Strafe und Versöhnung: Eine moral- und rechtsphilosophische Analyse von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich als Formen unserer Praxis [1 ed.] 9783428538201, 9783428138203

In der Untersuchung wird der vernünftige Sinn von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich philosophisch fundiert analysiert. Da

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Strafe und Versöhnung: Eine moral- und rechtsphilosophische Analyse von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich als Formen unserer Praxis [1 ed.]
 9783428538201, 9783428138203

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Schriften zur Rechtstheorie Heft 261

Strafe und Versöhnung Eine moral- und rechtsphilosophische Analyse von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich als Formen unserer Praxis

Von Anja Schmidt

Duncker & Humblot · Berlin

ANJA SCHMIDT

Strafe und Versöhnung

Schriften zur Rechtstheorie Heft 261

Strafe und Versöhnung Eine moral- und rechtsphilosophische Analyse von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich als Formen unserer Praxis

Von Anja Schmidt

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristenfakultät der Universität Leipzig hat diese Arbeit im Jahre 2011 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-13820-3 (Print) ISBN 978-3-428-53820-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-83820-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Das ist das Gewalttätigste an der Gewalt des Terrors: die Sprachlosigkeit. […] Kaum jemand, der nicht Opfer dieser stummen Gewalt geworden ist, kann verstehen, was das heißt: allein zu sein mit dieser Stille, in der Fragen verhallen ohne Echo. Allein zu sein mit diesem Zorn, der keinen Adressaten kennt. Nicht Einspruch erheben zu können, selbst wenn es zu spät ist, einklagen zu können, eine Rechtfertigung zumindest, die in der Logik des Gegenübers sinnhaft wäre. Carolin Emcke, Stumme Gewalt (2008), über den Mord von Mitgliedern der RAF im Namen der RAF an ihrem Patenonkel und Freund Alfred Herrhausen am 30. November 1989

Vorwort Auch wenn eine Dissertation letztlich selbst geschrieben werden muss und der Schreibprozess teils sehr einsam ist, erfolgt das Schreiben doch immer in der Auseinandersetzung mit den Standpunkten anderer und mit viel Unterstützung seitens anderer Menschen. Für diese intensiven Erfahrungen bin ich sehr dankbar. Prof.  Dr.  Michael Kahlo danke ich für seine Betreuung und die zügige Erstellung des Erstgutachtens. Die Mitarbeit an seinem Lehrstuhl, sein Vertrauen in mich und seine Anerkennung gegenüber von seiner Auffassung abweichenden wissenschaftlichen Standpunkten haben dieses Dissertationsprojekt erst ermöglicht und einen wichtigen Beitrag für sein Gelingen geleistet. Prof. Dr. Diethelm Klesczewski danke ich für die schnelle Erstellung des Zweitgutachtens. Ihm, Prof. Dr. Michael Köhler und Prof. Dr. Michael Kahlo verdanke ich zudem kritisch-konstruktive Rückmeldungen zu den Teilen der Dissertation, die sich mit Konzepten Michael Köhlers befassen. Prof. Dr. Thomas Rentsch gab mir die Ge­ legenheit, mein Forschungsprojekt in seinem Oberseminar vorzustellen und zu diskutieren. Ihm und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Oberseminars bin ich für ihre äußerst ermutigende und fördernde Kritik sehr dankbar. Ebenso danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des strafrechtlichen Doktoranden­ seminars in Leipzig für ihre konstruktiven Rückfragen und Anmerkungen. Dankbar bin ich zudem den studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Lehrstuhls von Prof. Dr. Michael Kahlo, die mir bei der Beschaffung von Literatur und bei den redaktionellen Arbeiten wertvolle Hilfe geleistet haben. Der Rosa Luxemburg Stiftung danke ich für die finanzielle Unterstützung durch ein Promotionsstipendium in einer frühen Phase des Projekts. Die Dissertation wurde von der Dr. Feldbausch Stiftung (DFS) im März 2012 ausgezeichnet, wofür ich ebenfalls danke. Dadurch war es mir möglich, ein Lektorat zu beauftragen, das Martin Fruhstorfer sorgfältig und behutsam besorgt hat. In der Abgeschiedenheit des Schreibens habe ich wertvolle persönliche Unterstützung von Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen erfahren. Dr. Friederike Wapler, Kathi Fröhlich, Dr. Marc André Wiegand, Dr. Steffen Wunderlich und Dr. Antje Schumann haben sich die Zeit genommen, Rohfassungen der Dissertation oder Teile davon zu lesen und sie mit mir kritisch zu diskutieren. Dr. Marc André Wiegand verdanke ich zudem die Anregung für den Titel dieser Arbeit. Von Steffi Müller-Mezger, Katrin Schoch, Dörthe Maria Zorr, Iris FischerBach, Kathi Fröhlich und ihrer Familie, Karl-Heinrich Knaust, meinen Eltern und meinem Großvater habe ich wertvolle Unterstützung in vielerlei Hinsicht erfahren dürfen. Dr. Lena Foljanty und Jun.-Prof. Dr. Ulrike Lembke danke ich sehr für

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Vorwort

die konstruktive und auch für diese Arbeit lehrreiche Bewältigung unseres Konflikts, die Anne Kobes mit ihren mediatorischen Fähigkeiten sehr professionell unterstützt hat. Tief beeindruckt haben mich Menschen, die Opfer oder Betroffene schwerer Straftaten geworden sind und es gewagt habt, mit dieser sehr persönlichen und leidvollen Erfahrung an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie leisten damit einen unschätzbaren Beitrag dazu, zu begreifen, dass die Opfer einer Straftat konkret in ihrer persönlichen Verletzungserfahrung durch die Gemeinschaft anerkannt und bei deren Bewältigung unterstützt werden müssen. Ich empfinde tiefen Respekt vor ihrem mutigen Umgang mit dem erlittenen Unrecht, mit dem sie zudem mein Nachdenken über die Inhalte dieser Arbeit nachhaltig geprägt haben. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Leipzig, im Juni 2012

Anja Schmidt

Inhaltsübersicht I. Kapitel

Einführung

1. Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2. Fragestellung und Verortung im Forschungsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 4. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

II. Kapitel

Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

1. Kritik des Prüfverfahrens des kategorischen Imperativs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Konstitution der Moralität nach Thomas Rentsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3. Verwobenheit von Faktizität und Normativität sowie naturalistischer Fehlschluss . . 97 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

