Musik als Medium der Erinnerung: Gedächtnis - Geschichte - Gegenwart 9783839432792

From Proust's madeleine through to Aby Warburg's Image Atlas: for the first time, this interdisciplinary antho

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Musik als Medium der Erinnerung: Gedächtnis - Geschichte - Gegenwart
 9783839432792

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Intro: Musik und kulturelle Erinnerung
Zur Methode und Medienspezifik von Musik als Medium des kulturellen Erinnerns
Musikwissenschaft und Erinnerungsforschung
Erinnerung und Zeitlichkeit
Erfahrung, Erinnerung und Reproduktion nach Walter Benjamin
Musik über Musik
Musik als Gedächtnis
Das kulturelle Gedächtnis des Sacre du printemps: Über Archaik und Moderne
Das Requiem – ein Erinnerungsort
Mit und an Intertextualität erinnern
Dynamiken des musik-kulturellen Gedächtnisses
Erinnerung und Gedächtnis in der Diktatur
Ideologische Bach-Rezeption im 18. und 19. Jahrhundert
Vergessen oder Erinnern?
Materialitäten, Orte und Erinnerungen
Interdisziplinäre Perspektiven kultureller Erinnerung
Kompetitiv-Multidirektionale Erinnerung im Medium der Rap-Musik
»Playing music saved us from going nuts«
Music, Affect and Memory Politics in Post-Yugoslav Space
Zu den Autoren

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Lena Nieper, Julian Schmitz (Hg.) Musik als Medium der Erinnerung

Musik und Klangkultur

Lena Nieper, Julian Schmitz (Hg.)

Musik als Medium der Erinnerung Gedächtnis – Geschichte – Gegenwart

Förderhinweis: Bundesministerium für Bildung und Forschung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Worlds First Hyperboloid structure«, Sergei Arssenev, 2009 (Wikimedia Commons) Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3279-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3279-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Astrid Erll | 9 Intro: Musik und kulturelle Erinnerung Lena Nieper und Julian Schmitz | 11

ZUR METHODE UND MEDIENSPEZIFIK VON MUSIK ALS MEDIUM DES KULTURELLEN E RINNERNS Musikwissenschaft und Erinnerungsforschung. Einige Vorüberlegungen Melanie Unseld | 29 Erinnerung und Zeitlichkeit Kai Preuß | 39 Erfahrung, Erinnerung und Reproduktion nach Walter Benjamin Johannes Fechner | 51 Musik über Musik. Erinnerung und musikalisches Gedächtnis Helga de la Motte-Haber | 63

MUSIK ALS GEDÄCHTNIS Das kulturelle Gedächtnis des Sacre du printemps: Über Archaik und Moderne Jan Assmann | 81 Das Requiem – ein Erinnerungsort. Das War Requiem von Benjamin Britten und Polskie Requiem von Krzysztof Penderecki als musikalische Erinnerungsdenkmäler des 20. Jahrhunderts Petya Tsvetanova | 103 Mit und an Intertextualität erinnern. Erik Saties musikalische Verweise in den Klavierkompositionen 1913 Tom Wappler | 113

DYNAMIKEN DES MUSIK-KULTURELLEN GEDÄCHTNISSES Erinnerung und Gedächtnis in der Diktatur. Dekanonisierung Felix Mendelssohn Bartholdys unter dem Hakenkreuz? Elisabeth Reda | 137 Ideologische Bach-Rezeption im 18. und 19. Jahrhundert Leonie Storz | 157 Vergessen oder Erinnern? Das Beispiel der ›Internationalen Komponistinnenbibliothek Unna‹ als Drehpunkt des kulturellen Gedächtnisses Friederike Bunten | 169 Materialitäten, Orte und Erinnerungen. Am Beispiel der Sängerin Celeste Cortellini Carola Bebermeier | 177

I NTERDISZIPLINÄRE P ERSPEKTIVEN KULTURELLER E RINNERUNG Kompetitiv-Multidirektionale Erinnerung im Medium der Rap-Musik Jarula M.I. Wegner | 191 »Playing music saved us from going nuts«: Childhood Trauma and the Sound Works of Beiruti Artists of the Civil War Generation Thomas Burkhalter | 205 Music, Affect and Memory Politics in Post-Yugoslav Space Ana Hofman | 235 Zu den Autoren | 259

Vorwort A STRID E RLL

Wer hin und wieder alte CDs hervorholt und sich anhört, weiß um die Macht von Musik als Auslösereiz für individuelle Lebenserinnerungen. Wahrscheinlich sind mit persönlichen Erinnerungen besetzte Musikstücke für viele Menschen so machtvoll wie Marcel Prousts Madeleine, jenes berühmte Gebäckstück aus A la recherche du temps perdu, das, in Tee getaucht, Erinnerungen plötzlich und »unwillkürlich« heraufziehen lässt.1 Wer (wie ich) in den 1980er Jahren musikalisch sozialisiert wurde, muss allerdings feststellen, dass die so eng mit der eigenen Autobiographie verbundenen »Mix-Musikkassetten«, die häufig den Soundtrack für Jugendzeit und Erwachsenwerden lieferten, unwiederbringlich verloren sind. Selbst wenn das passende Abspielgerät noch vorhanden ist, erweist sich, dass die Lebensdauer jener Magnetbänder offenbar begrenzt war. Kompensiert wird dieser Verlust derweil durch YouTube, wo alte Konzertmitschnitte auftauchen, deren Existenz man nicht für möglich gehalten hätte. All dies weist schon darauf hin, dass die »Musikerinnerung« – mehr noch als die Erinnerungen an andere sinnliche Erfahrungen, wie an Gerüche und Geschmäcker – eng gebunden ist an technische Medien und abhängig von deren Haltbarkeit. Sie ist dem Wandel der Medientechnologien unterworfen und nicht zuletzt charakterisiert durch die dynamischen und kreativen Prozesse der ›Remediation‹. Für die Generation meiner Eltern und Großeltern folgt Musikerinnerung jedoch häufig einer anderen Logik: Es ist viel mehr die Erinnerung an den eigenen Gesang (man denke an die Wandervogelbewegung und Männerbünde), die prozedurale Erinnerung an 1

Proust, Marcel: À la recherche du temps perdu, Paris: Gallimard 1913–1927.

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das Spielen von Musikinstrumenten oder die im autobiographischen Gedächtnis rekonstruierte Erinnerung an nicht-aufgezeichnete und daher ephemere Konzerte. Gerade im vergangenen, durch den kontinuierlichen Wandel der musikalischen Stile, Medien und Dispositive gekennzeichneten Jahrhundert ist Musikerinnerung auch und vor allem ein generationelles Phänomen. Als solches kann sie eine außerordentlich vergemeinschaftende Wirkung entfalten, sowohl innerhalb einer Generation (z.B. die ›BeatGeneration‹) als auch über die Generationsfolge hinweg (z.B. Nationalhymnen, kanonisierte klassische Musik). Musik ist ganz offenbar ein zentraler Bestandteil von Maurice Halbwachs’ cadres sociaux, den sozialen Rahmen des kollektiven Gedächtnisses.2 Über die Erinnerung an Musik und über die Erinnerungen, die musikalische Reize auslösen, werden individuelle und kollektive Identitäten geschaffen und aufrechterhalten. Schon diese wenigen Gedanken zeigen, wie komplex die in diesem Band thematisierte Materie ist: Musik scheint auf allen Ebenen des individuellen und kollektiven Gedächtnisses eine bedeutende (und einer eigenen Logik folgende) Rolle zu spielen – und das nicht nur aus kulturwissenschaftlicher, musik- und medienwissenschaftlicher Perspektive, sondern auch aus der Perspektive der kognitions – und neurowissenschaftlich orientierten Gedächtnisforschungen. Neuere Experimente mit Alzheimerpatienten zeigen etwa, dass Musik auch bei fortgeschrittener Demenz sehr gut erinnert wird. Für Musikerinnerung scheinen Teile des motorischen Gedächtnisses verantwortlich zu sein.3 Erstaunlich ist, wie wenig systematisch die Gedächtnisforschung dem Zusammenhang von Musik und Erinnerung bislang nachgegangen ist. Es ist höchste Zeit, dass in einem Band wie diesem, musikwissenschaftliche Expertise auf kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung trifft und beide in einen produktiven Dialog eintreten.

2

Halbwachs, Maurice: Les cadres sociaux de la mémoire, Paris. Felix Alcan

3

Jacobsen, Jörn-Henrick/Stelzer, Johannes/Fritz, Hans Johannes/Chételat, Gael/

1925. La Joie, Renaud/Turner, Robert: »Why musical memory can be preserved in advanced Alzheimer’s disease«, Brain 138 (2015): S. 2438–24503.

Intro: Musik und kulturelle Erinnerung L ENA N IEPER UND J ULIAN S CHMITZ

Schweigen in Erinnerung tauchen in Erinnerung deine, meine, ihre, unsere, ihre, seine Gefilterte Vergangenheit GUDRUN GUT-WILDLIFE

E RINNERUNGSFORSCHUNG

UND

M USIKWISSENSCHAFT

Der Begriff ›Gedächtnis‹ hat sich seit den 1980er Jahren zu einem kulturwissenschaftlichen Leitbegriff entwickelt.1 In der musikwissenschaftlichen Forschung erhielt er bisher allerdings wenig Beachtung. Dabei verknüpft der Begriff intra- und interdisziplinäre Bestrebungen der historischen, sys-

1

Während der NS-Zeit wurde der Begriff in einem biologischen Sinne benutzt, um rassistische Ideologien durchzusetzen. (Siehe hierzu: Assmann, Jan: »Das kollektive Gedächtnis und kulturelle Identität« in: Ders./Hölscher, Tonio: Kultur und Gedächtnis, Frankfurt: Suhrkamp 1988, S. 9.) Erste systematische Konturen des Begriffes gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits bei Walter Benjamin, Sigmund Freund, Aby Warbung und Maurice Halbwachs. Für eine Geschichte der Erinnerungsforschung siehe: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart: Metzler Verlag 2011, S. 15–40. Einen Überblick über die zeitgenössische Gedächtnisforschung bietet: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar: Cultural Memory Studies: An International and Interdisciplinary Handbook, New York: de Gruyter 2008.

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tematischen und ethnologischen musikwissenschaftlichen Forschung.2 Es ist also höchste Zeit, dass mit diesem Band Musik als Medium des kulturellen Gedächtnisses neben Film und Literatur begriffen wird und sich somit in die bisherige kulturwissenschaftliche Erinnerungsforschung eingliedert.3 Doch was vermag das kulturelle Gedächtnis als kulturwissenschaftliches Paradigma in der Musikwissenschaft zu leisten? 4 Es ist ein methodischer Blickwinkel unter welchem vermeintlich ›natürliche‹ Parameter der musikwissenschaftlichen Arbeit, wie z.B. das Archiv, 5 Gedenkstätten6, der Kanon,7 die Historiographie und/oder Biographien8 vor dem Hintergrund kultureller Dynamiken ins Zentrum des Interesses rücken. Der Fokus liegt darauf, die gesellschaftliche Konstruktivität herauszustellen, sowie ihre sozialen und politischen Mechanismen zu analysieren. Auf dieser methodischen Ebene radikalisiert das kulturelle Gedächtnis die historische Arbeit.

2

Die Herausgeber dieses Bandes vertreten einen weiten Begriff von ›Musik‹ unter welchem sie unter anderem Popularmusik, Musiktheater, Neue Musik, Klassik und Global Pop begreifen.

3

Siehe hierzu auch Melanie Unselds Beitrag in diesem Band.

4

Für eine Diskussion um den Stand kulturwissenschaftlischer Forschung in der Musikwissenschaft siehe Unseld, Melanie: Die Kulturwissenschaften als Herausforderung für die Musikwissenschaft – und was sich daraus für die Historische Musikwissenschaft ergibt in Calella, Michelle [Hg.]: Historische Musikwissenschaft: Grundlagen und Perspektiven, Stuttgart [u.a]: Metzler, 2013, S. 266–288. Sowie als kritische Gegenposition: Lüttecken, Laurenz: Musikwissenschaft. Eine Positionsbestimmung, Kassel u.a. 2007. Siehe hierzu auch die Materialien der Ringvorlesung des Institut für Musikwissenschaft Wien (https:// musikwissenschaft.univie.ac.at/forschung/vortragsreihen/ringvorlesungen/mu sikkulturwissenschaft-ringvorlesung-ss2012/luetteken/). Letzter Zugriff: 04.01. 16.

5

Zur Problematik des Archivs aus feministischer Perspektive siehe den Beitrag von Friederike Bunten in diesem Band. Vgl. hierzu auch: Derrida, Jaques. Dem Archiv verschrieben: eine Freudsche Impression, Berlin: Brinkmann und Bose, 1997.

6

Siehe hierzu Helga de la Motte in diesem Band.

7

Siehe hierzu Leonie Storz und Elisabeth Reda in diesem Band.

8

Unseld, Melanie: Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie, Köln u.a.: Böhlau 2014.

I NTRO : M USIK UND

KULTURELLE

E RINNERUNG | 13

Jedoch nicht in dem Sinne, was Walter Benjamin als »historistisch« bezeichnete, sondern als immer zugleich verwoben mit zukünftigen Zeithorizonten.9 Eine »mnemorisch sensibilisierte« (Unseld) Geschichtsarbeit und Analyse von Erinnerungskulturen zielt somit immer zugleich auch auf die Veränderbarkeit der Verhältnisse und kann unter anderem als eine Form der gesellschaftlichen Kritik agieren.10 In diesem Kontext sind auch die Fragen von Carola Bebermeier und Friederike Bunten in diesem Band zu verstehen. Geschichte kann in der musikwissenschaftlichen Forschung als das Medium des kulturellen Gedächtnisses erachtet werden, welches am meisten Beachtung erfuhr. Jedoch ist hiermit nur eine Spielart, nämlich die der materiellen Dimension des kulturellen Gedächtnisses aufgerufen, das in seiner Produktionslogik versucht wird zu begreifen. Im Folgenden soll die Unterscheidung zwischen Gedächtnis und Geschichte als historische Differenz aufgemacht werden, um zu zeigen, welches Verständnis von Geschichte und Erinnerung zeitgenössischen Theorieansätzen zugrunde liegt. Erinnerungskulturelle Phänomene findet man bereits in der Antike, man denke etwa an Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung, welche in der griechischen Mythologie aber auch für das Gegenteil von Erinnerung, nämlich das Vergessen verantwortlich ist. Sie gebar schließlich Musen, damit diese Vergessenheit brächten, der Leiden und Ende der Sorgen.11 Dieser Verweis auf die Mythologie der Antike zeigt, dass die Begriffe eine lange Genealogie besitzen, allerdings erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts systematisiert wurden. In den ›klassischen‹ Erinnerungstheorien von Pierre Nora und Maurice Halbwachs bedeutet Gedächtnis noch das Andere der Geschichte. In den phänomenologischen Überlegungen des französischen Soziologen und Philosophen Maurice Halbwachs (1877–1945) aus den 1920er Jahren beginnt die Geschichte dort, wo das Gedächtnis und die jeweiligen zugehörigen Bezugsrahmen verschwinden, d.h. nicht mehr gelebt werden. Gedächtnis ist demnach immer als »identitätskonkret« zu verstehen und ver-

9

Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I, Frankfurt, 1992, S. 694-697, 701 702.

10 Saar, Martin: Genealogie als Kritik : Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt am Main [u.a.]: Campus-Verlag, 2007. 11 Siehe hierzu: Hesiod: Theogony Works and Days, Oxford: Oxford University Press 1988.

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weist auf den subjektivierenden Modus von Erinnerung.12 Zugleich zeigt Halbwachs in Abgrenzung zur »leeren« Geschichte auf, dass Gedächtnis, das individuelle und das kollektive, immer sozial präfiguriert ist.13 Der Geschichtswissenschaftler Pierre Nora (*1931) geht indes noch weiter, indem er behauptet, dass Geschichte die Repräsentation der Vergangenheit darstellt. Sie dient der Entzauberung historischer Gegenstände. Das Gedächtnis ist für ihn dagegen die ewige Gegenwart, welche sich in bestimmten »Erinnerungsorten« externalisiert und somit die Nachwelt an das abwesende, lebendige Gedächtnis erinnert.14 Diese Erinnerungsorte (»Lieux de memoires«) die Nora anspricht sind nicht nur geographisch zu verstehen, wie zum Beispiel Gedenkstätten oder Statuen, sondern der Begriff beinhaltet weitergehend auch mediale Orte wie Literatur, Partituren, Schallplatten oder auch MP3s. So schafft zum Beispiel die Komponistin Olga Neuwirth in diesem Sinne mit ihrer Komposition … miramondo multiplo… gar einen utopischen, musikalischen Erinnerungsort. Geschichte kann also, laut Halbwachs und Nora, per se kein Gedächtnis sein. Geschichte und Gedächtnis müssen ergo isoliert voneinander betrachtet werden. Zeitgenössische Theorien fassen das Verhältnis der beiden Begriffe jenseits des Dualismus von objektiver Repräsentation und subjektiv-affektiven Erinnerung.15 Die Beziehung beider Begriffe verschiebt sich hier von der Differenz der beiden Begriffe weg, hin zu die unterschiedlichen Arten der Erinnerung im Medium der Histographie zu begreifen und als Spielart des

12 Siehe hierzu auch Nietzsches Unterscheidung der drei Ausformungen der Geschichte in Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 209-287. Saar, Martin: Genealogie als Kritik: Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt am Main [u.a.]: CampusVerlag, 2007. 13 Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main: Fischer 1991. Vgl. auch: Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in der frühen Hochkulturen, München: C.H. Beck 2000, S. 42–45. 14 Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1998 in: Ders.: Comment écrire l’histoire de France? in: Ders. [Hg.]: Les lieux de Mémoire, Bd. 3: Les Frances. Paris 1992. 15 Siehe hierzu die Serie Memory A. Erll/A. Nünning [Hg.]: Media and Cultural Memory/Medien und kulturelle Erinnerung. Berlin, Boston: De Gruyter.

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KULTURELLE

E RINNERUNG | 15

kulturellen Gedächtnis zu analysieren. Hierin liegt die Einsicht zugrunde, dass historische Forschung nicht nur Rekonstruktionen, sondern im Wesentlichen immer Konstruktionen sind. Das kulturelle Gedächtnis untersucht mit analytischem Fokus diese Vergangenheits(re-)konstruktionen. (Musik-)Geschichte wird somit zum Gegenstand an den durch Musik und Musikkulturen erinnert wird und somit eine Relevanz zeitigt für die jeweilige Gegenwart, auf individueller und kollektiver Ebene. Gleichzeitig verortet sich das Werk als Ereignis in Zeit und Raum und Musik wird zum Medium, durch welches Geschichte vermittelt wird. Dieser doppelten Figur, der Geschichte im Werk sowie dem Werk in der Geschichte unterliegt den Dynamiken des kulturellen Gedächtnisses, welche durch unterschiedliche sozial-, medial- und gesellschaftliche Parameter strukturiert wird. Der Fokus rückt somit hin zu (musikalischen) Erinnerungskulturen. Diese zu analysieren bedarf es der Einsicht, wie der Musikethnologe Thomas Thurino argumentiert, dass Musik ein komplexes Zeichensystem sei, welches emotionale Reaktionen auslöst und individuelle und soziale Identitäten erzeugt.16 Diese Auffassung gliedert sich in das kultursemiotische Modell von Erinnerungskulturen ein, welches in drei heuristische Dimensionen eingeteilt ist, die sich immer gegenseitig befruchten: Die materiale Dimension unter welche die Medien des kulturellen Gedächtnisses und andere kulturelle Artefakte begriffen werden.17 Die soziale Dimension analysiert Institutionen und Praktiken. Die mentale Dimension untersucht die erinnerungskulturellen Schemata und Codes, welche sich in Wertehierachien und Normen wiederspiegeln. Das Spiel dieser drei Dimensionen lässt sich unter dem Begriff des kulturellen Gedächtnis fassen.

16 Turino, Thomas: Signs of imagination, identity, and experience: A Peircian semiotic theory for music. Ethnomusicology Vol. 43 Nr.2 (1999), S. 221–255. 17 Was genau ein Medium des kulturellen Gedächtnisses auszeichnet. Zur erinnerungstheoretischen Logik eines Mediums siehe: Erll, Astrid: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Historizität – Konstruktivität – Kulturspezifität, Berlin (u.a.): De Gruyter 2004. Zur medialen Logik von Erinnerung siehe: Erll, Astrid/Rigney, Anne: Mediation, Remediation, and the Dynamics of Cultural Memory, Berlin (u.a.): De Gruyter 2009.

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Z UR M ETHODE UND M EDIENSPEZIFIK VON M USIK ALS M EDIUM DER KULTURELLEN E RINNERUNG Fragen der Medienspezifik von Musik, sowie auch systematische Überlegungen stehen zu Beginn des Bandes. Melanie Unselds eröffnender Beitrag Musikwissenschaft und Erinnerungsforschung zeigt auf, welche Relevanz Gedächtnis für die kulturwissenschaftliche Erinerungsforschung hat. Sie analysiert anhand von Gedächtnisrahmen die Potentialität von Gegenständen ins kollektive Gedächtnis zu kommen. Hier geht Mediengeschichte immer mit Historiographie einher, da dies immer an die jeweiligen Speichermedien gebunden ist.18 Die Macht des kulturellen Nachlebens zeigt sich am deutlichsten in der jeweiligen Gegenwart. Ihr Konzept der »Erinnerungswürdigkeit« verdeutlicht, dass Gegenstände und Personen als für die Nachwelt relevant erachtet werden können, was aber ein höchst selektiver Vorgang ist, der bereits zu Lebzeiten der jeweiligen Person beginnt. Dies hat sie am nachdrücklichsten am Beispiel Wolfgang Amadeus Mozart und der Macht der Anekdote gezeigt, wie sich normative Bilder von Geschichtswürdigkeit herausbilden.19 Daran anknüpfend hat Gesa Finkes Studie zu Constanze Mozart als Nachlassverwalterin von Mozarts Erbe dargestellt, dass es wesentlich ihrer Arbeit als Nachlassverwalterin zu verdanken ist, dass Mozart im kulturellen Gedächtnis verankert wurde. Hier wird deutlich, dass wer erinnert wird und durch wen, auch immer ein geschlechtlich kodierter Vorgang ist.20 Natürliche Bilder des heutigen Kanons werden demnach in seiner Konstruktion herausgestellt und als Bilder für 18 Siehe hierzu auch Saxer, Marion: Das Spiel mit der Maschine, Bielefeld: transcript (vsl.) 2016. Der Konnex von Speichermedien und Kannonbildung scheint umso dringlicher zu fragen in Zeiten von Spotify und Interentarchiven. 19 Unseld, Melanie: »Eine Frage des Charakters? Biographiewürdigkeit von Musikern im Spiegel der Anekdote und Musikgeschichtsschreibung«, in: Dies./von Zimmermann, Christian: Anekdote – Biographie – Kanon. Zur Geschichtsschreibung in den schönen Künsten, Köln u.a: Böhlau, 2013, S. 3–18. 20 Finke, Gesa: Die Komponistenwitwe Constanze Mozart. Musik bewahren und Erinnerung gestalten, Köln u.a.: Böhlau 2013. Siehe auch Assman, Aleida: Geschlecht und kulturelles Gedächtnis, in: Erinnern und Geschlecht, Freiburger Frauen Studien, Zeitschrift für interdisziplinäre Frauenforschung Nr. 19 2006, S. 26-48.

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die Gegenwart neu interpretierbar gemacht.21 Helga de la Motte-Haber zeigt die Diversität an möglichen Erinnerungskulturen bzw.-praktiken auf und wie Musik als Medium funktionalisiert werden kann, um bestimmte Inhalte im kulturellen Gedächtnis zu verankern. Man denke hier zum Beispiel an Elton Johns Candle in the Wind, ein nekrologischer Popsong, der an den Tod der Prinzessin Diana erinnern soll, oder die Musik von Beethovens 9. Symphonie als Europahymne. Sie steht diesen zugleich aber auch kritisch gegenüber und bemängelt die eher »träge« Erinnerungskultur der eigenen Disziplin.22 Sie schließt ihre Überlegungen mit der Frage ab, ob das Myse én Abyme nicht eine adäquate Metapher und Erinnerungsform für das kulturelle Gedächtnis der Musik sein kann, denn in dieser spiegeln sich vergangene musikalsiche Werke in Gegenwärtigen. Systematische Überlegungen zum Verhältnis von Musik und Erinnerung eröffnen die komplexe Problematik von Musik als zeitlicher Kunst. Kai Preuß entfaltet in seinem Beitrag Erinnerung und Zeitlichkeit, dass Musik nicht nur an etwas zu erinnern vermag, sondern selbst in ihrer wesentlichen Form als zeitliche Erinnerung erscheint. Anknüpfend and Aristoteles und Bergson bedeutet das Musik immer zugleich an ihre eigene zeitliche Kunstform erinnert. Musik steht in einer genuinen Abhängigkeit zu Erinnerung(en).23 Das Verstehen von musikalischen Zusammenhängen (z.B. Rhythmen, harmonische Abfolgen) ist ohne Erinnerung nicht denkbar.24 Dort wo die Überlegungen zum strukturellen Zeitverhältnis des musikalischen Kunstwerkes aufhören, knüpft Johannes Fechner mit seinem Beitrag Erfahrung, Erinnerung und Reproduktion nach Walter Benjamin an. Die einfache Reproduktion von Musik als Aufführung hat seit Beginn

21 Siehe hierzu auch Helga de la Motte in diesem Band. 22 Auch die wissenschaftliche Forschung ist eine Gedächtniswissenschaft, da sie ihr eigenes Tun, die Hervorbringung von Wissen und seine Tradierung reflektiert. Siehe hierzu auch die derzeitigen Bestrebungen einer eigenen Fachgeschichte. (http://musikforschung.de/index.php/fachgeschichte-start). 23 Vgl. S. 27: Sicking, Kerstin: Holocaust Kompositionen als Medien der Erinnerung. Die Entwicklung eines musikwissenschaftlichen Konzepts, Europäische Hochschulschriften Reihe XXXVI Bd. 259 Frankfurt am Main: Peter Lang 2010. 24 Ebd.

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des 20. Jahrhunderts mit den Aufkommen neuer Medien sich grundsätzlich verändert und stürzt die formalen zeitlichkeitsverhältnissse in eine Krise. Dies hat Konsequenzen für die ästhetische Erfahrung musikalischer Zeitlichkeits- und Erinnerungsstrukturen.

D AS G EDÄCHTNIS

DER

M USIK

Der zweite Teil dieses Bandes widmet sich dem Gedächtnis als Intertext. Hier stehen einzelne Fallbeispiele im Vordergrund. Jan Assmanns expliziert in seinem Beitrag drei Verbindungslinien des kulturellen Gedächtnisses der Musik, anhand des Sacre du Printemps von Igor Strawinsky: »1) Die Rolle der Erinnerung in der Organisation des musikalischen Kunstwerks, (2) seine Formen des Verweises auf Vergangenheit außerhalb seiner und (3) sein Nachleben im kulturellen Gedächtnis.«25 Musik wird somit im Rahmen kultureller Texte analysiert, durch welche Mentalitätsvorstellungen sichtbar werden. Auch Tom Wappler verfolgt ein intertextuelles Modell von Gedächtnis. Er knüpft in seinem Beitrag Mit und an Intertextualität erinnern. Erik Saties musikalische Verweise in den Klavierkompositionen 1913 an Julia Kristevas und Renate Lachmanns Überlegungen zur Gedächtnis-Theorie an. Während in diesen ein textzentrierter Gedächtnis Begriff vorherrscht26, entgrenzt er diesen hin zu einem des musikkulturellen Handelns. Somit schließt es nicht nur Texte, sondern auch Personen wie Kritiker*innen, Verleger*innen, Interpret*innnen und Wissenschaftler*innen mit ein, die nun auch als Intertexte ins Feld der Analyse rücken. Zuletzt zeigt die Studie Das Requiem – ein Erinnerungsort von Petya Tsvetanova wie die Gattung des Requiems im 20. Jahrhundert zum wesentlichen (Erinnerungs-)Ort geworden ist, an die Toten zu erinnern. Anhand des War Requiem von Benjamin Britten und dem Polskie Requiem von Krzysztof Penderecki zeigt sie, wie die Gattung Requiem im 20. Jahrhundert immer zugleich an die eigene Tradition der allegorischen Erlösung erinnert. Hier verschränkt sich Gattungsgedächtnis mit konkreten Erinnerungspraktiken.

25 Siehe hierzu: Jan Assmann in diesem Band, S. 100ff. 26 Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischenModerne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 35.

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KULTURELLE

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Allen drei Beiträgen liegt ein Verständnis von Gedächtnis als kultureller Text zugrunde.

D YNAMIKEN

DES KULTURELLEN

G EDÄCHTNISSES

Die Theorien von Aleida und Jan Assmann dominieren das Feld der musikwissenschaftlichen Erinnerungforschung. Ihre systematische Unterscheidung zwischen kommunikativen und kollektiven Gedächtnis liegt den Beiträgen dieses Kapitels zu Grunde. Die zwei Gedächtnisrahmen definieren sich durch unterschiedliche Zeithorizonte und produzieren entlang unterschiedlicher Parameter individuelle und kollektive Identitäten. Unter ersterem ist zum Beispiel das »Familiengedächtnis« zu verstehen, welches sich durch seine Alltagsbezogenheit auszeichnet. Unter letzterem verstehen sie »den Bestand an Wiedergebrauchs-Texte, -Bildern und -Riten, in deren ›Pflege‹ [eine Gesellschaft einer Epoche] ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewustsein von Einheit und Eigenart stützt«.27

Zwischen den beiden Zeithorizonten klafft eine ›Lücke‹ (floating gap). Elisabeth Reda zeigt in ihrem Beitrag, Erinnerung und Gedächtnis in der Diktatur. Zur Dekanonisierung Felix Mendelssohn Bartholdys unterm Hakenkreuz, wie Mendelssohn aus nationalsozialistischer Perspektive erinnert wurde. Sie fragt, ob sich an diesem Beispiel Formen negativer Kanonisierungsprozesse darstellen lassen, entlang des Paradoxon eines bewusst produzierten Vergessens (lassen). Denn wie kann man daran erinnern, dass ein Gegenstand Vergessen werden soll?28 Anhand von zeithistorischen Dokumenten wird ersichtlich, dass eine negative Kanonisierung durchaus möglich ist, jedoch anhand des Beispiels Mendelssohn Bartholdys (glückli-

27 J. Assman. und Hölscher, Tonio [Hrsg.], Frankfurt a.M. 1988, S. 15. 28 Assmann, Aleida: Forms of fogetting (Öffentlicher Vortrag: http://www. memorystudies-frankfurt.com/events/aleida-assmann-forms-of-forgetting/ letzter Zugriff: 10.01.16) und Umberto, Eco: An Ars Oblivionalis? Forget It! In: Modern Language Association Vol. 103 (1988), S. 254–261.

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cherweise) nicht »erfolgreich« war. In Ideologische Bach-Rezeption im 18. und 19. Jahrhundert, arbeitet Leonie Storz heraus, inwiefern das Nachleben von J.S. Bach dominiert war, von der Frage nationaler Identitäten. Sie verdeutlicht, dass die vermeintliche »Wiederentdeckung« des »großen deutschen« Komponisten dem Bedürfnis der Definition von kulturellem Erbe und Herkunft unterlag und im wesentlichen einherging mit der Herausbildung der Kategorie ›Nation‹ im 19. Jahrhundert.29 Der Gegenstand der Analyse von Carola Bebermeier ist die Sängerin Celeste Coltellini (1760–1828). Sie fragt, warum diese Sängerin, die zu ihrer Zeit so berühmt war, im Laufe der Geschichte an Ruhm und Bedeutung verlor. Sie zeigt auf, dass Sängerinnen allgemein im 18. Jahrhundert als nicht »erinnerungswürdig« (Unseld) galten und somit nicht in die Institution des Archives aufgenommen wurden, jedoch im transgenerationellen, familiären Rahmen ihr Erbe weitergetragen wurde.30 Hieran knüpft sich Friederike Buntes Beitrag an, die anhand der Internationalen Frauenbibliothek Unna kritisch fragt, ob diese als eine Bibliothek oder als ein Archiv funktioniert. In diesem Beitrag wird deutlich, dass mit dem Überleben oder Sterben solcher Institutionen das Projekt feministischer Historiographie aus dem Geiste der zweiten Frauenbewegung auf dem Spiel steht. Der Beitrag legt nahe, dass dieses Projekt evtl. als gescheitert betrachtet und die Frage nach geschlechtlichen Normen des Archives nochmal neu gestellt werden müsste, jenseits einer einfachen Differenzlogik. Allen Beiträgen ist gemein, dass sie sich dadurch auszeichnen, dass der Gegenstand der Analyse nicht auf den Quellen an sich beschränkt bleibt, sondern fragt, woher Quellen zu Quellen werden können und umgekehrt diesen Anspruch auch wieder verlieren.31 Besonders in den beiden zuletzt genannten Beiträgen ist ein Begriff von Archiv vonnöten, der nicht nur singulär auf die Summe aller Dokumente, die als Identitätszeugnis der eigenen Kultur bewahrt werden zielt, sondern der vielmehr auch die diskursiven Zeichensytemen und das Erscheinen

29 Vgl. Anderson, Benedict: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso 1991. 30 Bebermeier, Carola: Celeste Coltellini (1760–1828). Lebensbilder einer Sängerin und Malerin, Köln u.a.: Böhlau 2015. 31 Fried, Johannes: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München: C.H. Beck 2004.

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der Aussagen als einzelne Aussagen begreift.32 Für den Philosophen Michel Foucault ist das Archiv nicht nur ein Ort, an dem die Wahrheit bewahrt wird. Es ist für ihn »das Gesetz dessen, was gesagt werden kann.«33 Foucaults Archivbegriff beschreibt darüber hinaus ein infrastrukturelles Gedächtnis, das vom menschlichen Körper losgelöste Speicherungselemente beinhaltet, wie z.B. die technischen (Klang-)Apparaturen, die für die Aufnahme von Musik benötigt werden.34 Dieser Archivbegriff umfasst somit alles was aufzeichnet und aufgezeichnet wird und begreift demzufolge das Gesetz der Bedinung der Möglichkeit der Memorierung.

AKTUELLE P ERSPEKTIVEN Die Beiträge dieses Kapitels schärfen den Blick für zeitgenössische Theorien, Tendenzen und Problematiken der Erinnerungsforschung. Im Zentrum stehen hier die Frage der Transnationalität und Transkulturalität, Nostalgie und Affekttheorie sowie die Methode der Oral History im Bezug auf traumatische Erfahrungen. Jarula Wegner untersucht am Beispiel Street Corner des US-amerikanischen Rappers Masta Killa aus dem Jahre 2006, wie afro-jüdische Beziehungen im Rap erinnert werden. Er orientiert sich an Michael Rothbergs Begriff des »multidirektionalen Gedächtnis«, welches ein dezidiert transkulturelles und plurimediales Konzept ist. Der Fokus liegt hier auf der transformierenden Funktion des kulturellen Gedächtnisses, welches gleichzeitige aber unterschiedliche Erinnerungen in einen Streit treten lässt.35 Rothberg unterscheidet hier zwischen kompetitiven Erinnerungen und multidirektionalen Erinnerungen. Erstere verstehen sich als selbstzentriertes und exklusiv. Multidirektionalität dagegen versucht die wechselseitige

32 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 168ff. 33 Ebd. S. 187. 34 Ernst, Wolfgang: Sonisches Gedächtnis als Funktion technischer Speicher in: Pfleiderer, Martin [Hg.]: Populäre Musik und kulturelles Gedächtnis. Geschichtsschreibung ௅ Archiv ௅ Internet, Köln (u.a.): Böhlau Verlag 2011, S. 42. 35 Rothberg, Michael: Multidirectional Memory.Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford: Stanford University Press, 2009.

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Durchdringung und poetische Macht von Erinnerungen zu verstehen. Wegner zeigt auf, dass die Gattung Rap diese Unterscheidung überschreitet und multidirektional und kompetitiv zugleich ist. Dieser Beitrag gliedert sich in die aktuellen Bestrebungen der Erinnerungsforschung ein, Gedächtnis transnational und transkulturell zu verstehen.36 Helga de la Motte-Haber verweist auf einen ähnlichen Punkt, indem sie die unterschiedlichen Bedeutungen der 9. Symphonie von Beethoven vergleicht und herausstellt, dass in Japan mit jener Komposition an das Ende des 1. Weltkrieges gedacht wird und in Deutschland dieses Stück mit dem Fall der Berliner Mauer verknüpft ist.37 Auch die Arbeit des Schweizer Musikethnologen Thomas Burkhalter ist dieser transnationalen Perspektive zuzuordnen. In seinem Beitrag untersucht er mit dem Instrument der ›Oral History‹, welche Klänge erinnert werden und welche Erinnerungen, Emotionen und Reaktionen an einen spezifischen Klang gekoppelt sind. Im Fokus stehen hierbei die Kriegserfahrungen und Traumata, sowie das sonische Gedächtnis libanesischer Musiker*innen, die in Interviews hierüber Zeugnis ablegen. Die musikalischen Arbeiten verdeutlichen nicht nur eine Intervention ins kommunikative Gedächtnis und eine Arbeit an Tabu-Themen der libanesischen Gesellschaft, sondern zeigen zugleich auch die methodische Relevanz »diesseits des floating gaps« zu arbeiten. Die Oral History scheint hierbei ein dringender Gegenstand zu sein, da im Bereich des transgenerationellen, kommunikativen Gedächtnisses beziehungsweise in der rezenten Vergangenheit (lat.: Saeculum38) bereits präfiguriert wird, was später erinnert wird und wie. Deutlicher lässt sich dieser Prozess auch in der momentanen Techno-

36 Eine grundlegende Prämisse dieser Tendenz ist die Abgrenzung eines methodischen Nationalismus, der in den Kultuwissenschaften vorhanden ist. Siehe hierzu die Tagung »Provincializing Europe« organisiert von Astrid Erll (http:// www.memorystudies-frankfurt.com/). Vgl. aber auch Chakrabarty, Dipesh: »Subaltern Studies and Postcolonial Historiography« in Nepantla: Views from South 1 (2000) S. 9–32, und Rigney, Anne/de Chesari, Chiara: Transnational Memory. Articulöation Circulation Scale, Berlin u.a.: de Gruyter 2013. 37 Helga de la Motte Haber in diesem Band, S. 69ff. 38 Gemeint ist ein Zeitraum von 80-100 Jahren. Siehe hierzu auch: Pfleiderer, Martin [Hg.]: Populäre Musik und kulturelles Gedächtnis: Geschichtsschreibung, Archive, Internet, Köln (u.a.): Böhlau 2011, S. 11 (u.a.).

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Szene bzw. der Pop-Kultur generell nachvollziehen, in der ein aktiver Austausch des kommunikativen Erinnerns stattfindet.39 Der wohl einflussreichste, theoretische Rahmen für die Analyse von Musik aus den ehemaligen sozialistischen Staaten ist die ›Yugonostalgie‹. In ihrem Beitrag Music, Affect and Memory in the Post-Yugoslawic Space positioniert sich die Musikethnologin Ana Hofman kritisch gegenüber diesem Begriff, der sich abseits der Unterscheidungen politisch/nostalgisch, kommerziell/engagiert und eskapistisch/emazipatorisch begreift. Sie schlägt dagegen vor, die Affektpolitik von Erinnerungen, als einen wichtigen konzeptuellen Rahmen, vor dem Hintergrund ihrer politischen Dynamik zu analysieren und somit Nostalgie als Modus der Erinnerung, jenseits dieser einfachen Dichotomien zu analysieren. Die Essays dieses Bandes verdeutlichen, dass die Produktion von Gedächtnis, entlang von normativen sozialgesellschaftlichen Strukturen, ein grundlegendes Paradigma ist.

AUSKLANG Die Beiträge in diesem Band zeigen, dass Musik ein besonders dienliches Medium ist, um Erinnerungen zu re-aktivieren. Musik und insbesondere die Popularmusik scheint ein wichtiger Signifikant für persönliche Erfahrungen oder Abgrenzung zu sein. Musik wird kollektiviert, um in unser Gedächtnis abgespeichert zu werden und später wieder abgerufen werden zu können.40 Seit der Erfindung des Grammophons besteht die Möglichkeit, Musikaufnahmen beliebig oft und (fast) in der gleichen Weise abzuspielen. Auch das hilft sicherlich, ein auditives Gedächtnis aufzubauen. Außerdem schreibt die Repetition von Musik durch Medien (musikalische) Erfahrungen in die menschliche Psyche und somit auch in das (kollektive) Gedächtnis.41 Unser Gehirn speichert beim Musik hören nicht nur das Musikmaterial an sich,

39 Hierunter fallen z.B. Formate wie Robert Johnson Theorie oder auch das Interview-Buch Der Klang der Familie, in welchem bereits versinnbildlicht ist, dass es hier sich auch um ein metaphorisches Familiengedächtnis handelt. 40 Bijsterveld, Karin und van Dijk, José: Sound and Souvenirs Audio Technologies, Memory and Cultural Practices, S. 108. 41 Vgl. ebd., S. 116.

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sondern codiert auch zeitgleich persönliche Emotionen oder Reaktionen.42 Dies alles gilt nicht nur, aber vor allem für die Popularmusik, denn PopSongs werden oft als Träger von Erinnerungen bezeichnet, sie kleben Erinnerungen an spezifische Erfahrungen und Emotionen.43 Oliver Sacks erklärt aus neurologischer Perspektive, dass sich das Erinnern an alltäglische Sounds, wie z.B. Verkehrsgeräusche oder etwa Hundegebell, vom Erinnern an ein musikalisches Werk oder einen Song unterscheidet.44 Letzteres ist detaillierter und stärker an Emotionen gebunden. Musikalische Wahrnehmung, Empfänglichkeit, Emotionen und musikalisches Gedächtnis sind auch dann immer noch vorhanden, wenn die Sprache und das Bewusstsein längst versagen.45 Das wohl prominenteste Beispiel hierfür ist vermutlich der Philosoph Friedrich Nietzsche, der auch nachdem er verstummte und dement wurde, noch immer am Klavier musizierte.46 Die Musiktherapie setzt hier schon seit Jahren erfolgreich an, in dem Musik als emotionalcodiertes Erinnerungsmedium erkannt wurde. Insbesondere die Musiktherapie zur Behandlung von Demenz profitiert von den genannten Erkenntnissen. Generell scheinen Menschen eine enorme Fähigkeit zu besitzen, sich mit Hilfe von Musik zu erinnern. Man erinnert sich selbst an das, was man in frühen Jahren einmal gehört hat. Klang und Gedächtnis sind also untrennbar miteinander verflochten. Nicht nur durch das Wiederholen bekannter Melodien, der kommerziellen Verwendung von Nostalgie, sondern auch durch kulturelle Praktiken, wie das Sammeln und Archivieren von Schallplatten, Cds, MP3s und anderen Medienträgern.47 Es wird darüber hinaus interessant sein, wie sich zukünftig das Internet und der damit verbundene enorme Austausch von Musikartefakten über Internetarchive,

42 Vgl. ebd. S. 13. 43 S.: K. Bijsterveld und J. van Dijk: Sound and Souvenirs: Audio Technologies, M emory and Cultural Practices, S. 108. 44 Oliver Sacks in: Bijsterveld, Karin und van Dijk, José: Sound and Souvenirs Audio Technologies, Memory and Cultural Practices, Amsterdam: Amsterdam University Press 2009, S. 13. 45 Sacks, Oliver: Der einarmige Pianist: über Musik und das Gehirn. Reinbek: Rowohlt 2009, S. 411. 46 S. ebd. S. 412. 47 S. ebd. S. 11f.

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wie z.B. Youtube, Spotify oder Clouds, auf Tradierungsmöglichkeiten und das kollektive Gedächtnis und auswirken. Die Zusammenführung unterschiedlicher Stimmen in einem solchem Kompendium soll einen ersten ›Überblick‹ schaffen, damit die Diskussion um Musik und kultureller Erinnerung einen weiteren Anstoß erhält und soll weitere Forscher*innen animieren, sich mit dem Thema Musik und kulturelle Erinnerung auseinanderzusetzen. Um diese Verbindungen näher zu erforschen bedarf es der genauen Analyse zusammenhängender Interaktionen von medialen, sozialen, politischen (und auch kognitiven) Phänomenen auf transnationaler und transkultureller Ebene. Der vorliegende Band leistet hierzu einen Beitrag.

D ANKSAGUNG Dieser Band basiert auf der 18. DVSM Tagung, die sich dem Thema ›Musik und Erinnerung. Gedächtnis – Geschichte – Gegenwart widmete‹. Viele der Beiträge sind in diesem Band hier zum ersten Mal abgedruckt. Auf die herausragende Leistung aller Beteiligten sei an dieser Stelle verwiesen und ihnen gilt auch unser Dank. Ferner danken wir dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, dem Instiut für Musikwissenschaft Frankfurt und der Memory Studies Platform Frankfurt für sachliche und fachliche Unterstüzung. Außerdem möchten wir uns herzlich bei den damaligen Beteiligten bedanken, die diese Tagung sehr fruchtbar gestaltet haben: Melanie Unseld, Gesa Finke und ihren Studierenden der Hochschule für Musik und Tanz Köln, Helga de la Motte-Haber für ihre Eröffnungsworte und zuletzt den vielen Helfern, die diese Tagung und den Band möglich gemacht haben: Nora Eggers, Lisa Gleis, Viola Grossbach und Johannes Fechner.

Zur Methode und Medienspezifik von Musik als Medium des kulturellen Erinnerns

Musikwissenschaft und Erinnerungsforschung Einige Vorüberlegungen1 M ELANIE U NSELD

Dam – dadada – daaa – da – da – da… Sie erinnern sich? James Bond tritt auf, um nichts weniger als die Welt zu retten, musikalisch markiert durch ein rhythmisch prägnantes Motiv. Wir erkennen es immer wieder aufs Neue, in jedem James Bond-Film. Filmmusik arbeitet verlässlich mit dem Prinzip der Erinnerung. Eine begrenzte Zahl musikalischer Motive kehrt in immer wieder neuer Art und Weise wieder, wobei ihr Wiedererkennungswert von filmdramaturgischer Bedeutung sein kann. Die Grundzüge des Motivs sind erinnerbar, auch wenn sich Instrumentation, Tempo, Begleitung oder andere musikalische Parameter geändert haben. Wahrnehmungspsychologisch dürfte dabei interessant sein, dass die Verfremdung des Erinnerten (die Abweichungen durch Instrumentation u.a.m.) das Erinnern und Wiedererkennen nicht nur nicht stört, sondern durchaus auch einen besonderen ästhetischen Reiz auslösen kann. Filmmusiken bedienen sich dieses Erinnerungsphänomens, um narrative oder andere Strukturen des Films kenntlich zu machen oder auch zu konterkarieren; und unter diesem Paradigma der Erinnerung können selbstredend auch Leitmotivtechnik oder 1

Der Text geht auf einen Vortrag mit dem Titel ›Music, Memory (and Oblivion). Methodological challenges for musicology‹ zurück, den ich 2013 an der Fordham University New York im Rahmen der Conference Remembering, Forgetting, Imagining: The Practices of Memory gehalten habe. Er wurde für diese Druckfassung leicht überarbeitet.

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vergleichbare musikalische Phänomen eingehender betrachtet werden.2 Doch es wäre zu kurz gegriffen, solche musikalischen Erinnerungsfunktionen auf narrative oder narrationsnahe Phänomene zu beschränken. Im Gegenteil: Zahlreiche musikalische Formen basieren auf ähnlichen, mit unserer Erinnerungsfähigkeit spielenden Prinzipien, so zum Beispiel Variationsformen, die Sonatenhauptsatzform mit der Reprise als akustischem Erinnerungseffekt, der Cantus firmus, Passacaglia, Dacapo-Arien u.v.m. Auch das Phänomen der musikalischen Bogenform, dem sich Marie-Agnes Dittrich in ihrem Nachdenken über »wesentliche musikalische Gestaltbildungen« gewidmet hat, ist dem Konzept, musikalische Zeitstrukturen auch unter der Perspektive ihrer Erinnerungsfunktionen zu betrachten, sehr nahe.3 Sich an Erklungenes zu erinnern, scheint einen besonderen ästhetischen Reiz auszumachen – wobei dieser ästhetische Reiz ebenso rasch in sein Gegenteil verkehrt werden kann: Wenn wir das Erinnerte zu oft hören oder zu eindeutig wiedererkennen, verbraucht sich der Effekt rasch. Das Wiedererkennen von akustisch Erinnertem will also in einer fragilen Balance gehalten werden, um ästhetisch reizvoll zu sein. Kann nach den eben aufgeworfenen, sicherlich in vielen Punkten erweiterbaren Beobachtungen die Idee entstehen, Musik habe nichts mit Erinnerung zu tun? Kaum. Und doch lässt der Blick in die gegenwärtige interdisziplinäre Erinnerungsforschung bei der Musikwissenschaft auffällige Leerstellen. Die Erinnerungsforschung hat sich in jüngerer Vergangenheit stark in und zwischen den Disziplinen aufgestellt. Dabei variieren theoretische Verankerungen und die jeweiligen, am Gegenstand orientierten Perspektiven. Als »besonders bemerkenswert« bezeichnen auch die Herausgeber des interdisziplinären Handbuchs Gedächtnis und Erinnerung den Befund, dass dies

2

Jeßulat, Ariane: Erinnerte Musik. Der Ring des Nibelungen als musikalisches Gedächtnistheater (= Wagner in der Diskussion, Bd. 8), Würzburg: Königshausen & Neumann 2013; Fuhrmann, Wolfgang/Wald-Fuhrmann, Melanie: Ahnung und Erinnerung. Die Dramaturgie der Leitmotive bei Richard Wagner, Kassel: Bärenreiter 2013.

3

Vgl. Dittrich, Marie-Agnes: Musikalische Formen. 20 Möglichkeiten, die man kennen sollte, Kassel u.a.: Bärenreiter 2011, S. 12ff.

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»für beide Kulturen der Scientific Community gilt: Sowohl die kultur- wie die naturwissenschaftliche Gedächtnisforschung verzeichnet in diesem Zeitraum rasante Fortschritte; in den Kultur- , Sozial- und Geisteswissenschaften stehen vor allem die Gedächtnispraktiken im Zentrum empirischer Untersuchungen und theoretischer Konzeptualisierungen und in den Neurowissenschaften die Gedächtnisfunktionen und ihre neuronalen und hirnanatomischen Korrelate. […] Gedächtnis und Erinnerung sind transdisziplinäre Forschungsgegenstände par excellence.«4

Und auch wenn man gerade mit dem Blick auf Erinnerung und Gedächtnis darüber nachdenken könnte, ob die Trennung in zwei Kulturen der Scientific Community sinnvoll ist,5 bleibt der Befund an sich doch richtig: Erinnerung und Gedächtnis haben zahlreiche Disziplinen angeregt über die Voraussetzungen, die Konstitution und die Prozesse, Materialitäten und Formen des Denkens und Erinnerns (bzw. auch Vergessens) nachzudenken – in ihrem je eigenen Feld wie auch im Austausch mit anderen. Dass die Musikwissenschaft in diesen vielstimmigen Diskussionen nur eine marginale Rolle spielt, ist ein rasch zu konstatierender Befund. Als sich die kulturwissenschaftliche Erinnerungsforschung in den 1980er Jahren ihres interdisziplinären Zuschnitts zu vergewissern suchte, war die musikwissenschaftliche Skepsis groß.6 Bezeichnend ist auch, dass der Impuls, über Erinnerung und Gedächtnis in der Musikgeschichtsschreibung nachzudenken, aus der Geschichtswissenschaft kam: Der Historiker Otto Gerhard Oexle hielt auf dem 18th International Congress of the International Musicological Society (IMS) in Zürich einen der Hauptvorträge zum Thema Erinnerungs-Passagen. Über Gedächtnis und Gedächtnisgeschichte7. Und noch im oben erwähnten interdisziplinären Handbuch fehlt die Mu-

4

Gudehus Christian/Eichenberg, Ariane/Welzer, Harald [Hg.]: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2010, S. VII.

5

Vgl. hierzu u.a. Rheinberger, Hans-Jörg: Natur und Kultur im Spiegel des Wissens. Marsilius-Vorlesung am 6. Februar 2014, Heidelberg: Winter 2015.

6

Vgl. Finscher; Ludwig: »Werk und Gattung in der Musik als Träger kulturellen Gedächtnisses«, in: Jan Assmann und Tonio Hölscher [Hg.]: Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M.:. Suhrkamp 1988, S. 293–310.

7

Oexle, Otto Gerhard: »Erinnerungs-Passagen. Über Gedächtnis und Gedächtnisgeschichte« in: Hans J. Hinrichsen und Laurenz Lütteken [Hg.]: Passagen IMS Kongress Zürich 2007. Fünf Hauptvorträge, Kassel u.a. 2008, S. 70–98.

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sik(wissenschaft): sowohl im Kapitel ›Medien des Erinnerns‹ als Gegenstand, als auch im Kapitel ›Forschungsgebiete‹ als Disziplin.8 Die Gründe für diesen Befund wären fachgeschichtlich und wissenschaftstheoretisch zu diskutieren. Dies aber sei hier zurückgestellt. Stattdessen umreißen die folgenden Gedanken die Frage, welchen Einfluss das Paradigma Erinnerung auf die Musikwissenschaft haben könnte, wobei die Gedanken nicht so sehr als Bestandsaufnahme zu verstehen sind, sondern eher als Forschungsprogramm für die kommenden Jahre. Musik verklingt. Diese ebenso schlichte Behauptung wie ontologische Tatsache macht Musik für den Erinnerungsprozess – ähnlich wie andere performative Künste – besonders. Zwar können wir uns an Musik erinnern und über das Gehörte sprechen, womit Musik Eingang findet in das kommunikative Gedächtnis. Hier ist es allerdings bereits in Sprache transformiert, da nicht der Klang selbst, wohl aber die Erinnerung an ihn Eingang findet. Musik als Klang sperrt sich gegen die Aufnahme in das kollektive Gedächtnis. Es sei denn, er wird in ein anderes Medium überführt,9 codiert in ein Schriftmedium oder aufgezeichnet auf ein Reproduktionsmedium, sodass diese Codierung/Aufzeichnung von Musik nicht nur das kommunikative Gedächtnis, sondern auch das kollektive Gedächtnis erreicht.10 Der Transformationsprozess von Musik/Klang zu einem Medium des Erinnerns aber ist bemerkenswert, weil Musik – anders als etwa Literatur – kein eindeutiges Gedächtnismedium kennt. Aus dem Gesagten ergeben sich drei grundlegende Bemerkungen:11 (1) Musik kann nicht dauerhaft erinnert werden, sie bedarf dafür einer Transformation in ein anderes Medium. Dieses andere Medium aber ist eine Abstraktion, eine Codierung. Die Notenrolle für selbstspielende Kla-

8

Vgl. C. Gudehus/A. Eichenberg (u.a.) [Hg.]: Gedächtnis und Erinnerung, Inhaltsverzeichnis.

9

Zur Medialität des Erinnerns vgl. auch C. Gudehus/A. Eichenberg (u.a.) [Hg.]: Gedächtnis und Erinnerung, S. 127–128.

10 Eine Einführung zum Konzept des kollektiven Gedächtnisses gibt Astrid Erll. Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart: Metzler 2005. 11 Vgl. dazu ausführlicher auch Unseld, Melanie: Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2014, S. 39–59.

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viere (vgl. Abb. 1) etwa ist nicht Musik, sondern sie codiert Musik, und es bedarf eines speziellen Abspielgeräts, um diese Codierung zu entschlüsseln, Klang werden zu lassen. Abbildung 1: [Francis] Thomé: La Sirène. Valse op. 36, Notenrolle um 1900 (Beginn)

Quelle: Privat

(2) Musik ist möglicherweise stärker als andere Kunstformen vom Vergessen bedroht, denn es bedarf komplexer Codierungssysteme wie z. B. der Notenschrift, um Musik erinnerbar zu halten. Vice versa ist jede oral tradierte Musik (Straßenmusik, Volkslieder, improvisierte Musik u.a.) grundsätzlich und besonders stark vom Vergessen bedroht. Denn wenn sie im Moment des Erklingens nicht fixiert wird, ist sie im gleichen Moment dem Vergessen anheim gegeben. Der Hinweis von Aleida Assmann, dass Vergessen grundsätzlich wahrscheinlicher sei als Erinnern, hat damit für die Musik besondere Relevanz.12 (3) Damit einher geht, dass diejenige Musik, die in der Erinnerung bleibt (und auf einem Erinnerungsmedium codiert wird), bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt als erinnerungswürdig konzipiert werden muss. Es bedarf eines konkreten Konzepts als Entscheidungsgrundlage, welche Mu12 Vgl. dazu auch Zierold, Martin: Gesellschaftliche Erinnerung. Eine medienkulturwissenschaftliche Perspektive, Berlin/New York: de Gruyter 2006.

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sik erinnert, welche vergessen (also nicht codiert) wird. Dieses Konzept, das Fragen von Repertoire und Kanon berührt, ist selbstredend veränderlich, und die Veränderungen der Musikkultur um 1800, und hier insbesondere die Aufwertung der Idee vom Werkcharakter von Musik, können als markantes Beispiel herangezogen werden, um die Veränderbarkeit und die Konsequenzen von Veränderungen an diesen Konzepten zu verdeutlichen. Aber auch mit der Erfindung von Tonträgern, die nicht den Code (Notation) erinnerbar machen, sondern den Klang von Musik, wurde ein weiteres, notationsunabhängiges Gedächtnismedium geschaffen, um Musik in das kollektive Gedächtnis einspeisen zu können. Die Anglistin Astrid Erll, zu deren Forschungsschwerpunkten die Erinnerungsforschung zählt, betont, dass sich Erinnerung materialisieren muss, um erinnerbar zu bleiben. Sie entwarf hierzu ein dreidimensionales (offenes) Modell, das Erinnerungskulturen in all ihrer Heterogenität beschreibbar macht:13 Die ›materiale Dimension‹ manifestiert sich hierbei in der Medialisierung des erinnerten Ereignisses wie zum Beispiel in kulturellen Artefakten (Denkmälern), Erinnerungsgegenständen (Fotografien, Dokumenten), medialen Berichten oder auch in Geschichtsschreibung. Zur ›sozialen Dimension‹ gehören Institutionen und Praktiken (Archive, Universitäten, Gedenkrituale), die »an der Produktion, Speicherung und dem Abruf des für das Kollektiv relevanten Wissens beteiligt sind«14. Die dritte, ›mentale Dimension‹ schließlich umfasst erinnerungskulturelle Schemata und Codes, »die gemeinsames Erinnern durch symbolische Vermittlung ermöglichen und prägen sowie alle Auswirkungen der Erinnerungstätigkeit auf die in einer Gemeinschaft vorherrschenden mentalen Dispositionen – etwa auf Vorstellungen und Ideen, Denkmuster und Empfindungsweisen, Selbst- und Fremdbilder oder Werte und Normen.«15

13 Nach Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart: Metzler 2005. 14 A. Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 102. 15 Ebd.

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Obgleich sich Erll auf Literatur und Film bezieht, scheint es angebracht, die Musik in dieses Modell der Erinnerungskulturen einzufügen.16 Musik ist – wie andere performative Künste auch – besonders vom Vergessen bedroht, da nicht jedes Erklingen von Musik umgehend codiert oder medialisiert wird. Dies ist besonders wichtig zu berücksichtigen für eine historisch arbeitende Disziplin wie die Historische Musikwissenschaft, die auf Quellen – also das codierte Material – angewiesen ist. Die Frage, welcher Ausschnitt der Musikkultur damit historisch überhaupt bearbeitbar ist,17 lässt sich genauer beantworten, wenn die musikbezogenen Quellen auf ihre erinnerungskulturellen Codes hin analysiert werden. Wenn darüber Einigkeit besteht, dass das Klangphänomen Musik immer auf eine Umwandlung in eine andere Materialität angewiesen ist, um in den möglichen Kreislauf des Erinnerns Einzug zu halten, lässt sich an dieser Stelle über die Frage neuerlich nachdenken, was Musik sei – nicht so sehr in einem ontologischen Sinne, als vielmehr als Beobachtung von historischen (Dis-)Kontinuitäten im Verständnis von Musik: Musik erklingt im Moment ihrer Aufführung. Danach ist sie allenfalls in Form einer Umwandlung in ein anderes Medium tradierbar, im Medium der Notenschrift, im Medium der Sprache (etwa indem über die Aufführung gesprochen oder geschrieben wird) oder in dem der Tonaufzeichnung. Doch welche ist die ›adäquate‹ Materialität, mit der Musik in den Kreislauf des Erinnerns eintreten kann? Die Notenschrift ist eine rudimentäre Übersetzung klanglicher

16 Vgl. hierzu weiter Unseld, Melanie: »Vom Hören zum Tradieren. Musik als Medium der Erinnerung«, in: Susanne Rode-Breymann/Sven Limbeck [Hg.]: verklingend und ewig. Tausend Jahre Musikgedächtnis 800–1800, Wiesbaden: Harrassowitz 2011, S. 53–58. 17 Vgl. hierzu etwa Dahlhaus, Carl: »Was ist musikgeschichtliche Tatsache?« in Ders.: Grundlagen der Musikgeschichte (Gesammelte Schriften Bd.1), Laaber: Laaber Verlag 2000, S. 38–48. Dazu Unseld, Melanie: »›Was ist eine musikgeschichtliche Tatsache?‹« oder die Frage ›was das Netz des Historikers einfängt‹«, in: Janz, Tobias/Geiger, Friedrich [Hg.]: Carl Dahlhaus’ ›Grundlagen der Musikgeschichte‹: Eine Re-Lektüre, München, Paderborn: Wilhelm Fink (im Druck); außerdem auch Strohm, Reinhard: »Werk – Performanz – Konsum. Der musikalische Werk – Diskurs« in: Callela, Michele/Urbanek, Nikolaus [Hg.]: Historische Musikwissenschaft . Grundlagen und Perspektiven, Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 341–355.

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Vorstellungen in ein System, das die Reproduktion ermöglicht, wie auch die Sprache, die Bedeutung einschreibt, wo potentiell vieldeutige Bedeutungsgehalte existieren und gefärbt ist durch die Individualität des Hörenden und Schreibenden. Tonaufzeichensysteme wiederum sind Übersetzungen von Erklungenem, die eine immer wieder identische Wiedergabe eines Klangphänomens ermöglicht. Alle drei Repräsentationen bilden das Klangphänomen in spezifischen Teilbereichen ab, keine das Phänomen in Gänze. Dies stellt eine methodische Herausforderung für die gegenwärtige Musikwissenschaft dar. Die Tatsache, dass das Vergessen wahrscheinlicher ist als das Erinnern, könnte man als Defizit verstehen. Jedoch ist im Angesicht nicht vergessender Medien wie dem Internet auch das Gegenteil möglich: Wenn Materialität Voraussetzung für Erinnerung ist, nehmen wir mit der Materialisierung von Musik in einem Aufschreibesystem eine bewusste, historisch veränderbare und nicht zuletzt analysier- und diskutierbare Aufladung von Bedeutung vor. Wenn klingende Phänomene in erinnerbare Medien transformiert werden, ist dieser Aufladung vorangegangen, dass und warum genau diese Musik erinnert werden soll. Sie wird als ›erinnerungswürdig‹ klassifiziert. Kanonisierung beginnt mit diesem Schritt, auch wenn sie darin nicht alleinig aufgeht. Die Konzepte von Erinnerungswürdigkeit aber sind, wie bereits betont, veränderbar. Das lässt sich zum Beispiel darin ablesen, welche Medien der musikalischen Erinnerungskultur in Archiven für das kulturelle Gedächtnis aufbewahrt werden. Musik von Frauen etwa spielte hier bis in die 1970er Jahre kaum eine Rolle. Erst seitdem sind Archive und Bibliotheken entstanden,18 die die Erinnerungswürdigkeit dieser Musik begründet haben, entsprechend wurde agiert. Damit wird klar: Die Konzepte von Erinnerungswürdigkeit hängen eng mit der Bedeutung von Musik für eine Gesellschaft zusammen. An einem abschließenden Beispiel sei konkretisiert, wie aus erinnerungskultureller Perspektive eine Auseinandersetzung mit einer musikhistorischen Quelle stattfinden könnte. Dass sich das Potential dieses Ansatzes in diesem kleinen Ausschnitt nicht erschöpft, muss kaum eigens betont werden. Betrachtet man die Notenrolle für selbstspielende Klaviere unter

18 Vgl. Finke, Gesa und Unseld, Melanie: Artikel »Überlieferung/Archivœ, in: Annette Kreutziger-Herr/Melanie Unseld [Hg.]: Lexikon Musik und Gender, Kassel u.a.: Metzler 2010, S. 505–506.

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den Voraussetzungen von erinnerungskultureller Musikwissenschaft, können mehrere Frageperspektiven auf diese Quelle von Musikkultur gelenkt werden: Die Notenrolle ist zunächst in ihrer materialen Dimension ein Beispiel für ein frühes Aufzeichensystem von Musik, deren Codierungstechnik dem Lochkarten-Prinzip nicht unähnlich ist. Sie bedarf entsprechender Instrumente, um zum Klingen gebracht zu werden, dann reproduziert sie nicht nur ein Stück Musik, sondern auch dessen Interpretation immer gleich. Musik war auf diese Weise unabhängig von Interpretierenden aufführbar, erreichte diverse Publika und trug vor allem im ausgehenden 19. Jahrhundert erheblich zur Popularisierung von Musik bei. Die Auswahl der auf die Notenrollen geprägten Musikstücke ist damit eng an die Frage der Popularität geknüpft. Umso erhellender ist es, sich Sammlungen dieser Notenrollen unter dem Aspekt des Repertoires genauer anzusehen. Zum einen unter der materialen Dimension der Sammlung, denn das ausgewählte Beispiel, die Notenrolle mit der Komposition Sirene, ist nur deshalb heute wiederhörbar, weil sie eine Transformation in die Notenrolle erfahren hat und die Rolle selbst aufbewahrt wurde. Zum anderen unter der mentalen Dimension, bei der das Nebeneinander von so genannter Kunstmusik, Tanz- und Unterhaltungsmusik, Militärmusiken etc. im Repertoire von Notenrollen des ausgehenden 19. Jahrhunderts auffällt. Aber ebenso bezeichnend ist die paratextuelle Gestaltung dieser Form von populärer Musik, die den Kanon der Kunstmusik aufruft (vgl. Abb. 2), und damit die Frage nach Popularität, Popularisierungsstrategien und Kanonisierungsprozessen von Musik auf den Plan ruft. Die soziale Dimension wiederum hätte zu berücksichtigen, in welchen Räumen und für welche Publika selbstspielende Musikinstrumente aufgestellt wurden, aber auch, welche musikwissenschaftliche Perspektive notwendig war und ist, um Notenrollen als Phänomen von Musikkultur zu verstehen.19 Es mag in aller Ausschnitthaftigkeit deutlich geworden sein, dass Erinnerung eine wichtige Kategorie für die Erforschung von Musik ist: In Musikgeschichtsschreibung und -rezeption, Kanonisierungsprozessen und

19 Vgl. hierzu etwa das Forschungsprojekt zur Erschließung und Digitalisierung von Notenrollen für selbstspielende Klaviere des Deutschen Museums München,

http://www.deutschesmuseum.de/ausstellungen/naturwissenschaft/musik

instrumente/projekte/notenrollen/ (letzter Zugriff: 15. Oktober 2015).

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musikbezogenen Erinnerungskulturen, Komposition, Analyse und Aufführung von Musik, beim Hören und Einstudieren. Es ist somit davon auszugehen, dass Erinnerung in der Musik(kultur) eine besondere Rolle spielt, gerade aufgrund des besonderen Charakters von Musik als Zeitkunst. Abb. 2: Paratextuelle Gestaltung der Notenrolle von Thomés Valse, op. 36.

Quelle: Privat

Erinnerung und Zeitlichkeit K AI P REUSS

Der Musik scheint ein ganz besonderes Verhältnis zur Erinnerung zu eigen. Nicht nur ist sie, wie alle historischen Gegenstände, etwas an das erinnert wird, sie vermag es auch an etwas zu erinnern. Sie bringt Erinnertes zur Darstellung, wird – wie andere Künste auch – zum Medium der Erinnerung. Wo andere Medien aber das Erinnerte nur dem Sachgehalt oder der Darstellungsform nach, z.B. das Ölgemälde eines Ölgemäldes, erscheinen lassen, vermag es die Musik, das Erinnerte in einer, wenn nicht der wesentlichen Eigenschaft anzusprechen: als etwas Zeitliches. So kommt etwa im Bild eines Bildes sehr wohl die Bildlichkeit des Bildes zur Darstellung, nicht aber dessen Erinnerungscharakter. Selbst wesentlich zeitlich verfasst, ist die Musik also ein Medium, das, indem es an etwas erinnert, immer zugleich sich selbst erinnert, das heißt sich als zeitliches Phänomen begreift und darstellt. Die Musik erinnert d aran, dass erinnert wird.1 Es verwundert also nicht, wenn wir bei Adorno lesen, dass er »die Fähigkeit musikalischen Verstehens in weitem Maße der Kraft der Erinnerung und des Vorblicks gleichsetzt«2 . Die Bemerkung findet sich im Kontext einer Kritik der Wagnerschen Zeitgestaltung. Es ist nämlich genau dieses der Musik immanente Erinnern, das Adorno 1

Ob diese Charakterisierung der Musik wirklich exklusiv zukommt oder ob hier eine Verwandtschaft mit dem Film oder der Performance besteht, soll an dieser Stelle gar nicht entschieden werden.

