteiner. Entstehung des modernen Gewissens, 1995, S. 341-343. 805 J B R W G G 1836/9, S. 16 u. 1841/14, S. 7; Julius: Weibliche Fürsorge, 1827, S. 22; Laroque: Einzelhaft, 1848, S. 78; Jablonowski·. Seelsorgerliche Thätigkeit, 1844, S. 83; Bericht des katholischen Gefängnisgeistlichen Grünmeyer in Düsseldorf für das Jahr 1833, in: HStAD, RW 1-192. Vgl. kritisch zur Beweiskraft der Träne: EZA, Best. 7, Nr. 1811: Auszug aus dem Visitationsbericht über die Seelsorge im Gefängnis des Regierungsbezirks Bromberg v. 6.12.1858, Bl. 99-104r, hier Bl. 100v-r; Jahrbücher der Straf- und Besserungs-Anstalten, Erziehungshäuser, Armenfürsorge, und anderer Werke der christlichen Liebe 1832/8: Bericht über die Thätigkeit des Vereins zur Besserung der Strafgefangenen und verwahrloseten Kinder in Danzig im Jahre 1831, S. 112-129, hier S. 116. 803

806

EZA, Best. 7, Nr. 1688: Bericht aus Neugard v. 1.2.1853, Bl. 227v~244r, hier Bl. 232r.

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2 Die Anfänge der Straffalligenffirsorge (1777-1861)

ächtlichsten Menschen, die gemeinen und heuchlerischen, die feigen, feilen, kriechenden Naturen, die Diebe, die Betrüger, sie sind es gerade die der Polizei am wenigsten Sorge machen, weil sie an keine Flucht und keinen Aufstand denken, sich am leichtesten in die vorgeschriebene Ordnung fügen". 807 Doch nicht nur der Seelsorge-, sondern der gesamte Gefangnisdiskurs geriet in seinen Grundannahmen ins Wanken, als sich immer häufiger herausstellte, daß die rückfälligen Straftäter sich während der Haft am besten führten. Besserungskriterien, wie sie in den Conduitenlisten und Klasseneinteilungen umgesetzt wurden, waren damit im Hinblick auf den Endzweck der langfristigen Besserung ad absurdum gefuhrt. Dies stellte nicht nur die Überprüfbarkeit der moralischen Besserung und der intendierten sittlichen Internalisierung, sondern auch die Wirksamkeit der physischen Konditionierung in Frage. Nach einer ersten Phase der Institutionalisierung und des Experimentierens mit verschiedenen Strafsystemen steuerte der Gefängnisdiskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf eine Krise zu, die sich als Erkenntnisproblem formulieren läßt. Die mangelnde Sichtbarkeit der Erziehungswirkungen nährte die Zweifel an einer hermeneutischen Beweisführung und bereitete den Boden für naturwissenschaftlich und anthropologisch fundierte Kriminalitäts- und Straftheorien. Die Ungewißheiten der Besserungsstrafe nährten Zweifel an der Effektivität des reformierten Strafvollzugs, von dem man sich gerade das Gegenteil erhofft hatte. Für das religiöse Besserungskonzept stellte sich die Frage, wie lange die Zweifel an der funktionalen Verschränkung religiöser Erziehungstechniken und physischer Zwangsinstrumente noch durch die religiöse Motivation, für jede Rettung dankbar zu sein, überbrückt werden und wie lange die religiöse Besserung noch dem Effizienzdruck standhalten konnte: „Nur da, wo ein freiwillig ausgesprochenes Sündenbekenntnis vorkommt, wo dieses selbst über das Vergehen hinausgeht, das die eben jetzt erlittene Haft und Strafe nach sich gezogen hat, wo eine Stille eingetreten, die ein inneres Nachdenken nicht verkennen läßt, wo, was schon sehr selten ist, eigentliche geistliche Hülfe nachgesucht wird, ist der Seelsorger zu Hoffnungen berechtigt, die so leicht nicht getäuscht werden. Solche Hoffnungen stehen zwar sehr vereinzelt da, allein es hat auch in dem Jahre nicht daran gefehlt, und ich muß es mit um so größerem Danke gegen Gott bekennen, als die Mehrzahl scheinbar so hoffnungslos bleiben läßt." 808

807 808

Moll·. Besserung, 1841, S. 16. JB RWGG 1847/20, S. 12.

3 Die Renaissance des Verwahrungsgedankens (1861-1918) 3.1 Strafdebatten zwischen Verwissenschaftlichung, Professionalisierung und gesellschaftlicher Krisendiagnose Strafvollzugspolitik

im Zuge der Reichseinigung

Die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts international geführten Gefangnisdebatten hatte einerseits dem modernen Strafvollzug über die Ländergrenzen hinweg ein ähnliches Gesicht verliehen. Andererseits existierten in Folge der eher experimentellen Entwicklung des Gefangniswesens selbst innerhalb der jeweiligen Staatsgrenzen unterschiedliche Vollzugsbestimmungen, ganz abgesehen von den verschiedenen baulichen Voraussetzungen, die in den einzelnen Strafanstalten anzutreffen waren. Neueingerichtete Musteranstalten wie Bruchsal oder Moabit ragten wie Inseln aus dem Meer der vielen kleinen und kleinsten Strafanstalten heraus. Auf diese Modellgefängnisse konzentrierte sich der Blick der Ministerialbürokratie und der gefangniskundlichen Experten, während in den übrigen die ursprünglich mehr oder weniger provisorisch eingeführten Maßnahmen beibehalten und nur wenige der Reformideen konsequent umgesetzt wurden. Mit der deutschen Reichsgründung 1870/1871 potenzierte sich das rechtliche und verwaltungstechnische Problem der Vollzugsvielfalt: Zu den regionalen Differenzen innerhalb der deutschen Staaten kam die Regelungsdiversität zwischen den Einzelstaaten hinzu. Während das Deutsche Reich zum Zweck der staatlichen Einheitlichkeit und Rechtsgleichheit ein neues gemeinsames Strafrechtsbuch sowie eine einheitliche Strafprozeßordnung und Gerichtsverfassung erhielt, blieb für den Strafvollzug „eine bunte Musterkarte von mehr als 60 Dienst- und Vollzugsordnungen" als Grundlage bestehen.' Das Reichsstrafgesetzbuch vom 15. Mai 1871, das sich stark am preußischen Strafgesetzbuch von 1851 orientierte, enthielt nur wenige Bestimmungen, die den Vollzug der Strafen genauer definierten. Die festgeschriebene Unterscheidung der Strafarten - man hatte das viergliedrige System von Festungs-, Haft-, Gefängnis- und Zuchthausstrafe (Paragraphen 14 bis 18) beibehalten - erschöpfte sich allein im Kriterium des Arbeitszwangs, womit die Gefangenenarbeit entgegen den Pädagogisierungswünschen der Vollzugsexperten weiterhin formal zu einem reinen Strafubel degradiert wurde. Weitere Abstufungsmöglichkeiten, wie sie Vollzugsexperten etwa für den Überverdienst, den Besuchs- und Briefverkehr, die Kleidung und Zellenausstattung oder den Bereich der Disziplinarstrafen vorgeschlagen hatten, blieben unbe1

Schmidt: Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1947, S. 323.

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3 Die Renaissance des Verwahrungsgedankens (1861-1918)

rücksichtigt.2 Angesichts der Tatsache, daß in den einzelnen Strafanstalten oftmals verschiedene Strafformen gleichzeitig ausgeführt wurden, verwischte die im Gesetzbuch vorgesehene Strafdifferenzierung in der Vollzugspraxis ohnehin.3 Die fehlende Verrechtlichung der Strafpraxis zeigte sich vor allem darin, daß das Reichsstrafgesetzbuch kein spezifisches Strafsystem festlegte. Damit blieb das Ringen um das beste Strafmodell, das die Gefangnisreformdebatten seit den 1840er Jahren bestimmt hatte, weiterhin offen. Die Einzelhaft wurde zwar in Paragraph 22 ausdrücklich für zulässig erklärt, jedoch weder ihr Anwendungsbereich noch ihre Ausführung genauer spezifiziert. Das Strafgesetzbuch von 1871 begrenzte lediglich die Höchstdauer der Einzelhaft auf drei Jahre, die nur mit Zustimmung des Gefangenen verlängert werden durfte.4 Obwohl die Mehrheit der deutschen Fachleute die Einzelhaft, zumindest in modifizierter Form ohne die vollständige Isolierung durch Gesichtsmasken und ähnliches, nach wie vor als bestes Mittel gegen die Gefahr der kriminellen Infektion im Gefängnis betrachtete, wurde sie nicht zum Normalfall. Erst seit Mitte der 1870er Jahre und dann vor allem in den 1890er Jahren mehrten sich die Versuche, die Einzelhaft durch neue Zellengefangnissen oder Erweiterungsbauten auszudehnen.5 Das Reichsstrafgesetzbuch beinhaltete nur noch eine weitere für den Strafvollzug relevante Bestimmung, und zwar das Recht der vorläufigen Entlassung (Paragraphen 23 bis 26).6 Anders als in der gefängniskundlichen Literatur diskutiert und in den englischen und irischen Systemen des progressiven Strafsystems verwirklicht,7 stellte es jedoch kein selbständiges Rechtsinstitut dar. Das heißt, die „vorläufige Entlassung" war nicht als integraler Bestandteil eines mehrstufigen Besserungssystems konzipiert, sondern glich eher ei2

Krohne: Gesetzliche Regelung des Strafvollzugs, 1875, S. 10-14. Holtzendorff/Jagemann·. Handbuch des Gefängniswesens, Bd. 1, 1888, S. 145. 4 Vgl. dazu Holtzendorff/Jagemann: Handbuch des Gefängniswesens, Bd. 1, 1888, S. 144145. Eine gesetzliche Spezifizierung der Frage, in welchen Fällen die Strafe in Form von Einzelhaft zu vollziehen sei, wurde im Reichstag zwar diskutiert, doch angesichts der nach wie vor geringen Zahl der vorhandenen Einzelzellen wurde eine entsprechende Regelung unter Hinweis auf die finanziellen Implikationen abgelehnt (vgl. dazu Schenk: Bestrebungen zur einheitlichen Regelung, 2001, S. 11). Neue Zellengefängnisse entstanden z.B. in Bremen (1874), in Freiburg (1879), im hessischen Butzbach (1894), in Mannheim (1909) und im mecklenburgischen Biitzow (1876). 1905 erhielt die Hamburger Anstalt in Fuhlsbüttel ein Zellengebäude. Vgl. Höfken: Entwicklung des Gefängniswesens, 1952, S. 76-77 u. Berger: Konstante Repression, 1974, S. 107. 6 Neben dem Reichsstrafgesetzbuch enthielt noch die Reichsstrafprozeßordnung relevante Bestimmungen zur Frage der Vollstreckbarkeit von Strafen, die jedoch für die Ausgestaltung des Strafvollzugs selbst unwichtig waren (vgl. dazu Holtzendorff/Jagemann: Handbuch des Gefängniswesens, Bd. 1, 1888, S. 148-149). 7 Zur „vorläufigen Entlassung" als Teil des Progressivsystems vgl. Schulze/Ellger. Gefängniskunde, 1925, S. 116-117. 3

3.1 Strafdebatten

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nem unsystematisch angewandten Gnadenmittel. Prinzipiell stand die „vorläufige Entlassung" jedem Strafgefangenen offen, der zu einer mehr als einjährigen Gefängnis- oder Zuchthausstrafe verurteilt worden war. Die gesetzliche Regelung sah vor, daß der Sträfling bei guter Führung nach Verbüßen von drei Vierteln der Strafdauer, jedoch frühestens nach einem Jahr Haft, vorläufig entlassen werden konnte. Sofern sich die Entlassenen in Freiheit nicht bewährten, mußten sie die volle verbleibende Zeit der gerichtlich festgelegten Strafdauer ableisten. 8 In der Regel hing die „vorläufige Entlassung" von einer Empfehlung des jeweiligen Strafanstaltsdirektors ab, der das Gesuch dann an die Staatsanwaltschaft zur endgültigen Entscheidung weiterleitete. 9 Die „vorläufige Entlassung" kam jedoch in den einzelnen deutschen Staaten rein zahlenmäßig ganz unterschiedlich zur Anwendung. In Preußen profitierten beispielsweise nur sehr wenige Gefangene von dieser neuen Möglichkeit. 10 Die Ausgestaltung des Strafvollzugs blieb somit in erster Linie Sache der Einzelstaaten. 11 An Initiativen für eine konsequente reichsweite Vereinheitlichung und Verrechtlichung hatte es zu Beginn der Reichsgründung gleichwohl nicht gemangelt. 12 Nach verschiedenen parlamentarischen Resolutionen nahm 1875 das Reichsjustizministerium die Arbeit an einem entsprechenden Gesetzentwurf auf und berief hierfür eine Expertenkommission ein, die ausschließlich aus Praktikern des Strafvollzugs - allesamt Strafanstaltsdirektoren - bestand. Der im Juni 1878 vorgelegte Entwurf erreichte allerdings lediglich den Bundesrat und wurde aufgrund verschiedener Widerstände erst gar nicht mehr dem Reichstag zur Beratung vorgelegt. 13 Nach dem vorzeitigen Scheitern des Gesetzentwurfes gab es im Kaiserreich auf parlamentarischer und