III. Kapitel

Straftat

1. Straftat als kommunikatives Interexistential und ursprüngliche Praxisform sowie Methode der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials der Straftat . . . . . . . . . . . . 103 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

IV. Kapitel

Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich als Formen der Bewältigung von Straftaten

1. Bewältigung von Straftaten als unumkehrbar Geschehenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich als kommunikative Interexistentiale und ursprüng­ liche Praxisformen sowie Methode der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3. Vernünftiger Sinn von Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

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Inhaltsübersicht

4. Vernünftiger Sinn des Täter-Opfer-Ausgleichs als Versöhnungsprozess . . . . . . . . . . 186 5. Verhältnis von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

V. Kapitel

Zusammenfassung

1. Ertrag der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 2. Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

Inhaltsverzeichnis I. Kapitel

Einführung

1. Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2. Fragestellung und Verortung im Forschungsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Aufgabe der Philosophie nach Thomas Rentsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 b) Methode des Philosophierens nach Thomas Rentsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 aa) Hermeneutisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 bb) Beschreibend (phänomenologisch) und praktisch (pragmatisch) . . . . . . . . 32 cc) Transzendental . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 dd) Aufweis der Grundzüge der Lebenswelt in paradigmatischer Praxisanalyse 34 c) Philosophische Analyse von Praxisformen oder Interexistentialanalyse . . . . . . . 37 4. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

II. Kapitel

Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

1. Kritik des Prüfverfahrens des kategorischen Imperativs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 a) Prüfverfahren des kategorischen Imperativs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 b) Einwand des „leeren Formalismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 c) Einwand des Rigorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 d) Einwand des idealen Sollens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 e) Unzureichende Ausformung des Aspekts der Vorgängigkeit von Praxisformen . 49 f) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2. Konstitution der Moralität nach Thomas Rentsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 a) Vorgängigkeit gelebter Praxisformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 b) Grundzüge der Lebenswelt als Rationalitätskriterien für praktisches Urteilen . . 52 aa) Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 bb) Gleichursprüngliche Grundzüge der Lebenswelt als Rationalitätskriterien 53

12

Inhaltsverzeichnis cc) Vernunft und Grundzüge der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 c) Grundzüge der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 aa) Situationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 bb) Selbstverhältnis I: Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 cc) Wirklichkeit, Sinngetragenheit und Sprachlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 dd) Gemeinsamkeit oder Interexistentialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 ee) Selbstverhältnis II: Einsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 ff)

Leiblichkeit, Empfinden und naturale Getragenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

gg) Räumlichkeit und Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 hh) Möglichkeit und Begrenztheit (Endlichkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 ii)

Selbstverhältnis III: Existenz als Selbstständige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 (1) Selbstständigkeit als Neubeginn innerhalb einer vorgängigen Praxis . 68 (2) Praktische Sinnentwürfe und Rationalitätskriterien . . . . . . . . . . . . . . 71 (3) Fehlbarkeit und Paradox menschlicher Selbstständigkeit . . . . . . . . . . 73 (4) Ausrichtung der Sinngestalten auf Erfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 (5) Praxisformen als spezifische komplexe Sinngestalten . . . . . . . . . . . . 77 (6) Praktische Sinngestalten als kommunikative Interexistentiale . . . . . . 78

jj)

Interexistenz und Existenz (interexistentielle Abhängigkeit und Achtung)

79

kk) Singuläre Totalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 ll)

Fragilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

mm) Asymmetrie (Dominanz oder Herrschaft) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 (1) Gründe für die Asymmetrie der Lebensverhältnisse, Macht und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 (2) Recht als auf die Asymmetrie der Lebensverhältnisse bezogene Praxisform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 (a) Recht als ursprüngliche Praxisform und Gerechtigkeit . . . . . . . . 86 (b) Kriterien für gerechtes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 (c) Gewaltmonopol des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 (d) Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 nn) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 d) Moralität als einsichtsgetragenes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 aa) Moralität als Verhalten aus Pflicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 bb) Sinn der Rede von der Pflicht zu einem bestimmten Verhalten . . . . . . . . . 93 cc) Bedeutung für die Grenzen rechtlicher Regelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3. Verwobenheit von Faktizität und Normativität sowie naturalistischer Fehlschluss . . 97 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Inhaltsverzeichnis

13

III. Kapitel

Straftat

1. Straftat als kommunikatives Interexistential und ursprüngliche Praxisform sowie Methode der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials der Straftat . . . . . . . . . . . . 103 a) Paradigmen und Strömungen in der wissenschaftlichen Diskussion um den Straftatbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 aa) Positives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 bb) Straftat als spezifische Verletzung des Rechts (materiale Verbrechensbegriffe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 cc) Straftat als Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 dd) Straftat als Konflikt und spezifische Verletzung des Rechts . . . . . . . . . . . . 108 b) Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials der Straftat als spezifisch rechtlich verbotene existentiell-missachtende Verletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 aa) Straftat als singuläre Totalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 bb) Unmittelbar-persönliche, rechtlich umhegte Ebene der Straftat im Hinblick auf den Täter-Opfer-Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 (1) Missachtende Verletzung durch einen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . 112 (a) Als Ausdruck der selbstständigen Weltgestaltung durch den ­Täter 112 (b) Als Gestaltung des wechselseitigen Verhältnisses als Missachtung 114 (c) Als Gestaltung des eigenen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 (2) Existentielle Verletzung eines Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 (a) Missachtung des Opfers als in der Selbstorientierung Gleiches . 117 (b) Leiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 (c) Zugeordnete Bereiche gemeinsamer Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . 122 (d) Existentielle Verletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 (3) Das strafrechtliche Verbot als rechtliche Umhegung der unmittelbar persönlichen Ebene (rechtlich ausgeformtes Anerkennungsgeflecht) . . . 126 cc) Ebene der Straftat als Missachtung des Rechts, soweit sie mit Strafe rechtlich bewältigt werden kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 dd) Sinn der Unterscheidung zwischen der rechtlich umhegten unmittelbarpersönlichen Verletzungsdimension und der Dimension der Missachtung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 ee) Wirklichkeit von Straftaten als unumkehrbare und je einzigartige Gestaltungen des gemeinsamen Lebens mit Wirkung für die Zukunft . . . . . . . . . . . . 135 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

14

Inhaltsverzeichnis IV. Kapitel



Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich als Formen der Bewältigung von Straftaten