2

Adorno, Theodor W.: Versuch über Wagner, in: Rolf Tiedemann [Hg.]: Die Musikalischen Monographien (Gesammelte Schriften Band 13), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2012, S. 7–148, hier S. 29.

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bei Wagner in eigentümlicher Weise gestört sieht. Seine Musik sei »vorweg für Vergeßliche gedacht«3, die Zeit werde in ihr nicht beherrscht, sondern »revoziert«4; im Gegensatz zur symphonischen Zeitbeherrschung bleibe die Wagnersche Geste »eigentlich unwandelbar, zeitfremd«.5 Die »dinghaft aneinandergereihte[n] allegorische[n] Leitmotive«6 verweigern die synthetische Aufhebung der Zeit. Der Gestus ist der der Woge: eine Entwicklung, die sich selbst widerruft und damit ein bloßes Verstreichen der Zeit, die Ewigkeit des »Nichts-ist-geschehen«7. Diese Kritik ließe sich vielleicht so zusammenfassen, dass es zwar viele Klangereignisse gebe, jedoch keine Bewegung und somit eigentlich keine Zeit. Damit aber hätten wir die Konstitution der Zeit unmittelbar an die Bewegung der Elemente in ihr gebunden. Das führt uns zu Aristoteles.

ARISTOTELES ’ B EGRIFF DER Z EIT Es kann an dieser Stelle gar nicht darum gehen, die Ausführungen zur Zeit, die sich im vierten Buch der aristotelischen Physik finden, erschöpfend zu behandeln. Vielmehr möchte ich versuchen die Grundlinien kurz herauszuarbeiten, soweit sie für das Verständnis der nachfolgenden Kritik unabdingbar sind. Im Zentrum steht dabei der Gedanke, dass der aristotelische Zeitbegriff wesentlich vom Raum her gedacht wird. Dieser Gedanke drängt sich bereits auf, wenn man die Passagen zur Zeit im Werkzusammenhang betrachtet. Während der überwiegende Teil des vierten Buches den Phänomenen des Ortes (IJȩʌȠȢ) und der Bewegung (țȓȞȘıvȚȢ) gewidmet ist, findet sich die Zeit allein in den letzten vier Kapiteln, gleichsam als deren Anhang. Während der Ort ein ursprüngliches Phänomen zu sein scheint, werden aus ihm zuerst die Bewegung und schließlich die Zeit abgeleitet. Das zeigt sich schon in aller Deutlichkeit in der Definition der Zeit, die Aristoteles uns liefert. Die Zeit sei demnach: »Meßzahl (‚ȡȚșmȩȢ) von Bewegung hinsichtlich des davor

3

Ebd.

4

Ebd., S. 37.

5

Ebd., S. 34.

6

Ebd., S. 46.

7

Ebd., S. 37.

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und danach (ʌȡȩIJİȡȠȞ țĮÈ ÕıvIJİȡȠȞ)«.8 Offensichtlich ist die Zeit hier an die Bewegung gebunden. Sie misst sie. Die Zeit ist also, obwohl selbst keine Bewegung, auch nicht ohne Bewegung, beziehungsweise Veränderung denkbar.9 Aristoteles schreibt weiter: »Wenn wir selbst in unserem Denken keine Veränderung vollziehen oder nicht merken, dass wir eine vollzogen haben, dann scheint uns keine Zeit vergangen zu sein.«10 Die Veränderung ist die Ermöglichungsbedingung des Erkennens von Zeit.11 Wo sich nichts tut, scheint keine Zeit vergangen. Die Veränderung ist daher nötig für die Zeitbestimmung, weil Aristoteles die Zeit, analog zum Ort, als ein durch zwei Punkte begrenztes Kontinuum vorstellt. Eine messbare Zeitspanne ist eine Strecke zwischen zwei Jetzt-Punkten, wovon der eine früher als der andere liegt. Gibt es nur ein Jetzt ohne Beziehung auf andere Zeitpunkte, dann bleibt die Zeit stehen: eine Definition der Ewigkeit, die als nunc stans in Philosophie und Theologie beträchtliche Karriere gemacht hat. Diese Kopplung der Zeit an die Quantifizierung von Bewegungsabläufen mag uns helfen, die eingangs zitierte etwas sperrige Definition der Zeit – »Meßzahl der Bewegung hinsichtlich des davor und des danach« – besser zu verstehen. Die Zeit ist eine Zahl, eine Größe und als solche eben immer nur feststellbar anhand einer quantitativen Differenz: die Strecke von Zeitpunkt x bis Zeitpunkt y. Es drängt sich die Vorstellung einer Zeitachse auf, auf der verschiedene Jetztpunkte als Einschnitte angesetzt werden anhand derer dann spezifische Strecken gemessen werden können. Wieder analog zum Raum spricht Aristoteles davon, dass die Zeit die Dinge umfasst (ʌİȡȚȑȤİIJĮȚ Íʌȩ ȤȡȩȞȠȣ). Als bloßer Punkt ist das Jetzt jedoch für alles, was dort geschieht, das Gleiche. Es gibt nur ein Jetzt auf einmal. Nur weil es verschiedene Bewegung gibt, gibt es nicht eine jeweils unterschiedliche Zeit. Alle Bewegungen sind sozusagen Teilmengen

8

Aristot., phys. Buch IV, Kap. 11, 219b2.

9

Ich werde beides – țȓȞȘıȚȢ (Ortsbewegung) und ȝİIJĮȕȠȜȒ (Veränderung) – im Folgenden unterschiedslos behandeln.

10 Aristot., phys. 218b21ff. 11 Dass diese »Subjektbindung« keine Erkenntnistheorie im modernen Sinne meint und auch keine »Relativität« der Zeit sei hier nur assertorisch angemerkt. Fest steht: Zeit ist für Aristoteles eine »objektive« Größe, keine von subjektiver Wahrnehmung abhängige.

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einer großen, kosmischen Bewegung, die selbst nicht mehr gemessen werden kann – auch das eine Analogie zum Ort. Und da die Zeit die Zahl ist, mit der wir verschiedene Bewegungen messen und alle Bewegungen eben in derselben universalen Bewegung abbildbar sind, sind sie kommensurabel, auch wenn sie unterschiedlich lange dauern: Zwei unterschiedliche Ereignisse dauern zwei Tage lang, weil sie eine gleichlange Teilstrecke der Gesamtbewegung (z.B. des Jahres) einnehmen. Auf diese Weise gewinnt die Zeit bei Aristoteles ihre ›Objektivität‹. Es gibt nur eine Zeitachse für alle möglichen Bewegungen. So wie es nur einen Ort gibt, der in verschiedenen Teilungen unsere jeweiligen Lokalisationen ermöglicht. Auf dieser Achse lassen sich aber beliebig viele homogene, gleichartige Punkte eintragen, deren Beziehungen dann als Zeit feststellbar sind. Das erfordert schließlich noch die Annahme absoluter Kontinuität: Es müssen unendlich viele Jetztpunkte aneinander liegen; die Zeit hätte sonst eine › Lücke‹. Die wesentlichen Eigenschaften der Zeit sind also ihre Quantität (so-und-so-viel, respektive -lange), ihre Teilbarkeit (beliebig teilbare Abfolge der Jetztpunkte) und ihre Kontinuität (zusammenhängende Jetztpunkte).12 Für das Jetzt bedeutet dies eine Doppelfunktion: Es ist Zusammenhang (ıvȣȞȑȤİȚĮ), sofern die Jetztpunkte unendlich nah beieinander kleben und Grenze (ʌȑȡĮȢ), sofern sie voneinander unterscheidbar sind.13 Ausgehend von diesen Eigenschaften kann nun jede Bewegung in die Zeit eingetragen werden und umgekehrt eine Bewegung als zwischen zwei Zeitpunkten lokalisiert beschrieben werden. Es ergibt sich eine reziproke Bestimmung: »Mittels der Zeit messen wir die Bewegung, mittels der Bewegung die Zeit«14. Aus diesem Überblick sollte die enge Verknüpfung des Zeitbegriffes mit räumlichen Vorstellungsmustern deutlich geworden sein. Genau darin liegt nun auch das Problem, wenn es gilt, einige Phänomene zu beschreiben, die sich par tout nicht in Analogie zum Raum erklären lassen. Während auf einer Linie nämlich identisch Strecken beliebig wiederholt werden können, scheint das für die Zeit nicht ohne weiteres zu gelten. Wo Aristoteles sagt, »wenn nämlich ein und dieselbe Bewegung einmal

12 Vgl. Aristot., phys. 220b26. 13 Vgl. Aristot., phys. 222a10+12. 14 Aristot., phys. 220b23f.

E RINNERUNG

UND

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wiederkehrt, so wird auch die Zeit ein und dieselbe sein«15, wird deutlich, dass er die bloße Zeitmessung meint. Für uns aber wird doch ein und dieselbe Bewegung, beliebig oft wiederholt niemals dieselbe Zeit anzeigen. Die Zeit hat eine Tendenz, eine Richtung, ist Sukzession. Das Bild der Linie aber kann uns keinerlei Sukzession verständlich machen. Um zwischen zwei Punkten eine Strecke zu ziehen, müssen beide immer schon vorab in unserem Kopf – d.h. gleichzeitig – d a sein, präsent sein. Das Ziehen der Linie, ist es aber gerade, was Zeit braucht. Das davor und danach, das die homogenen Jetztpunkte voneinander scheidet, ist hier immer schon irgendwie vorausgesetzt, um diese dann als präsentische Punkte in Relation zu bringen. Dass Aristoteles aus »früher und später« also »vorn und hinten« auf dem Zeitstrahl macht, verbirgt das, was eigentlich zu zeigen wäre. Auf eben dieser Linie aber verläuft die Kritik von Henri Bergson (vor allem) in seinem frühen Werk Zeit und Freiheit.

B ERGSONS K RITIK DER HOMOGENEN Z EIT Zwar ist Aristoteles im Kontext der Bergsonschen Zeitdiskussion nicht der ausdrückliche Gegner, doch ist es unverkennbar jenes soeben skizzierte Denken über die Zeit, das hier kritisiert wird.16 Es geht um einen nicht verräumlichten, nicht von Kategorien des Raumes aus gedachten Zeitbegriff. Betrachten wir zunächst genauer, was den Raum eigentlich ausmacht. Bergson beschreibt den Raum anhand zweier wesentlicher Merkmale. Er ist eine Ordnung des Nebeneinander und als solche aus lauter beliebig unterscheidbaren, homogenen Elementen zusammengesetzt. Das fasst er in der Definition zusammen: Der Raum sei »das, was uns gestattet, mehrere identische und simultane Empfindungen voneinander zu unterscheiden«.17 Zwei vollkommen identisch gedachte, gleichzeitige Sachverhalte (im Idealfall zwei mathematische Punkte), sind nur anhand ihrer Lage im Raum auseinanderzuhalten. Bei dieser Vorstellung kommen keinerlei qualitative Diffe-

15 Aristot., phys. 222a32f. 16 Vgl. Bergson, Henri: Zeit und Freiheit, Hamburg: CEP Europ. Verl.-Anst. 2012, hier S. 76. 17 Ebd., S. 73f.

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renzen in Betracht, darum können wir von einer homogenen Fläche sprechen. Im Raum sind alle Dinge gleich, nur eben nicht an gleicher Stelle. Dieses Nebeneinander gleichartiger Elemente wird am deutlichsten beim Zählen: Eine beliebige Menge zu zählen bedeutet, sie erstens als aus lauter unterscheidbaren Elementen zusammengesetzt zu denken und diese zweitens gleichzeitig nebeneinander anzuordnen. Würde nur strikt eines nach dem anderen genommen, käme die Zählung über ›eins‹ nie hinaus. Dass wir de facto durchaus sukzessive zählen, die Elemente sozusagen nacheinander anhäufen, darf über das räumliche Element nicht hinwegtäuschen: Die ›Drei‹ erhalten wir nur, wenn wir die ›eins‹ und die ›eins‹ und die ›eins‹ nebeneinander legen. Wenn also die Zahl ohne die räumliche Nebeneinanderordnung homogener Elemente nicht verständlich ist, dann liegt wohl schon in der Bestimmung der Zeit als »Messzahl« eine Schwierigkeit. Aristoteles’ Zeit kann nur zählen, wenn die Jetztpunkte alle gleich und ihre Abfolge als solche fertig, d.h. nebeneinander geordnet, vorliegt. Die Zeit einer Bewegung ist nur als bereits beendete, zählbare vorstellbar. Kurz gesagt: Die Zeit soll Zahl sein, die Zählbarkeit erfordert aber eben Homogenität, die Homogenität schließlich ist Merkmal des Raumes, nicht der Zeit. Aristoteles’ Begriff der Zeit ist ein verräumlichter Zeitbegriff, ein »Bastardbegriff«18, wie Bergson sich ausdrückt. Die Frage ist natürlich, wie die Zeit anders gedacht werden soll, wenn nicht als homogenes Medium. Bergsons Antwort liegt im Begriff der »Dauer« (durée). Er soll die »reine Zeit« im Gegensatz zu der vom Raum durchsetzten bezeichnen und erhält daher die dem »reinen Raum« entgegengesetzten Prädikate. Während der Raum also die Elemente nebeneinander stellt, stellt die reine Dauer sie »ineinander«, lässt sie »miteinander verschmelzen«19. Diese auf den ersten Blick wenig hilfreiche Beschreibung wird sofort klarer – und für unseren Kontext weitaus interessanter –, wenn wir uns das mit Abstand am häufigsten herangezogene Beispiel dafür ansehen, nämlich die Melodie. Einer physikalischen Betrachtung stellt es sich unzweifelhaft so dar, dass die einzelnen Töne aufeinander folgen und als ganze damit wieder eine Raumordnung ergeben. Dagegen fragt Bergson nun:

18 Ebd., S. 76. 19 Ebd., S. 77.

E RINNERUNG

UND

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»Könnte man nicht sagen, daß, wenn diese Töne auch aufeinanderfolgen, wir sie dennoch ineinander apperzipieren, und daß sie als Ganzes mit einem Lebewesen vergleichbar sind, dessen Teile, wenn sie auch unterschieden sind, sich trotzdem gerade durch ihre Solidarität gegenseitig durchdringen?«20

Der räumlich-mechanischen Addition wird mithin eine organische Sukzession gegenübergestellt. Die Tonfolge wird als Melodie nur begreiflich, wenn jedes ihrer Elemente in einen qualitativen Zusammenhang mit den anderen gestellt wird, der es nicht erlaubt, einen einzelnen Ton sozusagen »unbeschadet« von den anderen zu trennen. Die Dauer hat keine Ausdehnung, wohl aber eine Vielheit. Bergson erläutert diese Differenz zwischen einer quantitativen und einer qualitativen Vielheit anhand eines Fehlers in der Melodie: »Wenn wir den Takt unterbrechen, indem wir einen Ton der Melodie über die Gebühr aushalten, [so macht] nicht die übertriebene Länge als solche« – also die Quantität – », sondern die qualitative Veränderung, die damit dem Ganzen des musikalischen Satzes widerfährt, uns unser Versehen bemerkbar.«21 Anders gesagt: Die Melodie wird nicht nur falsch, sondern anders. Es mag dabei helfen, sich die Art von Falschheit zu vergegenwärtigen, die vorliegt, wenn wir sagen »3+3=7« – was schlechthin Unsinn ist, und die, die vorliegt, wenn wir Beethovens Fünfte mit Triolen anfangen lassen – eine zumindest denkbare Alternative. Die Melodie, oder allgemeiner die Musik, scheint damit einen privilegierten Zugang zu jener »Solidarität« und »intime[n] Organisation«22 zu bieten, die die Elemente in der reinen Sukzession, der Dauer, auszeichnen. Während die Teile der verräumlichten Zeit einander »berühren, ohne sich zu durchdringen«23, wie wir es bei Aristoteles ausdrücklich gesehen haben, greifen die Momente der Sukzession ungeschieden ineinander. Sicherlich ist jede Tonfolge analysierbar, aber die Analyse ist gezwungen, die Töne aus ihrer Zeitlichkeit herauszuheben und in ein räumliches Nebeneinander – die Horizontale der Notenschrift – zu bringen. Darum wird ja eigentlich nie ein Musikstück analysiert, sondern seine Partitur. Dem erklingenden Stück bleibt etwas vorbehalten, das sich jeder analytischen Fixierung entzieht: eben seine

20 Ebd., S. 77f. 21 Ebd., S. 78. 22 Ebd. 23 Ebd.

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Dauer. Diese ist insofern irreduzibel, als mit der Angabe, ein Stück dauere 70 Takte oder 5 Minuten, eben das nicht erfasst ist, was es heißt fünf Minuten zu dauern. Das ist nicht vermittelbar und die Dauer stellt damit den eigentlichen Erfahrungskern der Musik als Zeitkunst dar. Es ist die Dauer in diesem Bergsonschen Sinne, nicht jene quantifizierte Zählzeit, die die Musik zum Zeitkunstwerk macht.

M USIK

ALS

D AUER

In diesem Sinne eignet sich die Bestimmung der musikalischen Zeit als »intensiver Größe«, wie sie etwa Gunnar Hindrichs gibt24, zumindest etwas Missverständliches. Nach unseren Überlegungen ist die Zeit überhaupt keine Größe, da Größen ja immer Ausgedehntheit, also Räumlichkeit, voraussetzen. Bergson gibt eine Reihe von Beispiele, anhand derer er zeigt, wie Intensitätsunterschiede letztlich immer auf extensive Differenzen und reine Qualitätsunterschiede zurückzuführen sind. Der Begriff der »intensiven Größen« wird damit überhaupt fraglich. Davon unabhängig geht es aber um die Frage, wie das Verhältnis zwischen der musikalischen Zeit, die dem Werk seine spezifische Zeitordnung gibt und jener anderen, außermusikalischen Zeit, die Hindrichs »extensiv« nennt25, bestimmt werden kann. Wir könnten hier nun eher von zwei Betrachtungsweisen der Zeit als von zwei verschiedenen Zeiten sprechen. Außermusikalisch wäre die Zeit ein Ordnungsraum mit seiner beliebigen Unterteilung in homogene Elemente wie Minuten, Sekunden und Stunden, aber auch Takte. Die musikalische Betrachtung der Zeit interessiert sich für die qualitative Mannigfaltigkeit, für die Töne in ihrer Organisation, eher als in ihrer Ordnung; für das Stück, wie es sich in der Zeit »erstreckt«, vielmehr als dass es sie »einnimmt«. Vielleicht können wir von hier aus zu den eingangs zitierten Bemerkungen Adornos zurückkehren. Wir fragen dann, wie die musikalische Zeitordnung eigentlich verstanden wird, wenn es heißt, dass Wagners Musik motivisch, wie auch dramatisch, letztlich »ihren eigenen Zeitverlauf widerruft«26, also

24 Vgl. Hindrichs, Gunnar: Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 120f 25 Ebd. 26 Adorno: Versuch über Wagner, S. 43.

E RINNERUNG

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nichts geschehe. Adorno hatte in diesem Zusammenhang von der »Erinnerungslosigkeit«27der Wagnerischen Musik gesprochen und diese explizit mit dem klassischen symphonischen Prinzip kontrastiert. Dessen Zeitlichkeit wird von Carl Dahlhaus im Zusammenhang mit Beethoven thematisiert. Er bezieht sich dort explizit auf Aristoteles und spricht von einer prozesshaften, teleologischen Zeit.28 Ob man das teleologische Denken und den Zeitbegriff bei Aristoteles überhaupt in dieser Form zusammenbringen kann, kann hier nicht untersucht werden. Uns soll es an dieser Stelle darum gehen, wie Dahlhaus die Zeitlichkeit der Musik an die Bewegung dessen, was in der Zeit geschieht, bindet. Hierin liegt die aristotelische Erbschaft, die von einer Musik in Frage gestellt wird, die sich von der »Entfaltung in der Zeit«29 abwendet. Wo die thematische Entwicklung der Repetition bis hin zur mechanischen Wiederholung weicht, gerade dort wird augenfällig, wie die musikalische Zeit nicht in einer von ihrer reinen Dauer unabhängigen Logik ihres Gehaltes aufgeht. Auch ein noch so organischteleologischer Zusammenhang der musikalischen Elemente, der Töne und der Formbestandteile, versucht die Zeit aus der Bewegung abzuleiten. Die Zeit ist hier ausdrücklich zwar nicht mehr das leere Medium, sondern soll selbst Ergebnis des Kompositionsprozesses sein – in dieser Hinsicht verlässt Dahlhaus Aristoteles – aber die im Verlauf des Stückes zu entfaltende musikalische Logik wird als prinzipiell zeitlos hypostasiert und der Zeit als solcher gegenüber gestellt, in die sie dann »fällt«. Das IJȑȜȠȢ (Ziel, Vollendung) der Komposition wird ihrer Zeitlichkeit vorausgesetzt. Wie Aristoteles die Bewegung voraussetzt, um dann anhand ihrer eine Zeitstrecke zu bestimmen, soll hier eine musikalische Totalität sich in der Zeit ausbreiten. Wie aber aus den räumlich verstandenen Tonverhältnissen die Dauer der reinen Sukzession abzuleiten wäre, bleibt bei Dahlhaus unklar. Zwischen dem Verständnis der musikalischen Teleologie und ihrer Erfahrung in der Dauer klafft eine Lücke. Aus der Teleologie der thematischen Arbeit folgt nicht die Teleologie der Zeit, die ihr entspricht. Vielleicht ist an dieser Stelle die Möglichkeit einer Apologie der Wagnerschen Zeit gegeben.

27 Vgl. hierzu auch Jan Assmans Beitrag in diesem Band, der diesen Punkt in Bezug auf Strawinsky ausführt. 28 Vgl. Dahlhaus, Carl: Ludwig van Beethoven und seine Zeit (Große Komponisten und ihre Zeit),Laaber: Laaber Verlag 1987, 117ff. 29 H. Bergson: Zeit und Freiheit, S. 76.

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Wenn wir die Zeit nicht mehr in den Raum entfalten und an den in ihr sich bewegenden Elemente festmachen, dann kann die von Adorno kritisierte vermittlungsarme Aufeinanderfolge der Klangereignisse, bis hin zur völlig invarianten Wiederholung nicht mehr ein Widerrufen der Zeit anzeigen, sondern das ganze Gegenteil. Gerade weil die Totalität der Dauer mit der Entwicklung des thematischen Materials nicht mehr in eins fällt, überliefert die Musik den Hörer an die Dauer als solche. Dass da, wo kein Gehalt ist, dennoch Dauer ist, erinnert an das irreduzibel Zeitliche der Musik. Mit Bergson können wir versuchen in der Iteration, der Monotonie, dem Zufall oder gar der absoluten Verweigerung jeden ›Gehaltes‹, Grenzfälle zu sehen, die die Dauer als solche zum Vorschein bringen. Während eine immer gleiche Folge identischer Töne nach einem nicht sukzessiven Verständnis der Zeit tatsächlich kaum als Musik zu bezeichnen wäre, können wir umgekehrt hier eine Erfahrung der reinen Dauer erkennen; die Erfahrung der Einzigartigkeit jeden Augenblicks, unabhängig von der räumlichausgedehnt gedachten »Entfaltung« einer Melodie oder einer Form. Wenn Peter Oswald den Kopfsatz der Neunten Symphonie von Mahler als zunehmenden »Zerfall zeitlich gerichteter Bewegungen«30, schließlich als reines Beharren beschreibt, dann mag das hier als Beispiel dienen. Das führt im Grenzfall, etwa einer 4`33`` anhaltenden Stille, an die Grenzen der Musik selbst. In diesem Zusammenhang von einem »symbolischen« Zeitbegriff zu sprechen, wie es Heinz von Loesch31 getan hat, halte ich allerdings für eine Psychologisierung der Zeitfrage, die der Absicht Bergsons nicht entsprechen dürfte. Wenn man die Dauer als »subjektive Erlebniszeit« paraphrasiert32, dann darf Subjektivität nicht zum Synonym wahrnehmungspsychologischer Kontingenz werden. Vielmehr entfaltet Musik erst »im Subjekt« ihre Dauer. So wie die Vorausberechnung einer Sonnenfinsternis nicht die Zeit bis zu diesem Ereignis erfasst (ein weiteres Beispiel Bergsons), ließe

30 Oswald, Peter: »Subkutane Seismographen. Zeit und Geschichte im ersten Satz von Mahlers IX. Symphonie« in: Metzger, Heinz-Klaus/Riehn, Rainer [Hg.]: Gustav Mahler (Musik-Konzepte Sonderband), München: edition text und kritik 1989, S. 276–303, hier S. 301. 31 Von Loesch, Heinz: »Final gerichtete Zeit oder final gerichtete Musik?« in: Diether de la Motte [Hg.]:Zeit in der Musik – Musik in der Zeit, Frankfurt a.M.: 1997, S. 69–76, hier S. 70f. 32 Ebd., S. 70.

E RINNERUNG

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sich, wie wir vorhin bemerkten, auch die notenschriftliche Fixierung des Klanges als Verkürzung um diese Dauer Dimension begreifen. Zugespitzt formuliert wäre es so gerade das Taktmaß in seiner raumzeitlichen ›Objektivität‹, das als Symbol dient, als Abbreviatur der Dauer. Der Begriff der Erinnerung schließlich kann hier dann nicht mehr ein In-Bezug-Setzen unterschiedener Zeitpunkte meinen. Wenn die musikalische Dauer als qualitative Vielheit begriffen wird, so gerät jedes ›Mehr‹ an Klang im zeitlichen Fortgang zu einem ›Anders‹, zu einer stetigen Revision der Gegenwart. Das aber liegt – darin liegt der Unterschied zu Dahlhaus – nicht an der Teleologie des Gehaltes, sondern im Wesen der Zeit selbst. Sie erst verleiht allem Prozesshaften seine Gerichtetheit, indem es die identische Wiederholung zugunsten der vertiefenden, differenzierenden Wiederkehr verbietet. Ein IJȑȜȠȢ im Wortsinne – als Vollendung – hat diese Sukzession freilich nie. Sie endet für uns immer in der Unmittelbarkeit des Augenblicks. Diese Auffassung sollte nicht als ein musikalischer Präsentismus missverstanden werden; vielmehr wird die Vergangenheit im musikalischen Verstehen unmittelbar in die Gegenwart integriert, die sich dadurch beständig verwandelt. Das ist der fundamentale Unterschied zwischen der Wiederholung eines Motivs und der Reproduktion eines Bildes. Der Vergangenheitscharakter des musikalischen Erinnerns ist nicht der des »Nicht-Mehr-Seienden«, sondern eher die aufgestaute Mannigfaltigkeit dessen, was dem jetzt Gehörten seine spezifische Gestalt gibt. Ein letztes Mal Bergson: »Dasselbe bleibt hier nicht dasselbe, sondern verstärkt sich und nimmt seine ganze Vergangenheit in sich auf.«33 Das Vergangene hat in der Musik gerade dadurch Realität, dass es im Jetzt seine Wirkung entfaltet. Musikalische Zeitgestaltung handelte dann vielleicht davon, in welchem Umfang, Bergson’sch gesprochen, in welchem Grad von Kontraktion die Gegenwart sich in die Vergangenheit erstreckt, sich mit ihr verbindet oder sie für sich stehen lässt. Musikalisches Erinnern ist, um einen Begriff Peter Oswalds zu gebrauchen kein »Gegenwartsersatz«. »Vielmehr«, schreibt er, »werden die Spuren des Erinnerten zum Stachel für die aktive Auseinandersetzung mit und in der Gegenwart«34. Dieser Stachel ist der der Unumkehrbarkeit der Zeit, an die die Musik uns mit aller Macht erinnert. Es ist vielleicht diese unerbittliche Einzigartigkeit des Augenblicks, die

33 H. Bergson: Zeit und Freiheit, S. 116. 34 P. Oswald: Subkutane Seismographen, S. 281.

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Unmöglichkeit jeder identischen Wiederholung in der Dauer, die der Musik so oft das Prädikat der ›innerlichsten‹ und ›subjektivsten‹ aller Künste eingebracht hat (vielmehr als etwa ihre angebliche Willkür oder Gefälligkeit). Sie wird zum Abbild eben jener Zeitlichkeit, die auch die unsere ist, und die Freiheit, die sie gewährt, ist nicht so sehr eine von der Zeit, indem sie sie aufhöbe, als vielmehr für die Zeit. Indem sie – wie Adorno schreibt, nun allerdings über Mahler, – die »Dauer [...] auskomponiert«35, bringt sie uns unsere Endlichkeit in Erinnerung, nicht ohne uns zu ermutigen, uns ihr hinzugeben – ohne Aussicht auf Wiederholung.

35 Adorno, Theodor W.: Mahler. Eine musikalische Physiognomik, in: Tiedemann, Rolf [Hg.]: Die Musikalischen Monographien (Gesammelte Schriften Band 13), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2012, S. 149–319, hier S. 222.

Erfahrung, Erinnerung und Reproduktion nach Walter Benjamin J OHANNES F ECHNER

In diesem Essay möchte ich einige Motive bei Walter Benjamin näher beleuchten, die den revolutionären Charakter der Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit1 herausstellen, d.h. die den Anteil seiner dialektisch-materialistischen Theorie der Ästhetik zum Ausdruck bringen. Diese möchte ich einbetten in eine Betrachtung, die ausgehend vom Wandel des Erfahrungsbegriffs durch die Reproduzierbarkeit von Kunstwerken, die Konsequenzen für das musikalische Kunstwerkt aufzeigt. Gerade dieser Wandel am Erfahrungsbegriff, der mit dem Verlust einer Form der narrativen Erinnerung korrespondiert, schmiedet dabei die Motive aneinander.

I. ARMUT

UND

E RFAHRUNG

Benjamin erfasst im Text Armut und Erfahrung2 von 1932/3 eine spezifisch historische Veränderung, die die Begriffe der ›Erfahrung‹ und implizit auch der ›Erinnerung‹ im 20. Jahrhundert erfasst haben. Er geht aus von den wirtschaftlichen, technischen und militärischen Auseinandersetzung und

1

Benjamin, Walter: Das Kunstwerkt im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Kritische Gesamtausgabe Bd. 16), Berlin: Suhrkamp 2012.

2

Benjamin, Walter: Armut und Erfahrung in: Tiedemann, Rolf [Hg.]: Gesammelte Schriften Bd. II, Frankfurt: Suhrkamp 1992, S. 213–219.

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Entwicklungen, die sich zu dieser Zeit im Kulminationspunkt des ersten Weltkriegs zusammenschlossen: »Nein, soviel ist klar: die Erfahrung ist im Kurse gefallen und das in einer Generation, die 1914–1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat.«3 Dieser, nun in 100-jährigen Abstand, gab damals ein evidentes Beispiel davon ab, was gegen gehegte Erwartungen als Ernüchterungen noch möglich sei und offenbarte eine Strukturveränderung der Erfahrung im Allgemeinen: »Diese Erfahrungsarmut ist Armut nicht nur an privaten sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt. [Hervorhebung J.F]«4 Und diese »ganz neue Armseligkeit ist mit dieser ungeheuren Entfaltung der Technik über die Menschen gekommen.«5 Der wesentliche Punkt ist also, dass aus Armut an den Zuständen jenes vergessen und verloren ging, was einmal Erfahrung geheißen hatte. Dieser originäre Charakter von Erfahrung spielte sich im Modus des Erzählens ab, als kollektiver Wieder- und Weitergabe, insofern als Erinnerungskultur. Dieser Wandel führte nun dazu, dass die ›mittelbare Erfahrung‹ in der oben beschriebenen Entwicklung notwendig und strukturell verloren ging. Die »Leute kamen verstummt aus dem Felde[…][.] Nicht reicher, ärmer an [eben jener] mitteilbare[…][n] Erfahrung«. Benjamin bezieht sich gerade auf den Aspekt der verlorenen sprachlichen Vermittlung, als Komplex des Erzählens, »die vom Mund zum Ohr strömt[e].«6 Die Erfahrung hatte damit auch ihren Charakter der Unmittelbarkeit ihrer Autorität zur Vermittlung verloren, wie sie von Mensch zu Mensch als Tradition weitergegeben wurde. In dieser Hinsicht ging das Band verlustig, welches als zwischenmenschliche Erinnerung die Naturwüchsigkeit dieses Erfahrungsbegriffs kennzeichnete – Erfahrung und Tradition waren nun verschieden. An diese Stelle trat aber eine Neuformierung als radikale Umwälzung. Benjamin spricht hier von »neuem Barbarentum«. Es werden hier also zwei Momente zugleich betrachtet: Einerseits ein Verlust des Tradierten und eine ihr korrespondierende Veränderung. Aber andererseits auch die Erschaffung eines neuen, anderen konstruktiv-produktiven Moments, von dem, was man von nun an eine Utopie der Erfahrung nennen könnte. Diese

3

Ebd., S. 214.

4

Ebd., S. 215.

5

Ebd.

6

W. Benjamin: Armut und Erfahrung, S. 215.

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Konstruktion setzt im Benjaminschen Denken noch eine Destruktion voraus. Die neuen Barbaren »[…]reden[…] in einer gänzlich neuen Sprache. Und zwar ist das Entscheidende an ihr der Zug zum willkürlichen Konstruktiven; im Gegensatz zum Organischen[...].«7 In Hinblick auf das Utopische lautet der Schluss des Textes: »In deren Bauten, Bildern und Geschichten bereitet die Menschheit sich darauf vor, die Kultur, wenn es sein muß, zu überleben. Und was die Hauptsache ist, sie tut es lachend. Vielleicht klingt dieses Lachen hie und da barbarisch. Gut. Mag doch der Einzelne bisweilen ein wenig Menschlichkeit an jene Masse abgeben, die sie eines Tages ihm mit Zins und Zinseszinsen wiedergibt.«8

Diese Übergänge zeigen sich also vor allem in Bereichen der Kultur: also des Ästhetischen und des Kunstwerks. Die gewichtigen Gründe, die diese mehrdimensionalen Wandlungen verursachten, sind die gesellschaftlichen und sozioökonomischen Zusammenhänge des technologischen Fortschritts: Wirtschaft und Krieg. Denn gerade der Krieg war gerade Ausgangspunkt des Erfahrungsbegriffs in seiner Armut. Im zweiten Teil gehe ich auf das korrespondierende Moment des technologischen Fortschreitens und ihrer Verfügbarkeit, im Hinblick zum Kunstwerk-Aufsatz ein.

II. R EPRODUZIERBARKEIT Benjamins Betrachtung zeigte, dass die Veränderungen, die in letzter Instanz auch in die Erinnerungskulturen getragen werden, sowohl das Wirken als auch die Funktionsweise von Erfahrung modifizierten. Die Vorrausetzungen, die dies verursachen, ändern aber nicht nur die Signatur der Rezeption, sondern auch die Ontologie des Kunstwerks als Produziertem. Benjamins Schlüssel, welcher die Reichhaltigkeit dieser Entwicklungen und Umbrüche markiert, liegt gerade in der Re-Produktion des Kunstwerks, genauer in der Form seiner Reproduzierbarkeit. Deshalb liegt hier der Kern der Betrachtung auf einer spezifisch historischen Ontologie. Damit Betreten wir die Manege seines Aufsatzes: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner

7

Ebd., S. 216.

8

W. Benjamin: Armut und Erfahrung, S. 219.

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technischen Reproduzierbarkeit. Er nimmt hierin drei Jahre später die entscheidenden Motive wieder auf und verknüpft sie stärker mit einer Analyse der gesellschaftlichen Vermittlung der (Kunst-)Produktion. Aber was soll hier die besondere Kennzeichnung von Reproduzierbarkeit ausmachen? Es besteht ein bei Benjamin ein essentieller Unterschied zwischen ›Reproduzierbarkeit‹ und ›bloßer Reproduktion‹: »Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen.«9 In diesem Verhältnis wird das Kunstwerk als ontologische Entität scheinbar in eine ahistorische, immer gleichwährende Position zur Reproduktion gebracht. Demnach hätte es das Kunstwerk immer schon gegeben und dessen Qualität und Aspekt der Reproduktion wäre gleich. Einer der wichtigen materialistischen Züge Benjamin besteht gerade darin, dass das Kunstwerk als Begriff Teilhabe an der historischen Entwicklung hat und so wie die (Natur-)Geschichte sich entwickelt, so hat sich das Kunstwerk als solches und seinem Begriff nach herausschält.10 Aber Benjamin meint mit dieser Form lediglich die allgemeine Möglichkeit von Reproduktion, die eine Kopie eines Originals ist: Er nennt dies »manuelle Reproduktion«. Dieser Vorgang ist wie oben beschrieben in der Geschichte und am Kunstwerk seit jeher möglich gewesen. Diese Kopien waren nie im Stande die Form ihres Kunstwerks zu bestimmen und damit seine Vorrausetzungen zu verändern. Demgegenüber ist der entscheidende Übertritt in das Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,

9

W. Benjamin: Das Kunstwerkt im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 208.

10 Dies betrifft zwei Probleme, die hier nicht verhandelt werden können – Zum einen das theoretische Moment eines Zeitkerns der Wahrheit, den Benjamin im Passagenwerk zum Ausdruck gebracht hat: »Doch Wahrheit ist nicht[…] nur eine zeitliche Funktion des Erkennens sondern an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt, gebunden.« (Walter Benjamin: Das Passagenwerk in: Tiedemann, Rolf [Hg.]: Gesammelte Schriften Bd. V, Frankfurt: Suhrkamp 1991, S. 578) und zum zweiten Benjamins Variation der alten Theorie des Scheins des Schönen, welches von ihm in die Hegelianische Formel gebracht wird, dass das Kunstwerk als schönes Ding in seiner Hülle erscheinen muss: »Denn weder die Hülle noch der verhüllte Gegenstand ist das Schöne, sondern dies ist der Gegenstand in seiner Hülle.« (Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften in: Tiedemann, Rolf [Hg.]: Gesammelte Schriften Bd. I, Frankfurt: Suhrkamp 1991 S. 195.)

E RFAHRUNG , E RINNERUNG UND REPRODUKTION | 55

womit nichts anderes gemeint ist, als das Zeitalter des Hochkapitalismus, die generelle Anwendung der Möglichkeiten, die schon in die Produktion von Kunstwerken eingeschrieben sind. Benjamin bezeugt dies an den visuellen Beispielen der Fotografie und des Films. Darin zeitigt sich also tatsächlich die Möglichkeit von »etwas Neue[...][m]«.11 Gleichzeitig ist dieser qualitative Sprung in die technische Reproduzierbarkeit natürlich kein ausschließlicher diskontinuierlicher Schritt, sondern die Technik und das Technische dieser Reproduzierbarkeit entwickelt sich parallel hierzu in kontinuierlicher Weise. Wonach dann die Verfahren und Erscheinungseigenschaften geschaffen werden, die die grundlegenden Prinzipien der neuen Medien verkörpern, wie massenweises Reproduzieren und dass die Reproduktion als erneute Anwendung auf andere Kunstformen und auch auf sich selbst zum Bestandteil wird. »Technische Reproduktion« oder »Reproduzierbarkeit« setzen dreierlei Ebenen des Kunstwerks und seiner Produktionsweise voraus. Denn die Benjamins Thesen sollen sich verstehen lassen »[…]als Thesen über die Entwicklungstendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen«, die die »Veränderung der Produktionsbedingungen … auf allen Kulturgebieten zur Geltung […] bringen.«12 Diese Veränderungen bilden also die Signatur der sozio-ökonomischen Geschichte. Dies betrifft (1) den historischen Charakter von Massenproduktion, (2) darin als Folge das Verhältnis von Original und Kopie und (3) den formalen Aspekt des historischen Übergangs als Veränderung der Bedingung der Möglichkeit des Kunstwerks als solchem, also seiner Form der Massenproduktion als technischen Reproduzierens.13 Diese stellt sich nach der Entstehung als die Entfaltung, Ausdifferenzierung und (Re-)Produktion des Kapitalismus dar. Darin gehen die (mehr-)wertschöpfenden und produktiven Konsequenzen des technischen Fortschritts im Zeitalter der Maschine ein. Denn »[…] [die

11 W. Benjamin: Das Kunstwerkt im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 209. 12 Ebd. 13 Die Übergänge in die Ausformungen der Fordistischen Massenproduktion hat der reife Marx bereits ausführlich im Kapital in die »Maschine und die Große Industrie« beschrieben. Vgl. Karl Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band (Marx-Engels-Werke, Bd. 23), Berlin: Karl Dietz, 1973, S. 391– 531.

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Maschine] ist Mittel zur Produktion von Mehrwert«14. Und im Zeitalter der Maschine heißt formdurchdrungen auch, die maschinelle Massenproduktion von Waren. Genau diese kann vor der Produktion von Kunst keinen Halt machen und so muss sie auch immer unter der gesellschaftlichen Voraussetzung von maschineller Massenproduktion begriffen werden. Besonders die technische Reproduktion ist eine, die nur als maschinelle oder apparative funktionieren kann, da die Maschine als solche, in ihrer Produktion die natürlichen und organischen Schranken der menschlichen Arbeitskraft und -Weise überschreitet. Dies ist die Wiederaufnahme aus Erfahrung und Armut, dass das »willkürlichen Konstruktive…; i[n] den Gegensatz zum Organischen [tritt].«15 Es ist wichtig hier zu verstehen, dass selbst wenn ein Kunstwerk nicht unmittelbar in dieser Form produziert wird, es bei der Erarbeitung trotzdem notwendig auf die Form der Produktion von Waren bezogen bleibt. Dies wird gerade in seiner Rezeption deutlich. Hiermit gewinnt die Reproduktion also ihren Ereigniskern auch am Kunstwerk. Die allerorts verfahrende Reproduktion von Natur und Waren betrifft auch die Werke und Produzent*innen der Kunst, als Zirkulationsträger, die sich am Markte bewähren müssen. Wenn Kunstwerke als Waren in Masse produziert werden können und müssen, um am Markt zu bestehen16, dann kann dieses Verhältnis nicht schadlos am Kunstwerk vorüber gehen. Den Schaden trägt sowohl die Erscheinung des Kunstwerks als seiner Aura, sowie die ihr entsprechenden und »überkommene[n] Begriffe« der Ästhetik.17 Wenn Kunstwerke in Masse produziert werden, dann werden sie aber auch nicht mehr wie vormals produziert, sodass ein Original die Gussform als Kunstwerk abgeben würde und sämtliche Fabrikate nur Kopien des Originals wären. Dies ist in der Anwendung neuerer Techniken auf alte Kunstwerke noch der Fall, wenn man Fotokopien der bildenden

14 K. Marx: Das Kapital, S. 391. 15 W. Benjamin: Armut und Erfahrung, S. 216. 16 Im Sinne des Gesetzes der Konkurrenz: »Im Großen und Ganzen hängt dies aber auch nicht vom guten oder bösen Willen des einzelnen Kapitalisten ab. Die freie Konkurrenz macht die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion dem einzelnen Kapitalisten gegenüber als äußerliches Zwangsgesetz geltend« (K. Marx: Das Kapital, S. 286.) 17 W. Benjamin: Das Kunstwerkt im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 208.

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Künste anfertigt, beispielsweise ein Farbabzug der Mona Lisa für das Wohnzimmer. Hingegen: »Die technische Reproduzierbarkeit der Filmwerke ist unmittelbar in der Technik ihrer Produktion begründet. Diese ermöglicht nicht nur auf die unmittelbarste Art die massenweise Verbreitung der Filmwerke, sie erzwingt sie vielmehr geradezu.«18 [Hervorhebung J.F.]

Insofern ist die technische Reproduktion als Reproduzierbarkeit in diese neuen Formen des Kunstwerks als Produktion eingeschrieben. Reproduktion lässt sich unter diesem Gesichtspunkt nur noch sinnvoll als Produktion der Produktion verstehen.19 Und im strengen Sinne löst sich hierin auch der Unterschied von Original und Kopie auf, da alle Produkte der Tendenz nach nur noch Kopien ohne Original sind. Damit ist Tradition des Originals entwertet und das Original besteht nun im Ensemble seiner Kopien. In Folge dessen fallen affirmative Bezüge auf die Tradition des Originals hinter dem Niveau der Geschichte zurück und haben einen reaktionären Charakter. Diese Bedeutungsänderung findet sich dann in der Rezeption solcher Kunstwerke wieder. Kunstwerke werden von nun an simultan von Publikum, der Masse, genossen. Die Werke sind darauf aufgebaut, dass sie es müssen. Die noch entstehende Soziologie hatte bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts diese Phänomene bedacht, dass die Vermassung in den Großstädten mit verantwortlich ist für die Veränderung unserer Sinne.20 So tritt nun ein anderer Effekt hinzu, dass nämlich unsere naturwüchsige Wahr-

18 Ebd., S. 218. 19 Dieses Verhältnis stellt sich nicht nur auf der einfachen Ebene der politischen Ökonomie dar, sondern zeitigt sich ebenso in der kulturellen (und Wunsch-) Produktion. Vgl.: Deleuze, Gilles, Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt: Suhrkamp, 1974, S. 10. 20 Schöttker weist darauf hin, dass Benjamin in der dem Kunstwerkaufsatz anschließende Arbeit übe Baudelaire auch Simmels Soziologie der Sinne miteinbezieht. So z.B. Georg Simmel: »Die Soziologie der Sinn die Benjamin auch im Baudelaire-Aufsatz zitiert. Vgl.: Schöttker, Detlev: Konstruktiver Fragmentarismus: Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins, Frankfurt: Suhrkamp, 1999, S. 247, Fn. 39.

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nehmung der Realität durch die neuen Medien im sehr viel stärkeren Sinne konstituiert wird. Zurück zum Schaden und Verlust am Kunstwerk: Benjamin zeichnet das Verkommen zur Ware auf mehreren Linien gleichzeitig nach. Der religiöse Kult, der sich in der Urzeit und Vergangenheit als Ritual am Kunstwerk bewährte, verliert in einem ersten Schritt seine Aura und Einmaligkeit in Bezug auf das Transzendente des Rituals.21 In einem zweiten Schritt tritt das säkularisierte Ritual als Stellvertreter der Autorität und Einmaligkeit des Kunstwerks noch für eine zweite Form der Aura ein, die dem notwendig stattfindenden Verfall der Aura und ihrer Tradition entgegentritt. Den zweiten Pol bezieht Benjamin auf den sogenannten Ausstellungswert. Hierin erzeugt sich die zweite Pseudo-Aura des Warencharakters am Kunstwerk. Dieser Verfall hängt aber, wie oben beschrieben, an den Veränderungen der Reproduktionstechniken selbst. Was dieser Entwicklung am offenkundigsten entspricht, ist erst einmal die Kunstform des Films, die die Reproduzierbarkeit in ihrer eigenen Produktionstechnik begründet. Und es ist eben jene Technik, die mit ihrem apparativen Charakter der Maschine gegenüber den überkommenen Kunstformen auch den Wahrnehmungsänderungen anpassen kann und diese weiter mitproduziert.

III. B EWÄLTIGUNGSSTRATEGIEN DES MUSIKALISCHEN K UNSTWERKS Da wir nun gesehen haben, in welchen begrifflichen Konstellationen Benjamin eine Kunstform markierte, die den gesellschaftlichen Entwicklungen der Massenproduktion in einer Massengesellschaft Rechnung trägt, wollen wir nun zu einem konstruktiven Teil kommen, der versucht sich abzusetzen in dem Sinne, dass wir Benjamins Teil produktiv für das musikalische Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit nutzen. Dazu muss zweierlei befriedet werden: Was ist Musik als Massenproduktion? Und was wäre eine Musik die Reproduzierbarkeit reflektieren würde? Allgemein wird Musik in Ernste- und Unterhaltungs-Musik unterschieden. Sehen wir, wie beide Felder vom Technikstandard der Reproduzierbarkeit betroffen werden: Hierin wird eine dritte Begriffsbedeutung von

21 W. Benjamin: Das Kunstwerkt im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 220f.

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Reproduktion beim Kunstwerk eingeführt. Denn musikalische Reproduktion bedeutet zunächst, dass ein notiertes oder prädiktiertes Werk aufgeführt wird als momentan reproduziertes. Deshalb zielt Adornos Betrachtung von Reproduktion und Kunst vor allem auf diese Funktion ab und auch das Fragment gebliebene Werk Eine Theorie der musikalischen Reproduktion behandelt genau diesen Aspekt.22 Andernfalls sehen Benjamin und Adorno gleichermaßen die neuen Medien der Reproduzierbarkeit der Musik. So in ihrer Zeit noch die Schallplatte, die das Werk überall wo die Technik abrufbar ist, zu hören ermöglicht. Benjamin versucht den Verlust der Aura dadurch zu belegen, dass das Chorwerk mit Hilfe der Schallplatte jetzt im Zimmer, statt in der Kirche abgespielt werden kann.23 Heutzutage hat sich durch die Reproduzierbarkeit von hochqualitativen digitalen Audiodateien nicht nur in der Entwertung der Aura verdingt. Die digitalen Urheberrechtsdebatten und die Verkaufscharts von i-Tunes bezeugen diesen Wandel. In der Popmusik wird die ewige Wiederholung und allgemeinsimultane Rezeption die Vorrausetzung für den Absatz am Markt. In ihr entfaltet sich jedoch eine Aura zweiter Ordnung, welcher dem Fetischcharakter der Waren korrespondiert.24 Doch stellt sich die Frage: Welche Phänomene und Funktionen diese Reproduzierbarkeit tatsächlich begreifen. Und darauf folgend wie kann man dann Reproduktion von Musik denken, die ihr tradiertes Element, also dem Verhaften an Aura, entgegenstehen oder gar suspendieren würde? Hierzu gibt es mehrere Antworten. Für den Großteil der produzierten musikalischen Kunst müsste man wohl das Urteil fällen, dass sie in diesen Modi verbleiben würden. Einerseits darin, dass sie beständig versucht sind Authentizität und Einmaligkeit zu erzeugen, worin aber das magische des Aura-Begriffs historisch zum Erliegen gekommen, solche Musik jedoch Teilhaberin des Warencharakters ist. Damit wird auch versucht an die Tradition der Erfahrung anzuschließen, die aber infolge des

22 Adorno, Theodor W.: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, Frankfurt: Suhrkamp 2005. 23 W. Benjamin: Das Kunstwerkt im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 212; Vgl. auch Adorno, Theodor W.: Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt: Suhrkamp 2003, S. 326f. 24 Adorno, Theodor W.: »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörers« in Tiedemann, Rolf [Hg.]: Dissonanzen, Frankfurt: Suhrkamp 2003, S. 46f.

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bedeutenden Formwechsels der Reproduzierbarkeit getilgt wurde. Anderseits können in einer anderen Form der leichten oder Unterhaltungsmusik verfremdende Effekte auftreten. Zum Beispiel mit dem Auftreten des DJs, der den Stand der Technik nutzt um einfache Reproduktionen der Aufnahmen in Live-Abmischungen höherer Ordnung zu bringen und damit mit differenten aber endlichem Musik-Material unendliche Schleifen und Variationen kreiert. Oder entgegen dem Live-DJ, sei hier das Sampling-Stück produkt-placement von Johannes Kreidler angeführt. Aber genau wie der Jazz-Musiker muss der DJ seiner Tendenz nach scheitern, da die falsche Unmittelbarkeit seiner Samples als Verflüssigung des Festen, einzig dem Charakter der Ware sanktionieren und »daß die Gebrauchsfähigkeit [dieser beiden] die Entfremdung nicht aufhebt, sondern verstärkt.«25 Beide erleiden ein ähnliches Schicksal wie der Filmstar bei Benjamin. Ihre »Personality« als charismatischer Genius ist »längst nur noch im fauligen Zaubers des Warencharakter[s][…]« beheimatet.26 Diese Folgen hieraus zeigen deutlich, dass etwas in der Tradition, Erfahrung und Erinnerung der Musik notwendig verändert und damit vielleicht auch zerstört wurde, was sich auch nicht wiederherstellen oder versöhnen lässt. Nichtsdestotrotz kann man noch andere Bewältigungsstrategien zu Rate ziehen, um den auratischen Charakter dieser Kunstwerke zu reflektieren. Wenn zum Beispiel Morten Feldman an der Form der Notation Spieglungen, Brechungen und Variablen zu platziert, dann sieht man augenscheinlich welche formale Strukturschwierigkeit innerhalb der musikalischen Reproduktion selbst eingeschrieben ist. Nämlich die tradierte Form der Notation. Diese macht die Kunstform der Musik, wo sie größtenteils im Sinne der Notation arbeitet zum Formal-vorher-bestimmten. Deshalb bietet uns die immanente Kritik an den althergebrachten Formen möglicherweise Wege, die uns schon innerhalb der Musiktechnik, die noch auf der Ebene der limitierten Reproduktion funktioniert, mit diesen Aporien umzugehen und die sich darin ankündigen, dass sie innerhalb der alten Formen die neuen Nicht-Formen denken möchten, aber es nicht vermögen. So ist Edgard Varèse im gleichen Koordinatensystem zu verorten. Und es kann sich

25 Adorno, Theodor W.: »Über Jazz« in Tiedemann, Rolf [Hg.]: Musikalische Schriften IV, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 77. 26 W. Benjamin: Das Kunstwerkt im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 231.

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hier ein weitere Frage mit zwei Richtungen stellen: Ob dieses eben eine tradierte Form der Musik ist, in deren immanenter Kritik wenigstens ein Versuch gewagt werden kann, Reproduzierbarkeit innerhalb der musikalischen Reproduktion zu denken oder, ob es in der Formstruktur der Musik als solcher notwendig angelegt ist? Dann sind Bewältigungsstrategien auch notwendig scheiternder Praktiken eine wesentlich bessere Einsicht in ihre Widersprüche als eine einfache Absage und das stupide Aufführen des immer Gleichen.

Musik über Musik Erinnerung und musikalisches Gedächtnis

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Der Titel ist kein bloßes Wortspiel. Vielmehr sollte mit den beiden Begriffen – kulturelles Gedächtnis und Erinnerungskultur – unterschieden werden, was mehr oder weniger automatisch erinnert wird, von dem, was bewusst gesetzt ist. Aber die Benutzung der beiden Begriffe soll keine Unabhängigkeit suggerieren. Erinnerungskulturen sollen das kulturelle Gedächtnis wachhalten, sie sind jedoch ihrerseits auch als dessen Objektivierung in manifesten Formen zu verstehen.

K ULTURELLES G EDÄCHTNIS Das Gedächtnis ist von einer Vielzahl von Inhalten bestimmt, darunter soziale, politische und kulturelle. Einige Autoren sprechen von kollektivem Bewusstsein. Dieser Begriff geht auf den französischen Philosophen und Soziologen Émile Durkheim1 zurück, der von einem Kollektivbewusstsein sprach und damit die Gesamtheit der Glaubensvorstellungen, Anschauungen und Gefühle meinte, die die meisten Mitglieder einer Gesellschaft

1

Durkheim, Émile, De la division du travail (1893), Über soziale Arbeitsteilung. Studien über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt/M: Suhrkamp 1992, S. 128.

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hegen. Sein Schüler Maurice Halbwachs2 knüpfte an die Idee Durkheims an, dass es unwillentlich sich aufdrängende Handlungen, Gedanken und Gefühle außerhalb der Begründung eines individuellen Bewusstseins gibt. Er prägte den Begriff des ›kollektiven Gedächtnisses‹, in das jedes individuelle Gedächtnis eingebettet ist. Ersteres leistet wichtige Beiträge zur Orientierung im Leben. Denn dieses kollektive Gedächtnis ist vor allem ein soziales Gedächtnis, das auf Beziehungen zu Gruppen, zur Familie, zu Religionsgemeinschaften usw. basiert. Es leistet zudem wichtige Beiträge zur Selbstfindung. Dabei kann der Musikgeschmack einer Gruppe eine wichtige Funktion übernehmen, wie dies in den Jugendkulturen der Fall ist. Nebenbei sei erwähnt, dass Halbwachs von den Nationalsozialisten deportiert und 1945 im KZ Buchenwald umgekommen ist. Die Idee eines kollektiven Bewusstseins stieß auf Kritik, so bei Sigmund Freud. Seine Theorie sah nur ein individuelles Gedächtnis vor, was zu Konflikten mit Carl Gustav Jungs Annahme eines archetypischen Urgrunds führte. In sozialistischen Gesellschaftssystemen, die die Idee eines kollektiven Bewusstseins favorisieren, war Freuds Psychoanalyse oft untersagt. Akzeptanz fand die Idee eines kollektiven Bewusstseins als gemeinsamem Sinnhorizont von Gemeinschaften auch in den Rassenlehren, was wiederum später zu einer gewissen Distanzierung bei deutschen Autoren von diesem Begriff führte. Durch Jan Assmann3 wurde der Begriff des kollektiven Gedächtnisses neu benannt als ›kulturelles Gedächtnis‹ mit ausdrücklicher Distanzierung von den Rassenlehren. Gründe dafür, warum er es nicht regelrecht durch den Begriff des ›sozialen Gedächtnisses‹ ersetzte, lassen sich vielleicht darin finden, dass er das kulturelle Gedächtnis vom ›kommunikativen Alltagsgedächtnis‹ abgrenzte durch seine Alltagsferne. Es ist an zeremonialisierte Spielregeln gebunden. Halbwachs hingegen, von dem Assmann beeinflusst ist, hatte das kollektive Gedächtnis als ein soziales verstanden, und den Besuch einer fremden Stadt nicht nur als individuelle Erfahrung beschrieben, sondern auch als verbunden mit allgemeinem Wissen. Im englischen Sprachgebrauch ist es üblich, von gruppenbasiertem Bewusstsein zu sprechen. Ehe einige Worte zu den Erinnerungskulturen

2

Halbwachs, Maurice, La mémoire collective (1939), Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart: Enke 1967, S. 7, S. 31.

3

Assmann, Jan. und Hölscher, Tonio: Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M: Suhrkamp 1988.

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gesagt seien, die in der Musikwissenschaft zahlreich sind, seien kurze Hinweise zur Funktionsweise des Gedächtnisses eingeschoben, eingeschränkt auf semantische Funktionen, die hier relevant sind. Vorweg die Entschuldigung, dass dieses Kapitel aufzählend und etwas abstrakt auffällt.

I NFORMATIONSVERARBEITUNG

UND

G EDÄCHTNIS

Das menschliche Gedächtnis speichert Informationen, um sie für einen späteren Abruf verfügbar zu halten. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird es gern mit der Festplatte eines Computers verglichen, jedoch funktioniert es in anderer Weise; denn es strukturiert die Informationen. Es ordnet sie, es reduziert und verformt sie entsprechend vorhandenem subjektivem Wissen. Kurzum, es versucht, dadurch zu verstehen. Legendär geworden sind die Experimente, die Frederic Bartlett 1932 durchführte.4 Er las Personen eine indianische Legende von einem Kampf mit Geistern vor (›The war of the ghosts‹), in denen viele dem europäischen Denken fremde Sachverhalte vorkamen. Er stellte fest, dass Details weggelassen, teilweise aber auch passend gemacht wurden. Insgesamt stellte er drei wichtige Prozesse fest: (1) Im Gedächtnis werden Sachverhalte vereinfacht und nivelliert, (2) andere werden akzentuiert, vor allem aber findet (3) eine Assimilation an das vorhandene Wissen statt, d. h., es findet eine aktive Interpretation statt. Die Wissenseinheiten, in die Informationen eingeordnet werden, und aus denen wiederum Schlussfolgerungen gezogen werden, nannte er ›Schemata‹, oder wenn sie Verlaufsformen hatten, ›Skripte‹. Neues wird also verändert gemäß des vorhandenen Wissens. Ohne vorhandene Wissensstrukturen kann man sich durchaus etwas merken, aber nur schwer verstehen und nur wenige Details behalten. Bransford und Johnson5, prüften diese These experimentell, indem sie Personen die Beschreibung eines Cartoons oder der Handlung eines alltäglichen Vorgangs (Wäschewaschen) lesen ließen. Jedoch waren direkte Hinweise vermieden worden (statt Wäsche aufhängen

4

Bartlett, Frederic: Remembering. A Study in in Experimental and Social Psy-

5

Bransford, John. D. und Johnson, Marcia. K.: Contextual Prerequisites for

chology, Cambridge: University Press 1932. Understanding. Some Investigations of Comprehension and Recall, Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior 11 1972, S. 717–726.

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hieß es, Objekte in einer Reihe arrangieren). Die Beschreibungen konnten nur richtig identifiziert werden, wenn man den Cartoon gesehen hatte oder das Thema der Handlung wusste. Die beiden Forscher zeigten mit ihren vielfach wiederholten Experimenten, wie durch vorherige Vermittlung von Wissen Verständlichkeit und damit Behalten bewirkt werden konnte. Gedächtnisinhalte sind im Allgemeinen in das emotionale System eingebettet. Die Forschungen hierzu sind unterschiedlichen Problemfeldern gewidmet, die kurz aufgezählt werden sollen. Allgemein gilt, dass die empfundene Relevanz eines Sachverhalts für die Speicherung im Gedächtnis von Bedeutung ist. Wahrscheinlich handelt es sich dabei aber um einen Aufmerksamkeitseffekt. Dies gilt auch für die ›Flashbulb‹-Erinnerungen (Blitzlichterinnerungen), d.h. für Erinnerungen an Unwichtiges bei einer schockierenden Nachricht, z.B. eine unwichtige Begebenheit zum Zeitpunkt des 9.11.2001. Nach Sigmund Freud wiederum können als unliebsam erlebte Sachverhalte verdrängt werden und zu alltäglichen Fehlleistungen führen, beispielsweise selbst dem Vergessen einer Verabredung. Mehrere Untersuchungen widmen sich dem Behalten, beeinflusst von der Stimmung, in der sich eine Person befand und bestätigen einen Kongruenzeffekt. Die gleiche Stimmung befördert das Behalten eines ähnlichen Erlebnisses. Es sind jedoch nicht nur positive Emotionen, die auf das Gedächtnis wirken. Es deutet sich aber an, dass die Art der Speicherung von Informationen unterschiedlich ist. Schlechte Stimmungen fördern größere Detailgenauigkeit, wahrscheinlich, weil man kritischer eingestellt ist. Dies sind nur ein paar Schlagworte zu einem umfangreichen Kapitel, von dem nur noch ein Aspekt angesprochen werden soll, nämlich wie Erinnerungen situativ mit Gefühlen aufgeladen werden können, um damit eine nachdrückliche Betonung eines Gedächtnisinhaltes zu erreichen. Die Induktion von Gefühlen garantiert ein besseres Behalten. Bei Gedenkveranstaltungen für tragische Ereignisse ist Musik nicht nur ein notwendiger Rahmen, sondern zugleich ein Mittel, um Gefühle auszulösen und zu intensivieren. Sie dient der Steigerung der Relevanz einer Veranstaltung aber auch dazu, das Gedenken in der Erinnerung emotional zu verankern. Vor allem die Musik von Beethoven oder Schubert erweist sich dafür als wirksam. Man denke an Schuberts G-Dur Sreichquartett Nr. 15 (1826), das gleich zu Anfang durch den DurMoll-Wechsel düstere Trauer insinuiert: »Denke Dir einen Menschen, dessen glänzende Hoffnungen zu Nichts geworden sind«, schrieb Schubert

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in einem Brief aus dieser Zeit.6 Beethovens Musik besitzt jene Eigenschaften, die Friedrich Schiller dem Pathetisch-Erhabenen zugeschrieben hatte, nämlich Inbegriff menschlicher Freiheit zu sein, die die Kunst realisiert. Beethovens gefühlsintensivierende Wirkungen verdanken sich einer Kombination musikalischer Mittel, aber nicht im Sinn einer üblichen additiven Übersteigerung. Es handelt sich um ausdrucksteigernde, satztechnische Normverletzungen, wenn beispielsweise eine fallende melodische Linie, ein Lamentobass, mit einem Crescendo verbunden wird wie in Beethovens Klaviersonate Opus 110. Heute Emotionskritik an Musik zu üben, scheint mir nicht angezeigt, denn sie müsste sich gegen solche Veranstaltungen insgesamt richten, die ein Gedenken emotional einzubetten versuchen. Nicht jegliche Musik ist dabei gleichermaßen geeignet. Denn die Wirkung von Musik ist durch nationale und sozio-kulturelle Rahmen begrenzt. Ihre Relevanz hängt nicht allein von ihrer objektiven Struktur ab, sondern auch davon, wie sie bereits ihrerseits emotional kodiert ist. Populäre Musik scheint nur in Ausnahmefällen geeignet, wie etwa Elton Johns Candle in the Wind (1997), was dann zugleich ein riesiges Geschäft mit Millionenverkäufen wurde). Werden negative Gefühle angeregt, etwa bei Gegnern klassischer Musik durch Beethoven, so verhindert dies zwar nicht die Speicherung einer Information. Sie ist aber mit Konflikten besetzt.

E RINNERUNGSKULTUREN

UND - TOPOI

Das kulturelle Gedächtnis zeigt sich in gemeinsamen Ritualen und Sitten (vom Weihnachtsbaum bis zum Gänsebraten). Es objektiviert sich in Texten, Musik und anderen Zeugnissen einer Kultur. So verschaffen Dokumentationen, auch Denkmäler, dem kollektiven Gedächtnis Präsenz. Sie aktualisieren, meist bewusst gesetzt, im Gedächtnis die Vergangenheit. Ausführlich im Kontext Frankreichs hat sich Pierre Nora7 mit Erinnerungsorten als Kristallisationspunkten für das kollektive Gedächtnis befasst, wobei er Ort

6

Franz Schubert in einem Brief (31. 3. 1824), zitiert nach August Reissmann, Franz Schubert, Nachdruck des Originals von 1873, Paderborn. Salzwasser Verlag 2013, S. 149.

7

Nora, Pierre: Les lieux de mémoire, in: Erinnerungsorte Frankreichs, München: Beck.1990/2005.

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als Topos (griech.: Ort) auffasste. Als solche Topoi definierte er mythische Gestalten, Institutionen, Ereignisse (die Tour de France, in Deutschland vergleichbar Fußballspiele), aber auch Kunst (die Marseillaise), Bücher etc. Zu diskutieren wäre, inwieweit sich inzwischen einzelne europäische Länder durch solche Topoi eine symbolische nationale Identität bewahren. Die Theorie von Nora hatte Folgen für die Geschichtswissenschaft, weil seine Forschungen zu den französischen Erinnerungsorten den Unterschied zwischen objektiven historischen Datensammlungen und dem Gedächtnis von Kollektiven deutlich macht, das emotional bestimmt, selektiv und wandelbar ist. Was Nora für die Geschichtswissenschaft reklamiert hatte, ist nichts mehr oder weniger als die aktiv interpretierende Funktion des Gedächtnisses zu berücksichtigen, d. h. die Wissensstrukturen, die mit Emotionen verbunden sind, aber oft bei der Erhebung objektiver historischer Daten keine Rolle spielen. Als Beispiel wäre das Brandenburger Tor zu nennen, das nach seiner Öffnung 1989 als ein Symbol freiheitlicher Orientierung dient. Die im engeren Sinne historisch aufzulistenden objektiven Daten spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Nur wenige wissen noch, was die Quadriga auf seinem Dach bedeutete, und wann sie in welche Richtung deutete. Sie ist unwichtig geworden. Das Studium der Erinnerungskulturen, manifest in Topoi, hat einen anderen Gegenstand als normalerweise von Geschichtswissenschaftlern untersucht wird. Im ersten Fall handelt es sich um Untersuchungen von sozialen Sachverhalten, im zweiten um belegbare Fakten. Noch steht man am Anfang mit entsprechenden Forschungen. Allein schon die Frage, warum ein Ort ein Erinnerungsort wird, wirft große Probleme auf. Und die Wechselwirkung zwischen dem, was in der älteren Forschung als kulturelles Gedächtnis bezeichnet wird und den dafür prägenden Erinnerungstopoi ist so schwierig zu beantworten, wie die nach dem Verhältnis von Huhn und Ei. Denn warum werden manche Gedächtnishalte so dominant, dass sie behalten werden, andere hingegen vergessen? Inzwischen scheint teilweise eine Neuorientierung der Forschung eingesetzt zu haben. Eine Flut von Büchern ist etwa seit 2000 erschienen, die im Titel von Erinnerungskultur, Erinnerungsort etc. sprechen. Noch aber liegen nur wenige Untersuchungen zu den Interaktionen von Inhalten vor, die durch Mahnmale oder Gedenktage angestoßen werden sollen, die aber ihrerseits mit Wissen verknüpft sind, das bereits emotional kodiert ist. Freuds Theorie der Verdrängungsmechanismen bei konfliktreichen Erinnerungen hat im politischen Raum Anwendung gefunden, z.B. in Bezug auf

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den Umgang der Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg mit ihrer Geschichte. Die Formen dieser Erinnerungskulturen haben sich inzwischen jedoch unmerklich gewandelt. Hatte man ursprünglich auch für die Nachgeborenen das Gefühl der Schuld betont, so scheint an dessen Stelle mehr und mehr die Betonung von Scham getreten zu sein. Die Gefühle von Schuld und Scham sind nicht so eng miteinander verwandt, wie es der beliebten Aufzählung in einem Atemzug entspricht. Schuldgefühle sind an konkretes Fehlverhalten gebunden. Aspekte der Scham hingegen, auch nicht individueller sondern gruppenbasierter, entstehen, wenn moralisches Versagen empfunden wird. Wer sich aber schämt weicht gern dem Blickkontakt aus, er vermeidet genau auf die Tatsachen hinzusehen. Besteht hier bezüglich der Erinnerungskulturen ein Forschungsdefizit?