8

Vgl. dazu Höfleen: Entwicklung des Gefangniswesens, 1952, S. 73. Gefängnisordnung für die Justizverwaltung, 1898, S. 2-3. § 25 des RStGB regelte, daß die oberste Justiz-Aufsichtsbehörde über die „vorläufige Entlassung" entschied, jedoch zuvor die Meinung der Gefángnisverwaltung eingeholt werden mußte. 10 Berger. Konstante Repression, 1974, S. 207-212. 11 Die Reichsgerichtsordnung verpflichtete die Einzelstaaten zum Vollzug der gerichtlich verhängten Strafen (vgl. Hohzendorff/Jagemann: Handbuch des Gefängniswesens, Bd. 1, 1888, S. 147-148). 12 Im Zusammenhang mit der Einführung der Einzelhaft kam die Diskussion um eine gesetzliche Fixierung des Vollzugs der Freiheitsstrafen auf (siehe z.B. Mittermaier: Gefangnisverbesserung, 1858, S. 135-142). Für eine generelle Verrechtlichung des Strafvollzugs hatten sich bereits vor der Reichseinigung die Strafrechtswissenschaftler Mittermaier und von Hohzendorff aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit und des Prinzips der Gewaltenteilung ausgesprochen (Kammer. Das gefangniswissenschaftliche Werk, 1971, S. 122-127). 13 Der Entwurf umfaßte folgende Aspekte: die den Strafarten entsprechende Einrichtungen von Strafanstalten, Ordnung der Leitung und Aufsicht der Anstalten, Bestimmungen zur Aufnahme und Entlassung der Gefangenen, die Festlegung der Disziplinarstrafen und des Beschwerderechts der Gefangenen sowie vor allem die Haftform. Die Einzelhaft sollte nach dem Entwurf für die Zuchthaus- und Gefängnisstrafe zumindest für den Beginn der Strafzeit zwingend vorgeschrieben sein (vgl. Schenk·. Bestrebungen zur einheitlichen Regelung, 2001, S. 22-24). 9

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3 Die Renaissance des Verwahrungsgedankens (1861-1918)

ministerieller Ebene keine weiteren ernsthaften Vorstöße zur Verrechtlichung des Strafvollzugs.14 Die Forschung bescheinigt dem Gesetzentwurf allenfalls einen begrenzten indirekten Erfolg, indem die prominente Rolle der Einzelhaft im Entwurfstext weitere Reformimpulse ausgelöst und dazu gefuhrt habe, daß sich im Kaiserreich die Zahl der Einzelzellen deutlich erhöhte.15 Über die Gründe für das Scheitern des Vollzugsgesetzes besteht weitgehende Einigkeit. Die Crux des von den Experten bestimmten Entwurfs bestand eindeutig in der obligatorischen Einzelhaft für Zuchthaus- und Gefängnisstrafen, die fur alle Bundesstaaten einen enorm kostenträchtigen Anpassungsbedarf bedeutet hätte. Außerdem wäre es notwendig geworden, das gerade erste geschaffene Reichsstrafgesetzbuch entsprechend zu verändern.16 Sicherlich spielte daneben der Widerwille der Ministerialbürokratie gegen eine bindende gesetzliche Festschreibung der Strafanstaltsorganisation eine Rolle: Sie wollte lediglich präzisierende Ausführungsbestimmungen.17 Die Gefangnisfrage stieß aber auch bei den Parlamentariern des Reichstags nur auf geringes Interesse. Schließlich wird das allgemeine politisch repressive Klima, insbesondere seit der beginnenden Verfolgung der Sozialdemokraten im Zuge der Sozialistengesetze, für einen Umschwung weg von einer Reform im Sinne weiterentwickelter Besserungskonzepte hin zu einer spürbaren Verschärfung der Strafübel im Vollzug verantwortlich gemacht.18 Abgesehen von diesen Interpretationen legen die Debatten der Abgeordneten aber noch einen weiteren wichtigen Faktor frei, der nicht nur das Scheitern des Gesetzentwurfes erklärt, sondern bereits auf die spätere Krise der Gefängnisreformbewegung verweist. Die Redebeiträge lassen eine zunehmende Skepsis gegenüber der Effektivität des Besserungskonzepts und damit auch gegenüber den Vollzugsexperten und ihren Theorien generell erkennen. Dieses Mißtrauen führte letztlich dazu, daß die Einzelhaft vorwiegend als Kostenfrage diskutiert wurde, denn solange der Erfolg nicht garantiert war, überwogen die Zweifel, ob sich die Investition lohnen würde.19 Die Befur-

14 Vgl. Schenk: Bestrebungen zur einheitlichen Regelung, 2001, S. 22-24 u. Höften: Entwicklung des Gefängniswesens, 1952, S. 74-76. 15 Höften·. Entwicklung des Gefängniswesens, 1952, S. 76-78. 16 Siehe dazu exemplarisch Bismarcks Nachforschungen über die Folgekosten der Reform (Schreiben v. 21.1.1880, in: BArch, R/1501/108393). Vgl. ausführlich Schenk·. Bestrebungen zur einheitlichen Regelung, 2001, S. 24-27 u. 29-32. Vgl. insgesamt die ministeriellen Voten aus dem Jahr 1878, in: BArch, R/1501/108393. 18 Zur Verbindung zwischen Gefangnisreform und Sozialistenverfolgung siehe vor allem Ministerium des Innern: Denkschrift über die einheitliche Organisation, 1896, S. 23. Die Repressionsthese ist ein zentrales Argument von Berger. Konstante Repression, 1974, S. 218-224. 19 Vgl. Bundesrat, Bericht des Ausschusses für Justizwesen über die Vorlage betreffend den Entwurf eines Gesetzes wegen Vollstreckung der Freiheitsstrafen, Nr. 56 der Drucksachen für 1879, Nr. 5, Session von 1879/1880, S. 8 - 9 und z.B. die Debatte des Dresdner

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wortung oder Ablehnung weiterer grundsätzlicher Reformen war keine parteipolitisch aufgeladene Frage. 20 Die Trennlinie verlief vielmehr zwischen Politikern und gefangniskundlichen Experten, wie das folgende Zitat aus einer Landtagsdebatte zur Gefangnisreform verdeutlicht: „Die Wissenschaft hat sich in neuerer Zeit mit besonderer Vorliebe der Beherrschung einzelner Fächer des bürgerlichen und staatlichen Lebens bemächtigt und es liegt in der Wissenschaft selbst, daß sie in ihren Forderungen bis an die äußerste Grenze der Vollkommenheit geht und keine Grenzen kennt in Bezug auf die zu stellenden materiellen Anforderungen bei Verfolgung ihres Zieles, sie nicht in Vergleich stellt mit Dem, was die übrigen Zwecke des staatlichen Lebens erfordern, nicht in Anregung bringt, was bereits dafür zu leisten ist, und nicht erwägt, ob und welche Last außerdem noch der Staat und der Steuerzahler mehr aufzubringen im Stande ist."21 Die Legitimationskrise des Strafvollzugs bildete schließlich seit den 1880er Jahren den Ausgangspunkt fur intensiv geführte Strafrechtsdebatten, und mit dem Projekt der Reform des Strafgesetzbuches rückte die Gefangnispolitik auf der kriminalpolitischen Agenda immer weiter nach hinten. 22 Bei den Gefängnisexperten und Strafanstaltsbeamten waren die Gesetzesinitiativen ohne Frage auf großes Interesse gestoßen, vor allem weil sie sich von einem Reichsstrafvollzugsgesetz eine verwaltungstechnische Vereinheitlichung versprachen und es als konsequente Folge des Reichsstrafgesetzbuches sowie der neuen Prozeß- und Gerichtsordnung betrachteten. „Ohne ein Gesetz über den Strafvollzug wird die Grundlage unseres modernen Staatslebens, Gleichheit vor dem Gesetze, in Frage gestellt." 23 Praktiker wie der damals in der Ministeriumskommission vertretene Strafanstaltsdirektor von Vechta und spätere preußische Gefangnisreferent Karl Krohne argumentieren freilich ebenso mit dem gewonnenen Rechtschutz für die Gefangenen, doch bedeutete die Einführung eines Strafvollzugsgesetzes in erster Linie für die Strafanstaltsbeamten selbst ein Mehr an Verfahrenssicherheit und damit zugleich eine legitimatorische Entlastung. Schon um des „Gewissens willen" müßten die Strafanstaltsbeamten nach Meinung Krahnes dafür eintreten. 24 Im

Landtags über Gefangnisfragen und die Ausweitung der Einzelhaft, in: Mitteilungen über die Verhandlungen des Landtags zu Dresden, Nr. 28, 19.1.1889, S. 4 3 5 ^ 5 6 . 20 Selbst Liebknecht beklagte, „daß von günstigen Resultaten bisher absolut Nichts zu ersehen gewesen" sei (Mitteilungen über die Verhandlungen des Landtags zu Dresden, Nr. 28, 19.1.1889, S. 442). 21 Mitteilungen über die Verhandlungen des Landtags zu Dresden, Nr. 28, 19.1.1889, S. 447. Vgl. auch ähnliche Kommentare anderer Abgeordneter: ebd., S. 446. 22 Vgl. dazu ausfuhrlicher den folgenden Abschnitt. 23 Krohne: Gesetzliche Regelung des Strafvollzugs, 1875, S. 2. ~4 Krohne·. Gesetzliche Regelung des Strafvollzugs, 1875, S. 7. Es ist auffallend, daß Krohne sein Plädoyer für ein Strafvollzugsgesetz nicht mit weiteren Reformforderungen für das Gefangniswesen verknüpfte. Vgl. ähnlich die Diskussion innerhalb der RWGG ( J B R W G G 1873/45, S. 26).

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Zuge der Diskussion um die Reform des materiellen Strafrechts stellten schließlich selbst die Strafanstaltsbeamten das Projekt des Vollzugsgesetzes zugunsten einer Modernisierung des Strafrechts hintan.25 Wie bereits die Gründungsinitiative des Vereins der deutschen Strafanstaltsbeamten zur „Förderung gemeinsamer Nonnen auf dem Gebiete des Gefängniswesens" verdeutlicht, hatte in den Reihen der Gefangnisexperten, die inzwischen vorwiegen mit Praktikern gefüllt waren, der Wunsch nach professioneller Sicherheiten gegenüber der Forderung nach weiterfuhrenden Reformen die Oberhand gewonnen.26 Nach dem Scheitern eines ReichsstrafVollzugsgesetzes kam es erst 1897, also fast 20 Jahre später, zu einem Beschluß im Bundesrat, bei dem sich die deutschen Einzelstaaten auf gemeinsame, insgesamt 40 Paragraphen umfassende Grundsätze für die Organisation des Strafvollzugs einigten.27 Diese Vereinbarungen, die als Verwaltungsvorschriften implementiert wurden,28 beschränkten sich allerdings lediglich auf einen minimalen Richtlinienkatalog, der für den Strafvollzug nichts Neues brachte und für dessen Umsetzung es keine Garantien gab. Es ging vorrangig um eine verwaltungstechnische Angleichung, klare Definitionen von Strafformen oder gar rechtliche Garantien für Gefangene sucht man hier vergeblich.29 Letztendlich wurde die in der Praxis der deutschen Strafanstalten entstandenen Standards festgehalten und dafür allenfalls Minimal- oder Maximalgrenzen bestimmt. Für die Gefangenenfürsorge enthielten die Grundsätze nur wenige relevante Bestimmungen. Zur Entlassenenfürsorge etwa findet sich keinerlei Anweisung.30 Für die Seelsorge bestimmte Paragraph 28: „Keinem Gefangenen wird der Zuspruch eines Geistlichen seines Bekenntnisses versagt." Wie üblich sollten die Geistlichen in den großen Gefangnissen jeden Sonn- und Feiertag einen Gottesdienst abhalten. Aber auch für die kleineren Strafanstalten wurde eine regelmäßige Seelsorge angestrebt. Allein die Festungsgefangenen waren von der Teilnahmepflicht an den religiösen Feiern ausgeschlossen. Auch in bezug auf den Gefangnisunterricht offenbarte der Bundesratsbeschluß keine Neuerungen. Den jugendlichen Strafgefangenen wurde lediglich der Unterricht garantiert und für Erwachsene unter 30 Jahren bei Bedarf die 25

Schenk. Bestrebungen zur einheitlichen Regelung, 2001, S. 37. Blätter flir Gefängniskunde 1865/1, S. 1. 27 Die Bundesratsgrundsätze sind abgedruckt in: Zentralblatt für das deutsche Reich 1897/25, S. 308-313. Zu den Beratungen vgl. Schenk: Bestrebungen zur einheitlichen Regelung, 2001, S. 38-43. 8 Zur Rechtsnatur der Bundesratsgrundsätze vgl. Schenk: Bestrebungen zur einheitlichen Regelung, 2001, S. 43^15. 29 Zur Kritik an den Grundsätzen von Seiten der Sozialdemokratie und der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV) vgl. Schenk·. Bestrebungen zur einheitlichen Regelung, 2001, S. 45-49. 30 Die Grundsätze schrieben lediglich vor, daß den Gefangenen auf Verlangen eine Entlassungsbescheinigung ausgestellt werden müsse (§ 10). 26