1. Bewältigung von Straftaten als unumkehrbar Geschehenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 a) Wiedergutmachung der Tat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Tatbewältigung und das Paradox der Selbstständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich als kommunikative Interexistentiale und ursprüngliche Praxisformen sowie Methode der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 a) Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich als kommunikative Interexistentiale . . . . . . . . 141 b) Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich als ursprüngliche Praxisformen . . . . . . . . . . . 142 c) Methode der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3. Vernünftiger Sinn von Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 a) Strafe in der Rechtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 b) Strömungen in der wissenschaftlichen Diskussion um den Begriff der Strafe . . . 147 aa) Tatorientierte (absolute) Straftheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 (1) Wiedervergeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 (2) Wiedervergeltung im Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 (3) Aspekte kritischer Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 bb) Präventive (relative) Straftheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 (1) Generalpräventiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 (2) Spezialpräventiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 (3) Aspekte kritischer Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 cc) Abschaffung des Strafens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (1) Darstellung der Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (2) Aspekte kritischer Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 dd) Sühnefunktion der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 ee) Verschiedene Elemente vereinigende Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (1) § 46  I StGB und der seiner Anwendung zugrunde liegende Vereinigungsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 (a) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 (b) Aspekte kritischer Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 (2) Wiederherstellung des Rechts als Recht mit Integration präventiver Zwecke nach Michael Köhler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 (a) Zum Letztbegründungsanspruch der Theorie . . . . . . . . . . . . . . . 162 (b) Darstellung der Inhalte der Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (c) Kritische Analyse der Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Inhaltsverzeichnis

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(aa) Unhintergehbarkeit der Selbstständigkeit . . . . . . . . . . . . . 170 (bb) Vorrangstellung der Existentialität vor der Interexistentialität 171 (3) Schuldausgleich in Verbindung mit präventiven Zwecken nach Ernst Amadeus Wolff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 c) Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials der Strafe als gemeinsame rechtliche Form unserer Praxis zur Bewältigung von Verbrechen . . . . . . . . 178 aa) Das Strafen als ursprüngliche Praxisform und kommunikatives Interexistential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 bb) Spezifischer komplexer Sinn des Strafens als einseitig-feststellende Wiederherstellung des Anerkennungsgeflechts mit rechtlichen Mitteln . . . . . . 179 (1) Minderung des Rechtsstatus des Täters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 (2) Wiederherstellung des Rechts und normbestätigende Wirkung gegenüber den Angehörigen der Rechtsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (3) Bestätigung des Rechtsstatus des Tatopfers und Erledigung der Tat im Bereich möglicher wechselseitiger Gewaltausübung . . . . . . . . . . . . . 183 (4) Strafen als kommunikativer Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 (5) Strafe als Rechtsinstitut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 4. Vernünftiger Sinn des Täter-Opfer-Ausgleichs als Versöhnungsprozess . . . . . . . . . . 186 a) Täter-Opfer-Ausgleich in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 aa) Entwicklung und Praxis des Täter-Opfer-Ausgleichs als Verfahren der Konfliktschlichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 bb) Einbindung des Täter-Opfer-Ausgleichs in das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . 191 b) Verhältnis der Interexistentiale Täter-Opfer-Ausgleich und Versöhnung . . . . . . . 193 c) Paradigmen und wissenschaftliche Entfaltungen des Interexistentials der Ver­ söhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 d) Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials des Täter-Opfer-Ausgleichs als Versöhnungsprozess nach einer Straftat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 aa) Kommunikative Aufarbeitung der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 (1) Verstehen der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 (2) Tat als gemeinsam erzählte Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 (3) Selbstbehauptung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 (4) Aufrichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 (5) Existenz, Interexistenz und Sprachlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 bb) Reue und Sichentschuldigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 (1) Reue und das Paradox der Selbstständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 (2) Sichentschuldigen: Äußern der Reue als kommunikativer Akt . . . . . . 203 (3) Aufrichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

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Inhaltsverzeichnis cc) Verzeihen (Vergeben, Ent-schuldigen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 (1) Verzeihen, das Paradox der Selbstständigkeit und das Unverzeihliche 205 (2) Verzeihen als kommunikativer Akt (jemanden Ent-schuldigen) . . . . . 208 (3) Aufrichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 dd) Bedeutung von Ausgleichsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 ee) Versöhnung als wechselseitiger kommunikativer Prozess . . . . . . . . . . . . . . 213 (1) Versöhnung als wechselseitiger Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 (2) Versöhnung als Form der wechselseitigen Anerkennung oder Modus der kommunikativen Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 (3) Faktische (A-)Symmetrien zwischen Täter und Opfer im Bewältigungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 ff)

Konfliktvermittlung durch geschulte Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

gg) Rechtliche Regelung des Versöhnungsprozesses im Täter-Opfer-Ausgleich 219 (1) Faktische Sinnlosigkeit einer rechtlichen Pflicht zur Konfliktbeilegung im Täter-Opfer-Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 (2) Rechtliche Absicherung des Täter-Opfer-Ausgleichs . . . . . . . . . . . . . 220 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 5. Verhältnis von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 a) Eigenständiges Nebeneinander von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich . . . . . . . . 222 aa) Eigenständiges Nebeneinander von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich als Ergebnis der Interexistentialanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 bb) Abgrenzung zu anderen Positionen zum Verhältnis von Strafe und TäterOpfer-Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 b) Wechselwirkungen zwischen Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich am Beispiel des § 46a Nr. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 aa) Regelung des § 46a Nr. 1 StGB und gesetzgeberische Motive . . . . . . . . . . 226 bb) Grundzüge der Anwendung des § 46a Nr. 1 StGB in der Rechtsprechung . 227 cc) Kritische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 (1) Keine „Wiedergutmachung“ der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 (2) § 46a Nr. 1 StGB als vertypter Strafmilderungsgrund wegen eines bestimmten Nachtatverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 (a) Aufrichtige Reue der Täterin und gelungene unmittelbar-persönliche Tatbewältigung als strafmildernder Umstand . . . . . . . . . . . 232 (b) Kritik des § 46a Nr. 1 StGB als vertypter Strafmilderungsgrund 235 (c) Vorschläge zur systematisch-teleologischen Auslegung des § 46a Nr. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 (d) Kritik des § 46a Nr. 1 StGB als Regelung des Täter-Opfer-Ausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 (3) Eigenständige rechtliche Institutionalisierung des Täter-Opfer-Ausgleichs 240 c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Inhaltsverzeichnis

17

V. Kapitel

Zusammenfassung

1. Ertrag der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 2. Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