M USIKALISCHE E RINNERUNGSKULTUREN Als musikalische Erinnerungsorte dienen Denkmäler, Briefmarken für das Sammelalbum in Ost-Deutschland Robert, in West-Deutschland Clara Schumann oder mittlerweile sogar Webseiten, wie Beethoven für Kinder8 und vor allem auch Gedenkstätten, wie Wohnungen, etwa von Mozart oder Beethoven. Die beste Gedenkstätte, die ich je gesehen habe, war ein Gasthaus in Heidelberg, nahe der berühmten Brücke, mit der Aufschrift: »Hier hätte Goethe beinahe übernachtet«. Bauliche Gedenkstätten sind in erster Linie Touristenattraktionen. Die Musikwissenschaft i. e. S. hat eine ausgeprägte Erinnerungskultur, von der aber mehr und mehr zweifelhaft wird, ob sie dem kulturellen Gedächtnis nützt. Der Orientierung dienen äußere Anlässe, wie etwa das wiederkehrende Datum der Geburt oder des Todes eines berühmten Komponisten. Wer hat eines der Bücher über Richard Wagner gelesen, die anlässlich seines zweihundertsten Geburtstages 2013 erschienen sind? Etwa, weil es nicht zu dick ist, das von Egon Voss? Oder aber wurde dem von Martin Geck, Friedrich Diekmann, Christian Thielmann, Sven Oliver Müller, Gottfried Wagner, Dietrich Mack, Alexander Busche ein Vorzug gegeben oder von einem anderen der vielen Autoren? Solche Publikationen entsprechen übrigens in der Regel nicht der allgemeinen Neuorientierung der

8

http://www.beethoven-haus-bonn.de/hallo-beethoven/fullscr_e.html

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historischen Forschung an Topoi der Erinnerung. Sie stellen sich selbstbezüglich nur in den Rahmen, den normalerweise Studierende als sog. »Stand der Forschung« aufzuarbeiten haben. Selten gelingt es wirklich, nach 200 Jahren noch neue Fakten zu präsentieren. Was aber in jedem Fall versucht wird, ist eine neue Deutung. Im Fall von Wagner ist dies die Betonung seiner antisemitischen Haltung, die selbstverständlich im Rahmen der deutschen Geschichte ein wichtiger Topos seiner Biografie ist. Eine schwierige grundsätzliche Frage wird damit berührt, nämlich inwieweit ein Werk mit seinem Schöpfer gleichzusetzen ist. Wenig beeindruckt zeigte sich übrigens die Wagner-Gemeinde. Ihr Erinnerungsort war wohl ein anderer, als der der Forscher. Manche allgemeinen Bücher zu Erinnerungsorten lagern zuweilen ein Kapitel meist zur traditionellen Musik ein.9 Es handelt sich um ein schwieriges Kapitel. Denn es gibt wenig kulturelle Erzeugnisse, die so internationalisiert sind wie die klassische Musik. (Der Begriff Globalisierung ist eher für die Verflechtungen der neuen Musik geeignet.) Aber die klassische Musik erfährt im internationalen Kontext unterschiedliche Deutungen. Beethovens 9. Sinfonie, die in Japan wie in Zentraleuropa alljährlich zum Jahreswechsel erklingt, ist zwar überall ein Dokument vom Freiheitsanspruch, in Deutschland mittlerweile aber auch verknüpft mit dem Fall der Berliner Mauer und dessen nachfolgenden Jubiläen. Sie wurde sowohl 1989 mit dem Ersatz des Wortes Freude durch das der Freiheit gespielt, als auch zum 25-jährigen Gedenken. In Japan, zum ersten Mal 1918 von einem Kriegsgefangenenorchester geboten, ist jedoch eine Bedeutungsvariante entstanden, die auf das Ende des Ersten Weltkriegs verweist. Beethoven war nie ein nur nationaler Komponist, trotz der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten oder aber der Verwendung des Schlusschores aus der Neunten Sinfonie als Hymne der bis 1964 gemeinsamen deutschen olympischen Mannschaft. Claude Debussys polemische Äußerungen verhinderten kaum eine ungebrochene Rezeptionstradition in Frankreich, auch literarisch vermittelt durch Honoré de Balzac10, und vor allem durch die Schriften von Romain Rolland. Dabei fanden Anverwandlungen statt, etwa eine Deutung der 5. Sinfonie als Denkmal der Französi-

9

Sibille, Christiane: Musik: Internationale Verflechtungen in: Pim den Boer, Heinz Duchardt, Kreis, Georg und Schmale, Wolfgang [Hg.], Europäische Erinnerungsorte 3. Europa und die Welt, München: Oldenburg 2012, S. 107–114.

10 Vgl. die Novelle Gambara 1837.

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schen Revolution. In England war Edward Elgar eine wichtige Vermittlungsfigur für Beethovens Musik. Die 9.Sinfonie gehört vor allem für die PROM-Konzerte in London zum Standardrepertoire. Ohne Internationalisierung wären Auszüge aus dem Schlusssatz von Beethovens 9. Sinfonie nicht zur Europahymne (offiziell seit 1985) geworden. Freiheit, Friede und auch Brüderlichkeit verbinden sich mit ihr, auch ohne Schillers Worte. Topoi der Erinnerung verweisen durch ihre Wandelbarkeit auf die fundamentalen Funktionen des Gedächtnisses zu adaptieren und zu transformieren Unterschiedliche Formen der Erinnerung zeigen sich auch am Beispiel von Johann Sebastian Bach. Seine Werke können zwar als religiöse Erinnerungsorte interpretiert werden, aber doch weit weniger als die Thomaskirche in Leipzig, weshalb Christoph Krummacher (2010)11 wahrscheinlich für seinen Beitrag zu dem Buch Erinnerungsorte des Christentums den Titel »Leipzig« gewählt hat. In Deutschland ist die Musik von Bach spätestens mit der legendären Aufführung der Matthäuspassion von 1829 durch Felix Mendelssohn-Bartholdy zu autonomer Musik geworden. Ihre metaphorische, religiöse Bedeutung ging aber selbst nicht verloren, als sie 1980 als Ballett auf der Hamburger Opernbühne durch den Choreografen John Neumeier inszenatorisch umgesetzt wurde. Es scheint eher so, dass Bachs Passionen zu einem Symbol von Leid wurden, aber der Hoffnung auf Erlösung Präsenz in der Gegenwart verleihen. Können solche klassischen Symbole heute noch Bedeutung besitzen? Gruppenidentitäten werden gegenwärtig, wie schon angedeutet, generationsspezifisch durch die wechselnden, oft kurzlebigen Szenerien der Popmusik gebildet. Es ist darin nicht zwangsläufig eine Konkurrenz zu sehen zur Notwendigkeit der Pflege des kulturellen Gedächtnisses durch Erinnerungskulturen. Das gegenwärtige Ideal einer »permanenten Gesellschaft«, eines Lebens im ›Hier und Jetzt‹, vergleichbar mit den Börsenkursen und ihren kurzzeitigen Schwankungen, hat der englische Historiker Eric Hobsbawm12 als bedrohlich bezeichnet und den Geschichtswissenschaftlern die Aufgabe zugewiesen, so weit als möglich gegenzusteuern. Der Verlust der Geschichte der Kultur würde letztendlich bedeuten, dass unser kulturelles Gedächtnis nur noch vom Erbe zweier

11 Krummacher, Christoph in: Christoph Markschies/Hubert Wolf [Hg.], Erinnerungsorte des Christentums, München: Beck 2010, S. 301–321. 12 Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München: Hanser 1995, S. 17.

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großer Verwüstungen geprägt wäre, die im 20. Jahrhundert über Europa hinwegfegten, und sich darüber hinaus individuelles Gedächtnis an Moden heftete. Gerade weil in Sachen Musik von der Vergangenheit oft als Müllhaufen der Geschichte gesprochen wird, scheint mir Hobsbawms Überlegung bedenkenswert.

M USIK

ÜBER

M USIK /M ISE

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Die Folgen der zunehmenden Historisierung der Kultur, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte, forderten nach der Wende zum 20. Jahrhundert die Künstler heraus. »Nieder mit dem Tango und dem Parsifal« lautete einer der Schlachtrufe des Futuristen Filippo Tommaso Marinetti, ein Schlachtruf, der auch in anderen Ausprägungen der historischen Avantgarde Gehör fand, vor allem im Dadaismus und bei den amerikanischen Künstlern der 1950er und 1960er Jahre. Weniger auffällig als Schlachtrufe war eine Auseinandersetzung mit der Überlieferung in Gestalt aneignender Umwandlung. Schönbergs Rückgriff auf die Form alter Tanzsätze, die in der Suite op. 25 (1921–23) das Rückgrat der zwölftönigen Satztechnik gewährleisten, wäre als neue Kontextualisierung der Überlieferung zu bezeichnen, vielleicht auch das Bachzitat (»Es ist genug«) in Alban Bergs Violinkonzert. Anton Webern verstand seine Bearbeitung (1934) des sechsstimmigen Ricercars aus Bachs Musikalischem Opfer als Bearbeitung für die Aufführung eines abstrakten Tonsatzes, der ohne Dynamik-, Tempound Instrumentenangaben ist. Weberns Technik, Linien von Tönen durch Instrumente wandern zu lassen, die er selbst in einem Brief als Klangfarbenmelodie bezeichnete13, bedeutete eine Aktualisierung, allerdings weniger im Sinne einer Schönbergschen als einer Wagnerschen Technik. Neue Kontextualisierungen gelangen später Bernd Alois Zimmermann gemäß seiner Theorie einer Kugelgestalt der Zeit, in der Vergangenes und Gegenwärtiges Präsenz haben. Musikalisch bedeutete dies, Zitate in eine verbindende Zwölftonreihe einzulassen. Auch für Rolf Riehm (2014)14 boten

13 Brief an Franz Rederer 16. Mai 1935, in: Webern, Anton von: Perspektives, compiled by Moldenhauer, Hans, [Hg]. von Demar Irvine, Seattle: University of Washington Press 1966, S. 38. 14 Saxer, Marion [Hg.], Rolf Riehm/Texte, Mainz: Schott 2014, S. 83f.

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Zitate und Allusionen eine Möglichkeit aus dem »Müll der Geschichte« verschüttete Utopien zu bergen. Sein Komponieren entspringt jedoch der Erfahrung, sich in einem gedanklichen Fluss eines historischen Zusammenhangs zu befinden. Das Bild erinnert an die Theorie des Bewusstseinsstroms, der nicht gradlinig verläuft und in Riehms Stücken die ›mémoire involontaire‹ mit willentlich gesetzten neuen Klängen verbindet. Mit der Formulierung ›Musik über Musik‹ können Variationen über ein fremdes Thema, Paraphrasen, Bearbeitungen und Instrumentierungen etc. gemeint sein. Durch Theodor W. Adornos Feldzug gegen Igor Strawinsky, den er als parasitär bezeichnete, als »ob die Komponisten nichts mehr Eigenes zu sagen hätten und darum […] ans Verlorene sich festsaugten«15, hat der Ausdruck ›Musik über Musik‹ einen anderen Sinn erhalten. Abgesehen von der implizierten negativen Bewertung, wurde er damit erweitert um stilistische Anleihen und um geschichtliche Implikationen in Stücken, wie sie besonders typisch für das späte Klavierwerk von Johannes Brahms sind.16 Wolfram Steinbeck 17 hatte bezüglich ›Musik über Musik‹ von Selbstreflexion in der Musik gesprochen und sie mit dem von André Gides 1893 in seinem Tagebuch gebrauchten Ausdruck ›Mise en abyme‹ in Parallele gesetzt.18 Gemeint ist damit eine Spiegelung, z. B. eines Wappens in einem Wappen, die sich unendlich fortschreiben lässt. Gespiegelt werden kann jedoch nicht nur etwas innerhalb eines Bildes, sondern auch ein dazugehörender Sachverhalt, der außerhalb steht. Seit der Verwendung des Ausdrucks Mise en abyme, wird gern als Paradebeispiel Diego Velázquez Gemälde Las Meninas (1656) herangezogen, bezüglich dessen vermutet wird, dass im Spiegel das außerhalb stehende Königspaar zu sehen ist. Bilder im Bild, Erzählung innerhalb einer Erzählung ist eine uralte Technik, außerdem ein Spiel im Spiel. Richard Strauß hatte in der Oper Ariadne auf Naxos (1916) davon Gebrauch gemacht. Es erscheint mir sinnvoll die Idee

15 Adorno, Theodor W: Strawinsky und die Restauration, in: Philosophie der Neuen Musik, Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt: Suhrkamp 2003, S. 188. 16 Breyer, Knud: Komponierte Geschichte, 2 Teile, Sinzig: Studio Verlag, 2014. 17 Steinbeck, Wolfram [Hg.2014]: Selbstreflexion in der Musik/Wissenschaft, Regensburg: Bosse. und Gide, André (1893/1948), Journal 1889–1939, Paris: Pléiade, S. 41. 18 Dällenbach, Lucien: Le récit spéculaire. Essai sur la mise en abyme, Paris. Seuil, 1977.

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eines ›Mise en abyme‹ auch für den Fall von Musik über Musik zu nutzen. In den 1970er Jahren wurde erneut vermehrt von Musik über Musik gesprochen. Vor allem die Musik von Schubert forderte die Komponisten zur Reflexion heraus. Durch Dieter Schnebels Schubert Phantasie (1979/rev. 1989) für geteiltes großes Orchester leuchtet der 1. Satz von Franz Schuberts G-Dur Klaviersonate D 894 (1826), die mit geringen Abweichungen motivisch erhalten blieb, aus einem schimmernden, fünf Oktaven umfassenden Klangschleier heraus. Georg Friedrich Haas’ widmete sich mit Torso für große Orchester (2000) der unvollendeten Klaviersonate C-Dur D 840 (1825) von Franz Schubert. Er hörte utopische, weit vorausweisende Klangmomente heraus, die sich durch die Instrumentation in irisierenden Obertönen entfalten. Er setzte nur sehr selten sein beliebtes stilistisches Mittel regelrechter Mikrotöne ein. Weder für Schnebels noch für Haas’ Werk ist der Begriff der ›Bearbeitung‹ trotz des engen Bezugs zur Vorlage nicht geeignet, um die Ausformung zukunftsweisender Aspekte in der Schubertschen Musik zu charakterisieren. Die Spiegelung des Vergangenen im Gegenwärtigen verweist auf eine unfassbare Bedeutung. Ausgerechnet Wilhelm Müller, der lange von Germanisten nur nebenbei spöttisch als »Griechen-Müller« erwähnt wurde, hatte mit der Winterreise die Worte gefunden für das, was Franz Schubert im Innersten bewegte, und für das, was im 20. Jahrhundert Komponisten noch immer bewegte. »Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh ich wieder aus«. Ohne Ziel und ohne Hoffnung ist die Winterreise mit der vergeblichen Suche nach einer Heimat. Auch politische Hoffnungen sind zerstoben: »Es rasseln die Ketten«, und nur übrig geblieben vom vergangenen Herbst ist: »hie und da an den Bäumen manches bunte Blatt zu sehen«. Die existenzielle Bedrohung, die mit dem Künstlerdasein verbunden ist, macht einen großen Teil des Aufforderungscharakters aus, der von der Winterreise auf das zeitgenössische Komponieren ausging: » Was vermeid’ ich denn die Wege, / Wo die ander’n Wandrer gehen/ […] Muss selbst den Weg mir weisen in dieser Dunkelheit«. Rainer Bredemeyer schuf 1984 musikalische Allusionen, obwohl er nur den Gedichtzyklus benutzte. Hans Zender 19 versuchte 1993 eine Interpretation der Winterreise für Orchester einschließlich Mundharmonika und Windmaschine. Heinz Winbeck widmete sich in reduzierter Besetzung 1996 der

19 Ausführlicher vgl.: Enge, Håvard: Music Reading Poetry. Hans Zender’s Musical Reception of Hölderlin, Diss. phil., Oslo 2010.

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Winterreise und schuf 2010 ein Quodlibet Lebensstürme nach Liedern von Schubert. Darüber hinaus existiert von der Winterreise auch eine Fassung für Drehorgel (Matthias Loibner 2009). Allerdings der Auftritt von Schubert in Mauricio Kagels Musiktheater Aus Deutschland (1981) und die Benutzung, von auf den Rhythmus entkernten romantischen Liedern, ist einer anderen Ästhetik geschuldet als die genannten Schubert Referenzen. Kritisch setzt sich Kagel mit der Gleichsetzung von Romantik und gemütvollem Biedermeier auseinander. Die Präsenz des Vergangenen beschäftigt heute viele Komponisten. Das können traditionelle motivische Verarbeitungstechniken sein wie bei Gerald Resch, der Griff nach einer Liedmelodie wie bei Philip Hefti (Variationen) oder Gloria Coates (7. Quartett). Bernhard Lang hingegen artikulierte für seine Verfremdungen von Schuberts Klaviertrio Es-Dur D 928 durch mikrotonale Anreicherungen, Raffungen, Verschiebungen das Problem der Befreiung von subjektiver Autorschaft. Die Reklamation einer Form von Intertextualität trägt jedoch bei ihm eine ausgeprägte personalstilistische Handschrift. Durch seine repetitiven Techniken und die auf Gilles Deleuze zurückgehende Idee, Wiederholung schaffe Differenz, durchkreuzte er das Mozartjahr als reines Gedenkjahr. Nur angedeutet durch einen Hinweis auf Mozart integrierte er bei seinem Musiktheater Odio Mozart / I hate Mozart (2005) in die Besetzung mit Sängern und Orchester zwei Turntablisten. Der Klang wurde von Scratching und Repetition geprägt. Vorwürfe, wie sie einst Adorno gemacht hatte, findet man vor allem in Kritiken von Daniel Smutnys Stücken seit seinem Stilwechsel im Jahre 2006. Von Retromusik oder Neokonservativismus ist die Rede. Smutny bemüht übrigens die Theorie des kollektiven Gedächtnisses von Halbwachs neben der der Intertextualität für seine ausgefeilte Technik des Verweisens. In seinem Musiktheater Ferne Nähe verwendet er einen bekannten und daher semantisch wirksamen Rhythmus, einen Siciliano. Die Besetzung durch ein Oktett als Referenz an Franz Schubert. Die italienische Komponistin Lucia Ronchetti fand eine neue Technik. Sie knüpft zwar wie Salvatore Sciarrino an die Tradition an, weicht aber von dessen Übermalungen mit lasierenden, neuen zart irisierenden Effekten ab. Ebenso auch von dem kräftigen, aber durchscheinenden Auftrag von Lucanio Berio (vor allem im 3. Satz seiner Sinfonia 1968). Sie komponiert nach einer sorgfältigen Exploration, einer Art Kryptoanalyse, ihre Vorlagen von bestimmten Stellen aus in eine andere Richtung weiter, und findet oft

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wieder mit deutlich hörbaren Momenten zurück zum Ausgangspunkt, etwa zu einer Diskantklausel im Fall der Anlehnung an das Werk Lezione di tenebra von Francesco Cavalli. Die verschiedenen Techniken, die Komponisten heute benutzen, um sich auf inhaltlicher und formaler Ebene sowohl mit der Tradition als auch mit gegenwärtigen Problemen auseinanderzusetzen, schaffen nicht zwangsläufig Erinnerungsorte, sondern Aktualisierungen von Vergangenem. Die Probleme des Komponierens, die dabei bewältigt werden sollen, sind, grosso modo gesprochen, vor allem in der Frage nach der Autorschaft und dem nicht mehr rückgängig zu machenden Ausdrucksverlust der Musik zu suchen. Der Schöpfermythos der Autorschaft war schon im 19. Jahrhundert fraglich geworden. »Car Je est un autre. […]. J’assiste à l’eclosion de ma pensée« schrieb 1871 Arthur Rimbaud.20 Die bloße Assistenz des Künstlers beim kreativen Prozess macht zugleich subjektiven Ausdruck unmöglich. Er sollte durch den Anklang an vorhandene Bedeutungen wettgemacht werden. Wechselseitige Spiegelungen entstehen dabei durch einen nicht still zusetzenden Prozess. Ich würde vorschlagen, weniger von Musik über Musik zu sprechen, sondern über einen endlosen Regress, einen musikalischen ›Mise en abyme‹, der Zwischenräume erfahrbar macht, in deren Ferne die beiden Hauptprobleme, Frage der Autorschaft und Ausdrucksverlust, verschwinden. Individualisiert und dadurch jeweils neu sind jedoch die Techniken des Rückbezugs, was auch schon für Strawinskys Montagetechnik gilt. Im Übrigen wenn Adorno vom Stand des Materials sprach, dann hat er nicht neue Klänge oder Formen gemeint, sondern nur eine neue Technik (für ihn aber nicht individualisiert wie heute, sondern beschränkt auf die Zwölftontechnik). Ein Mise en abyme, eine wechselseitige Widerspiegelung von Gegenwärtigem und Vergangenem findet sich nicht nur in der Musik sondern in allen Kunstformen. Und vielleicht gilt generell, was Picasso für seine 58 Gemälde Las Meninas (1957) glaubte, dass er mit der kubistischen Anverwandlung von Diego Velazquez’ Bild eine Gegenwärtigkeit von Kunst ohne Vergangenheit und Zukunft zeigen könnte. Einen Myse en abyme mit Blick in die Unendlichkeit kann man übrigens leicht mit zwei parallel aufgestellten Spiegeln und einer dazwischen gestellten Kerze schaffen. Das

20 Rimbaud, Arthur: Correspondances inédites (1870–71), Vorwort von Roger Gilbert-Lecomte, Paris: Éditions des Cahiers Libres, Brief an Paul Demeny (15. 5. 1871), S. 49–61, hier S. 51.

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Licht wird immer schwächer und verblasst. Der amerikanische Komponist Alvin Lucier ließ mit seinem Werk Music with missing parts. ReOrchestration of Mozarts Requiem (2007) Teile aus Mozarts Requiem live von Orchester und Sängern aufführen. Die Klänge wurden, wie bei seinem berühmten Stück I am sitting in a room (1969), aufgenommen und mehrfach wieder in den Raum ausgestrahlt, bis sie eine Ferne verschwanden, in der die Einzelheiten im Raumklang nicht mehr unterscheidbar waren. Spiegelbilder, in denen nicht mehr zu erkennen ist, was gewesen war, und was gespiegelt ist, verschmelzen Geschichtliches und Individuelles. Vielleicht könnte eine solche Verschmelzung von Altem und Neuem auch eine gute Metapher für das kulturelle musikalische Gedächtnis sein.

Musik als Gedächtnis

Das kulturelle Gedächtnis des Sacre du printemps: Über Archaik und Moderne1 J AN A SSMANN

1986 veröffentlichte der Romanist Hans Robert Jauss eine kleine Schrift mit dem Titel Die Epochenschwelle von 1912.2 Im Kern handelt es sich um die Interpretation von zwei Gedichten von Guillaume Apollinaire, Zone und Lundi Rue Christine, die Ende 1912 entstanden sind und die Jauss in den Kontext ihrer Zeit und der Avantgarde des ästhetischen Modernismus3 stellt. Als Merkmale dieser neuen Kunst nennt Jauss den »Verlust der identitätsverbürgenden Anamnesis«4, also eine Krise des 1986 veröffentlichte der Romanist Hans Robert Jauss eine kleine Schrift mit dem Titel Die 1

Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag, der ihm Rahmen des 100-jährigen Jubiläums des Sacre du Printemps gehalten wurde. Assmann, Jan: »The Cultural Memory of Le Sacre du Printemps«, in: Danuser, Hermann/Zimmermann, Heidy [Hg.]: Avatar of Modernism. The Rite of Spring Reconsidered, London: Boosey & Hawkes 2013, S. 319–335.

2

Jauss, Hans Robert: Die Epochenschwelle von 1912. Guillaume Apollinaire: »Zone« und »Lundi Rue Christine«, Heidelberg: Winter 1986. Für Kritik und Hinweise danke ich außer den Herausgebern Renate Lachmann und Peter Gülke.

3

Ich verwende den Ausdruck »Modernismus« im Sinne des englischen »modernism«, in Bezug auf eine geistige und künstlerische Strömung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, im Unterschied zu »Moderne«/»modernity« als Epochenbezeichnung.

4

H.S. Jauss: Die Epochenschwelle von 1912, S. 10.

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Epochenschwelle von 1912.5 Im Kern handelt es sich um die Interpretation von zwei Gedichten von Guillaume Apollinaire, Zone und Lundi Rue Christine, die Ende 1912 entstanden sind und die Jauss in den Kontext ihrer Zeit und der Avantgarde des ästhetischen Modernismus6 stellt. Als Merkmale dieser neuen Kunst nennt Jauss den »Verlust der identitätsverbürgenden Anamnesis«7, also eine Krise des kulturellen Gedächtnisses. »Tu en as assez de vivre dans l’antiquité grecque et romaine«8 heißt es in Zone und die »Erfahrung der Zerstückelung des Ich in Raum und Zeit«9 also eine Krise der Subjektivität, mit der eine neue Ästhetik der Simultaneität, des ständig zerstückelnden Schnitts und der a-mimetischen Montage einhergeht, die Realitätsaspekte, Zitate und Erinnerungsfragmente einschließen kann. Die »neuartige Dunkelheit« der Texte entspringt nicht einem »verschlüsselten oder mehrdeutigen Sinn, sondern allein dem abrupten (oft nur mit einem unvermittelten ›jetzt‹ angezeigten) Wechsel der Erscheinungen, Visionen, Erinnerungen wie auch der sie gerade so erfahrenden Subjekte.« Zugrunde liegt eine »ästhetische Idee der Welt, die im absolut Neuen ein unvordenkliches Altes wieder erkennen lässt.«10

Die engsten Parallelen zum poetischen Verfahren Apollinaires sieht Jauss im Kubismus, der Auflösung eines Gegenstands in die Vielfalt seiner verschiedenen Ansichten, in der von Picasso 1912 erfundenen CollageTechnik, die Alltagsfetzen wie Zeitungsausschnitte und andere ›objets réels‹ in das Bild einklebt und den Ready-mades, mit denen Marcel Duchamp 1913 beginnt und die durch minimale Transposition Gegenstände

5

Jauss, Hans Robert: Die Epochenschwelle von 1912. Guillaume Apollinaire: »Zone« und »Lundi Rue Christine«, Heidelberg: Winter 1986. Für Kritik und Hinweise danke ich außer den Herausgebern Renate Lachmann und Peter Gülke.

6

Ich verwende den Ausdruck »Modernismus« im Sinne des englischen »modernism«, in Bezug auf eine geistige und künstlerische Strömung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, im Unterschied zu »Moderne«/»modernity« als Epochenbezeichnung.

7

H.S. Jauss: Die Epochenschwelle von 1912, S. 10.

8

Deutsch: »Du hast es satt, in der griechisch-römischen Antike zu leben«.

9

H.S. Jauss: Die Epochenschwelle von 1912, S. 10f.

10 Ebd., S. 11f.

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der Alltagswelt in Objekte der Kunstwelt verwandeln.11 Auch für die deutsche Dichtung und Malerei bedeutete das Jahr 1912 laut Michael Hamburger einen »annus mirabilis«.12 Für die Musik gilt Entsprechendes. »In der Musikgeschichte«, schreibt Jauss, »fällt die fundamentale Zäsur zwischen der klassischen Harmonielehre und der Zwölftonmusik (J.M.Hauer, A.Schönberg) – der spezifische Schnitt zur Musik der Moderne – in die Epochenwende um 1912.«13 Das Jahr 1912 »läßt sich aber nicht erst aus der Rückschau auf das, was aus ihm hervorging«, als Epochenschwelle und Anbruch von etwas radikal Neuen erkennen, sondern wurde schon von »der damals hervortretenden Avantgarde des italienischen Futuristen, französischer Kubisten oder Orphisten, deutscher Expressionisten, angloamerikanischer Imagisten und russischer Kubofuturisten« als Epochenschwelle empfunden und proklamiert.14 Das hebt diese Epochenschwelle vor anderen heraus, die gewöhnlich nachträgliche Konstruktionen des kulturellen Gedächtnisses darstellen und Zäsuren in einem Prozeß schleichenden Wandels konstatieren, die den Zeitgenossen entgangen sind. Epochenschwellen haben nicht den Status historischer Ereignisse.15 Das gilt aber nicht für epochemachende Werke, deren Uraufführung oder Erscheinen im Druck Sensation machten, der Kunst eine neue Richtung wiesen, Diskurse auslösten und durchaus den Status historischer Ereignisse gewannen. In diese Reihe gehört in allererster

11 Ebd., S. 19. Vgl. auch den Marbacher Ausstellungskatalog: Neunzehnhundertzwölf. Ein Jahr im Archiv, Marbach: Dt. Schillergesellschaft 2012. 12 Hamburger, Michael: »1912«, in: Reason and Energy-Studies in German Literature, London: Routledge & Paul 1957, S. 213–236. 13 H.S. Jauss: Die Epochenschwelle von 1912, S. 30. Die Zwölftontechnik im strengen Sinne verwendet Schönberg zwar erst ab 1923, in die Jahre um 1908– 10 fällt aber mit dem II. Streichquartett, dessen Uraufführung 1908 in Wien einen ähnlichen Skandal auslöste wie der Sacre 1913 in Paris, und den GeorgeLiedern 1910/11 seine radikale Trennung von der Tonalität. 14 H.S. Jauss: Die Epochenschwelle von 1912, S. 25. 15 Vgl. Gumbrecht, Hans-Ulrich/Link-Heer, Ursula [Hg.]: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt: Suhrkamp 1985; Herzog, Reinhart/Koselleck, Reinhart [Hg.]: Epochenschwellen und Epochenbewusstsein, Poetik und Hermeneutik XII, München: Fink 1987.

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Linie Strawinskys Le Sacre du printemps, der schon bei seiner Uraufführung als ein epochales Ereignis einschlug. Im Übrigen darf man natürlich diese Wende nicht auf ein einziges Jahr einschränken. Picassos Demoiselles d’Avignon entstand schon 1907, und für das Jahr 1913 gibt es sowohl eine zweibändige Dokumentation der Erscheinungen und Ereignisse europäischer Kunst und Literatur16 als auch Philipp Felix Ingolds bei weitem umfassendste und für unser Thema einschlägigste Darstellung der Epochenschwelle.17 Virginia Woolf bezeichnete »in or about December 1910« als den Moment, wenn »human character changed, making the modern world possible for art.«18 In diesen Jahren entstand auch das 1915 erschienene Buch von Carl Einstein, Negerplastik, das im Bereich der bildenden Kunst die Brücke schlug zwischen Archaik und Moderne.19 Musik und Malerei kamen sich in diesen Jahren auch näher als je zuvor. Das hängt mit dem Aufstieg des Balletts zu einem »der Katalysatoren dieser epochalen Wandlung und zu einem zentralen Feld der Kompositionsgeschichte« zusammen.20 Serge Diaghilev, der in Petersburg und Paris wirkende Impresario zog für die optische Ausstattung seiner Ballette führende Künstler heran wie Matisse, Picasso, de Chirico, Cocteau und andere und brachte auf diese Weise die Künste zusammen. So ist es denn auch alles andere als zufällig, dass Thomas Mann im Doktor Faustus das Teufelsgespräch, in dem Adrian Leverkühn der Durchbruch in völlig neue Dimensionen der Komposition angeboten wird, im Jahre 1912 stattfinden lässt. Was der Teufel als Lösung

16 Brion-Guerry, Liliane: L’annee 1913, Les Formes Esthetiques De L’oeuvre d’art a La Veille De La Premiere Guerre Mondiale: Travaux Et Documents Inedits: 1–2 (Collection D’esthetique), Paris: Klincksieck1971. 17 Ingold, Philipp Felix: Der große Bruch: Rußland im Epochenjahr 1913. Kultur, Gesellschaft, Politik. Beck: München 2000. Ich verdanke Renate Lachmann den Hinweis auf dieses Werk. 18 Köhler, S. M.: »Postmodernismus – ein begriffsgeschichtlicher Überblick«, in: Amerikastudien 22 (1977), S. 19f. zit. nach H.S. Jauss: Die Epochenschwelle von 1912, S. 35. 19 Einstein, Carl: Negerplastik, Kurt Wolff Verlag: Berlin 1915. Zahlreiche ähnlich ausgerichtete Werke russischer Kunsthistoriker aus dieser Zeit zitiert Ingold: Der große Bruch. 2000. 20 Danuser, Hermann: Neues Handbuch der Musikwissenschaft Bd.7, Das Zwanzigste Jahrhundert, Laaber: Laaber Verlag 1984, S. 62–77.

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der Krise anpreist, an der die gesamte neuere Musik und Kunst leidet, ist der Rückgriff aufs Urtümliche: »Wir bieten Bessres, wir bieten erst das Rechte und Wahre, – das ist schon nicht mehr das Klassische, mein Lieber, was wir erfahren lassen, das ist das Archaische, das Urfrühe, das längst nicht mehr Erprobte.«21 Der Sacre ist das klassische Beispiel eines Durchbruchs zum Neuen kraft der Hinwendung zum »Archaischen, dem Urfrühen«. In dieselben Jahre fällt auch eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Archaischen, die kaum weniger neuartig und bahnbrechend ist als die ästhetische und auf diese nachhaltig zurückgewirkt hat.22 Im Jahre 1912 publiziert der Soziologe Émile Durkheim sein Werk über Les formes élémentaires de la religion, in dem er die Riten der australischen Aborigines als Urformen des Religiösen untersucht. Der Philosoph Lucien Lévy-Bruhl legte 1910 mit seinem Buch Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures eine Rekonstruktion des archaischen Denkens vor, die er später in La mentalité primitive (1922) noch ausbaute. 1913 erschien Sigmund Freuds Totem und Tabu, ein weiterer Meilenstein der Moderne, in dem Freud die Forschungen James Frazers und Robertson Smiths zur archaischen Religion mit seiner psychoanalytischen Erforschung der seelischen Archaik (die »archaische Erbschaft«) zusammenbrachte. Schon 1909 war Arnold van Genneps Werk Les rites de passage erschienen, die Grundlegung der modernen Ritualforschung. Thomas Mann hat später in seinem 1926 entstandenen »Vorspiel« zur Josephs-Tetralogie diesen doppelten Abstieg in die Zeit- und die Seelentiefe als Unterweltsfahrt beschrieben. In der Tat nehmen sowohl Frazer als auch Freud in ihren ersten, bahnbrechenden Werken auf die Unterweltsreise des Aeneas Bezug. »Der goldene Zweig« (The Golden Bough), wie Frazer sein 1890 in zwei und 1906–15 in 12 Bänden erschienenes Werk betitelte, ist der Schlüssel, der Aeneas im VI. Gesang von Vergils Aeneis das Tor zur Unterwelt öffnet. Auf dieselbe

21 Mann, Thomas: Doktor Faustus, Frankfurt: Fischerverlag 2007, S. 346. 22 Über die Wechselwirkungen zwischen Kunst und Wissenschaft in der Entdeckung des Archaischen um 1900 siehe Brandstetter, Gabriele: »Ritual as Scene and Discourse. Art and Science Around 1900 as Exemplified by Le Sacre du printemps«, in: The World of Music 40/1 (1998), S. 37–59, bes. S. 40–46. siehe auch Küster, Bärbel: Matisse und Picasso als Kulturreisende. Primitivismus und Anthropologie um 1900, Berlin: Akademie-Verlag 2003.

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Unterweltsfahrt spielt auch Sigmund Freud an, indem er seinem ersten Werk, das die neue Methode der Psychoanalyse vorträgt, der Traumdeutung (1900) einen Vers der Aeneis voranstellt: Flectere si nequeo superos Acheronta movebo »Kann ich den Himmel nicht beugen, so hetz ich die Hölle in Aufruhr«.23 Noch enger als Sigmund Freud bringt C.G. Jung Seelentiefe und Mythologie zusammen; sein entscheidendes, später überarbeitetes Buch in dieser Richtung erschien 1912 unter dem Titel Wandlungen und Symbole der Libido. Die Aufdeckung der archaischen, von Christentum und Aufklärung überlagerten Elemente in den Mythologien der europäischen Völker verstand sich im Licht der Psychoanalyse als eine Erkundung des kollektiven Unbewussten. In einer Rezension des 1922 erschienenen Ulysses von James Joyce bringt T.S. Eliot im Jahre 1923 rückblickend diese spezifisch moderne oder modernistische Hinwendung zum Archaischen auf den Begriff der »mythischen Methode« und deutet sie als eine Reaktion auf die allgemeine Orientierungslosigkeit einer ihrer Traditionen entfremdeten Zeit: »In der Verwendung des Mythos und der durchgängigen Parallelisierung von Jetztzeit und Altertum verfolgt Joyce eine Methode, die andere nach ihm verfolgen werden müssen. […] Es handelt sich um ein Verfahren, dem immensen Panorama von Vergeblichkeit und Anarchie, als das sich uns die Zeitgeschichte darstellt, Form und Sinn zu geben. […] Psychologie, Ethnologie und [J. Frazers] The Golden Bough kamen zusammen, um etwas möglich zu machen, was wenige Jahre zuvor noch unmöglich schien. Anstelle der narrativen Methode sollten wir jetzt die mythische Methode verwenden.«24

23 Vergil, Aeneis VII 312 (Übers. Johannes Götte, München: Heimeran 1955). 24 »In using the myth, in manipulating a continuous parallel between contemporaneity and antiquity, Mr. Joyce is pursuing a method which others must pursue after him. […] It is simply a way of controlling, of ordering, of giving a shape and a significance to the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history. […] Psychology, ethnology, and The Golden Bough have concurred to make possible what was impossible even a few years ago. Instead of narrative method, we may now use the mythical method.« Eliot, Thomas Stearns: »Ulysses, Order, and Myth«, in: The Dial, (11/1923) abgedr. in: Frank Kermode (Ed.): Selected Prose of T.S. Eliot, London: Faber & Faber 1975, S. 175–178. Frick, Werner: ›Die Mythische Methode‹. Komparatistische Studien

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Lange vor Joyce, in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe Strawinskys, praktizierte Andrej Belyi die ›mythische Methode‹ in seinem Roman Petersburg, der gleichzeitig mit Le Sacre 1911–1913 entstand.25 Auf ihre Weise folgen dieser Methode auch Igor Strawinsky, sein Librettist und Bühnenbildner Nikolai Roerich und sein Choreograph Vaclav Nijinsky in der Schöpfung des Sacre du printemps.

L E S ACRE DU P RINTEMPS DES P RIMITIVEN

UND DIE

E RFINDUNG

Der Rückgriff auf die Archaik hat ein doppeltes Gesicht. Auf der einen Seite lässt er sich als ein romantisches Projekt verstehen, das auf den Spuren Herders die ursprünglichsten Lieder und Bräuche der Völker sammelt, und auf der anderen Seite als ein avantgardistisches Projekt, das gegen die Seelenlosigkeit einer der Natur entfremdeten Zeit revoltiert und mit seiner Rückkehr zum Ursprung einen »Auszug aus der entzauberten Welt«26 inszeniert. »Interessante Lebenserscheinungen«, verallgemeinert Thomas Mann, »haben wohl immer dies Doppelgesicht von Vergangenheit und Zukunft, wohl immer sind sie progressiv und regressiv in einem.«27 Der romantische Aspekt ist von einer nostalgischen Sehnsucht nach einer verlorenen Ganzheit bestimmt, dem modernistischen geht es dagegen um die abgründige Fremdheit und Grausamkeit des Archaischen. Im Sacre du printemps kommt beides zusammen. Roerichs Szenario steht eher auf der

zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne, Tübingen: Niemayer 1998. Zu Eliot speziell S. 213–223. 25 Siehe hierzu Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 88–125; in diesem Roman wird »der Petersburgmythos, als Basismythos, in einer Vielzahl anderer Mythen ›gespiegelt‹ und werden die narrative und die stilistische Ebene des Romans von anderen narrativen und stilistischen Formationen mitgeprägt.«, S. 93. 26 So der Titel eines Buches von Norbert Bolz, der die hier gemeinte Sache genau trifft, sich aber auf etwas Anderes bezieht, vgl. Bolz, Norbert: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München: Fink 1989. 27 Mann, Thomas: Doktor Faustus, S. 282f.

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romantischen, Strawinskys Musik, radikal und zuweilen brutal, auf der modernistischen Seite.28 Roerichs antiquarisches Interesse am heidnischen russischen Altertum, die Suche nach einem wahren, vorchristlichen, »wilden« Russland hat etwas durchaus Romantisches, und die wichtigste Quelle, die er benutzt und Strawinsky empfiehlt, Alexander Afanassjews (1826–1871) dreibändiges Werk über »Die poetische Einstellung der Slaven zur Natur« (Poèticheskiye vozzreniya slavian na prirodu, 1866–69) gehört eindeutig in die romantische Tradition.29 Roerichs Verbindung von Neopaganismus und Neonationalismus erinnert nicht zufällig an gleichgerichtete Bewegungen in Deutschland, vor allem die Münchner Kosmiker. Auch die Wiederkehr des heidnischen Kosmotheismus um die Jahrhundertwende ist eine Reaktion auf die Krise der Moderne.30 Hier suchte man Heilung von der »hoffnungslosen Fragmentierung und Isolierung« des »der Erde entfremdeten modernen Menschen«, wie es der Avantgardist Alexander Blok, ein Freund Nikolai Roerichs, in einem Essay mit dem bezeichnenden Titel The poetry of Magic and Spells (1908) ausdrückte.31 Dem russischen Neoprimitivismus, der 1913 seinen Höhepunkt erreichte, ging es darum, »den vorkulturellen, vorkünstlerischen Nullpunkt zu eruieren, an dem Natur und Kultur, Leben

28 Taruskin, Richard: »A Myth of the Twentieth Century: The Rite of Spring, the Tradition of the New, and ‚›The Music Itself‹« in: Modernism/Modernity 2.1, (1995), S. 1–26, betont etwas einseitig den romantischen Aspekt des Sacre und die Kontinuität des Projekts mit dem 19. Jh. und verlegt den eigentlichen Bruch in die frühen 1920er Jahre, als sich Strawinsky selbst energisch von den romantisch-folkloristischen Aspekten des Balletts absetzte und die Modernität der »Musik selbst« betonte. 29 Sehr viel bekannter und auch ins Deutsche übersetzt ist Afanassjews Märchensammlung Narodnye russkie skazki, Moskau 1855–1863, aufgrund derer A. als ›der russische Grimm‹ gilt. Zu N. Roerich siehe Decter, Jacqueline: Nicholas Roerich. Leben und Werk eines russischen Meisters, Basel: Sphinx 1989. 30 Assmann, Aleida: »Pan, Paganismus und Jugendstil«, in: Hans-Joachim Zimmermann [Hg.], Antike Tradition und neuere Philologien. Symposium zu Ehren des 75. Geburtstags von Rudolf Sühnel, Heidelberg: Winter 1984, S. 177–195. 31 Zitiert nach Taruskin, Richard: Stravinsky and the Russian Traditions. A Biography of the Works through Mavra, 2 Bde., Oxford: Oxford University Press 1996, Bd. I, S. 849.

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und Kunst, noch nicht getrennt, sondern im kollektiven mythischen Bewusstsein eins waren.«32 Doch geht nicht nur die Vorstellung einer nostalgisch verklärten, sondern auch die einer fremden und grausamen Archaik auf die Romantik zurück. Hier ist der Name Johann Jakob Bachofens zu nennen. Er war der Vertreter einer dreistufigen Kultur- Evolutionstheorie, die Hetärismus, Matriarchat und Patriarchat heißen oder das tellurische, lunare und solare, also erdhafte, mondhafte und sonnenhafte Zeitalter. In der tellurischen, erdverbundenen Phase »herrscht der Todesgedanke über den des Zeugens und Lebengebens vor«. Dahin gehört auch das Menschenopfer. Die biblischen Erinnerungsspuren an die Opferung alles Erstgeborenen verbinden sich mit dem Frühjahrsfest der Aussaat. In diesem Vorstellungskreis des Tellurischen oder Chthonischen bewegt sich auch die nach eigener Aussage auf eine Art Tagtraum Strawinskys während der Arbeit am Feuervogel zurückgehende Idee vom Todestanz des geopferten Mädchens33 und vor allem Nikolai Roerichs Ausarbeitung dieser Idee zu einer Bilderfolge von Frühlingsriten »aus dem heidnischen Russland«. Bachofen rekonstruiert oder vielmehr phantasiert die tellurische Phase mit sehr viel Liebe und Einfühlungsvermögen, aber als eine zu überwindende Kulturstufe. Er postuliert, auch darin ein Kind seiner Zeit, die Dynamik des Fortschritts, der die kulturelle Entwicklung antreibt zu höheren Stufen, vom Erdhaften zum Mondverbundenen und schließlich Sonnenhaften. Andererseits aber betont er die gegenläufige Dynamik des Rückfalls, von der der Fortschritt ständig bedroht ist. Diese Tendenz und Gefahr einer Regression in den Hetärismus sieht Bachofen in der Gestalt des Gottes Dionysos verkörpert. Dionysos ist bei Bachofen ein Gott des Rauschs und der Sinnenlust; eine »Heimsuchung« und ein Rückfall in den längst überwundenen Kulturzustand des Hetärismus.34 Bei Nietzsche erscheint dann in der Geburt der Tragödie (1872) mit ihrer zukunftsweisenden Engführung von Ritual und Musik

32 P.F. Ingold: Der große Bruch, S. 180f. 33 Roerich kommt wohl (trotz eigener Aussage) als Erfinder des Motivs nicht in Betracht, weil er zu sehr dem Ideal archäologischer Authentizität verpflichtet war, um auf ein so romantisch-imaginatives Ritual wie den Todestanz eines erwählten Mädchens zu verfallen. 34 In eine ähnliche Richtung wird dann, worauf unten noch eingegangen wird, Adornos Kritik am Sacre gehen.

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gerade der Kult des Dionysos als die Urszene der abendländischen Kunst und das Archaische als Quelle schöpferischer Erneuerung. Für die russische Avantgarde repräsentieren die Skythen, dieses asiatische Reitervolk, das durch reiche Bodenfunde vom 9. vorchristlichen bis zum 3. nachchristlichen Jahrhundert im Gebiet der heutigen Ukraine bezeugt ist und schon die Phantasie der Griechen stark beschäftigt hat, die tellurische, todes- und fruchtbarkeitsverbundene Archaik, stammen doch so gut wie alle Funde (von oft atemberaubender Schönheit und Kostbarkeit) aus Grabhügeln (Kurganen). Skivstvo, »Skythianismus« nennt sich die Kunstrichtung eines »neuen Barbarismus«35 als deren prominentester Vertreter auf musikalischer Seite der junge Sergej Prokofjew mit seiner Skythischen Suite (1915) hervortritt. Ein anderes Ideal des modernistischen Archaismus, das in Roerichs und Strawinskys Konzeption des Sacre zum Ausdruck kommt, ist ›Stichiya‹, Unmittelbarkeit, d.h. Präsentation anstatt Repräsentation, Vollzug anstatt Erzählung. Darauf wird im zweiten Teil dieser Studie im Zusammenhang der Gedächtnisbeziehung von Musik noch zurückzukommen sein. Roerich und Strawinsky ging es um »eine unmittelbare Darstellung des Altertums ohne ein bestimmtes dramatisches Thema«. Was sie zeigen wollten, war keine Geschichte (»there is no plot«), sondern ein Mysterium: »the mystery of the great upsurge of creative force of spring.« Daher sollte aus der Choreographie jede Form narrativer Pantomime verbannt werden, wie sie im Feuervogel noch eine so bedeutende Rolle spielte.36 »›Frühlingsopfer‹ ist kein ›Ballett‹«, notierte denn auch Sergej Wolkonskij. »Es ist ein Ritual, eine altertümliche kultische Handlung.«37

35 R.Taruskin: Stravinsky and the Russian Traditions, S. 855. 36 R.Taruskin: Stravinsky and the Russian Tradition, S. 865. Natürlich ist Gabriele Brandstetter (s. Anm. 12) darin Recht zu geben, dass es sich beim Sacre nicht um den Vollzug, sondern die Repräsentation eines Rituals handelt, aber – das macht sie vollkommen deutlich – auf keinen Fall im Medium des klassischen Balletts, dessen Formensprache in V. Nijinskys Choreographie auf den Kopf gestellt und zerstört wird, um dem Ausdruck des Wilden und Primitiven Raum zu geben. 37 Fürst Sergej Wolkonskij: »Die Ballets russes in Paris«, zit. nach P.F.Ingold, Der große Bruch, 562. Natürlich ist Gabriele Brandstetter (s. Anm. 13) darin Recht zu geben, dass es sich beim Sacre nicht um den Vollzug, sondern die Repräsen-

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Modelle seiner Tableaux de la Russie païenne suchte Roerich aber weniger bei den Skythen als vielmehr in der Folklore vor allem der nördlichen und westlichen Peripherie Russlands, in Litauen und Weißrussland, wo sich mehr Survivals heidnischer Riten und Bräuche erhalten haben als im intensiv christianisierten ›heiligen Russland‹ selbst. Das Frühlingsfest Semik und das Fest der Johannisnacht Kupala werden noch heute mit rituellen Chortänzen, sogenannten chorovod gefeiert, wie sie auch im Sacre vorkommen. Ursprünglich hatten Roerich und Strawinsky auch an eine Johannisnachtfeier gedacht. Erst später wurde von Sommer auf Frühling umgeschaltet, wenn die Kräfte der Erneuerung und Fortpflanzung erwachen. In dieser Phase heißt die Sonne yarilo, von yariy »glühend«. Afanassjew beschreibt das Wesen des Gottes dieser Sonnenphase als »frühlingshaftes Licht und Wärme, junge, heftige, gewaltsam erwachende Kräfte, erotische Leidenschaft, Wollust und Befruchtung – Vorstellungen, die untrennbar mit den Manifestationen des Frühlings und seiner erschreckenden Phänomene verbunden sind«38

Das Alter dieser Bräuche wird durch die mittelalterlichen Chroniken bezeugt, die sie aus kirchlicher Sicht aufs Heftigste verdammen. Diese Menschen, heißt es in der ›primary chronicle‹»lebten in den Wäldern wie die Tiere … es gab keine Hochzeiten zwischen ihnen, sondern nur Spiele zwischen den Dörfern. Wenn sich die Leute zu Spielen, Tänzen und allen anderen teuflischen Lustbarkeiten versammelten, raubten sich die Männer

tation eines Rituals handelt, aber – das macht sie vollkommen deutlich – auf keinen Fall im Medium des klassischen Balletts, dessen Formensprache in V. Nijinskys Choreographie auf den Kopf gestellt und zerstört wird, um dem Ausdruck des Wilden und Primitiven Raum zu geben. 38 Afanasyev, Alexander N.: Poèticheskiye vozzreniya slavyan na prirodu, 3 vols. Moskau: Sovremennyj Pisatel’ 1995, S. 1865–69 nach R. Taruskin: Stravinsky and the Russian Traditions, S. 882: »vernal light and warmth, youthful, impetuous, violently awakening forces (of sexuality), erotic passion, lasciviousness and fecundation: ideas inseparable from the manifestations of spring and its terrifying phenomena.«

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ihre Frauen.«39 Diese Stelle liegt im Sacre den Nummern ›Jeux des cités rivales‹ und ›Jeu du rapt‹ zugrunde und beschreibt genau, was Bachofen unter Hetärismus versteht.Ein Menschenopfer ist in diesem Zusammenhang jedoch nicht bezeugt. Yurij Sokolov erwähnt die Verbrennung einer »zeremoniellen Strohpuppe, die auch durch einen Baum, eine Birke ersetzt werden kann. Manchmal, vor allem in der Ukraine, wird die zentrale Rolle auch von einem Mädchen gespielt, das mit einer Girlande geschmückt ist. Um sie herum werden Chortänze (khorovod) aufgeführt und zu ihren Ehren Lieder gesungen.«40

Afanassjev beschreibt ähnliche Bräuche aus Weißrussland im Zusammenhang des Johannisfests Kupala. »In der Morgendämmerung des Johannistages wählen die Bauernmädchen die Schönste aus ihrer Mitte, ziehen sie nackt aus und umwinden sie von Kopf bis Fuß mit Girlanden. Dann machen sie sich in den Wald auf, wo Dzevko-Kupalo (wie die Erwählte genannt wird) Kränze verteilen muss, die im voraus geflochten wurden. Sie muss sich blind an diese Aufgabe machen, während sie ein fröhlicher chorovod der Mädchen umringt. Auf der Grundlage der Kränze werden Vorhersagen getroffen: ein grüner Kranz bedeutet ein reiches und verheiratetes Leben, ein verwelkter Kranz sagt Armut und unglückliche Heirat voraus.«41

39 »living in the forests like the very beasts …there were no marriages between them but simply games between the villages. When the people gathered for games, for dancing, and for all other devilish amusements, the men on these occasions carried off wives for themselves…« (Primary Chronicle), nach R. Taruskin: Stravinsky and the Russian Traditions, S. 884. 40 Sokolov, Yurij: Russian Folklore, Hartboro, PA: Folklore Associates 1966 (Russkij fol’klor, Moskau 1938), S. 196. 41 »Among the Byelorussians, with the dawning of St Johns Day, the peasant girls choose the most beautiful maiden from their midst, strip her naked, and wind her round with fine garlands from head to toe. Then they set off for the forest, where Dzevko-Kupalo (for that is what the chosen maiden is called) must distribute wreaths among her friends, which have been prepared in advance. She sets about this task blindfolded, while around her a merry maiden’s khorovod starts up. Auguries are made on the basis of who gets which wreath. A living wreath vouchsafes a rich and happy married life, while a dead, withered one for-

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Diese Stelle ist wohl das Vorbild für die ›augurs printanières‹ und die ›glorification de l’Élue‹. An diesen und vielen anderen Beispielen zeigt sich Roerichs Bemühen um archäologisch-ethnographische Authentizität seiner Bilder aus dem heidnischen Russland. In seinem Werk verbanden sich die künstlerische und die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem ›Urfrühen‹, wie sie für die Epochenwende um 1912 insgesamt charakteristisch ist.

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Die Musik unterhält als Zeitkunst vielfältige Beziehungen zum Gedächtnis, von denen ich in diesem Zusammenhang drei herausgreifen möchte: (1) Die Rolle der Erinnerung in der Organisation des musikalischen Kunstwerks, (2) seine Formen des Verweises auf Vergangenheit außerhalb seiner und (3) sein Nachleben im kulturellen Gedächtnis. Was den ersten Aspekt angeht, entwickelt ein musikalisches Werk von einigem Umfang gewissermaßen sein eigenes Gedächtnis, indem es sich in seinem Verlauf in verschiedenen Formen wörtlicher oder variierender Wiederaufnahme ›erinnert‹ an das, was vorherging. Die Musik konstituiert in ihrem Verlauf einen Erinnerungsraum, in dem Ereignisse Folgen haben, Motive gleichsam Schicksale durchmachen, sich etwas entwickelt und auflöst. Natürlich geht es hier immer um die Wahrnehmung und das Gedächtnis des Zuhörers und nicht der Musik selbst. Dabei handelt es sich aber um den impliziten, also dem Kunstwerk immanenten und seine Form und Struktur mitbestimmenden Zuhörer. Diese Gedächtnisbezogenheit gilt für alle Zeitkunst, für das musikalische Kunstwerk aber noch in anderem Sinne als das sprachliche, da hier die Möglichkeiten semantischer Referenz weitgehend entfallen. Daher entwickelt sie Formen der Selbstreferentialität, die in diesem Umfang der Dichtung fremd sind. So wird die Gedächtnismetapher dem musikalischen Kunstwerk sowohl hinsichtlich seines Zeitaspekts als auch seiner inneren Semiose gerecht, seinen Möglichkeiten, durch Rückbezüge und interne Anspielungen Bedeutung zu erzeugen und ein Gedächtnis seiner eigenen Vergangenheit auszubilden, eine Art von Identität, die durch die verschie-

tells poverty and an unfortunate marriage.« (Afanassjew Bd. 3, S. 723 nach R. Taruskin: Stravinsky and the Russian Traditions, S. 885).

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denen Stadien seiner Entwicklung eine ästhetische Form und Einheit erzeugt. Die Form von Erinnerung, die Strawinsky im Sacre bevorzugt anwendet, ist der Verweis auf Kommendes, der ›annoncierte Auftritt‹ von Themen und Motiven. So erklingt z.B. ein Motiv, das fast die ganzen augures printaniers hindurch wiederholt wird, bereits in der vorhergehenden Introduktion und wird dort in den Takten 4f. und 7–9 nach [12] von den 1. Vl. pizzicato vorgetragen, bevor es dann in dem folgenden Stück nach 16 Takten wieder auftritt und ostinat wird. In gleicher Weise hat, um ein weiteres Beispiel zu nennen, das charakteristische Thema in parallelen Terzen, das die Posaunen in [28] Takt 5 erstmals anstimmen (bis [30]) erst im nächsten Stück (rondes printanières) ab [50] Takt 3 seinen eigentlichen Auftritt, der sich dann ab [53] geradezu triumphal durchsetzt und auch in dem anschließenden jeu des cités rivales in [60]–[62] sowie [64]f. nachklingt. Auch das Thema der cercles mystérieux [91]ff. erklingt bereits in der Introduktion zum II. Teil 2 Takte vor [82] (und dann in [83], [84], [89]). In dem Netz zahlreicher derartiger Vor- und Rückverweise konstituiert sich die Erinnerung und damit die Identität des Werks. Gerade diese gedächtnisförmige Identität nun hat Th. W. Adorno dem Sacre abgesprochen: »Solche Identität zu umgehen ist eines der primären Anliegen von Strawinskys Technik archaisch-musikalischer Bilder. Gerade weil jedoch das Motiv selber noch nicht ›da‹ ist, werden die verschobenen Komplexe immerzu wiederholt, anstatt daß aus ihnen, wie es in Schönbergs Terminologie heißt, Konsequenzen gezogen wären. Der Begriff der dynamischen musikalischen Form, welcher die abendländische Musik von der Mannheimer bis zur gegenwärtigen Wiener Schule beherrscht, setzt eben das als identisches, geprägtes festgehaltene, ob auch unendlich kleine Motiv voraus. Seine Auflösung und Variation konstituiert sich einzig gegenüber dem in Erinnerung bleibend Bewahrten. Musik kennt nur um so viel Entwicklung, wie sie ein Festes, Geronnenes kennt. Die Strawinskysche Regression, die dahinter zurückgreifen möchte, ersetzt eben darum den Fortgang durch die Wiederholung. […] Strawinsky unterscheidet sich vom subjektiv-dynamischen Prinzip der Variation eines eindeutig Gesetzten durch eine Technik permanenter Ansätze, die vergeblich gleichsam nach dem tasten, was sie in Wahrheit nicht erreichen und nicht leisten

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können. Seine Musik weiß von keiner Erinnerung und damit von keinem Zeitkontinuum der Dauer. Sie verläuft in Reflexen.«42

Was Adorno hier im Blick hat, ist etwas anderes als das, was ich oben als eine Form musikalischer Erinnerung beschrieben habe. Dieser Unterschied lässt sich vielleicht anhand der Begriffe ›Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten‹ verdeutlichen, die Freud als Beitrag zur psychoanalytischen Behandlungstechnik eingeführt hat.43 In Adornos Einschätzung herrscht im Sacre nur Wiederholen, aber kein Erinnern und Durcharbeiten. Für ihn steht »Strawinskys Schockmusik unter Wiederholungszwang«.44 Zweifellos spielt im Sacre ›Wiederholen‹, der erinnerungslose Puls der irregulären Rhythmen und der ständig wiederholten ostinaten ›Zellen‹, die dominierende Rolle. Es gibt aber auch Themen, die sich über 4–8 Takte entfalten und eine durchaus distinkte Gestalt gewinnen, echte, sangbare und durch ihr mehrfaches Auftauchen eindringliche Melodien, die sich im Gedächtnis des Hörers festsetzen und jedem nach dem Erlebnis des Sacre in Erinnerung bleiben. Doch würde Adorno auch dies unter ›Wiederholen‹ subsumieren. Was er vermisst und dem Stück als »Erinnerungslosigkeit« vorwirft, ist offenkundig das Element ›Durcharbeiten‹. Was man darunter verstehen könnte, macht Adorno im Zusammenhang der These klar, Strawinsky würde im Sacre die Zeit verräumlichen, den »temps espace gegen den temps durée ausspielen.«45 Diese »Verfahrensweise […] macht sich zum Anwalt von Rationalisierung im Sinn erinnerungsloser Meß- und Zählbarkeit.«46 Musik »wird zum Parasiten der Malerei degradiert.« Musik, »die Zeit in sich aufnimmt« kennt demgegenüber »den Übergang, die Steigerung, den Unterschied von Spannungs- und Auflösungsfeld, von Exposition und Fortsetzung, von Frage und Antwort«47 Das Ideal des Durcharbeitens im

42 Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 131. 43 Freud, Sigmund: »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten« (1914), Studienausgabe, Ergänzungsband, Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt 1982, 207– 215. 44 Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik , S. 163. 45 Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik , S. 176. 46 Ebd., S. 176f. 47 Ebd., S. 178.

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Sinne motivischer Arbeit und entwickelnder Variation verlegt das Fortschrittsideal in das Zeitkunstwerk selbst: es soll nicht nur über seine Vorgänger, sondern auch innerhalb seines eigenen Verlaufs über seine Anfänge, die Exposition, fortschreiten. Durcharbeiten bedeutet für Adorno die Verabsolutierung der ›Durchführung‹, jenes Elements des klassischen Sonatensatzes, das bei Beethoven »zum Zentrum der gesamten Form« wird. Bei Brahms schließlich »gibt es nichts Unthematisches mehr«. Schönberg nimmt diese »Beethoven-Brahmsische Tendenz« auf und »kann das Erbe der klassischen bürgerlichen Musik beanspruchen«.48 Darin sieht Adorno die normative Form, wie Musik Zeit in sich aufzunehmen hat. Diese Form der Zeit, Entwicklungszeit, Fortschrittszeit, ist zweifellos genau das, was Strawinsky im Sacre destruieren und vermeiden wollte, mit derselben Konsequenz wie die avantgardistische Malerei sich von der Zentralperspektive und der avantgardistische Roman (Petersburg, Ulysses) von der linearen Narrative emanzipierten.49 Daher gibt es im Sacre zwar über die ostinate Wiederholung hinaus auch erinnerungsstiftende Wiederaufnahmen von Themen über größere Abstände hinweg, das muß gegen Adorno betont werden, aber, und darin wird man Adorno Recht geben, ohne variierende Entwicklung und Durchführung dieser Themen. Was Strawinsky anstrebt, ist Zeit als Gegenwart: »Die Musik«, schreibt er in seinen Erinnerungen (1936), »ist der einzige Bereich, in dem der Mensch die Gegenwart realisiert. Durch die Unvollkommenheit unserer Natur unterliegen wir dem Ablauf der Zeit, den Kategorien der Zukunft und der Vergangenheit, ohne jemals die Gegenwart ›wirklich‹ machen zu können, also die Zeit stillstehen zu lassen.«50

Das entspricht genau dem Prinzip der Stichiya, von dem oben die Rede war: Herstellung, nicht Darstellung. Vollzug, nicht Erzählung. Der pro-

48 Ebd. , S. 57–59. 49 Vgl. aber Vlad, Roman: »Reihenstrukturen im Sacre du Printemps«, in: Metzger, Heinz-Klaus/Riehn, Rainer [Hg.]: Igor Strawinsky, Musik – Konzepte 34/35, München: edition text+kritik 1984, S. 4–64, der das gesamte Werk als Entfaltung einer Keimzelle, des »ostinaten« Motivs des–b–es–b erklärt. 50 Igor Strawinsky. Leben und Werk – von ihm selbst, Zürich: Atlantis-Verlag und Mainz: Schott 1957, S. 59.

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grammatischen Flächigkeit der modernen Malerei entspricht die ›Räumlichkeit‹ von Strawinskys Musik mit dem gleichen Effekt der Eskamotierung des Subjekts als dem Bezugspunkt sowohl der Perspektive als auch der Entwicklungszeit. Im Sacre tritt dies Prinzip so besonders deutlich hervor, weil es im Dienst der Idee steht, das Archaische, das ›Urfrühe‹ so sinnfällig wie möglich zu beschwören. Darin liegt die zweite Form der Beziehung zwischen Musik und Zeit. Ein Musikwerk kann nicht nur an seine eigene »Vergangenheit«, sondern auch an andere Musik erinnern. Hier kommt nun die Archaik ins Spiel in Form der oft nur bruchstückhaft zitierten Volksmelodien und Motive, die Strawinsky verwendet, um das »heidnische Russland« musikalisch erstehen zu lassen. Strawinsky verwendete sie aber nicht als Zitate, sondern nach Kräften und bis zur Unkenntlichkeit anverwandelt und integriert in seine durchaus neue Musik als eine Art imaginäre Volksmusik.51 Das oben als Beispiel für Wiederholung erwähnte »ostinate Motiv«, das in den augurs printaniers über hundertmal auftritt und schon in der Introduktion anklingt, geht offensichtlich, wie Roman Vlad gezeigt hat, auf das Lied der Wolgaschiffer zurück, das Strawinsky dem postzaristisch-präbolschewistischen Russland als Staatshymne vorschlug.52 Zur Evokation des Archaischen greift Strawinsky neben russischen Volksliedern, die er vermutlich im Kopf hatte, vor allem auf litauische und weißrussische Melodien aus der (ihm wohl von Roerich empfohlenen) Sammlung von Anton Juszkiewicz zurück.53 Diese Anleihen an der Folklore sind von Taruskin54, Hill55 und anderen sorgfältig identifiziert worden und müssen hier nicht noch einmal behandelt werden. Das Interessante dieser Verwendung folkloristischen Materials ist aber, dass Strawinsky in späteren Jahren, in seiner neoklassischen Periode, in der er sich von seinen russischen Werken abgewandt hat, davon nichts mehr wissen wollte und nur das Fagott-Motiv der Introduktion

51 Hill, Peter: Stravinsky: The Rite of Spring, (= Cambridge Music Handbooks, Bd. 11), Cambridge: Cambridge University Press 2000, S. 114. 52 Vlad, a.a.O., 16–18. Vlad zitiert das Lied in einem eigenen Klavierauszug nach Strawinskys Arrangement für Bläser und Schlagzeug (1917). 53 Juszkiewicz, Anton und Badouin de Courtenay, Jan N.: Melodje ludowe litewskie, Krakau 1900. 54 R. Taruskin: Stravinsky and the Russian Tradition, S. 891–966. 55 P. Hill; Stravinsky: The Rite of Spring, S. 35–39.

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als Anleihe an genuiner (in diesem Fall litauischer) Volksmusik gelten ließ.56 Offenbar lag ihm daran, jede Assoziation mit dem russischen Neopaganismus und Neonationalismus zu vermeiden wie auch mit der spätromantischen russischen Musik und ihrer exzessiven Verwendung volkstümlicher Motive. Dass das »russische Heidentum« irgendetwas mit der ursprünglichen Idee des Sacre zu tun haben könnte, wurde von Strawinsky seit 1920 heftig abgestritten.57 Die Musik sei zuerst dagewesen; das heidnische Setting sekundär. In Wahrheit ist im 20. Jahrhundert kaum eine andere Musik, es sei denn von Strawinsky selbst, geschrieben worden, die stärker und eindeutiger vom Geist der urtümlich russischen Musik geprägt ist, was auch in Les Noces deutlich wird. Etwas Entsprechendes, ihre Sättigung, sozusagen, mit dem Gedächtnis der verschiedensten Musiktraditionen, gilt für das gesamte Œuvre Igor Strawinskys und verbindet seine russische mit seiner neoklassischen und allen späteren Perioden seines Schaffens. Nie ist eine gedächtnis-gesättigtere Musik geschrieben worden. Strawinsky, überliefert Pierre Boulez, habe immer gesagt, dass für ihn die Tradition das Entscheidende sei und dass er die Tradition fortführe.58 Tradition ist hier nicht im akademischen Sinne und nicht im Sinne einer bestimmten Tradition, z.B. der Wiener Schule, verstanden, sondern im Sinne eines umfassenden musikalischen Kulturgedächtnisses, das in jedem neuen Werk in neuer Beleuchtung aktiviert wird. Das erinnert an Verfahren des russischen Akmeismus, wie sie Renate Lachmann beschreibt: »Die fremden Texte, sofern sie durch Strategien des Zitats, der Allusion, der Syllepse, des Anagramms etc. in den gegebenen Text eingebracht werden, begründen die Heterogenität des akmeistischen Textes. Die Heterogenität, die zugleich die Vorstellung der Kopräsenz der Texte abbildet, bricht nun aber den Einzeltext auf. Das heißt, im Verweis auf die fremden Texte überschreitet der Text seine eigenen Grenzen und

56 Nr. 157 der Sammlung Melodje ludowe litewskie von A. Juszkiewicz. 57 Siehe hierzu Walsh, Stephen: The Shaman, the Sage, and the Sacrificial Victim – und Griffiths, Paul: Remembering »The Rite of Spring« ot »Ce que je n’ai pas voulu exprimer dans »Le Sacre du printemps« in Danuser, Hermann u.a. [Hg.]: Avatar of Modernity. The right of spring reconsidered. 58 Boulez, Pierre/Sacher, Paul/Schuh, Oskar Fritz: »Persönlichkeit und Erscheinung. Gesprächsrunde zum 80. Geburtstag«, in: Lindlar, Heinrich: Igor Strawinsky, Frankfurt: Suhrkamp 1982, S. 155–164, Zitat 159.