3.1 Strafdebatten

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Vermittlung von elementaren Kenntnissen empfohlen, wobei Umfang und Stundenzahl nicht geregelt waren (Paragraph 29).31 In Preußen hatte das Innenministerium erfolglos versucht, die Debatten im Vorfeld der Bundesratsbeschlüsse zu nutzen, um die organisatorische Einheit des preußischen Gefangniswesens unter seiner Führung einzufordern. 32 So folgten auf die Bundesratsgrundsätze, dem weiterhin bestehenden Verwaltungsdualismus entsprechend, schließlich wenige Jahre später zwei neue Ordnungen, eine für die Anstalten, die dem Innenministerium unterstellt waren, und eine für diejenigen, die dem Justizressort unterstanden. Das Justizministerium erließ 1898 eine neue Gefängnisordnung mit insgesamt 109 Paragraphen, das Innenministerium gab 1902 eine Dienstordnung heraus, 33 die mit ihren 193 Paragraphen wesentlich umfangreicher ausfiel. Insgesamt gingen die neuen Ordnungen nicht über den vom Bundesrat gesetzten Rahmen des Strafvollzugs hinaus. Das einzige wirkliche Reformprojekt, das Preußen noch vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Gebiet des Strafvollzugs umsetzte, war das 1912 eröffnete Jugendgefangnis im rheinischen Wittlich, in dem das progressive, strikt am Erziehungsziel ausgerichtete Haftsystem verwirklicht wurde, das sich im allgemeinen Strafvollzug bis dahin noch nicht hatte durchsetzen können. 34 Würde man die Entwicklung des deutschen Gefangniswesens im Kaiserreich allein an den Ergebnissen der Strafvollzugspolitik auf der Reichsebene sowie ihrem tatsächlichen gesetzlichen Ertrag messen, so wären also nur wenige Veränderungen zu verzeichnen. Anders als sich auf dieser Grundlage vermuten ließe, entwickelte sich jedoch gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland ebenso wie in anderen europäischen Staaten eine breite Diskussion über die staatlichen Strafsysteme, bei der zentrale Grundannahmen über Kriminalität und Verbrechen unter neuen Prämissen verhandelt und die bisher angewandten Strafkonzepte in mehrfacher Hinsicht in Frage gestellt wurden. Entscheidend war, daß sich die Debatten nicht aus dem Kreis der Gefängnisexperten heraus entwickelten. Vielmehr gerieten diese und die von ihnen vertretenen Modelle in Legitimationsnot. Strafrechtswissenschaftler und Mediziner machten die diagnostizierte Krise des Strafvollzugs zum Ausgangspunkt ihrer Reformforderungen. In der Praxis des Strafvollzugs sowie auf dem Gebiet der StrafFälligenfürsorge hinterließ der neue kriminologische Diskurs, der sich seit den 1880er Jahren seinen Weg bahnte, durchaus Spuren. Wenngleich diese diskursive Verschiebung rückblickend keinen ähnlich grundlegenden Paradigmenwechsel im Strafvollzugs wie die Durchsetzung der Freiheitsstrafe bedeutete, sondern langfristig eher eine Differenzierung des modernen Straf31

Weitere Bestimmungen betrafen Kleidung, Kost, Disziplinarmaßnahmen, Brief- und Besuchsverkehr, Lektüre, Beschwerdeverfahren sowie die Revision der Strafanstalten. 32 Ministerium des Innern·. Denkschrift über die einheitliche Organisation, 1896. 33 Dienstordnung für die dem Ministerium des Innern unterstellten Strafanstalten, 1902. 34 Schenk: Bestrebungen zur einheitlichen Regelung, 2001, S. 185-187.

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Vollzugs herbeiführte, so ragen diese Strafreformdebatten, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts intensiv gefuhrt wurden und zum Teil in konkrete Strafgesetzentwürfe mündeten, doch als signifikanter Wendepunkt aus dem seit dem Beginn des modernen Strafvollzugs nahezu fortwährend geführten Gefangnisreformdiskurs heraus. Der allgemeine gesellschaftliche und politische Wandel schuf außerdem neue Bedingungen für die Fachdebatten. Während sich diese in der ersten Jahrhunderthälfte noch auf einen relativ kleinen Kreis von Ministerialbeamten, Praktikern und einer bürgerlichen Reformbewegung beschränkten, gewann nun mit den sich ausbreitenden Medien und der veränderten politischen Kultur die Öffentlichkeit an Bedeutung. Gerade im beginnenden „Zeitalter der Nervosität" geriet Kriminalität in der gesellschaftlichen Wahrnehmung immer mehr zu einem Krisenindikator für die allgemeine zeitgenössische Gesellschaftsdiagnose.35 Auch wenn die Tagespresse spektakulären Kriminalfällen sicherlich mehr Beachtung schenkte als den Gefangenanstalten, war das Gefängniswesen durchaus immer wieder Gegenstand öffentlicher Berichterstattung. Gerade die inzwischen regelmäßig veröffentlichten Gefangnisstatistiken lieferten neben der Reichskriminalstatistik einen scheinbar exakten Gradmesser insbesondere für apodiktische Zerfalls- und Niedergangsvisionen. Die Tagespresse behandelte daneben Themen wie die Gefangenenarbeit als problematische Konkurrenz für das freie Gewerbe und diskutierte ausgiebig die Deportation von Gefangenen als Alternative zur Freiheitsstrafe, wobei dies weder die Relevanzverteilung noch die Urteile des Expertendiskurses widerspiegelte.36 Die Gefangenen- und Entlassenenfürsorge problematisierten die Tageszeitungen im Vergleich zu den anderen auf das Strafvollzugswesen bezogenen Nachrichten gar nur am Rande, auch wenn die großen Gefangnisgesellschaften wie die Rheinisch-Westfälische versuchten, die Presse für ihre Öffentlichkeitsarbeit zu nutzen. Die schwierige Lage der Strafentlassenen weckte bis auf einzelne Fälle, wie der des später durch Carl Zuckmayers Stück berühmt gewordenen entlassenen Schusters, der sich als Hauptmann von Köpenick ausgab, insgesamt nur wenig öffentliche Anteilnahme.37 Neben dem sich verändernden Umfeld der Laienöffentlichkeit wandelte und diversifizierte sich auch der Kreis der kriminalpolitischen Experten. Nachdem lange Zeit die Gefangniskunde und die Moralstatistik die einzigen Felder gewesen waren, in denen eine systematische, wissenschaftlich legitimierte Auseinandersetzung mit Straffälligen und ihrer Behandlung stattfand, kamen die Impulse für die nun folgenden Kriminalitätsdebatten von anderer

35

Radkau: Zeitalter der Nervosität, 1998. Vgl. dazu den thematisch geordneten Pressespiegel des Pressearchivs des Reichslandbundes, in: BArch, R 8034 II, Nr. 1523-1527 (1894-1921). 37 Vgl. dazu die entsprechenden Zeitungsausschnitte aus: Kölnische Zeitung Nr. 200, 13.12.1906; Münchner Allgemeine Zeitung, Nr. 567, 7.12.1906 u. Bayerischer Kurier, Nr. 38, 7.2.1908, in: BArch, R 8034 II, Nr. 1526. 36

3.1 Strafdebatten

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Seite: von der Anstaltspsychiatrie und der Strafrechtswissenschaft. Mit den neuen kriminalpolitischen Experten, die sich unter dem Dach der Kriminologie versammelten, veränderte sich nicht nur das dominante Verbrecherbild, sondern auch die diskursive Praxis und damit gleichzeitig die Expertenhierarchie innerhalb der Kriminalitäts- und Strafdebatten. Strafrechtsreformbewegung

und Kriminologie

Nachdem kriminalpolitische Fragen fur mehr als zwei Jahrzehnte aus dem behördlichen und öffentlichen Aufmerksamkeitshorizont verschwunden waren, wurden Debatten über Verbrechensursachen und effektive Gegenmaßnahmen in den 1880er Jahren wieder aktuell. Gesellschaftliche Krisendiagnosen formulierten Kriminalität als eines der zentralen Probleme der Zeit, und eine neue Gruppe von Experten sah sich berufen, dafür Deutungsangebote zu liefern und Lösungsvorschläge auszuarbeiten: Es waren Vertreter der Strafrechtswissenschaft, die sich im Laufe der Debatten zu einer international agierenden Strafrechtsreformbewegung formierten, sowie Mediziner, die sich in der Praxis - sei es nun in psychiatrischen Anstalten oder im Zusammenhang mit gerichtlicher Gutachtertätigkeit - in zunehmendem Maße mit der Gruppe der Kriminellen konfrontiert sahen. Die 1876 erschienene und in den folgenden Jahren international viel diskutierte Schrift L'uomo delinquente des italienischen Mediziners Cesare Lombroso gilt gemeinhin als Geburtsstunde der modernen, empirisch orientierten Kriminologie. Wie die Vielzahl der in den letzten Jahren erschienenen Studien über die Anfange der Kriminologie und der forensischen Psychiatrie verdeutlicht hat, wird der eigentliche Beginn einer Verwissenschaftlichung der Kriminalpolitik in der Regel mit den Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichten kriminalanthropologischen und psychiatrischen Beiträgen identifiziert - ein Prozeß, der vielfach als Paradigmenwechsel des Strafens beschrieben wird. 38 Tatsächlich bildete die Kritik am bestehenden Strafvollzug einen wichtigen Ausgangspunkt fur die neuen Reformdebatten, und auch die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Entwicklungen standen im Zeichen des Umbruchs. Die einsetzende Hochindustrialisierung, das expotentielle Wachstum der Bevölkerung und die damit einhergehende Urbanisierung haben sich in der Geschichtsschreibung als zentrale Faktoren etabliert, die fur den sozialen Wandel im Kaiserreich verantwortlich zu machen sind. Besonders in den anschwellenden Großstädten wurden die sozialen Veränderungen für die Zeitgenossen deutlich sichtbar. In beengten Wohnverhältnissen drängten sich die zuziehenden, verarmten Massen, die das Gros der Fabrikarbeiter und Dienstboten stellten, während in anderen Vierteln der Stadt das Bürgertum Wohlstand 38

Für einen umfassenden Literaturüberblick und eine kritische Diskussion der aktuellen Forschungslage, die für das folgende Kapitel relevant ist, siehe Schauz/Freitag: Verbrecher, 2007.

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und technischen Fortschritt zelebrierte.39 Die Stimmung und Selbstwahrnehmung der bürgerlichen Elite des Kaiserreichs gestaltet sich so ambivalent wie die großstädtischen Verhältnisse extrem waren. Während das Heer der städtischen Unterschichten mit seiner proletarischen Lebensweise im Bürgertum diffuse Ängste auslöste und kulturpessimistische Diagnosen heraufbeschwor, welche durch die wachsende Stärke der Sozialdemokratie als politische Vertreterin der Arbeiterklasse noch gesteigert wurden, waren die bürgerlichen Kreise gleichzeitig vom Gefühl der kulturellen Überlegenheit und von einem übersteigerten Glauben an die Lösbarkeit gesellschaftlicher Probleme mit Hilfe technischer Innovationen und wissenschaftlicher Erkenntnis durchdrungen. Die zunehmenden sozialen Spannungen erzeugten auf politischer Ebene einen Problemlösungsdruck, der in die Schaffung neuer sozialpolitischer Programme im Rahmen der Genese des modernen Wohlfahrtsstaates unter Bismarck mündete.40 Für die Wissenschaft läßt sich diese zwiespältige Gesellschaftswahrnehmung ebenso nachvollziehen. Krisendiagnosen und der Glaube an den wissenschaftlichen Fortschritt verbanden sich in einem nahezu dialektischen Verhältnis. Seit den 1880er Jahren expandierten Wissenschaft und Forschung auf institutioneller und personeller Ebene, wobei sich der Bedeutungszuwachs nicht nur auf die Naturwissenschaften beschränkte, sondern auch die entstehenden Sozialwissenschaften mit einschloß, die gesellschaftliches Regulierungswissen versprachen. Für das Ineinandergreifen von Sozialwissenschaften, bürgerlicher Sozialreformbewegung und dem entstehenden Wohlfahrtsstaat prägte Lutz Raphael die vielzitierte Formel von der „Verwissenschaftlichung des Sozialen".41 Ohne Frage dominierten jedoch die Naturwissenschaften und ihr überwiegend positivistisches Erkenntnisparadigma die Wissenschaftslandschaft. Medizin und Biologie avancierten zu den zentralen Leitwissenschaften. Die Hegemonie naturwissenschaftlicher Interpretamente wirkte über den engeren Bereich der Wissenschaften hinaus und veränderte nicht nur die Vorstellung vom Menschen, sondern ebenso die Wahrnehmung sozialer Vorgänge und des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, wie insbesondere der Einfluß von Darwins Lehren vor Augen fuhrt.42 Auf dieser Grundlage entwickelten sich auch neue Steuerungskonzepte, die sich deutlich von den zuvor vorherrschenden Disziplinierungsstrategien unterschieden. Mit Rassen-

39

Z.B. Reulecke·. Geschichte der Urbanisierung, 1985, S. 68-109; Ulimann: Kaiserreich, 1995, S. 95-117 u. Zimmermann: Zeit der Metropolen, 1996, S. 13-24. 40 Siehe z.B. Ullmann: Kaiserreich, 1995, S. 173-181. 41 Siehe die Kurzdefinition bei Raphael: Verwissenschaftlichung des Sozialen, 1996. Zum Zusammenhang zwischen bürgerlicher Sozialreform, wohlfahrtsstaatlichen Konzepten und wissenschaftlichen Begründungszusammenhängen sowie zur konkreten Rolle des Vereins fììr Socialpolitik im Kaiserreich siehe Bruch: Bürgerliche Sozialreform, 1985. 42 Vgl. z.B. Winau: Verbesserte Mensch, 1990.