Abkürzungsverzeichnis abl. Anm. AE-WGM ARSP Art. Az. Beschl. v. BGBl. BGH BGHSt BMJ BritJCrim BT-Drs. BVerfG BVerfGE DJT DRiZ GA gem. GG HWbPhil insb. i. R. d. i. V. m. JA JGG JR JZ KJ KritV LG LK-StGB MSchKrim Nds. LT Drs. NJW NK-StGB NStZ NStZ-RR OLG SächsPolG

ablehnende Anmerkung Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Aktenzeichen Beschluss vom Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, hrsg. v. Mitgliedern des Bundesgerichtshofes (BGH) und der Bundesanwaltschaft, zit. nach Bänden Bundesministerium der Justiz British Journal of Criminology Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Drucksachen Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, hrsg. v. Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts, zit. nach Bänden Deutscher Juristentag Deutsche Richterzeitung Goltdammer’s Archiv für Strafrecht gemäß Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Historisches Wörterbuch der Philosophie insbesondere im Rahmen des in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Jugendgerichtsgesetz (JGG) Juristische Rundschau JuristenZeitung Kritische Justiz, Vierteljahresschrift für Recht und Politik Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Landgericht Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform Niedersächsischer Landtag Drucksachen Neue Juristische Wochenschrift Nomos Kommentar Strafgesetzbuch Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ-Rechtsprechungsreport Oberlandesgericht Polizeigesetz des Freistaates Sachsen (SächsPolG)

Abkürzungsverzeichnis SK-StGB StGB StPO StV StVollzG TOA Urt. v. wistra ZfevEth ZPO ZRP ZStW

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Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch Strafgesetzbuch (StGB) Strafprozessordnung (StPO) Strafverteidiger Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (Strafvollzugsgesetz – StVollzG) Täter-Opfer-Ausgleich Urteil vom Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Zeitschrift für Evangelische Ethik Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

I. Kapitel

Einführung 1. Ausgangssituation Straftaten werden in unserer Rechtsordnung traditionell in erster Linie in einem staatlichen Verfahren bewältigt. Zwar ist die dem Opfer widerfahrene Tat Anlass und tragender Grund des Strafverfahrens, jedoch ermitteln staatliche Behörden den Sachverhalt und klagen die Verdächtigen an, woraufhin diese in einem gerichtlichen Verfahren „im Namen des Volkes“ freigesprochen oder zu einer Strafe verurteilt werden. Die Strafe ist dabei eine formalisierte, in ihrer Ausgleichsfunktion symbolische und von den konkret-tatsächlichen Auswirkungen der Tat losgelöste staatliche Reaktion auf die Tat, die dem Opfer selbst als Geldstrafe nicht zugute kommt. Mit den Instituten der Privatklage und der Nebenklage gem. §§ 374 ff. StPO und §§ 395 ff. StPO wird dem Opfer einer Straftat zwar die Möglichkeit ge­ geben, in bestimmten Fällen selbst das strafgerichtliche Verfahren in Gang zu setzen oder an ihm als Prozessbeteiligte teilzuhaben, allerdings geht es auch hier um die formalisierte Beteiligung des Tatopfers am staatlichen Strafverfahren, also um die Einbindung des Opfers in die Bewältigung der Tat durch den Staat im Verhältnis zwischen Staat und Täterin. Das staatliche Bewältigungsmonopol für Straftaten als Ausdruck des staat­lichen Gewaltmonopols ist auch im Sinne des Opfers: Es muss sich nicht selbst mit der Suche nach dem Täter und der teils komplizierten Aufklärung der Tat auseinandersetzen, und es ist der Entscheidung über eine gerechte Tatreaktion enthoben, was in der Situation eines von einer schweren Tat physisch und psychisch Betroffenen entlastend wirken kann. Das Tatopfer kann zudem auf zivilrechtlichem Weg oder im strafprozessualen Adhäsionsverfahren gem. §§ 403 ff. StPO einen Ersatz seiner Schäden und gegebenenfalls immateriellen Schadensersatz erlangen. Das staatliche Bewältigungsmonopol für Straftaten bringt jedoch mit sich, dass die spezifisch strafrechtliche Reaktion, die gerade das Besondere oder Ungeheuerliche der kriminellen Verletzung betrifft, im Rahmen des Strafprozesses, an dem das Opfer nicht unbedingt und nur unter bestimmten Voraussetzungen beteiligt ist, nur im Verhältnis Täter – Staat stattfindet. Aber auch jenseits des staatlichen Tatausgleichs und des Ersatzes von Schäden dürfte im unmittelbaren Verhältnis zwischen Täterinnen und Opfern eine weitere bewältigungsbedürftige Dimension der Tat bestehen, wie sie sich etwa im Wunsch des Tatopfers nach einer unmittel­ baren persönlichen Konfliktbearbeitung mit der Täterin oder nach einer aufrichtigen persönlichen Entschuldigung ausdrücken kann. Beispielsweise will Carolin

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I. Kap.: Einführung

Emcke, die Patentochter des am 30.  November 1989 ermordeten Sprechers der Deutschen Bank Alfred Herrhausen, die lückenlose Aufklärung der RAF-Morde durch die Täter und die Geschichte der Täter. Sie möchte deren Beweggründe wissen und nachfragen können  – damit „die Phantasie aufhören [kann], mich zu quälen“.1 Für das Erzählen der Geschichte sollen die Täter aus dem Gefängnis entlassen werden, denen, die noch nicht verurteilt sind und deren Verstrickung durch das Erzählen offenbar würde, sollte Straffreiheit zugesichert sein – als Bedingung für die Möglichkeit der wirklichen Aufklärung der Tat. Zwar bedeutete das Schaffen des Rahmens für den Dialog noch keine Versöhnung, keine Heilung, keine Gerechtigkeit. Aber nur durch eine Geschichte, die erzählt werden kann, könne das Geschehene begreifbar werden,2 als – so verstehe ich es – eine Bedingung für das Weiter-Leben nach dem Geschehenen mit dem Geschehenen3: „Freiheit gegen Aufklärung. Amnestie für das Ende des Schweigens.“4 An diesem Beispiel wird deutlich, dass mit der Strafe eine Straftat noch nicht insgesamt erledigt ist. Zwar mag sich das Tatopfer durch die Strafe in einem Genugtuungs- oder Ausgleichsbedürfnis befriedigt fühlen, eine unmittelbare Konfrontation im Dialog, wirkliche Reue oder eine aufrichtige Entschuldigung ersetzt sie jedoch nicht. Dementsprechend wurden immer mehr Stimmen laut, die eine Einbeziehung des Opfers in den Bewältigungsprozess einer Straftat forderten.5 Seit Mitte der 1980er Jahre wurden – befördert durch kriminologische Entwicklungen und Diskussionen, zum Beispiel um Konflikttheorien6 und um Entrechtlichung (Delegalization)7, sowie eine breite kriminalpolitische Strömung der sog. Restitutionsbewegung8 – in der Bundesrepublik Deutschland wie in anderen europäischen Ländern, in den USA und Japan wissenschaftlich begleitete praktische Modellversuche zur unmit-