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öffnet sich in den Text der Kultur, den Makrotext. […] So entwickelt der akmeistische Text einen eigenen »Chronotop«, der die geschichtliche Zeit und ihre Markierungen dementiert.«59

Schon 1910 schrieb Andrej Belyi: »Das Neue an der Gegenwartskunst besteht lediglich in der erdrückenden Masse alles Vergangenen, das auf einmal vor uns hochgeschwemmt wird; wir erleben im Augenblick alle Jahrhunderte und alle Nationen; das Leben der Vergangenheit zieht an uns vorüber.«60 So wie Ossip Mandelštam von »Sehnsucht nach der Weltkultur«61 war Strawinsky vom Wunsch getrieben, »alles was er liebt, sich zu eigen zu mache«.62 Es ist vollkommen evident und gegen Strawinskys eigenes Urteil zu betonen, dass die Werke von Le Sacre bis Les Noces einen von der musikalischen russischen Volkskunst bestimmten Gedächtnisraum realisieren. Sein Sohn, der Maler Theodore Strawinsky, bringt diesen Zug mit der Erfahrung des Exils ab 1914 in Verbindung: »Ein verständliches Heimweh erklärt wohl hinlänglich, warum Strawinsky damals so sehr für die russische Volkskunst schwärmte, deren unerschöpflichen Reichtum er liebevoll erforschte und auswertete. Diese Volkskunst lag ihm wahrhaft am Herzen.«63

59 Lachmann, Renate: »Text und Gedächtnis. Bemerkungen zur Kulturosophie des Akmeismus«, in: Gumbrecht, Hans-Ulrich/Link-Heer, Ursula: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur – und Sprachhistorie, Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 283–299, Zitat S. 287. Der Akmeismus entsteht um 1910 und endet 1966 mit dem Tod von Anna Achmatova. 60 Belyi, Andrej: Simvolizm, Moskau: 1910, zitiert nach R. Lachmann: Gedächtnis und Literatur, S. 87 Anm. 57. 61 Ebd., S. 286. 62 P. Boulez in Boulez, Pierre/Sacher, Paul/Schuh, Oskar Fritz: »Persönlichkeit und Erscheinung. Gesprächsrunde zum 80. Geburtstag«, in: Lindlar, Heinrich: Igor Strawinsky, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 155–164, Zitat 159. 63 Strawinsky, Theodor: »Von Kindheit und Kriegszeit«, in: Lindlar, Heinrich: Igor Strawinsky, Frankfurt, Suhrkamp, S. 49–54, Zitat S. 53.

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DU PRINTEMPS UND DAS KULTURELLE G EDÄCHTNIS Drittens nun – und diese Gedächtnis-Beziehung hat das musikalische Kunstwerk mit allen anderen Arten von Kunst gemeinsam – hat ein Musikwerk die Chance, in das kulturelle Gedächtnis eines Landes, einer Kultur oder gar einer globalisierten Kulturgemeinschaft einzugehen. Was die Bedeutung eines Musikstücks im kulturellen Gedächtnis angeht, muss man zwischen ›Kanon‹ und ›Repertoire‹ unterscheiden. Zum Repertoire gehört ein Stück aufgrund seiner Beliebtheit, in den Kanon dagegen gelangt es durch intertextuelle Bezugnahmen in anderen Musikstücken und vor allem einem kritischen, kommentierenden und didaktischen Diskurs, der sich um es herum entfaltet. Kaum ein Musikwerk des 20. Jahrhunderts ist intensiver diskutiert und kommentiert worden als Le sacre du printemps. Kaum ein Werk hat einen größeren Einfluss auf andere Komponisten ausgeübt, kaum einem anderen Werk wird seit langem und bis heute ein vergleichbarer Rang eines musikgeschichtlichen Meilensteins zuerkannt. In seiner Bedeutung als Wendepunkt der Kunst und Meilenstein der Moderne ist Strawinskys Ballett nur mit Picassos Demoiselles d’Avignon (1907) zu vergleichen. Beiden Werken gemeinsam ist der Primitivismus: die Verwendung archaischer Urformen, bei Picasso die afrikanischen Masken anstelle der Gesichter bei einigen Figuren, bei Strawinsky die Dominanz stampfender irregulärer Rhythmen und der Wiederholung »rudimentärer Tonfolgen« (Adorno). Gemeinsam ist beiden auch der lange, sich in zahllosen Skizzen niederschlagende Anlauf, den beide zu ihren Werken genommen haben (zu Picassos Bild existieren ca. 800 Vorstudien64, zu Strawinskys Partitur die unschätzbaren Skizzen). Schon dieser lange Anlauf zeigt, dass beide es auf einen weiten Sprung, einen revolutionierenden Durchbruch in künstlerisches Neuland angelegt haben. Entscheidend für die Kanonisierung des Sacre ist vor allem die Privilegierung des Neuen, Zukunftsweisenden, Epochemachenden, die ein Element des modernen Zeit-

64 Küster, Bärbel: Die Skizzenbücher zu den »Demoiselles d’Avignon« und Picassos Auseinandersetzung mit prähistorischer Kunst, Magisterarbeit, Universität Hamburg 1994.

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bewusstseins, des »Zeitregimes der Moderne« ist.65 Im Horizont dieses spezifisch modernen Paradigmas sind es die Vorläufer, Wegbereiter, Bahnbrecher, denen das Interesse gilt; anders ausgedrückt, sind es gerade diese Aspekte der kanonisierten Werke, denen sie ihre Aufnahme in den Kanon verdanken. In dieser Perspektive ist es gerade der Skandal, den der Sacre bei seiner Uraufführung am 29. Mai 1913 im Théâtre des Champs-Élysées auslöste, der diesem Stück den Stempel revolutionärer Neuheit aufdrückte und es sofort als epochemachend heraushob, während normalerweise der Rang des Epochemachenden einem Werk erst im Nachhinein, im Rahmen des sich erst nach einigen Dezennien konstituierenden kulturellen Gedächtnisses zuwächst. In diesem Zusammenhang ist nun das Urteil eines Kenners wie Adorno umso merkwürdiger, der gerade den Sacre, diesen Inbegriff des Unerhörten, schockierend Neuen in der Musikgeschichte, als »Regression« und »Infantilismus« abkanzelte.66 Der Fall Adorno beleuchtet beispielhaft die normativen Ansprüche der ästhetischen Modernisierungstheorie, ihres Fortschrittsglaubens und ihres absoluten Innovationsgebots. Seine Philosophie der neuen Musik gliedert sich in die beiden Teile ›Schönberg und der Fortschritt‹ und ›Strawinsky und die Restauration‹ – eine Antithese, von der Schönberg selbst bekanntlich nichts wissen wollte. Das Prinzip des musikalischen Fortschritts definiert Adorno vollkommen überzeugend negativ: als einen »Kanon des Verbotenen«; musikalischer Fortschritt manifestiert sich in der Inkriminierung des Überholten. »Wenn nicht alles trügt«, schrieb Adorno in der Vorrede 1948, »schließt er [der Kanon des Verbotenen] heute bereits die Mittel der Tonalität, also die der gesamten traditionellen Musik, aus.«67 Das Überholte wird nicht nur normativ ausge-

65 Siehe hierzu Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München: C.H. Beck 2013, besonders S. 132–183. 66 Allerdings gehörte Infantilismus, wie.Ingold betont, zum Programm des russischen Neoprimitivismus: »Die ›Jugendlichkeit‹ der archaisierenden Neuerer, ihr Bestehen auf kindlicher Frische und Unvoreingenommenheit, aber auch ihre gewollt kindischen Ausdrucks- und Verhaltensformen gehören zur Gruppenästhetik des Neoprimitivismus, der in Russland um 1913 den Höhepunkt seiner künstlerischen Entwicklung erreichte« P.F. Ingold: Der große Bruch, S. 181. 67 Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 40 vgl. Thomas Mann, Doktor Faustus, S. 349 »Jeder Bessere trägt in sich einen Kanon des Verbotenen, des

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schlossen, es wird geradezu zum Gegenstand des Abscheus, der Abjektion im Sinne Julia Kristevas68, wie es etwa Thomas Mann in seinen Josephsromanen als das religiös »Überständige« beschrieben hat.69 Adornos Verdikt des in seinen Augen musikalisch Überholten erinnert in seiner persekutorischen Schärfe an das biblische Bilderverbot. Im Licht dieser normativen Kunstreligion und ihrer Verbote erscheint der Sacre und vor allem Strawinskys neoklassisches Œuvre als Regression in den Götzendienst, als Tanz um das Goldene Kalb.70 Das Großartige von Strawinskys Musik liegt darin, ihre Neuheit nicht mit den Dogmen und Verboten eines normativen Modernismus umstellt, sondern sich Freiheiten genommen zu haben, die auch diese Verbote über den Haufen warfen. Heute, wo dieser ›Kanon des Verbotenen‹ längst verblasst ist, hat Strawinskys Sacre einen zentralen, bleibenden und vollkommen unbezweifelten Platz im kulturellen Gedächtnis als das vielleicht berühmteste Werk der musikalischen Moderne.

Sich-verbietenden, der nachgerade die Mittel der Tonalität, also aller traditionellen Musik umfasst.« 68 Kristeva, Julia: Les pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris: Éditions du Seuil 1980. 69 »Gewisse Dinge«, erklärt Thomas Mann in einem Brief diese Konzeption, »waren einmal ganz richtig und vernünftig, hören aber auf, es zu sein und werden zur ›Gottesdummheit‹. Religiosität besteht wesentlich darin, hierauf, auf Veränderungen im Bilde der Wahrheit und des Rechten achtzugeben.« (in: Thomas Mann Selbstkommentare: »Joseph und seine Brüder«, hg. von Hans Wysling und Marianne Eich– Fischer, Frankfurt 1999, 292f). Dasselbe Prinzip illustriert Adorno am Beispiel des verminderten Septimakkords: Er »ist richtig und allen Ausdrucks voll am Beginn von Beethovens Sonate op. 111« und »klingt falsch in den Salonpiècen« (Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 40f.), d.h. ist zum Inbegriff musikalischen Kitschs geworden. 70 Schönbergs Komposition dieses Tanzes in seiner Oper Moses und Aron – auch eine musikalische Vergegenwärtigung des Heidentums – spielt denn auch unüberhörbar auf den Sacre an.

Das Requiem – ein Erinnerungsort Das War Requiem von Benjamin Britten und das Polskie Requiem von Krzysztof Penderecki als musikalische Erinnerungsdenkmäler des 20. Jahrhunderts P ETYA T SVETANOVA

Seit der Etablierung der Musik als autonome Kunstform ab dem 18. Jahrhundert müssen Komponisten ihre Genrewahl legitimieren. Dies betrifft auch und besonders das Genre des Requiems dessen Ursprung dem Namen Incipit des «Eingangsª – des Introitus der Liturgie herstammt. Es ist aus diesem Grund seiner Wurzel nach ein Ritus, in dem die Musik eine Nebenrolle spielt und der liturgische Text eine dogmatische religiöse Interpretation erfährt. Aber kann man von einem Requiem in einem ästhetischen Sinn «sprechenª, in der die Konkretheit des Ritus der liturgischen Erinnerung aufgehoben wurde? Wenn der Komponist einen nicht liturgischen Text verwendet, stellt sich die Frage: Warum kann und will der Komponist sein Werk als Requiem definieren? Diese Frage nach der Gattungsspezifik des Requiems im 20. Jahrhundert korreliert mit seiner Fähigkeit einen allegorischen Sinn musikalisch zu entfalten. Das Gattungsgedächtnis1, entfaltet hierzu zwei sinnstiftende Erinnerungsformen: Auf inhaltlicher Ebene erinnert es an Verstorbene und erhält somit seine memoriale Funktion. Auf formeller Ebene verbinden sich historische, soziale und kulturelle Ereignis-

1

Finscher; Ludwig: »Werk und Gattung in der Musik als Träger kulturellen Gedächtnisses«, in: Jan Assmann und Tonio Hölscher [Hg.]: Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 293–310.

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se allegorisch mit dem ursprünglich liturgischen Sinn. Die Erinnerung des Weltgerichts und des Gebets für die Seelen verändert sich im modernen Requiem als Kunstwerk zur Allegorie.

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ALLEGORISCHE

S CHICHT

ALS

AUSLEGUNGSWEISE

In der exegetischen Auslegung des alten und neuen Testaments in der christlichen Theologie ist die allegorische Schicht eine vom vollkommenen Sinn. Das bestehende, gesellschaftliche System im Mittelalter verwendete vier Schichten der Auslegung, um die Bibel zu interpretieren: die wörtliche, allegorische, tropologische und anagogische Schicht. In diesem Text soll die allegorische Schicht und dessen Auslegung in Bezug auf das Requiem thematisiert werden. Die bulgarische Musikwissenschaftlerin Kristina Yapova stellt in ihrem Buch Klang und Ethos. Variationen über ein Thema von Boethiusherausdass man die Allegorie in der Musik auf zwei Arten verwenden kann: der exegetischen und der rhetorischen. Darüber hinaus schreibt sie über die Interaktion zwischen diesen beiden Traditionen. Die rhetorische Allegorie wirkt auf das ¿Fleisch¾ der Musik, ihre musikalische Figuren und Formen. Die exegetische Allegorie ist im jüdisch-christlichen Horizont möglich. Das Requiem als Verschmelzung von Kunst und Ritus bewirkt eine Interaktion zwischen den beiden Arten der Allegorie und beeinflusst die Rezeption auf zweifacher Weise: (1) Die rhetorische Allegorie ist das Analyse-Werkzeug, um den musikalischen Text zu interpretieren; da seit dem Sinnverlust der Gattung im 18. Jahrhundert, sie sich unter anderem durch außermusikalischen Sinn formt. Dies trägt dazu bei, die musikalischen Komponenten in einem neuen System von allegorischen Begriffen zu fassen. Das Ziel des ›Systems‹ ist die Verbindung des Werkes Requiem mit den verschiedenen Bedeutungen und Symbolen der Gattung Requiem. (2) Die Allegorie der Exegese: Diese Ebene der Analyse baut auf der ersten Ebene auf und wird nun exegetisch ausgelegt. Die Allegorie dieses zweiten Niveaus ermöglicht das Requiem als Genre wie einen Erinnerungsort und das Requiem als Werk wie ein Denkmal auszulegen.

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»Das kulturelle Gedächtnis hat seinen anthropologischen Kern im Totengedächtnis. Damit ist die Verpflichtung der Angehörigen gemeint, die Namen ihrer Toten im Gedächtnis zu behalten und gegebenenfalls der Nachwelt zu überliefern. Das Totengedächtnis hat eine religiöse und eine weltliche Dimension.«2

Das Requiem enthält jene beiden Dimensionen, die Aleida Assmann in ihrer Studie Erinnerungsräume herausgearbeitet hat. Einerseits ist es ein weltliches Kunstwerk, andererseits ist das Genre in der religiösen Liturgie für Verstorbenen begründet. Mit dem Requiem verabschieden wir uns von ihnen und erinnern uns gleichzeitig an sie. Dieser rote Faden zieht sich durch die Historie des Genres und bleibt stets omnipräsent, unabhängig von der zunehmenden Emanzipation seiner liturgischen Funktion. Assmann schreibt hierzu: »Aber auch das religiöse Totengedächtnis ist auf die Erinnerung der Lebenden angewiesen. Die ursprünglichste und meistverbreitete Form sozialer Erinnerung, die Lebende und Tote miteinander verbindet, ist der Totenkult«3. Das Requiem ist ein Ort, der historisch veränderlich und zugleich liturgisch unveränderlich ist. Das Requiem als Werk erinnert an verschiedene, historische Ereignisse und wird somit zu einer einzigartigen Form des Denkmals, welches sich sinnstiftend auf das jeweilige Kollektiv auswirkt: »Denkmäler sind die Identitätsstiftungen der Überlebenden. Wo, wie bei Kriegerdenkmälern, die Namen in die Tausende gehen oder, wie beim Grabmal des Unbekannten Soldaten, der kommemorative Bezug anonym bleibt, steht das identifikatorische Moment eindeutig im Vordergrund.«4

Die Idee des Gedächtnisses ist mit der Dimension der Zeit verbunden. Der zeitliche Kern des Gedächtnisses legt nahe, dem Begriff des Gedächtnisses zu entsprechen. Dennoch gibt es Unterschiede zwischen den beiden Begrif-

2

Assman, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen

3

Ibidem, S. 22.

4

Assman, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische

Gedächtnisses, München: C.H.Beck 1999, S. 33.

Identität in frühen Hochkulturen, München: C.H.Beck 1999, S. 63.

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fen. Das Gedächtnis und die Geschichte behandeln Veränderungen unterschiedlich. Das kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft schließt die kurzfristige Veränderung aus, da es durch seine Alltagsferne charakterisiert ist und durch die Wiederholung identitätsstiftend wirkt Die Gesellschaft feiert ein bestimmtes Moment und wiederholt es jedes Mal, um an die Ereignisse zu erinnern. Für die Geschichte ist die Veränderung die Grundstruktur, denn wie Walter Benjamin schreibt ist ein »historischer Fakt […] nur das, was wie ein Prozess oder Ereignis einige Veränderungen enthält«5. Der Schnittpunkt von Gedächtnis und Geschichte enthüllt sich in jedem Requiem-Denkmal. Wenn es einmal kreiert wurde, bleibt die Schöpfung in Form des Werkes unveränderlich. In diesem Werkcharakter trägt sich die Erinnerung an verschiedene historische Ereignisse denkwürdige Veränderungen ein. Wenn man ein historisches Geschehen anders auslegen würde, wenn die Auslegung in der Linearität der Geschichte lebt, versteinert sich ein Denkmal in der historischen Zeit. Wie Jan Assmann mit Bezug auf Maurice Halbwachs erörtert, ist »[d]ie historische Zeit […] eine durée artificielle, die von keiner Gruppe als durée erlebt und erinnert wird. Damit steht sie für Halbwachs außerhalb der Wirklichkeit. Sie ist ein funktionsloses Artefakt, ausgelöst aus den Bindungen und Verbundenheiten, die das Leben, und zwar das soziale raum- und zeitkonkretes Leben gestiftet werden. «6

Das Requiem-Denkmal zeichnet sich aber auch als ein architektonisches Denkmal aus. Das Werk trägt das Gedächtnis und die Interpretation der Gattung durch den Komponisten und macht es historisch. Das konkrete Requiem-Denkmal hat auch zur Ebene des Genres eine Verbindung. Im Hintergrund der Requiem-Werke steht immer die Verknüpfung mit dem Tod und der Ewigkeit. In seinem Gattungsgedächtnis liegt die Erinnerung in den liturgischen Wurzeln. Aber die Erinnerung des Requiems ist nicht nur ein Vektor, der bis zu einem gewissen Archetyp gelenkt wird. Sie lenkt auf die Gegenwart und das Aktuelle. Das gibt ihr den Charakter einer Erin-

5

Benjamin, Walter/Natev, Atanas: Hudozhestvena misal i kulturno samosaznanie, Sofia: Nauka i saznanie 1989, S. 79.

6

Assman, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift. Erinnerung und politische Identität in führen Hochkulturen, München: C.H.Beck 1999, S. 44.

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nerung, die in der Liturgie Anamnese heißt und deren Wesen es ist, die Erinnerung an das Opfer Christi in die Gegenwart zu tragen.

R EQUIEMS -D ENKMÄLER : D AS W AR R EQUIEM VON B ENJAMIN B RITTEN UND DAS P OLSKIE R EQUIEM VON K RZYSZTOF P ENDERECKI Mit den jeweiligen Titeln zeigen die beiden Werke bereits ihren allegorisches Bezug auf das Genre. Eine Liturgie im historisch-strengen Sinne könnte beispielsweise nicht militärisch oder polnisch sein. Die Werke basieren auf historischen Ereignissen und Nachrichten, welche von den Komponisten im Modus der Erinnerung, der im Genre mitbegründet liegt, dargestellt werden. Auf diese Weise sind das War Requiem (1962) und das Polskie Requiem (1980/84) gänzlich allegorisch. Mittels des Gedächtnisses der Gattung wird versucht ›mehr‹ auszusagen als nur die historischen Fakten aufzuweisen. Wenn über die Menschheit eine Tragödie hereinbricht, sucht sie sehr oft Rettung und Stütze in der Ewigkeit und in der Unvergänglichkeit. Britten und Penderecki verwendeten die in der liturgischen Tradition bestehenden Kompositionstechniken, wie die typisierte Intonationsformeln, rhetorische Figuren, verschiedene instrumentale und vokale Klangfarben mit assoziativen Bedeutungen, um formal die historische Gattung zu evozieren. So zum Beispiel im War Requiem, in welchem Britten die Orgel verwendet, deren Einsatz im großen Kantate-Oratorium im Barock conditio sine qua non ist, weil sie die Partie des Basso Continuo ausführt. Später in der Musikgeschichte ist die Verwendung der Orgel eher eine Frage der persönlichen Wahl. Auf diese Weise wird formell das War Requiem enger mit der ursprünglichen Form verbunden. Die Auswahl der Instrumente in den beiden Requiems hängt mit dem Text der jeweiligen Abschnitte zusammen. Zum Beispiel beginnt das Polskie Requiem mit Blechbläsern, die basso solo eingeführt werden. Die verwendeten vokalen Stimmen mit ihren spezifischen Klangfarben verbinden sie mit der Gattungstradition: Sopran, Mezzosopran, Tenor, Bass und Chor singen im Polskie Requiem von Penderecki. Im War Requiem ist die Stimmenverteilung: Sopran, Tenor, Bariton, gemischten Chor und Knabenchor, wobei der gemischte Chor in beiden Werken die liturgische Symbolik weiterführt. Die poetischen Texte des britischen Dichters Wilfred Owen im War Requiem

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werden vom Tenor und Bass gesungen und werden von einem Kammerorchester mit 12 Musikern begleitet, während der Knabenchor die lateinische Totenmesse Missa de Profunctis mit Orgelbegleitung singt. Diese kompositorische Materialwahl lässt Raum für eine allegorische Auslegung und deutet die kompositorische Intention an. Britten selbst kommentierte die Knabenstimmen als Allegorie eines Engelgesangs, der wiederum mit der Orgelbegleitung eine Allegorie des Himmelreichs darstellt.7 Den poetischen Text singen Tenor solo und Bass solo als Allegorie der Soldaten und sind Teil der irdischen Welt. Der hier kreierte Vergleich der irdischen und überirdischen Welt kann in den verschiedenen kompositorischen Verwendung von liturgischem und poetischem Text gesucht werden: der liturgische Text der kanonischen, lateinischen Sprache wird mit großem Orchester, der poetische Text wird jedoch nur mit 12 Instrumenten begleitet. Die musikalische Sprache und die kompositorischen Entscheidungen stehen unter dem Einfluss von Außermusikalischem. Die Kompositionstechnik beeinflusst die Bedeutung und die Botschaften, die nicht nur von der Liturgie herstammen, sondern auch jene, die die Komponisten in die Werke einweben. Das führt zur allegorischen Auslegung aller Komponenten, die das Werk vereint. Die allegorischen Mittel lassen somit diese zwei Werke zu Requiems-Denkmäler werden. Der Begriff Denkmal besitzt im heutigen Sprachgebrauch im Wesentlichen zwei Bedeutungen: Allgemein bezeichnet er alle Arten von Zeugnissen der Vergangenheit, die der Nachwelt erhaltenswert erscheinen. Konkret wird damit ein Objekt benannt, meist ein Kunstobjekt, das zu Ehren einer oder mehrerer Personen errichtet wurde. Ein «Denkmal kann Abstraktum oder Konkretum sein, organisch oder anorganisch, vorbewusst oder unbewusst, idealistisch, realistisch oder utopisch«8, so schreibt der Kunstwissenschaftler Helmut Scharf. In der Kunst wird mit dem Begriff Denkmal meist ein Bauwerk oder ein Objekt der Bildhauerei bezeichnet, das zu Ehren einer oder mehrerer Personen errichtet wurde. In allen Zeiten ist die Art der Denkmalsetzung ein Zeugnis der jeweiligen Gesellschaft und deren Werte. In der Musik wird der Begriff Denkmal meist im allgemeinen Sinn der Erhaltung von historischen Zeugnissen verwendet. Musikalische Denkmäler können Sammlungen von Wer-

7 8

Britten, Benjamin: War Requiem, London: Cambridge University Press 1997. Scharf, Helmut: Kleine Kunstgeschichte des deutschen Denkmals, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984, S. 5.

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ken einer bestimmten Zeit oder eines bedeutenden Komponisten sein. Die Würdigung einer Person mit einem Musikstück geschieht häufig durch eine Widmung oder ein musikalisches Zitat: »Auf Lateinisch bedeutet Monumentum ein Objekt oder eine Struktur, um sie an jemanden oder etwas zu erinnern. In einem weiten Sinne, jedes Gebäude der jedes künstlerisches Werk, das mit archäologischem, historischem oder ästhetischem Interesse bemerkenswert ist.«9

Angesichts dieser Definition des Denkmales weisen Brittens War Requiem und das Polskie Requiem von Penderecki zwei der drei Bedingungen auf: Sie sind nämlich von historischem und ästhetischem Interesse. Wenn wir formale Denkmäler untersuchen, können wir feststellen, dass der Aufbau der Denkmäler stets mit einem konkreten Anlass verbunden ist. Das kann ein Jahrestag oder ein anderes Ereignis sein, welches uns an ein historisches Geschehen erinnert. In einem Brief schrieb Britten Details über das Komponieren des War Requiems, welches den Anlass verdeutlicht und zeigt, dass dieses Werk darüber hinaus geht die Kriegsopfer des 2. Weltkrieges zu betrauern und versucht einen ethischen Kommentar über Zerstörung zu leisten: »Conventry Cathedral, like so many wonderful buildings in Europe, was destroyed in the last war. It has now been rebuilt in a very remarkable fashion, and for the reconsecration of the new building they are holding a big Festival at the end of May and beginning of June next year (1962). I have been asked to write a new work for what is to us all a most significant occasion. I am writing what I think will be one of the most important works. It is a full scale Requiem Mass for chorus and orchestra (in memory of those of all nations who died in the last war), and I am interspersing the Latin text with many poems of a great English poet, Wilfred Owen, who was killed in the First World War. These magnificent poems, full of the hate of destruction, are a kind of commentary on the Mass; they are, of course in English. These poems will be set for Tenor and baritone, with an accompaniment of chamber or-

9

Morizot, Jacques, Roger Pouive: Dictionnaire d’esthétique et de philosophie de l’art. (Übersetzung: Alexandra Zheleva und Nina Ivanova), Sofia: Riva 2012, S. 380.

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chestra, placed in the middle of the other forces. They will need singing with utmost beauty, intensity and sincerity.«10

Penderecki nennt sein Requiem dezidiert »Polnisch«, weil es den Opfern und Helden der polnischen Geschichte gewidmet ist. Der Abschnitt Lacrimosa beispielsweise ist dem polnischen Politiker Lech Walesa gewidmet und ist zum Anlass der Eröffnung der Statue im Jahre 1980 in der Werft in Gdansk entstanden. Diese erinnert an alle, die in den Arbeiteraufständen gegen die polnische Regierung im Jahre 1970 ermordet wurden. Penderecki erweiterte das Requiem in den folgenden vier Jahren. Der Komponist schrieb zusätzliche Abschnitte, mit denen er verschiedene patriotische Veranstaltungen ehren wollte. Agnus Dei ist in Erinnerung an einen Freund, den Kardinal Stefan WyszyĔski, im Jahre 1981 geschrieben worden. Recordare komponierte Penderecki 1982 und ist der Seligsprechung Maximilian Kolbes gewidmet, der im Konzentrationslager Auschwitz gestorben ist. Dies irae ist mit dem Aufstand in Warschau im August und September 1944 verbunden. Am 28. Oktober 1984 wurde das Polskie Requiems in Stuttgart uraufgeführt. 2005 komponierte er einen weiteren Teil, Chaconne für Johannes Paul II. Die verwendeten Textgrundlagen sprechen von konkreten historischen Ereignissen. Im Polskie Requiem fügt Penderecki die erste Strophe der polnischen, religiösen Hymne ĝwiĊty BoĪe in den lateinischen Text des Teils Recordare. Die Musikwissenschaftlerin Regina Chlopicka schreibt, dass diese Hymne in Polen in Situationen der nationalen Gefahr gesungen wurde.11. Im War Requiem (1963) verbindet Britten den liturgischen Text mit den Gedichten von Wilfred Owen, ein Soldat, der mit 25 Jahren im Ersten Weltkrieg an der Front starb. Mit der Verwendung seiner Poesie kann Britten die Beschreibung der Erlebnisse an der Front aus der Perspektive eines Augenzeugens dem Requiem hinzufügen. Diese realen Beschreibungen der Kriegserlebnisse verhalfen diesem Requiem-Denkmal durch seine Unmittelbarkeit zu großem Einfluss. Anthem for Doomed Youth‚ The Next War, Futility, The End sind vier dieser Gedichte von Owen im War Requiem. Sie

10 Strader, Nikola Dale: Stylistic Placement of War Requiem in Benjamin Britten’s Oeuvre, Ohio: Ohio State University 1996, S. 7. 11 Chlopicka, Regin: Krzysztof Penderecki. Musica Sacra – Musica Profana, Warsaw: Adam Mickiewicz Institute 2003, S. 110.

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stellen subjektive Emotionen und Erfahrungen dar, aber in Kombination mit dem liturgischen Text und der Gattung des Requiems, wird ihnen eine gewisse Universalität zuteil. Die lateinische liturgische Sprache trägt bereits in sich selbst die heilige Tradition und bringt Universalität mit sich, die mit der lebendigen Umgangssprache, die verschiedene Bedeutungen und Verweisungen von Alltäglichkeit12 im Heideggerianischen Sinne trägt. Die kodifizierte Sprache Latein ist mit den liturgischen Wurzeln des Genres stark verbunden. Diese feste Verbindung mit der Liturgie trägt zudem einen übergeschichtlichen und überzeitlichen Sinn. Auf diese Weise wird das Requiem adäquat der Allegorie Requiem-Denkmal zugeordnet. Dank seiner Genrewurzeln bringt es einerseits Ewigkeit und Außerzeitlichkeit, anderseits kann der Komponist seine Gedanken und Gefühle in einer bestimmen Kunstform äußern. Anlässlich der Annahme des Denkmals als Mittel für moralische Bildung »als guter Aufklärer glaubt[...] [der Kunsttheoretiker Johann G. Sulzer], [...] dass Kunst eine ästhetische Funktion in der moralischen Bildung haben soll.«13 Die beiden Requiems besitzen an sich nicht nur einen hohen ästhetischen Wert, der in verschiedenen Schriften immer wieder herausgestellt wird, sondern weisen auch viele moralische und ethische Reflexionen auf. Britten und Penderecki äußern ihre moralische Position in ihren Werken und schreiben die Requiems als einen Kommentar und Aufruf an die Welt. Penderecki sagt hierzu:«Ich schreibe keine politische Musik. Politische Musik ist sofort veraltet... Mein Requiem widmet sich bestimmten Personen und Ereignissen, aber die Musik hat eine breitere Bedeutung.ª 14 Im 20. und 21. Jahrhundert wuchs das Interesse für die Gattung des Requiems zunehmend. Viele Werke, die verschiedene Verhältnisse mit dem Gattungsarchetyp haben, wurden komponiert und erlangten neue Funktionen. Manchmal verwenden die Komponisten das Requiem jedoch nur metaphorisch für instrumentale Werke oder die Autoren bezeichnen nichtmusikalische Werke als «Requiemª ZLH ]XP Beispiel das Theaterstück

12 Vgl. hierzu: Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 1927. 13 Morizot, Jacques/Pouivet, Roger: Dictionnaire d’esthétique et de philosophie de l’art. [Übersetzung: Alexandra Zheleva und Nina Ivanova], Sofia: Riva 2012, S. 380. 14 Anson, Philip. »Krystof Penderecki Talks about the Polish Requiem «, in: La Scena musicale, 1998. (http://www.scena.org/lsm/sm3-6/sm36pene.htm).

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Balkan Requiem von Almir Basovic, Almir Ismirevic und Dornuta Basa (Regie: Stevan Bodroza), das in Wien 2014 im Volkstheater uraufgeführt wurde. Dieses Werk soll an den Kosovo-Krieg zwischen 1992–1995 erinnern. In der Struktur des Stückes gibt es kein Indiz auf die Gattung oder der Liturgie des Requiems. Die Künstler benutzen den Begriff «Requiemª, weil er Bedeutungen und Assoziationen hervorruft, die in der liturgischen Wurzel bestimmt sind, aber in neuer Aktualität erscheinen. Das Requiem weist hier eine Funktion im nicht-liturgischen Sinn auf. Es erfährt eine neue kulturelle Funktion, die in seiner Erinnerungsfähigkeit liegt. Im 20. und 21. Jahrhundert schreiben Komponisten «RequiemªWerke nicht mehr nur wegen ihrer ästhetischen Qualität, die nicht als eine Kunst ohne Zweck (Gadamer) bestimmt werden kann. Das Requiem ist ein bestimmter Erinnerungsort, an dem die Funktion der Liturgie und die Idee des Weltgerichts (›Dies irae‹) zusammengeführt werden. Die Künstler hinterlassen ein ästhetisches Vermächtnis, um die historischen Ereignisse und Fakten zu¿dokumentieren‹. Die Requiem-Werke bestehen in der Linearität der Geschichte Das außerlineare und außergeschichtliche Dasein der Liturgie, die im Gattungsgedächtnis bleibt, macht diese Gattung attraktiv.

Mit und an Intertextualität erinnern Erik Saties musikalische Verweise in den Klavierkompositionen 1913 T OM W APPLER

Das Anliegen dieses Beitrags ist es, Intertextualität nicht mehr allein als textimmanentes Merkmal von Texten, rein auf der materialen Ebene, zu beschreiben, sondern sie als Bestandteil einer musikkulturellen Praxis zu sehen, deren verschiedene Akteur*innen einen je eigenen Umgang mit ihr pflegen: sie kompositorisch anwenden, aufführen, rezensieren, erforschen. Bezieht man in diese Praxis die erinnerungskulturelle Arbeit dieser handelnden Personen mit ein, verschiebt sich die Perspektive von Intertextualität als Schnittstelle von Texten, bei der diese zu gegenseitigen Gedächtnisträgern werden, hin zu einer, die die Akteur*innen und ihre mithilfe von oder in Bezug auf Intertextualität geleistete Erinnerungsarbeit beleuchtet. Anhand der mit Verweisen arbeitenden Klavierstücke Erik Saties aus dem Sommer 1913 soll gezeigt werden, wie sich diese Verschiebung nutzbringend anwenden lässt: Nicht nur Intertextualität kann Erinnerung an sich herbeiführen, sondern ebenso die musikkulturell aktiven Personen im Umfeld Saties. Mit Text-Text-Bezügen wird und sie selbst werden erinnert. Um diesen Perspektivwechsel zu verdeutlichen, muss zunächst die Entwicklung des Text- wie auch des Intertextualitätsbegriffs angerissen werden.

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I NTERTEXTUALITÄT UND G EDÄCHTNIS . Z WISCHEN P OSTSTRUKTURALISMUS UND H ERMENEUTIK Wenn bis in die 1990er Jahre hinein Intertextualität in das Spannungsfeld von poststrukturalistischen und hermeneutischen Ansätzen eingelagert war und die Diskussionen, ob es sich bei ihr um ein allgemeines Textmerkmal – Intertextualität und Textualität wären hierbei identisch – oder ein spezifisches handele, nicht abrissen, so berührten und berühren diese Auseinandersetzungen ebenso die Frage nach Gedächtnis und Intertextualität. Julia Kristevas bekannt gewordenes Diktum »jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes«1 bringt zum Ausdruck, dass Texte – zunächst hat sie einen literarischen, später einen kulturtheoretisch geweiteten Textbegriff im Sinn2 – sich unausgenommen in Verflechtungen befinden, d.h. sich an andere anlagern und sich selbst als Prätexte für nachfolgende Texte verfügbar machen. Das hat Folgen für den Kunstwerkbegriff: Mit der aus dem Poststrukturalismus gewonnenen Kategorie »Intertextualität« werden Textgrenzen permeabel, kein Text erscheint isoliert. Genauso ergeben sich Folgen für die Instanz des Autors. Bewusst lässt Kristeva an die Stelle von »Intersubjektivität« den Begriff »Intertextualität« treten.3 Die Texte ermächtigen sich dergestalt, dass sie sich selbst als Mosaike aufbauen und ihren eigenen Sinn selbst produzieren. Sie übernehmen also zugleich die Rolle des Produzenten und Rezipienten ihrer selbst. Ihnen wird im Poststrukturalismus folglich eine Eigenproduktivität zugesprochen, die mit einer Entsubjektivierung des Autors einhergeht.4 Mit der Kritik am Werkbegriff und der Dekonstruktion des Autorsubjekts kann ein »Anspruch auf das absolut Un-

1

Kristeva, Julia: »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, in: Ihwe, Jens [Hg.], Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II, Frankfurt a. M.: Athenäum-Verlag 1972, S. 345–375, hier S. 348.

2

Durch diese Weitung wird es möglich, auch die Musik in die Überlegungen mit

3

J. Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 348.

4

Vgl. Berndt, Frauke/Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. Eine Einführung, Berlin:

einzubeziehen.

Erich Schmidt Verlag 2013 (Grundlagen der Germanistik 53), S. 39.

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UND AN I NTERTEXTUALITÄT ERINNERN

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wiederholbare, Originale letztendlich nicht gestellt werden […].«5 Auf das Thema Erinnerung und Gedächtnis appliziert, sind es die Texte, die durch gegenseitige Bezugnahme einander erinnern. Im Gegensatz zum genitivus objectivus (an Texte wird erinnert) ist durch den genitivus subjectivus (durch Intertextualität erinnern Texte an sich selbst)6 das Erinnerungsvermögen in ihnen selbst gegeben. »Das Gedächtnis des Textes ist seine Intertextualität«7, heißt es bei Renate Lachmann. Intertextualität und Gedächtnis sind bei ihr auf doppelte Weise verschränkt. Zum einen entsteht über Intertextualität ein Gedächtnisraum zwischen den Texten und der Text mit seinen Bezügen schreibt sich in diesen mnemonischen Zwischenraum ein. Zum anderen schafft er genau dadurch seinen eigenen, impliziten Gedächtnisraum, in dem alle anderen Intertexte, an die er anschließt, eingelagert sind: »Der Text durchquert die Gedächtnisräume, läßt sich in ihnen nieder, aber er bildet auch den Gedächtnisraum selber ab. Zugleich jedoch entwirft jeder Text auch einen Gedächtnisraum, dessen Beschreiten er anderen Texten überläßt.«8 Die Universalisierung »jeder Text« und das Wechselspiel von Referieren und Referiert-Werden erinnern hier stark an Kristeva. Lachmann bevorzugt die kultursemiotische Ausrichtung, in der einem kybernetischen Modell (nicht-personale Träger von Gedächtnis) anstelle eines kulturellen Beschreibungsmodells (personale kulturelle Agenten, Textproduzenten) nachzugehen sei.9 Trotz dieser generellen, texttheoreti-

5

de la Motte-Haber, Helga: »Musikalische Übersetzungen«, in: Hermann Danuser und Tobias Plebuch [Hg.], Musik als Text. Bericht über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung, Freiburg im Breisgau 1993, Bd. 1: Hauptreferate, Symposien, Kolloquien, Kassel: Bärenreiter 1998, S. 54–57, hier S. 57.

6

Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart: Metzler 2005, S. 64. Ich verallgemeinere mit »Text« das, was bei Erll allein auf den literarischen Text bezogen wird, um auch der Musik Rechnung zu tragen (siehe Anm. 2). Bei ihr heißt es demnach: »an Literatur wird […] erinnert« und »durch Intertextualität erinnert Literatur an sich selbst«.

7

Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen

8

Ebd., S. 37.

9

Ebd., S. 46f. Vgl. auch F. Berndt/L. Tonger-Erk: Intertextualität. Eine Einfüh-

Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 35.

rung, S. 134.

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schen Dimension von Intertextualität beschäftigt Lachmann ebenso die Frage nach ihrer textdeskriptiven Dimension. Sie kann »im Sinne einer reinen Beschreibungskategorie für Texte, deren Struktur durch die Interferenz von Texten oder Textelementen organisiert ist«10, ebenso zum Untersuchungsgegenstand werden. Spezifische Strategien und Funktionsweisen von Intertextualität werden in dieser textanalytischen Perspektive zu beschreiben versucht. Der Fokus liegt hierbei wieder eingeengt auf dem literarischen Text. Der textdeskriptive Bereich wäre sodann den hermeneutisch orientierten Intertextualitätstheorien der Literaturwissenschaft zuzurechnen. Der Kristevasche Universalitätsanspruch einer intertextuellen Textqualität wird innerhalb dieser nicht von vornherein abgelehnt, jedoch zumindest wieder eingeschränkt.11 Verweise auf andere Texte bestimmen die Sinnkonstitution eines Textes (vordergründig oder latent) mit. Dabei wird nicht mehr eine allgemeine Eigenschaft, sondern Intertextualität als Merkmal bestimmter – literarischer – Texte postuliert, denn die Arbeit von Literaturwissenschaftler*innen besteht in konkreten Analysen von Text-TextBeziehungen wie Zitat, Allusion, Parodie, Persiflage, Pastiche etc.12 Der Intertextualitätsbegriff ist hierfür einzuengen, denn ein poststrukturalistisches Konzept, »das so universal ist, dass zu ihm keine Alternative und nicht einmal dessen Negation mehr denkbar ist, ist notwendigerweise von geringem heuristischen Potential für die Analyse und Interpretation.«13 Diese Wiedereinengung des Begriffs wird dadurch verständlich, dass es der Hermeneutik um eine Destillierung der mit den Verweistechniken verbundenen Intention des Autors und/oder das Erkennen derselben seitens des Lesers geht. Je nach Standpunkt vertreten die Forscher*innen einen produktions- und/oder rezeptionsästhetischen Intertextualitätsansatz. In strenger Sicht wäre Intertextualität erst gegeben und ihr Sinnpotential erst ausge-

10 Ebd., S. 56. 11 Vgl. Broich, Ulrich/Pfister, Manfred [Hg.]: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer 1985. 12 Vgl. etwa Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, aus dem Franz. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. 13 Pfister, Manfred: »Konzepte der Intertextualität«, in: Broich, Ulrich und Pfister, Manfred [Hg.], Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer 1985, S. 1–30, hier S. 15.

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schöpft, wenn sie vom Autor intendiert und vom Leser erkannt würde. Als Prätexte kämen nur jene in Betracht, auf die die Instanz »Autor« bewusst und intentional in seinen eigenen Texten verweist und die als Bestandteil der Sinnkonstitution aus seiner Sicht von der Instanz »Leser« erkannt werden müssen.14 In Bezug auf Intertextualität thematisiert die Hermeneutik nicht vordergründig Erinnerungsforschung. Prinzipiell können jedoch Interpretationen zur Autorintention dazu führen, im Verweisen eine bewusst gesetzte Erinnerung an einen oder mehrere zeitlich vorgelagerte Texte zu sehen. Das Problem liegt darin, dass hermeneutische Ansätze Gefahr laufen können, dem Gedanken an ein schöpferisch-autonomes Autorensubjekt oder ein mit allen Kompetenzen des Erkennens ausgestattetes Lesersubjekt Vorschub zu leisten – ein Problem, dem gerade die literaturkritische Haltung des Poststrukturalismus mit Dekonstruktionsansätzen begegnet.15 Die von Oliver Scheiding beschriebene Konzeptvariante einer rhetorischen Intertextualitätspoetik, die die »Textreferenz im Sinne von similitudo (Gedanke der Ähnlichkeit), aemulatio (wetteiferndes Überbie-

14 Vgl. ebd., S. 23; vgl. auch dazu Susanne Holthuis’ Rezeptionsansatz in: Dies.: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Tübingen: Stauffenburg-Verlag 1993, S. 31f.: »Demzufolge muß auch Intertextualität verstanden werden als eine Texten nicht inhärente Eigenschaft, auch hier muß davon ausgegangen werden, daß intertextuelle Qualitäten zwar vom Text motiviert werden können, aber vollzogen werden in der Interaktion zwischen Text und Leser, seinen Kenntnismengen und Rezeptionserwartungen. Mit anderen Worten konstituiert sich Intertextualität als Relation zwischen Texten erst im Kontinuum der Rezeption und nicht, wie von ausschließlich textimmanent verfahrenden Konzeptionen angenommen, im und durch den Text selbst. Auch wenn davon auszugehen ist, daß intertextuelle Organisationsstrukturen explizit im Text manifest sein können, müssen sie vom Leser als solche erkannt und verarbeitet werden, damit der ›Dialog der Texte‹ (Schmid/Stempel) überhaupt erfaßt bzw. in Gang gesetzt werden kann.« Hervorhebung im Original. 15 Neben der bereits beschriebenen texttheoretischen und textdeskriptiven Dimension ist dies die dritte Ebene, die Lachmann dem Intertextualitätsbegriff zuweist und als tragfähig für weitere Betrachtungen hält, vgl. dies. 1990, S. 56f.

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ten) und imitatio (Original und Nachahmung)«16 beschreibt, findet mit der aemulatio durchaus Eingang in die hermeneutische Intertextualitätspoetik, wenn das Verweisen eines Autors als Strategie der Überbietung von Prätexten auf der Basis seiner Genialität oder Originalität gedeutet wird.17 Derartige Deutungsmuster müssten auf ihren Konstruktionscharakter hin befragt werden. Wie bei Erik Satie zu zeigen sein wird, existiert auch der umgekehrte Fall einer Nicht-Beachtung intertextueller Qualitäten in seiner Klaviermusik, um ein bestimmtes, ebenfalls dem Genialischen nahekommendes Komponistenbild zu vermitteln. Im Nachfolgenden möchte ich die textzentrierte Perspektive zugunsten einer anderen, der des musikkulturellen Handelns, auf Intertextualität anwenden. Dieser Blickwechsel rückt nicht nur den Autor, oder besser gesagt Komponisten Satie und sein Publikum in den Fokus, sondern eben auch die Personen, die über ihn schreiben und forschen. Während bei Satie gefragt werden kann, wie und an was er mittels Intertextualität erinnert, schließt die Betrachtung der Rezeption, an der die Satie-Forscher*innen ebenso teilhaben, die Frage ein, wie mit Intertextualität im Nachhinein umgegangen wird, wie sie erinnert wird.

16 Scheiding, Oliver: »Intertextualität«, in: Erll, Astrid und Nünning, Ansgar [Hg.]: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin: de Gruyter 2005, S. 53–72, hier S. 57. 17 Im Rahmen dieses Aufsatzes musikgeschichtlich zwar entfernt lässt sich ein jedoch sehr erhellendes Beispiel bei Richard Armbrusters Arbeit über die Opernzitate Wolfgang Amadeus Mozarts finden. In Le Nozze di Figaro zitiert Mozart an einer Stelle aus André-Modest Grétrys Opéra comique L’Amant jaloux. Dazu heißt es: »Mozart bringt […] in der eigenen Komposition gleichsam zur Entfaltung, was mit diesem Motiv musikalisch möglich ist, wenn man denn wirklich ›ernst mit ihm macht‹. Mozarts Musik überbietet im ›Figaro‹-Finale Grétrys Musik […].« Siehe Armbruster, Richard: Das Opernzitat bei Mozart, Kassel: Bärenreiter 2001 (Schriftenreihe der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg 13), S. 173. Hervorhebung im Original. Ein Beitrag, in dem ich dieses Beispiel näher ausführe, ist in Vorbereitung und wird im von Carola Bebermeier und Melanie Unseld herausgegebenen Sammelband zum Symposium »›La cosa è scabrosa‹. Musikkulturelles Handeln auf der Opernbühne in Wien um 1780« (3. bis 5. Juli 2015, Oldenburg) erscheinen.

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UND / ALS MUSIKKULTURELLES H ANDELN Eine rein poststrukturalistisch konzipierte Intertextualitätstheorie kritisiert zwar die Vorstellung von einem autonom (und gegebenenfalls genial) schöpfenden Autorsubjekt, ist aber durch die Verlagerung der Produktivität auf die Texte nicht an Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf Intertextualität interessiert. Eine aus der Analyse gewonnene Intention des Autors oder ein idealtypischer Leser ist ebenso wenig greifbar. Dabei lässt sich durchaus Intertextualität daraufhin befragen, wie konkrete Personen und ihre Praktiken einen Umgang mit ihr belegen. Der Versuch der neueren historischen Kulturforschung, »die Geschichte der Kunst als eine Geschichte von Praxisformen zu schreiben«18, verschiebt, so Susanne Rode-Breymann, die Aufmerksamkeit vom Heroen-Individuum, dem genialen Urheber, zu den Veränderungen unterworfenen Methoden, Alltagspraktiken, kulturellen Aneignungsprozessen der Menschen.19 Im Zusammenhang mit Erik Satie sind es zeitgenössische Verleger, Musikkritiker, Interpret*innen oder heutige Wissenschaftler*innen, die durch Drucklegungen, Rezensionen, Aufführungen und akademische Forschung seine an verschiedenen Stellen immer wieder intertextuell angelegte Klaviermusik im unterschiedlichen Maße in ihren Praktiken zirkulieren lassen. Der Komponist Satie, der selbstverständlich Teil dieses »Bündel[s] kultureller Handlungen aus dem Spektrum zwischen ästhetischem Handeln und kommunikativen Handeln«20 ist, kann nicht einseitig überhöht werden. Denn ohne die genannten musikkulturell handelnden Personen haben künstlerische Artefakte, so Rode-Breymann weiter, »keine Lebenschance«21. Um ihre Metapher fortzuschreiben, könnten diesen künstlerischen Artefakten prinzipiell jedoch durch Handlungen wie der Ablehnung einer Drucklegung oder vernichtenden Kritiken die Lebenschance genauso genommen werden. Beide Seiten lassen sich auch

18 Rode-Breymann, Susanne: »Wer war Katharina Gerlach? Über den Nutzen der Perspektive kulturellen Handelns für die musikwissenschaftliche Frauenforschung«, in: dies. [Hg.]: Orte der Musik. Kulturelles Handeln von Frauen in der Stadt, Köln: Böhlau 2007, S. 269–284, hier S. 279. 19 Ebd., S. 280. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 279.

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hinsichtlich der Verknüpfung von Intertextualität und Erinnerung beleuchten. Zum einen kann ein Komponist durch bewusste Markierung von Intertextualität das Augenmerk auf diese selbst und auf die verwendeten »PräKompositionen« werfen (oder eben nicht), die dann lebendig gehalten werden. Zum anderen kann dieses Handeln verstärkt und im kommunikativen Gedächtnis22 weitergeführt werden (oder eben nicht): durch einen bestimmten Umgang mit Intertextualität durch z.B. das Publikum, durch Interpret*innen oder die Konzertleitung sowie durch die Musikwissenschaft und -kritik. Prä-Kompositionen, die auf sie verweisenden PostKompositionen und Intertextualität selbst sind alle drei Gegenstand erinnerungskultureller Arbeit. Personen erinnern mittels Intertextualität und erinnern wiederum an sie durch weitere Praktiken. Das musikkulturelle Handeln kann hier verstanden werden als ein erinnerungskulturelles Handeln in Bezug auf musikalische Intertextualität. Nach der Skizzierung der Satieschen intertextuellen Klavierstücke von 1913 folgen Beispiele, die an dieser Stelle bewusst auf die Fokussierung des Komponisten Satie verzichten, um andere Akteurinnen und Akteure und ihre Praktiken innerhalb der Erinnerungskultur ebenso sichtbar werden zu lassen. Die Beispiele sollen außerdem einen Beitrag zu Astrid Erlls Verschränkung der drei Dimensionen der Erinnerungskultur, der materialen, sozialen und mentalen, leisten.23 Denn während das Konzept von Lachmann oder hermeneutische Ansätze, die aus dem Text den Autor und seine Intention destillieren wollen, der materialen Dimension verhaftet bleiben, da sie letztlich beide textimmanent argumentieren, berücksichtigt die Perspektive des musikkulturellen Handelns den sozialen Aspekt. Dieser ist aber nicht allein aus sich heraus, sondern unter Beachtung der »kulturspezifischen Schemata und kollektiven Codes«24 auf Seiten der mentalen Dimension von Erinnerungskultur verstehbar.

22 Vgl. Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: ders. und Hölscher, Tonio [Hg.]: Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 9–19. 23 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung , S. 101–104. 24 Ebd., S. 102.

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AUS DEM

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J AHR 1913

Erik Satie konzentrierte sich zwischen 1912 und 1915 auf das Komponieren von einer Reihe an Klavierstücken, die durchweg aus mehreren (zumeist aber drei), miniaturhaften Einzelnummern bestehen.25 Unterbrochen durch die gemeinsame Arbeit mit Jean Cocteau, Pablo Picasso und Sergej Djagilev am Ballett Parade (1916), fand diese intensive Beschäftigung mit den mehrteiligen Klavierkompositionen in der dreisätzigen Sonatine bureaucratique im Jahre 1917 einen Nachklang. Was diese Stücke neben ihrer Form außerdem vereint, ist ihre in der Musikforschung immer wieder attestierte Nähe zur Komik, die zu einem großen Teil auf die von Satie selbst in die Noten eingefädelten Textbausteine zurückgeführt wird. Diese bestehen sowohl aus selbst erfundenen Spielanweisungen als auch aus kleineren, tonmalerisch ausgestalteten Geschichten.26 Viele dieser Kompositionen besitzen Verweise, aber im Rahmen dieses Aufsatzes interessieren mich fünf, im Sommer 1913 komponierte Stücke mit intertextuellen Qualitäten. Die Auswahl ist dadurch begründet, dass Satie hier konzentriert mit Verweisstrukturen arbeitet und die Stücke in dichter Abfolge für den Verleger Demets in Paris entstanden:27

25 Der Zyklus Sports et divertissements (1914/1922) ist mit 21 Nummern die längste und vielschichtigste unter diesen Klavierkompositionen. 26 Grete Wehmeyer spricht einerseits von »Klavierstücke[n] mit erfundenen Spielanweisungen« (Wehmeyer, Grete: Erik Satie, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2005, S. 69), die die musikalische Aufführung potentiell irritieren können. Satie probierte bereits in früheren Klavierstücken selbst erdachte Vortragsbezeichnungen aus, z.B. in den Gnossiennes, in Le fils des étoiles oder in den Pièces froides. Andererseits weist Wehmeyer an anderer Stelle mit dem Zusatz »Klavierstücke mit Stories« (Wehmeyer, Grete: Erik Satie, überarb. Neuaufl., Kassel: Gustav Bosse 1997, S. 121) auf diejenigen Texteinsprengsel hin, die sich zu kleinen Geschichten verdichten und die nicht minder eine Herausforderung für die musikalische Interpretation darstellen. 27 Die nachfolgende Zusammenstellung bezieht ihre Informationen aus: Orledge, Robert: »Appendix. Chronological Catalogue of Satie’s Compositions and Research Guide to the Manuscripts«, in: Caroline Potter [Hg.]: Erik Satie. Music, Art and Literature, Farnham, Surrey: Ashgate 2013, S. 243–324., hier S. 285– 288.

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Descriptions automatiques: 21.–26. April komponiert, im Juni erschienen, mit den Nummern: »Sur un vaisseau«, »Sur une lanterne«, »Sur un casque« Croquis et agaceries d’un gros bonhomme en bois: 2. Juni–25. August komponiert, im November erschienen, mit den Nummern: »Tyrolienne turque«, »Danse maigre (à la manière de ces messierus)«, »Españaña« Embryons desséchés: 30. Juni bis 4. Juli komponiert, im Oktober erschienen, mit den Nummern: »d’Holothurie«, »d’Edriophthalma«, »de Podophthalma« Chapitres tournés en tous sens: 23. August–5. September komponiert, im November erschienen, mit den Nummern: »Celle qui parle trop«, »Le Porteur de grosses pierres«, »Regrets des Enfermés (Jonas et Latude)« Vieux sequins et vieilles cuirasses: 9.–17. September komponiert, im November erschienen, mit den Nummern: »Chez le marchand d’or (Venise XIIIe siècle)«, »Danse cuirassée (Période grecque)«, »La Défait des Cimbres (Cauchemar)«

Die eingearbeiteten Verweise Saties, durch die diese Stücke in die Nähe musikalischer Komik und Satire rücken,28 basieren zum einen auf textlichen Referenzen im wortwörtlichen Sinn, d.h. sie sind innerhalb der oben erwähnten und auch hier vorhandenen literarischen Begleittexte zu suchen. Zum anderen – und das ist der weitaus größere Anteil – gründen sie sich auf musikalische Referenzen. 29 Jede der intertextuellen Klavierkompositionen ist dreiteilig, aber nicht jede Einzelnummer arbeitet – zumindest nach heutigem Wissensstand – mit Verweisen. In anderen Nummern verarbeitet Satie wiederum gleich mehrere Bezüge. Recht umfangreich ist das Repertoire, aus dem er schöpft. Dieses bewegt sich einerseits im kulturellen Gedächtnis.30 Satie referenziert musikalisch auf französische Volkslieder (Kinder- , Revolutions- , Militär- und Salonlieder) aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die zu seiner Zeit z.T. bereits in Liedersammlungen eingegan-

28 Whiting, Steven M.: Satie the Bohemian. From Cabaret to Concert Hall, Oxford: Oxford University Press 2002, S. 354. 29 Im Anhang befindet sich eine Übersicht. 30 Vgl. Assmann 1988.

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gen sind (als »Formen der objektivierten Kultur«31). Andererseits – betrachtet man den Zeithorizont – greift er mit Instrumentalkompositionen von Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Frédéric Chopin, Emmanuel Chabrier und Claude Debussy sowohl auf das kommunikative und kulturelle Gedächtnis sowie deren Übergangszone zurück. Steven M. Whiting hält in der Nummer Danse maigre der Croquis et agaceries außerdem Selbstreferenzen Saties für möglich.32 Die dritte, größere Quelle an Vorlagen besteht in populären französischen Opernmelodien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so z.B. solche aus der Feder von Jacques Offenbach und Charles Gounod. In den Paratexten33 (hier die Begleittexte in den Noten, Über- und Unterschriften) finden sich neben Phrasen, die die musikalischen Quellen zusätzlich textlich hervorheben, ebenso nicht mit der Musik verankerte Textzitate oder -allusionen wieder. So unterstreicht bereits der Titel Tyrolienne turque aus den Croquis et agaceries neben der intertextuellen Kopplung an die Gesangstechnik des Jodelns die in diesem Satz erklingende Verfremdung des in Oktaven laufenden A-Dur-Themas aus Mozarts Rondo Alla turca der Klaviersonate Nr. 11. Und im dritten Satz, Españaña, der gleichen Komposition treten passend zur musikalischen Referenz (d.i. Emmanuel Chabriers España) mit »Comme à Seville«, »La belle Carmen et le peluquero« und »Les cigarières« textliche Anspielungen an Georges Bizets Carmen hinzu – nicht zuletzt eine para- und intertextuelle Beschäftigung mit der Pariser Spanienbegeisterung zur Zeit Saties.34

31 Ebd., S. 11. 32 Whiting 2002, S. 381. 33 Vgl. Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, aus dem Franz. von Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 1989. 34 Ebd., S. 382; G. Wehmeyer: Erik Satie, S. 138.

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Z WISCHEN E RINNERN UND E RINNERT -W ERDEN . I NTERTEXTUALITÄT UND MUSIKBEZOGENES ERINNERUNGSKULTURELLES H ANDELN Ein Bereich, in dem ein spezifischer Umgang mit den intertextuellen Klavierstücken Saties aus dem Jahr 1913 durch weitere Personenkreise zu beobachten ist, stellen die Radio- und Konzertprogramme der 1920er Jahre dar, regelmäßig abgedruckt in den größten französischen Tageszeitungen. Radiokonzert bedeutet entweder ein Mitschnitt eines Konzerts oder eine eigens für das Radio zusammengestellte Kompilation. Für eine Intertextualität berücksichtigende Programmzusammenstellung spricht beispielsweise ein Radiokonzert der zweiten Kategorie vom 26. März 1924, das via Radiola (Radio-Paris) übertragen wurde.35 Nach den Nachrichten 16.30 Uhr folgt ein Programm, das mit Saties Croquis et agaceries beginnt und im weiteren Verlauf u.a. Kompositionen von Lucien Wurmser, Robert Schumann, Édouard Lalo, César de Casella, Lætitia Sari, Frédéric Chopin und Isaac Albéniz aufführt. Es steht mit Komponisten wie Schumann und Chopin, Gattungen der Berceuse oder des Chant sowie Saties Jodler-Anlehnungen in der Nr. 1 »Tyrolienne turque« der Croquis et agaceries das lyrische Moment im Vordergrund. Besonders spannend wirkt aber ein anderer Gestaltungsaspekt. Im Anschluss an das Radiokonzert erfolgt eine Übertragung des »Festival Mozart, avec M. Ferney, du Grand Théâtre de Lyon«36. Neben Ausschnitten aus der Zauberflöte, Le nozze di Figaro und Don Giovanni erklingt zum Abschluss der Marche turque, das Rondo »Alla turca«, welches im besagten und im Programm vorher erklungenen »Tyrolienne turque« inkorporiert ist. Diese »Programmkreuzung«, bei der bemerkenswerterweise mit Satie erst das referenzierende und dann mit Mozart das referenzierte Stück erklingt, mag auch musikalische Verstärkungen und gegenseitige Durchdringungen ergeben und das (Wieder-)Erkennen durch das Publikum und somit auch das Erinnern befördert haben. Aus programmgestalterischer Sicht liegt zumindest eine musikalisch-inhaltliche Abstimmung des Programms, eine bewusst gesetzte Dramaturgie, nahe und 35 Vgl. u.a. [Anonym]: »Notes de musique«, in: Le Journal vom 26. März 1924, S. 4 und [Anonym]: »Courrier des amateurs de T.S.F.«, in: Le Petit Parisien vom 26. März 1924, S. 4. 36 Ebd.

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stellt in diesem Rahmen eine intertextuelle Handlungsmöglichkeit durch die Personen, die für das Programm verantwortlich zeichneten, dar. Ein weiteres Beispiel für die intertextuelle Zusammenstellung von Konzertprogrammen findet man bei dem Pianisten Ricardo Viñes, einer von Saties Hauptinterpreten. Dieser gab am 5. und 18. Dezember 1922 Konzerte in der Comédie des Champs-Elysées, die jeweils durch über die Tageszeitungen breit gestreute Ankündigungen viel Aufmerksamkeit erfuhren.37 Neben einer allgemeinen Spanienmode seit der Jahrhundertwende38 spiegelt sich auch Viñes’ Biographie und sein Engagement für zeitgenössische Musik in der Zusammenstellung für die Konzerte am 5. und 18. Dezember wieder:39 Hauptsächlich mit Kompositionen von französischen Künstlern der zweiten Hälfte des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts bestückt, bezieht Viñes fünf spanische Komponisten seiner Zeit ein, die allesamt Verbindungen nach Paris aufweisen. Es lassen sich daher mehrere biographische und geographische Überschneidungen mit dem Interpreten sowie den aufgeführten Komponisten untereinander ausmachen. Es ist alles in allem ein typisches Programm Viñes’, wie es auch in anderen Ankündigungen oder Rezensionen der Tages- und Monatspresse besprochen wird, hat in diesem Fall aber eine Besonderheit. Saties Croquis et agaceries bilden quasi die Spiegelachse: sieben Stücke werden vor, sieben nach ihnen gespielt. Diese Tatsache wird zusätzlich durch besagte biographische Kreu-

37 Stellvertretend seien genannt: [Anonym]: »Les Théâtres«, in: L’Homme libre vom 2. Dezember 1922, S. 3 und [Anonym]: »Notes de musique«, in: Le Journal vom 17. Dezember 1922, S. 5. 38 Vgl. G. Wehmeyer: Erik Satie, S. 138. 39 Viñes wurde 1875 im katalonischen Lérida (heute amtlich Lleida) geboren und erhielt seine musikalische Ausbildung zunächst in Spanien, bis er 1887 seine Studien am Pariser Conservatoire bei Charles-Wilfrid de Bériot fortsetzte. Als gefeierter Konzertpianist und starker Befürworter zeitgenössischer Musik führten ihn Konzertreisen durch Europa, Nordafrika und Südamerika. 1936 kehrte er nach Paris zurück und starb 1943 in Barcelona. Siehe Nommick, Yvan: Art. »Viñes i Roda, Ricardo«, in: Ludwig Finscher [Hg.], Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. neubearb. Ausg., Personenteil Bd. 17, Kassel: Bärenreiter 2007, Sp. 22. Außerdem Timbrell, Charles/Berrocal, Esperanza: Art. »Viñes, Ricardo«, in: Stanley Sadie [Hg.]: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, 2nd Ed., Vol. 26, London: Macmillan 2001, S. 661.

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zungen bekräftigt. Viñes spielt vor Satie Stücke von Debussy bzw. Ravel, Saties »alten Weggefährten«, und danach solche von Darius Milhaud und Francis Poulenc (Schüler Viñes’), den »neuen Weggefährten« aus der Satie verehrenden Group des Six. Es ist überdies die Achse »Satie« oder »Croquis et agaceries«, die das Programm vom »französichen« zum »spanischen« Teil »dreht«. Die Croquis et agaceries sind aufgrund ihrer Intertextualität wie dafür gemacht, denn intern bildet ihre Schlussnummer »Españaña«, wenngleich mit Zitaten aus Chabriers España (1883) als möglicher Seitenhieb auf die Spanienmode überhaupt zu verstehen, den passenden Übergang. Mithin ist eine exponierte Stellung der Croquis et agaceries im Programm herauszulesen. Intertextualität erscheint nun verdoppelt: Sie ist in Saties Stück selbst gegeben und, wenngleich nicht mittels der von Satie mehrfach zitierten Orchesterkomposition España, sondern mit Chabriers Bourrée fantasque, bezieht Viñes mit dem zitierenden auch den zitierten Komponisten in ein und dasselbe Programm ein. Dies setzt voraus, dass mittels Intertextualität nicht nur Prä-Kompositionen, sondern gleichfalls deren Komponisten aufgerufen werden. Viñes hält also über seine eigene Zusammenstellung eines Konzertprogramms die durch Satie eingearbeiteten Verweise und die Komponisten der Originale »lebendig«. Er erinnert mithilfe von und an Intertextualität. Eine weiterführende und durchaus spannende Frage wäre, in wie weit sich das auch in der Interpretation und in den Aufführungen widergespiegelt haben könnte. Intertextualität kann also selbst zum Gegenstand der Erinnerungskultur werden. Dabei stellt sich die Frage, ob sie und, wenn ja, wie sie erinnert wird? Welche Handlungsmuster und damit verbundenen Bewertungen kann man daraus ablesen? Während Pierre -Daniel Templier, einer der ersten französischen Satie-Biographen, noch Hinweise darauf gibt, dass die humoristischen Klavierstücke zwischen 1913 und 1917 zum Teil intertextuell gearbeitet sind,40 verschleiert dies einer der ersten englischen Artikel nach Saties Tod: In der deutschen Übersetzung von Wilfrid H. Mellers Artikel von 1942 aus Music and Letters heißt es: »alle diese Stücke [die Reihe der Klavierkompositionen] werden von nichts anderem getragen als von ihrem musikalischen ›Knochen‹, und so entschlägt sich denn auch die köstliche Españaña des mindesten Anflugs von ›espagnolerie‹, bleibt rein Franzö-

40 Templer, Pierre-Daniel: Erik Satie, Paris: Éd. Rieder 1932, S. 75–82.

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sisch und reiner Satie.«41 Wie gezeigt ist »Españaña« genau die Nummer der Croquis et agaceries, die sich auf Chabriers einst gefeiertes Orchesterstück España bezieht. Das findet bei Mellers keine Erwähnung, ebenso wenig, dass »Españaña« gerade die Pariser Spanien-Mode zur Zeit Saties konterkariert. Er spricht ihr im Gegenteil »espagnolerie« ab und einen exklusiven » französischen« Status zu. »Rein Satie« diskutiert Mellers in Hinblick auf die für den Komponisten zu attestierende »absolute emotionale Unverlogenheit sowie Integrität und Reinheit der Haltung«, außerdem die »skrupulöse Wahrhaftigkeit der [eingesetzten] Mittel«42. Diese Attribute sind jene, die Satie laut Mellers mit den allergrößten Genies der Geschichte teilt. Damit geht der Versuch einher, Satie vor den zu Mellers wie auch Saties Lebzeiten vorhandenen Bezichtigungen, der Komponist sei ein Clown, ein Witzbold, aber kein ernst zu nehmender Musiker, zu schützen. »Rein Satie« ist »Españaña« intertextuell gesehen aber eben nicht. Das lässt danach fragen, in wie fern hier die Re-Etablierung von Originalität des Komponisten durch Verschweigen oder zumindest Marginalisierung von Intertextualität eine Rolle spielt. Der in der Rezeptionsgeschichte zu Satie vorhandene Widerstreit zwischen Anschuldigungen aufgrund musikalischer Clownerie und darauf reagierender Verteidigungshaltungen wird zum »Cas Satie«.43 Die Musikkritik ist bereits zu seiner Lebzeit geteilter Meinung. Georges Chennevière hofft, dass man Satie die Scherze verzeihen möge, »car il ne manque ni d’esprit ni d’invention. Et surtout il amuse«. Während

41 Mellers, Wilfried H.: »Erik Satie und das Problem der ›zeitgenössischen Musik‹«, in: Metzger, Heinz-Klaus und Riehn, Rainer [Hg.]: Musik-Konzepte 11 (Erik Satie), München: Ed. Text + Kritik 1988, S. 7–26, hier S. 14. 42 Alle Zitate ebd., S. 7. 43 Vgl. Csampai, Attila/Holland, Dietmar: »Der Skandal Satie«, in: Metzger, Heinz-Klaus und Riehn, Rainer [Hg.]: Musik-Konzepte 11 (Erik Satie), München: Ed. Text+Kritik 1988, S. 66–76, hier S. 66: »Die Bilanz, die ein Paul Landormy in seinem Artikel ›Le Cas Satie‹, der ein Jahr vor dem Tod des Komponisten, in der Zeitung La Victoire erschien, aus dem öffentlichen Wirken Saties in Paris gezogen hat, ist bis heute für die bürgerliche Satie-Rezeption verbindlich geblieben […]: ›Jeder Wer hat seine Stufe, Erik Satie erscheint allmählich als der, der er wirklich ist: ein gefälliger kleiner Musiker, ein amüsanter Unterhalter, […] im Ganzen gesehen ein Mann von wenig Bedeutung, der keine Schule angeführt hat, der ohne Einfluß blieb.‹«

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er sich dabei wortspielerisch wünscht, dass »Dieu veuille (qu’on me pardonne le calembour) que ce ne soit pas jusqu’à satiété«44, warnt Claude Cahun vor dem Einsatz des Komischen: »Provoquer le rire. – C’est trop facile. Et songez, M. Satie, combien le rire d’un public est un résultat équivoque, dangereux…«45. Sergines kann demgemäß 1925 in einem Nachruf zu Satie resümierend feststellen: »Les critiques ne balançaient guère sur son cas: ils voyaient en lui un loufoque ou un précurseur génial.«46 Genauso durchmischt sind dann auch die Meinungen zum Einsatz von musikalischen Verweisen auf ältere oder zeitgenössische Musik aus Saties Umfeld, sowohl was Zuspruch oder Ablehnung als auch die Charakterisierung betrifft. In Le Ménestrel wird am 18. Juni 1920 über das »Festival Erik Satie« berichtet und die aufgeführten Stücke rezensiert. Darin wird bezüglich der Person Satie der grundlegende Defekt des »farceur«47, des Witzboldes, der Satie sei, festgestellt. Eine Eigenschaft des »farceur« sei es, einen immer zu kurzen Atem zu haben, wodurch die clownesken Passagen immer wieder durch zu trocken geratene durchsetzt seien. Die Rede von Satie dem Humoristen wird also bedient, umso deutlicher wiegt infolgedessen die Einschätzung des Autors, dass bei »Celle qui parle trop« aus den Chapitres tournés en tous sens nicht die Musik selber lustig sei, sondern die kompositorische Verknüpfung des Textes mit dem Libretto-Prätext der Arie »Ne parle pas, Rose« aus Aimé Maillarts komischer Oper Les Dragons de Villars. Das wird als schwerwiegender Mangel und als eine handwerkliche Scharade eingestuft, womit nicht per se der Humor, aber Intertextualität umso stärker abgewertet wird: »Vice plus grave encore: ce n’est pas de la musique que vient le prétexte à rire: conclure une imitation de bavardage féminin (celle qui parle trop) par l’air: ›Ne parle pas, Rose, je t’en supplie‹ relève plutôt

44 Beide Zitate aus Chennevière, Georges: »La Musique. Le Centenaire de Smetana. Les Grands concerts et la musique tchèque. Quelques notes sur Erik Satie«, in: L’Humanité vom 13. März 1924, S. 2. Hervorhebung TW. 45 Cahun, Claude: »Méditations à la faveur d’un Jazz-Band«, in: La Gerbe. Revue mensuelle, arts, sciences, littéraires, philosophie, commerce, industrie vom Februar 1921, S. 157–158, hier S. 158. 46 Sergines: »Les Echos. Les Titres d’Erik Satie«, in: Les Annales politiques et littéraires: revue populaire paraissant le dimanche vom 12. Juli 1925, S. 29. 47 S., R.: »Festival Erik Satie«, in: Le Ménestrel vom 18. Juni 1920, S. 255.