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und Sozialhygiene, Eugenik sowie allen Formen von „Bio-Macht" 43 im weiteren Sinne entstanden Ende des 19. Jahrhunderts im Zeichen wissenschaftlichen Fortschritts neue Sozialtechnologien, die im Kontext wohlfahrtsstaatlicher Politik ihren Ausgang nahmen und im Nationalsozialismus ihre Radikalisierung erfuhren. Dieser Beginn einer im Rückblick verhängnisvollen Liaison von Wissenschaft und Politik war in den letzten Jahren ein wichtiges, facherübergreifendes Forschungsthema, das auch das Interesse an der Geschichte der Kriminologie maßgeblich bestimmte. 44 Degenerationstheoretische Erklärungsansätze konstruierten ein kulturpessimistisches Bedrohungsszenario, dem der Ruf nach einer Vielzahl neuer bevölkerungs-, sozial-, gesundheits- und strafrechtspolitischer Strategien folgte. 45 Verbrechen war eines der Krankheitssymptome, anhand derer die Krise der Gesellschaft diagnostiziert wurde. Der Grund, daß sich die Kriminalitätsrate überhaupt zu einem derart vielbeachteten gesellschaftlichen Krisenindikator entwickeln konnte, lag in der 1881/82 eingeführten offiziellen Reichskriminalstatistik. Sie schuf eine neue Sichtbarkeit von Straftaten, versprach klare Trendprognosen und damit eine Antwort auf die vordringlichste Frage, ob die Kriminalität im Zug des sozialen Wandels zunehme. Nicht nur unter dem Vorzeichen einer naturwissenschaftlich-positivistischen Deutungskultur, sondern auch in Anbetracht der zunehmend pluraler werdenden Diskussionskultur infolge der medial vermittelten Öffentlichkeit besaßen die erhobenen Daten besonders große Überzeugungskraft. 46 Diese beruhte - damals wie heute - hauptsächlich auf einer mathematisch vermittelten Objektivität sowie auf der Möglichkeit, komplexe Sachverhalte auf einfache numerische Zusammenhänge zu reduzieren. Dem Vertrauen in statistische Methoden steht im allgemeinen jedoch die Problematik ihrer kritischen Lesbarkeit entgegen. Die im Kaiserreich zur Verfugung stehende nationale Kriminalstatistik war von ihrer Konzeption her eine reine Gerichtsstatistik, mit der die Justizverwaltung vorrangig ihre Geschäftstätigkeit und damit lediglich die verfolgten Straftaten festhielt. 47 Neben Variablen wie Geschlecht, Alter und geographischer Verteilung orientierte sich die Erfassung streng an einer strafrechtlichen Definition von Kriminalität. Viele wissenschaftliche Fragestellungen, insbesondere solche, die durch die Kriminalanthropologie und Psychiatrie aufgeworfenen wurden, konnten auf dieser Grundlage gar nicht überprüft 43

Zur Entwicklung des Begriffs der Bio-Macht siehe insgesamt Foucault: Wille zum Wissen, Bd. 1, 1997. 44 Siehe die thematische Einordnungen bei Müller. Verbrechensbekämpfung, 2004, S. 1214 u. Wetzelt Inventing the Criminial, 2000, S. 8 - 1 2 . 45 Zu Deutschland vgl. vor allem Weingart u.a.·. Rasse, Blut und Gene, 1996 u. Roelcke: Krankheit und Kulturkritik, 1999. 46 Die gesellschaftspolitische Bedeutung statistischer Meßbarkeit führt Theodore M. Porter vor allem auf das Objektivitätsbedürfnis pluraler, moderner Gesellschaften zurück: Porter. Statistics, 1996, S. 191. 47 Reinke: Kriminalität als „zweite" Wirklichkeit, 1987, S. 180-183.

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werden, was von Kriminologen wie dem Psychiater Gustav Aschaffenburg durchaus bemängelt wurde.48 Für längerfristige Trendaussagen fehlten auf Reichsebene außerdem geeignete Vergleichsdaten für die Zeit vor 1882. Ungeachtet dieser Probleme bildeten die Statistiken den zentralen argumentativen Bezugspunkt der kriminologischen Debatten, und die Mehrheit der Experten scheute sich nicht, die Reichskriminalstatistik als absoluten Trendmesser zu benutzen.49 Wie die quellenkritische Analyse der Reichskriminalstatistik Eric Johnsons verdeutlicht, überschätzten die damaligen Experten das Ausmaß der Kriminalität: Während manche Straftatbestände zunahmen, sank die Kriminalitätsrate bei anderen deutlich.50 Für diese einseitige Wahrnehmung scheint nur zum Teil ein fehlendes Bewußtsein für die statistische Komplexität unter den damaligen Experten verantwortlich zu sein. Wie die 1884 erschienene Schrift des preußischen Ministerialbeamten Wilhelm Starke zeigt, gab es durchaus Positionen, die den Befund einer steigenden Kriminalitätsrate mit Hilfe einer statistisch differenzierten Argumentation bestritten.51 Intervenierende Faktoren wie Anzeigeverhalten und steigende Aufklärungsquoten infolge des ausgebauten Polizeiapparats waren durchaus bekannt.52 Doch eine derart relativierende Kriminalitätseinschätzung konnte sich langfristig nicht durchsetzen, sie wurde spätestens seit den 1890er Jahren von denjenigen Stimmen übertönt, die einen stetigen Anstieg der Kriminalität prognostizierten und mit drastischer Rhetorik effektivere Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung forderten. Selbst rückgängige Verurteilungszahlen, wie etwa im Bereich des einfachen Diebstahls, deutete die Reformfraktion negativ um, indem sie gerade hier kritisch gegenüber der Statistik anmerkte, die Zahlen seien ein Ergebnis mangelnde Effizienz des staatlichen Strafsystems.53 Daß eine gewisse Kriminalitätsrate zum gesellschaftlichen Normalzustand gehörte, wie es später etwa der französische Soziologe Emile Durkheim in seiner Anomiethese formulierte, wäre angesichts dieses Krisenszenarios undenkbar gewesen, da - in den Worten von Silviana Galassi - „die diffuse Stimmungslage des Bürgertums und die Dramatisierung der Strafrechtsreformer und Kriminologen wechselseitig aufeinander wirkten und sich in ihrer Resonanz verstärkten".54

48

Aschaffenburg: Verbrechen und seine Bekämpfung, 1903, S. 6-10. Zur Bedeutung der Kriminalstatistik für die kriminologische Argumentation siehe Galassi: Kriminologie, 2004, S. 89-105. 50 Johnson: Urbanization and Crime, 1995, S. 120-143. 51 Starke: Verbrechen und Verbrecher, 1884. 52 Frommel: Präventionsmodelle, 1987, S. 26. 53 Siehe beispielsweise die statistische Interpretation bei Franz von Liszt (Liszt: Kriminalpolitische Aufgaben, 1905, S. 320-325) und die Auswertung des Oberregierungsrats Illing, der sich mit seiner Interpretation der Reichskriminalitätsstatistik explizit gegen Starke wandte (Illing: Zahlen der Kriminalität, 1885). 54 Galassi: Kriminologie, 2004, S. 105. 49

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Im Fall Starkes war es jedoch nicht nur die relativierende Interpretation der Kriminalitätsrate, der er seine diskursive Außenseiterrolle zu verdanken hatte. Mit seiner „kulturgeschichtlichen Studie" über „Verbrechen und Verbrecher" hatte er sich vor allem von den neu aufkommenden pathologischen Verbrecherbildern explizit abgegrenzt: „Ich stehe nicht auf dem Standpunkte derjenigen Richtung, welche - in ihren weitesten Konsequenzen - dahin führen muß, alle Erscheinungen im menschlichen Leben, ohne Ausnahme, also auch die geistig sittlichen Äußerungen, in letzter Instanz auf physische Ursachen zurückzuführen. Für eine derartige Anschauung, die ich mit dem Gefühl für Moral und Religion nicht vereinbaren kann, fehlt, wie ich meine, der Beweis." 55 Die Diskussion um Starkes Buch verdeutlicht, wie sehr die scheinbar objektive statistische Argumentation vom jeweiligen kausalen Kriminalitätsverständnis beeinflußt wurde. Eine besondere Bedeutung bei der Diskussion um die Kriminalstatistik kam der Rückfallquote zu. Die Mehrzahl der Experten sah in der konstant hohen Rückfallziffer einen Beweis für die InefFizienz des bestehenden Strafsystems: „Unsere Strafen haben, soweit von ihnen erhofft wird, daß sie ein starkes, brauchbares Gegenmotiv gegen den Rückfall bilden können, versagt. Je öfter ein Mensch die Wirkung der Strafe an sich erprobt hat, um so weniger Erfolg ist von diesem Mittel zu erhoffen. Das ist die praktische Folgerung, die aus der Rückfallstatistik gezogen werden muß." 56 Bereits seit Beginn der Gefangnisreform galt die Rückfallquote als zentrale Meßlatte für staatliches Strafen, doch während die Gefangnisexperten prinzipiell von der Erziehbarkeit von Verbrechern ausgingen und daher von der Zahl rückfälliger Straftäter zuallererst auf die Fehlerhaftigkeit der eigenen Vollzugskonzepte schlossen oder alternativ die mangelnde Umsetzung der gefängniskundlichen Reformvorschläge dafür verantwortlich machten, 57 zogen die Vertreter der Strafrechtsreformbewegung im Kaiserreich eine andere Schlußfolgerung: Sie machten als Kernproblem der Rückfalle eine Vielzahl von sogenannten Unverbesserlichen aus, bei denen Besserungsstrategien von vornherein ins Leere griffen. 58 Die Qualität der Strafanstalten oder die Effektivität der nach wie vor von privater Initiative abhängigen Entlassenenfürsorge unterzogen die Strafrechtsreformer erst gar keiner kritischen Überprüfung. Gerade als die Gefangnisexperten also mit den reichsweit neugebauten Einzelzellen eine erste weitreichende Umsetzung ihrer zentralen Reformvorschläge erlebten, geriet das Konzept der Besserungsstrafe in die Krise. Der seit den 1870er Jahren begonnene kostspielige Ausbau der Zellengefangnisse hatte sogar dazu beigetragen, daß die Effektivität des Strafanstaltswesens nun 55

Starke: Verbrechen und Verbrecher, 1884, S. 6. Aschaffenburg·. Verbrechen und seine Bekämpfung, 1923, S. 246. 57 Holtzendorff/Jagemaniv. Handbuch des Gefangniswesens, Bd. 2, 1888, S. 314-315 u. 525-527. 58 Vgl. Müller. Verbrechensbekämpfung, 2004, S. 133. 56

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grundsätzlich hinterfragt wurde. Die polemische Streitschrift des Hamburger Juristen Otto Mittelstädt „Gegen die Freiheitsstrafen" forcierte die Kritik.59 Zwar erntete Mittelstädts Forderung, die Strafpolitik wieder am Abschrekkungsziel auszurichten und den Besserungsvollzug durch spürbar härtere Strafen zu ersetzen, mehr Widerstand als Zustimmung, doch sein Ruf nach Strafverschärfung rief eben nicht die Verteidiger des Besserungsvollzugs auf den Plan, sondern die Befürworter einer kriminalpolitischen Spezialprävention, die nun ihrerseits das Disziplinierungsparadigma in ganz anderer Hinsicht in Frage stellten.60 Die Gruppe der „Unverbesserlichen", mit denen die Strafrechtsreformer ihre Kritik begründeten, war freilich keine Erfindung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die frühen Gefängnisreformer hatten bereits einen Teil der Gefangenen als „unverbesserlich" eingestuft. Damit meinten sie vorrangig ältere Straffällige, bei denen „moralische Verderbtheit" und „sittliche Verwahrlosung" zu weit fortgeschritten seien, als daß sie noch hätten korrigiert werden können. Das Problem der „Unverbesserlichen" relativierte sich jedoch in dem Maße, in dem diese Personengruppe als Folgeprodukt schlecht eingerichteter Strafanstalten und mangelnder Erziehung der unteren Volksschichten betrachtet wurde und gerade dies der Gegenstand künftiger Reformen sein sollte. Nach gut 60 Jahren Gefängnisreform verdeutlichten allerdings die konstant hohen Rückfallquoten, daß die erhofften Wirkungen ausblieben. Die sich in den 1880er Jahren formierende Strafrechtsreformbewegung muß somit auch als Folge nicht erfüllter Erwartung verstanden werden.61 Nach dieser kritischen Bilanz der ersten Periode des modernen Strafvollzugs drehte sich die Reformdiskussion somit erneut um die Suche nach effektiveren Formen staatlichen Strafens. Empirische Untersuchungen über die Ursachen von Kriminalität sollten hierzu weitere Aufschlüsse geben. Der profilierteste Vertreter der deutschen Strafrechtsreformbewegung, Franz von Liszt, forderte in seiner 1882 gehaltenen Marburger Antrittsvorlesung eine empirische Fundierung von Strafrecht und Kriminalpolitik und be59

Mittelstädt: Gegen die Freiheitsstrafen, 1879. Die Angriffe auf das Gefängniswesen und seine Experten unterfütterte Mittelstädt weder mit Zahlen noch legitimierte er sie mit Hinweisen auf andere kritische Darstellungen. Besonders spottete er über die religiös-philanthropischen Wurzeln der Experten, die er als „Gefangnisreform-Apostel" abqualifizierte (ebd., S. 14). 60 Zur Bedeutung der Schrift innerhalb der Reformdebatte siehe etwa Liszt: Zweckgedanke, 1905, S. 130 u. Illing: Zahlen der Kriminalität, 1885, S. 73 u. 75. Vgl. dazu ausführlich Wetzeil: Criminal Law Reform, 1991, S. 43-50. 61 Gefängnisreformer der ersten Generation wie etwa Mittermaier definierten nach der Erfahrung der ersten Jahrzehnte „Unverbesserliche" zwar durchaus als ein generelles Problem, doch von einer weiterführenden Haft aus Gründen der gesellschaftlichen Sicherheit, wie sie später von Liszt und seine Mitstreiter forderten, nahm Mittermaier Abstand, da sie seinen rechtsstaatlichen Grundprinzipien widersprach. Allerdings gab es zu dieser Zeit bereits Strafgesetzentwürfe in Belgien und Portugal, die eine „ergänzende Haft" für mehrfach Rückfällige vorsahen (Kammer: Das gefangniswissenschaftliche Werk, 1971, S. 156-159).