1



2

Carolin Emcke, Stumme Gewalt, S. 51. Carolin Emcke, Stumme Gewalt, S. 49, 61, 97, 101 f. 3 Angelehnt an Klaus-Michael Kodalle, Wendezeiten, S. 57: „Versöhnung macht es möglich, mit der Schuld trotz der Schuld zu leben.“ 4 Carolin Emcke, Stumme Gewalt, S. 61 (im Original hervorgehoben). 5 Vgl. nur Winfried Hassemer / Jan Phillip Reemstma, Verbrechensopfer, insb. S.  159 ff.; Günter Jerouschek, JZ 2000, S. 185 (190 f.); Dieter Rössner, Grundlagen AE-WGM, S. 352; Nils Christie, Conflicts as Property, BritJCrim 17 (1977), S. 1 (S. 1, 2, 3, 8); Michael Kilchling, NStZ 2002, S. 57 (63); Jürgen Bauman u. a., AE-WGM, insb. S. 9 ff.; DJT (Hrsg.), Sitzungs­ berichte 55. DJT, Bd. II, C 194; Heinz Schöch, Gutachten C 59. DJT, insb. C 54 ff.; Detlev Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 121 ff. 6 So Nils Christie, BritJCrim 17 (1977), S.  1 ff.; Michael Kilchling, NStZ 1996, S.  309 (310); Dieter Dölling, JZ 1992, 493 (493 f.). 7 Vgl. Jürgen Baumann u. a., AE-WGM, S.  20 f.; Heinz Schöch, Täter-Opfer-Ausgleich, S. 313; Klaus Sessar, Schadenswiedergutmachung, S. 150 f.; Hans-Jürgen Kerner, Handbuch Mediation, § 33 Rn. 10. 8 Vgl. Jürgen Baumann u. a., AE-WGM, S.  20 f.; Heinz Schöch, Täter-Opfer-Ausgleich, S. 313; Detlev Frehsee, Schadenswiedergutmachung S. 2, 5 f. m. w. N.; Klaus Sessar, Schadenswiedergutmachung, S. 150 f.; Hans-Jürgen Kerner, Handbuch Mediation, § 33 Rn. 10.

1. Ausgangssituation

23

telbaren Konfliktbewältigung zwischen Tätern und Opfern durchgeführt.9 Im deutschen Rechtsraum wird vor allem der Täter-Opfer-Ausgleich (im Folgenden TOA) praktiziert. Er soll Täterinnen und Opfern die Gelegenheit geben, unter Vermittlung eines unparteiischen Dritten den Konflikt, der zu der Straftat führte oder der durch die Straftat verursacht wurde, selbstbestimmt, das heißt auch freiwillig, befriedend zu regeln. Das Verfahren ermöglicht es den Beteiligten, sich persönlich wechselseitig mit ihren Beweggründen und den Wirkungen des Konflikts zu konfrontieren, sich auszusprechen, zu versöhnen und über eine Wiedergut­machung zu einigen. Durch die gelungene Konfliktregelung wird der sozialen Gemeinschaft ein Beispiel für Toleranz und Verständnis gegeben und ein Abbau von Vorurteilen ermöglicht. Auf diese Weise soll ein gelungener TOA viel eher befriedend wirken als die Bestrafung des Täters.10 Wenn ein TOA als das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen, oder eine Schadenswiedergutmachung erfolgte, kann im Erwachsenenstrafrecht11 seit In-Kraft-Treten des Verbrechensbekämpfungsgesetzes im Jahre 199412 die Strafe gemildert und sogar von ihr abgesehen werden (§ 46a StGB). Um „den Belangen der Opfer von Straftaten stärkeres Gewicht zu verleihen“13, wurden weiterhin eingeführt: das Bemühen um Schadenswiedergutmachung als Kriterium für die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung bei einer über einjährigen bis zweijährigen Freiheitsstrafe (§ 56 II StGB), die Bewährungsauflage bei Freiheitsstrafen, zur Genugtuung für das begangene Unrecht den durch die Tat verursachten Schaden nach Kräften wiedergutzumachen (§ 56b II Nr. 1 StGB), und die Bewährungsauflage bei Geldstrafen, „sich zu bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen oder sonst den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen“ (§ 59a). Bereits zuvor fand „das Verhalten des Täters nach der Tat“ (in strafschärfender wie

9

Vgl. zur internationalen Entwicklung nur den Sammelband Albin Eser u. a. (Hrsg.), Neue Wege der Wiedergutmachung im Strafrecht, Freiburg i. Br. 1992; Heike Jung, ZStW 99 (1987), S. 518 ff. 10 Vgl. TOA-Servicebüro/BAG TOA, TOA-Standards; vgl. auch die Homepage des TOAServicebüros http://www.toa-servicebuero.de/faq (23.3.2010); Hans-Jürgen Kerner, Handbuch Mediation, § 33 Rn. 8, 23, 27, 48; Thomas Trenczek, TOA-Infodienst Nr. 12 (November 2000), S. 5; Thomas Trenczek ZRP 1992, 130 ff.; Heinz Schöch, Gutachten C 59. DJT, C 65 f.; Thomas Hestermann, Verbrechensopfer, S. 185, 186; Bernd-Dieter Meier, GA 1999, S. 1 (3); Lars Oliver Michaelis, JA 2005, S. 828 (828 f., 830 f.). 11 Im Jugendstrafrecht wurde der TOA zunächst durch das erste Jugendgerichtsänderungsgesetz vom 30. August 1990 (BGBl. I S. 1853) als Weisung (Erziehungsmaßregel) eingeführt, legaldefiniert als das Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen. Zuvor konnte bereits gemäß dem Jugendgerichtsgesetz vom 4. August 1953 (BGBl. I S. 752) als Zuchtmittel zur Ahndung der Straftat (§ 15  I Nr.  1,  2  JGG) und als Bewährungsauflage (§ 23 i. V. m. § 15 JGG), die besondere Pflicht auferlegt werden, den Schaden wiedergutzumachen und / oder sich bei dem Verletzten persönlich zu entschuldigen. Schon damals war Entscheidungskriterium für die Aussetzung einer Jugendstrafe zur Bewährung das Verhalten nach der Tat (§ 21 JGG). 12 Vom 28. Oktober 1994, BGBl. I S. 3186 (in Kraft seit 1. Dezember 1994). 13 So zunächst zur Problemstellung des Gesetzesentwurfes, vgl. BT-Drs. 12/6853, S. 1 (vgl. auch S. 21–23); in der ausführlichen Begründung werden auf S. 21 auch auf den Täter bezogene spezialpräventive Erwägungen deutlich.