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de la charade d’atelier que de l’humour musical.«48 Der bereits genannte Chennevière bittet nicht nur um eine Rücksichtnahme, da Saties Originalität und Einfallsreichtum seine humoristischen Ausflüge wettmachten; auch er verhehlt nicht seine Probleme, die er einzig mit der musikalischen »constipation drôlatique«49 hat. Das Komische erscheint ihm handwerklich zu gewollt, gerade im Hinblick auf selbiges »Celle qui parle trop« oder »Le Porteur de grosses pierres«. André George nutzt die journalistisch-literarische Freiheit, die Metaphorik der Satieschen Stücktitel wortspielerisch weiter zu bedienen. Die Stimulans dafür besteht jedoch in diesem Fall direkt in der entdeckten intertextuellen Qualität der Descriptions automatiques, genauer in Form des Kinderliedes Maman, les p’tits bateaux. Die Satie gegenüber negativ eingestellten »snobs« kämen zuhauf an Bord und drohten die leichten Schiffe zu versenken (»Seulement, les snobs, embarqués en foule, menacent un peu de faire couler ces légers navires…«50). Dabei sei doch das Lied »de notre enfance« ein unschuldiges und Satie verfolge einen »cours d’un développement sans maligne intention«.51 Der Beitrag steht für die Beurteilung des Verweisens als harmlos-spielerisches Mittel (»sans maligne intention«). Neben dieser eher neutralen Einschätzung und der genannten Kritik am Handwerk wird Intertextualität auch positiv hervorgehoben. Alexandre Guinles Aufsatz »Lettre à l’infante sur la musique d’aujourd’hui« diskutiert die in den Embryons desséchés vollzogene, außergewöhnliche Kombination der Seegurke (Holothurie) mit dem Salonlied Mon rocher de Saint-Malo einerseits und der Gattung der Kopffüßler (Podophthalma) mit einer HornFanfare (vermutlich erkennt Guinle hier die Melodie der Royale) im Zusammenhang mit einem Bestreben, »de proposer à notre intelligence de nouvelles relations, de guider notre esprit, libéré de toute logique apparen-

48 Ebd. 49 G. Chennevière: »La Musique. Le Centenaire de Smetana. Les Grands concerts et la musique tchèque. Quelques notes sur Erik Satie«, S. 2. 50 George, André: »La Musique. Les Concerts«, in: Les Nouvelles littéraires, artistiques et scientifiques. Hebdomadaire d’information, de critique et de bibliograpie vom 29. Dezember 1923, S. 3. 51 Beide Zitate ebd.

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te.«52 Satie wird zum Pädagogen und die Musik zum Lehrmittel erhoben: »La vocation d’›enseigner par la musique‹ se décèle dans maint ouvrage dont le titre même nous livre l’arrière-pensée de ›pédagogie‹ […].«53 Intertextualität wäre dann Teil dieses »enseigner par la musique«. Antoine Banès sieht in Satie gar einen Neuerer, gerade auch in der Position des Humoristen. Die Öffentlichkeit würde das nur ungern zugeben. Diese entdecke in ihm vielmehr ein »faux original«54, eine Aussage, die gerade den Kern der Diskussion um unnachahmliches Original und partizipierendes Derivat oder potentialversäumendes Original und pontentialausschöpfendes Zitat berührt. Banès stellt fest, dass die Chapitres tournés en tous sens mit »une science raffinée, la plus exquise caricature de nos vieux airs populaires«55 komponiert sind. Die Fertigkeit, die »science«, zeichne sie im Gegensatz zu den obigen kritischen Einschätzungen des Handwerks und überreizter Komik gerade erst aus. Unabhängig von befürwortender oder ablehnender Haltung zeigen die letzt genannten Beispiele der Musikkritik, als einer Form musikkultureller Praxis, wie das Erinnern oder Nicht-Erinnern an das musikalische Mittel Intertextualität in die Erinnerung an Satie einfließen und auf ein bestimmtes Komponistenbild abzielen. Erinnerung ist in diesem Zusammenhang mit Konstruktionsleistungen eng verbunden, die auf jenen »kulturspezifischen Schemata und kollektiven Codes« der mentalen Dimension der Erinnerungskultur beruhen, von denen Erll spricht. Neben diesem An-Intertextualität-Erinnern muss eine Perspektive des musikkulturellen Handelns zugleich beleuchten, wie mithilfe von Intertextualität Erinnerungsarbeit geleistet wird und dass dabei nicht nur Satie als Komponist von Stücken mit Verweisstrukturen ein handelnder Akteur ist, sondern ebenso weitere Personen(-gruppen) in Betracht gezogen werden müssen. Die Verantwortlichen der Radioprogramme und Ricardo Viñes zeigen als Beispiele Intertextualität berücksichtigender Programmgestaltung, dass diese Personen nicht nur hermeneutisch untersuchbare Rezipien-

52 Guinle, Alexandre: »Lettre à l’infante sur la musique d’aujourd’hui«, in: Au Jardin de l’infante, Mai 1924, S. 29–33, hier S. 29f. 53 Ebd., S. 29. 54 Banès, Antoine: »Les Concerts. Festival Erik Satie«, in: Le Figaro vom 9. Juni 1920, S. 4. 55 Ebd.

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ten von Intertextualität sind und zu ihrem Gelingen oder ihrer Sinnkonstitution beitragen, sondern aktiv eigene Praktiken, mit denen sie gleichsam Erinnerung hervorrufen, an die von Satie komponierten intertextuellen Klavierstücke anschließen. Dies führt dazu, Intertextualität als Bestandteil einer musikkulturellen Praxis neu zu denken.

ANHANG Gesamttitel

Einzelstücke

Musikalische oder literarisch-textliche Verweise (alle nach [SMW]: Steven M. Whiting56; ergänzt durch [RO]: Robert Orledge57 und [BJH]: Belva Jean Hare58)

Descriptions automatiques

»Sur un vaisseau«

[SMW]: Kinderlied Maman, les p’tits bateaux

»Sur une lanterne«

[SMW]: Revolutionslieder Ça ira und La Carmagnole

»Sur un casque«

Keine. Für Ornella Volta aber Refrain der Fanfare En avant und Claude De-bussys Prélude Général Lavine excentric59

56 Whiting 2002, S. 361–395. 57 Orledge, Robert: Satie the Composer, Cambridge: Cambridge University Press 1990, S. 61–63. 58 Hare, Belva Jean: The Uses and Aesthetics of Musical Borrowing in Erik Satie’s Humoristic Piano Suites, 1913–1917, Diss. University of Texas, Austin 2005, http://www.lib.utexas.edu/etd/d/2005/hareb78915/hareb78915.pdf, letzter Zugriff: 30. Juli 2015. 59 Vgl. Satie, Erik: Schriften, hg. von Ornella Volta, übers. von Silke Haas, Hofheim: Wolke, S. 449.

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Croquis et agaceries d’un gros bonhomme en bois

»Tyrolienne turque«

[SMW]: Rondo alla Turca aus Wolfgang Amadeus Mozarts Klaviersonate A-Dur KV 331 (Seitenthema)

»Danse maigre (à la manière de ces messieurs)«

[SMW]: Ähnlichkeiten zu Danses nègres von Debussy (»General Lavine – Excentric«, »Minstrels«) und Saties »Airs à faire fuir« (aus Pièces froides) sowie Prélude de la Mort de Monsieur Mouche

»Españaña«

[SMW]: Emmanuel Chabriers España und im Begleittext Anspielung an Georges Bizets Carmen, [RO, S. 61]: Debussys La Boîte à joujoux, [BJH, S. 15]: Emil Waldteufels Walzer España, der selbst auf Chabrier beruht60

Embryons desséchés

»d’Holothurie«

[SMW]: Loïsa Pugets Salonlied Mon rocher de Saint Malo (Text v. ihrem Mann Gustave Lemoine) und vmtl. Volkslied J’ai du bon tabac, [BJH, S. 55]: bestätigt J’ai du bon tabac, mögliche textlich Anspielung an »Air du Rossignol« aus Victor Massés Les Noces de Jeannette, d.i. Verweis auf derartige Arien

Chapitres tournés en tous sens

»d’Edriophthalma«

[SMW]: Marche funèbre aus Chopins Klaviersonate b-Moll, op. 35

»de Podophthalma«

[SMW]: »Chanson de l’orang-outang« aus Edmond Audrans Operette La Mascotte, Jagdfanfare La Royale und Schlusstakte aus Ludwig van Beethovens 8. Sinfonie

»Celle qui parle trop«

[SMW]: Arie »Ne parle pas, Rose, je t’en supplie« aus Aimé Maillarts Opéra comique Les Dragons de Villars

60 Whiting weist auch bereits darauf hin, aber Hare vertritt die These, dass auch Satie von Waldteufel zitiert haben könnte. Es geht dabei um ein Drei-NotenMotiv; siehe dies. 2005, S. 15.

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»Le Porteur de grosses pierres«

[SMW]: Refrain der Arie »Vive la paresse« aus Robert Planquettes Operette Rip

»Regrets des Enfermés (Jonas et Latude)«

[SMW]: Volkslied Nous n’irons plus au bois (dabei Zitat des Zitats: Debussys La Belle au bois dormant und Jardins sous la pluie, die selbst das Volkslied verarbeiten, werden aufgegriffen), [RO, S. 63]: Debussys Nuages und Pour le piano

Vieux sequins et vieilles cuirasses

»Chez le marchand d’or (Venise XIIIe siècle)«

[SMW]: Violinenthema aus »Duo de concerto« in Jacques Offenbachs Opéra bouffon Orphée aux enfers und Arie »Ronde du Veau d’or« aus Charles Gounods Faust

»Danse cuirassée (Période grecque)«

[SMW]: Militärlied As-tu vu la casquette (Melodie im Militär auch unter Aux champs (en marchant) bekannt61)

»La Défaite des Cimbres (Cauchemar)«

[SMW]: Volks- und Kinderlieder Le bon roi Dagobert und Marlbrough s’en va-t-en guerre, Textstelle »Les Dragons de Villars« könnte ebenfalls auf Maillarts Oper gemeint verweisen, s. Chapitres tournés en tous sens

61 Gillmor, Alan M.: Erik Satie, New York: Norton 1992, S. 152f.

Dynamiken des musik-kulturellen Gedächtnisses

Erinnerung und Gedächtnis in der Diktatur Dekanonisierung Felix Mendelssohn Bartholdys unter dem Hakenkreuz? E LISABETH R EDA

»Felix Mendelssohn Bartholdy wird 200, doch so richtig kennt ihn keiner.«1 So titelt im Jahr 2009 die Zeit und beklagt, dass das Jubiläum Felix Mendelssohn Bartholdys im Musikbetrieb untergehe, die Öffentlichkeit keine Notiz von ihm nähme und seine Werke, wenn sie denn überhaupt zur Aufführung gelangten, eher mittelmäßig gespielt würden. Stimmt das? Ist Mendelssohn ein geheimnisvoller Unbekannter? Ein zu Unrecht Vergessener? Ein Komponist, nach dem die Leipziger Musikhochschule sich benannt hat, dessen berühmtes Werk Der Sommernachtstraum immer wieder aufgeführt wird und der Namensgeber eines Internationalen Kulturpreises ist, den schon Persönlichkeiten wie Richard von Weizsäcker oder Marcel Reich-Ranicki entgegen nehmen durften, der aber viele Jahre sein Dasein als Nicht-Anerkannter und Verfemter unter den Bürden von Ideologie und Rassenwahn fristete? Was ist heute anzufangen mit einem Komponisten, der so unterschiedlich rezipiert wurde und wird wie Mendelssohn? Gehört dieser Felix Mendelssohn Bartholdy eigentlich zum Kanon der ›großen‹ Komponisten? Was hat dies mit der historiographischen Sichtweise auf ihn zu tun? Wie wirken Autorität und politische Ideologie auf musikalische Kanonisierung oder Dekanonisierung ein und welche Konzepte von Erinnerung, Gedächtnis und Vergangenheit stehen dahinter? 1

Hagedorn, Volker: »Auf dunklen Höhen«, in: Die Zeit vom 02.02.2009, http:// www.zeit.de/2009/05/SM-Mendelssohn.

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E RINNERUNG UND G EDÄCHTNIS »Vergangenheit findet in der Gegenwart statt.«2 Der Mensch im Hier und Jetzt entscheidet, wie er die Geschichte wahrnimmt, sie sich zu eigen macht oder vergegenwärtigt. Wenn er es nicht aktiv entscheidet, so tut er es doch durch sein Handeln und Denken entlang der jeweiligen narrativen, politischen, ideologischen und epistemologischen Ordnungen seiner Zeit und durch seine Erinnerungen, denn durch diese schafft der Mensch sich eine Identität.3 Somit wird Geschichte zu einem wandelbaren, subjektiven Konstrukt auf der Basis menschlicher Erinnerungen und diese »gehören zum Unzuverlässigsten, was ein Mensch besitzt.«4 Dabei sollte auch der Begriff des ›Vergessens‹ nicht unbeachtet bleiben. Vergessen ist nicht einfach nur die andere Seite der Medaille, im Sinne von ›Was wir nicht erinnern, vergessen wir‹. Dies verdeutlicht Aleida Assmann mit ihrer Unterteilung des kulturellen Gedächtnisses in das Funktions- und das Speichergedächtnis.5 Das Speichergedächtnis beinhaltet das, was in der Gegenwart nicht mehr aktiv erinnert wird. Darunter fallen Archive, aber auch zum Beispiel historische Wissenschaften. Assmann schreibt dazu: »Unter dem Dach der historischen Wissenschaften können unbewohnte Relikte und besitzerlos gewordene Bestände aufbewahrt, aber auch so wieder aufbereitet werden, dass sie neue Anschlussmöglichkeiten zum Funktionsgedächtnis bieten.«6 Das Funktionsgedächtnis formt sich also vor dem Hintergrund des Speichergedächtnisses und ist damit das aktive Gedächtnis mit Bezug zur Gegenwart. Es stützt die Identität eines Kollektivs und beruht unter anderem auf Prozessen der Kanonisierung. Damit ist das, was aus dem Funktions- in das Speichergedächtnis übergeht, keinesfalls vergessen. Das Wissen ist nur eingelagert, nicht vollkommen ausgelöscht. Es gibt also nicht nur entweder Erinnern oder Vergessen als vielmehr eine

2

Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München: Hanser 2013, S. 276.

3

Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 5. Auflage 2010, München: Beck 1999, S. 62ff.

4

Ebd., S. 64.

5

Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskul-

6

A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 134.

tur und Geschichtspolitik, München: Beck 2006, S. 55ff.

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Verschränkung beider Extreme und damit einen beidseitigen Austausch von Funktions- und Speichergedächtnis. Kulturen, die zum Beispiel auf mündlicher Tradierung beruhen, können auch ohne Speichergedächtnis auskommen. Totalitäre Regimes dagegen versuchen, das Speichergedächtnis zugunsten der jeweiligen Ideologie anzugreifen und zu verändern.7 Die nationalsozialistische Diktatur in Deutschland, welche die Rezeption Mendelssohns stark beeinflusste, begann 1933. Zu diesem Zeitpunkt war Mendelssohn 86 Jahre tot. Aus diesem Grund ist erinnerungskulturell auch das Konzept des ›Kommunikativen Gedächtnisses‹ von Interesse, da es genau den Zeitraum von 80 bis 100 Jahren einschließt. Es funktioniert über die Alltagskommunikation von lebendigen Menschen. Materiell ist diese Form des Wissens nicht, da es sich im sozialen Austausch manifestiert und somit nicht fixierbar ist. Deshalb zeichnet es sich durch Unorganisiertheit aus.8 Sowohl Erinnern als auch Vergessen wirken nicht nur bezogen auf Individuen identitätsbildend, sondern betreffen auch die Existenz und Entstehung kollektiver Identitäten. Eine Gruppe sucht nach einer gemeinsamen Identität, um sich zu festigen. Dazu greift sie beispielsweise auf institutionellem Weg auf Erinnerungen zurück, die Bezüge zur Handlungsund Lebenswelt des Kollektivs aufweisen. Diese Lesart der Wirklichkeit trägt zur Stabilisierung des ›Wir-Gefühls‹ der Gruppe bei.9 Im Gegensatz zur individuellen Erinnerung entsteht die Erinnerung eines beispielsweise staatlich-politischen Kollektivs nicht unvermittelt, sondern wird vielmehr aktiv gelenkt. Nationen legen sich bestimmte Konstruktionen von Vergangenheit zurecht und steuern gezielt die Erinnerungs- und Vergessensprozesse ihrer angehörigen Kollektive, um sich selbst zu legitimieren. Hier wird Erinnerung instrumentalisiert.10

7

Vgl. ebd., S. 140ff.

8

Vgl. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher [Hg.], Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 9–19, hier S. 9f.

9

Vgl. A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 77ff.

10 Vgl. ebd., S. 15ff.

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K ANONISIERUNG Ein Instrument des Erinnerns und Vergegenwärtigens ist der Kanon. Folgende Punkte sind hierbei für die Fragen nach Kanonisierung und Diktatur relevant: 1. Normativität, 2. Damit zusammenhängend die Selektion, 3. Kulturelles Gedächtnis und Kanon, 4. Identität und Zensur. 1. Normativität. Karol Berger bringt den Begriff der Normativität ins Spiel, der die Beispielhaftigkeit, die einem jeden Kanon inne sei, betont.11 Dabei unterscheidet Berger verschiedene kanonische Praktiken, je nachdem, ob es um ein Werk geht oder um dessen Aufführung oder Interpreten. In jedem Fall aber führe die kanonische Trennung beispielhafter von weniger beispielhaften Werken/Aufführungen/Interpreten etc. dazu, dass Kanon ein normatives Konzept sei.12 So ist es nachvollziehbar, dass Kanonisierung für Berger deutlich von einer Autorität abhängt. Ein Kanon dürfe zwar kritisiert werden, dieser sei jedoch ein autoritäres Konzept, das von einem gewissen elitären Exzellenzstreben nicht zu trennen sei.13 Auf den musikalischen Kanon bezogen bedeutet dies, dass beispielhafte Werke/Aufführungen/Interpret*innen/Komponist*innen von weniger beispielhaften unterschieden werden. Maßstäbe dafür sind Gütekriterien, die von Autoritäten gesetzt werden. Wie genau das Handeln von Autoritäten sich auf Kanones auswirkt, erläutert des Weiteren Andreas Dorschel. Diejenigen, die die Macht besäßen, formten den Kanon. Dies träfe allerdings bei einem Kanon von musikalischen Kunstwerken nur bedingt zu. Dorschel bezeichnet diese Art Kanon als ästhetischen Kanon, der eben nicht auf der Macht einer einzigen Person oder Organisation fuße, sondern in einem historischen Prozess entstehe.14 Das bedeutet für ihn: »Der musikalische Kanon ist das Produkt einer Unzahl von Handlungen, deren diversen Charakter man sich kaum je

11 Auch Jan Assmann führt die Normativität von Kanones ausführlich aus. Vgl. hierzu Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck 1992, S. 103–129. 12 Vgl. Berger, Karol: »Fünf Thesen zum Kanon. Versuch einer konzeptuellen Klärung«, in: Pietschmann, Klaus/Wald-Fuhrmann, Wolfgang [Hg.], Der Kanon der Musik, S. 47–53, hier S. 48. 13 Vgl. ebd., S. 51f. 14 Vgl. Dorschel, Andreas: »Über Kanonisierung«, in: Mth 1/2006, S. 6–12, hier S. 7.

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klar macht – gemeinsam ist ihnen buchstäblich nichts weiter, als dass sie mit Musik zu tun haben und ausdrücklich oder unausdrücklich eine wertende Komponente enthalten.«15, was nichts weiter heißt, als dass jeder am Kanon beteiligt ist, von Musikschüler*innen über Musiker, ob ausübend oder komponierend, bis hin zu Wissenschaftler*innen oder Konzertbesucher*innen. Da alle am Kanon Beteiligten sich jedoch nicht auf derselben hierarchischen Ebene befänden, wäre die Entstehung von Kanones allerdings in jedem Falle mit Macht verbunden – gewissermaßen der Wertungsmacht über ästhetische Qualitäten.16 2. Selektion. Bezüglich der Frage nach dem Kanon als exkludierendes Instrument geht Wolfgang Fuhrmann mit dem britischen Musikwissenschaftler Jim Samson17 konform, indem er dem Kanon einen hohen Einfluss auf die Erinnerung und das, was in der Erinnerung überzeitlich präsent bleibt, zugesteht.18 Der Umkehrschluss daraus ist bei Fuhrmann die Exklusion: Der Kanon legt »also auch fest, was vergessen, vernachlässigt oder ausgeklammert werden kann oder sogar soll.«19 Besonders wichtig erscheint bezogen auf die Fragestellung dieser Arbeit Fuhrmanns Feststellung, dass die Selektion der aufgeführten Werke nicht zwangsläufig vom Wert der Werke selber abhänge, sondern auch auf außermusikalische Faktoren wie beispielsweise »dem propagatorischen Geschick einzelner Parteien«20 fuße. Den Aspekt der außermusikalischen Einflüsse auf den Kanon bestätigen Pietschmann und Wald-Fuhrmann bereits in der Einleitung zu ihrem Handbuch Der Kanon der Musik21: »Zur Geschichte von Kanones gehört also immer auch die Geschichte der Instanzen und Institutionen, die

15 Vgl. ebd., S. 8. 16 Vgl. ebd., S. 9f. 17 Samson, Jim: »Canon (iii)«, in: NGroveD² 5, London 2001, S. 6f. 18 Fuhrmann, Wolfgang: »Gescheiterte Kanonisierungen. Drei Fallstudien zu

Hasse, Paisiello und C. Ph. E. Bach«, in: Pietschmann/Wald-Fuhrmann [Hg.], Der Kanon der Musik, S. 160–196, hier S. 160. 19 Vgl. ebd., S. 161. Besonders das Wort »soll« wird in einer Diktatur höhere

Bedeutung erlangen. 20 Ebd.

21 Pietschmann, Klaus/Wald-Fuhrmann, Melanie [Hg.], Der Kanon der Musik, Theorie und Geschichte. Ein Handbuch, München: Ed. Text+Kritik 2013.

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sich eine kritische Expertise im jeweiligen Feld zusprechen«22, ergänzt von Anselm Gerhard, der im selben Band betont, dass Politik und Ideologie ebenso wie lang gehegte Vorurteile in hohem Maße auf den Kanon einwirken.23 3. Kulturelles Gedächtnis und Kanon. Jan Assmann beschreibt einen weiteren Aspekt der Kanonisierung, die er für eine Form des kulturellen Gedächtnisses hält, da für ihn Kanonisierung in der westlichen Kultur unabdingbar mit Schrift und Verschriftlichung zusammenhängt, über die gesprochen und die kommentiert wird.24 »Kanon ist daher etwas Lebendiges, und in diesem Sinne sprechen wir von Kanon als einer Form des Gedächtnisses, und zwar des kulturellen Gedächtnisses.«25 Da das Gedächtnis mit Erinnern und Vergessen einhergeht, nennt Assmann den Kanon »ein Instrument des Vergessens wie der Erinnerung.«26 Unter Berufung auf E. A. Schmidt stellt Assmann fest, dass Kanones zeitgebunden sind; das, was der Kanon einer bestimmten Zeit ausgrenzt, kann in Form von Tradition im kulturellen Gedächtnis verwahrt bleiben, doch »[S]olche Verschiebungen sind nur möglich, wenn […] das Ausgegrenzte […] nicht unter das Verdikt einer absolut ausschließenden Zensur gerät.«27 Somit ist (auch nach Aleida Assmann) das kulturelle Gedächtnis in Form von Kanones und Archiven

22 Pietschmann, K./Wald-Fuhrmann, Mel.: ›Einführung‹, in: Pietschmann/WaldFuhrmann [Hg.], Der Kanon der Musik, S. 15. 23 Vgl. Anselm, Gerhard: ›Kanon‹ in der Musikgeschichtsschreibung. Nationalistische Gewohnheiten nach dem Ende der nationalistischen Epoche, in: Pietschmann/Wald-Fuhrmann [Hg.], Der Kanon der Musik, S. 54–71, hier S. 71. 24 Vgl. Assmann, Jan: Kanon und Klassik in allgemeiner und musikwissenschaftlicher Hinsicht, am Beispiel Georg Friedrich Händels, in: Pietschmann/WaldFuhrmann [Hg.], Der Kanon der Musik, S. 101–118, hier S. 102f. 25 Ebd., S. 103. 26 Ebd., S. 105. 27 Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis, S. 121. Im Band Pietschmann/WaldFuhrmanns schreibt Assmann ähnliches, nur dass er hier nicht von Tradition spricht, sondern von Archiv, in welchem das überdauern könne, was nicht in den Kanon gelangt ist.Vgl.:Pietschmann/Wald-Fuhrmann [Hg.], Der Kanon der Musik, S. 105.

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veränderlich28 und gleichzeitig an die jeweilig vorherrschende politische Meinung der Zeit gebunden.29 4. Identität und Zensur. Das Kanon-Prinzip schließt bei Jan Assmann die individuelle Identität und die kollektive Identität ein; ein Kanon repräsentiert die Werte einer Gesellschaft, auf deren Basis der Einzelne seine Identität gründet.30 Und ergänzend in dem von Aleida und Jan Assmann herausgegebenen Band Kanon und Zensur31: »Mit dem Instrument des Kanons lässt sich eine soziale Ordnung ebenso wie die Zusammenschließung einer Gruppe forcieren.«32 Es handelt sich beim Kanon also um eine Wahrheit, die in bestimmten Systemen durch Zensur geschützt wird, damit sie unangreifbar wird oder bleibt, wodurch schließlich eine Gruppe zusammen gehalten werden kann. Elemente, die diesen Zusammenhalt gefährden, gelten als gefährlich und werden somit zensiert.33 Kanon kann also auch durch eine zensierende Macht eine Art Herrschaftsform sein. Diese Macht verkörpert sich auch darin, dass sie die »Vergangenheit auslöscht und das kulturelle Gedächtnis auf die herrschende Gegenwart reduziert.«34 Wenn der Kanon jedoch mit der Identität der Gesellschaft oder des Einzelnen nicht zusammenpasst, bildet sich das, was Renate Heydebrand als ›Gegenkanon‹ bezeichnet. In ihrem Buch Kanon Macht Kultur35 bezieht sie den Kanon auch auf seine Rezipient*innen, da Kanon zwar durch die Macht bestimmter Institutionen entstehe, er jedoch auch rezipiert werden müsse,

28 Assmann, Aleida: »Kanon und Archiv – Genderprobleme in der Dynamik des kulturellen Gedächtnisses«, in: Marlen Bidwell-Steiner/Karin S. Wozonig [Hg.], A Canon of Our Own. Kanonkritik und Kanonbildung in den Gender Studies, Innsbruck [u.a.]: Studien-Verl. 2006, S. 21–34, hier S. 33. 29 Vgl. ebd., S. 30. 30 Vgl. J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 127. 31 Assmann, Aleida/Assmann, Jan: »Kanon und Zensur«, in: Dies. [Hg.], Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II, München: Fink Verlag 1987, S. 7–27. 32 Ebd., S. 21. 33 Vgl. ebd., S. 20ff. 34 Ebd., S. 21. 35 Heydebrand, Renate von [Hg.]: Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, Stuttgart [u.a.]: Metzler 1998.

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um zu existieren. Aus diesem Grund läge die Macht über den Kanon auch bei seinen Rezipient*innen, die ihn überliefern und weiterpflegen.36 Daraus folgt: Wenn ein von Machtpositionen aus verordneter Kanon von den Rezipient*innen nicht angenommen würde, weil sie sich nicht mit ihm identifizieren, bilde sich so neben dem offiziellen Kanon ein Gegenkanon.37 Ist Dekanonisierung nun einfach das Gegenteil von Kanonisierung bzw. ist Dekanonisierung gleichbedeutend mit ›Nicht-Kanonisierung‹ oder Vergessen? Ja und nein. Instrumentalisierte Dekanonisierung ist die Gegenseite der instrumentalisierten Kanonisierung: also gesteuertes Vergessen. Auf der normativen Ebene bedeutet Dekanonisierung, dass beispielsweise ein Musikstück nach Meinung von Autoritäten es nicht oder nicht mehr wert ist, im Kanon zu bleiben und aktiv rezipiert zu werden. Oftmals wird es dann durch ein attraktiveres Werk ersetzt. Dekanonisierung kann aber auch dann stattfinden, wenn der performative Bezug des kanonischen Gegenstandes zur kulturellen Praxis einer Gesellschaft fehlt, sei es allmählich oder durch plötzlichen Abbruch. Um eine Übertragung auf Mendelssohn und seine Rezeption von 1933–1945 besser nachvollziehbar zu machen, ist es zunächst wichtig, einen Blick auf die Hintergründe der Musikkultur während der Zeit des Nationalsozialismus zu werfen.

M USIKLEBEN

WÄHREND DER

NS-Z EIT

Perspektivlosigkeit galt im Nationalsozialismus allen Elementen, die die vorherrschende Ideologie in Frage stellten oder nicht zu ihr passten. Dies spiegelt sich auch in der Musikkultur dieser Zeit wider. Die Nationalsozialisten griffen bürgerliche und konservative Ideale auf, ideologisierten sie in ihrem Sinne und verbreiteten dadurch nicht nur ihre eigenen kulturellen Werte, sondern förderten auch das Kulturleben, um auf diese Weise ihre Ideologie zu legitimieren. Der nationalsozialistisch gesinnte Musikwissenschaftler Karl Blessinger formuliert die Funktion von Musik wie folgt: »Die Musik ist nicht nur ein wesentlicher Ausdruck der inneren Haltung eines

36 Vgl. Heydebrand, Renate von: »Kanon Macht Kultur – Versuch einer Zusammenfassung«, in: R. Heydebrand [Hg.], Kanon Macht Kultur., S. 612–627, hier S. 618ff. 37 Vgl. ebd., S. 619.

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Volkes, sondern darüber hinaus ein entscheidendes Mittel zur seelischen Beeinflussung der Menschen.«38 Die Musik sollte (manipulierend) auf eine gemeinsame Identität hinwirken. Sie war besonders bei staatlich organisierten Feiern ein Hauptaspekt, der Emotionen und Pathos am besten durch Eingängigkeit und Einfachheit schürte.39 Bereits im März 1933, kurz nach der Machtergreifung Hitlers, wurde das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unter Joseph Goebbels gegründet, das über sämtliche Kulturangelegenheiten entschied.40 Ein halbes Jahr später wurde unter Goebbels die Reichskulturkammer und darin enthalten die Reichsmusikkammer eingerichtet, in der wiederum Unterabteilungen zu allen Bereichen des musikalischen Lebens bestanden und deren Präsident zuerst der Komponist Richard Strauss, später der Dirigent Peter Raabe war.41 Jeder, der nun in irgendeiner Weise mit Musik zu tun hatte, musste sich vor der Reichsmusikkammer legitimieren können bzw. Mitglied der Kammer sein.42 Zusätzlich wurde ab 1938 die Reichsmusikprüfstelle eingerichtet, die noch einmal verschärft gegen Musik vorging, die den Richtlinien nicht entsprach.43 Musik war durch die Verknüpfung von Ästhetik und Politik Staatsangelegenheit geworden, die »eine wesentliche Teilaufgabe der politischen Volks- und Menschenführung«44 darstellte. Die Gleichschaltung wirkte sich nicht nur auf Einzelpersonen oder Musikgruppen aus, sondern betraf alle Bereiche, die Musik tangierten, wie z.B.

38 Blessinger, Karl: Mendelssohn Meyerbeer Mahler. Drei Kapitel Judentum in der Musik als Schlüssel zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Berlin: Hahnefeld, 1939, S. 11. 39 Vgl. Drüner, Ulrich/Günther, Georg: Musik und ›Drittes Reich‹. Fallbeispiele 1910 bis 1960 zu Herkunft, Höhepunkt und Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der Musik, Wien [u.a.]: Böhlau 2012, S. 45. 40 Vgl. Dümling, Albrecht: »Die Gleichschaltung der musikalischen Organisation im NS-Staat« in: Dietrich Schuberth [Hg.], Kirchenmusik im Nationalsozialismus. Zehn Vorträge, Kassel: Merseburger 1995, S. 9–22, hier S. 11. 41 Vgl. Wulf, Joseph: Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Gütersloh: S. Mohn 1963, S. 111ff. 42 Vgl. ebd., S. 113. 43 Vgl. ebd., S. 132. 44 Vgl. Wolfgang Stumme zitiert nach ebd., S. 131.

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das Zeitschriftenwesen,45 die Musiktheorie,46 die Kirchenmusik,47 die Pädagogik,48 die Musikkritik,49 das Musikschrifttum50 oder Nachschlagewerke51, die als kanonisierende Instanzen par excellence gelten. Mit der Institutionalisierung und Instrumentalisierung der Musik durch die Nationalsozialisten und der Einschränkung für jüdische Musiker*innen, ihrem Beruf nachzugehen, wurde 1933 der Jüdische Kulturbund gegründet, der bis 1941 bestand. Die Politik akzeptierte den Bund, da dadurch eine bessere Überwachung der kulturellen Tätigkeiten auf jüdischer Seite ermöglicht wurde und jüdische Kulturschaffende auf diese Weise ›guten Gewissens‹ aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen werden konnten. Der Jüdische Kulturbund stand unter jüdischer Leitung, wurde aber politisch überwacht.52 Es wird deutlich, dass das kulturelle Leben dieser Jahre auf allen Ebenen stark institutionell gesteuert und überwacht wurde. Dies hatte frappierende Auswirkungen auf das praktische Musikleben.

Z UR R EZEPTIONSGESCHICHTE M ENDELSSOHNS Felix Mendelssohn Bartholdy wurde in eine jüdische Familie hineingeboren, im Zuge der Assimilierung konvertierten seine Eltern jedoch zum Christentum und ließen sich und ihre Kinder taufen.53 Dies schützte Mendelssohn jedoch schon Mitte des 19. Jahrhunderts nicht vor Richard Wag-

45 Vgl. ebd., S. 69. 46 Vgl. ebd., S. 76f. 47 Vgl. ebd., S. 63f. 48 Vgl. ebd., S. 157f. 49 Vgl. ebd., S. 172f. 50 U. Drüner/G. Günther: Musik und ›Drittes Reich‹, S. 88. 51 Wulf, J.: Musik im Dritten Reich, S. 386ff. 52 Ruppel, Helmut/Schmidt, Ingrid: »›Eine schwere Prüfung ist über euch‹. Aspekte zur Geschichte des Jüdischen Kulturbunds«, in: Akademie der Künste [Hg.], Geschlossene Vorstellung. Der Jüdische Kulturbund in Deutschland 1933–1941, Berlin: Hentrich 1992, S. 33–54, hier S. 36ff. 53 Werner, Eric: »Mendelssohn. Leben und Werk in neuer Sicht«, Zürich, Freiburg: Atlantis Musikbuch-Verl. 1980, S. 56f.

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ners antisemitischen Äußerungen und auch die Nationalsozialisten reduzierten Mendelssohn auf seine jüdische Herkunft. Die Rezeption Felix Mendelssohn Bartholdys war zu Lebzeiten und direkt nach seinem Tod zunächst sehr positiv, woran unter anderem Robert Schumann Anteil hatte. Doch bereits Mitte des 19. Jahrhunderts gab es einen Umschwung, der besonders in Richard Wagners Pamphlet Das Judentum in der Musik zum Ausdruck kommt. Wagners Schrift selbst wurde, zumal bei ihrer Erstveröffentlichung, zwar kaum rezipiert. Dennoch ist Wagners Sicht auf Mendelssohn relevant, da Wagner spätestens von den Nationalsozialisten als Legitimation herangezogen wurde. Um aufzuzeigen, wie negativ sich das kompositorische Schaffen jüdischer Komponist*innen auf die Musikkultur auswirke, führt Wagner unter anderem Mendelssohn als Beispiel an, welcher auf Grund seiner Herkunft nicht imstande gewesen sei, »auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir von der Kunst erwarten.«54 Da Mendelssohn selber nicht ausdrucksvoll hätte komponieren können, zog er laut Wagner Bach als Vorbild heran,55 als dessen Epigone er fortan komponiert habe.56 Des Weiteren behauptet Wagner: »Die Zerflossenheit und Willkürlichkeit unsres musikalischen Stiles ist durch Mendelssohns Bemühen, einen unklaren, fast nichtigen Inhalt so interessant und geistblendend wie möglich auszusprechen, […] auf die höchste Spitze gesteigert worden.«57Aus Wagners Äußerungen sprechen unverkennbar Antisemitismus und möglicherweise persönliche Missgunst gegenüber Mendelssohns Fähigkeiten. Der Vorwurf der Epigonalität begleitet Mendelssohn seitdem durch seine Rezeptionsgeschichte hindurch.58

54 Richard Wagner zitiert nach Fischer, Jens Malte: Richard Wagners ›Das Judentum in der Musik‹. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt a.M.: Insel 2000, S. 163. 55 R. Wagner verwendet hier für Bach Bezeichnungen wie »alter Meister« und »Genie«. Ebd., S. 164f. 56 Vgl. ebd., S. 164. 57 R. Wagner zitiert nach ebd., S. 166. 58 Vgl. Krummacher, Friedhelm: »Bach, Berlin und Mendelssohn. Über Mendelssohns kompositorische Bach-Rezeption«, in: Günther Wagner [Hg.], Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1993, Mainz: Schott 1993, S. 44–78, hier S. 44f.

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Der nationalsozialistische Gefolgsmann Karl Blessinger kann als Beispiel für eine (vor allem rassisch begründete) Argumentation gegen eine Anerkennung Mendelssohns gesehen werden: Blessinger schreibt stets allgemein vom »Judentum« oder »den Juden«59 und ordnet Mendelssohn dem zunächst unter. Mendelssohn habe sich in den Dienst des Judentums gestellt, »um dem Judentum […] die Eroberung und Zerstörung der jahrhundertealten deutschen Musikkultur zu ermöglichen«,60 was ihm teilweise auch gelungen sei, indem er als ›Assimilationsjude‹ »das Zerstörungswerk eingeleitet«61 hätte. Seine Taufe bezeichnet Blessinger als rein zweckmäßig, um so von innen her den Protestantismus und die Theologie zu unterwandern, was ihn so weit gebracht hätte, dass sogar Goethe und Schumann ihm verfallen seien.62 Mit Begabung hätte Mendelssohns Karriere wenig zu tun gehabt, stattdessen hätte ihn das internationale Judentum mit Geld und Beziehungen unterstützt. »Wesen und Charakter eines Menschen sind in ihren Grenzen durch seine Erbanlagen ein für alle Mal festgelegt.«63 Mit diesem Satz Blessingers lässt sich im Grunde die Basis der MendelssohnRezeption im Nationalsozialismus zusammenfassen, die sich auf der antisemitischen Haltung gründet und von hier aus auf alle Bereiche des Schaffens Mendelssohns ausgeweitet wurde, bis hin zu einem Aufführungsverbot. Mendelssohns Rolle bei der Wiederentdeckung der Musik Johann Sebastian Bachs ist heute allgemein bekannt. Wie diese Begebenheit aus nationalsozialistischer Perspektive betrachtet wurde, kann in zwei Richtungen beantwortet werden: Zum einen wurde Mendelssohn aus Bachs Rezeptionsgeschichte einfach entfernt und war damit ausgelöscht. Zum anderen wurde ihm eine gewisse Beteiligung zugestanden, die aber sofort wieder ins Negative umgedeutet wurde. So sei sein Lehrer Carl Friedrich Zelter hauptsächlich für die Wiederaufführung der Bach’schen Matthäuspassion verantwortlich gewesen. Mendelssohn sei lediglich zufällig an Ort und Stelle

59 K. Blessinger: Mendelssohn Meyerbeer Mahler, S. 7ff. 60 Ebd., S. 9. 61 Ebd., S. 13. 62 Vgl. ebd., S. 18. 63 Ebd., S. 22.

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gewesen, um an Stelle Zelters die Lorbeeren dafür einzufahren.64 Blessinger schreibt in diesem Zusammenhang, Zelter sei durch Krankheit nicht in der Lage gewesen, die von ihm geplante Aufführung der Matthäuspassion durchzuführen und wurde dazu überredet, Mendelssohn die Leitung zu übertragen. Im Anschluss sei es »Jüdischer Verdrehungskunst«65 geglückt, die Tatsachen zu Mendelssohns Gunsten zu verfälschen, sodass Mendelssohn als Initiator der Wiederaufführung in die Geschichte hätte eingehen können. Da Mendelssohn sich über die Matthäuspassion hinaus auch mit anderen Werken Bachs und älteren Komponisten befasste, entwickelte sich auch hierfür eine nationalsozialistische Sichtweise: Als Jude sei Mendelssohn nicht in der Lage gewesen, die Musik Bachs in all ihren Facetten zu begreifen, zumal er bei Zelter ohnehin vor allem die formal-technischen Aspekte Bachs gelernt hätte. Der Zugang zu Bachs Geist wäre ihm also nicht gegeben gewesen, weshalb er ein Bach-Bild verbreitet und im Besonderen die Matthäuspassion auf eine Art bearbeitet hätte, die mit der Realität nichts zu tun habe. »So erhielten die Deutschen ein völlig entstelltes Bild von einem seiner allergrößten musikalischen Kunstwerke und darüber hinaus von seinem Schöpfer, und es bedurfte generationenlanger Arbeit deutscher Musiker und Musikgelehrter, bis eine einigermaßen befriedigende Richtigstellung dieser jüdischen Verfälschung erreicht war.«66

So resümiert Blessinger 1939 und betont, dass Bach »nicht weil, sondern obgleich Mendelssohn mit seiner Wiedererweckung geschichtlich verknüpft ist«67 ein deutscher Meister sei. Weitere Aspekte der nationalsozialistischen Mendelssohn-Rezeption sind stilistische Fragen. Der nationalsozialistische Musikwissenschaftler Richard Litterscheid äußerte sich, Mendelssohns Schöpferkraft beruhe

64 Vgl. Brüstle, Christa: »Bach-Rezeption im Nationalsozialismus. Aspekte und Stationen«, in: Michael Heinemann/Hans-Joachim Hinrichsen [Hg.], Bach und die Nachwelt Band 3: 1900–1950, Laaber: Laaber-Verl. 2000, S. 115–153, hier S. 142. 65 K. Blessinger: Mendelssohn Meyerbeer Mahler, S. 23. 66 Ebd., S. 24. 67 Ebd., S. 26.

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lediglich auf »jüdischem Formwillen« bzw. sei »sein Schöpfertum aus zweiter Hand.«68 Der Vorwurf der Epigonalität steht hier neben der Ansicht, Mendelssohns Musik sei nicht authentisch und dazu noch sentimental. Sie entspräche nicht der deutschen Gefühlswelt, sei aber so sehr nachgeahmt, dass auch von einer speziell jüdischen Musik nicht die Rede sein könne, weshalb Mendelssohn in keiner Weise neuschöpferisch tätig war, wie es zum Beispiel deutsche Genies gewesen seien.69 Neben diesen Anschuldigungen lag für Mendelssohns Kritiker eine weitere stilistische Abwertung in der Gefälligkeit und Glätte der Mendelssohn’schen Musik. Diese lag für Otto Schumann wiederum im Fehlen eines eigenen Stils Mendelssohns begründet. Mendelssohn hätte die deutsche Musik nur äußerlich replizieren können, sie aber innerlich nicht erfasst; aus diesem Grund läge nun keine Tiefe darin und differenziere sie nicht zwischen Romantik oder Klassik.70 Ähnlich argumentiert Blessinger, der am Ende seiner Ausführungen über Mendelssohn anmerkt, Mendelssohn sei vor dem 1. Weltkrieg bereits vergessen gewesen. »Erst die Juden der Nachkriegszeit haben versucht, ihn endgültig unsterblich zu machen.«71 Lexika und Konzertführer als kanonisierende Instanzen boten eine weitere Möglichkeit, die Rezeptionsgeschichte Mendelssohns im Dritten Reich zu verfolgen. Der Musikschriftsteller Karl Grunsky merkte 1935 kritisch an, dass in Kretzschmars Konzertführer von 1890 Mendelssohn mehr Platz einnähme als Bruckner – für ihn »ein krasser Fall des Missverhältnisses zwischen Jüdischem und Arischem in einem deutschen Buche!«72 Einen Ausgleich schuf Otto Schumann mit seinen zahlreichen Nachschlagewerken und Konzertführern. Seine ideologischen Ansichten schlagen sich in der Feststellung nieder, Mendelssohn sei für das Konzertwesen nicht mehr relevant, daher müsse er auch nur in Kürze erwähnt werden. Er führt dann aber trotzdem Mendelssohns angebliche Unzulänglichkeiten aus.73 Natürlich durfte auch eine rassenkundliche Musikgeschichte nicht fehlen, in welcher Otto Schumann Musik und Rasse als Beurteilungskriterien von

68 Richard Litterscheid zitiert nach J. Wulf: Musik im dritten Reich, S. 404. 69 Vgl. ebd., S. 404. 70 Vgl. ebd., S. 406. 71 K. Blessinger: Mendelssohn Meyerbeer Mahler, S. 42. 72 Karl Grunsky zitiert nach J. Wulf: Musik im dritten Reich, S. 403. 73 Vgl. U. Drüner/G. Günther: Musik und ›Drittes Reich‹, S. 104f.

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Musik miteinander vermischt und auf Mendelssohn anwendet, um ihn schließlich als Beispiel für den negativen Einfluss des Judentums auf die deutsche Musikkultur anzuführen. Schumanns Publikationen waren für das allgemein gebildete Bürgertum gedacht und erfuhren eine entsprechende Verbreitung.74 Allerdings scheinen sich die nationalsozialistischen Ansichten über Mendelssohn im Musik-Leben nicht überall durchgesetzt zu haben. Wulff führt ein Dokument an, nach dem scheinbar das Verbot Mendelssohn-Werke aufzuführen von Kirchenchören unterwandert wurde, die lediglich seinen Namen nicht angaben.75 Dies erwähnt auch Prieberg, der noch auf Konzertprogramme mit Mendelssohn bis 1939 hinweist, die allerdings für den Musikhochschuldirektor Weimars in einer Kündigung endeten. Ein großer Zwiespalt der Nationalsozialisten in Bezug auf Mendelssohn manifestierte sich im Umgang mit Mendelssohns Musik zu Shakespeares Sommernachtstraum, die kanonisch schon damals gänzlich etabliert und kaum zu ersetzen war. Bis zum Jahr 1935 wurde der Mendelssohn’sche Sommernachtstraum aufgeführt und teils geradezu überschwänglich rezensiert. Es gab schließlich von nationalsozialistischer Seite zahlreiche Aufrufe zu Neukompositionen, denen verschiedene Komponisten sogar nachkamen.76 Wie ambivalent die Situation war, zeigt sich jedoch zum Beispiel bei dem Komponisten Hans Erich Pfitzner, der eigentlich eine antisemitische, ideologietreue Einstellung verbreitete. Eine Neukomposition des Sommernachtstraums lehnte er jedoch ab, weil er »nie in der Lage [wäre], eine bessere Musik zum Sommernachtstraum zu schreiben als Mendelssohn.«77 Weder die intensiven Bemühungen, Mendelssohns Sommernachtstraum-Komposition abzuwerten, noch Neukompositionen zu etablieren, waren fruchtbar. Mit Ausnahme von Carl Orffs Sommernachtstraum wurde keine der Neukompositionen noch nach 1945 verlegt. Dahingegen hat Mendelssohns Sommernachtstraum die nationalsozialistische »Politik der

74 Vgl. ebd., S. 106. 75 Vgl. Wulf, J.: Musik im dritten Reich, S. 405. 76 Nach Priebergs Meinung war jeder dieser Komponisten aktiv an Mendelssohns Auslöschung beteiligt. Vgl. Prieberg, Fred K.: Musik im NS-Staat, Frankfurt/Main: Fischer 1989, S. 147. 77 Ludwig Schrott zitiert nach F.K. Prieberg: Musik im NS-Staat, S. 150.

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schöpferischen Liquidierung unbeschädigt überstanden.«78 In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass auch bei Veranstaltungen des Jüdischen Kulturbundes Musik Mendelssohns erklang.79 Zu guter Letzt sei auf den Abbruch des Mendelssohn-Denkmals vor dem Gewandhaus in Leipzig hingewiesen. Das 1892 aufgerichtete Denkmal wurde in der Nacht zum 10.11.1936 entfernt. Hinter dem Rücken des Leipziger Oberbürgermeisters Carl Friedrich Goerdeler kam es nach einem Aufruf der Stadtverwaltung unter dem stellvertretenden Bürgermeister Rudolf Haake zu der Aktion.80 Ein interessanter Zusammenhang ist, dass das von Mendelssohn initiierte Bach-Denkmal vor der Leipziger Thomaskirche von den Nationalsozialisten unberührt blieb.81

(D E -)K ANONISIERUNG M ENDELSSOHNS ? Kanonisierung steht unmittelbar mit Autorität bzw. Hierarchie im Zusammenhang – ein Konzept, das aufhorchen lässt, wenn es um ein autoritäres Regime wie das der Nationalsozialisten geht. Es fokussierte sich hier alles auf eine Autorität und zwar die des Staates; Musik wurde Staatsangelegenheit. Von hier aus wurde entschieden, welche Musik auf Grund welcher ideologischen Legitimierungen gespielt werden durfte und von wem. Musik wurde instrumentalisiert. Diesen Vorgängen lag eine Ideologie zugrunde, die beim Nationalsozialismus zum einen auf der antisemitischen Rassen-Theorie und zum anderen auf der Aufwertung und Machtzuschreibung alles Deutschen beruhte. Mendelssohn wurde demnach abgewertet und zunächst auf seine jüdische Herkunft reduziert, um auf dieser Grundlage aus dem Musikleben verbannt zu werden. Zu einem Werturteil kam es schließlich durch die Verquickung von Ideologie mit musikalischen Parametern. Am Ende stand dann die

78 Ebd., S. 164. 79 Vgl. Akademie der Künste: »Aufführungsverzeichnis«, in: Akademie der Künste [Hg.], Geschlossene Vorstellung, S. 376–425. 80 Vgl. Wulf, J.: Musik im dritten Reich, S. 407. 81 Vgl. Hansen, Jörg/Vogt, Gerald: »›Blut und Geist‹ – Vereinnahmung, Mißbrauch, Ausmerzung: Bach, Mendelssohn und ihre Musik im Dritten Reich«, in: Bachhaus Eisenach [Hg.], Ausstellungskatalog, Eisenach 2009, hier S. 34.

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Entscheidung über Erlaubnis oder Verbot, in diesem Fall: Verbot. Das nationalsozialistische Regime war stark führerorientiert, was das normative Konzept von Kanonisierung unterstützt. Mendelssohn war für die Nationalsozialisten gewissermaßen ein Antibeispiel und sollte deshalb aus dem Kanon ausgeschlossen werden. Daran zeigt sich auch, dass Kanonisierung vor allem in der Diktatur in höchstem Maße exkludierend funktioniert. Mendelssohns Werke wurden auf der einen Seite aus dem Konzertleben ausgeschlossen, auf der anderen Seite war auch die schriftliche Rezeption Mendelssohns entweder stark negativ gefärbt oder er wurde wie in den Nachschlagewerken einfach gar nicht mehr erwähnt und sollte dadurch nicht mehr existent sein. Diese Mittel der Zensur sollten einer gemeinsamen Identität dienen: Individuen sollten sich in das Kollektiv eingliedern, indem z.B. ein einheitlicher Geschmack (Wagner sei gut, Mendelssohn sei schlecht) vorgeschrieben wurde. Alternativen zum vorherrschenden Kanon wurden nicht anerkannt und nicht zugelassen. Die Zensur betraf damit nicht nur die Musik, sondern auch und vor allem das Gedächtnis, indem die Vergangenheit ausgelöscht bzw. angepasst werden sollte. Dass der Zugriff der Nationalsozialisten auf das kulturelle Gedächtnis aber nicht so einfach funktioniert und wie zeitgebunden ideologische Strömungen sind, zeigt sich im Gegenzug jedoch auch sehr deutlich. Gerade die Mendelssohn-Rezeption war schon immer großen Schwankungen ausgesetzt, abhängig davon, welche Ideologie die Rezipienten gerade vertraten (siehe Wagner). Zunächst galt auch Mendelssohn als beispielhaft für andere Komponisten und wurde gefeiert, später wurde genau dies in Abrede gestellt. Darin ist der zeitgebundene Aspekt von Kanones zu erkennen. Wenn Kanonisierung, wie angenommen, auch an die Macht der Rezipienten gebunden ist, dann manifestiert sich dies nicht nur in den gerade genannten Aspekten, sondern auch in Mendelssohns Sommernachtstraum und weiteren Konzerten, in denen Mendelssohns Werke noch lange während der Diktatur heimlich aufgeführt wurden. Auf diese Weise hat sich so etwas wie ein Gegenkanon gebildet, der dem von oben aufoktroyierten Kanon nicht entsprach und ihn delegitimierte. Hierzu zählen auch die Aufführungen der Musik Mendelssohns im Jüdischen Kulturbund. Auch die Tatsache, dass bereits zwei Jahre nach Ende der Diktatur Mendelssohns 100. Todestag gefeiert wurde und dass es nie zu einer wirklich äquivalenten Vertonung des Sommernachtstraums in dieser Zeit gekommen ist, macht deut-

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lich, dass Mendelssohn im Kulturellen wie auch im Kommunikativen Gedächtnis überdauert hat. Scheinbar kann eine Diktatur nicht auf die Kunst verzichten, um sich zu bilden, zu halten und zu legitimieren. Dabei ist Kanonisierung bestimmter Musik Mittel zum Zweck. Es gibt also so etwas wie einen diktatur- oder machtspezifischen Kanon, der durch den aktiven Eingriff in das Gedächtnis entstehen soll. Doch eine von oben auferlegte Dekanonisierung auf allen Ebenen des Gedächtnisses ist schwierig. Die Meinung über einen Komponisten wie Mendelssohn zu beeinflussen, der zum einen noch im Kommunikativen Gedächtnis besteht, über den es aber bereits Lexikoneinträge, Notenausgaben, Bücher, ein Denkmal etc. gibt und der zum anderen noch dazu beinahe immer ambivalent gesehen wurde, scheint kompliziert zu sein. Zwar war eine teilweise Verdrängung Mendelssohns aus dem Kanon der Nazi-Diktatur erfolgreich, allerdings hielt sie nicht lange an und war auch in erster Linie an der Oberfläche, also in der (institutionalisierten) Öffentlichkeit, zu sehen. Wie häufig Mendelssohn-Platten im Privaten noch aufgelegt wurden oder in der Hausmusik seine Musik gespielt wurde bzw. Noten oder Bücher über ihn in den Regalen standen und Musikliebhaber über seine Musik gesprochen haben, lässt sich kaum kontrollieren. Die bekannt gewordenen heimlichen Konzerte mit Werken Mendelssohns sprechen ihre eigene Sprache. Vorausgesetzt, eine Diktatur erstreckt sich nicht über viele Jahrzehnte, sondern auf eine Zeitspanne, in der Menschen sich noch an ein ›Vorher‹ und später an ein ›Nachher‹ erinnern können, lässt sich resümieren: Eine von oben aufoktroyierte Veränderung von Erinnerung durch das Instrument Kanon funktioniert nicht zuverlässig, obwohl gerade diese gewaltsame Art des Einwirkens auf das kulturelle Denken typisch für eine Diktatur ist. Eine Diktatur kann zweifelsohne Denkmäler vernichten, Bücher verbrennen oder Archive aussortieren lassen und damit das Kulturelle Gedächtnis empfindlich treffen, bis hin zur völligen Kontrolle oder Vernichtung des Speichergedächtnisses. Eine Diktatur kann durch Dekanonisierung von Unliebsamem ihren eigenen Kanon schaffen und durch ihn eine eigene Idee von Vergangenheit und Identität in der Gegenwart leben. Auch über das öffentliche Sprechen und Praktizieren können Verbote verhängt werden, wodurch das Kommunikative Gedächtnis auf längere Sicht beeinflusst wird. Und doch findet Erinnern immer auch unsichtbar und vor allem unüberprüfbar statt, sei es in Privatgesprächen und -handlungen und nicht zuletzt in den

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einzelnen Köpfen. Es braucht nur genug Individuen, die es wagen oder in der Lage sind, gegen vermeintlich stärkere Kollektive oder Institutionen anzudenken, die Gegenerinnerungen bilden, indem sie sich rechtzeitig ihrer eigenen Werte und Geschichten erinnern. Dabei sei dahingestellt, ob Mendelssohn heute sehr oder doch nur ein wenig bekannt ist. Fakt ist: Es ist dieser Gegenerinnerung, der Absage an den nationalsozialistischen Kanon zu verdanken, dass bereits 1947 wieder ein Mendelssohn-Jubiläum gefeiert wurde. 62 Jahre später hat Mendelssohn es zu seinem 200. Geburtstag in eine der renommiertesten deutschen Wochenzeitungen geschafft und wenn es auch ›nur‹ sein Sommernachtstraum ist, so wird immerhin dieser landauf, landab gespielt und gehört damit zum Kanon des gängigen Orchesterrepertoires. Es bleibt vielmehr die Frage: Welche Komponist*innen, Interpret*innen und andere musikkulturell Handelnde haben diese ›Kanonhürde‹ der Nationalsozialist*innen, aber auch ebenso der heute führenden Musikinstitutionen, seien es Konzerthäuser, Verlage oder Universitäten nicht überspringen können, sodass sie (wenn überhaupt) ein inaktives Dasein in den Notenarchiven fristen? Wer oder was wird heute durch reine Gewohnheit bei jeder Entscheidung für einen Spielplan, ein Unterrichtskonzept oder eine Forschungsfrage nicht beachtet, immer weiter in die dunklen Tiefen des Speichergedächtnisses geschoben und erhält nie eine Chance auf Wiederentdeckung oder aktive Erinnerung? Während »Dekanonisierung unter dem Hakenkreuz« nachvollziehbarerweise einen bitteren Beigeschmack hat, dürfte das Loslassen eines hermetisch abgeriegelten Kanons zugunsten eines offenen Denkens gegenüber allen möglichen Arten musikkulturellen Handelns heute im 21. Jahrhundert recht vielversprechend klingen. Das Ausleuchten ganz unterschiedlicher, bisher unbekannter Ecken des Speichergedächtnisses könnte so im besten Sinne zu einer Dekanonisierung des Kanons selbst führen.

Ideologische Bach-Rezeption im 18. und 19. Jahrhundert L EONIE S TORZ

Der beliebte Topos, Bach sei nach seinem Tod nicht mehr gespielt und bis zu seiner ›Wiederentdeckung‹ im Jahr 1829 gänzlich vergessen worden, muss wohl als Legende betrachtet werden. Die Bach-Forschung der letzten Jahre begründet die Entstehung und vor allem die schnelle Tradierung dieser Legende im 19.Jahrhundert mit der Quellenlage der Zeit:1 Damals waren noch viele Dokumente fremd, die uns heute bekannt sind. Aber selbst 1937 noch schreibt der Musikwissenschaftler Leo Schrade, »dass Bach ein Vergessener war, ehe er starb«.2 Ausgesprochen populär war Bach allerdings auch nicht immer – im Gegenteil: Bis ins späte 18. Jahrhundert war er fast ausschließlich in begrenzten bürgerlichen Kreisen bekannt.3 Und das galt besonders für seine instrumentalen Werke, seine Vokalwerke waren quasi unbekannt.4 Unter den Instrumentalwerken wiederum waren es 1

Heinemann, Michael/Hinrichsen, Hans-Joachim: »Mit Bach«, in: Heinemann, Michael/Hinrichsen, Hans-Joachim [Hg.]: Bach und die Nachwelt. Band 1: 1750–1850, Laaber: Laaber Verlag 1997, S. 13–24, hier S. 14.

2

Schrade, Leo: »Johann Sebastian Bach und die deutsche Nation. Versuch einer Deutung der frühen Bachbewegung«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 15 (1937), S. 220–252, hier S. 235.

3

Platen, Emil: Johann Sebastian Bach – Die Matthäus-Passion. Entstehung, Werkbeschreibung, Rezeption ( Bärenreiter Werkeinführungen), Kassel: Bärenreiter 2000, S. 215f.

4

Oschmann, Susanne: »Die Bach-Pflege der Singakademien«, in: Heinemann, M./Hinrichsen, H. [Hg.], Bach und die Nachwelt, S. 305–347, hier S. 305.

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hauptsächlich seine Klavier- und Orgelstücke, außerdem die Kontrapunktik, mit denen man Bach in Verbindung brachte.5 Das lag gewiss auch daran, dass bis Anfang des 19. Jahrhunderts vor allem Werke für Klavier publiziert wurden,6 Vokalwerke dagegen überhaupt nicht – sie waren bis dato nur in Abschriften überliefert.7 Doch auch mit zunehmender Verbreitung des Klaviers im 19. Jahrhundert (gerade in bürgerlichen Kreisen) wurde Bachs Musik nicht beliebter: Der Klang war fremd und das Musizieren schwierig.8 Für die Vokalwerke lässt sich Ende des 18. Jahrhunderts ein langsamer, zögerlicher Beginn der Rezeption erkennen.9 In dieser Zeit gründeten sich an vielen Orten Singakademien10, also Chorvereinigungen, in denen Bürger gemeinsam große Vokalwerke einstudierten. Leitgedanke war das Einüben von kirchenmusikalischen Werken des 16. bis 18. Jahrhunderts und so ging die Berliner Singakademie unter ihrem damaligen Leiter Carl Friedrich Christian Fasch das erste Mal eine Bach-Motette an.11 Allerdings verließ Bachs Musik dabei den privaten Rahmen der Singakademie zunächst nicht, denn es gab keine öffentlichen Aufführungen.12 Es gab aber sogenannte Auditorien: Proben, bei denen Gäste zuhören durften.13 Jedoch waren auch sie nur einem geladenen Kreis vorbehalten. 1804 begann dann auch Faschs Nachfolger, Carl Friedrich Zelter, Bach-Werke

5

Veit, Patrice: »Bach«, in: Etienne François/Hagen Schulze [Hg.], Deutsche Erinnerungsorte III, München: C.H. Beck 2001, S. 239–257, hier S. 242.

6

Bartels, Ulrich: »Ausblicke. Bach-Wirkung und -Rezeption«, in: Emans, Reinmar [Hg.], Der junge Bach – weil er nicht aufzuhalten… Begleitbuch zur ersten Thüringer Landesausstellung in der Predigerkirche zu Erfurt, 23. Juni–3. Oktober 2000, Erfurt: Erste Thüringer Landesausstellung 2000, S. 380–399, S. 381.

7

Dahlhaus, Carl: Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber: Laaber

8

S. Oschmann: »Die Bach-Pflege der Singakademien«, S. 318.

9

Ebd., S. 305.

Verlag 1988, S. 122.

10 Ebd, S. 306. 11 Ebd., S. 309. 12 Ebd. 13 Ebd.

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einzustudieren.14 1811 probte er zum ersten Mal einzelne Sätze aus der Matthäuspassion.15 Die zögerliche Akzeptanz Bachs bei den Musikern (und deren Publikum) veranlasste Carl Dahlhaus zu seiner Aussage, Bach habe als »Komponist für Komponisten«16 gegolten. Vor allem durch das Studieren des Wohltemperierten Klaviers und der Kunst der Fuge hätten die Komponisten ihre Fertigkeiten geschult. Bach sei gewissermaßen als Lehrmeister der ›Alten Musik‹ betrachtet worden.17 Trotz der geringen Popularität Bach’scher Werke gab es in der Zeit bis 1829 einige (wissenschaftliche) Publikationen über Bach. Deutlich wird der Topos ›Komponist für Komponisten‹ schon bei Johann Nikolaus Forkel, der 1802 die erste umfassende Bach-Biographie geschrieben hat. Immer wieder hebt er hervor, dass Bachs Werk vor allem für Kenner der Musik sei18 und widmet sein Buch im Untertitel den Verehrern echter musikalischer Kunst. Doch auch vor dieser ersten Biographie hatte es biographische Texte über Bach gegeben: 1732 – also noch zu Bachs Lebzeiten – veröffentlichte Johann Gottfried Walther in seinem Musikalischen Lexikon einen Artikel, in dem er kurz auf Bachs Leben und die Genealogie der Bach’schen Familie eingeht. Schrade schreibt zu diesem Artikel: »Walthers denkbar knapper Grundriss bedeutet Bachs Eintritt in die Welt der Betrachtung, die Bilder schafft und Gestalten, Mythen und Heroen«19. Diesen Eintritt in die Welt der »Mythen und Heroen« bekräftigt nach Bachs Tod der Nekrolog, der von seinem Sohn Carl Philipp Emanuel Bach und seinem Schüler Johann Friedrich Agricola geschrieben und von Lorenz Mizler 1754 veröffentlicht wurde.20 In ihm werden nicht nur Stationen aus Bachs Leben, sondern auch Anekdoten und

14 Ebd., S. 310. 15 Ebd. 16 C. Dahlhaus: Klassische und romantische Musikästhetik, S. 122. 17 Ebd. 18 Hinrichsen, Hans-Joachim: »›Urvater der Harmonie?‹ Die Bach-Rezeption«, in: Küster, Konrad [Hg.], Bach-Handbuch, Stuttgart: Metzler Verlag 1999, S. 31– 65, hier S. 32. 19 L. Schrade: »Bach und die deutsche Nation«, S. 221. 20 Pörings, Astrid: »Nekrolog«, in: Michael Heinemann [Hg.], Das Bach-Lexikon (= Das Bach-Handbuch, Band 6), Laaber: Laaber Verlag 2000, S. 390–392, hier S. 390.

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Charakterzüge dargelegt, während der Lexikon-Artikel Walthers laut Schrade noch »jeden Zugang zum Leben des Künstlers«21 verschließt. Im Jahr 1829 fand dann das zentrale Ereignis der Bach-Rezeption im 19. Jahrhundert statt: Am 11. März führte die Berliner Singakademie unter der Leitung von Felix Mendelssohn Bartholdy die Matthäuspassion in Berlin auf.22 Es war das erste öffentliche Bachkonzert der Singakademie;23 ein großes Ereignis, welches schon Wochen zuvor in der Presse angekündigt worden war.24 Lange Zeit galt diese erste Aufführung der Matthäuspassion als die ›Wiederentdeckung‹ Bachs; diese Annahme fußte auf der Legende des ›vergessenen Komponisten‹. Wie erläutert, war Bach jedoch tatsächlich nie wirklich ›vergessen‹ und so wird die Aufführung 1829 heute zwar als ›zentrales Ereignis‹25 seiner Rezeption, nicht aber als seine ›Wiederentdeckung‹ angesehen. In den folgenden Jahren wurde die Matthäuspassion häufiger aufgeführt, unter anderem 1829 in Frankfurt am Main, wo Mendelssohn den noch heute bestehenden Cäcilien-Verein leitete. Bachs Werke waren beim Publikum allerdings nach wie vor nicht sehr beliebt. In Berlin wurde die Passion wohl regelmäßig zu Karfreitag aufgeführt, aber Karl Mendelssohn Bartholdy (der Sohn Felix Mendelssohn Bartholdys) schreibt 1855: »am Charfreytag wandert halb Berlin, weil es keine öffentlichen Vergnügungen gibt, aus Langeweile in die Passion von Bach, von der keiner etwas versteht und aus der sie vor dem Ende gähnend herauslaufen«26.