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gründete damit die Notwendigkeit einer künftigen Liaison zwischen der normativ ausgerichteten Strafrechtswissenschaft und der kriminologischen Forschungen.62 Bereits in anderen Zusammenhängen hatte die Rechtswissenschaft damit begonnen, sich an den Naturwissenschaften zu orientieren und biologische Denkmodelle zu übernehmen,63 doch mit der geforderten empirischen Ätiologie ging die Strafrechtswissenschaft noch einen Schritt weiter. Indem sich von Liszt und seine Mitstreiter auf vorwiegend medizinische Devianzkonzepte bezogen, rüttelten sie effektvoll an den konzeptionellen Fundamenten ihrer Disziplin und lösten damit den sogenannten Schulenstreit innerhalb der deutschen Strafrechtwissenschaft aus.64 Ein Produkt dieser innerdisziplinären Kontroverse war die neugegründete Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, mit der von Liszt ein Forum für die Reformkreise und ihre kriminalpolitischen Forderungen schuf.65 Von den hier veröffentlichten Erkenntnissen kriminologischer Studien sollte die Strafrechtsreform profitieren. Selbst unternahmen von Liszt und seine Fachkollegen allerdings zunächst keinen Ausflug in die empirische Forschung; erst in den 1920er Jahren wagten sich Vertreter der Schülergeneration an eigene kriminologische Studien.66 Die historiographische Forschung sah lange Zeit im Schulenstreit einen paradigmatischen Wendepunkt für die Strafrechtswissenschaft: Die geforderte empirische Rückbindung des Strafrechts bedeutete, daß die Moral- und Rechtsphilosophie, die bis Ende des 19. Jahrhundert vorrangig als strafrechtlicher Begründungszusammenhang gedient hatte, eine Abwertung erfuhr. Bei der Strafzweckdiskussion zeigte sich der Wandel darin, daß nicht mehr mit dem Vergeltungsprinzips, sondern mit dem „Schutz der Gesellschaft" argumentiert wurde. Damit verband sich ein Perspektivwechsel von der Tat zum Täter, dem die Forderung folgte, das Strafrecht stärker zu individualisieren. 62

Liszt: Zweckgedanke, 1905, vor allem S. 131-133 u. 162. Eberhard Schmidt hat bereits auf die Darwin-Rezeption innerhalb der Rechtswissenschaft durch Adolf Merkel hingewiesen ( S c h m i d t Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1947, S. 327 u. 338). Von Liszt selbst übernahm das biologische Denkmodell der Evolution und übertrug es auf die historische Entwicklung des Strafens. Vor dem Hintergrund der Strafzweckdebatten legitimierte er seine Position gegenüber dem älteren Prinzip der Vergeltung, indem er die Auffassung, die Strafe sei als „zweckbewußter Rechtsgüterschutz" zu verstehen, als einen weiteren, notwendigen evolutionären Entwicklungsschritt bezeichnete (Liszt: Zweckgedanke, 1905, Zitat S. 163, vgl. außerdem S. 133-151). 63

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Zu den Widersachern und Kontroversen siehe Schmidt·. Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1947, S. 3 5 7 - 3 5 8 . 65 Der Name stand für das Programm, Beiträge verschiedener Disziplinen zu gemeinsamen kriminalpolitischen Fragestellungen zusammenzuführen. Von Liszt führte den Begriff der „gesamten Strafrechtswissenschaft" mit der Begründung ein, der Begriff der Strafrechtswissenschaft allein beziehe sich nur auf die rechtliche Ebene, während die Kriminologie wiederum nicht die strafrechtliche Ebene beinhalte (Liszt: Kriminalpolitische Aufgaben, 1905, S. 2 9 2 - 2 9 4 ) . 66

Dazu Wetzell·. Inventing the Criminial, 2000, S. 37: „Liszt's contribution to the birth of criminology as a recognized field was in the nature of an impresario rather than a performer."

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Nicht mehr an der begangenen Tat sollte sich das Strafurteil ausrichten, sondern an der prognostizierten Gefährlichkeit, die von dem Täter oder der Täterin für die Gesellschaft ausgehe, womit das Ziel der Spezialprävention an erste Stelle rückte.67 Konkret setzten die strafrechtlichen Reformvorschläge am SchuldbegrifF, der am Prinzip der Willensfreiheit ausgerichtet war und auf einem rationalen Menschenbild basierte, an der Frage der Strafzumessung und an der Auswahl der Strafformen an.68 Mit Blick auf die Entwicklung moderner Rechtsstaatlichkeit wird hier von der Ablösung eines bürgerlichliberalen Staatsideals gesprochen, das den rechtlichen Schutz des Individuums vor staatlicher Willkür in den Mittelpunkt stellte, durch ein Rechtssystem, das den Rahmen schuf für eine auf den gesellschaftlichen Gesamtzweck ausgerichtete staatliche Regulierung, der der individuelle Rechtsschutz nachgeordnet war.69 So kontrovers und neuartig die Reformideen von den damaligen Strafrechtswissenschaftlern wahrgenommen wurden, so muß diese Zäsur doch in zweierlei Hinsicht relativiert werden. Blick man weiter zurück auf frühneuzeitliche Straf- und Regulierungspraktiken, so erscheint der ultimative Vorschlag der Verwahrungsmaßnahme nicht als etwas grundsätzlich Neues, sondern als wiederkehrendes Element, wenn auch in veränderten Begründungszusammenhängen.70 Neuere Studien entdecken außerdem hinter der widerstreitenden Rhetorik der sogenannten klassischen und der modernen Schule viele Gemeinsamkeiten. Die von Vertretern beider Lager geleistete Kommissionsarbeit für die Schaffung eines neuen deutschen Strafrechts, die nach der Jahrhundertwende in Angriff genommen wurde, zeigte nicht nur Differenzen. Zwar waren von Liszt und seine Anhänger die treibende Kraft hinter den Reformversuchen,7' doch auch die ältere Generation der Strafrechtswissenschaftler sah Handlungsbedarf für eine effektivere Kriminalpolitik.72 Die Ent-

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Schmidt Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1947, S. 342-351; Wetzeil: Inventing the Criminial, 2000, S. 36-37 u. 75 u. Galassi: Kriminologie, 2004, S. 125-127. 68 Bereits in von Liszts Marburger Antrittsvorlesung sind alle diese Punkte in ihrem strafrechtlichen Reformzusammenhang zu finden (Liszt: Zweckgedanke, 1905). 69 Siehe bereits Schmidt: Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1947, S. 352, wenn auch mit weniger kritischem Unterton. 70 Die Entwicklung der Zucht- und Armenhäuser verdeutlicht, daß das Wegsperren schon einmal zur Ultima ratio geworden war (siehe bereits Abschnitt 2.1). 71 Zur kriminalpolitischen Aufgabe der neueren Strafrechtswissenschaft siehe Liszt: Kriminalpolitische Aufgaben, 1905. 72 „Die Furcht vor einem weiteren Anstieg des ,GewohnheitsVerbrechertums', die durch die psychiatrisch-kriminologische Degenerations-Forschung begründet schien", habe die beiden Lager innerhalb der Strafrechtswissenschaft geeint, so Müller: Verbrechensbekämpfung, 2004, S. 158. Die entscheidende Differenz verortet er zwischen psychiatrischen Vorschlägen einerseits und juristischen Forderungen andererseits (ebd., S. 125-141).

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würfe mündeten zwar nicht in ein neues Strafrecht, doch legten sie die Grundlage fur die in der Weimarer Republik fortgeführte Reformdiskussion. 7 3 Letztendlich versammelte auch die von den „modernen" Strafrechtswissenschaftlern Adolphe Prins aus Belgien, Gerardus Antonius van Hamel aus Holland und Franz von Liszt aus Deutschland 1889 gegründete und als Reformforum gedachte Internationale Kriminalistische Vereinigung Vertreter unterschiedlicher Lager. 74 Die Debatten in diesem internationalen Forum beschränkten sich nicht nur auf Fragen des Strafrechts im engeren Sinne. Insbesondere die Landesgruppen, die es neben Deutschland auch in vielen anderen europäischen Staaten gab, arbeiteten auf nationaler Ebene konkrete Reformvorschläge für Rechtsprechung, Strafvollzug, Polizeiwesen und in begrenztem Rahmen auch für kriminalpolitisch relevante Bereiche der Sozialpolitik aus. 75 Insgesamt vereinte die Mitgliederliste der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung neben Strafrechtlern und Medizinern aus verschiedenen europäischen Staaten eine große Zahl von Experten aus unterschiedlichen Praxisbereichen sowie höhere Beamte der Ministerialbürokratien. 76 Doch hier trafen nicht nur Experten mit unterschiedlichen professionellen Hintergründen, sondern auch mit unterschiedlichen Positionen aufeinander, wie sie etwa die Konfliktlinien im Schulenstreit markierten, so daß die Vereinigung in programmatischen Fragen nicht immer geschlossen auftrat und der kriminalpolitische Reformwille oft den einzigen gemeinsamen Nenner bildete. 77

73 Ein erstes wissenschaftliches Komitee wurde 1902 vom Reichsjustizamt berufen, dem drei Vertreter der klassischen, drei der modernen Schule - darunter Franz von Liszt - und schließlich zwei Strafrechtswissenschaftler angehörten, die eine eher vermittelnde Position im Schulenstreit eingenommen hatten. 1906 wurde eine Kommission von juristischen Praktikern eingesetzt, die schließlich 1909 den „Vorentwurf zu einem neuen deutschen Strafgesetzbuch" vorlegte. Mit einem sogenannten Gegenentwurf der Reformer aus dem Jahr 1911 ging die Diskussion um die Reform des deutschen Strafrechts weiter. Vor dem Ersten Weltkrieg folgte noch eine weitere Kommission - dieses Mal bestehend aus Juristen aus der Praxis und der Wissenschaft - , deren Entwurf von 1913 sogar während des Krieges weiter überarbeitet wurde. Insgesamt zeigte sich auf der Ebene der Gesetzesdiskussion, daß viele der neueren Reformforderungen berücksichtigt wurden, sich insgesamt jedoch eher ein Kompromiß zwischen den Positionen der klassischen und der modernen Strafrechtswissenschaft abzeichnete. Vgl. dazu insgesamt Schmidt: Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1947, S. 364-369. 4 Vgl. ausführlich zur Gründung der IKV Bellmann: Internationale Kriminalistische Vereinigung, 1994, S. 22-31. 75 Landesgruppen entstanden außerdem in Belgien, Dänemark, Frankreich, Kroatien, Norwegen, Österreich, Portugal, Rußland, der Schweiz und Ungarn. Deutschland stellte mehr als ein Viertel der Gesamtmitgliederzahl der IKV. Vgl. Bellmann: Internationale Kriminalistische Vereinigung, 1994, S. 25-26 u. Radzinowicz: International Association of Criminal Law, 1991, S. 5 u. 8. 76 Zur Entwicklung und Zusammensetzung der Mitglieder in der IKV siehe Kesper-Biermann: Internationale Kriminalistische Vereinigung, 2007, S. 89-90. 77 Trotz der strafrechtswissenschaftlichen Konflikte bestand häufig Einigkeit in Fragen der praktischen kriminalpolitischen Umsetzung (Bellmann: Internationale Kriminalistische

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Das Besondere an den Kriminalitätsdebatten des ausgehenden Jahrhunderts war jedoch, daß sich eine Vielzahl von Medizinern daran beteiligte. Blickt man auf die Anfange der Gerichtsmedizin und Kriminalpsychologie im 18. Jahrhundert zurück, so betrat die Medizin ohne Frage bereits wesentlich früher die Bühne des Strafens, doch nun leisteten Ärzte nicht nur bei Gericht Entscheidungshilfe, sondern äußerten sich auch zu strafrechtlichen Fragen, die bis dahin zum ureigensten Gebiet der Rechtswissenschaft gehört hatten. Für Deutschland ist hier in erster Linie der Psychiater Emil Kraepelin und seine 1880 veröffentlichte Schrift Die Abschaffung des Strafmaßes. Ein Vorschlag zur Reform der heutigen Strafrechtspflege zu nennen.78 Diese Grenzüberschreitung war nicht nur Folge einer einseitigen Annäherung der Strafrechtswissenschaft an die psychiatrische Forschung. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts waren Mediziner immer weiter in Grenzbereiche pathologischer Devianz vorgestoßen. Im Rahmen der Monomanie-Theorie, der von Augustin Morel begründeten Degenerationstheorie sowie dem von James Prichard geprägten Konzept der moral insanity nahm die Psychiatrie schon seit den 1840er Jahren zunehmend strafrechtlich sanktionierte Verhaltensabweichungen in den Blick.79 Retrospektiv wird die Hinzuziehung medizinischer Gutachter bei Fragen der Zurechnungsfähigkeit als „Einfallstor" für die Psychiatrie in den Bereich des Strafrechts gewertet.80 Während jedoch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts psychiatrisch ungeschulte „Kreisphysici" Gutachten verfaßten, erfuhr die psychiatrische Expertise durch die Reichsstrafprozeßordnung von 1879 eine Aufwertung, indem Angeklagte bei Fragen der Zurechnungsfahigkeit zur Beobachtung in psychiatrische Anstalten eingeliefert werden konnten. Dies gab - so Christian Müller - „einen wichtigen Impuls für die Entwicklung der forensischen Psychiatrie", da sie eine Verfachlichung des Gutachterwesens nach sich zog und „die Anstaltspsychiatrie mit der Strafrechtspflege verklammert wurde".81 Auch wenn die Richter nicht immer dem Urteil der Mediziner folgten, gehörten medizinische Gutachten Ende des 19. Jahrhunderts durchaus zum Standard der gerichtlichen Praxis.82

Vereinigung, 1994, S. 29-31 u. 34-37 u. Radzinowicz: International Association of Criminal Law, 1991, S. 9). 78 Kraepelin: Abschaffung des Strafmaßes, 1880. 79 Gemeinhin gilt Franz Joseph Galls Phrenologie, bei der von den Schädelformen auf geistig-seelische Veranlagungen geschlossen wurde, als erster medizinischer Beitrag, der u.a. auch kriminelles Verhalten zu erklären versuchte (vgl. v.a. Savitz u.a. : Origin of Scientific Criminology, 1977). Gall konnte sich allerdings mit seinem Ansatz nicht unter seinen Kollegen durchsetzen; erst mit Lombroso erlebte die Lehre von den Schädelformen eine begrenzte Renaissance. Zu den Erklärungsmodellen der Monomanie, der Degenerationstheorie und der moral insanity siehe ausführlicher Wetzeil·. Medicalization of Criminal Law Reform, 1996, S. 17-20 u. Galassi: Kriminologie, 2004, S. 72-79 u. 130-136. 80 Müller. Verbrechensbekämpfung, 2004, S. 24. 81 Müller. Verbrechensbekämpfung, 2004, S. 28. 82 Vgl. dazu Wetzeil: Inventing the Criminial, 2000, S. 40.