24

I. Kap.: Einführung

strafmildernder Hinsicht) im Rahmen der Strafzumessung (§ 46 II 6. Alt. StGB)14 und als Kriterium für die Entscheidung zur Aussetzung einer nicht mehr als einjährigen Freiheitsstrafe zur Bewährung (heute: § 56 I StGB)15 Beachtung. Im geltenden Erwachsenenstrafrecht können sich die Durchführung eines TOA oder andere Ausgleichsbemühungen des Täters also auf die Strafe auswirken, genauer darauf, ob sie verhängt wird oder ob sie in voller Höhe verhängt wird und ob sie zur Bewährung ausgesetzt wird. Dies scheint im ersten Zugriff sinnvoll zu sein – das Strafverfahren bleibt als staatlicher Bewältigungsprozess grundsätzlich bestehen und wird durch die unmittelbare Tatbewältigung zwischen Täter und Opfer ergänzt. Bei näherem Hin­ sehen zeigen sich jedoch verschiedene Probleme: Könnte es nicht ausreichend sein, wenn die Tat zwischen Täterin und Opfer geklärt ist, so dass das Strafen jedenfalls im Falle eines geglückten TOA entbehrlich ist? Wäre hier nicht zudem ein freierer und offenerer Kommunikationsprozess möglich als unter den Bedingungen eines formalisierten staatlichen Zwangsverfahrens, der eine wirkliche Aufklärung der Tat und ihrer Hintergründe befördern könnte? Woran bemisst sich aber, ob die unmittelbare Tatbewältigung gelungen ist? Und: darf die unmittelbare Bewältigung schweren Unrechts wirklich in die Disposition von Täter und Opfer gestellt werden? Hat nicht auch die staatliche Gemeinschaft ein berechtigtes Interesse an der Sanktionierung einer Straftat? Sollte der unmittelbare Tatausgleich also besser neben der Strafe durchgeführt werden, und wie sollten sich beide Bewältigungsformen genauer zu einander verhalten? Soll zum Beispiel ein TOA strafmildernd wirken, obwohl er das unmittelbare Verhältnis zwischen Täter und Opfer und nicht das Verhältnis zwischen Täter und Staat betrifft? Soll es für eine Strafmilderung auf einen gelungenen TOA ankommen oder reicht schon ein Bemühen des Täters darum? Wenn es auf ein Mitwirken des Opfers ankäme, hätte dann nicht das Tatopfer den Täter „in der Hand“, indem es sich dem TOA einfach widersetzt, damit der Täter überhaupt oder härter bestraft wird? Kann es andererseits nicht nachvollziehbar sein, wenn ein Tatopfer die unmittelbare Konfrontation mit der Täterin ablehnt? Sollten also beide Bewältigungsformen eher streng vonein­ ander getrennt werden?

14 Durch das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts (2. StrRG) vom 4. Juli 1969, BGBl. I S. 717 (in Kraft seit 1. Oktober 1969). § 46 II 6. Alt. wurde durch das Opferschutzgesetz vom 18. Dezember 2003, BGBl. I S. 2496 (in Kraft seit 1. April 1987) um die Worte „sowie das Bemühen des Täters einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen“ ergänzt. 15 Bekanntmachung des Wortlautes des Strafgesetzbuches vom 25. August 1953 (in Kraft seit 1. Januar 1954), BGBl. I S. 1083 ff., dort § 23 II.

25

2. Fragestellung und Verortung im Forschungsfeld

2. Fragestellung und Verortung im Forschungsfeld Um all diese Fragen beantworten zu können, ist es notwendig zu klären, was der vernünftige Sinn des Strafens und des TOA ist und wie sich beide Formen der Tatbewältigung dementsprechend zueinander verhalten sollten. Diese Fragestellung ist Gegenstand einer intensiven strafrechtswissenschaft­ lichen Debatte (vor allem der 1990er Jahre), die sich nicht nur auf das Verhältnis von Strafe und TOA, sondern auch auf das Verhältnis von Strafe und Wiedergutmachung bezieht. Der Begriff der Wiedergutmachung kann dabei neben Formen des unmittelbar-persönlichen Schadensausgleichs zwischen Täter und Opfer, zu denen der TOA und die Schadenswiedergutmachung gehören16, auch symbolische Formen des Tatausgleichs wie gemeinnützige Arbeit17 umfassen. Es kann aber auch die Strafe als Wiedergutmachung der Tat in einem umfassenden Sinne verstanden werden.18 Die vertretenen Positionen lassen sich vier  – idealtypisch gebündelten – Strömungen zuordnen,19 wobei die Bestimmung des Verhältnisses von Strafe und Wiedergutmachung davon abhängig ist, wie diese beiden Begriffe jeweils gefasst werden: Positionen zur Wiedergutmachung (Wgm.) im Verhältnis zur Strafe

1. Wgm. als rechtliches Institut statt Strafe

2. Wgm. als Strafe

3. Wgm. als strafrechtliche Sanktion neben Strafe

4. Strafe, Wgm. ist keine strafrechtliche Sanktion (zivilrechtlich oder nicht rechtlich)

Abolitionistische Standpunkte (1.) gehen davon aus, dass die Strafe nicht legitimierbar ist, weil sie reale soziale Konflikte, wie sie auch Ausdruck von Straf­ taten sind, nicht lösen können. Strafe sollte deshalb durch alternative Formen der realen Bewältigung von Konflikten zwischen den unmittelbaren Beteiligten, also zwischen Täter und Opfer, und durch wirksame Maßnahmen zur Verhinderung

16

So etwa Detlev Frehsee, Schadenswiedergutmachung, 1987, S. 6 ff.; Christian Laue, Symbolische Wiedergutmachung, S. 45, 52 ff.; vgl. auch Heinz Müller-Dietz, Wiedergutmachung, 1992, S. 355 (358 f.); Jürgen Baumann u. a., AE-WGM, §§ 1, 2 I Nr. 1–4. 17 So etwa Jürgen Baumann u. a., AE-WGM, § 1 I 3; Christian Laue, Symbolische Wiedergutmachung, S. 57 ff. 18 Vgl. etwa Kurt Seelmann, ZfevEth 25 (1981), S. 44 (53, 55); einen Überblick über Theorien zur Wiedergutmachung als dem Strafen zugrunde liegenden Prinzip geben Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S. 159 ff. und Detlev Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 48 ff. 19 Im Ansatz ähnlich systematisiert Heinz Müller-Dietz, Wiedergutmachung, S. 360 ff.