21 L. Schrade: »Bach und die deutsche Nation«, S. 221. 22 Geck, Martin: Die Wiederentdeckung der Matthäuspassion im 19. Jahrhundert. Die zeitgenössischen Dokumente und ihre ideengeschichtliche Deutung (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Band 9), Regensburg: Bosse Verlag 1967, S. 34. 23 S. Oschmann: »Die Bach-Pflege der Singakademien«, S. 311. 24 E. Platen: Die Matthäus-Passion, S. 216. 25 Hinrichsen, Hans-Joachim: »Wiederentdeckung«, in: Heinemann, Michael [Hg.], Das Bach-Lexikon (= Das Bach-Handbuch, Band 6), Laaber: Laaber 2000, S. 568–569, hier S. 568. 26 Zit. nach: Schulze, Hans-Joachim: »Bach – Leipzig – Mendelssohn«, in: Felix Mendelssohn – Mitwelt und Nachwelt. Bericht zum 1. Leipziger Mendelssohn-

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Neben der Anzahl der Aufführungen von Bach’scher Musik wuchs auch das wissenschaftliche Interesse. Nachdem im Laufe der Jahre mehrere Biographien und andere Schriften über Bach publiziert worden waren, veröffentlichte Philipp Spitta 1873 und 1880 eine zweibändige Biographie, in der Bach als »Deutschlands größter Kirchencomponist«27 tituliert wird. Diese Biographie besitzt bereits einen offensichtlich deutsch-nationalistischen Duktus – keine Seltenheit in dieser Zeit. In der Rezeption Bachs spielte ein Motiv von Anfang an eine bedeutende Rolle, nämlich: die schlichte Tatsache, dass Bach ein Deutscher war. Wolfgang Sandberger spricht von einer »von Beginn an« national geprägten Bach-Rezeption.28 1801 schrieb der Theologe Johann Carl Friedrich Triest in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung: »[…] welche Freude für einen patriotischen Bewohner unseres Vaterlandes, zu wissen, dass der größte, tiefsinnigste Harmonist aller bisherigen Zeiten, […] dass dieser Mann, sag ich, ein Deutscher war!«29

Forkel, der in seiner Bach-Biographie kurze Zeit später für eine BachGesamtausgabe warb, widmete sein Buch nicht nur »Verehrern echter musikalischer Kunst«, sondern »patriotischen Verehrern echter musikalischer Kunst«. Des Weiteren schrieb er, es sei eine »National-Angelegenheit«, für Bachs Andenken zu sorgen.30 Auch die 1850 gegründete BachGesellschaft sah es als eine »Ehrenschuld der Nation«31, die Werke Bachs in einer Gesamtausgabe herauszugeben. Bach wurde als »größter Meister«

Kolloquium am 8. und 9. Juni 1993, hrsg. v. Gewandhaus zu Leipzig, Wiesbaden 1996, S. 79–83, S. 82. 27 Zit. nach: Sandberger, Wolfgang: Das Bach-Bild Philipp Spittas. Ein Beitrag zur Geschichte der Bach-Rezeption im 19. Jahrhundert (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Band 39), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1997, S. 89. 28 W. Sandberger.: Das Bach-Bild Philipp Spittas, S. 204. 29 Triest, Johann Carl Friedrich: »Bemerkungen über die Ausbildung der Tonkunst in Deutschland im achtzehnten Jahrhundert«, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 3 (1801), Sp. 257–264, hier Sp. 259. 30 W. Sandberger: Das Bach-Bild Philipp Spittas, S. 204. 31 Zit. nach: W. Sandberger: Das Bach-Bild Philipp Spittas, S. 205.

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und später als »Gründer deutscher Musik«32 empfunden. Dabei spielten weniger seine musikalischen Werke, als vielmehr seine Person eine Rolle. Bach wurde zur »nationalen Identifikationsfigur«33 durch »Werte, die über das Immanent-Musikalische weit hinausgehen«34. Als spezifisch deutsch wurden an Bach sein Tiefsinn35 und seine Bescheidenheit geschätzt, die Tatsache, dass er handwerklich solide arbeitete und nach eigenen Angaben »Soli Deo Gloria«, also »Gott allein zur Ehre«, und nicht für einen »Augenblickserfolg« schrieb.36 Ferner wurden seine Frömmigkeit und die Treue seinem Vaterland gegenüber gerühmt, denn im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Georg Friedrich Händel hat Bach Deutschland nie verlassen. Er blieb stets in der näheren oder weiteren Umgebung seiner Geburtsstadt Eisenach. Auf der »Suche nach einer nationalen Kunst, die den Vielfürstenstaat eint«,37 wurde Bach als Heros auf dem Gebiet der Musik vereinnahmt. »Nach der Revolution 1848 verkörperte Bach für das aufstrebende Bildungsbürgertum […] den ›Bürgermann‹ und die Werte des protestantischen Bürgertums: Familie, Arbeit und Frömmigkeit«,38 hält Patrice Veit fest. Richard Wagner schrieb in seinem Aufsatz »Was ist deutsch?«: »Mit Mühe und seltener Willenskraft ringt er [Bach, L.S.] sich aus Armut und Not zu höchster Kunsthöhe empor, streut mit vollen Händen eine fast unübersehbare Fülle der herrlichsten Meisterwerke seiner Zeit hin, die ihn nicht begreifen und

32 Ebd., S. 207. 33 E. Platen: Die Matthäus-Passion, S. 452. 34 Geck, Martin: »Als Praeceptor Germaniae schlägt Bach Beethoven. Zur politischen Instrumentalisierung der Musikgeschichte im Vormärz«, in: Anselm Hartinger/Christoph Wolff/Peter Wollny [Hg.], »Zu groß, zu unerreichbar«. BachRezeption im Zeitalter Mendelssohns und Schumanns, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 2007, S. 31–37, S. 36. 35 W. Sandberger: Das Bach-Bild Philipp Spittas, S. 10. 36 Heinemann, Michael/Hinrichsen, Hans-Joachim: »Der ›deutsche‹ Bach«, in: Michael Heinemann/Hans-Joachim Hinrichsen [Hg.], Bach und die Nachwelt. Band 2: 1850–1900, Laaber: Laaber Verlag 1999, S. 11–28, S. 12. 37 M. Geck: »Als Praeceptor Germaniae schlägt Bach Beethoven«, S. 33. 38 P. Veit: »Bach«, S. 245.

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schätzen kann, und stirbt bedrückt von schweren Sorgen einsam und vergessen, seine Familie in Armut und Entbehrung zurücklassend«39.

Es war dieses »romantische Klischee vom verkannten Genie«,40 welches das Bach-Bild des 19. Jahrhunderts prägte. Zunächst jedoch war Bach nur eine Identifikationsfigur unter mehreren und Händel beispielsweise galt als ihm ebenbürtig. Der deutsche Liberalismus sprach Händel ein weltbürgerliches Wesen41 zu, welches ihm später jedoch vor allem nach der Reichsgründung 1870/71 beinahe zum Vorwurf wurde. Ihm gegenüber stand Bach, der sein Vaterland nie verlassen hatte. War Bach zunächst noch eine Art Vorläufer oder Vorfahre der deutschen Musik, so wurde er alsbald zum ›Gründungsvater‹ derselben erklärt.42 Deutlich wird dies an einer Aussage Max Regers: »Seb. Bach ist für mich Anfang und Ende aller Musik; auf ihm ruht und fusst jeder wahre Fortschritt!«43 Auch Richard Wagner sah Bach als Begründer der deutschen Musik. In seinem bereits zitierten Aufsatz »Was ist deutsch?« schreibt er: »Da seht diesen Kopf, in der wahnsinnigen französischen Allongenperücke versteckt, diesen Meister – als elenden Kantor und Organisten zwischen kleinen thüringischen Ortschaften, die man kaum dem Namen nach kennt, mit nahrungslosen Anstellungen sich hinschleppend, so unbeachtet bleibend, daß es eines ganzen Jahrhunderts wiederum bedurfte, um seine Werke der Vergessenheit zu entziehen; selbst in der Musik eine Kunstform vorfindend, welche äußerlich das ganze Abbild seiner Zeit war, trocken, steif, pedantisch, wie Perücke und Zopf in Noten dargestellt: und nun sehe man, welche Welt der unbegreiflich große Sebastian aus diesen Elementen aufbaute!«44

39 Wagner, Richard: »Was ist deutsch?«, in: Wolfgang Golther [Hg.], Richard Wagner. Gesammelte Schriften und Dichtungen, Band 10, Berlin 1913, S. 36– 53, hier S. 47. 40 P. Veit: »Bach«, S. 242. 41 M. Heinemann./H.-J. Hinrichsen: »Der ›deutsche‹ Bach«, S. 16. 42 P. Veit: »Bach«, S. 248. 43 Reger, Max, in: Die Musik 5 (1905/06), S. 74. 44 Wagner, R.: »Was ist deutsch?«, S. 47.

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Im weiteren Verlauf des Textes steigert er seine Beschreibung noch und spricht vom »großen Bach, dem einzigen Horte und Neugebärer des deutschen Geistes«45. Mehrfach hat er sich Bach rhetorisch zu Nutze gemacht, um auch die Oberflächlichkeit der zeitgenössischen Musik und Interpretationspraxis anzuprangern.46 Das Musikverständnis des 19. Jahrhunderts trennte Musik in ›hohe‹ und ›niedere‹47 Kunst, wobei nationale Stile eine immer größere Rolle spielten. Unterschieden wurde zwischen der Kunstmusik und der italienisch-frivolen Opernmusik,48 die sich nur am Geschmack des Publikums orientierte und der reinen Unterhaltung diente. Dabei wurde Bach immer häufiger als Repräsentant der hohen Musik gegen die der niederen ausgespielt. Der Musiktheoretiker Adolf Bernhard Marx z.B. stellt die »heilige Kraft und Wahrheit Bachs«49 gegen die »Prunksucht, Lüsternheit, und durchgängige[…] Süßlichkeit«50 italienischer (Opern-) Musik und deren Nachahmungen. Bemerkenswert dabei ist jedoch die Tatsache, dass Bach durchaus nicht ohne italienische und französische Einflüsse komponiert hat. Ganz im Gegenteil: Er rezipierte diese Stile und band sie in sein eigenes Werk ein (erinnert sei nur an das Italienische Konzert oder die Gattung der französischen Suite). Im 18. Jahrhundert war diese Art des Umgangs mit nationalen Stilen durchaus gebräuchlich. Der »italienische Stil« war eine gängige Manier, in der zu komponieren man sich übte. Im 19. Jahrhundert dagegen ist ein Wandel des Musikalisch-Nationalen zu verzeichnen: weg vom Stilmittel (einer Art musikalischer Färbung), hin zur ethnischen (politisch nationalen) Bedeutung.51 Den meist italienischen

45 Ebd. 46 Thorau, Christian: »Richard Wagners Bach«, in: Michael Heinemann/HansJoachim Hinrichsen [Hg.], Bach und die Nachwelt. Band 2: 1850–1900, Laaber: Laaber Verlag 1999, S. 163–199, S. 171. 47 Dahlhaus, Carlhaus: Die Musik des 19. Jahrhunderts (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Band 6), Laaber: Laaber Verlag 1980, S. 29. 48 W. Sandberger: Das Bach-Bild Philipp Spittas, S. 211. 49 Zit. nach: M. Geck.: »Als Praeceptor Germaniae schlägt Bach Beethoven«, S. 35. 50 Zit. nach: Ebd. 51 C. Dahlhaus: Die Musik des 19. Jahrhunderts, S. 33.

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Opern wurde die als »deutsch, bürgerlich und ernsthaft«52 geltende Instrumentalmusik entgegengesetzt. Auch Bachs Kirchenmusik und die Werke des italienischen Opernkomponisten Gioachino Rossini wurden einander gegenübergestellt53: Seriosität durch sakrale Inhalte hier, Frivolität durch Unterhaltung dort. Dass auch Bach in anderen Stilen komponiert hat und nicht nur als Kirchenmusiker, sondern auch als Kapellmeister am Hof gearbeitet hat, wurde häufig verschwiegen.54 Philipp Spitta geht in seiner Bach-Biographie ebenfalls auf die nationalen Differenzen ein. Er spricht zwar an, dass Bach sich auch in anderen Nationalstilen geübt hat, führt jedoch fort: »aber er ließ sich von ihnen nicht bemeistern«55. Und weiter: »Es giebt keinen stärkeren Gegensatz, als den zwischen italiänischen und deutschen Künstlern von damals! Dort bei großen, aber mehr glänzenden, als tief gegründeten Eigenschaften wie viel Uebermuth, Eitelkeit, Habsucht und Sittenlosigkeit! Hier ein bescheidenes, selbstloses Schaffen im engsten Kreise, oftmals ein mit Noth ringendes, aber in fester Pflichttreue hingebrachtes Dasein, ein einfacher, vor den Wogen des großen Lebens sich zurückziehender Familiensinn!«56

In diesem Zusammenhang taucht auch das Motiv des Komponisten auf, der im Thomaskantorat und im Komponieren großer geistlicher Werke seine Erfüllung gefunden hat57. Die Matthäuspassion erklärt Spitta für ein »Denkmal des deutschen Wesens«58. In diesem »national-chauvinistischen«59 Ton fährt er fort und kommt zu dem Schluss, dass Bach nicht der Begründer, sondern Zielpunkt der deutschen Musik sei.60 Durch diese Benennung wird das Augenmerk noch stärker auf das Deutsche in der Person

52 C. Dahlhaus: Klassische und romantische Musikästhetik, S. 125. 53 Heinemann, M./Hinrichsen, H.-J.: »Der ›deutsche‹ Bach«, S. 17. 54 P. Veit: »Bach«, S. 249. 55 Zit. nach: P. Veit: »Bach«, S. 249. 56 Zit. nach: W. Sandberger: Das Bach-Bild Philipp Spittas, S. 204. 57 Hinrichsen, H.-J.: »Rezeption«, in: Michael Heinemann [Hg.], Das BachLexikon (= Das Bach-Handbuch, Band 6), Laaber: Laaber Verlag 2000, S. 450– 455, hier S. 452. 58 Zit. nach: W. Sandberger: Das Bach-Bild Philipp Spittas, S. 212. 59 W. Sandberger: Das Bach-Bild Philipp Spittas, S. 204. 60 Ebd., S. 208.

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Bachs gelenkt. Er steht nicht bloß am Anfang einer Entwicklung, er ist jetzt derjenige, der diese Entwicklung selbst perfektioniert. Nach Bach kann also, der Idee Spittas folgend, niemand mehr kommen, der das Deutsche mehr verkörpert und in Musik setzt, als er selbst. Spitta sieht in Bach »den echtesten Ausdruck deutschen Wesens«,61 der »nach einer Periode tiefster Gesunkenheit des deutschen Volkes«62 ein erster Vorbote des »geistigen Frühlings«63 sei. Bis zum Jahr 1829 ist eine Diskrepanz zwischen der praktischen und der theoretischen Beschäftigung mit der Musik Bachs festzustellen: Obwohl selten aufgeführt, wurde doch über sie geschrieben. Bach wurde nicht für den Wohlklang seiner Musik geschätzt, sondern für seine kompositorischen Fähigkeiten und die Beherrschung verschiedener Instrumente. Viele Komponisten setzten sich deshalb mit seinem Werk als einer Art »Leitfaden« auseinander. Auch vor 1829 war Bach durchaus also schon im Bewusstsein der Menschen. Die Aufführung der Matthäuspassion 1829 bedeutet somit zweifelsohne zwar eine große Zäsur in der Beachtung des Komponisten, aber nicht die vielbeschworene ›Wiederentdeckung‹ Bachs. Und auch nach dieser Zäsur rückten nur Teile von Bachs Œuvre ins Rampenlicht: Dahlhaus schreibt, »der eigentliche Bach des 19. Jahrhunderts war – trotz des Ereignisses von 1829 – der Instrumentalkomponist«64. Denn trotz einer anfänglichen Hochphase der Rezeption Bach’scher Vokalmusik, vor allem der Matthäuspassion, war das Publikum nicht bereit für seine Musik. Wie an der Aussage Karl Mendelssohn Bartholdys zu erkennen ist, wurde sie zwar gehört, aber nicht immer auch verstanden. Konträr zu der Rezeption der praktischen Musik steht weiterhin die Rezeption Bachs als Person. Charakteristisch hierfür ist die Aussage Johann Theodor Mosewius’, der 1830 die Aufführung der Matthäuspassion in Breslau leitete: »auch wird Sebastian Bach mehr gepriesen, als gekannt und genossen«65. Bach unterliegt im 19. Jahrhundert einer starken Mythologisierung. Schon früh wird für ideologische Zwecke herangezogen, dass er Deutschland nie verließ. In der Zeit politischer Kleinstaaterei galt »Bach als eindringliches

61 Zit. nach: W. Sandberger: Ebd., S. 208. 62 Zit. nach: W. Sandberger: Ebd., S. 210. 63 Zit. nach: Ebd. 64 C. Dahlhaus: Klassische und romantische Musikästhetik, S. 125. 65 Zit. nach: S. Oschmann: »Die Bach-Pflege der Singakademien«, S. 338.

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Symbol für die kulturelle Identität«66. Suchte man auf politischer Ebene vergebens nach einem national einheitlichen Gefüge und Verbindungselement, so wurde es in der Kultur durch die Rückbesinnung auf deutsche Künstler geschaffen. Allerdings galt das nur für einen Teil der Bevölkerung. Michael Heinemann weist darauf hin, dass Bach, wenn er »ein Künstler der Nation, so doch kein volkstümlicher«67 gewesen sei. »Das nationale Pathos war – generell wie speziell in der ›Bachbewegung‹ – zugleich ein bürgerliches«68. Bach wirkte für das Bürgertum Nation bildend, nicht aber für alle Bewohner des Landes. Leo Schrade sieht das Ziel der frühen Bach-Bewegung (das heißt die Zeit der ersten Bach-Biographien) in der »Eroberung Bachs für die deutsche Nation«69 und macht das an der Bach-Biographie Forkels fest. Allerdings – so Hans-Joachim Hinrichsen – »wäre [nichts] unangebrachter, als gerade in ihr [Forkels Bach-Rezeption, L.S.] das Gründungsdokument einer nationalistischen Bach-Rezeption zu sehen«70. So schreibt Forkel zwar durchaus: »Und dieser Mann [Bach, L.S.] […] war ein Deutscher. Sey stolz auf ihn, Vaterland; sey auf ihn stolz, aber, sey auch seiner werth!«71. Doch sind solche Gedanken aus seiner Feder wohl eher als Ausdruck »vaterländische[n] Enthusiasmus«72 und weniger als nationale Gesinnung zu sehen, schließlich richtet er sich, das schreibt er an seinen Verleger, auch an »die

66 H.-J. Hinrichsen: »›Urvater der Harmonie?‹«, S. 38. 67 Heinemann, M.: »Im Mittelpunkt: Der Thomaskantor. Zum Bach-Bild der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, in: Michael Heinemann/Hans-Joachim Hinrichsen [Hg.], Bach und die Nachwelt. Band 2: 1850–1900, Laaber: Laaber Verlag 1999, S. 393–459, hier S. 436. 68 C. Dahlhaus: Klassische und romantische Musikästhetik, S. 125. 69 L. Schrade: »Bach und die deutsche Nation«, S. 231. 70 Hinrichsen, Hans-Joachim: »Johann Nikolaus Forkel und die Anfänge der BachForschung«, in: Michael Heinemann/Hans-Joachim Hinrichsen [Hg.], Bach und die Nachwelt. Band 1: 1750–1850, Laaber: Laaber Verlag 1997, S. 193–253, S. 242. 71 Zit. nach: H.-J. Hinrichsen: »Forkel und die Anfänge der Bach-Forschung«, S. 238. 72 Sandberger, W.: Das Bach-Bild Philipp Spittas, S. 204.

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Kenner in ganz Europa«73. Solcherlei patriotische Schriften bekommen im Laufe des Jahrhunderts nach und nach eine andere Färbung. So, wie sich das Musikalisch-Nationale in der Musik von der reinen Kompositionsweise zum völkisch geprägten Nationalstil wandelte, entwickelte sich auch das Verständnis der Bach-Rezeption weg vom Patriotismus eines Forkel hin zum Nationalismus, wie er etwa bei Wagner und Spitta zu erkennen ist. Während das Eine Verbundenheit mit dem Schaffen eines deutschen Komponisten ausdrückte und auf kultureller Ebene Identität stiftete, diente das Andere weniger der Verbindung mit Gleichgesinnten, als vielmehr der Abgrenzung gegenüber Fremdem und der Überhöhung des Eigenen.

73 Stauffer, George B. [Hg.]: The Forkel – Hoffmeister & Kühnel correspondence. A document of the early 19th century Bach revival, New York C.F. Peters Verlag 1990, S. 40.

Vergessen oder Erinnern? Das Beispiel der ›Internationalen Komponistinnenbibliothek Unna‹ als Drehpunkt des kulturellen Gedächtnisses F RIEDERIKE B UNTEN

Erinnerungsorte wie beispielsweise Denkmäler und Archive sind räumlich manifestierte Elemente einer Erinnerungskultur, denen eine zentrale Bedeutung für das kulturelle Gedächtnis zukommt. In Bezug auf diese Orte wurde im thematischen Aufriss zu dieser Tagung kritisch gefragt, »ob jene räumliche Extension ein Zeichen für das Vergessen oder das aktive Erinnern einer Kultur ist«1. Gerade die Institution Archiv wirft mit ihrem Auftrag des Sammelns und Aufbewahrens die Frage nach der Funktion zwischen Erinnern und Vergessen auf. Wenn Archive Orte des Erinnerns sind, dann stellen sie einen wichtigen Fundus für das kulturelle Gedächtnis dar. Sind Archive jedoch Orte des Vergessens, wird das Sammeln von Archivalien überflüssig: Alles Gesammelte wird vergessen und macht das Sammeln obsolet. Wie konstituiert sich also das Archiv als Institution des kulturellen Gedächtnisses?

1

Siehe http://www.musik-und-erinnerung.dvsm.de/thematik.

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W AS

IST EIN

ARCHIV ?

Ein kurzer Exkurs in die zentralen Begriffe der Gedächtnistheorie nach Aleida und Jan Assmann2 hilft dabei, die Funktionen und Aufgaben der Institution Archiv für die Erinnerungskultur zu verstehen und einzuordnen. Abbildung 1: Ordnung der Gedächtnisbegriffe nach Aleida und Jan Assmann3

Der Begriff ›kollektives GedächtnisŐ beschreibt einerseits das sozial geformte individuelle Gedächtnis, welches erst in der Interaktion zu anderen Personen bestehen kann. Andererseits beschreibt es den Rückbezug auf Vergangenes innerhalb einer sozialen Gruppe. Dies geschieht durch Interaktion und Kommunikation, den Umgang mit Medien und die Präsenz von Institutionen. Teil dieses kollektiven Gedächtnisses ist das »kommunikative Gedächtnis«, welches alle mündliche Kommunikation umfasst und ohne Speichermedien auskommt. Dadurch ergibt sich, dass Erinnerungen dieser Art eine Lebensdauer von etwa 80–100 Jahren haben.4 Das kulturelle Gedächtnis als weiterer Teil des kollektiven Gedächtnisses zeichnet sich durch seine Objektivierung aus. Durch die externe Speicherung von Erinnerungen 2

Vgl. Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher [Hg.]: Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 9–19; Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: Beck 1999.

3

Eigene Grafik.

4

Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskultur. Eine Einführung, Stuttgart: Metzler 2005., S. 28.

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in Texten, Bildern, Ritualen kann eine Erinnerung die Lebenszeit von Individuen überleben.5 Hieraus ergibt sich die weitere Unterscheidung zwischen dem Funktionsgedächtnis und dem Speichergedächtnis. Im Funktionsgedächtnis befinden sich alle Erinnerungen, die innerhalb einer sozialen Gruppe genutzt und damit aktuell sind. Das Speichergedächtnis ist eine Art Vorrat an Erinnerungen, die von dort auch immer wieder in das Funktionsgedächtnis überführt werden können.6 Genau an diesem Übertritt zwischen Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis steht das Archiv. Was im Archiv eingelagert wird, wird zunächst dem Speichergedächtnis zugeführt. Im Speichergedächtnis wird kontrolliert bewahrt, was aktuell nicht weiter verwendet wird. Erst durch gezieltes Erforschen der Bestände im Archiv können die Inhalte wiedererinnert werden. Die im Archiv gespeicherten Dinge, werden also zunächst aus dem Funktionsgedächtnis gelöscht und somit vergessen. Sie können aber zu jedem späteren Zeitpunkt wieder in das Funktionsgedächtnis aufgenommen und erinnert werden.7 Für Aleida Assmann ist das Archiv »die Basis dessen, was in der Zukunft über die Gegenwart gesagt werden kann, wenn sie zur Vergangenheit geworden sein wird.«8 Hier liegt der Drehpunkt zwischen Erinnern und Vergessen: Gegenstände, die im Speichergedächtnis liegen, sind vergessen, denn solange sie nicht im Funktionsgedächtnis zirkulieren, werden sie nicht erinnert. Das Archiv bietet durch das

5

Vgl. Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher [Hg.]: Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 9–19, S. 11.

6

Vgl. Assmann, Aleida: »Speichern oder Erinnern? Das kulturelle Gedächtnis zwischen Archiv und Kanon«, in: Moritz Csáky/Peter Stachel [Hg.]: Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive; Teil 2: Die Erfindung des Ursprungs, Die Systematisierung der Zeit, Wien: Passagen-Verlag 2001, S. 15– 29.

7

Vgl. Assmann, Aleida: »Archive und Bibliotheken«, in: Gudehus, Christian/Echenberg, Ariane [Hg.]: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2010, S. 165–170.

8

Assmann, Aleida: »Kanon und Archiv – Genderprobleme in der Dynamik des kulturellen Gedächtnisses«, in: Bidwell-Steiner, Marlen/Wozonig, Kathrin S. [Hg.]: A Canon of Our Own. Kanonkritik und Kanonbildung in den Gender Studies, Innsbruck : StudienVerlag 2006, S. 21–34, hier S. 26.

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Aufbewahren die Möglichkeit des Wieder-Erinnerns, nicht jedoch eine Garantie dafür.

D IE K OMPONISTINNENBIBLIOTHEK U NNA Exemplarisch lässt sich der Drehpunkt von Erinnern und Vergessen am Beispiel der Internationalen Komponistinnenbibliothek Unna verdeutlichen. Die Komponistinnenbibliothek Unna entstand Anfang der 1990er Jahre als Resultat der zweiten deutschen Frauenbewegung. Im Zuge der Studentenproteste der 1968er hatte sich in Deutschland eine breite feministische Strömung entwickelt. Mitte der 1970er Jahre mündete diese Bewegung in vielen verschiedenen Frauenprojekten, wie beispielsweise Frauenhäusern. Daraus entstand auch die Forderung nach einer institutionalisierten Frauenforschung. Dabei kam die Frage auf, ob eine solche Frauenforschung in den etablierten patriarchalen Strukturen überhaupt möglich sei.9 Um Frauenforschung betreiben zu können, bedürfe es neuer, feministischer Institutionen: »Zur Suche nach EIGENEN Erkenntnissen gehört – dem Verständnis von feministischer Bildungsarbeit entsprechend – auch, EIGENE Materialien an EIGENEN Orten verfügbar zu haben: in Frauenarchiven und Frauenbibliotheken. [Herv. i. O ]«10 Was zunächst in anderen Gesellschaftsbereichen begann, wurde etwas später auch für die Musik gefordert: Elke Mascha-Blankenburg gründete 1978 den Internationalen Arbeitskreis Frau und Musik. Ganz im Zeichen der Frauenbewegung hatte der Arbeitskreis zum Ziel, Frauen in der Musik sichtbar zu machen. Alle Mitglieder wurden gebeten, in ihrem Umfeld nach Kompositionen von Frauen zu suchen und die Noten an MaschaBlankenburg zu schicken. Antje Olivier verwaltete diese Sammlung zunächst in Düsseldorf, dann wurde der Bestand als eigenständiges Archiv nach Kassel gegeben.11 Nach mehreren Umzügen landete diese Sammlung

9

Vgl. Sabine Hark, Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005.

10 Latz, Birgit: Frauenarchive. Grundlagen und Nutzungsmöglichkeiten Berlin: Aurora 1989, S. 26. 11 Kulturamt der Stadt Unna [Hg.]: Katalog der Internationalen Komponistinnenbibliothek Unna. Noten/Literatur/Ton- und Bildträger, Unna: 1991, S. II.

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in Frankfurt und ist bis heute kontinuierlich als Archiv Frau und Musik ausgebaut worden. Dieses Archiv steht allerdings derzeit aufgrund einer drohenden Finanzierungslücke kurz vor der Aufgabe.12 Im Ruhrgebiet gründete Antje Olivier 1989 das Europäische Frauenarchiv, um damit auch die nun in Kassel beheimatete Sammlung zu ersetzen.13 Ebenfalls 1989 wurde Elke Mascha-Blankenburg Stadtmusikerin in Unna. Zwei Jahre zuvor hatte sie dort bereits ein Komponistinnen-Festival inklusive Kompositionswettbewerb für Frauen initiiert. Als Stadtmusikerin begann sie dann die Internationale Komponistinnenbibliothek Unna aufzubauen.14 Grundstock der Bibliothek wurden ihre Privatsammlung sowie die Sammlung des Europäischen Frauenarchivs von Antje Olivier. Bis zur offiziellen Eröffnung 1992 konnten so insgesamt etwa 3500 Einheiten wie Noten, Tonträger und einige wenige Autografe zusammengetragen werden. Darunter befinden sich hauptsächlich Arbeiten von Komponistinnen, die in den Jahren zwischen 1960–1990 tätig waren, insbesondere die Gesamtwerke von Erna Woll, Hilde Hager-Zimmermann, Marianne Stoll und Felicitas Kukuck. Die Sammlung umfasst aber auch Notendrucke von Herzogin Anna-Amalia von Sachsen-Weimar und Lili Boulanger sowie einige Autografe in Kopien, Handschriften und Erstdrucke der Komponistinnen Barbara Strozzi und Francesca Caccini, von Fanny Hensel und Luise Farrenc. Zu diesem Zeitpunkt war die Komponistinnenbibliothek eine der ersten Institutionen für musikwissenschaftliche Frauenforschung.15 Nun ist das gewählte Beispiel namentlich eine Bibliothek, jedoch zeigt ein genauer Blick, dass sie sich als Exempel für die Frage nach der Funktion des Archivs eignet. Archive und Bibliotheken sammeln, ordnen, bewahren. Was gesammelt wird, hängt dabei maßgeblich von den gesellschaftlichen Machtverhältnissen ab.16 Darüber hinaus unterscheiden sich die Funktionen der beiden Institutionen. Archive sammeln originale Quellen, müssen diese restaurieren und allgemein zugänglich machen. Bibliotheken haben die grundlegende Funktion ihren Bestand kontinuierlich zu erweitern und vor allem müssen sie ihre Inhalte aktiv vermitteln. Alle Auf-

12 http://www.archiv-frau-musik.de 13 Kulturamt der Stadt Unna [Hg.]: Katalog, S. II. 14 http://www.mascha-blankenburg.de/biografie.html 15 Kulturamt der Stadt Unna [Hg.]: Katalog, S. II. 16 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Elisabeth Reda in diesem Band.

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gaben werden in den Institutionen von Archivar*innen und Bibliothekar*innen ausgeführt. Die personelle Versorgung der Institutionen ist damit von zentraler Bedeutung für das Funktionieren von Archiven und Bibliotheken. Insbesondere für die Aufgabe der Vermittlung bedarf es ausgebildeter Fachkräfte.17 Zur Eröffnung wurden der Bibliothek drei Stellen zur Verfügung gestellt: Die Leitungsposition wurde von der Musikhochschule in Detmold finanziert, die Stadt Unna trug mit zwei befristeten Stellen aus der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme des Arbeitsamts bei. 1998 wurde eine Professur an der Hochschule Detmold über das Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW gefördert, die gleichzeitig die Leitung der Bibliothek übernehmen sollte. Im Rahmen dieser Kooperationen veranstalteten die Leiterin Prof. Dr. Beatrix Borchard, später Prof. Dr. Rebecca Grotjahn, Seminare und Konzerte mit Inhalten der Komponistinnenbibliothek. Auch wurde die Erweiterung der Bestände angestrebt und eine längerfristige Konzeptentwicklung angeregt. Bestrebungen in dieser Richtung wurden allerdings kaum von der Stadt Unna unterstützt, auch weil sie der Bibliothek Stellen strich. Die Hochschule Detmold gab schließlich 2007 aufgrund dieser Differenzen die Kooperation auf. Danach wurde die KomponistinnenBibliothek formal, jedoch nicht räumlich, an die Stadtbibliothek angeschlossen und wird seitdem von dort mitbetreut.18 Konkret bedeutet dies, dass die Komponistinnenbibliothek derzeit keine Bibliothek, sondern vielmehr ein Archiv ist. Unter der Leitung der Detmolder Professorinnen wurde der Bestand stetig erweitert und die Inhalte vor Ort und in Detmold präsent gehalten. Heute wird die Aufgabe der Vermittlung von der Stadtbibliothek tatsächlich nicht übernommen und auch sonst findet keine spezielle Betreuung des Bestandes statt. In dieser Tatsache liegt also der erste Drehpunkt von Erinnern und Vergessen: Eine Bibliothek ist ganz eindeutig dem Erinnern zuzuordnen. Mit ihrer vermittelnden Tätigkeit hält sie die in ihr gespeicherten Inhalte im Funktionsgedächtnis. Inhalte im Archiv da-

17 Vgl. Assmann, Aleida.: Archive und Bibliotheken, S. 166; Heber, Tanja, Die Bibliothek als Speichersystem des kulturellen Gedächtnisses, Marburg: Tectum 2009, S. 107. 18 Vgl. Bunten, Friederike: Die ›Internationale Komponistinnenbibliothek Unna‹ als Institution eines musikkulturellen Gedächtnisses, http://oops.uni-oldenburg. de/1441, S. 29–30.

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gegen befinden sich im Speichergedächtnis einer Kultur. Sie geraten damit zunächst ins Vergessen. Der zweite Drehpunkt liegt in der Institution Archiv selbst. Wie eingangs beschrieben werden die Archivalien aus dem Funktionsgedächtnis in das Speichergedächtnis übertragen. Erst das aktive Erkunden kann die Gegenstände wieder in das Funktionsgedächtnis einbringen. Damit jedoch die Inhalte eines Archivs überhaupt erforscht werden können, muss das Archiv eine allgemeine Zugänglichkeit schaffen und den Forscher*innen bekannt sein. Im Fall der Internationalen Komponistinnenbibliothek Unna ist die eigene Internetpräsenz abgeschaltet. Links auf anderen einschlägigen Internetseiten verweisen immer noch auf diese nun leere Seite. Die allgemeinen Informationen auf der Homepage der Stadt Unna sind unzulänglich und teilweise nicht aktuell. Die Ansprechperson in der Stadtbibliothek ist nicht musikwissenschaftlich ausgebildet und kann kaum Auskünfte über den Bestand geben. Die Bibliothek hat keine regelmäßigen Öffnungszeiten und kann nur mit Termin besucht werden.19 Damit ist die wesentliche Funktion eines Archivs ›Zugänglichkeit‹ eingeschränkt. Der Prozess des WiederErinnerns wird somit deutlich erschwert. Auch die kürzlich online gestellte Bestandsliste verbessert diesen Zustand aufgrund ihrer wissenschaftlichen Unzulänglichkeit nur gering.20 Während bei einer funktionierenden Institution das Archiv genau zwischen Erinnern und Vergessen steht, zeigt das Beispiel deutlich, dass ein nicht betreutes Archiv ein Ort des Vergessens ist. In diesem Fall kommt gar der Gedanke auf, dass durch die konsequente Vernachlässigung die gesamte Institution in Vergessenheit gerät. Nicht nur werden einzelne Archivalien vergessen, sondern die gesamte Einrichtung wird nicht mehr wahrgenommen. Es lässt sich also fragen, ob es nicht sogar einen dritten Drehpunkt zwischen Erinnern und Vergessen gibt, wenn eine Institution als solche verschwindet und damit vergessen wird.

19 Siehe ebd. 20 http://www.unna.de/kreisstadt-unna/konzern-stadt/kulturbetriebe-unna/kompo nistinnen-bibliothek.

Materialitäten, Orte und Erinnerungen Am Beispiel der Sängerin Celeste Cortellini C AROLA B EBERMEIER »Wahrscheinlich ist immer nur das Vergessen, unwahrscheinlich, im Sinne von: aufwendig, anstrengend, voraussetzungsreich ist dagegen das Erinnern.« ALEIDA ASSMANN/VIER FORMEN DES GEDÄCHTNISSES

Obwohl ich mir der Bedeutung des Vergessens (nicht nur) für die historischen Wissenschaften bewusst bin, war ich während der Zeit meiner Promotion immer wieder darüber verwundert, dass das kulturelle Erinnern an eine historisch relevante Person wie mein Forschungsobjekt, die Sängerin Celeste Coltellini (1760–1828)1, derartig nachlassen kann. Im Folgenden möchte ich die Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen der Art des Quellenmaterials und des Ortes der Aufbewahrung auf das kulturelle Erinnern an eine historische Person anhand des Fallbeispiels ›Celeste Coltellini‹ reflektieren. Hierbei werde ich die Erinnerungsforschung in Bezug zur historischen Quellenkunde setzten. Wer war Celeste Coltellini? Celeste Coltellini war im späten 18. Jahrhundert eine der gefragtesten und bekanntesten Sängerinnen der Opera buffa in Europa. Bevor sie 1792 in die wohlhabende und in Neapel etablierte Bankiersfamilie Meuricoffre einheiratete, war sie 13 Jahre als Primadon1

Bebermeier, Carola: Celeste Coltellini (1760–1828) – Lebensbilder einer Sängerin und Malerin, Köln/Wien/Weimar: Böhlau Verlag 2015.

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na an verschiedenen europäischen Theatern engagiert. Unter anderem wirkte sie in Venedig, Mailand und Florenz. Joseph II lud sie persönlich an das Wiener Hofburgtheater ein, vor allem hielt sich Coltellini jedoch in Neapel auf, wo sie in der Rolle der Nina aus Giovanni Paisiellos Nina ossia la pazza per amore (UA 1789) den Höhepunkt ihrer Karriere feierte. Im 18. Jahrhundert war Neapel das Zentrum der Opera buffa. Mit ihren zahlreichen Theatern und Musikkonservatorien, an denen berühmte Kastraten wie Cafarelli, Farinelli oder Komponisten wie Domenico Cimarosa, Giovanni Paisiello oder Giovanni Battista Pergolesi ihre Ausbildung erhielten, stach Neapel vor anderen Musikstädten hervor. Illustre Persönlichkeiten der Zeit wie die Maler Antoine Jean Gros und Jean-Honoré Fragonard, die Komponisten Giovanni Paisiello, Domenico Cimarosa, Niccolò Piccini, Wolfgang Amadé Mozart oder Antonio Salieri, die Sänger*innen Nancy Storace, Michael O’Kelly und Francesco Benucci, aber auch städtische Neapolitanische Prominenz wie das Ehepaar Lady Emma und Lord William Hamilton standen mit Coltellini in Kontakt. Ferner führte sie, sowohl zu ihrer Zeit als Sängerin, als auch nach ihrer Heirat einen Salon in dem sich Künstler*innen verschiedener Sparten mit der neapolitanischen Oberschicht trafen. Auch nach dem Ende ihrer sängerischen Laufbahn 1792, scheint Coltellinis europaweite Bekanntheit weiterhin Bestand gehabt zu haben. So wurde ihr beispielsweise die französische Erstausgabe von Charles Burneys Tagebuch einer musikalischen Reise durch Frankreich und Italien 1809 gewidmet.2 24 Jahre nach ihrem Tod, im Jahr 1828, erschien zwar in einer Pariser Zeitschrift der Artikel Céleste Coltellini et Paisiello3 des Musikkritikers Paul Scudo, doch danach setzte die Erinnerung an die Sängerin im kulturellen Erinnern aus.4 Es beschränkte sich von da an vor allem auf das innerhalb der Familie Meuricoffre ungewöhnlich intensiv-familiäre, kommunikative Erinnern.5 Auf der einen Seite ist dies sicher auf die Arbeit und Erinnerungspraxis des sich allmählich etablierenden universitären Faches

2

Burney, Charles: De l’État présent de la Musique en France et en Italie, dans le Pays-Bas, en Hollande et en Allemagne, Band 1, Genua 1809, S. IIIf.

3

Scudo, Paul: »Céleste Coltellini et Paisiello«, in: Revue des deux mondes (April

4

Etwa in: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des

5

Für weiterführende Informationen zu Celeste Coltellini vgl. Bebermeier 2015.

1852), S. 982–996. kulturellen Gedächtnisses, München: Verlag C.H. Beck 2003.

M ATERIALITÄTEN, O RTE UND E RINNERUNGEN | 179

Musikwissenschaft zurückzuführen, die im 19. Jahrhundert zunächst verstärkt um das Leben von Komponisten und ihren Werken kreiste. Auf der anderen Seite tauchen bis heute lediglich Kolleg*innen Coltellinis in der musikwissenschaftlichen Literatur auf, die zu ihren Lebzeiten viel weniger im Fokus der Betrachtung und Bewunderung standen, obwohl die Materialbasis bei Coltellini einen wesentlich umfangreicherer Quellenkorpus als bei anderen Sänger*innen aufzeigt. Die Existenz eines relativ vielfältigen und umfangreichen Quellenmaterials ist vor allem auf Coltellinis Herkunft aus und Heirat in etablierte bürgerliche Kreise zurückzuführen. Während Sänger*innen im 18. Jahrhundert in der Regel unsicheren sozialen Verhältnissen entstammten und eine Eheschließung nur innerhalb des Künstlermilieus denkbar war,6 handelte es sich bei Coltellinis Herkunftsfamilie um eine Toskanische Juristenfamilie. Sie heiratete später in die Neapolitanisch-Schweizerische Bankiersfamilie Meuricoffre. Da Sänger*innen seit jeher viel reisten und im Normalfall nur so viel Geld verdienten, dass sie davon überleben konnten (die seltenen Ausnahmen bildeten berühmte Primadonnen und Kastraten), gerieten sie im Alter zumeist in Armut und so war es in den meisten Fällen nahezu unmöglich, Erinnerungsstücke aufzubewahren. Auch von bekannten und gefeierten Primadonnen wie Caterina Cavalieri oder Nancy Storace sind keine Nachlässe oder wie im Fall von Storaces lediglich einige Briefe überliefert.7 Gerade diese beiden Sängerinnen tauchen allerdings viel häufiger in der musikwissenschaftlichen Literatur und damit im kulturellen Erinnern auf als Celeste Coltellini, was unter anderem auf die häufige Zusammen-

6

Zu denken ist hier etwa an Constanze und Aloysia Weber und ihre Ehemänner Wolfgang Mozart und Joseph Lange oder an Nancy Storace und den Geiger Adam Fisher.

7

Vgl. Unseld, Melanie: Artikel »Nancy Storace«, in: Beatrix Borchard [Hg.], MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003ff. Stand vom 9.1.2006. URL: http://mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/Nancy_Storace (letzter Zugriff: 24.05.2015) und Unseld, Melanie: Artikel »Catarina Cavalieri«, in: Beatrix Borchard [Hg.], MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003ff. Stand vom 8.3.2006. URL: http://mugi.hfmt-hamburg.de/ Artikel/Catarina_Cavalieri (letzter Zugriff: 24.05.2015).

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arbeit der beiden mit dem populären Komponisten Wolfgang Amadé Mozart zurückzuführen ist: Cavalieri war unter anderem die erste Constanze aus der Entführung aus dem Serail (KV 384), Storace die erste Susanna aus Le nozze di Figaro (KV 492). Im Zusammenhang mit dem Komponisten sind beide in der Erinnerung geblieben. Auch Coltellini und Mozart kannten sich und Ian Woodfield zufolge war für Coltellini eine Partie in der Wiener Erstaufführung von Don Giovanni (KV 527) vorgesehen. Durch ihre verspätete Ankunft in der Stadt konnte sie jedoch nicht an der Probenarbeit teilnehmen und ihre Partie wurde somit anderweitig vergeben8. Sie ist ergo nie in einer Mozart-Oper aufgetreten und konnte deshalb letztendlich nicht an dem Erinnerungs-Kult um den Komponisten partizipieren. Neben dem fehlenden Bezug zu Mozart, erklären meiner Auffassung nach sowohl die Art des erhaltenen Quellenmaterials, als auch die Orte seiner Sammlung und Aufbewahrung die bisher geringe Wahrnehmung Coltellinis innerhalb der musikwissenschaftlichen Forschung.

O RTE

DER

S AMMLUNG

Im Gegensatz zu Cavalieri und Storace war die Hauptwirkungsstätte Coltellinis nicht Wien, sondern Neapel. Die Sammlung von theater- und musikwissenschaftlich relevantem Quellenmaterial geschah in Wien jedoch weitaus umfangreicher und systematischer, als in Neapel. Zudem sang Coltellini in Wien am k.k. Hofburgtheater, in Neapel hingegen an einem öffentlichen Theater, dem Teatro dei Fiorentini, da das königliche Teatro San Carlo der Opera seria vorbehalten war. Die Materialien der königlichen und damit staatlichen Theater, wie dem San Carlo oder dem Wiener Hofburgtheater, wurden in einem wesentlich größeren Umfang von den ebenfalls staatlichen Archiven gesammelt, als die der freien Theater. Überdies erlitt das Neapolitanische Staatsarchiv große Quellenverluste während des 2.Weltkriegs, zu denen auch Materialien zur neapolitanischen Theaterkultur

8

Woodfield, Ian: The Vienna Don Giovanni, Woodbridge: The Boydell Press 2010, S. 62f.

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des 18. Jahrhunderts gehörten.9 Aufgrund dieser ungünstigen Umstände entdeckte ich während meiner Recherchen weitaus mehr Archivmaterial zu der Sängerin in Wien, wo sie nur eineinhalb Jahre engagiert war, als in Neapel, wo sich Celeste Coltellini die meiste Zeit ihres Lebens aufhielt und knapp zehn Jahre als Sängerin auftrat. Wie zuvor erwähnt kann man allerdings bei Coltellini, als große Ausnahme bei Sängerinnen und Sängern des 18. Jahrhunderts, neben dem theatergeschichtlichen Archivmaterial auf einen Familiennachlass zurückgreifen. Dieser Nachlass der Familie Meuricoffre ist jedoch zum einen geteilt und zum anderen befindet er sich an Orten, die in keiner Weise mit dem öffentlichen kulturellen Erinnern an Celeste Coltellini und nur wenig mit dem Erinnern an die Familie Meuricoffre in Verbindung gebracht werden können und zwar im Staatsarchiv Thurgau und in der Bodenseeregion. Diese Teilung wurde vom letzten Nachfahren der Familie Piero Meuricoffre veranlasst. Schriftliche Materialien wie Briefe, Geburts- und Sterbeurkunden überließ er dem Staatsarchiv Thurgau in Frauenfeld, ein Ort, den die Familie Meuricoffre in ihren Familienerzählungen als ihren ursprünglichen Herkunftsort stilisiert.10 Materialien mit einem vermeintlich größeren ›emotionalen‹ Wert wie Möbel, Bilder, Geschirr oder handgeschriebene Familienerzählungen übergab Meuricoffre einem entfernten Verwandten. In diesem Teil des Nachlasses fanden sich auch Celeste Coltellinis zehn Skizzenbücher, die im Rahmen meiner Dissertation zum ersten Mal wissenschaftlich gesichtet und systematisch ausgewertet wurden und die einen zentralen Punkt meiner Arbeit bildeten. Wie sich bei der Analyse der Bücher herausstellte, waren sie von großem Wert, nicht nur, um Einblicke in Coltellinis Leben zu erhalten und Personen ihres Umfeldes zu identifizieren, sondern auch für theater- und kulturwissenschaftliche sowie mentalitätsgeschichtliche Forschungen. Sie zeigen in welche ästhetischen und intellektuellen Diskurse Coltellini eingebunden war und geben Auskunft über ihre Bildung sowie ihre Herkunft aus dem gehobenen Bürgertum. 

9

Vgl. Ascione, Imma: »Die dokumentarischen Quellen«, in: Francesco Cotticelli und Paologiovanni, Maione [Hg.], Musik und Theater in Neapel im 18. Jahrhundert, Band 1, Kassel: Bärenreiter 2010, S. 37–62.

10 Vgl. u.a. Gruber-Meuricoffre, Beatrice: Die Familie Meuricoffre in Neapel, Thurgauische Beiträge Neapel 1937, S. 3.

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M ATERIALITÄT DER Q UELLEN : D IE S KIZZENBÜCHER C ELESTE C OLTELLINIS Die Zeichnungen der Skizzenbücher11 lassen sich in unterschiedliche Kategorien einteilen, etwa ›zeitgenössische SujetsŐ. In diese Kategorie fällt unter anderem Coltellinis zeittypische Beschäftigung mit den Themen der Antike und Landschaftsmalerei. Eine weitere Kategorie nannte ich ›Personen des Umfeldes‹. Hier dominiert in vielen Skizzenbüchern die damals verbreitete Darstellungsform des Profil-Portraits, wie hier bei Lady Hamilton und ihrer Schwester Rosa Coltellini.12 Für den musikwissenschaftlichen Bereich besonders aufschlussreich sind die Skizzen, die Opernszenen dokumentieren, bürgerliche Kammermusik- bzw. Salonkreise darstellen und Portraits verschiedener Musikerkollegen zeigen und einen Eindruck über das weit gespannte soziale Netz der Sängerin geben. Hier etwa ein Selbstportrait Celeste Coltellinis, gemeinsam mit dem Komponisten Giovanni Paisiello am Cembalo. Coltellini benutzte ihre Skizzenbücher demnach auf vielfältige Weise, nicht nur für Zeichenübungen, sondern auch zur Dokumentation und Kommunikation, wie die zahlreichen handschriftlichen Notizen, Erläuterungen zu Darstellungen oder Grußworte zeigen. Aus genderkritischer Perspektive ist es bemerkenswert, dass dieses für die musik- , theater- und kulturwissenschaftliche Forschung relevante Material eben nicht einem öffentlichen Archiv zugeführt wurde. Schließlich klagt die Frauenbiographieforschung schon lange und weitgehend einstimmig über fehlendes oder spärliches Quellenmaterial. Doch wie am Beispiel von Celeste Coltellini oder auch von Constanze Mozart13 deutlich wird, existiert durchaus nicht nur in Ausnahmen ausreichend Material; es ist nur selten gebündelt an einem Ort zu finden und besteht nicht ausschließlich aus klassischen, schriftlichen Archivquellen. Den »(musik)historischen Mehrwert durch die Einbezie-

11 Siehe Anhang. 12 Siehe Anhang. 13 Vgl. Finke, Gesa: Die Komponistenwitwe Constanze Mozart. Musik bewahren und Erinnerung gestalten, Köln/Wien/Weimar: Böhlau Verlag 2013.

M ATERIALITÄTEN, O RTE UND E RINNERUNGEN | 183

hung anderer Quellentypen und Methodologien«14 (nicht nur) für die musikwissenschaftliche Genderforschung hob allerdings unter anderem Annette Kreutziger-Herr bereits ausdrücklich hervor. Darüber hinaus wurde das Quellenmaterial in Coltellinis Fall nicht einer öffentlichen Institution zugeführt, sondern im Familienkreis bewahrt. Die Begründung für diese Entscheidung des letzten Nachfahren der Familie mag auf der einen Seite darin liegen, dass zum Zeitpunkt der Trennung des Materials Anfang der 1990er Jahre Bilder noch nicht als besonders forschungsrelevant eingestuft wurden. Diese Ansicht hat sich bis heute stark verändert. Vor allem die Arbeiten von Heike Talkenberger zur Historischen Bilderkunde15 oder auch die Studien von Peter Burke16 und das Konzept der Visual History von Gerhard Paul17 haben dazu beigetragen das Potential von Bildern als Quellen zu entdecken. Diese Arbeiten führten zu einer erweiterten Theoretisierung und Methodologisierung, wie beispielsweise zu der 2011 erschienenen kritischen Monographie Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld der Kunsthistorikerinnen Silke Wenk und Sigrid Schade: »Der Glaube an die unmittelbare Verständlichkeit von Bildern setzt […] voraus, dass Bilder in ihren je spezifischen Formen immer das Gleiche bedeuten, unabhängig davon, aus welcher historischen Periode sie stammen und in welchen Kontexten sich diese Formen mit anderen verbinden. Bilder, die als natürliche Zeichen angese-

14 Kreutziger-Herr, Annette: »Kritik an Genderstudies«, in: dies. und Melanie Unseld [Hg.], Lexikon Musik und Gender, Kassel: Bärenreiter/Metzler 2010, S. 241–244, hier S. 244. 15 Talkenberger, Heike: »Von der Illustration zur Interpretation: Das Bild als historische Quelle. Methodische Überlegungen zur Historischen Bildkunde«, in: Zeitschrift für Historische Forschung 21 (1994), S. 289–313. 16 Burke, Peter: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin: Wagenbach Verlag 2010. Die englische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel Eyewitnessing: The Uses of Images as Historical Evidence, die erste deutsche Ausgabe 2003. 17 Paul, Gerhard [Hg.]: Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006.

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hen werden, werden als selbsterklärend betrachtet, als wüssten die Betrachterinnen und Betrachter von Natur aus, was diese zu bedeuten haben.«18

Die »Aneignung des Bildes«19 als Forschungsgegenstand durch verschiedene Disziplinen stelle eine Herausforderung für den Bereich der Kunstgeschichte dar. Bilder eröffnen eben keinen direkten Einblick in die soziale Welt, sondern vermitteln vielmehr einen Zugang zu zeitgenössischen Sichtweisen auf diese Welt, sodass es für die Forscherin und den Forscher unerlässlich ist, das Zeugnis von Bildern in seine Kontexte (kulturelle, politische, materielle etc.) einzuordnen. Auf der anderen Seite war die Entscheidung den Familiennachlass der Meuricoffres zu trennen sicher auch gender-konnotiert; denn anders ist die Verfügung, Materialien des bekanntesten Mitgliedes der Familie im Privatbesitz zu belassen, nur schwer nachzuvollziehen. Dichotome Geschlechtervorstellungen, in denen der Mann den öffentlichen und die Frau den privaten Raum repräsentiert, werden hier sichtbar. Als Resümee lässt sich feststellen, dass nicht nur die Existenz von Quellenmaterial für das kulturelle Erinnern an eine historische Person bedeutsam ist, sondern ebenso sein Aufbewahrungsort, seine Bündelung sowie die Art des Materials. Wie auch in Astrid Erlls Aufsatz Medien des kollektiven Gedächtnisses – ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff zu lesen ist, wird ein Medienangebot oder ein Medium immer erst durch den sozialen Gebrauch zu einem Medium der kollektiven Erinnerung.20      

18 Schade, Sigrid und Silke Wenk: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld: transcript Verlag 2011, S. 13. 19 Schade/Wenk 2011, S. 47. 20 Vgl. Erll, Astrid: »Medium des kollektiven Gedächtnisses – ein (erinnerungs-) kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff«, in: dies. und Ansgar Nünnig [Hg.], Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität ௅ Kulturspezifität, Berlin: Walter de Gruyter 2008, S. 3–24.

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ANHANG Abbildung 1: Federzeichnung von Celeste Coltellini um 1800. Alle Abbildungen © Carola Bebermeier und Melanie Unseld

 



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Abbildung 2: Lady Hamilton. Kolorierte Zeichnung von C.Coltellini um 1800.



 Abbildung 3: Rosa Coltellini. Federzeichnung von C.Coltellini um 1800.



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Abbildung 4: »Paesiello [sic] regardant chanter la Coltellini.«, Lavierung von Celeste Coltellini, Ende der 1780er Jahre.



Interdisziplinäre Perspektiven kultureller Erinnerung

Kompetitiv-Multidirektionale Erinnerung im Medium der Rap-Musik J ARULA M.I. W EGNER F ÜR AE .

Die dynamischen Erinnerungsprozesse in Rap Musik stellen eine Herausforderung für die gegenwärtige Gedächtnistheorie dar. Die multidirektionalen und kompetitiven Formen des Erinnerns regen dazu an, den Begriff des multidirektionalen Erinnerns zu überdenken. Im Folgenden wird gezeigt, dass Rap Musik ein Beispiel kompetitiv multidirektionaler Erinnerung in Form und Inhalt ist. Dazu wird auf Michael Rothbergs Begriff des ›Multidirektionalen Gedächtnisses‹ Bezug genommen, der jedoch leicht überarbeitet wird, um die darin ausgeschlossenen kompetitiven Merkmale produktiv zu machen. Während Rothberg das produktive multidirektionale Erinnern in Opposition zum kompetitiven Erinnern sieht, wird hier behauptet, dass sowohl multidirektionale als auch kompetitive Aspekte des Erinnerns betrachtet werden müssen, um ein umfassenderes Verständnis von Rap Musik zu erlangen. Im Folgenden wird zuerst kurz auf Rothbergs Überlegungen zum multidirektionalen Gedächtnis eingegangen, bevor diese in Anbetracht von Masta Killas Street Corner den musikpoetischen und danach den lyrisch inhaltlichen Erinnerungsfunktionen der Rap Musik überprüft und gegebenenfalls erweitert werden.

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D AS M ULTIDIREKTIONALE G EDÄCHTNIS In Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization entwickelt Michael Rothberg den Begriff des multidirektionalen Gedächtnisses, welchen er im Gegensatz zu einem kompetitiven Gedächtnis versteht. Die zentrale Differenzierung ist, dass ersteres als produktiv, letzteres aber als mit der Nullsummenlogik operierend verstanden wird.1 Bei ersterem befruchten sich Akte des Erinnerns gegenseitig, tauschen sich aus und benötigen einander, während bei letzterem Akte des Erinnerns auf begrenzten Gütern beruhen, gruppenspezifisch sind und kulturelles Eigentum definieren. Mit dem multidirektionalen Gedächtnis schlägt Rothberg ein dezidiert transkulturelles, plurimediales Konzept vor, während das kompetitive Gedächtnis einem selbst-zentrierten, exklusiven Konzept entspricht.2 Dennoch erklärt Rothberg, dass »es oft schwer ist zu sagen, ob ein gegebener Erinnerungsakt eher Wettstreit oder gegenseitiges Verständnis produzieren wird – manchmal scheint es als passiere beides gleichzeitig.«3 Damit verweist Rothberg bereits auf die Möglichkeit, dass sich die beiden Prozesse sehr ähnlich sein können. Im Folgenden wird sich sogar zeigen, dass sie miteinander in Beziehung stehen. Die Analyse konzentriert sich auf das exemplarische und zugleich paradigmatische Lied Street Corner von Masta Killa in der Album-Version von 2006.4 Masta Killa ist Mitglied des berühmt-berüchtigten Wu-Tang Clans aus Staten Island, New York.5 Street Corner erschien auf seinem zweiten Album Made in Brooklyn, auf welchem ebenfalls mehrere Mitglieder des Clans

1

Vgl. Rothberg, Michael: Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford, CA: Stanford University Press 2009, S. 3.

2

Vgl. ebd., S. 21.

3

Übertragung JW. Im Original heißt es: »[it] is often difficult to tell whether a given act of memory is more likely to produce competition or mutual understanding – sometimes both seem to happen simultaneously.« (Rothberg, M: Multidirectional Memory, S. 11).

4

Masta Killa (2006) »Street Corner« Lied Nr. 10 auf Made in Brooklyn, Brook-

5

Vgl. Bradley, Adam und Andrew DuBois [Hg.]: The Anthology of Rap, New

lyn, NY: Nature Sounds. Haven/London: Yale University Press 2010, S. 532f.

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auftreten. Im analysierten Lied beispielsweise treten neben Masta Killa auch Inspectah Deck und GZA the Genius auf, die Dienstältesten des WuTang Clans. Das Lied wird von Kritikern als herausragend bezeichnet.6 Die Analyse der Erinnerungsfunktionen von Rap Musik unter Verwendung des Lieds geht zuerst auf die, nach Adam Krims Definition, »musikpoetischen«7 Aspekte ein und danach auf jene der Lyrik. Signifikante musikpoetische Erinnerungsfunktionen der Rap Musik sind Sampling, Dubbing und Mixing. Sampling in der Rap Musik bedeutet Musik- , Film- oder eine etwaige Tonaufnahme zu nehmen, um sie in ein Lied einzubinden. Die Folge ist eine Rekontextualisierung, die eine Revaluation der spezifischen Bedeutung mit sich bringt. Ein eindrückliches Beispiel des Sampling in Masta Killas Street Corner sind die Streicher. Sie treten von Anfang an im Hintergrund auf und durchziehen diesen mit einem wogenden Teppich. Entgegen der Zuordnung von Rap zur Populärkultur, verweisen die Streicher in dieser Form auf die Hochkultur. Darin wird der Violine aufgrund ihres feinen und nuancierten Timbres ein graziler und majestätischer Charakter zugeschrieben. In diesem Lied jedoch, wird ihr Auftritt abgebrochen. Zwar scheint sie sich, nach einem längeren Vibrato kurz abfallend, augenblicklich auf einem höheren Ton zu etablieren, doch wird sie dabei unterbrochen, zurückgeworfen und gezwungen, von Neuem zu beginnen. Der Grund für ihr Scheitern, die Höhe zu halten, scheint sich in der Rhythmussektion zu finden, die ebenfalls aus Samples besteht. Der Konflikt zwischen der grazilen Violine und der groben Rhythmussektion ist unabweisbar, da erstere stockt sobald die Trommel, das heißt der Kick, auftritt. Mit anderen Worten akzentuiert der Kick das Scheitern der Violine, sich zu etablieren. Damit wird das Scheitern des Aufstiegs durch die schleppenden Trommeln

6

Vgl. Dombal, Ryan: »Masta Killa: Made In Brooklyn«, in: Pitchfork.com (10. August 2006). Letzter Zugriff: 26 Januar 2015 http://pitchfork.com/reviews/ albums/9295-made-in-brooklyn/ und Naber, Joshua: »Masta Killa – Made in Brooklyn«, in: HipHopDX.com (11. August 2006). Letzter Zugriff 25 April 2013.

http://www.hiphopdx.com/index/album-reviews/id.677/title.masta-killa-

made-in-brooklyn 7

Übertragung JW. Im Original heißt es: »musical poetic« (Krims, Adams: Rap Music and the Poetics of Identity, Cambridge/New York: Cambridge University Press 2000, 27).

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begleitet und bekräftigt. Die Schleife wiederholt das Scheitern, sodass das Einzige, was verlässlich erfolgt, das Scheitern des Fortschritts ist. Der Rhythmus bestätigt den Abbruch des Aufstiegs. In diesem Abbruch wird die Etablierung verweigert, harmonische Sublimierung angedeutet und doch stetig entzogen. Stattdessen schafft die fortwährende Verwerfung eine Anspannung, die auf den Entzug der Erhebung verweist. Sampling verwandelt so eine majestätisch aufsteigende Kurve in eine streng begrenzte Schleife, den Loop, und konfrontiert die kulturelle Symbolbedeutung mit seinem eigenen Negativ. Während Rap Musik sich musikhistorischer Samples transkulturell bedient, vollzieht sie dies mitunter in der Umwertung ihrer Bedeutung. Dubbing, der nächste Aspekt, bedeutet aufgenommene oder digital komponierte Töne zu manipulieren, um ihre tonale Qualität zu verändern. Eine gedubbte Stimme ist in der Einleitung des Lieds zu hören. Sie fleht: »Though you know you can’t win, make up your mind!« und konfrontiert die Hörer dabei mit einem Dilemma. Die Stimme stellt eine unentrinnbare Situation dar und erwartet zugleich deren unerschrockene Konfrontation. Doch wer spricht? Durch ihre »Deformation«8, wie Adam Krims schreibt, hat sie ihre physische Gestalt verloren und ihr unvorbereiteter, hereinbrechender, unbeantworteter Ruf kann weder lokalisiert werden, noch kann er Ruhe finden. Dieser Eindruck wird verstärkt durch das deformierte Klagen, das ihr folgt. Während die Stimmen menschlichen Ursprungs sein müssen, werden sie durch ihre Deformation ungreifbar. Es muss die Stimme eines Menschen gewesen sein, doch ob es die eines Kindes oder einer Frau ist, ist kaum bestimmbar. Ihre Konfrontation mit der Technologie hat sie ihrer Menschlichkeit beraubt. Eine hohle Existenz, ein ›Es‹ bleibt, welches die unbeirrbare Wiederholung des aufreibenden Rhythmus heimsucht. Verloren in der Zirkularität ist es in eine unheimliche Gestalt verwandelt, die einen Schrei ausstößt, der beinahe aber doch nicht menschlich ist, wie Homi Bhabha schreibt »human and not wholly human«9. Jedes Mal, wenn es ansetzt sich zu äußern, wird es, wie die Violinen, von außen abgebrochen. Ein bestimmter Ton unterbricht das Klagen. Dieser bekundet selbst eine

8

Übertragung JW. Im Original heißt es »deformation« (Krims, A.: Rap Music

9

Bhabha, Homi K: The Location of Culture, London/New York: Routledge 2004,

and the Poetics of Identity, S. 72). S. 122.

K OMPETITIV-M ULTIDIREKTIONALE E RINNERUNG | 195

Gestalt zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen. Dieser gedubbte Gitarrenton, der eine seltsame Nähe zu Fehlersignalen von Betriebsoberflächen aufweist, verweist auf den Abbruch. Damit scheint das Signal nicht nur den Abbruch zu bestätigen, sondern ihn einzuleiten, indem es die Stimme unterbricht. Der Vorgang des Dubbens deformiert Audiosamples und entfremdet sie so ihrer vorangegangenen Existenzen. Dies wird auch bewusst dazu eingesetzt, juridischen Eingriffen durch Eigentümerrechte und damit finanziellen Verbindlichkeiten zu entgehen. Während gedubbte Samples auf ein vorangegangenes Dasein verweisen, stehen sie ihnen doch entgegen als entfremdete Existenzen. Mixing fügt dann alle Elemente zu einem Gewebe, das nach Tricia Rose, aus »flow, layering, and ruptures in line«10 besteht, einem Fließen, Aufschichten und Zerbrechen in Kollisionen, neuen Verbindungen und Parallelen. Diese entstehen durch die Verbindung von Samples mit gedubbten Sounds und gerapter Lyrik. Das Lied Street Corner stellt uns unweigerlich vor eine Frage. Während die ersten Zeilen unverblümt eine Revolution herbeisehnen, werden die musikalischen Schichten zu Beginn sanft eingefaded und am Ende ebenso sanft ausgefaded. Nachdem die drei Künstler ihre Texte vorgetragen haben, trottet das Lied lethargisch dahin, bis sein Klang zuletzt erfolgreich unterdrückt wird. Entgegen der Fixierung des Lieds auf Wandel, der eingangs proklamiert wird, übermitteln die analysierten Aspekte Wiederholung, Begrenzung und Scheitern. Eine Anspielung auf die klassische Struktur der Variation und des Erhabenen finden sich dagegen in der Violine von Masta Killas Street Corner. Doch ihr ideelles Streben zum Höhepunkt, man könnte sogar sagen zur Aufhebung, wird von der Rhythmussektion unterbrochen. Letztere entgegnet der grazilen Violine von zwei Richtungen: aus der Vormoderne, da die rhythmischen Elemente offensichtlich kulturelle Bestände sind, die ihr lange vorausgingen und aus der Postmoderne, wie ihr digitaler Charakter, die Modi ihrer Emulation und Fragmentierung bezeugen. Damit lässt sich das Versagen des Projekts der Moderne nicht nur in seinen Voraussetzungen, sondern auch in seinen Resultaten erkennen. Genauer noch, das Projekt der Moderne erfährt seinen vorzeitigen Abbruch durch die Leugnung seiner Wurzeln wie auch seiner Resultate. Diese Leugnung resultiert in endloser Wiederholung. Was jedoch in klassisch europäischer Musikwis-

10 Rose, Tricia: Black Noise: Rap Music and Black Culture in Contemporary America, Hanover/London: Wesleyan University Press 1994, S. 38.