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Mit wachsender Bedeutung begnügten sich die Mediziner nicht mehr mit der Rolle von Gutachtern auf Anfrage. Das anschwellende Unbehangen der psychiatrischen Gutachter gegenüber der binären Logik des strafrechtlichen Zurechnungsfahigkeitsprinzips - entweder war ein Angeklagter als krank einzustufen und folglich freizusprechen oder als gesund und damit als schuldfahig zu betrachten - kam in Kraepelins Vorschlägen nun offen zur Sprache. Ganz grundsätzlich stießen sich die Mediziner an dem Prinzip der freien Willensbestimmung, da es nicht mit psychiatrischen Kategorien kompatibel war. 83 Vor allem aber ist der Problemdruck, der den psychiatrischen Anstalten durch die „verbrecherischen Irren" entstand, dafür verantwortlich zu machen, daß sich die psychiatrischen Experten in die Strafrechtsdebatte einmischten. Für die durch den Ausbau des sozialpolitischen Anstaltsstaates zunehmend überlastete Anstaltspsychiatrie waren die dort eingewiesenen "verbrecherischen Irren" nicht nur ein Sicherheitsproblem. Die Ärzte stießen sich an dieser problematischen Patientengruppe außerdem, weil die damit verbundene Kategorisierung ihrem therapeutischen Selbstverständnis widersprach und sie fürchteten, die psychiatrischen Anstalten könnten dadurch wieder in den seit Beginn des 19. Jahrhunderts nur mühsam abgeschüttelten Ruf von Verwahrhäusern für Kriminelle und Kranke geraten. 84 Die Praxis, sogenannte „irre Verbrecher", deren Geisteskrankheit entweder erst im Gefängnis aufgetreten war oder dort erstmals diagnostiziert wurde, von den Strafanstalten in die psychiatrischen Kliniken zu verlegen, verstärkte den Handlungsdruck. 85 Während die Bedeutung der gerichtlichen Gutachterrolle und der institutionellen Logik der Psychiatrie für den Eintritt der Mediziner in die kriminalpolitische Arena bereits von verschiedenen historiographischen Studien herausgestellt wurde, blieben die Strafanstalten als Bereich, in dem Ärzte schon sehr früh mit krimineller Devianz in Berührung kamen, bisher weitgehend unberücksichtig. Eine Vielzahl der frühen kriminologischen Beiträge stammte aus der Feder von Gefangnisärzten. 86 Nicht zuletzt Cesare Lombroso begann seine Studien zum „geborenen Verbrecher" während seiner Dienstzeit als Gefangnisarzt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Bedarf an psychiatrisch geschulten Ärzten in den Strafanstalten gewachsen, was eine direkte Folge der gefangniskundlichen Debatten um die Einzelhaft war. Auch wenn die Vertreter der Einzelhaft die Vorwürfe ihrer Kritiker, die Isolierung rufe Geisteskrankheiten hervor, bestritten, forderten sie den83

Müller. Verbrechensbekämpfung, 2004, S. 35-37. Müller. Verbrechensbekämpfung, 2004, S. 33, 86-88. 85 Zur Unterscheidung zwischen den Kategorien „irre Verbrecher" und „verbrecherische Irre" siehe ausführlich Müller. Verbrechensbekämpfung, 2004, S. 82-83. Müller weist für die sechs rheinischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten für das Jahr 1903 sogar einen Gesamtanteil von beinahe 18 Prozent Straffälligen nach (ebd., S. 83). Die Verschiebung der „irren Verbrecher" war letztlich auch eine finanzielle Frage, da die Heil- und Pflegeanstalten Einrichtungen der Provinzialverbände waren (ebd., S. 110-111). 86 Vgl. z.B. Knecht: Verbreitung physischer Degeneration, 1884 u. Baer. Verbrecher, 1893. 84

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noch eine regelmäßige medizinische Kontrolle, um den Einwänden begegnen zu können.87 Zwar führte die gefangniskundliche Diskussion um Geisteskrankheiten bei verurteilten Verbrechern ebensowenig direkt zur später folgenden Pathologisierung der Kriminellen wie die steigende Bedeutung psychiatrischer Gutachten bei Fragen der Zurechnungsfahigkeit, denn die Erkrankungen wurden hier primär als Nebenwirkung des Strafvollzugs diskutiert, doch die Kontroverse führte langfristig dazu, daß die Anstaltsärzte fur psychische Krankheitsbilder sensibilisiert wurden. Immerhin tauchte bereits um die Jahrhundertmitte in den Verteidigungsschriften zuweilen das Argument auf, daß „Wahnsinnsfalle" bei inhaftierten Verbrechern aufgrund ihres sittenlosen und exzessiven Lebensstils ohnehin häufiger aufträten und die im Gefängnis aufkommenden Krankheitsfälle somit nicht Folge der isolierten Haftform seien.88 Trotz dieser verschiedenen Entwicklungen, die der Medizin langfristig den Weg auf das Feld der Verbrechensforschung ebneten, waren bis zum Erscheinen von Lombrosos „L'uomo delinquente" im Jahre 1876 kaum medizinische Beiträge mit dezidiert kriminologischer Fragestellung erschienen. Nicht von ungefähr gilt Cesare Lombroso in der Forschung mehrheitlich als, wenn auch sehr ambivalenter, Ahnherr der Kriminologie.89 Seine Studie und die darin vertretene Atavismustheorie, in der er anhand physiognomischer Merkmale beweisen wollte, daß Kriminelle einer evolutionsbiologisch rückständigen und primitiven Spezies entstammten, stieß eine internationale Debatte über die Bestimmungsfaktoren kriminellen Verhaltens sowie seiner strafrechtliche Behandlung an.90 Lombrosos radikale Thesen fanden letztlich jedoch mehr Widersacher denn Anhänger. In Deutschland bemühte sich Hans Kurella als autorisierter Übersetzer Lombrosos um die Anerkennung seines Vorbildes.91 Kurella fand sich in der Folgezeit jedoch eher am Rand der Debatten wieder, während die kritische Auseinandersetzung mit Lombrosos eklektizistischen Studien deren Zentrum bildete.92 In Abgrenzung zu Lombrosos biologischem Determinismus bezogen viele Autoren soziale Faktoren in ihre Erklärung kriminellen Verhaltens ein. Damit war jedoch kein radikaler Umschwung zu einer primär kriminalsoziologischen 87

Zur Forderung einer psychiatrischen Bildung der Gefangnisärzte vgl. Mittermaier: Gefangnisverbesserung, 1858, S. 95. 88 Vgl. z.B. Schück: Einzelhaft, 1862, S. 56-63. 89 Strasser. Verbrechermenschen, 1984; Gadebusch-Bondio: Rezeption der kriminalanthropologischen Theorien, 1995 u. Becker: Verderbnis und Entartung, 2002. 0 Zur Bedeutung Lombrosos als Auslöser einer internationalen Diskussion über Verbrechen und Strafen siehe bereits Schmidt: Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1947, S. 331. 91 Siehe vor allem Kurella: Lombroso, 1892. 92 Gegenüber älteren Studien siehe die differenziertere Bewertung der Rolle Lombroso bei Wetzeil·. Inventing the Criminial, 2000, S. 52-68; Müller: Verbrechensbekämpfung, 2004, S. 73-74 u. 76 u. vor allem Galassi: Kriminologie, 2004, S. 140-169.

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Argumentation verbunden, vielmehr verknüpften die Vertreter der sogenannten Vereinigungstheorie Hinweise aus der Moralstatistik mit pathologischen Erklärungsmustern. 93 Die degenerativen Krankheitsbilder aus der Psychiatrie wurden als Folge armutsbedingter Lebensumstände verstanden: Mangelnde Ernährung und Hygiene, Alkoholismus sowie körperliche Verausgabung infolge eines „sittenlosen" Lebenswandels nannten die Vereinigungstheoretiker als Faktoren, die degenerative und vererbbare Defekte auslösten und damit die Voraussetzungen für abweichendes Verhalten schufen. Soziale Deprivation stellte lediglich eine vermittelnde Variable dar, und die aufgegriffenen moralstatistischen Darstellungen blieben dem medizinischen Deutungsmuster nachgeordnet und entsprechend selektiv. Die Entwicklung eines vorrangig kriminalsoziologisch orientieren Diskursstranges während der kriminologischen Gründungszeit konnte die neuere Forschung fur den deutschsprachigen Raum nicht feststellen. 94 Obwohl intensiv über Verbrechensursachen diskutiert wurde und man kriminalpolitische Programme ausarbeitete, kam es nicht zu einer grundlegenden Reform des Strafrechts. Während in den Debatten neue Strafkonzepte wie die unbefristete Sicherungsverwahrung fur „gemeingefährliche" pathologisierte Straftäter, präventive Verwahrungskonzepte für sogenannte geistig oder psychopathische Minderwertige und vereinzelt sogar auch schon Forderungen nach eugenischen Maßnahmen kursierten, 95 wurden nur einzelne Vorschläge wie etwa die Heraufsetzung der Strafmündigkeit vom 12. auf das 14. Lebensjahr infolge der eingeführten Zwangserziehung oder die Strafmilderung bei kleineren Delikten und sogenannten Gelegenheitsverbrechern umgesetzt. Entkriminalisierungsstrategien wie diese machten die andere Seite des Programms der Strafrechtsreformer aus; damit sollten vor allem die Nachteile von Kurzzeitstrafen vermieden werden, die Strafrechtsexperten - freilich mit anderer Begründung als die Gefangnisexperten - beklagten. Geldstrafen anstelle von kurzen Haftstrafen zu verhängen, war eine weitere Strategie, die in der Rechtsprechung in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg an Bedeutung gewann. 96 Mit der bedingten Begnadigung gab es seit 1912 reichs93

Neben Franz von Liszt werden zu den Vereinigungstheoretikern im deutschsprachigen Raum vor allem Gustav Aschaffenburg, Paul Näcke und Abraham Baer gezählt. Vgl. dazu Wetzell·. Inventing the Criminial, 2000, S. 6 0 - 6 8 . 94 Die deutschsprachige Moralstatistik verkörperten im Kaiserreich Gustav von Mayr, der eine entscheidende Rolle bei der Schaffung der Reichskriminalstatistik spielte, und der häufig wegen seiner religiös-moralischen Auslegungen kritisierte Theologieprofessor Alexander von Oettingen (Mayr. Statistik und Gesellschaftslehre, 1917, Oellingen: Moralstatistik, 1868). Zur marginalen Rolle von Moralstatistik und Kriminalsoziologie im Kaiserreich siehe bereits Frommel·. Präventionsmodelle, 1987, S. 16-17 u. Wetzell: Inventing the Criminial, 2000, S. 39. 95

Zum Diskussionstand vgl. ausfuhrlich Wetzell: Inventing the Criminial, 2000, S. 7 3 - 1 0 5 u. Müller: Verbrechensbekämpfung, 2004, S. 141-158. 96 Die Ablösung der Freiheitsstrafen durch Geldstrafen betraf nur bestimmte Delikte, und zwar vorrangig Körperverletzungen (dazu Fromme!: Präventionsmodelle, 1987, S. 19-21).