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I. Kap.: Einführung

von Straftaten ersetzt werden.20 Andere betrachten den TOA oder die unmittelbare Wiedergutmachung als Strafe (2.). Sie definieren Strafe meist so, dass die begrifflichen Merkmale der Wiedergutmachung unter die Merkmale des Strafbegriffs fallen. Mit der Strafe soll dann der Rechtsfrieden insgesamt – bezogen auf die Verletzung der Gemeinschaft und des einzelnen Opfers – wiederhergestellt werden. Die umfassende Wiedergutmachung der Tat wird dann entweder zum Ziel des Strafrechts, das heißt sie wird selbst zum Strafzweck,21 oder es wird davon ausgegangen, dass sie die herkömmlichen Zwecke des Strafens erfüllt.22 Andere meinen, dass die Wiedergutmachung eine eigenständige Sanktion ist, die als „dritte Spur“ neben der Strafe oder dieser vorrangig in das Recht der Bewältigung einer Straftat integriert wird (3.). Wiedergutmachung ist demnach keine Strafe, erfüllt aber wichtige Funktionen des Strafrechts, die teilweise neu bestimmt werden. Der treffende Begriff für das Strafrecht wäre dann Kriminalrecht, da Strafe nicht mehr der Oberbegriff der Sanktionen für kriminelle Taten ist.23 Innerhalb der vierten Strömung wird vertreten, dass die Wiedergutmachung keine strafrechtlichen Sanktionen erfassen kann, da die Strafe einen eigenen, nicht durch unmittelbare Ausgleichshandlungen im Verhältnis Täter-Opfer erfüllbaren Sinn hat und sich die unmittelbar-persönliche Wiedergutmachung der Tat als Aufarbeitung des Konflikts jenseits des Schadensausgleichs nicht erzwingen lässt (4.).24

20

Vgl. Arno Plack, Abschaffung, S. 380 ff.; vgl. in der Tendenz auch Michael Walter, Theoretische Perspektiven, S. 63, aber auch 69 f.; zum Überblick vgl. Detlev Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 193 ff.; vgl. zur Kritik des Abolitionismus am Bsp. des Standpunktes von Arno Plack im IV. Kapitel unter 3. b) cc) und zum vernünftigen Sinn des Strafens im IV. Kapitel unter 3. c). 21 Vgl. zu dieser Konstruktion Kurt Seelmann, ZfevEth, 25 (1989), S. 44 (53 f.); vgl. auch Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S.  245 ff., der Wiedergutmachung insofern mit der Strafe gleichsetzt, als die Geldstrafe dem Opfer zugute kommen und die „Genugtuungsentschädigung als ein Bestandteil des Schmerzensgeldes zu einer strafrechtlichen Sanktion transformiert“ werden soll (S. 246 f. im Original hervorgehoben). 22 Vgl. Thomas Weigend, Wiedergutmachung, S.  987 ff.; Kurt Seelmann, JZ 1989, S.  671 (676 f.); vgl. auch Klaus Sessar, Schadenswiedergutmachung, S.  152 ff., 159, wobei unklar bleibt, ob er die Wiedergutmachung als Strafe oder als sonstige negative Sanktion, die Strafe ersetzen kann, betrachtet. 23 Vgl. Claus Roxin, Wiedergutmachung im System, S.  41, 50 ff.; Claus Roxin, Wiedergutmachung als dritte Spur, S.  243 f.; ähnlich Heinz Schöch, Gutachten C zum 59. DJT, insb. C 63 ff.; Jürgen Baumann u. a., AE-WGM, S. 23 ff.; hierzu Dieter Rössner, Grundlagen AE-WGM, S. 353 ff.; Dieter Rössner, NStZ 1992, S. 409 (411 ff.); Susanne Walther, Realkonflikt, S. 281 ff., 421 f.; Detlev Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 82 f., 119; Nils Christie, BritJCrim 1977, 1 ff. Die Position Christies lässt sich durchaus auch in das Theoriebündel „Abschaffung des Strafens“ zugunsten einer wirklichen Konfliktlösung einordnen, da die unmittelbare Konfliktbewältigung zwischen Täter und Opfer betont und diese gegenüber dem Strafen durch die als unmittelbar involviert geltende Nachbarschaft (vgl. S. 10) vorrangig ist. Allerdings bleibt es so zumindest subsidiär bei der Möglichkeit des Strafens im Hintergrund der Konfliktlösung. 24 Vgl. Hans Joachim Hirsch, ZStW 102 (1990), S. 534 (538, 544 ff.); Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 37, 53, 613 f., 670; Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (526, 527 f.); grundsätzlich auch Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S. 246, 253 ff.