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senschaft nach dissonanter und unharmonischer Kakophonie klingt, wird aus anderer Perspektive, wieder in Adam Krims Worten, als »the ›hip-hop sublime‹«11, also »das Erhabene des Hip Hop« verstanden. Er erklärt, »geradezu unbewegliche und inkompatible Tonschichten werden selektiv und dramatisch miteinander in Konflikt gebracht«.12 Wenn schon diese Standpunkte gewisse Merkmale teilen und damit multidirektional verbunden sind, so stehen sie sich dennoch mit grundsätzlich verschiedenen, also kompetitiven musikpoetischen Paradigmen gegenüber. Die formalen Aspekte der Rap Musik zeigen aber nicht einfach nur die Grenzen vorangegangener Paradigmen auf. Während es scheint, als rotiere das Lied am Rad endloser Wiederholung, widerspricht ein zentraler Punkt dieser Diagnose. Der »Break« in der Liedmitte unterbricht die Zirkularität. Es ist wichtig zu erkennen, wie der Loop unterbrochen wird. In dem Augenblick, da Masta Killa seine Frustration über das Scheitern von Cliquen äußert, ein Umstand den er als »sickenin’«, also als »krank machend«, bezeichnet, wird der Loop, der aus vier sich wiederholenden Takten besteht, plötzlich gezwungen auf jedem der vier Takte von vorne zu beginnen und dann von jedem Viertel des ersten Taktes von vorne zu beginnen, für vier Mal. Damit kollabiert der Loop in seine eigene Struktur, der Loop ist geloopt ist geloopt. Er verzehrt sich selbst, oder zumindest wird er nach seinen eigenen Regeln beendet. Aus der darauf folgenden Stille steigt ein selbstsicherer und höhnischer Ausruf. Der Charakter dieser Stimme legt nahe, dass sie den Abbruch initiierte, da sie sich nicht überrascht sondern gefasst äußert, wissend und triumphal der Stille entsteigt. Doch scheint es unmöglich zu erkennen, wer diesen Ausruf äußert, oder wie viele. Die einheitliche Form der Äußerung suggeriert die Stimme einer Person, nur dass diese sich selbst vorauszugehen und zugleich mit mehreren Stimmen zu erklingen scheint. Dementsprechend sind es auch alle drei Rapper, die im Anschluss konspirativ und entschlossen den Refrain akzentuieren. Es ist das Menschliche, das sich zuletzt durchsetzt, durch einen gemeinschaftlichen Ausdruck. Und während

11 Übertragung J.W. Im Original heißt es: »the ›hip-hop sublime‹« (Krims, A.: Rap Music and the Poetics of Identity, S. 54). 12 Übertragung J.W. Im Original heißt es: »virtually immobile and incompatible layers of sound are selectively and dramatically brought into conflict with each other« , ebd.

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es noch nicht einmal ein Wort ist, sondern nur ein Ausruf, deutet es dennoch auf ein besseres Morgen, »a better tomorrow!«.

Z ITIEREN , R EPRÄSENTIEREN

UND

R EFERENZIEREN

Im Folgenden werden signifikante lyrische Erinnerungsfunktionen in der Rap Musik untersucht, welche in dem Beispiel als Quoting, Representing und Referring identifiziert werden können. Quoting, also Zitieren in Raplyrik, heißt Dialogausschnitte von gemeinschaftlichem, kulturellem oder politischem Wert in die Lyrik einzubringen, um sie zu besprechen, sie zu parodieren, oder einfach zu verbreiten. Die gedubbte Stimme zu Beginn und das regelmäßig auftauchende Klagen sind offenbare Beispiele des Zitierens. Während erstere prominent am Anfang eingespielt wird, wird sie zugleich von Inspectah Decks Stimme überquert und durchkreuzt. Die digitale Manipulation arbeitet weiter ihre Zerbrechlichkeit heraus, bringt sie an den Rand des Kollapses. Was wohl einst eine dominierende Stimme war, verwandelte sich in das Gespenst einer subalternen Stimme, die in und aus dem postindustriellen Zeitalter ruft. Bei genauem Hinhören lässt sich erkennen, dass der Ausruf im Break von einer gedämpften Äußerung gefolgt wird. Es ist wieder das Klagen, das auftritt und auf den triumphalen Ausruf antwortet. Es scheint das Klagen fordert die Hilfe gerade der Triumphierenden und es tut dies mit besonderem Nachdruck, wenn es noch deutlicher während des Liedes auftritt, wo es je vom Abbruchlaut unterbrochen wird. Im Break jedoch ruft das Klagen etwas kleinlauter, gerade als wolle es daran erinnern, dass die Mission noch nicht erfüllt sei, dass die Revolution noch ausstehe. Der darauf folgende Refrain wiederholt das Dilemma, welches bereits im Zitat der Einleitung, »Though you know you can’t win, make up your mind!«, präsentiert wird. Obwohl der Kampf als ein endloser dargestellt wird, sind Zuhörer*innen dennoch aufgefordert, sich zu entscheiden und Stellung zu beziehen. Diese Aussage, wie auch andere in diesem Lied, deuten auf eine spezifische Zeitwahrnehmung hin. Entgegen eines einfachen Fortschrittsglaubens wird die Zeit hier als eine verstanden, die der Befreiung bedarf. Die Gegenwart ist gezeichnet von Unterdrückung und Fortschritt ist keine Gegebenheit, gedeiht nicht natürlich und kann nicht individuell herbeigeführt werden,

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sondern muss im Kollektiv erkämpft werden.13 Es muss angenommen werden, dass die Unterdrückung ewig währt, wenn der Fortschrittsglaube eine Illusion ist und die Möglichkeit des Umsturzes nie vom Kollektiv ergriffen wird.14 Wenn die Idee des Fortschritts verworfen wird, kann die Kraft historischen Wandels entweder messianisch erhofft, oder von den Menschen erwartet werden. Street Corner suggeriert letzteres und fordert die Zuhörer*innen auf Stellung zu beziehen. Representing, also Repräsentieren, ist eine Funktion, die bereits Teil der frühesten Rapauftritte war und bis heute ein wichtiges Element geblieben ist. Der Liedtitel Street Corner deutet bereits auf einen zentralen Ort in der Rap Musik15 und dient dem Lied zudem als Ausgangspunkt. Eingangs erklärt ein Zitat von Gil Scott-Heron, »we have a poem that we’ve written particularly/for the brothers on the street corners,« für jene, die die Neuigkeiten verbreiten, dass »the revolution is coming/and you better get ready«.16 Straßenecken stehen nicht nur für ein gemeinschaftlicheres Zusammenleben mit Offenheit und Begegnung, sie zeigen auch, dass die westliche Gesellschaft unzählbare margina-

13 Für eine ausführlichere Kritik des Fortschrittsbegriffs siehe Benjamin, Walter: »Zum Begriff der Geschichte«, in: Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser [Hg.], Walter Benjamin: Gesammelte Schriften I.1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 691–704 besonders S. 700. 14 Dazu ausführlicher und in Bezug auf Benjamins Thesen zum Begriff der Geschichte: Hamacher, Werner: » ›Now‹: Walter Benjamin on Historical Time«, in: Heidrun Friese [Hg.], The Moment: Time and Rupture in Modern Thought, Liverpool: Liverpool University Press 2001, S. 161–196. 15 Vgl. Gates, Henry Louis Jr. »Foreword« in: Adam Bradley und Andrew DuBois [Hg.], The Anthology of Rap, New Haven/London: Yale University Press 2010, xxiii; Rose, Tricia: Black Noise: Rap Music and Black Culture in Contemporary America, Hanover/London: Wesleyan University Press 1994, S. 11; Toop, David. Rap Attack 2: African Rap to Global Hip Hop, London/New York: Serpent’s Tail 1991, S. 12. 16 Es handelt sich hierbei um ein herausragendes Beispiel von Quoting. Zitiert werden hier Teile des Anfangs von Gil Scott-Herons Brother, welches auf dessen erstem Album Small Talk at 125th and Lennox von 1970 erschien, einem grundlegenden Werk des Black Arts Movement (BAM). Auf die spezifische Bezugnahme und die damit einhergehende Positionierung zu Gil Scott-Herons Rede kann hier aus Platzgründen leider nicht eingegangen werden.

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lisierte Subjekte produziert, die sich an diesen Scheidewegen wiederfinden. Reisende, die weder die Möglichkeit haben, in eine lang verlorene Heimat zurückzukehren, noch in einer abweisenden Gesellschaft anzukommen, stehen an diesen Straßenkreuzungen als Erwartende einer kommenden Zeit. Straßenecken sind, mit Homi Bhabha gesprochen, paradigmatisch in ihrer »Liminalität der Westlichen Nationen«17, wo subalterne Subjekte »zwischen Zeiten und Orten«18 sprechen, als Träger und Agenten einer kommenden Revolution. Diese Subjekte werden adressiert, erinnert und repräsentiert. Genauer noch bezieht sich Gil Scott-Heron auf diese »alleged brothers«, die in blau oder grün, rot und schwarz gekleidet sind. Grün, rot und schwarz sind die Farben des Schwarzen Nationalismus, während Blau die Farbe der Crips, einer Afroamerikanischen Straßengang aus Los Angeles ist. Ihr langjähriger Feind, die Bloods, auch eine afroamerikanische Straßengang, die sich wiederum in rot kleidet, wird ebenfalls adressiert. Der Text fordert sie auf, gemeinsam für die Revolution einzutreten, scheinbar unter dem Banner des Schwarzen Nationalismus. Auf diese Weise scheint das Lied diesen Nationalismus zu proklamieren, unter Ausschluss jener, die ihm nicht entsprechen. Somit wird eine Allianz formiert, die in Opposition zum 203astatus quo‹ westlicher Gesellschaften tritt. Durch die Hervorhebung des Schwarzen Nationalismus wird der grundsätzliche Wandel jener dominierenden Gesellschaft eingefordert, bevor ein Miteinander möglich ist. Werden innerhalb der afroamerikanischen Kreise mögliche Bündnisse erinnert, so werden jene außerhalb dieser Kreise einem konkurrierenden Gesellschaftsvertrag gegenübergestellt. Das schwarznationale Bündnis ist transnational multidirektional, bestreitet aber die Grundlagen der gegenwärtigen Ordnung. Referencing, also Verweisen, findet statt, wenn nicht direkt auf etwas oder jemanden Bezug genommen wird, sondern in ernsthafter oder ironischer Weise auf etwas angespielt wird. Ein Beispiel in Street Corner ist GZAs Verweis auf ein »going through the struggle«, welcher sich in vielen Rapliedern findet, speziell im Genre des

17 Übertragung J.W. Im Original heißt es: »liminality of the Western nation« (Bhabha, H.K.: The Location of Culture, S. 241). 18 Übertragung J.W. Im Original heißt es: »speak betwixt and between times and places« (ebd. S. 227).

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Reality Rap, dem dieses Lied zuzuordnen ist.19 Es ist ein Motiv, das diese Lieder verbindet und ihren gemeinsam aufrecht erhaltenen Widerstand zum Ausdruck bringt. Durch die Erwähnung entsteht diese Gemeinschaft, wird sie gefestigt und ausgeweitet. Eine Referenz verweist jedoch explizit über den Bund der Rapper mit ihrer Zuhörerschaft hinaus. Masta Killa verweist auf Schwarz-Jüdische Beziehungen zu Zeiten des transatlantischen Sklavenhandels: »Transatlantic import: / Slaves been bought. Secret relations between Blacks and Jews / might set a fuse off in the head. Many dead, / lynch hung, swung from trees. / Brothers in the struggle together, eat from one pot, / hold each other down to the sneaker. Nothing come between us! «

Die Publikation des Werks The Secret Relationship Between Blacks and Jews der ›Nation of Islam‹ im Jahr 1991 entfachte hitzige Debatten in afroamerikanischen und besonders in Rap Kreisen.20 Masta Killa verweist zweifelsohne auf diesen Buchtitel. Das Buch behauptet, dass »die prominentesten jüdischen Pilgerväter unverhältnismäßig mehr entführte schwarze Afrikaner benutzte, als jede andere ethnische oder religiöse Gruppe in der Geschichte der Neuen Welt und an jedem Aspekt des internationalen Sklavenhandels teilnahm«21. Henry Louis Gates Jr. nennt dieses Werk im Jahr 1993 »eines der ausgeklügeltesten Fälle von Hassliteratur, das bisher kompiliert wurde«22, als »die Bibel des neuen Antisemitismus«23. Die Populari-

19 Für eine ausführlichere Besprechung des Genres Reality Rap, siehe: Krims, Adam: Rap Music and the Poetics of Identity, Cambridge: Cambridge University Press 2000, S. 70–80. 20 Vgl.: Chang, Jeff: Can’t Stop Won’t Stop: A History of the Hip-Hop Generation, New York: St. Martin’s Press 2005, S. 268, besonders S. 284. 21 Übertragen J.W. Im Original heißt es: »the most prominent of the Jewish pilgrim fathers used kidnapped Black Africans disproportionately more than any other ethnic or religious group in New World history and participated in every aspect of the international slave trade« (The Historical Research Department of: The Nation of Islam: The Secret Relationship between Blacks and Jews: Volume One, Chicago: Latimer Associates 1991, vii). 22 Übertragen J.W. Im Original heißt es: »one of the most sophisticated instances of hate literature yet compiled« (Gates, Henry Louis Jr.: »Black Demagogues

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tät des Buches in afroamerikanischen Kreisen initiierte eine öffentliche Debatte und motivierte mehrere Historiker dazu, detaillierte Widerlegungen der darin enthaltenen Anschuldigungen zu verfassen. Wenn wir den Blick jedoch den Unterschieden zuwenden, wird die Auslassung von »ship«, welches auf »relation« folgt offenbar und der Wandel vom Singular der »relationship« zum Plural »relations« ohne Artikel. Ersteres ist in volksetymologischer Hinsicht signifikant, da Schiffe bekanntlich zentrale Elemente des transatlantischen Sklavenhandels waren und damit wesentlicher Bestandteil der Diffamierung durch die Nation of Islam sind.24 Letzteres hebt die Ablehnung der Reduzierung auf eine einzige, entscheidende Begegnung für zahlreiche erinnernswerte Begegnungen hervor und deutet damit auf eine Neubewertung der Anschuldigungen im Augenblick des

and Pseudo-Scholars«, in: The New York Times: Opinion (July 20, 1993). Letzter Zugriff: 2. Mai 2013. http://www.nytimes.com/1992/07/20/opinion/blackdemagogues-and-pseudo-scholars.html?pagewanted=all&src=pm 23 Übertragen J.W. Im Original heißt es: »the bible of the new anti-Semitism«, ebd. 24 Laut A. Smythe Palmer bedeutet Folksetymologie »der Einfluss, der auf Worte ausgeübt wird, sowohl auf ihre Form als auch ihre Bedeutung, durch ihren populären Gebrauch und Missbrauch. Im engeren Sinne soll es auf die Korruption verweisen, die Worte erfahren aufgrund entweder falscher Ideen zu ihrer Ableitung oder aufgrund falscher Analogien mit anderen Worten, mit welchen sie vermeintlich verwandt sind.« (Übertragung J.W. Im Original heißt es: »the influence exercised upon words, both as to their form and meaning, by the popular use and misuse of them. In a special sense, it is intended to denote the corruption which words undergo, owing either to false ideas about their derivation, or to a mistaken analogy with other words to which they are supposed to be related.« Palmer, A. Smythe: Folk-Etymology, A Dictionary of Verbal Corruptions or Words Perverted in Form or Meaning, by False Derivation or Mistaken Analogy, London: George Bell and Sons 1882, vii.) Das Suffix »-ship« nicht als gebundenes Morphem, sondern als freies Morphem, in diesem Fall als Nomen, das ein Transportmittel bezeichnet, zu verstehen, bedeutet ein Abweichen von generell akzeptierten morphologischen Regeln. Diese Art von Abweichung und Umwertung ist jedoch gewöhnlich in Folksetymologie. Folksetymologie tritt sowohl in anglophonen Standardsprachen als auch im African-American Vernacular English auf.

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Zitierens. Die »skrupellose Verzerrung historischer Daten«25, wie Gates schreibt, durch die Nation of Islam, wird im Moment ihrer Nennung entwertet. Der Akt der Reproduktion wird mit dem der Opposition vereint. Weitere Verweise deuten auf diese Umkehrung, da Masta Killa von »many dead, lynch hung, swung from trees« spricht und damit gemeinsame Erinnerungen von Schwarzen und Juden in den Vereinigten Staaten weckt. Damit wird die anfängliche Opposition wegen verheerender Anschuldigungen verworfen für eine Allianz, gefördert durch die Erinnerung geteilter Vergangenheit. Gegen die historischen Anschuldigungen werden andere Erinnerungen vorgebracht, welche die Möglichkeit in sich tragen, den Antagonismus zu überwinden. Damit werden kompetitive Formen mit multidirektionalen verknüpft. Doch die nächste Zeile äußert bereits Bedenken gegenüber dem soeben gesagten, indem sie beide Positionen in Frage stellt. Masta Killa erklärt: »Brothers in the struggle together eat from one pot/hold each other down to the sneaker.« Diese brüderliche Allianz reicht von einfachen Angelegenheiten, wie dem Essen, zu anspruchsvolleren wie der Verteidigung bis zum bitteren Ende. Mehr noch entspricht diese Aussage nicht einem demütigen Vorschlag, sondern fester Entschlossenheit. Menschen werden Brüder durch diese Praxis und nicht anders. Die Erinnerung an den anfänglichen Antagonismus ist verworfen für vergangene Allianzen. Um jedoch in der Gegenwart zu gelten, muss sich jede Clique, das heißt Allianz, im Angesicht der gegenwärtigen Herausforderungen bewähren. Damit stellt sich Masta Killa gegen jene in der Rap Geschichte, die beide Gesellschaften unumwunden verbinden, wie beispielsweise Blood of Abraham26, oder jene, die auf ein Ende der Allianz pochen, wie Killar-

25 Übertragen J.W. Im Original heißt es: »unscrupulous distortion of the historic record« (Gates, Henry Louis Jr.: »Black Demagogues and Pseudo-Scholars«, in: The New York Times: Opinion (July 20, 1993). Letzter Zugriff: 2. Mai 2013. http://www.nytimes.com/1992/07/20/opinion/black-demagogues-and-pseudoscholars.html?pagewanted=all&src=pm 26 Ein einschlägiges Beispiel hierfür wäre das Lied Niggaz and Jewz (Some Say Kikes), welches Blood of Abraham zusammen mit Eazy-E und Willonex produzierte und auf ihrem Album Future Profits, 1993 bei Ruthless Records erschien.

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my27. Masta Killa lässt offen, ob er für eine Gegnerschaft oder Allianz ist. Durch den Verweis positioniert er sich gegen vorangegangen Stellungnahmen in der Rapmusik und zeigt auf den inneren Konflikt dieser Erinnerungsverhandlungen. Er schließt, dass Solidarität nicht bedingungslos gewährleistet ist, sondern in der Gegenwart ausgehandelt werden muss. Damit zeigt sich, dass sowohl multidirektionale Verbindungen als auch Konkurrenzen in der Rap Musik auf formaler und inhaltlicher Ebene, genauer in Form von Sampling, Dubbing und Mixing sowie Quoting, Referencing und Representing, auftreten. Diese Verbindungen und Konkurrenzen betreffen die Musikgeschichte aber auch soziale, legale und ökonomische Aspekte. Mit Helga de la Motte-Habers Worten vollzieht Rap Musik, die »fundamentale Funktion des Gedächtnisses zu adaptieren und zu transformieren.«28 Damit befruchten sich Akte des Erinnerns gegenseitig, tauschen sich aus und benötigen einander, während zugleich die Begrenztheit musikalischer, sozialer und ökonomischer Güter hervortritt, eine gruppenspezifische Umkodierung stattfindet und somit kulturelles Eigentum definiert wird. Rap Musik ist ein Erinnerungsmedium, dessen Entstehung auf Erlebnisse fundamentaler Ungerechtigkeiten zurückgeht. Daher geht sie nicht einfach nur Verbindungen ein, sondern fordert zugleich auch zu einem Wettstreit auf.

27 Ein Beispiel hierfür ist Clash of the Titans, welches sie 1997 als zweites Lied auf dem Album Silent Weapons for Quiet Wars bei Priority Records veröffentlichten. 28 Darauf verwies Helga de la Motte-Haber in ihrer Eröffnungsrede des Symposiums Musik und Erinnerung des DVSM 2015 in Frankfurt.

»Playing music saved us from going nuts« Childhood Trauma and the Sound Works of Beiruti Artists of the Civil War Generation T HOMAS B URKHALTER

»Yes, I have a trained ear. I know if someone is lying from the tone of his voice. I learned this from listening to our politicians« JOELLE KHOURY, PIANIST (2006)

In 2006, the night before the war between Israel and Hizbullah started, I sat in an Italian restaurant in East Beirut. With me were Cynthia Zaven, a Lebanese pianist and composer, and Catherine Cattaruzza, a Beirut based graphic designer. Cattaruzza explained: »Tonight, Israel will bomb the airport or the electricity station, or the air force might just fly over the city and produce sonic booms. The sound waves might break your windows – it’s best to keep them open«. My companions made jokes full of black humour and laughed a lot. For me, a Swiss ethnomusicologist inexperienced in anything like war, it was not easy to fall asleep that night. The next morning, two deep ›booms‹ came, long before the wake-up call. The BBC World News reported that the Israeli air force had bombarded Beirut International Airport. The following night was worse. Israeli planes produced one sonic boom after the other. They sounded like heavy thunder, but louder. Each explosion was accompanied by short cracking noises. It felt as if the sky would crash

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down on us. Immediately I had superstitious thoughts. Should I go out on the balcony to observe what is happening? Definitely not! Should I record those sounds? No! Don’t push your luck! A ›boom‹, very deep and aggressive, ended the spectacle: the first real bomb was fired from a ship into Southern Beirut. The city fell quiet. Birds sang. The war distressed me partly because it seemed to mean the end of my field research in Beirut. For the musicians with whom I had been working, this was much more than just another war. It was a painful return to memories of their childhood, during the Lebanese civil war from 1975 to 1990. In my long discussions with them about their music, they had sometimes mentioned the importance of specific »sonic memories« in their work. I did not direct them toward this topic. I had worried that they might choose to tell me of war memories, thinking that a Swiss researcher would find them interesting and exotic. I knew, too, that I would never truly understand what they had experienced in their lives. Many musicians born during the civil war told me that they know all the weapons of war just by listening to their sounds. They claimed that they could hear the exact trajectory of a rocket in flight, and thus could tell whether it was a direct danger to them or not. »I remember the departures and arrivals of the rockets and bombs« explained Cyril Najjar, a metal and gothic musician: »I used to hear the departures, stop breathing, and breathe again after the bomb had not fallen on me. When you hear a bomb it is a good sign: it means it did not hit you. If you don’t hear anything, it means it is so close, you just feel the blast and you are dead. This is something remarkable about the war«. (Najjar, 2006)

Najjar and many other Lebanese seem to understand by direct experience the first and main biological function of hearing: it orients us and locates acoustic sources. Sound is linked to movement; hitting each other, the molecules in the air create acoustic waves. Depending on our position, we hear these waves in different frequencies and intensity. As the ear registers the waves, the brain categorizes the sounds as dangerous and threatening, or as comforting (Hellbrück 2008:17). In my many interviews with Lebanese musicians, this topic recurred often. Some musicians went a step further, asking cynical questions full of black humour. »Is war good ear training?«, »Can listening to the weapons of war replace musical exercises?«.

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In fact, one year of fieldwork in Beirut had made these musicians increasingly foreign to me. At the beginning, they seemed simply warm, open and welcoming. The more I got to know them, the more complex they seemed, and in some ways disturbing. They showed many of the sociopsychological effects that are discussed in literature on trauma1, and on the post-traumatic stress symptoms of Lebanese society as a whole.2 »We have paid a heavy price for this community. Let those who would comment lightly on us beware«, writes Jean Said Makdisi, the sister of Edward Said. Her writings seemed to warn me. »We are unforgiving judges of those who have not shared our experiences. We are like a secret society. We have our own language; we recognize signs that no one else does; we joke about our most intense pain, bewildering outsides; we walk a tightrope pitched over an abyss of panic that a novice does not even perceive, let alone understand. We are provoked to anger and fear by the smallest detail while suffering calamity calmly. We are, each of us, bundles of nerves wound up so tightly into little balls of extra-awareness that we bounce off the walls of our personal and collective catastrophes with an apparent ease. Every new battle, every new death, every new car bombing and massacre, every new piece of bad news is felt by each of us as a personal injury to be borne silently«3

Despite this »warning«, the musicians seemed to talk openly to me, the ethnomusicologist from Switzerland. Perhaps they enjoyed the fact that I did not understand all the hints and connections and thus would not judge them too readily or put them into the typical categories used by a Lebanese insider. Because of their openness, I decided, after the 2006 war, to focus my work more on their war memories, especially their sonic memories. I wanted to understand how these sound artists remember the sonic qualities of their childhood years, and how these memories affect their artistic work

1

Sutton, Julie P.: Music, Music Therapy and Trauma – International Perspectives, London/Philadelphia: Jessica Kingsley Publishers, 2002.

2

Khalaf, Samir. Civil and Uncivil Violence in Lebanon – A History of the Internationalization of Communal Conflict, New York: Columbia University Press, 2002.

3

Makdisi, Jean Said. 1990. Beirut fragments – A war memoir, New York: Persea Book, S. 211.

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today. Beyond these specific questions, I wondered how the audible space that surrounds us throughout our lives affects our manner of listening to music or sound and of producing music or organising sound. This essay approaches the 2006 war and the Lebanese civil war through the ear and discusses music by Lebanese artists born during the civil war. Through these examples, I offer reflections on the complex interrelations among childhood, war, trauma, and music-making. But despite the particular focus of this essay, I would never wish to determine these artists’ creativity exclusively through trauma and childhood experiences. I focus mostly on three artists: the sound designer Rana Eid; Raed Yassin, and his mediapiece CW Tapes (Civil-War Tapes); and the trumpet player Mazen Kerbaj, a pioneer in the scene for Free Improvised Music in Beirut. In order to understand, at least in part, the traumatic experiences of these artists, we should begin with the Lebanese civil war, through descriptions of its tragic events by eye- and ear- witnesses.

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THE

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As already indicated, Lebanon endured a long civil war between 1975 and 1990. This tragic event involved many forces beyond the Lebanese people. Because Syria’s main interest was that Lebanon not be split into two states, it always took the side of whichever camp was weaker at the moment. Israel, at first, sought revenge for Palestinian attacks conducted from Lebanese territory; at a later stage, it helped the allied Maronites against the PLO and the leftist and communist parties. Libya, Iraq, Iran, Saudi Arabia, the Arab League, the United Nations, the USA and other states were also involved, supplying armaments to the different militias.4 Palestinian refugees had lived in Lebanon since 1948; their number increased after 1967, and after the expulsion of the PLO from Jordan in 1970. The various groups who sided with the PLO had different sponsors, either Iraq or Syria, and different goals. Some wanted only to protect the Palestinians in Lebanon; some wanted to attack Israel; others hoped for a revolution in Lebanon. The

4

Hanf, Theodor: Koexistenz im Krieg – Staatszerfall und Entstehen einer Nation im Libanon, Baden-Baden: Nomos-Verlagsgesellschaft: 1990.

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Palestinians sided with leftist and communist parties who were interested in radical changes of the status quo.5 In 1984, no fewer than 186 warring factions with different backgrounds and ideologies, sponsors, grievances, and visions were engaged in the armed struggle. »This bewildering plurality of adversaries and shifting targets of hostility has rendered the Lebanese experience all the more gripping and pathological« 6 The Lebanese experienced the war not as one but as a series of events – as a never – ending, tragic composition, characterized partly through its unexpected changes between noise and silence. Depending on the region, the quarter, the street or the house one was living in, the battles were one day far away, another day too close. »This is not a war, this is a way of living«, explains a man in the documentary film Beirut – The Last Home Movie by Jennifer Fox (1988). The film offers insights into the daily life of a rich Christian family living in East Beirut – it’s the family of Sharif Sehnaoui, one of the founders of the Lebanese scene for Free Improvised music. We see the Sharif and the family members working in the garden and cleaning the house, while we hear shooting and shelling close by. To forget the harsh realities of war, the women depilate their legs, and the men compete with each other in car races through the narrow streets of the Lebanese mountains. Bombs, rockets, missiles, grenades, gunshots, hand grenades and a »shower of Katyushas«7 became an ordinary thing. The ear was »constantly affronted not only with explosions, bullets, screaming jets, and sirens, but also with the sound of glass shattering (or, later, the so-familiar sound of glass being swept up), of the anarchic traffic negotiating ever narrower streets and smaller neighborhoods«.8 »We have by now become experts in the science of killer sounds«, writes Mahmoud Darwish in 1982.9

5

Kropf, Annika: »Oppositionsbewegungen im Libanon – Zwischen Systemerhalt und Systemveränderung.« Beiträge zur Politikwissenschaft: 190, 2007, S. 75–77

6

S. Khalaf: Civil and Uncivil Violence, S. 240f.

7

Fisk, Robert. 2001. Pity the Nation – Lebanon at War, Oxford: Oxford Universi-

8

Makdisi, Jean Said. Beirut fragments – A war memoir, New York: Persea Book,

9

Darwish, Mahmoud. 1995. Memory for Forgetfulness – August, Beirut, 1982,

ty Press 1990, S. 487. S. 212. Los Angeles: University of California Press (Translated from the Arabic by Ibrahim Muhawi), S. 75.

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While writing, the Palestinian poet lives in the besieged western part of Beirut, constantly bombed by the Israeli army. »How to describe those battles? How to capture in words the horror of those weeks?« asks his contemporary Jean Said Makdisi, facing the same traumatic events: »The sound of the battles – one eschews thunder and rumble as too easy, too weak to express it. It was a sound seemingly made by all the devils in hell beating gigantic drums under the earth and over it; a sound rebellious monster hatched out of the shell of the earth«.10 The British news correspondent Robert Fisk is one among many writers in various fields who often refer to noise and sound when trying to describe the horrors of the Civil war. The planes returned again and again, he writes: »before dawn, they dropped aerial percussion bombs above west Beirut. It sounded as if the whole city was collapsing« (Fisk, 2001). Mahmoud Darwish describes a similar air raid as a nightmare: »A nightmare coming from the sea ›Enough! Enough!‹ [...] I can’t surrender to this fate, and I can’t resist it. Steel that howls, only to have other steel bark back. The fever of metal is the song of this dawn«.11 It is impossible, of course, to understand war purely through listening to the weapons. Other media are needed to confirm or contradict our sonic impressions, as witnesses often told me in interviews. Radio was the primary medium of information during the Civil war. Many Lebanese became addicted to radio, to speeches of the favoured clan leaders, and to propaganda music that aimed to make sense of the chaos. »The radio is on constantly, of course, and tuned from station to station, it provides the latest reports. Casualty lists are mounting. The battles have spread. The south is ablaze and so is the north, the mountains and the city«.12 Robert Fisk’s account of the role of radio stations during the Civil war makes is fascinating and chilling: »Beirutis had only to twist the medium wave dial on their transistors to hear the brassy Hollywood theme music of Quo Vadis, that creaky religious epic of the 1950s which converted Robert Taylor into a Christian along the Appian Way. The same music which once ushered the heroic Taylor into the forum of ancient Rome

10 J.S. Makdisi: Beirut fragments – A war memoir, S. 163. 11 M. Darwish: (Translated from the Arabic by Ibrahim Muhawi), S. 4. 12 J.S.: Makdisi, S. 44.

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had been stolen by the Phalange, whose ›Voice of Lebanon‹ expounded an exclusively Maronite version of the daily news to its Christian listeners. Across the city in Corniche Mazraa, listeners who tuned to 240 metres medium wave were hourly blasted by the music of ›Allah Akhbar‹, the old Nasserite marching song of the 1967 Arab-Israeli war. It was the signal for another anti-isolationist news bulletin from the ›Voice of Arab Lebanon‹ […]. On the Phalangist station, disc jockeys played pop records newly imported from Paris, interrupting their programmes for open-line telephone discussions with listeners. There was even a grotesque mutation of the BBC’s ›Any Questions‹ programme in which the inequities of leftists, communists and their fellow travellers were damned in bloodthirsty terms. Every day, ›Gemayel’s daily disc‹ – a ten-minute lecture on the integrity of Lebanon by Sheikh Pierre, the father of the Phalange – would be transmitted. The ›Voice of Arab Lebanon‹ provided a mixture of pan-Arab sentiment and invective against the ›isolationistZionist conspiracy‹, longhand for the Israeli-Maronite alliance. To commemorate Nasser’s revolution – an event which still served, so listeners were informed, to ›bind Lebanon to the Arab nation‹ – only Arab music was played. […] The Lebanese government had only itself to blame for these illegal stations. Beirut’s official radio was heavily censored; sectarian killings and ceasefire violations went unreported. Demands for the closure of the private transmitters were met by the Phalangists with declarations that they possessed a legal broadcasting licence, issued years before by a leftwing government minister. Ibrahim Koleilat, the Mourabitoun commander, claimed that his station could not be categorised as private since it belonged to the ›masses‹«.13

The main militias and communities had their own radio stations. These were »supported by an extremely well developed and sophisticated media industry – with their own broadcasting stations, newspapers, periodicals, pamphlets, slogans, symbols and motifs – competed in gaining access to potential recruits, clients, and converts«.14 Through the radio also came propaganda music. The Lebanese Forces (›LF‹)15 had a huge propaganda

13 R. Fisk: Pity the Nation – Lebanon at War, Oxford, S. 145f. 14 S. Khalaf: Civil and Uncivil Violence in Lebanon – A History of the Internationalization of Communal Conflict. 15 Bashir Gemayel, the commander of the Phalange or Kataeb militia, founded the Lebanese Forces in 1978; it unified various Christian militias, but was clearly

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machine, inspired by Nazi Germany. In 2006, when living in East Beirut during one of my stays, I heard that people still played all the Lebanese Forces’ anthems loudly on their balconies. These propaganda songs became part of the collective memory of many Lebanese – the ones who were in favor of the LF and the ones who hated them. Raed Yassin, one of the artists featured in this essay, remembered trying to listen to the radio: People were not at all able to enjoy listening to these radio broadcasts at the time. There were loads of cuts between the songs. Sometimes the radio was manipulated, and you suddenly heard the enemy speaking through your radio. They tried to manipulate the memories of the people«. Many people Yassin knows started their own small radio stations during the war. Often, the range of their broadcasts was not more than one square kilometre. »But it made the ›owner‹ of the ›station‹ and his or her friends very happy«, Yassin explained: »In the shelters one could not always catch the airwaves, so someone often went up a bit, listened to the radio and brought the news down to us. Many became addicted to news; they did nothing else than listening to it. This experience of hearing all these terrible happenings is a very deep memory for many Lebanese«. (Yassin 2006).

The more these sounds of the bombs, along with the media, mixed with sounds from the close environment, the more traumatic they became. At crossing points between East and West Beirut, a battle of loudspeakers took part. While Israeli loudspeakers urged civilians to leave West Beirut, Palestinian speakers informed them »that their womenfolk would be raped by the Phalang«.16 The most challenging noises came from dying people; parents tried everything they could think of to keep their children from hearing them. The fighters and militiamen shouting around one’s house were another sound of fear. »We have come to cleanse your area of terrorists«, shouted the Israeli officers on their patrol along Hamra Street in 1982.17

dominated by Gemayel’s Kataeb. After the civil war, the Lebanese Forces became a political party. 16 R. Fisk: Pity the Nation – Lebanon at War. 17 Ebd. S. 384.

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For many Lebanese who experienced the war, it never ended. They have told me that it sticks deep in their memory, and that there was never a true reconciliation between the different parties. The 2006 war between Israel and Hizbullah, the street battles around the elections of President Michel Suleiman in 2008, and the instable situation at the Israeli/Lebanese border prove them right. War can restart at any minute in Lebanon. The following part of this essay draws on interviews with three Lebanese artists, all active in sound-related art forms. The three artists agree in finding strong relationships between childhood memories of war-sound and their present artistic use of sound, though the relationships are very different.

R ANA E ID : M USIC ,

AND

O THER S OUNDS

OF

W AR

In 2005, Rana Eid told me how, for her, war was closely related to music. Rana Eid was born as the daughter of a Sunni family in West Beirut in 1976. »As a child, I used to listen to Egyptian music and to the Lebanese singer Fairuz on my Walkman, just not to listen to the bombs anymore. This is what my mother told me. I also used to play on a piano, while there were bombings outside. Till today, I can’t even think of touching a piano again. And with music, as such, I still have a lot of problems. For a long time I refused to listen to it at all, because it was too much related to war« (Eid, 2005).

As a student at the University, Rana Eid started to record the sounds of the city, and the voices of people. » I was interested in people talking about their war experiences. It fascinated me how the frequencies changed in their voices when they recalled their tragic memories«. Today, Eid works as a sound designer for many independent Lebanese films. She is not ready yet to make music for music’s sake. »I hope that one day my deep emotional involvement with music will fade away and I can compose my own music. I’m not ready yet. Sound design, however, feels safe for me« (Eid, 2005). But she also said: »Maybe I could do a composition, but it would be only half-hearted. If I were to compose, I would want to be sure that I could be very passionate and mature. I don’t

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want to be afraid of the sounds; I want to work with them at a very close distance. I fear I would be very melodramatic in my music«. (Eid, 2005)

For Rana Eid, as for most of her contemporaries, the 2006 war between Israel and Hizbullah came as a big shock. It brought back many war memories. »Again, the Israelis attacked, again, I felt the same horror, but this time it sounded different«, explained Eid, just after the end of the 2006 war (Eid, 2006). Others said the same thing: this war sounded different from what they had expected. Eid experienced these new sounds as very frightening: »The scariest thing of all was that I did not hear the sounds from the first war. The airplanes sounded so different, more mid-range, and less high frequency. This freaked me out completely« (Eid, 2006). Eid felt lost and disoriented. She was not capable of locating the airplanes through the ear anymore; she had expected that she could do so. »My father told me that it is impossible. The planes that drop bombs fly high up and very slowly. You don’t hear them. The ones that race over the city and fly through the sound barrier don’t bomb anything. They are just here to scare people« (Eid, 2006). The apartment of Eid and her husband Nadim Mishlawi – a sound designer and musicians as well – is located between the sea and Southern Beirut, the main target in the 2006 war. »We heard the departure of the missiles from the boat. The missile flew over the house, and then we heard the arrival in Southern Beirut«, recalled Mishlawi. »The departure sounds are louder than the arrivals« (Mishlawi, 2006). Eid and Mishlawi talked a lot about sounds that were new and unexpected to them, for example, the leaflets that the Israelis threw down over Beirut. »You hear a very small boom when the package explodes in the air and then releases all those leaflets. And then you hear the fluttering. You are happy first, because it’s only leaflets, but then you read them« (Eid, 2006). She also described the observation drones used by the Israeli army: »This thing made a ›zzzzzzz‹ sound, and it was observing and filming us from above. It was as if a bad God was watching us« (Eid, 2006). The Israeli phone calls to Lebanese houses were experienced as a big shock: »It was a recorded message that told us not to link up with Hizbullah«, Eid remembered: »The record was high quality, the male that spoke had a deep and dramatic voice, but he spoke incorrect Arabic; this freaked me out. It was very traumatic. The bombs

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come for everyone; the phone call comes for me personally. The voice intruded into my home, into the most personal part of my life. I felt that they would rape my territory«. (Eid, 2006)

The sound of the city changes completely during war. »You can’t hear the sound of life anymore. You don’t hear people in the streets anymore. The sound of the cars are different, they’re passing so quickly to get home. There is no pop music coming from the windows – I even started to miss the pop singer Haifa Wehbe« (Eid, 2006). Further, the cuts to electricity changed the sonic environment. And when Hizbullah leader Hassan Nasrallah was talking, the whole city fell quiet – his voice shouted from all directions, often with small delays. Eid and Mishlawi, like many other musicians, talked about the issue of silence: »It was the silence that was the most difficult thing to tolerate. Normally Beirut is very noisy – and it has a special noise, different from London or Paris. Now, again, we went from noise to silence; at 6 o’clock in the morning, between the bombardments, you heard nothing, nothing; this was very unsettling, extremely unsettling, you felt very out of place, very unstable, insecure, because sound really orientates you, it gives a sense of belonging, a sense of structure. Once that sound changes or goes away, you really feel you have been displaced to somewhere else« (Mishlawi, 2006).

The singing birds were another topic that came up very often: »It was so bizarre. When the Israelis started bombing in the early morning, the birds started singing. And even when the bombing started at two in the morning, the birds woke up and sang in the dark« (Eid, 2006). Some published texts also deal with the issue of natural sounds in describing the civil war, for example Al-Shaykh in one of her novels: »This is something that irritates me about the war: nature fulfilling its function without missing a beat. The waves continued to crash on to the same rocks, the spray boiled up and subsided. Only the sky was not its usual colour because so many bullets had been sown in it and it still bore the acrid traces of the farewell rounds fired on your behalf«.18

18 Al-Shaykh, Hanan: Beirut Blues, London: Vintage 1996, S. 65.

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The most terrible moment for Rana Eid was when she finally heard one of the sounds that was stored in her sonic memory. »The last morning of the war, I suddenly heard this airplane sound that I used to hear as a child. It was the most terrible moment for me personally in the whole war. There was this whistle sound that was so traumatising for me« (Eid, 2006).

R AED Y ASSIN : A C OLLAGE

OF THE

S OUNDS

OF

W AR

Raed Yassin reacted completely differently from Rana Eid. While she wanted to hide, he wanted to work on compositions such as his mediacollage CW Tapes (»Civil-War Tapes«). Raed Yassin was born in Beirut in 1979 as a son of a Shiite family living in Tayouneh, close to the suburbs of Southern Beirut. Yassin graduated from the Theatre Department of the Institute of Fine Arts in Beirut in 2003. He works in the fields of music and audio, video, performance and visual arts; thus, like many Lebanese artists, he works in several artistic fields simultaneously. Even before the 2006 war, he had started to work with the war sounds of his childhood. In his 23minute-long piece CW Tapes, Yassin packaged political speeches, sounds of war, television tunes, radio jingles and commercials, disco tunes, synthesizer pop and propaganda music from the Lebanese civil war. »All these sonic memories from the war are still very fresh in our minds – even if many Lebanese try very hard to erase them«, he stated. The media piece is built on material that Yassin obtained from radio archives, archives of political parties, records shops, street sellers and individuals. To this, he adds his own singing and whistling, along with various sound effects and noises from radio transmitters. The piece uses various techniques of editing and sound manipulation. CW Tapes opens with the sounds that occur when one is tuning through a radio receiver. Then bombs explode (0:46): not bombs of warfare, but bombs of joy. »We hear detonations that exploded to celebrate the election of the Christian leader Amin Gemayel in 1982«, Raed explained. At 0:58, Gemayel praises the Lebanese resistance in a long speech. He argues that the Palestinians will never be able to throw the Lebanese into the sea, thus highlighting his people’s worries that the PLO could become too strong in Lebanon. At the same time, we hear Camille Chamoun far in the background: the former president, also an important Christian leader in the Civil

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war, tells people how to get rid of the Palestinians. According to Yassin, »Chamoun in the background is saying openly, what Gemayel in the foreground is actually saying, but not so clearly«. The speeches contrast with the kitschy song that follows, by 1980s synthesizer hero and pop star Sami Clark (3:00). »While collecting material from the Civil war, I started to love Sammy Clark and other artists from the so-called Franco-Arab pop scene. These songs sound different from the mainstream Arabic pop music that used a lot of string instruments at the time. Sammy Clark and others used these extreme synthesizer sounds, and sometimes even synthesized voices. It’s extremely kitschy, and extremely funny. They played a lot of cover songs from the West as well. Their repertoire and sounds show how much the Lebanese were connected to 1980s pop globally – despite the war«.

To Yassin, these songs are fascinating: because of their kitschyness; they seem so detached from the realities of war. The lyrics of the song in the background say, »Baby, let’s go dancing«. A bit later (7:55), we hear the breathing of news presenters: Yassin cut out their words, leaving only the sounds of their breathing, and placed them one after another. A mix follows, with a news jingle from Sawt Al-Shab, the radio of the communist party; a news ad for pizza and macaroni; and the news jingle from the Christian right wing station Voice of Lebanon (8:22–8:35). This jingle aired when very bad things had happened. »For many Lebanese it is still very traumatic to hear it«, Yassin explained. The melody of the jingle is well known: it comes from the soundtrack for Shaft, written by Isaac Hayes in 1971. From 10:56, CW Tapes recreates the atmosphere of radio programs played during the day: »During the day there was often no hot news. So the radio stations used to fill their programs with someone talking about fashion design, or listeners calling and asking questions about problems with their kids« (Yassin 2006). Further, we hear a lot of propaganda music from the various Lebanese militias. Starting at 16:40, there is silence for twenty long seconds. »I use silence quite often. Especially after these tense sounds, silence was needed«, Yassin stated, and he added that silence was something very crucial in war: »Silence was the most terrible thing. In silence we were always waiting for what was going to happen« (Yassin, 2006). At 18:25, the popular

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Lebanese singer Philemon Wehbe enters with his piece »Naku immak ya Loubnan« (»Lebanon, they fucked your mother«). »This song was so great. Wehbe was just fed up with all these Lebanese leaders. One could buy his tape in street shops in East and in West Beirut. The street merchants put the song on their speakers and we could hear it loud. He named all the leaders that according to him fucked up Lebanon. Thus, his piece was crucial for my piece« (Yassin, 2006).

Yassin and his friends considered Philemon Wehbe as the only true protest singer of Lebanon: »He is really smart, and he composed like Mozart. He had worked for Fairuz in the 1950s, he was a great comedian, and now he had decided to criticise the establishment«. At 20:20, Yassin uses an effect on the voice of a news presenter to imitate bombs and Kalashnikovs: »As children we would perform these fake guns and bombs with our mouth. The ›Bah‹ would be the bomb in our children’s language« Then, CW Tapes comes to a sudden stop: no fade out. Reactions to this piece are very different inside and outside of Lebanon. In Lebanon, listeners focus mainly on the content. »They react physically. Sometimes they are shocked to hear these sounds again. After listening they start to discuss which ads, songs and speeches they remembered, and which they did not«. Yassin himself hears the piece aesthetically. »It was nice to put those heavily synthesized sounds of Sammy Clark next to radio ads, for example«. He does not care about the chronology of events in history. Some choices, however, were meant to create interesting contrasts of content, such as putting speeches of Amin Gemayel next to bombs of joy or letting different clan leaders comment on each other. »I try to manipulate the memory of the people. I put things together in a certain way, through sound design I put it into a kind of a virtual space – it sounds like sounds deriving from another planet. It becomes very abstract«.

M AZEN K ERJAB : W AR , N OSTALGIA, AND I MPROVISATION Whenever I asked Mazen Kerbaj about his sonic memories of his childhood, his eyes started to glow; he recalled very precisely the different

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sounds of the weapons of war, and his and his friends’ ability to tell whether a shell was flying in or out. Mazen Kerbaj was born into a Christian Maronite family in 1975. During the civil war the family lived in East Beirut, close to the green line. »I had the shooting and bombs in my ears during my whole life«, he stated. They lived near the Rezk tower, one of the highest buildings in Beirut. In their own house, eighteen bombs exploded, Mazen recalled. »But the Rezk tower was much worse. It would receive bombs day and night. We saw many bombs exploding, and then two seconds later we would hear them. I learned a lot about sound at that time. And I learned that in war, one is not so much afraid of what one sees, but what one hears« (Kerbaj 2005).

I spoke with Kerbaj several times, just after the 2006 war. »First, I just wanted to leave. I was very angry, and I was afraid for my son Ewan«, he explained, »but then I felt that I liked this new war. Somewhere in my brain I found something like happiness« (Kerbaj, 2006). After saying this, Kerbaj apologized. »It sounds terrible, but I was somehow happy to experience again as an adult, what I had experienced as a child. It was like going back to childhood, to a time and place where we felt secure« (Kerbaj, 2006). Nostalgia for one’s childhood seems a normal human behaviour not only in a »happy« and »good« life, but also in a difficult one. »Sometimes, I have to admit it, I almost feel nostalgic about this childhood in war, and especially about these sounds of war. I know that to many people this sounds shocking, but it is the truth, unfortunately. It seems that I’m nostalgic about this time. Till the age of sixteen I spent my whole life in war. To me, war was normal and peace was an abstract concept – as absurd and terrible as this might sound. It was during these days of war that I loved Beirut most during the sixteen years since the end of the Civil war« (Kerbaj, 2006).

This nostalgia for the sounds of childhood seems to have different sources. Kerbaj mentioned the fact that the sonic atmosphere of Beirut changed completely: »Beirut is a very noisy city. It’s only during a war, in between two bombs, where it falls silent« (Kerbaj, 2006). During the 2006 war, Kerbaj became an activist. He started a Weblog in which he wrote and drew pictures about his daily life inside the war. The

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blog got attention from big media companies like CNN and Al-Jazeera, and from many individuals all around the world. It was published as a book in 2007.19 Kerbaj also recorded the piece Starry Night, playing trumpet on his balcony. We hear his trumpet, along with the bombs dropped by Israeli warplanes. He uploaded the file to the World Wide Web and put the following credits: »a minimalistic improvisation by: mazen kerbaj / trumpet, the Israeli air force / bombs«. The Israeli pilots thus became sound artists. Kerbaj is one of the main musicians in the Lebanese scene for Free Improvised music, together with Christine and Sherif Sehnaoui.20 His solo album brt vrt zrt krt t shows Kerbaj experimenting with distinct trumpet techniques and sounds. His trumpet blubbers, jars, and claps from the deepest to the highest frequencies. In the track Blblb Flblb, his trumpet is filled with water and thus creates deep bubbling sounds; it whispers softly and airily, and screams in a high pitch. In Zrrrt, he plays the trumpet with a tube. He sits on a chair, the tube around his neck and the trumpet between his legs. In Taga of Daga, he uses another tube that is 5 meters long. In Tagadagadaga, he works with rhythmic patterns. The CD offers a library of sounds that Mazen Kerbaj produces on his trumpet. Within each of the different tracks, there is little change, but we hear that Kerbaj controls those sounds and we hear his rhythmic precision. One day, the Austrian trumpet player Franz Hautzinger told Kerbaj that his trumpet sounds were very much like the sounds of helicopters and riffles. This led Kerbaj to think about the relationship between the sounds of his childhood and youth, and the sounds that he likes and creates now. Today, Kerbaj believes that his sonic memories determined, to a certain extent, which sounds he likes or dislikes. »I have, for example, a very special relationship to silence« he said: »I was always afraid of silence. In silent moments we were always afraid of something worse to come«, On the other hand, Kerbaj states clearly that musical taste and perception keeps changing ௅ through listening, musical education, and practice. Kerbaj identifies, as his main influence, the Free Improvised Music scene in Europe.

19 Kerbaj, Mazen: Beyrouth: Juillet–Aout 2006, Paris: L’Association, 2007. 20 Burkhalter, Thomas: »Mapping Out the Sound Memory of Beirut: A Survey of the Music of a War Generation.« In: Franck Mermier [Hg.], Itinéraires Esthétiques et Scènes Culturelles Au Proche-Orient, Beirut: Institut Français du Proche-Orient, 2007.

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Though he recently linked his interest in silence to wartime experiences, his attention to silence has also been nurtured through the composer John Cage’s discussions about silence, and his silent piece 4’33”. Kerbaj believes that the war influences come in unconsciously.

L INKS

BETWEEN TRAUMATIC EXPERIENCE AND MUSIC

In the interviews I held, some artists argued that listeners can hear the artists’ »sonic memories« in the way they organise their sound material. Just after the 2006 war Kerbaj listened back to a recording he had done with Raed Yassin and Ricardo Allias on July 12, 2006, the day before the war. As he observed, »It was interesting to listen to that trio, after having lived one month through the soundscapes of war. The relationship between the sounds of war and our music is evident. It’s not so important that this sound sounds like a helicopter, and this one like a rifle; it’s more the overall sonic output. Free Improvised Music in Europe sometimes seems to resemble the sounds of animals. In our music, however, you hear mainly urban soundscapes: drones, airplanes passing, and things like that« (Kerbaj 2006).

Despite Kerbaj’s emphasis on »the overall sonic output«, in the end he is talking about drones, and airplanes again. Yassin and his CW Tapes piece suggest a different emphasis. In a way, CW Tapes is typical of many of the aesthetic approaches I observed in Lebanon. There is no overall aesthetic idea that holds the CW Tapes piece together: »This is one of the main differences from electro-acoustic music made in Europe«, Yassin announced. »I’m an Arab artist; I grew up in a chaotic world. And I use the audio material from my surroundings in the way I want, and I feel comfortable« (Yassin 2006). CW Tapes uses different techniques of editing and sound manipulation; most of the work is done on Pro Tools software. The editing appears very rough: we hear no slow fade-in or fade-out, but a lot of cuts and immediate changes. »I thought that rough editing would fit in this piece very well«, Yassin explained. He borrowed from the aesthetics of radio stations and popular music in the 1980s: very rough mixing, and many abrupt changes. »I mixed this exactly in the way the radio programs did

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during the time. They used to play songs, then put another on, stop it, and talk nonsense. It’s like a ›war‹ between songs, a real mess«. A lot of care goes into the choice of sound qualities and textures. Here again, the sound design resembles the popular soundscape of the time to a great extent: we hear a lot of kitschy sounds and timbres. Quite often, we hear archival material in its original quality. Sometimes, however, it is sent through samplers and filters. Sound qualities and textures are a more important criterion for the arrangement of the sound material than the actual content of the speeches or songs: »My work derives directly from my environment. I saw how close relatives got killed; I lived in Beirut when it was destroyed, and when it was reconstructed. I lived like a nomad, and had to move between many homes, between Beirut and the Lebanese mountains. In my artistic work, I love to deconstruct and reconstruct sound and media files. I feel at home when I work with the sonic material that surrounded me during my life. However, I organize this material in the way I want«. (Yassin, 2006)

Yassin’s explanations suggest that a childhood in war, or in a chaotic environment, might influence a musician’s music at very deep levels. One can indeed read many of the aesthetic approaches of Beiruti artists of the war generation in that way. These musicians’ definition of music is broad. They rework, re-arrange and/or imitate the sounds of their city and the noises of war with the latest sound software. They have a specific knowledge and taste for sounds and textures, and a very fresh, playful and direct approach to music and music making. They move rather freely between what is often distinguished as high culture and low culture. One of their strengths is to create an authenticity of emotion, a quality of honesty, sincerity, and truthfulness of musical expression. Further, they do not shy away from imperfection, accidents, chaos and failure; in this, they resemble many previous modernist and experimentalist artists in Europe and the US.

H ISTORICAL P OSITION

OF THESE

ARTISTS

The musicians I discuss come from a very particular context. In this section, I discuss their position in three respects: their generation, their socioeconomic place and the international stylistic context of their art. Obvious-

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ly, generation emerges as a main force. These artists experienced their first war, the civil war, as children, not as adults. »When you’re very young, you don’t perceive the war the same way. In 2006, I felt responsible for my friends, for my brothers, for my family. Within the civil war, we felt that we lived a normal life. Probably we experienced it at the right age«, the musician Cyril Najjar told me (Najjar, 2006). Many other musicians told me similar stories. In the documentary film Beirut – The Last Home Movie, by Jennifer Fox (1988), the family sits together in the shelter, often with friends from the neighbourhood, during heavy bombardments. They play cards, smoke, drink arak, and dance the rural Levantine dabké. The young Sharif Sehnaoui and the other children seem to enjoy the situation: they have the attention of the whole family upon them. They play games, watch animated cartoons and are allowed to stay up late. Everyone ignores even the loudest explosions. Imprisoned by the war, the family creates its own private world, in which they pretend to live an ordinary everyday life. They constantly try to convince themselves and their children that they are happy. According to Jean Said Makdisi, »It occurs to me that the children rather enjoy these crises, that is, until true terror strikes. Everyone is at home; having become thoroughly irrelevant, discipline collapses. No-one is told to be quiet and do his homework. Bedtime is any time and no time. Daddy, one ear on the radio, the other on the noise outside, will indulgently if absentmindedly agree to play a game in an inside room to try to fight off their fear«.21 Many parents did not let their children feel the war too much. Still, in the long term – and the Lebanese civil war was very long – this probably did not work. According to Khalaf, children’s daily routines and conventional modes of behaviour were inexorably caught up in the omnipresence of death, terror, and trauma: »Their schooling, eating and sleeping habits, playgrounds, encounters with others, perceptions, daydreams and nightmares, their heroes and role models […] Even their games, their language became all warlike in tone and substance. Their makeshift toys, much like their fairy tales and legends, mimicked the cruelties of war. They collected cartridges, empty shells, and bullets. They played war by simulating their own gang fights. They acquired sophisticated knowledge of the artefacts of destruc-

21 J.S. Makdisi: Beirut fragments – A war memoir, S. 37.

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tion just as earlier generations took delight in identifying wild flowers, birds, and butterflies. There is hardly an aspect of Lebanese children’s lives, and this is certainly more so for adolescents who were involuntarily drawn into the fray of battle, that is exempt from such harrowing encounters. They have all been homogenized by the menacing cruelties of indiscriminate killing and perpetual anxieties over the loss of parents and family members. These and other such threats, deprivations, and indignities continue to consume their psychic energies and traumatize their daily life. Successive generations of adolescents have, in fact, known little else«.22

A second factor is that most of these musicians, though not Raed Yassin, come from a well-educated, upper class background. »I didn’t get injured, and I was almost angry that I was not tested more. We were bystanders, and war tourists in Beirut. The bombs went down in South Beirut, we however leaved in other areas. It took us time to realize that we were safe. We were watching TV. It was like having the war without the suffering. On the other hand this was the difficult thing: it was really tough to see that you couldn’t do anything« (Kerbaj, 25.9.2006).

Like many other sound artists in Beirut, Mazen Kerbaj comes from a welloff and educated family. People of this class did not live where the bombs actually fell. Rana Eid confirms this: »In this war we knew that we were not targeted directly. Israel bombed Southern Beirut. And because this area is only 10 minutes from our house, it was extremely loud and I was extremely afraid, but I was not scared for my life. In the civil war, however, I was afraid of the sound; I was afraid of dying, I was afraid for my whole family. In this war I heard the departures and the detonations of the bombs. It was the sound of death of others. It was really a strange situation. You know that no one will bomb you, so you become like an observer – but one that is still afraid« (Eid 2006).

Rana Eid’s words highlight the importance of the geographical, ideological and social position of the listener. Most of these artists are, to a certain

22 S. Khalaf: Civil and Uncivil Violence in Lebanon – A History of the Internationalization of Communal Conflict, S. 238.

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extent, »safe« bystanders. They have to time to observe, to reflect on the happenings artistically, and to share their ideas with a larger audience. Still, the civil war and the 2006 war affected all the Lebanese. All suffered from this trauma, including the rich and educated. Among the musicians, some saw the death of family members or friends with their own eyes. »There is hardly a Lebanese today who was exempt from these atrocities either directly or vicariously as a mediated experience. Violence and terror touched virtually everyone«, writes Khalaf, remembering the civil war.23 And he continues: »The Lebanese have been homogenized by fear, terror and grief, but remain divided and powerless in identifying and coping with the sources of their anguish. Hence, they are gripped by a crushing sense of impotence and entropy. They are bitter but cannot direct or mobilize their fury and rage toward recognized targets«.24

Though these Lebanese artists may reflect Lebanese experiences in their work, their style comes from international sources. In general, they know relatively little about Arabic music25 but a lot about sound textures. They are very well informed about the history of the arts and the latest cultural developments worldwide. Mazen Kerbaj and Raed Yassin stated clearly that their major musical influences come from Europe and the US.26 For Kerbaj the album Machine Gun – Automatic Gun for Fast, Continuous Firing, by the German Free Jazz pioneer Peter Brötzmann, was a revelation. Later he learned music from Free Jazz and Free Improvised Music albums by musicians ranging from Albert Ayler, Evan Parker, and Michel Doneda to Vinko Globokar and Axel Dörner. Raed Yassin’s CD shelf in Beirut is full of the works of contemporary composers including Karlheinz Stockhausen, Iannis Xenakis and such musique concrète pioneers as Pierre

23 Ebd., S. 236. 24 Ebd., S. 243. 25 Burkhalter, Thomas: »The Aesthetical Approaches of ›Avantgarde‹ SoundArtists in Beirut« Bahithat (Lebanese Association of Women Researchers) Vol. 14. März 2010. 26 Burkhalter, Thomas: »Tarek Atoui – or: Reflections on the New Musical AvantGardes of the 21. Century«. In: Indicated by Signs. Bonner Kunstverein, Goethe Institute Kairo, 2010.

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Schaefer and Luc Ferrari. Unlike Kerbaj, Yassin listens to Arabic music as well: the Egyptian singer Asmahan Omar Khorshid, who combined surfguitar and belly dancing grooves, and others. Popular styles and ideas like grime, mashup, and recently psychedelica seem influential, but also musique concrète, noise music, and drone music.27 Many of these Lebanese musicians are very competitive worldwide. They often perform in Europe and the U.S., and sometimes receive financial support from international arts funders. Bringing together the ›global musical Zeitgeist‹ with the local sonic phenomena of war, these musicians and sound artists attempt to »create sense out of chaos«, to borrow Anthony Storr’s phrase. Storr states that music is not an escape from »real« life, but a way of ordering human experience.28 This is exactly what I heard in a performance by Tarek Atoui and the Staalplaat Sound System in the Club Transmediale in Berlin in 2007, and on Tarek Atoui’s latest CD, released on the Most Aux Vaches series of the well-known Staalplaat Label.29 Tarek Atoui is a Lebanese sound artist who lived in France for many years. Today he flies back and forth between France and Lebanon. On his laptop, Atoui creates soundscapes full of ruptures, cuts and contrasts – a mash-up of intense noises, digital frequencies, and samples from field recordings, voices (Arabic, English, Chinese, etc.), media files from radio and TV, popular music (Arabic strings, Chinese Opera, etc.), war sounds, and much more. These sounds reach us in different qualities, from lo-fi to hi-fi, and compressions, MP3 to Wave. Atoui adds reverb, distortion and other effects. He sends the resulting sounds to the left and to the right channel, and to the foreground and the background of the speakers. When I saw him perform onstage, Atoui used a joystick to steer the sound program MAX/MSP. His body remained fixed while his music dived through chaos, with polyrhythmic structures and noises deriving from all possible directions. Then his body would start to move as breakbeats and

27 T. Burkhalter: »The Aesthetical Approaches of ›Avantgarde‹ Sound-Artists in Beirut« Bahithat (Lebanese Association of Women Researchers) Vol. 14. März 2010. 28 Storr, Anthony. 1992. Music and the Mind, New York: The Free Press, S. 182f. 29 T. Burkhalter: »Tarek Atoui – or: Reflections on the New Musical AvantGardes of the 21. Century.« In: Indicated by Signs. Bonner Kunstverein, Goethe Institute Kairo.

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hardcore drum’n’bass began to structure the soundscape-beats well-known in popular music and club culture. »I want my music to be a violent message of hope, of denying all forms of repression and of believing in people’s wills and right to freedom« (Atoui, 2006), Atoui told me. In Berlin, Atoui controlled his laptop sometimes, and sometimes his laptop seemed to control him. »We fucked up, we lost control«, he told me after a performance, very unhappily. This is what today’s world is about, I thought: we are surrounded by information, by war, by terror, by a huge number of media sources. It seems like we have lost control, and still we have more options and possibilities than ever before.

I NTERPRETIVE

AND

P OLITICAL P ERSPECTIVES

How do sounds heard during one’s childhood and youth translate into one’s later artistic expression? To what extent does this translation happen consciously or unconsciously? Is it an essentially musical process or a psychological process or is it part of an artist’s performance, and a representational strategy? To find out, in detail, which elements of the music derive from the global Zeitgeist, and which from the experience of war, lies far beyond the scope of this article. Probably, even trying to answer this question is nonsense. The bundle of influences and forces that lead the artist to produce music is almost impossible to untangle – for the scholar, but for the musician as well. Music is a multi-dimensional phenomenon in which many musical and non-musical dimensions are interwoven.30 Sound artists and musicians from Beirut are constantly influenced by a huge number of musical and non-musical forces, from the psychological trauma of the Lebanese civil war, to impacts from surrounding ›ideoscapes‹, ›mediascapes‹, ›financescapes‹, ›technoscapes‹ and other »-scapes«, as Appadurai would call them.31

30 T. Burkhalter: »Between Art for Art’s Sake, and Musical Protest. How Musicians from Beirut react to War and Conflict.« In. Popular Music and Society. May 2011, Vol 34, No.2. 2010. 31 Appadurai, Arjun: Modernity at Large ௅ Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis: University of Minnesota Press, 2003.

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At the same time, these musicians actively try to create their own special music, pushing a variety of limits, and using the possibilities of our digitalized and transnational world. Raed Yassin made the decision to collect the sonic material of his childhood and to create his piece CW Tapes with it. However, it is difficult to reconstruct precisely how he finally built the piece, how and why he took this or that musical decision while working on it. A lot happens by coincidence and the criteria for this or that decision can be musical and non-musical. Only one thing seems clear: the translation of the sounds from one’s childhood into one’s music happens on both conscious and unconscious levels. To understand the unconscious parts, we may look into literature on sound psychology and socialization of music. Here we learn that the first years of our lives are crucial for our capabilities of hearing, enjoying and later working with sound. Kleinen (2008) suggests four phases of musical socialization. According to Kleinen the first stage, from birth to adolescence, is characterized through a basic openness. The child is oriented towards the parents and the wider family, and this orientation shapes the child’s musical behaviour, preferences and repugnances. This process leads to a repertory of songs that the child loves to listen to and to sing (Kleinen, 2008, p. 56). Inspiration comes also from the surroundings: from the noises of the city, the birds one hears sing – and thus also, in the case of the musicians of Lebanon, from the sounds of war and the noise of propaganda. In short, the child first takes over the cultural model of its environment.32 Depth psychology argues that these founding elements of our childhood affect our whole life. There is, however, the question of how. And we have to be careful – especially in the case of war. Not every child exposed to potentially traumatic events becomes neurotic, or psychologically ill, as an adult. There are many factors that can give a life of a traumatised child a positive turn – and this may happen in many different situations and at any age.33 This point is important. Many of the musicians from Beirut experienced traumatic incidents; however, it is not at all clear how these influence their music today.

32 Dobberstein, Marcel.: Die Psychologie der musikalischen Komposition, KölnRheinkassel: Verlag Christoph Dohr 1994. 33 Nuber, Ursula.: Der Mythos vom frühen Trauma – Über Macht und Einfluss der Kindheit, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2000, S. 75–78.

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The Lebanese artists position themselves in various ways in relation to their early experiences of war. Mazen Kerbaj talked about the interrelations between the sounds of war and his music, for the first time, to a foreign journalist during an interview in Berlin, rather than to a writer in Lebanon. »Maybe one hears the Lebanese Civil war in our playing«, Kerbaj told the journalist. Later, in conversation with me, Kerjab qualified this statement. »After the interview we laughed about my statement a lot, Sherif and Christine Sehnaoui and me. However, the more I thought about it, the more it became clear, that this might be more than a joke«.34 Was his answer thus just a strategic move to answer all the questions about »authenticity« that foreign journalists, international funders, or we scholars keep asking? At the same time, it seems clear that his answer was more than a joke – Kerbaj himself says so too. In seeking further understanding of the relation between childhood experience and composition, one might turn to the literature of phenomenology35 and its discussions of ›embodied knowledge‹.36 Theoretical discussions of memory are also promising. Rather than analyzing the extent to which the trumpet sounds of Mazen Kerbaj resemble the sounds of machine guns and helicopters, it may be better to see how Kerbaj actually remembers these sounds, and how he reconstructs and re-creates them. Thus, Mazen Kerbaj would be at the centre of our interest, and not the machine gun or the helicopter. Siegrid J. Schmidt37 is helpful here: he analyses the act of memorizing as a process of the present, and not of the past. According to him, memories do make sense in the present mainly – in

34 M. Kerbaj: Beyrouth: Juillet–Aout 2006, Paris: L’Association. 35 Husserl, Edmund: Die Konstitution der geistigen Welt, Hamburg: Felix Meiner 1984. 36 In Phenomenology of Perception (1945), Merleau-Ponty emphasized the role of the body in human experience. »When I reflect on the essence of subjectivity, I find it bound up with that of the body and that of the world, this is because my existence as subjectivity (= consciousness) is merely one with my existence as a body and with the existence of the world, and because the subject that I am, when taken concretely, is inseparable from this body and this world« (MerleauPonty, 1945, S. 408). 37 Schmidt, Siegfried J.: Gedächtnis und Erinnerung : zur Erinnerungspolitik der Gegenwart. In: Zeitgeschichte. Jg. 33, H.2 (2006) Innsbruck, Studien Verlag 2006, S. 53–58.