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weit 97 eine zweite Maßnahme, die hier Abhilfe schaffen sollte. Entgegen der Entwicklung in anderen europäischen Staaten, wo bereits die bedingte Verurteilung im Sinne der heutigen Bewährungsstrafe eingeführt worden war,98 behalf man sich in Deutschland mit dem landesrechtlichen Institut des Gnadenrechts, um diese Strafreform auf dem einfacheren Verwaltungsweg durchsetzen zu können. Dieser Notbehelf erwies sich in seiner praktischen Umsetzung jedoch als problematisch. 99 Daneben zeitigte die Diskussion um Geisteskrankheiten und degenerative Defekte auch ohne entsprechende Reform des Strafrechts ihre Folgen. So waren seit der Jahrhundertwende in vielen der größeren Strafanstalten - in Preußen etwa in Breslau, Köln, Halle, Münster und Graudenz - spezielle Abteilungen für „irre Verbrecher" eingerichtet worden. 100 Wie die Forschung zeigen konnte, wurde diese verwaltungstechnische Lösung jedoch in der Praxis ganz anders gehandhabt als ursprünglich intendiert: Die „Irrenabteilungen" entwikkelten sich zu einer geradezu beliebigen Sammelstelle für alle möglichen Insassen, die sich nicht in die Anstaltsordnung einpaßten; Krankheitssymptome waren nicht ausschlaggebend, und die Eingewiesenen wurden auch nicht therapeutisch behandelt. 101 Auch in der Rechtsprechung hinterließ die Debatte über die strafrechtliche Behandlung von geistig Minderwertigen durchaus Spuren. Nach Angaben von Richard Wetzeil stieg die die Zahl der Angeklagten, die zur Beobachtung in Psychiatrien eingewiesen wurden, in Preußen zwischen 1895 und 1905 fast um das Doppelte. Die medizinisch recht diffuse Kategorie korrespondierte mit dem juristischen Bedürfnis, zwischen Unzurechnungsfähigkeit wegen Geistesstörungen mit folgendem Freispruch einerseits und vollkommener Zurechnungs- beziehungsweise Schuldfahigkeit andererseits weiter zu differenzieren. Da die Mehrzahl der verunsicherten Richter dazu überging, bei unklaren Fällen das Strafurteil zu mildern, wurde für die Rechtsexperten eine entsprechende Reform des Strafrechts erst richtig virulent.102 Obwohl die 97

Erste entsprechende Regelungen wurden bereits 1895 in Sachsen und Preußen eingeführt (ausführlicher Wetzell: Medicalization of Criminal Law Reform, 1996, S. 172). 98 Die „bedingte Verurteilung" wurde in Amerika ursprünglich für jugendliche Straftäter eingeführt und erst später auf erwachsene Straffällige übertragen. Anders als in Amerika sahen die europäischen Varianten keine Kontrolle durch sogenannte „probation officers" vor. Vgl. zur damaligen Diskussion Wach: Reform der Freiheitsstrafe, 1890, S. 21-29. 99 Das der „bedingten Begnadigung" zugrundeliegende Gnadenrecht besaßen traditionell die Landesherren. Seine Ausübung war an die Justizministerien delegiert und damit strenggenommen nicht Teil der gerichtlichen Rechtsprechung (Schmidt: Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1947, S. 369-371). 100 Parallel dazu wurden in den Psychiatrien sogenannte Bewahrhäuser für die kriminellen Patienten eingerichtet, die jedoch von vornherein nicht auf eine therapeutische Behandlung angelegt waren. Zwischen den beiden Einrichtungstypen wurden die „irren Verbrecher" regelrecht hin- und hergeschoben (Müller: Verbrechensbekämpfung, 2004, S. 101-111). "" Müller. Verbrechensbekämpfung, 2004, S. 107. 102 Wetzell: Inventing the Criminial, 2000, S. 79.

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„geistig Minderwertigen" einhellig als besondere Herausforderung fur die Kriminalpolitik betrachtet wurden, erwies sich die Lösung des attestierten Problems als konfliktbeladen. 103 Im Zuge der Strafreformdebatten erschien insgesamt eine Flut von Beiträgen zu kriminalitätsspezifischen Fragestellungen, und mit steigender Zahl formierten sich auch spezielle Publikationsorgane. Während die ersten deutschsprachigen Aufsätze zunächst entweder in der Zeitschrift fur die gesamte Strafrechtswissenschaft oder im Centraiblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie erschienen, bildeten sich um die Jahrhundertwende mit dem 1898 vom österreichischen Juristen Hanns Groß gegründeten Archiv für KriminalAnthropologie und Kriminalistik und der Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform,104 die seit 1904 unter der Federführung des Psychiaters Gustav Aschaffenburg erschien, eigenständige Foren heraus. Diese Fachzeitschriften sind neben thematischen Reihen wie der Enzyklopädie der modernen Kriminalistik als erste disziplinare Anfange der Kriminologie zu werten. Daneben wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg gefordert, kriminologische Forschung an den Universitäten zu etablieren. Die Gründung eigenständiger kriminologischer Institute wie das in Österreich von Hanns Groß geleitete war jedoch vorerst die Ausnahme. 105 Ein übergreifendes Etikett wie das der Kriminologie fehlte ebenfalls noch, statt dessen existierten nur spezifizierendere Bezeichnungen wie Kriminalistik, Kriminalanthropologie und Kriminalpsychologie. Die Mehrheit der Vorschläge sah vor, die Kriminologie unter dem institutionellen Dach der Rechtswissenschaft anzusiedeln und vor allem für die Juristenausbildung fruchtbar zu machen, worin die Dominanz der Strafrechtswissenschaftler in Reformforen wie der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung zum Ausdruck kam.106 Die kriminalitätsbezogene Forschung des Kaiserreichs entsprach nicht dem in der Wissenschaftsforschung des 20. Jahrhunderts lange Zeit dominanten Ideal einer reinen, gesellschaftlich ausdifferenzierten Wissenschaft. 107 Dies ist jedoch nicht nur eine Frage der sich verändernden historischen Bedingungen und Perspektiven. Vielmehr war und ist die Kriminologie in dieser Hinsicht bis heute ein besonderer Fall. Kriminologische Institute finden sich

103 Zur Diskussion um „geistig Minderwertige" und deren Strafzumessung siehe ausfuhrlich Müller. Verbrechensbekämpfung, 2004, S. 1 4 1 - 1 4 9 u. Galassi: Kriminologie, 2004, S. 3 6 0 - 3 6 7 . 104 Die Gründung der Monatsschrift für Krimmalpsychologie und Strafrechtsreform, an der Franz von Liszt maßgeblich beteiligt war, resultierte nach Wetzeil daraus, daß der interdisziplinäre Fokus in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft nicht mehr ohne Probleme beizubehalten war (Wetzeil: Inventing the Criminial, 2000, S. 37). 105 Galassi: Kriminologie, 2004, S. 337. 106 Rein zahlenmäßig waren die Strafrechtswissenschaftlicher gegenüber den Medizinern in der Überzahl (Wetzeil: Medicalization of Criminal Law Reform, 1996, S. 36). 107 Das ist die Hauptthese der systemtheoretisch orientierten, wissenschaftssoziologischen Studie von Galassi: Kriminologie, 2004.

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ganz unterschiedlichen Fachbereichen zugeordnet. Das Fach ist nicht nur durch große Interdisziplinarität gekennzeichnet, sondern verstand und versteht sich als angewandte Wissenschaft, zu deren Zielen es gehört, konkrete kriminalpolitische Strategien auszuarbeiten und Hintergrundwissen für die Rechtsprechung bereitzustellen. Die Anzahl der Praktiker - Staatsanwälte, Richter, Polizei-, Gefängnis- und Ministerialbeamte - , die Beiträge verfaßten, war im Kaiserreich ausgesprochen hoch,108 und auch heute räumt die Kriminologie dem Wissen erfahrener Praktiker einen großen Stellenwert ein.109 Angesichts dieses Befundes stellt sich für die historische Forschung die Frage, in welchem Verhältnis die unterschiedlichen Perspektiven und Vorgehensweisen der Disziplinen aufeinanderstießen und welche Ziel- und Interessenkonflikte sich aus den verschiedenen Handlungskontexten ergaben. Die jüngsten Studien zu den Anfangen der Kriminologie haben inzwischen die ältere These von der Medikalisierung des Strafens relativiert. Ohne Frage nahmen Anzahl und Bedeutung medizinischer Experten - sei es nun als Gutachter vor Gericht, als Sachverständiger in der Strafverfolgung oder als Verfasser kriminologischer Beiträge - gegen Endes des 19. Jahrhunderts rapide zu, und die Medizin lieferte den Strafrechtsreformern mit der Vorstellung vom degenerierten Verbrecher das zentrale Argument." 0 Trotzdem blieb die strafrechtswissenschaftliche Perspektive dominant und überformte die medizinische. Die Empirie war letztlich den kriminalpolitischen Zielen nachgeordnet und bildete nicht, wie von der Strafrechtsreformbewegung gefordert, die Grundlage der kriminalpolitischen Reformen. Außerdem verdeutlicht die Psychiatriegeschichte, daß die Entdeckung des pathologischen Kriminellen weniger das Produkt eines fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses als vielmehr Ergebnis einer institutionellen Zwangslage war.111 Schließlich darf man sich vom Begriff der Medikalisierung, der aus der Medizingeschichte kommt und ganz neutral die „Ausweitung des professionellmedizinischen Kompetenzbereichs" beschreibt, nicht irreführen lassen, da aus der Pathologisierung des Verbrechens nicht das Ziel einer therapeutischen Strafe, sondern im Gegenteil die ultimative Maßnahme der Verwahrung folgte.112 Inwieweit also die Mediziner eine paradigmatische Wende im Kriminalitätsverständnis herbeiführten, wird an späterer Stelle noch genauer zu klären sein. 108

Wetzeil: Medicalization of Criminal Law Reform, 1996, S. 168. Siehe zur Selbstdefinition etwa Kaiser: Kriminologie, 1996, S. 1-31 u. Göppinger u.a.: Kriminologie, 1997, S. 28-47. 110 Nye: Crime, Madness and Politics, 1984; Harris: Murders and Madness, 1989 sowie Wetzeil: Medicalization of Criminal Law Reform, 1996. 111 Siehe bereits das Urteil über die IKV bei Radzinowicz: International Association of Criminal Law, 1991, S. 12 sowie die grundlegende Kritik bei Galassi: Kriminologie, 2004; Müller: Verbrechensbekämpfung, 2004 u. Kesper-Biermann: Internationale Kriminalistische Vereinigung, 2007. 112 Roelcke: Medikaie Kultur, 1998, S. 49. 109

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Gefängniskunde im Schatten der Kriminologie Nur selten wird in der Literatur die Gefangniskunde in die Genealogie der Kriminologie eingeordnet. Sie wird allenfalls als eine Wurzel des kriminologischen Teilgebiets der Pönologie genannt oder wie die Moralstatistik als entfernter Vorläufer der Kriminalsoziologie gewertet. 113 Tatsächlich hatten bereits die Gefängnisreformer in ihren Anfängen den Anspruch erhoben, die Ursachen für kriminelles Verhalten genauer zu ergründen, um auf empirischer Basis den Strafvollzug effektiver konzipieren zu können. Doch nachdem sich das Disziplinierungskonzept durchgesetzt hatte, wurde das sozial-moralische Kriminalitätsverständnis nicht mehr weiter hinterfragt, und die Reformer konzentrierten sich ganz darauf, konsistente Gefängnissysteme zu entwerfen und umzusetzen. Weitere Analysen zur Kriminalitätsentwicklung dienten lediglich dazu, die Effizienz der angewandten Strafstrategien zu überprüfen. Thomas Nutz läßt seine Geschichte der Gefangniswissenschaft 1848 enden, da die „Disziplin" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl inhaltlich als auch institutionell stagnierte. Das ausbleibende Interesse der staatlichen Behörden an weitergehenden Reformen und neuen Experimenten nach 1849 ist dafür sicherlich ein wichtiger Grund." 4 Die gescheiterten Entwürfe für ein Strafvollzugsgesetz in den 1870er Jahren weisen nicht nur auf mangelndes Interesse der politischen Akteure hin, sondern zeigen auch, daß die Reformideen begrenzt waren und sich insbesondere die konsultierten Strafvollzugspraktiker auf den Wunsch beschränkten, die bestehenden Praktiken zu formalisieren. Die in den späten 1880er Jahren erschienenen Lehrbücher zur Gefängniskunde, das eine vom Strafrechtswissenschaftler Franz von Holtzendorff gemeinsam mit dem Juristen und badischen Ministerialrat Eugen von Jagemann herausgegeben, das andere vom ehemaligen Gefangnisdirektor und damaligen Referenten für Gefangniswesen im preußischen Innenministerium, Karl Krohne, verfaßt, erschienen zu einer Zeit, in der die Besserungsstrafe bereits in Mißkredit geraten war.115 Beide Werke waren die ersten deutschsprachigen Kompendien, die das Wissen der Gefängniswissenschaft des 19. Jahrhunderts in all seinen diversen Aspekten festhielten, tatsächlich aber nicht über den zur Jahrhundertmitte erreichten Diskussionsstand hinausgingen. Trotz der damals bereits intensiv geführten Debatten über die sogenannten Unverbesserlichen hielten die Verfasser weiterhin an ihrer althergebrachten Problemdiagnose fest: „Jeder Rückfall bezeichnet einen Mißerfolg der strafenden Thätigkeit des Staates, und das häufige Vorkommen von Recidivien [Rückfallen] drängt nothwendig zur Untersuchung der Frage, ob die staatliche Strafgewalt richtig gehandhabt, und ob nicht 113

Mechler: Geschichte der Kriminalsoziologie, 1970, S. 128-140. Nutz: Besserungsmaschine, 2001, S. 3 6 9 - 3 7 0 . 115 Holtzendorff/Jagemann: Handbuch des Gefangniswesens, 1888 u. Krohne: Lehrbuch der Gefangniskunde, 1889. Gegen Ende des Kaiserreichs folgte ein weiteres umfassendes Handbuch: Kriegsmann: Einfuhrung in die Gefangniskunde, 1912. 114