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this case for Lebanese musicians who try to create their personal musical identity. Aleida Assmann’s work on the social nature of memory is helpful here too. According to Assmann, while each person has his or her own personal memories, and a special view of the memories of the different groups he or she belongs to (family, ethnic, social, political, nation, etc.), individual memory cannot stand alone. An individual’s memories are connected to memories of other people and created, affirmed and fixed through social conversation. According to Assmann, our individual memory is undependable and cursory. She cites Maurice Halbwachs, who argued in the 1920s that a lone human being would not be capable of creating memories at all. Assmann thus defines the memory of the individual as a ›communicative memory‹. When I asked Raed Yassin whether he actually remembered all those sounds that he put together in his piece CW Tape, his answer was significant: »Some ads, songs and speeches I did actually remember. Others I discovered while doing my research. And some tracks I got from friends« (Yassin, 2006). Further, Assmann emphasizes the memory of a generation, citing Halbwachs and Karl Mannheim, who argued that each individual is very responsive to experiences that would shape his or her whole life when he or she is between 12 and 25 years old. Thus, each generation shares certain values of seeing the world, and takes possession of the world in its own distinctive way. Each generation creates its own access to the past, not allowing the generation before them to tell them what perspective they should take on it. In our Lebanese case, the members of this generation of musicians remember the war and communicate their memories similarly, because they discussed their experiences, and fixed their memories while communicating with each other. Musically, then, we could expect to find a shared, communally-formed version of the war. Assmann also observes that the memorialization of traumatic events, such as the Holocaust, usually begins after fifteen to thirty years. The situation in Lebanon conforms to this timeframe: the civil war ended in 1990 and only now is there a generation of musicians, and artists from other disciplines as well, who work extensively on the topic. Before, the war was mainly a taboo topic; now, this generation does what Assmann calls »memory talk« or »conversational

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remembering«.38 Assmann also argues that most of our memories »doze« in us until they are awakened by an external incident. For the Lebanese artists, the 2006 war, or questions about the war from foreign journalists, would be such an incident. According to the Lebanese anthropologist Samir Khalaf, Lebanese society is generally not too open about »psychoanalytic counselling and therapy«. However, he writes that the »scars and scares« of war have left a »heavy psychic toll«, and he sees it as highly problematic that »they are bound to remain masked and unrecognized and, hence, unattended to«.39 According to him, the trauma displays itself in »pervasive post-stress symptoms«, »nagging feelings of despair and hopelessness«, »vulgarization and impoverishment of public life«, »erosion of civility«, the »routinization of violence, chaos, and fear « and much more.40 The generation of musicians I worked with tries to deal with the psychological burden, and to un-mask some of the crucial issues. It may be that these musicians and sound artists use music as a self-therapy (a well-known method in trauma therapy). Music therapists worldwide use music to treat victims of trauma.41 Free improvisation is used especially often. Music can function as a bridge to travel from the present back to the past. Maus further argues that trauma can be worked out with creativity: »Music helps return the listener to the pleasures of sensory involvement that trauma destroys«.42 Many musicians seem to agree with this. The Lebanese rapper Wael Kodeih told me that music to him is a kind of psychoanalysis. Mazen Kerbaj seems to agree: »I think in playing music I go again through my experiences of war. For me, this is very important – or let’s say: it seems important, as I like it a lot. Most people here live in denial of what has happened. They all say that they love each other, but the

38 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2007, S. 28. 39 S. Khalaf: Civil and Uncivil Violence in Lebanon – A History of the Internationalization of Communal Conflict, S. 232f. 40 Ebd. 41 Maus, Fred Everett: Music and Sexual Abuse Conference »Feminist Theory & Music – Speaking Out of Placeab« McGill University, Montreal (Conference Paper) 2007. 42 Ebd.

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war is still in their body and mind. I think we have to keep it in the open so that this ugly history does not repeat again. Whenever I say this to Lebanese people, they do not want to listen. So music is my way of communicating these issues – unfortunately for a small audience« (Kerbaj, 2006).

About his recording Starry Night Kerbaj argues similarly: »To be honest, I preferred to stand on the balcony, to play trumpet and to record those bombs, rather than to stay in the living room and go crazy. When you play, you shift your brain, and you hear those bombs as sounds, and not as killing machines. Just to continue working helped many of us to stay sane« (Kerbaj, 2006). Raed Yassin spoke similarly: »During a war your life changes, and your way of work changes. You have to take decisions quickly. We decided to work, and to document in real time. Playing music saved us from going nuts« (Yassin, 2006). After completing CW Tapes, Raed Yassin did not share the piece with members of the different political parties from which he got the original material. »I’m really shy to go back now to these people and show them the final piece«, he told me. »They will immediately hear that CW Tapes is very critical about their political positions, and I don’t know how they will react«. It is no surprise that Raed Yassin has still not released CW Tapes officially. Apart from his concern about the responses to the politics of the piece, another problem is that he does not own the rights to release it, because of its use of borrowed material. »I’m afraid to release it in Lebanon, because some parties or musicians might ask for a lot of money«, he said. However, he is thinking of releasing it on a foreign label, as a limited edition. »No one cares about these small foreign labels anyway«. From a local, socio-political perspective, one can argue that these musicians work for change in Lebanon, by creating non-commercial and nonprogrammatic music in this highly commercialized and politicized society. In working on the Lebanese Civil war they further approach a big taboo. Overall, these musicians are part of what Hanf calls the »sceptical nation«: they believe in a multicultural and multi-confessional Lebanon that is open to the world, but still they are sceptical about it.43 The music of these musicians and sound artists is thus an attempt to create an alternative identity,

43 T. Hanf: Koexistenz im Krieg – Staatszerfall und Entstehen einer Nation im Libanon.

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rooted in their close environment, but open towards the world. It is influenced by foreign and local forces but it aims to sound personal, and beyond self-exoticism and propaganda. Whether it succeeds in doing so is an appropriate topic of debate, both within Lebanon and outside its borders.   ANHANG Interviews by the Author Atoui, Tarek:Beirut 28.8.2006 Eid, Rana: Beirut, 10.9.2006 Eid, Rana: Beirut, 8.9.2005 Eid, Rana: Beirut, 8.9.2005 Gdanian, Garo: Beirut, 29.6.2006 Kerbaj, Mazen: Beirut, 2.8.2005 Kerbaj, Mazen: Beirut, 25.9.2006 Kerbaj, Mazen: Beirut, 27.8.2005 Kerbaj, Mazen: Beirut, 2.8.2005 Kerbaj, Mazen: Beirut, 31.5.2006 Kodeih, Wael: Beirut, 8.9.2006 Najjar, Cyrille: Beirut, 9.9.2006 Yassin, Raed: Beirut, 18.9.2006 Yassin, Raed: Beirut, 17.5.2006 Yassin, Raed: Beirut, 27.8.2006 Discography (selected) Atoui, Tarek. Mort aux Vaches. Staalplaat. 2008: Netherlands Eid, Rana. ShShSh. La CD-Thèque. 2003: Lebanon Kerbaj, Mazen, Sharif Sehnaoui, Raed Yassine. Trio A. La CD-Thèque. 2003: Lebanon Kerbaj, Mazen; Hautzinger, Franz. Abu Tarek. Creative Sources Recordings 025. 2005: Portugal Kerbaj, Mazen. BRT VRT ZRT KRT. Al Maslakh MSLKH 01. 2005: Lebanon

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Kerbaj, Sehnaoui, Sehnaoui, Zach. Rouba315. Al Maslakh MSLKH 02. 2005: Lebanon V.A. Lebanese Underground. Mooz Records. 2006: Lebanon Yassin, Raed; Coleman, Gene. The Adventures of Nabil Fawzi. Al Maslakh Recordings 04. 2006: Lebanon

Music, Affect and Memory Politics in Post-Yugoslav Space1 A NA H OFMAN

In the Slovenian newspaper Delo on June 7, during the second festival of post-Yugoslav activist choirs2, Zdenko Matoz quotes Gregor Tomc, a sociologist and member of the Yugoslav punk band Pankrti, as saying that choral singing is, in any case, outdated. It is neither cultural resistance nor political radicalism. Newly founded post- Yugoslav choirs, he goes on, bring nothing new, unexpected, or disturbing: »their activities are pure nostalgic escapism, which is itself bearable, but the problem begins when it starts to be marketed as resistan«3 Once again, Tomc’s statement confirms 1

The following text is an introduction to the issue Music, Affect and Memory Politics in Post-Yugoslav space (Southeastern Europe Journal 39,2 (2015) I thank Tanja Petroviü and Luis-Manuel Garcia for reading the earlier version of the article, and for their helpful and inspiring comments. I also thank Martin Pogaþar for his careful reading and significant help in clarifying language issues.

2

These ›self-organized choirs‹ were founded after 2000 in almost all former republics of Yugoslavia-Croatia, Macedonia, Serbia, and Slovenia. For more about the choirs, see Petroviü, Tanja 2011. »The political dimension of postsocial memory practices: self-organized choirs in the former Yugoslavia« in: Südosteuropa, Jg. 59–3 (2011), p.315–329; Hofman, Ana: Glasba, politika, afekt: novo življenje partizanskih pesmi v Sloveniji, Ljubljana: ZRC SAZU 2015.

3

Matoz, Z: »Nostalgija, ki se jo trži kot upor?«, Delo Online Journal 7.6. 2013, p. 24.

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the dominant discourses of music and politics in the post-Yugoslav context, which tend to be framed around a common set of dichotomies, namely, political/nostalgic, commercial/engaged, and escapist/emancipatory. It also proves that nostalgia, twenty-five years after the dissolution of socialist Yugoslavia, remains one of the strongest interpretative frameworks for thinking of or defining post-Yugoslav musical activities.4 Post-Yugoslav musical links, cooperation, and exchanges across new national borders usually have been seen as borne by nostalgic drives, while nostalgia is presumed to be one of the main codes of cultural and political communication in the region.5 Public and scholarly debates still emerge across the region regarding the pure nostalgic escapism of Yugoslav cultural memory that has no political potential throughout its interpretations as an emancipatory counter-discourse of resistance within the newly founded nationstates.6 Such debates reveal the dominant protocols in which discourses of

4

But this is not just the case in the post-Yugoslav societies or in post-socialist countries. As the editors of the special issue Popular music nostalgia assert, the concept of nostalgia requires contstant discussion in order to grasp its slippery polysemy (Dauncey, H./Tinker, C.: »Popular Music Nostalgia,« Volume 2: 2014. pp.8–17. URL: www.cairn.info/revue-volume-2014-2-page-8.htm (last accessed 4. January 2015).

5

Such as, for example, the reunions of the former bands active during socialist Yugoslavia from different musical genres such as Pankrti, Bjelo Dugme, or Novi fosili (Velikonja, Mitja.: »The past with a future: the emancipatory potential of Yugonostalgia«, in: Pavloviü and Živkoviü [Ed.]: Transcending Fratricide Political Mythologies, Reconciliations, and the Uncertain Future in the Former Yugoslavia, Baden-Baden: Nomos 2013: p. 122.).

6

For the debate see the following articles. These accounts, however, are not uniform but address different aspects of the expression of nostalgia, different actors and historical periods, and they apply different methodologies and theoretical approaches: Lindstrom, Nicole: »Yugonostalgia: Restorative and Reflective Nostalgia in former Yugoslavia.« East Central Europe Vol. 32, No. 1–2 (2005), pp.7–55.; Jansen, Stef: Antinacionalizam. Etnografija Otpora u Beogradu i Zagrebu (Belgrade: Biblioteka XX vek), 2005; Volþiþ, Z.: »Yugo-Nostalgia: Cultural Memory and Media in the Former Yugoslavia«, Critical Studies in Media Communication 24–1 (2007), p.21–38.; Palmberger, M.: »Nostalgia Matters: Nostalgia For Yugoslavia As Potential Vision For A Better Future«. Sociologija

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the Yugoslav past are produced as highly burdened by ›nationalistic‹ and ›pro-Yugoslav‹ views as two sides of the same coin7 Apart from that, they reveal certain conceptual tensions and the lack of interpretational tools derived from the specific over-theorization of this issue in post-Yugoslav realities. The fact that people generally avoid to recognize their own feelings and experiences of the Yugoslav past as nostalgia creates a certain feeling of discomfort and uneasiness in dealing with this topic. This thematic issue focuses exactly on such uneasiness, but not just in order to detect and comment on the existent gaps or dead-ends; rather, it argues for the potentials of what Sara Ahmed calls the »messiness of experiential«8 of the recent past what is missing or non-theorizable but still deeply embedded in the reality and materiality of music and memory in post-Yugoslav societies. 

50–4 (2008), p.356–370 (Online via: http://www.komunikacija.org.rs/komuni kacija/casopisi/sociologija/L_4/index_html?stdlang=ser_lat).; Velikonja, M.: Titostalgija: študija nostalgije po Josipu Brozu, Zbirka Mediawatch (Ljubljana: Mirovni institut), 2008; Velikonja, M.:»The past with a future: the emancipatory potential of Yugonostalgia«, in Pavloviü and Živkoviü 2013: pp.109–127; Velikonja, M.: Rock‫ތ‬n‫ތ‬retro: novi jugoslavizem v sodobni slovenski popularni glasbi, Zbirka Naprej!,Ljubljana/Sophia 2013; T. Petroviü: »The political dimension of post-social memory practices: self-organized choirs in the former Yugoslavia«, in: Ristiü, Irena [Hg]: Defragmenting Yugoslavia (Südosteuropa, Jg. 59, H. 3; Regensburg: Südost-Institut 2011): S. 315–329. 2011; Petroviü, T./Iliü, D. (Eds.): Yuropa: jugoslovensko nasleÿe i politike buduünosti u postjugoslovenskim društvima, Edicija Reþ, knj. 72 (Beograd: Fabrika knjiga) 2012.; Petroviü, T.: »The past that binds us: Yugonostalgia as the politics of future,« in: Pavloviü, Srda und M. Živkoviü, [Hg.]: Transcending fratricide: political mythologies, rec-onciliations, and the uncertain future in the former Yugoslavia, Southeast European integration perspectives, 9; 1. Edition, Baden-Baden: Nomos 2013, S. 129–147. Boškoviü, A. 2013. »Yugonostalgia and Yugoslav Cultural Memory: Lexicon of Yu Mythology,« Slavic Review 72 (1): pp. 54–78. 7

Velikonja, M: Rock‫ތ‬Q‫ތ‬UHWUR  .LUQ * 3DUWL]DQVNL SUHORPL LQ SURWLVORYMD

8

Ahmed, S.: The Cultural Politics of Emotion, Edinburgh: Edinburgh University

tržnega socializma v Jugoslaviji, Ljubljana: Sophia 2014. Press 2004, p. 30.

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M USIC AND THE P OLITICS OF P OST -S OCIALIST S ENTIMENTALITY : O N Y UGONOSTALGIA, O NCE AGAIN The power of music to bring people across newly established national borders, even during the ethnic conflict and dissolution of Yugoslavia, has been a particularly appealing topic for scholars. As a result, music-related studies were ranked highly in examining post-Yugoslav memory practices – from popular music genres (particularly yu-rock) and pop-music stars to ›official‹ repertoire such as partisan songs or film music. Moreover, nostalgic evocation of memories through music has been mentioned in almost every study addressing Yugonostalgia and its modalities.9 One could argue that such high interest in the role of music in cultural memory also demonstrates the potential of musical perspectives for wider debates on postYugoslav memory politics. Still, I have in mind here the specific angle that music perspective provides, but nevertheless deeply believe that such a ›unique gaze‹ is also capable of commenting on more general issues. Also,

9

See: Pauker, Iva: »Reconciliation and Popular Culture: A Promising Development in Former Yugoslavia«, Local-Global 2 2006; Šabec, Ksenija : Od Lepe Brene do Golega otoka: nostalgiþno breme jugoslovanske izkušnje«, ýasopis za kritiko znanosti 34 vol. 224 2006; Volþiþ, Zala: »Yugo-Nostalgia: Cultural Memory and Media in the Former Yugoslavia«, Critical Studies in Media Communication 24 (1) 2007; Velikonja, Mitja: Titostalgija: študija nostalgije po Josipu Brozu, Zbirka Mediawatch (Ljubljana: Mirovni institute 2008) id.: Rock‫ތ‬n‫ތ‬retro: novi jugoslavizem v sodobni slovenski popularni glasbi, Zbirka Naprej!, Ljubljana: Sophia 2013; Pogaþar, Martin: »Yunivezum – cinematiþno ozvezdje«, ýasopis za kritiko znanosti 224 2010; Petroviü, Tanja: The political dimension of post-social memory practices: self-organized choirs in the former Yugoslavia«, in Irena Ristiü (ed.), Defragmenting Yugoslavia, Südosteuropa, Jg. 59, H. 3; Regensburg: Südost-Institut 2011; T. Petroviü and Iliü: Yuropa: jugoslovensko nasleÿe i politike buduünosti u postjugoslovenskim društvima, Edicija Reþ, knj. 72, Beograd: Fabrika knjiga 2012; Perica and Velikonja: Nebeska Jugoslavija: interakcija politiþkih mitologija I pop-kulture Beograd: Biblioteka XX vek 2012; Hofman, Ana: Lepa Brena: repolitization of musical memories on Yugoslavia, Glasnik Etnografskog instituta 60 (1) 2012, id.: Glasba, politika, afekt: novo življenje partizanskih pesmi v Sloveniji. Ljubljana: ZRC SAZU 2015.

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music as such rarely operates as a singular channel of recollection but is interlinked with other memory triggers, acting as their ›ubiquitous background‹ (during exhibitions and various cultural events, but also as sound signals embedded in everyday soundscapes). This issue thus demands asking why music is important, or, to cite David Hesmondhalgh, why music matters in proposing a more sensitive approach to the politics of memory in post-Yugoslav spaces.10 Such an approach inevitably impels engagement with the potentials and limits of the concept of Yugonostalgia11, which, as already mentioned, has been overemphasized as an explanatory framework in the discussion of the issues of music and memory in the post-Yugoslav context. To a large extent, such interpretations present the role of music in cultural memories of Yugoslavia as a commercialized pop-cultural formϭϮ or a popular historical form that »commodify past itself«13. Predominantly approached through the prism of commercial manipulation, commodification, and a trivialization of people’s emotional attachments to the past, such »pop(-ular) Yugonostalgia« is seen as ignited by the demands of the market economy introduced in

10 Citing the title of his newly published book: Why music matters. Hesmondhalgh, David: Why Music Matters, U.K.: Wiley Blackwell 2013. 11 Discourses on Yugonostalgia emerged in the public sphere, everyday accounts, and scholarly narratives with an attempt to explain the emergence, shape, and implications of the ›positive memories‹ of the Yugoslav past. The term ›Yugonostalgia‹ was coined after the breakup of Yugoslavia to mark skeptics, losers, and people who did not or could not adjust to the post-socialist ›changes‹. Mostly seen as ›cultural memories of Yugoslavia‹ in everyday life practices in the 1990s it was as an insult denigrating ›traitors to the country‹ and ›suspected communists‹; it symbolized a ›cultural reappearance‹ of the former Yugoslavia and its symbols in popular culture (for these ›early‹ deliberations, see: Debeljak, Ales: Twilight of the Idols: Recollections of a Lost Yugoslavia, New York: White Pine Press 1994; Ugrešiü, Dubravka: The Culture of Lies, University Park: Pennsylvannia State University Press 1998.). 12 Volþiþ, Z.: Yugo-Nostalgia 2007, p.34. 13 Luthar, Breda/Pušnik, Marusa [Hg.]: Remembering utopia: the culture of everyday life in socialist Yugoslavia, Washington: New Academia 2010, p.17.

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post-Yugoslav societies after the end of socialism.14 As a marketable cultural product, music in particular has been understood as the main vehicle of this »celebratory, entertaining, and commercial aspects of Yugonostalgia«15” On the other hand, several scholars have criticized such approaches and called for a more ›neutral position‹ by emphasizing nostalgia’s complexity16 Doing so, they acknowledged the fact that Yugonostalgia bears prescribed notions and features as an encompassing term that has been uncritically applied to any ›positive reference‹ toward the Yugoslav past. They have attributed relevance to nostalgia as a critique of the present and detected its potential beyond commodification.17 Positive memories of

14 Dean Duda analyzing the lexicon of Yu-mythology, observes that interpreting the Yugoslav past from the position of the witness of ›the golden age of decadent socialism‹ presents the ›mythological offer of commodities‹ from that period (Duda, D. 2004. »U raljama nostalgije,« Feral Tribune: 28 September 2004, audiolinux.com/tpl/weekly1/section3.tpl?IdLanguage=7&NrIssue=997& NrSection=14ufgerufen am 7 Juli 2013); Breda Lutar and Maruša Pušnik assert that »Yugo-nostalgia should rather be treated as a cultural product of a specific economic context of post-socialist societies that has spread across the Balkans than as a growing nostalgic yearning for the Yugoslav past« (Luthar, B./Pušnik, M. (Eds.): Remembering utopia 2010, p.17.) Zala Volþiþ sees nostalgia as a part of the »emerging commercial culture in the postsocialist era« (Volþiþ, Z.: YugoNostalgia 2007, p.34.) For more on similar interpretations related to music see: Pettan, S. (Ed.): Music, Politics, and War: Views from Croatia, Zagreb: Institute of Ethnology and Folklore Research 1998; Gordy, E: The Culture of Power in Serbia: Nationalism and the Destruction of Alternatives, University Park, PA: Pennsylvania State University 1999; Šabec, K.: »Od Lepe Brene do Golega otoka: nostalgiþno breme jugoslovanske izkušnje« in: ýasopis za kritiko znanosti 34 (2006), p.56–70; Pogaþar, M.: »Yunivezum – cinematiþno ozvezdje« in: ýasopis za kritiko znanosti 224 (2006), pp.17–29. 15 Ibid, p. 28. 16 Velikonja, M.: The past with a future, p. 111. 17 For Aleksandar Boškoviü, for example, the potential of Yugonostalgia lies not only in its implicit critique of the current sociopolitical realities in postYugoslav societies but also in the affirmation that the path taken (the bloody dissolution) was not the only possible one. See: A.Boškoviü: Yugonostalgia and Yugoslav Cultural Memory: Lexicon of Yu Mythology , p. 77.

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Yugoslavia tend to be identified as an implicit critique of the nationalistic projects in post-Yugoslav states that would have not supported positive evaluations of any aspect of social and cultural life in socialist Yugoslavia and that proclaimed them problematic, unpatriotic, and immoral. Music has been recognized as an important channel for shaping counter-narratives to the hegemonic discourses of »nationalistic amnesia«18. Several studies examine music as a vehicle that draws on positive memories of the past in searching for and anticipating the future as a potential engine of emancipation in various fields.19 However, due to the ability of music not just to be traversed by wider social identity formations but also to produce its own diverse social relations,20 I believe that its potential political registers in the cultural memories of Yugoslavia have not been fully identified. As indicated in the beginning, music and sound have been theorized in an array of dichotomies such as commercial/engaged, sentimental/emancipatory, ironic/anti-ironic, or passive/active nostalgia.21 Nevertheless, as this issue strives to show, such conceptual distinctions appear as a result of the inability to fully theorize ›the realities‹ in which the Yugoslav past is felt and experienced.22

18 S. Jansen: Antinacionalizam. Etnografija Otpora u Beogradu i Zagrebu, p. 256 19 I draw on Georgina Born’s distinctive socialities mediated by music. She proposes (at least) four distinctive planes of sociality mobilized and mediated by musical assemblages: from intimate socialities engendered by musical practice and experience through imagined communities, aggregating its listeners into virtual collectivities and publics based on musical and other identifications. For more about musics multiply socialities, see also: Born, G.: »Music and the materialization of identities, Journal of Material Culture Vol. 16 (2011): p. 378. 20 See Velikonja, Mitja: The past with a future 2013, p. 122. 21 In his paper on post-war Sarajevo, Peter Locke criticizes the existing reductive approach to »the messy realities of post-war societies« Locke, Peter: »City of Symptoms: Reading Deleuze in Post-War Sarajevo« Presentation at the AAA Meeting (19.11.2010). 22 In his paper on post-war Sarajevo, Peter Locke criticizes the existing reductive approach to »the messy realities of post-war societies« See: P. Locke: City of Symptoms: Reading Deleuze in Post-War Sarajevo.

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P OLITICAL E MOTION Recently, scholarly accounts have theorized Yugonostalgia within the framework of Raymond Williams’s ›structure of feeling‹23 as a generational expression of emotional investment by the previous generation.24 Aleksandar Boškoviü asserts that »in this ›feeling‹ one should recognize the ›structure‹ of a relatively consistent communal way of looking at the world and sharing a number of referent points, which are the basis for everyday action and discourse.«25 Such a focus on the emotional aspect of Yugoslav cultural memory is nothing new, and its strong emotional drive has already been detected and commented upon. Yet the emotionality of nostalgic recollection was mainly used as a tool for delegitimizing its social and political potential. Thus, post-socialist nostalgia has been detected as memory »blurred by emotion«26, as an emotionally charged relationship between an individual and the past27 and as such is understood as useless in the political sphere. Such memory is seen as being intimate and »strongly individualistic«28 and its main effect has been recognized on a personal level, particu-

23 Williams, Raymond: »Structure of feelings« in R. Williams [Ed.]: Marxism and Literature, Oxford: Oxford University Press 1977. 24 An increasing number of scholars focusing on Russia, Eurasia, and Eastern Europe have engaged in the study of emotions, especially Marc Steinberg, Valeria Sobol, and Maruška Svašek (see: Svašek, Maruska: Postsocialism: Politics and Emotions in Central and Eastern Europe, New York and Oxford: Berghan Books 2006 and M. Steinberg and V. Sobol [Ed.]: Interpreting Emotions in Russia and Eastern Europe, Illinois: Northern Illinois University Press 2011.) 25 He refers to the shared history as the structure of feeling from the time that was future-oriented: as the all-embracing sentiment of progress toward a ›better future‹, which is usually presented as one of the dominant ›feelings‹ when remembering everyday life in the former Yugoslavia, thereby returning to the ›structure of feelings‹ associated with the past as the hope for and belief in a better future (See: A. Boškoviü: Yugonostalgia and Yugoslav Cultural Memory: Lexicon of Yu Mythology, p. 74.) 26 M. Palmberger: Nostalgia Matters 2008, p. 358. 27 Z. Volþiþ: Yugo-Nostalgia 2007, p. 25 28 Jansen, Stef: Antinacionalizam. Etnografia Otpura u. Beogradu i Zagrebu, Belgrade: Biblioteka XX vek 2005, p. 238.

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larly as a reaction to the collectivistic tendencies of nationalist movements in the newly founded states during the 1990s.29 New writings30 call for more profound examinations of nostalgia with a focus on emotion and affect. In her short text about post-socialist nostalgia, Neringa Klumbytơ employs the concept of political emotion and highlights the recognition of nostalgia as emotion whose form, content, and intensity differs in different times and spaces31 Such approaches strive to show that emotional technologies behind the process of recollecting are not passivation and delegitimization but, conversely, the central feature that bestows people’s agency.32 However, the focus remained on the construction of nostalgic narratives and much less on ›real feelings‹ and their materiality in the concrete spatio-temporal realities. Discussed mainly within the framework of memory studies, as »some form of remembrance«33, emotions have been observed only as the ›sentimental narratives‹ while its main forms have been investigated in terms of the nature, structure, and consequences of the ›nostalgic narrations‹. Although presented as ›a whole plethora of feelings‹, nostalgia thus has not been discussed beyond the framework of mnemonic potencies: ›affectionated reminiscences‹ are detected only when narratives explicitly include descriptions of the feelings that were experienced in the past (we were young, happy, peaceful, calm...).34 This has led to a lack of comprehensive scrutiny of the aspects of memory practices that are not linguistic or representational.

29 See: Paviüeviü and Otaševiü: Moda, Beograd: Beogradski krug 1994; S. Jansen: Antinacionalizam 1998. 30 See: T. Petroviü: The past that binds us: Yugonostalgia as the politics of future and: Klumbyete,N:.»Bottom of Form«, http://www.anthropology-news.org/ index.php/2013/05/31/on-bodies-in-flames-and-nostalgia/ (accessed 13 April 2014). 31 Ibid. 32 T. Petroviü/D. Iliü [Ed.]: Europa: jugoslovensko nasleÿe i politike buduünosti u postjugoslovenskim društvima 2012: p. 135. 33 Todorova, Maria: Introduction: From Nostalgia to Propaganda and Back« in M. Todorova and Gille, Zsuzsa 2010: 1–13. p. 1). 34 See: A. Boškoviü: Yugonostalgia and Yugoslav Cultural Memory: Lexicon of YuMythology : S. 74.

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Such views also do not reflect on the fact that remembering includes emotional engagement with that past in ambivalent ways. What is defined and seen as ›positive feelings‹ might actually be a vaguely confused, unsettled, and unpredictable emotional state, or in Ngai’s words, »a meta-feeling in which one feels confused about what one is feeling.«35 In order to broaden the conceptual and analytical field already criticized for its overgeneralized explanatory mechanisms, the authors in this issue opt for a ›non-representational approach‹36 by avoiding to search for agendas, interpretations, or strategies behind nostalgic feelings and narratives as negotiated, shaped, ›normalized‹, and colonized by the official discourses or political elites. Instead, the articles reflect on the efforts to reclaim these feelings without inscribing or attaching to them any meaning. The articles thus track affective intensities without presuming their ideological and political status, beyond, to put it in Lauren Berlant’s words, »the pressure of a destabilized historical present«37. We believe that in the existent body of scholar-ship the lived intensity of the emotional investment, sensory experiences, and affective technologies of remembering the past in a particular spatiotemporal context is underplayed. Despite the fact that the articles in this volume demonstrate certain limits of Yugonostalgic interpretative discourses, they do not attempt to dismiss Yugonostalgia as a valuable concept or offer an alternative conceptual frame-work as a route to escape deadlocks. Rather, Yugonostalgia is understood as just one (and not the only one) of the possible conceptual mechanisms to think about musically mediated memories of the socialist past in post-Yugoslav societies.38 The small offering we strive to make here is to reflect on the (musical) realities and their

35 Ngai, Sianne: Ugly Feelings, Cambridge: London: Harvard University Press 2005, S. 14. Or to quote Terada: »subject does not always know how she feels« (Terada in S. Ahmed: Cultural Politics of Emotion, S. 11). 36 See: Thrift, Nigel: Non-representational theory. Space|Politics|Affect, New York: Routledge 2008. 37 Berlant, Laurent: »Thinking about feeling historical« Emotion, Space and Society 2008: p. 5. 38 Claiming that various forms of remembering, reviving, and reinventing what is Yugoslav and socialist (which does not necessary imply the same thing) should not be interpreted as nostalgia, particularly if the actors in question do not accept and see them as such.

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materialities, with an emphasis on the social and political productivity of affect embedded in the experience of music. We see this as beneficial for shedding new light not only on the relationship between music and memory, but also on the politics of memory in the post-Yugoslav context in general.

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S ENTIMENTALITY

In the new critical discourses of cultural politics of emotions that reconsider emotions within the wider social and political environments,39 sentimentalism either disappears or is being pushed to the ideological margins. According to Roland Barthes, the discourses of sentimentalism are ›unwarranted discourses‹, despite being spoken by thousands of subjects.40 As a result, it remained ambiguous in its political realization. Scholars who examined nostalgia as a ›popular sentiment‹ (such as Hannah Arendt, Michael Hardt, or Lauren Berlant) identify its deanimating effect on those affected by it.41 While we can be ›moved‹ by anger, passion, or love, we cannot be moved by a nostalgia conceptualized as mundane, sentimental, and individual.42 In general, sentimentalism remains formulated as a passive emotional technology, as »the individual’s

39 Emotions are interpreted as a social form rather than individual self-expression. According to Sara Ahmed, emotions actually »come from without and move inward« – they are neither individual or social, but produce the surfaces and boundaries that allow the individual and social to be delineated as if they are objects (S. Ahmed: The Cultural Politics of Emotion, p. 10). For more about ›emotional turn‹ see: M. Gregg und G.J. Seigworth [Hg.]: The Affect Theory Reader, Durham: Duke University Press Books 2010, p. 8). 40 On the interpretation and critiques on Barthes’s thoughts on sentimentalism see: M. Stokes: The Republic of Love: cultural intimacy in Turkish popular music, S. 31. 41 For more about discourses of sentimentality and its ›unfinished bussiness‹ see: L. Berlant The Female Complaint: The Unfinished Business of Sentimentality in: American Culture, Durham, N C: Duke University Press 2008. 42 S. Ngai: Ugly Feelings, p. 31

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sensibility – understood in psychological, as well as moral terms«43. Yugonostalgia, defined as a popular sentiment, also remains charged with passivity in its political resonance and implications. Polemical engagement with the nostalgic discourses attacks sentimental feeling as one of the obstacles to proactive remembering and a fully political realization of nostalgia.44 In order to reclaim its political relevance, scholars have opted for detaching nostalgia from sentimentality (or talk about ›feelings‹ in more general terms): in his article about the emancipatory potential of Yugonostalgia, Velikonja calls for liberating nostalgia from the burden of passivity, as a sentimental, intimate, bittersweet story.45 His implicit critique of the sentimentalism attached to nostalgia can be associated with Sara Ahmed’s deliberation of the fear of passivity as tied to the fear of emotionality.46 Focusing on sentimentalism from a different angle, I believe, can mediate between passivity, sentimentality, irrationality, and an active, political emotion, transforming conceptual ›weakness‹ into a potentially strong argument. Sentimentalism’s political and social productivity, particularly in music, has already gained attention in recent scholarship. Drawing on Barthes, Martin Stokes in his study about cultural intimacy in Turkish popular music asserts the importance of engaging with the social, political, and historical specificities of the characterization of sentimentalism, as a

43 S. Steinberg und V. Sobol: Interpreting Emotions in Russia and Eastern Europe, p. 8. 44 Feelings of longing are hardly ever attached revolutionary potential, and instead they are seen as a reactionary affect that rarely goes beyond personal sentiments. That is why the sentimental aspect of nostalgia has rarely been harnessed for its community and collectivity building potential: while a certain potential of Yugonostalgia for collectivity-building was already mentioned during the 1990s, it was recognized as a force that builds a community not on a collective memory but on a denied memory ›parable‹ (as Ugrešiü terms it) against the imposed oblivion, which gathers the ones ›who stayed normal‹ in one Collective. Compare: S. Jansen:Antinacionalizam. Etnografija Otpora u Beogradu i Zagrebu, p.250. 45 M. Velikonja: The past with a future: the emancipatory potential of Yugonostalgia, p. 114. 46 S. Ahmed: Cultural Politics of Emotion, p. 2.

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new kind of social critique.47 For him, one of the important levels on which sentimentalism in music can be mobilizing is its role in public intimacy, which includes complex dynamics of identity and belonging. As Ana Petrov’s article in this issue shows, concerts of Yugoslav popular music stars function as an important link between the personal and the interpersonal, and mobilize sentimentalism for the intersubjective recognition of a new symbolic framework for experiences associated with the past. Concerts thus exemplify that specific way of public intimacy where sentimentalism acts as the main connecting social bond through a specific ›shared vulnerability‹.48 Intensities of musical experience mobilize sentimentality beyond its understanding as a passive feeling unsuitable for collectivity building: an aesthetic experience is therefore in the position to challenge the dichotomy between personal/interpersonal and public/private, as »a remarkable meeting point of intimate and social realms«49. In this way, publicly expressed sentimentalism proved to be not only a way of legitimizing personal experiences of a Yugoslav past dismissed as politically relevant, but also a struggle for its current and future engagement. Through affective mechanisms, music not only enables people to legitimize their shared emotions but also their shared embarrassments associated with the recent past (particularly Yugoslav wars), and thus becomes the space for collective catharsis, collective therapy. The role of memory in therapy and healing has already been elaborated – but as a symbolical returning to the ›more peaceful times‹ and not beyond its ›psycho-logical effect‹. Although it has been asserted that nostalgia is a call for normalcy, it was rarely deliberated beyond personal and intimate levels or escapism caused by Yugoslav war

47 M. Stokes: The Republic of Love: Cultural intimacy in Turkish popular music, S. 31. 48 For Lauren Berlant, ›intimate publics‹ have the potential to evoke a new sense of the world (see: Berlant, Laurent: The Female Complaint: The Unfinished Business of Sentimentality in American Culture, Durham, N C : Duke University Press 2008. For the role of music in creating tenous and fragile moments of commonality. see: Shank, Barry: The Political Force of Musical Beauty, Durham: Duke University Press 2014. 49 Hesmondhalgh, David: Why music matters,Wiley Blackwell 2013 p. 2.

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trauma.50 ›Serious‹ engagement in sentimentalism, on the other hand, contributes to the ways music is engaged in transforming »the sense of nation, citizenship and place in the world«51. It also endorses the trans-generational aspect of recollection, often neglected in the scholarly narratives based on a distinction between the recollections of people with ›lived-experiences‹ of Yugoslavia and the ›second-hand‹ memory practices of post-Yugoslav generations (which will be further discussed in proceeding paragraphs).

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J OY

Another set of dichotomies related to music and memory in the postYugoslav context are the dichotomies of commercial/political and trivial/engaged. As in the case of sentimentalism, the above -mentioned narratives of trivialization/pop-culturalization of musical memories of Yugoslavia charged enjoyment in Yugoslav music as a ›retro-fashion‹ and makes this content a depoliticized, banal, joyful, and non-reflexive nostalgic commodification in the neoliberal reality. Such discourses are based on disqualifications of pop-cultural practices as trivial and depoliticized.52 In

50 Which are usually interpreted as ›erasure and escapism‹ directed to forgetting Yugoslav wars and responsibility (Z. Volþiþ: Yugo-Nostalgia: Cultural Memory and Media in the Former Yugoslavia, S. 35). As Tanja Petroviü asserts, trivial and sentimental practices of recalling the ›old good times‹ are seen as easily and superficially dealing with the responsibility for crimes committed during Yugoslav wars (T. Petroviü and D. Iliü: Europa: jugoslovensko nasleÿe i politike buduünosti u postjugoslovenskim društvima , S. 128). Palmberger argues that nostalgia as an emotional experience is a phenomenon that should be taken seriously, perhaps even more so in a post-war setting (M. Palmberger: Nostalgia Matters: Nostalgia For Yugoslavia As Potential Vision For A Better Future, p. 357). 51 M. Stokes: Republic of Love. Cultural intimacy in turksih popular music, p. 191. 52 The lexicon of YU Mythology, as a collection of material things people enjoyed in their life in Yugoslavia, is presented also as a ›book of joy‹ (knjiga užitaka): »that Yugoslav culture had its pleasures, may seem to many today like a propaganda fabrication, yet another expression of Yugonostalgia«. »Depo jugoslov-

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the rare cases when this aspect is recognized as relevant as a kind of political gesture, the protagonists may not necessarily be fully aware of it. In this issue, we would like to reflect on the concept of enjoyment beyond the reflexive/political and non-reflexive/›powerless joy‹ dichotomy. The violent breakup of Yugoslavia caused radical changes in the regimes of memory, giving a political and ideological charge to all memories associated with the Yugoslav past. Yugonostalgia has thus been endowed a status of an ›ideologically burdened‹ narrative and practice: »[…] because nostalgia is an ideological narrative much like any other and, as such, is subject to all fundamental ideological methods used in the construction of a narrative, including selection, binarism, polarization, and antagonizing«53 Scholars therefore claim that its political meanings cannot be realized beyond the sphere of ideology, as Catherine Baker writes: »Media framing of the return of Bosnian/Serbian musicians as ›Yugo-nostalgia‹ therefore gave the cultural flows political connotations and, in the mid-1990s climate, could even have implied that their listeners were dangerous political revisionists«54 With the full awareness of the importance of the post-conflict and postsocialist aspects when discussing memory politics in the post-Yugoslav context, we still should not downplay the view of nostalgia as ›transideological‹, as something that happens in all societies and people, regardless of political background and affiliation, as Linda Hutcheon suggests55 As Ana Petrov’s and Martin Pogaþar’s articles show in particular, people continued enjoying the same music as they did before the breakup of Yugoslavia without considering this a political or ideological statement.56 Enjoyment in

enskih užitaka« Glas Slavonije 25 July http://www.glas-slavonije.hr/24453/2/ Depo-jugoslavenskih-uzitaka (accessed 13 April 2014). 53 M. Velikonja: »The past with a future: the emancipatory potential of Yugonostalgia«, in: Pavloviü and Živkoviü 2013: p. 118). 54 Baker, Catherine: Sounds of the Borderland: Popular Music, War and Nationalism in Croatia since 1991, Surrey: Ashgate 2010, S. 190. 55 For her, these feelings are also politically ambiguous; they do not aim at political action per se. See: L. Hutcheon: »Irony, Nostalgia, and the Postmodern« in R. Vervliet and A. Estor [Hg.]: Methods for the Study of Literature as Cultural Memory, Atlanta: Rodopi 2000. 56 Ana Petrov: »The Songs We Love to Sing and the History We Like to Remember: Tereza Kesovija’s Comeback in Serbia«, Southeast Europe 39 (2015),

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listening or performing commercial genres can have social and political consequences, but is not necessarily burdened with the ideology of already shared political sentiments (such as the ethnicity of the performer, the changed notion of the lyrics in new environments, etc.), nor is it embedded in the social locations of listeners and their specific aural imaginaries. We believe that politics of joy should be given full attention precisely by (re)claiming its significant potential ›beyond ideology‹. We see the political potential exactly in music’s sensorial capacities and in the practices grounded in the »everyday, rigid and habitual, in the mundane details of ordinary life«57, which are not taken into account when theorizing political potential of post-Yugoslav memory practices.58 In this issue [Music, Affect and Memory Politics in Post-Yugoslav space] the authors examine musically mediated memories as ideologized, nationalized, and nostalgicized, but also de-ideologized, de-politicized, and de-nationalized. As already visible in the recent calls for a less-ideologically burdened approach that would also provide »a more sincere and a more acceptable option for selfidentification«59, we believe that emphasizing the sensorial aspects of the

p.192–214 and Martin Pogaþar: »Music and Memory: Yugoslav Rock in Social Media«, Southeast Europe 39 (2015), p.215–236. 57 A. Boškoviü: Yugonostalgia and Yugoslav Cultural Memory: Lexicon of Yu Mythology p. 73. 58 In this sense I concur with Nagel Thrift that in the social sciences and humanities we have too many theories, all of them seemingly speaking on behalf of those whose lives have been damaged by the official structures of power, but there is little attention devoted to presence, closeness, and tangibility, and hence these theories are doing little more than simply squeeze meaning from the world. Vgl. Hierzu: N. Thrift: Non-Represential Theory. Space|Politics|Affect, p. 5. 59 See: Kurtoviü: »Istorije (bh) buduünosti: Kako misliti postjugoslovenski postosijalizam u Bosni i Hercegovini?« Puls demokratije 17 August 2010, http:// www.pulsdemokratije.ba/index.php?id=1979&l=bs (accessed 8 February 2013); Petroviü: »The political dimension of post-social memory practices: selforganized choirs in the former Yugoslavia« in Irena Ristiü [Hg.], Defragmenting Yugoslavia (Südosteuropa, Jg. 59, H. 3; Regensburg: Südost-Institut 2011).

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memory practices and affect’s potential to de-signify60 can provide an adequate framework for reclaiming the political potentialities of emotional attachment to the past. Moreover, the articles fashion new readings of the political in which consumerism or the commercial is not in opposition with the emancipatory or engaged. Non-reflexive ›mere enjoyment‹ in music from the past can be very much a politically engaged pleasurable experience of sociality, which goes beyond prescribed ideological patterns and politics of belonging. Music thus generates new mobilizations, appropriations, and reinventions in a sensorial sense, enabling one to detect a potentiality in what many people see as commodity or commodified behaviour, and therefore opens up new possibilities of thinking and practicing the ›political‹. As asserted by David Hesmondhalgh, music’s special relation to affective experience makes it an especially powerful vehicle for dissemination of the pleasures

60 Drawing on the works of Spinoza, Bergson, James and particularly Deleuze and Guattari, Massumi, Chouse, Thrift and Connolly, the main conceptualization of affect is that it is a state of relation as well as the passage of vital forces or intensities beyond emotions (Gregg, Melissa and Seigworth, Gregory J.: The Affect Theory Reader, Durham: DukeUniversity Press Books 2010: p.1). Affect is seen as a potential, a bodily capacity to affect and be affected. Affects are considered to be ›inhuman‹, ›pre-subjective‹, and ›visceral‹ forces and intensities that influence our thinking and judgments but are separate from these (Leys, Ruth: The Turn to Affect: A Critique.« Critical Inquiry 37 (3) 2011: p.437). The difference in kind between affect and meaning, experience and representation, sense and significance is a categorical assumption of affect theory. According to certain authors, affect is independent of, and prior to, ideology because it operates below the threshold of conscious awareness and meaning (see Gilbert, J.: Signifying Nothing: ›Culture,‹ ›Discourse‹ and the Sociality of Affect«Culture Machine 6. http://www.culturemachine.net/index.php/cm/article/viewarticle/8/7 (accessed 20 December 2014), it is »a third state between activity and passivity, occupying the gap between content and effect« (Massumi in: Thompson, Marie und Biddle, Ian [Hg.]: Sound, Music, Affect: Theorizing Sonic Experience, London: Bloomsbury 2013, p.6). However, it is precisely this ›autonomy of affect‹ that is the main source of debate and criticism among scholars. Feminist and queer scholars, in particular, argue that affect cannot be pre-political but is continuously mediated by social and cultural locations and identities.

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in building experiences of solidarity, commonality, and publicness across space and time.61

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C ONTROVERSIES

Why and how does music matter in the political mobilization of sentimentalism and joy in post-Yugoslav memory practices? Its potential in evoking memories and bringing the past sensorially to the present enables music to create specific »sonic timespace places«62 The »present quality of memory«, Salomé Voeglin writes, does not produce a gap between the past and the present; it does not produce a longing for the past, but for the now.63 Despite their focus on the present (and future), the scholarly accounts that have been outlined in the first part of the article draw a strong demarcation line between the current moment and the past: the sounds, events, and experiences we remember as having happened in the past, while only the process of our recollection is situated in the present moment. The articles in this issue, however, turn instead to the feelings attached to the past as triggered by the sonic environment and materialized in the present – as a sensorial engagement not (only) with the past (sonic) experience and the feelings associated with it, but the ones that emerge at that particular moment. As a specific »sensing of history«64, the past is actualized in present perception, which enables »sensorial and emotional engagement…via the use of sonic memory material«65. That is, at the level of the experiential, past sonic experiences and the emotions associated with them are entwined with the sensorial experience provided by the current sonic environment. Drawing on this, Atanasovski and Pogaþar concentrate on musical genres and songs as objects that enact, embody, and spatialize the memory. In

61 D. Hesmondhalgh: Why music matters, p. 5. 62 Voegelin, Salomé: Sonic Possible Worlds: Hearing the Continuum of Sound, New York and London: Bloomsbury 2014, p. 3. 63 Ders.: »Sonic memory material as ›pathetic trigger‹« Organised Sound Vol.11 Jahrgang 2006, p. 16. 64 L. Berlant: Thinking about feeling historical, p. 5. 65 S. Voegelin: Sonic memory material as ›pathetic trigger‹, p. 14.

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Atanasovski’s case, auditory experience appears as a move through various musical artefacts, which act as sonic palimpsests and whose meanings are being constantly reinscribed through encounters with the space. For Pogaþar, what can be called ›affective media object‹ in relation to digital archiving and media archaeology is deterritorialized and detemporalized sound objects in digital environments as cyberplaces of memory that essentially provoke/reflect the affective responses of users involved. Music enables building non-identitarian collectivities through shared affect, going beyond existent spatio-temporalities. Such political registers of space are discussed in this issue by Catherine Baker66 and Srdjan Atanasovski67, who focus on memory as »the delicate and fragile line that separates ›sound‹ as a physical and ›music‹ as an aesthetic experience«68 While Baker builds her argument on the strong interrelation between a symbolic geography and imagination of zaviþaj, Atanasovski concentrates more on the real materiality of space with specific histories, locations, and acoustical context as »specific kinds of geographies of music«69. Baker reflects on the post-Yugoslav reshaping of spatial discourses that enabled pro-found new connections between sound and space in a sense of dynamics of detaching and repositioning. As proved in Atanasovski’s examination of the role of music in a participative event such as pilgrimages to Kosovo, material spaces are employed in the imagination of nation and homeland through quotidian affective practices. Both articles see space not as a metaphoric or transcendental space, nor simply as a material space70 in which postYugoslav nation states’ politics of locality is mediated by the non-locality

66 Baker, Catherine: Spaces of the Past: Emotional Discourses of ›Zaviþaj‹ (Birthplace) and Nation in Yugoslav and Post-Yugoslav Popular Music, Southeastern Europe 39 (2015), p. 161.195. 67 Atanasovski, Srdjan: Hybrid Affects of Religious Nationalism: Pilgrimages to Kosovo and the Soundscapes of the Utopian Past, Southeastern Europe 39 (2015),p. 237–263. 68 Ibidim. 69 Wood, N., Duffy,M. and S.J. Smith: »The art of doing (geographies of ) music« Environment and Planning, Society and Space 2007, p.25. 70 N. Thrift: Non-representational theory. Space|Politics|Affect, S. 16

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of sound.71 For Pogaþar in particular, the fragmentation of individual/bodily presence in digital environments and the temporal and spatial disparateness of communicative interactions presuppose a certain fragmentation of affect: fragmentation in the sense that the crowd that can be seen as the most fertile grounds for affective development is simply not there (or is partly there). In all cases it is the potential of music as a somatic practice that enables thinking about a ›politics of ordinary moments‹72 – grounded in an experience and embodiment of space in a post-Yugoslav context.

P OST -Y UGOSLAV AFFECTIVE S ONIC E XPERIENCES Speaking from the perspective of sonic affect73, ›being in tune‹ as shared vibrational experience is crucial for music’s power to produce sociality74 or to attract and galvanize collectivities.75 However, the people involved in such collectivities do not necessarily feel the same about the same object: every person’s memory produces an array of potential realities, engaging numerous contingents of imaginations. People participating in a musical event invest their own affective dispositions, moods, and emotions, and affect as transmissible through a music and sound is shaped by the personal

71 For a discussion of the non-locality of affect see: Clough, T. P. and J. Halley,J. (eds.): The affective turn: Theorizing the Social (Durham,N C : Duke University Press 2007, p.67, and for sound as ubiquitously affective, see: Thompson, Marie und Biddle, Ian [Hg.]: Sound, Music, Affect: Theorizing Sonic Experience, p. 15. 72 Ibid.: p. 20. 73 In most of the recent theoretical studies of the affective potential of sound and music the analyses focus on sound as affective vibrational force (M. Thompson and I. Biddle: Sound, Music, Affect: S. 19). These approaches generally call for ›sonic materiality‹ and focus on sonic affect as the ›nonrepresentational ontology of vibrational force‹ (Goodman 2010). More about recent conceptualizations of sonic affect and current debates in Hofman 2015b. 74 See: T. Turino: Music as social Life. The Politics of Participation, Chicago/London: Chicago University Press 1993. 75 Goodman, Steve:Sonic Warfare: Sound, Affect and the Ecology of Fear, Massachusetts,London: The MIT Press 2010, p. 172).

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emotional experience.76 It is precisely the dissonant registers of affective economies of music that enable the merging of different memories of the past: »In the ears of one person, one musical moment might accrue indexical meanings grounded in shared histories of listening while at the same time have other meanings specific to the individual«77 Therefore, performing or listening to music produced in or associated with socialist Yugoslavia can induce powerful emotional, psychological, and somatic responses that also crucially depend on the viewer’s experiences bound up with his/her appraisals and beliefs – thus challenging the disjunction between emotion, affect, and meaning.78 Sara Ahmed offers a deliberation on the trans-subjective, unpredictable, and free-floating circulation of affect and its autonomy from subjects, objects, and signifiers. She notes that in the circulation of memory objects, certain objects and feelings associated with them accumulate a quality that resides in them, as a form of affective values.79 In this sense, some musical forms and pieces can be experienced in the same way (though some of them can be charged with more emotional or affective drive than others), but surely in different affective orders and

76 Garcia, Luis-M.: »Can you feel it, too?«: Intimacy and affect at electronic dance music events in Paris, Chicago, and Berlin (PhD dissertation; The University of Chicago 2010, p. 186. 77 Samuels in Gray, Lila Ellen: Fado Resounding: Affective Politics and Urban Life Durham, N C : Duke University Press 2013, p. 6. 78 Emotion-affect conceptual division/relationship has been one of the main stumbling blocks in recent scholarship, which thus displays many points of contradiction. In the Affect Theory Reader, Grossman asserts the continuing difficulty of theorizing affect and emotion, due in part to the way the historical trajectory of these terms has been used to dismiss and trivialise (L. Grossberg: »Affect’s Future: Rediscovering the Virtual in the Actual.« An interview with Gregory J. Seigworth and Melissa Gregg in: M. Gregg and G. J. Seigworth [eds.], The Affect Theory Reader, Durham: Duke University Press Books 2010, p. 316). Memory in particular complicates the notion of ›sound environment‹ and the division between ›material‹ and imagined sound: if we remember one melody and hear it our head, without any external input, we will doubtlessly experience a certain feeling. 79 S. Ahmed: The Cultural Politics of Emotion, p. 11.

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dimensions, and in different intensities.80 And this is where the politics of sentimentalism and joy enter the memory debate. Particularly in the case of concerts, as Ana Petrov convincingly shows, people re-invest their emotions that are part of the individual perception of the now-consequences of memory in current aesthetic discourses.81She opts for an ›affective sociality‹82, in which knowledge about the past and a concern for common remembrance are interwoven into the fabric of social relationships. Collective singing, as a form of social involvement in which, in Serguei Oushakine’s words, shared values are reaffirmed and explored if only temporarily, enables social connections that did not exist before the performances started.83 As Petrov asserts, »joined with the discourses they produced, the people created specific affective communities, by reacting in the same fashion as the singer and imitating the ›performance of the gestures‹84 among themselves«85 Pogaþar also shows the co-creation of memories within the online rhythmic collectives as an (unintended) archive where the history of popular music is intertwined with individual (at times intimate) histories of users, where unremembered facets of past everyday life are interwoven into the digitally mediated present-day. For Atanasovski, moreover, sounds

80 For sonic affect as impersonal intensity and force, I agree with Garcia that we have to be careful not to underestimate the agency that listeners have in experiencing affects, assigning meaning to them, and expressing them outwardly (L.M. Garcia: »Can you feel it, too?«: Intimacy and affect at electronic dance music events in Paris, Chicago, and Berlin, p.185). In my opinion, it is a mistake to explain such experience solely on the basis of the affective mechanisms of sound, excluding consideration of consensuses, signification, and meaning. 81 Bergson, Henri: Matter and Memory, trans. by N.M. Paul and W.S. Palmer, New York: Zone Books 1991. 82 Raffles, Hughes: »Intimate Knowledge«, International Social Science Journal 54(3) 2002. 83 Oushakine, S.: »Emotional Blueprints: War Songs as an Affective Medium« in: Steinberg and Sobol 2011, p.255. 84 Noland, Carrie: Agency and Embodiment. Performing Gestures/Producing Culture Cambridge and Massachusetts: Harvard University Press 2009. 85 Petrov, Ana: The Songs We Love to Sing and the History We Like to Remember: Tereza Kesovija’s Comeback in Serbia, Southeast Europe 39 (2015), p. 192–214.

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create crevices on the body of socius, allowing for the social meaning to be inscribed in the affective economies of nationalism as practice. Although talking about spatio-temporal collectivities from a different perspective (the nation as the higher-ranked collectivity), Baker theorizes the re-constitution of post-Yugoslav territory as a space that can be moved through an imagined ›sound space‹ shaped through sonic experience and emotional attachment. As mentioned above, music’s ability to create non-identiterian forms of belonging enables an interrelation of various experiences and memories as a playground for redefining a sense of self in relation to the ›historical past‹. Without falling into the tendency to romanticize affect’s positive potential86, we believe that sensorial politics of music is where the issue of critical discourse in the conceptualization of Yugoslav cultural memories became an important base for new theorizations. In that situation, where all emotions related to the past are charged as ideologically burdened, musical experience allows people to relocate individually, generationally, politically, and ethnically in various possible ways. Music’s affective economies enable the experience of Yugoslavia(s) to be legitimized not just as a past, but also as current sensorial engagement in accordance with the »convenience of the moment«87. This is particularly important for challenging the distinction between lived and non-lived experience of the Yugoslav past, which is dominant in the debate of post-Yugoslav memory practices: while the younger post-Yugoslav generations’ sentimentalism related to the Yugoslav past is seen as part of retro-fashion, for the older generations with first-hand experience of this period, sentimentalism and joy have been seen as politically contested due to their still living experience. In our opinion, it is exactly on this level that negotiation among various experiences of Yu-

86 As Steve Goodman (2010) and Suzanne Cusick (2008) warn in their valuable studies, affect is also manipulated as a tool for controlling lives exactly in the way it claims to bring a ›promise‹ in the neoliberal corporative world. I would warn about another important aspect of romantizing affect, namely, a tendency of asigning inherent authenticity to affect: understanding affective economies in music as authentic and moral, which is in the core of its promise for (any kind of) potentiality (Hofman, Ana: Affective Turn in »Ethnomusicology«, Muzikologija (forthcoming). 87 S. Ngai: Ugly feelings, p.37.

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goslav socialism took place, and it is here that the past attains new readings to be used in present interventions and in the politics of future. Reflecting on this complex relationship between the affective, the social, the political and the aural in the extremely politicized narratives of cultural memory in post-Yugoslav societies is a particularly challenging task. Still, these are rather modest claims, by which we want to demonstrate how the focus on music might expand the existent understandings and conceptualization of cultural memory in the post-Yugoslav context. As this text demonstrates, this is quite a slippery terrain, but building this kind of theoretical grounds, which includes affect, memory, and music, should primarily be seen as opening a space; hopefully it will spur further research and expand criticism and theory.

Zu den Autoren

Jan Assmann geboren 1938 in Langelsheim, studierte Ägyptologie, Klassische Archäologie und Gräzistik in München, Heidelberg, Paris und Göttingen. Er war 1967 bis 1971 freier Mitarbeiter des Deutschen Archäologischen Instituts in Kairo und von 1976 bis 2003 Professor für Ägyptologie in Heidelberg. Seit 1967 epigraphisch-archäologische Feldarbeit in ThebenWest. Seit 2005 ist er Honorarprofessor für Allgemeine Kulturwissenschaft und Religionstheorie an der Universität Konstanz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kulturtheorie (Das kulturelle Gedächtnis, 1992), ägyptische Religion und Literatur in theoretischer und vergleichender Perspektive, allgemeine Religionswissenschaft (Heil und Herrschaft 2000; Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus 2003) und die Rezeption Ägyptens in der europäischen Geistesgeschichte (Exodus. Die Revolution der alten Welt 2015). Carola Bebermeier: Nach dem Studium des Lehramts für Musik, Geschichte und Erziehungswissenschaften an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und an der Universität zu Köln, begann Carola Bebermeier im Sommersemester 2009 ihre Dissertation bei Prof. Dr. Melanie Unseld an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg mit dem Thema »Celeste Coltellini (1760–1828) – Lebensbilder einer Sängerin und Malerin«. Die Promotion wurde durch Stipendien der Universität Oldenburg, der Mariann Steegmann-Foundation, sowie des DAAD gefördert und ist im Juli 2015 im Böhlau-Verlag erschienen. Im Wintersemester 2014/15 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Oldenburg und seit Januar 2016 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Forschungsprojekt »Musikalische Preisausschreiben 1766–1870: Grundriss, Datenbank und Biblio-

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graphie auf der Grundlage von Musikperiodikͨ an der Universität zu Köln am Lehrstuhl von Prof. Dr. Frank Hentschel. Friederike Bunten studierte ab 2008 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg im Bachelor mit den Fächern Musik, Sozialwissenschaften und Mathematik. Den Bachelor schloss sie mit einer Arbeit über die Internationale Komponistinnenbibliothek Unna als Institution eines musikkulturellen Gedächtnisses ab. Anschließend studierte sie in Oldenburg im Master of Arts Musikwissenschaften, sowie im Master of Education Musik, Politik – Wirtschaft und Mathematik. Ihre Abschlussarbeit verfasste sie über die Darstellung von musizierenden Frauen auf historischen Bildpostkarten aus der Sammlung der Universität Osnabrück. Zwischen den Jahren 2011 bis 2014 war sie Tutorin (Vorlesung »Einführung in die Musikwissenschaften«) und wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Musik der Universität Oldenburg. Seit Juni 2015 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »Geschlechterwissen in und zwischen den Disziplinen: Kritik, Transformation und›dissidente Partizipation‹«. Thomas Burkhalter ist ein Musikethnologe, Musikjournalist und Kulturschaffender aus der Schweiz. Der Gründer und Leiter der Norient Plattform publizierte die Ethnographie Local Music Scenes and Globalization: Transnational Platforms in Beirut (Routledge) und co-editierte u.a. Seismographic Sounds: Visions of a New World (Norient Books) und The Arab Avant-Garde: Music, Politics, Modernity (Wesleyan University Press). Burkhalter leitet Forschungsprojekte an der Universität Basel und der Hochschule der Künste Bern. Als Kurator des jährlichen Norient Musikfilm Festival, Kulturschaffender (u.a. audio-visuelle Performances «Sonic Traces: From Switzerland»), Dokumentarfilmer (»Sound Translations«) und Musikjournalist will Burkhalter das Phänomen Musik laufend aus neuen Perspektiven kennenlernen. Link: http://www.norient.com Helga de la Motte-Haber geb. in Ludwigshafen/Rhein. Studium der Psychologie 1957–1961, Abschluss mit dem Diplom, 1962–1967 Studium der Musikwissenschaft, Abschluss mit der Promotion. 1971 Habilitation an der Technischen Universität Berlin mit dem Lehrgebiet Systematische Musikwissenschaft, 1972–1978 Prof. an der Pädagogischen Hochschule Köln, 1978–2004 Prof. an der Technischen Universität Berlin. Schriften in Aus-

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wahl: Musikpsychologie. Eine Einführung, 1972; Psychologie und Musiktheorie, 1978; Handbuch der Musikpsychologie, 1985; Musik und Bildende Kunst, 1990; Die Musik von Edgard Varèse, 1993. Herausgebertätigkeit: Klangkunst, 1999; Musik des 20. Jahrhunderts, 2000; Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft in vier Bänden, Laaber Verlag (Band 1: Musikästhetik, 2003; Band 2 zus. mit O. Schwab-Felisch: Musiktheorie, 2004, Band 3 Musikpsychologie, 2005, Band 4 Musiksoziologie, 2006). Astrid Erll ist Professorin für Anglophone Literaturen und Kulturen an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie hat zu Erinnerungen des Ersten Weltkriegs, des Spanischen Bürgerkriegs, des britischen Kolonialismus in Indien, des Vietnamkriegs und des ersten Irakkriegs geforscht. Sie ist Mitherausgeberin der Buchreihe Medien und kulturelle Erinnerung/Media and Cultural Memory (mit A. Nünning, de Gruyter, seit 2004) sowie A Companion to Cultural Memory Studies (mit A. Nünning, 2010),Mediation, Remediation, and the Dynamics of Cultural Memory (mit A. Rigney, 2009) und Autorin einer Einführung in die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen(2005, 2. A. 2011; engl. Memory in Culture, Palgrave 2011). Sie ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift Memory Studies (SAGE) und der Buchreihe Memory Studies (Palgrave). Johannes Fechner studierte Philosophie, Geschichte, Soziologie und Genderstudies an der Goethe Universität Frankfurt am Main und der Paris VIII Vincennes-Saint-Denis. Forschungsinteressen sind die Philosophie Hegels, der Marxismus (Marx, Neue Marx-Lektüre), Kritische Theorie (Adorno, Benjamin) und Poststrukturalismus (Deleuze) unter den Betrachtungsweisen der Politik, Geschichte und Ästhetik. Ana Hofman ist Musikethnologin. Ihre Dissertation hat sie über Gender Politics and Folklore Performance in Socialist Serbia am Graduiertenkolleg für Interkulturelle Studien der Universität Nova Gorcia in Slovenien geschrieben. Zurzeit ist sie assoziierte Wissenschaftlerin am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Slowenischen Akademie für Kunst und Wissenschaft in Lubijana. 2013/14 war sie Fellow am Centre of Southesast European Studiese an der Universität Graz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Musik, Gender und Memory Studies, sowie angewandet Musikethno-

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logie. Zuletzt ist die Monographie Staging socialist femininity: Gender Politics and Folklore Performances in Serbia erschienen, sowie Music Affect and Memory. Desweiteren koodiniert sie das EU Projekt FP7 Gendering Academy and Re-search: Combating Career Instability and Asymmetries (GARCIA). Lena Nieper (Hg.) studierte Anglistik, Musikwissenschaft und Philosophie an der Goethe Universität Frankfurt und der Paris VIII. Sie arbeitet im Projekt OPERA-Spektrum des europäischen Musiktheaters sowie an der Frankfurter Memory Studies Platform. Von 2014–2015 war sie im Vorstand des DVSM e.v. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Erinnerungsforschung, Ästhetik (Adorno), die Musik des 20. Jahrhunderts (Nono) und Pop Theorie (Diederichsen) Kai Preuß studierte Philosophie und Geschichte an der Universität Frankfurt und arbeitet seit 2015 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rahmen des Leibniz-Projektes »Polyphonie des spätantiken Christentums« an seiner Doktorarbeit zur Geschichtstheologie bei Augustin. Elisabeth Reda studierte zunächst künstlerisches Orgelspiel und Kirchenmusik, bevor sie sich an den Universitäten Tübingen und Oldenburg den Musikwissenschaften zuwandte. In Oldenburg hatte sie eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft im Forschungsprojekt »The delights of harmony. Englische Salonkultur um 1800« inne. Nach dem Abschluss ihres Masterstudiums 2014 wurde sie von der Mariann Steemann Foundation mit einem Anschubstipendium zur Promotion gefördert. In dieser Zeit beschäftigte sie sich mit Genderkonstruktionen im intermedialen Bilderzyklus »Leben? oder Theater?« der Künstlerin Charlotte Salomon. Seit Anfang 2015 arbeitet sie als Stipendiatin des Graduiertenkollegs »Vergegenwärtigungen. Repräsenationen der Shoah in komparatistischer Perspektive« der Universität Hamburg an einer Dissertation über Musik als Erinnerungsmedium anhand der Oper Charlotte Salomon von Marc-André Dalbavie. Julian Schmitz (Hg.) studiert an der Goethe Universität Frankfurt Musikwissenschaft, Soziologie und Philosophie (Mag.). Von Sommersemester 2013 bis Wintersemester 2015 war er Hilfswissenschaftskraft von Prof. Dr. Marion Saxer. Veranstalter des interdisziplinären, studentischen Sympo-

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siums Musik und Erinnerung. Gedächtnis: Geschichte, Gegenwart.Er ist DJ und gestaltete im Rahmen der Kulturnacht Mönchengladbach die Klanginstallation REAL PLACES|FAKE SPACES. Leonie Storz studierte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Musikwissenschaft, Geschichte und Philosophie und schloss ihr Studium 2013 mit einer Arbeit über die musikwissenschaftliche Bach-Rezeption im Nationalsozialismus ab. Sie war redaktionell an mehreren Buch-Publikationen beteiligt und 2012–2014 Mitarbeiterin der Projektleitung im Projekt ›Konzertdramaturgie‹ des Instituts für Musikwissenschaft der GoetheUniversität. Seit 2013 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Musikwissenschaft an der Goethe-Universität. Petya Tsetanova studierte an der Musikakademie, Sofia, Bulgarien, Klavier und Musikwissenschaft. Von 2014–2015 machte Tsvetanova drei Auslandsemester während ihrer Doktoratstudium an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Dort arbeitete sie mit Prof. Cornelia Szabo-Knotik und Prof. Martin Eybl. Das Forschungsthema ihrer Doktoratarbeit ist »Das Requiem: Gattungsvorbild und historische Bilder«. Am 20. August 2015 haltete Tsvetanova Vortrag auf das Thema »The Mediæval Bæbes-Memory from Middle Ages in a new Context?« während ISA Science in Reichenau, Austria. Derzeit unterrichtet Tsvetanova Musikgeschichte an der Musikakademie, Sofia und sie arbeitet als Journalistin am Bulgarischen Rundfunk. Melanie Unseld studierte Historische Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft, Philosophie und Angewandten Kulturwissenschaft in Karlsruhe und Hamburg. 1996 Magister über das Streichquartettschaffen des russischen Komponisten Alexander Borodin an der Universität Hamburg, 1999 Promotion ebenda (»Man töte dieses Weib!« Tod und Weiblichkeit in der Musik der Jahrhundertwende, Stuttgart/Weimar 2001). 2002–2004 war sie Stipendiatin des Lise Meitner-Hochschulsonderprogramms, 2005–2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik und Theater Hannover, hier ab 2006 am Forschungszentrum für Musik und Gender. Seit 2008 ist Professorin für Kulturgeschichte der Musik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Sie war Mitinitiatorin des Strukturierten Promotionsprogramms »Erinnerung – Wahrnehmung – Bedeutung. Musikwis-

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senschaft als Geisteswissenschaft« (2009–2012) und vertrat 2011/12 die Professur für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. 2013 habilitierte sie sich ebendort mit einer Arbeit über »Biographie und Musikgeschichte«. 2013–2015 war sie Prodekanin der Fakultät III der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, seit 2015 ist sie Dekanin ebenda. Tom Wappler studierte von 2007 bis 2011 Musikwissenschaft mit Nebenfach Anglistik/Amerikanistik an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg. Werkstudent am Seminar für Philosophie. Thema der Bachelorarbeit: Edition der Kantate ›Wohl dem, des Hülfe der Gott Jakob ist‹,TVWV 1:1709 von Georg Philipp Telemann aus dem Jahrgang Harmonisches Lob Gottes. Von 2011 bis 2014 Studium des Fach-Masters Musikwissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Tutor für die Lehrveranstaltung »Einführung in die Musikwissenschaft«. Wissenschaftliche Hilfskraft und Tutor im Bereich Kulturgeschichte der Musik/Institut für Musik. Thema der Masterarbeit: Intertextualität und/als musikkulturelles Handeln. Sprechen über und Gestalten von Erik Saties musikalischen Verweisen in den Klavierkompositionen 1913–1917. Seit Wintersemester 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Kulturgeschichte der Musik/Institut für Musik. Jarula M.I. Wegner studierte Germanistik, Anglistik und Sinologie an der Goethe Universität Frankfurt (Deutschland), mit Aufenthalten an der Jiaotong Universität Xi’an (China) und der University of the West Indies St. Augustine (Trinidad und Tobago). In 2015 erlangte er an der Goethe Universität einen B.A. in Sinologie und einen Magister in Anglistik. Gegenwärtig ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG Projekt Migration und transkulturelle Erinnerung: Literatur, Film und das ›soziale Leben‹ von Erinnerungsmedien an der Goethe Universität und seine Doktorarbeit untersucht Transkulturelle Erinnerung in der karibischen Diasporaliteratur. Seine Forschungsinteressen beinhalten, sind aber nicht beschränkt auf, Theorien der Erinnerung, Transkulturalität, Weltliteratur und des Karnevals sowie Postkoloniale- und Geschlechtertheorie. Des Weiteren ist er stellvertretender Sprecher der Studiengruppe für Interdisziplinäre Gedächtnisforschung am Forschungszentrum für historische Geisteswissenschaften.

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