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gerade in der Art ihrer Ausübung die Ursache jener unerfreulichen Erscheinung zu suchen sei."116 Über die Kritik an der Besserungsstrafe gingen sie weitgehend hinweg und wiederholten statt dessen die bekannten Forderungen, wonach auf eine konsequente Klassifizierung und eine flächendeckende Einfuhrung des „richtigen" Haftsystems bestanden werden müsse.117 Institutionell läßt sich ebensowenig eine Weiterentwicklung beobachten. Beim Versuch, die Gefangniswissenschaft zumindest als Teildisziplin an den Universitäten zu etablieren, waren keine nennenswerten Fortschritte zu verzeichnen. Die thematische Vielfalt, die letztlich keinen gemeinsamen heuristischen Nenner erlaubte, mußte von vornherein ein Hindernis dafür darstellen, die Gefangniskunde universitär zu verankern. Zwar stieg das Interesse der Strafrechtswissenschaft an der Gefängnisfrage, und ab der Jahrhundertmitte wurde an vereinzelten Universitäten wie etwa Berlin und Jena spezielle Vorlesungen zum Strafvollzug angeboten, doch der Kreis der interessierten Professoren beschränkte sich auf einige wenige Persönlichkeiten wie Mittermaier und von Holtzendorff.118 Im Zuge der Strafrechtsreformbewegung behandelte auch Franz von Liszt gefängniskundliche Aspekte in seinen Lehrveranstaltungen. Er sprach der Gefangniskunde allerdings den Status einer eigenständigen Wissenschaft ab: „Ich bestreite, daß es eine Gefängniswissenschaft gibt. Was man so nennt, ist ein Teil entweder des Strafrechts im engeren Sinne oder der Kriminalpolitik."119 Er beanstandete nicht mangelnde Wissenschaftlichkeit, sondern wollte die Gefängniskunde lediglich als Teilbereich der „gesamten Strafrechtswissenschaft" verstanden wissen. Dies war in erster Linie ein reformpolitisches Statement: „Die Freiheitsstrafe ist nur ein Glied in der Kette der Strafmittel, und die Bewohner einer Strafanstalt sind keine selbständige Gruppe der Verbrecherwelt. Daß man von einer besonderen Gefangniswissenschaft spricht, hat seinen Grund in der fast ausschließlichen Herrschaft der Freiheitsstrafe, wie diese in der einseitigen Betonung des Besserungszweckes ihre tiefste Wurzel findet. Hier aber liegt der Krebsschaden unserer heutigen Strafgesetzgebung. Eine selbständige Gefangniswissenschaft darf es ebensowenig geben, wie eine selbständige Hinrichtungswissenschaft."120 Der Kritik ungeachtet betrachteten sich die Vertreter der Gefangniskunde im Kaiserreich als Wissenschaftler einer eigenständigen Disziplin. Angesichts der Tatsache, daß das Lehrbuch von Holtzendorffs und von Jagemanns aus einer Zusammenarbeit zwischen „Praktikern" und „Theoretikern" hervorgegangen war, betonten die Herausgeber, daß „überall die Forderungen streng1,6

Holtzendorff/Jagemann: Handbuch des Gefângniswesens, Bd. 2, 1888, S. 314-315. Holtzendorff/Jagemann: Handbuch des Gefângniswesens, Bd. 2, 1888, S. 525. 118 Die von Blühdorn für die Gefangniswissenschaft gezogene Kontinuitätslinie vom 19. Jahrhundert bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist eher als Legitimationsversuch für sein Plädoyer zu werten, das Thema Strafvollzug stärker in der strafrechtswissenschaftlichen Lehre zu verankern (Blühdorn: Gefangniswissenschaften, 1964, v.a. S. 1-5). "9 Liszt: Kriminalpolitische Aufgaben, 1905, S. 295. 120 Liszt: Kriminalpolitische Aufgaben, 1905, S. 295-296. 117

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ster Wissenschaftlichkeit in den Vordergrund" gestellt worden seien.' 21 Spätestens mit dem Einzug gefangniskundlicher Themen in die universitäre Lehre ab 1850 sahen sie den Status einer selbständigen Wissenschaft als gegeben an, wenngleich die eigene Definition das Problem der heterogenen Arbeitsbereiche nicht kaschieren konnte: „Die Einheit der Gefängniswissenschaft beruht also nur auf der Einheit und Zweckrichtung ihres Gegenstandes." 122 Der begriffliche Kunstgriff der „Collektivwissenschaft" mußte hier die disziplinare Bandbreite, die von Rechtswissenschaft und praktischer Philosophie über Politik- und Staatsverwaltungslehre bis hin zur Architektur und den Naturwissenschaften reichte, zusammenhalten. 123 Der Einbruch, den die Gefängnisreformbewegung nach der Jahrhundertmitte erlitten hatte, war jedoch - auch auf internationaler Ebene - unübersehbar.124 Nachdem das zentrale deutschsprachige Publikationsorgan der Gefangniskunde, die Jahrbücher der Gefängniskunde und Besserungsanstalten, infolge der Revolution von 1848/1849 sein Erscheinen eingestellt hatte, etablierte sich erst 14 Jahre später mit den Blättern fiir Gefängniskunde wieder ein Kommunikationsforum. Die Zeitschrift gab der Verein der deutschen Strafanstaltsbeamten seit seiner Gründung im Jahr 1864 heraus.125 Der Zusammenschluß, der vor allem auf eine Initiative der Bruchsaler Anstaltsbeamten zurückging, bedeutete eine wichtige Etappe auf dem Professionalisierungsweg der Gefangnisbeamten. Als berufständische Vertretung entsprang das Interesse am fachlichen Austausch vor allem dem Bedürfnis nach professioneller Qualifikation und gemeinsamen Standards.126 Die in der ersten Phase der Gefangnisreform entstandenen Konzepte und Praktiken sollten nun auf der breiten Ebene der Strafanstaltsbeamten festgeschrieben werden. An der Kritik Otto Mittelstädts läßt sich ablesen, wie wichtig für die historisch recht heterogen gewachsene Gruppe der Strafanstaltsbeamten eine gemeinsame professionelle Identität war. Zugleich macht seine Polemik deutlich, wie zunehmende fachliche Exklusivität und Selbstreferentialität die Gefangnisexperten öffentliche Legitimation kosteten: „Der großen Mehrzahl nach rekrutiren sich unsere Gefangnisdirektoren aus allerlei Leuten, die ihren Beruf irgend wo anders verfehlt haben, und durch irgend einen Zufall in die 121

Holtzendorff/Jagemann: Handbuch des Gefängniswesens, Bd. 1, 1888, S. VII. Holtzendorff/Jagemann: Handbuch des Gefangniswesens, Bd. 1, 1888, S. 7. 123 Holtzendorff/Jagemann·. Handbuch des Gefängniswesens, Bd. 1, 1888, S. 9. 124 Der nach dem ersten Internationalen Gefangniskongreß 1847 begonnene länderübergreifende Austausch brach nach den Revolutionsjahren ab und wurde erst wieder mit der Gründung der International Penal and Penitentiary Commission und ihrem ersten Kongreß in London 1872 aufgenommen (vgl. Radzinowicz: International Association of Criminal Law, 1991, S. 19-21). 125 Bei seiner Gründung gehörten dem Verein bereits 200 Mitglieder an, darunter auch Vertreter aus Rheinland und Westfalen (Blätter für Gefängniskunde 1865/1, S. V-VIII). 126 Zu den Professionalisierungszielen siehe Blätter für Gefängniskunde 1865/1, S. 1 u. Vahnum. Verbrecherthum, 1869, S. 221-225. 122

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Gefangnisadministration verschlagen worden sind. Offiziere außer Diensten, ein paar Juristen, hier und da ein Gefängnisgeistlicher oder Unterbeamter, der sich mühevoll heraufgedient hat, das sind durchgängig die Klassen, aus denen heraus unsere ersten Gefangnisbeamten geschaffen werden. Es ist schwer zu sagen, wo dieselben ihren inneren Beruf für ihre schwierige Mission hergeholt haben. [...] Zumeist im Zustande völligen Unschuldsalters gegenüber allen Problemen der Metaphysik, der Psychologie und Pädagogie hören sie sich mit einem Male umschwirrt von einer Fülle stolz und geräuschvoll daher paradirender Ideen über sittliche Verschuldung und sittliche Reinigung, intellektuelle und moralische Besserung, individualisierende und generalisierende Erziehungsmethode, und von all' dem sonstigen bunten Krimskrams humanistischer, religiöser, schulmeisterlicher, sozial-missionärer Recepte für die leidende Menschheit, wie sie heuer im Schwange sind. Eine ungeheure Vorstellung von der Wichtigkeit ihres Berufs, der Schwierigkeit ihrer Aufgaben erfaßt sie; eifrig ist das Bemühen, sich aus den Fachzeitschriften die doctrinäre Redeweise und einigen Vorrath besonders beliebter Begriffe anzueignen; rasch ist man damit fertig, sich selbst fur den Hausgebrauch eine Art von Theorie der Gefangnispropädeutik abzurunden, selbständige Versuche zu unternehmen, und bald treibt der Kitzel des Ehrgeizes, Fachgenossen von der eigenen Musterwirthschaft Bericht zu erstatten, sich auch schriftstellerisch zu bethätigen. Das Ergebnis ist, daß aus braven Leuten und schlechten Philosophen, aus verständigen Praktikern und unwissenden Theoretikern unverständige Praktiker und halbgebildete Doktrinäre werden."127 Franz von Liszt machte den „Gefangnispraktikern"128 die mangelnde Verbindung ihrer Konzepte zur Strafrechtswissenschaft zum Vorwurf: Sie würden die Anschauung vertreten, „daß der Strafvollzug mit dem Strafrecht nichts zu schaffen habe".129 Vor allem aber bemängelte er, daß sich die Vollzugsdebatten durch die Idealisierung der Einzelhaft festgefahren hätten. „Der Systemstreit hat der Gefangnisverbesserung die Teilnahme des Volkes entzogen, welches an die Kraft des kriminalistischen Universalheilmittels zu glauben sich nicht entschließen konnte; er hat Regierungen und Volksvertretungen stutzig gemacht, welche kopfschüttelnd die Kosten all der notwendigen Neubauten überschlugen".130 Fehlendes staatliches Reforminteresse sowie die konzeptionelle Engfuhrung und Selbstreferentialität sind jedoch nicht die einzigen Gründe für die Stagnation der Gefängniswissenschaft. Entscheidend war außerdem, daß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Praktiker die Gefangnisdebatten

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Mittelstadt: Gegen die Freiheitsstrafen, 1879, S. 47-48. Liszt: Kriminalpolitische Aufgaben, 1905, S. 328. Liszt: Kriminalpolitische Aufgaben, 1905, S. 329. Liszt: Kriminalpolitische Aufgaben, 1905, S. 329.

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bestimmten und diese zuallererst professionelle Interessen verfolgten. 131 Zu Beginn seiner Arbeit setzte sich der Verein der deutschen Strafanstaltsbeamten weder für weitreichende Reformziele ein, noch wurden hier wissenschaftliche Ambitionen geäußert. 132 Der Wissenschaftlichkeit versicherte man sich lediglich durch die versprochene Mitwirkung des Heidelberger Professors Mittermaier. 133 Statt dessen legten die Gründungsmitglieder als „Hauptzweck des Vereins" die „Förderung gemeinsamer Normen auf dem Gebiete des Gefangniswesens" fest. 134 Wie sich später auch in der Kommissionsarbeit an einem Strafvollzugsgesetz zeigte, ging es den Strafanstaltsbeamten vorrangig darum, die Gefangnisorganisation zu vereinheitlichen. Am Zustandekommen der neuen Strafreformdebatten in den 1880er Jahren waren die „Gefangnisreformer" allenfalls in negativer Hinsicht beteiligt. Wie der inzwischen gut erforschte Textkorpus der kriminologischen Schriften zeigt, stammte keiner der diskursprägenden Beiträge aus der Feder eines Vertreters der Gefangniskunde. Während die Strafrechtsreformbewegung Alternativen zum Freiheitsentzug diskutierte, kaprizierte sich die Gefangniskunde zunächst weitherin auf die Frage, wie die disziplinierende Haftstrafe am effektivsten auszufuhren sei. Die rechtlichen Grundlagen staatlichen Strafens wurden hier so gut wie überhaupt nicht hinterfragt. Nur vereinzelt tauchten nach der Jahrhundertmitte - etwa im Hinblick auf jugendliche Rechtsbrecher - Überlegungen zu Entkriminalisierungsstrategien auf. 135 Trotz der massiven Angriffe konnten es sich die Gefangnisexperten jedoch langfristig nicht leisten, den neuen Diskussionsrunden fernzubleiben. Immerhin boten sich dafür auch einige Anknüpfungspunkte. Mit der modernen Strafrechtsschule teilten sie die Ablehnung des Tatvergeltungsprinzips und die Ausrichtung des Strafens an der Spezialprävention. Die Gefängniskunde hatte ja bereits wesentlich früher die Perspektive von der Tat auf den Täter verschoben: nicht die Tat sollte die Strafdauer bestimmen, sondern die Erziehungsfortschritte - so die Forderung, wie sie etwa Karl David August Röder in einem Gutachten für das preußische Innenministerium formulierte: ,,[J]e mehr man begreift, daß nur eine der Individualität des Verbrechens und des Verbrechers möglichst angemessene Strafe [...] dem wahren Recht entsprechen, desto mehr ist man auch längst abgefallen von dem Glauben an die Nothwendigkeit ganz bestimmter Gesetze, m. a. W. an die Unfehlbarkeit der Gesetzgeber, so daß man dem richterlichen Ermessen von Jahr zu Jahr freieren Spielraum gewährt hat, desto nothwendiger erscheint es aber zugleich, 131

Zum Bedeutungszuwachs der Praktiker siehe Blühdorn·. Gefängniswissenschaften, 1964, S. 41 u. Riemer: Fürsten der Wissenschaft, 2007. 132 Vgl. dazu den Überblick über die Schwerpunkthemen der Jahresversammlungen des Vereins der deutschen Strafanstaltsbeamten bei Höfl