2. Fragestellung und Verortung im Forschungsfeld

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Im Folgenden soll vor dem Hintergrund und als Beitrag zu dieser Debatte philosophisch fundiert untersucht werden, wie das Verhältnis von Strafe und TOA zu bestimmen ist. Dabei beschränke ich mich exemplarisch auf eine Analyse des TOA, da dieser innerhalb der Formen der unmittelbar-persönlichen Wiedergutmachung als selbstbestimmt-freiwillige Konfliktregelung Täter und Opfer persönlich sehr stark einbindet und damit im stärksten Gegensatz zur Strafe als einer einseitig festgestellten und durch Zwang durchsetzbaren staatlichen Sanktion als Reaktion auf die Straftat steht. Die Entwicklung eines philosophisch fundierten Standpunktes tut Not, weil es in der Debatte um das Verhältnis von Strafe und Wiedergutmachung häufig überhaupt an einer differenzierten kritischen Hinterfragung des vernünftigen Sinns von Strafe und Wiedergutmachung fehlt und weil die philosophisch fundierten Standpunkte den TOA nicht hinreichend erfassen: Zwar entwickelt Kurt Seelmann ein rechtsphilosophisches Modell des Anerkennungsgeflechts, um die unmittelbar-persönliche Wiedergutmachung als Teil  der Wiederherstellung des Anerkennungsverhältnisses nach einer Straftat, die herkömmlich durch Strafe bewirkt wird, zu verstehen25, er formt dieses aber nicht näher und auch nicht im Hinblick auf den TOA aus. Michael Köhler und Bettina Noltenius entwickeln bzw. vertreten zwar einen komplexen differenziert-kritischen Begriff der Strafe, können aber mit ihrem rechtsphilosophischen Instrumentarium den TOA nicht positiv-begrifflich erfassen. Denn das Recht lässt sich für beide nur als zwangsweise durchsetzbare Regelungen äußerer Freiheitsbereiche verstehen, so dass sie zwar ein Verständnis der Strafe als rechtlichen und zwangsweise durchsetzbaren Zugriff auf äußere Willkürbereiche der Person entwickeln, den TOA als „Tatreaktion“ aber nur negativ-abgrenzend erfassen. Sie stellen lediglich fest, dass der TOA rechtlich nicht erzwungen werden kann, weil er auf freiwilligem Verhalten von Täter und Opfer beruht, so dass er keine zwangsrechtlich durchsetzbare Tatreaktion ist.26 Sie treffen keine Aussage dazu, wie der TOA überhaupt als Form der Bewältigung einer Straftat zu verstehen ist und wie er möglicherweise rechtlich geregelt werden kann, ohne eine rechtliche Sanktion zur Straftatbewältigung zu sein. Das aber ist ein wichtiges Anliegen, da die Strafe als einseitig-feststellender und zwangsweise durchsetzbarer Akt die unmittelbar-persönliche Aufarbeitung der Tat zwischen Täterin und Opfer nicht leisten kann. Die wirklich persönliche Aufarbeitung der Tat als unumkehrbar Geschehenes ist aber wesentlich für das Weiterleben von Täterin und Opfer als Selbstständige und voneinander Abhängige trotz und mit27 der Tat, wie die Rede Emckes von der „stummen Gewalt“28 eindrücklich zeigt: Strafe wird immer nur einseitig-feststellend auf einer symbolisch-abstrakten Ebene für die Bewältigung der Tat stehen können. Das, was nach der Tat die „stumme Gewalt“ zwischen Täter und Opfer ausmacht, lässt sich letzt

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26

Vgl. Kurt Seelmann, JZ 1989, S. 671 (676 f.). Vgl. Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 53, 614, 670; Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (526, 527 f.). 27 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Wendezeiten, S. 57: „Versöhnung macht es möglich, mit der Schuld trotz der Schuld zu leben.“ 28 Vgl. das diesem Buch vorangestellte Zitat und in diesem Kapitel oben unter 1.

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I. Kap.: Einführung

lich nur durch die persönlich-authentische Kommunikation zwischen beiden bewältigen. Das Recht könnte durch die Absicherung dieses Prozesses einen Beitrag dazu leisten. Es bedarf also eines praktisch-philosophischen Konzepts, mit dem sich einerseits Täter und Opfer in ihrer Selbstständigkeit und in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit erfassen lassen und mit dem sich andererseits ein Verständnis des Rechts entwickeln lässt, das sich nicht auf das Recht als zwangsweise durchsetzbare Regelungen beschränkt. Dies gelingt mit einem holistischen strikt lebensweltlichen Verständnis der „Konstitution der Moralität“ wie es Thomas Rentsch in seiner Habilitation29 erläutert: Er beschreibt die Verfasstheit unserer Moralität anhand der Möglichkeitsbedingungen oder Grundzüge unserer gemeinsamen Welt, mit denen er zugleich normative Kriterien zur Beurteilung der Gestalten unseres gemeinsamen Lebens als gelungen oder nicht gelungen (Rationalitätskriterien) expliziert. Unter anderem erläutert er als unabdingbare Grundzüge unserer Welt unsere Existenz in der Interexistenz als praktische auf Erfüllung gerichtete Sinngestalten, die in ihrer Entfaltung als Selbstständige wechselseitig aufeinander angewiesen sind, so dass sich Straftat, Strafe und TOA als Formen unserer gemeinsamen Praxis unter anderem im Hinblick auf die Selbstständigkeit und wechselseitige Abhängigkeit als Grundzüge unserer Welt vernünftig-kritisch verstehen lassen. Da Rentschs Ansatz holistisch auf die Erfassung der Ganzheit der Welt und der Situationen in ihr gerichtet ist, lassen sich zudem die rechtlich geprägten praktischen Formen, nicht nur beschränkt auf ihre zwangsrechtliche Dimension, sondern umfassender und differenzierter in den Blick nehmen.30 Es wurde nicht nur möglich, den TOA als Praxisform, die institutionell rechtlich abgesichert werden kann, zu verstehen.31 Im Laufe der Untersuchung entfaltete sich zudem ein gegenüber dem vernunftrecht­ lichen Rechtsbegriff vertieftes Verständnis des Interexistentials des Rechts hinsichtlich der Absicherung selbstständiger Persönlichkeitsentfaltung unter den Bedingungen wechselseitiger Abhängigkeit und asymmetrischer Verhältnisse. Anhand dessen ließ sich unter anderem die rechtliche Durchdringung des Interexisten­ tials der Straftat differenzierter erläutern.32 Wichtige, auf der Selbstständigkeit des Menschen als Grundzug unserer Existenz beruhende, Erkenntnisse vernunftrechtlicher Strafrechtsphilosophen wie Michael Köhler und Ernst Amadeus Wolff 33 zu 29 Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, 1.  Aufl. 1999 (mit einem Vorwort zur Taschenbuchausgabe, zuvor: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, 1. Aufl. 1990). 30 Näher zum differenzierten Erfassen ganzer Praxisformen im II. Kapitel unter 2. c) kk). 31 Vgl. hierzu im IV. Kapitel unter 4. d) gg) und 5. b) cc) (3). 32 Vgl. zur beispielhaften Analyse des Begriffs des Rechts im II. Kapitel unter 2. c) mm) (2) und 2. d) cc), vgl. zu den vielfältigen rechtlichen Implikationen des Begriffs der Straftat im III. Kapitel unter 2. b) bb) (3), cc), dd). 33 Insbesondere Michael Köhler, Der Begriff der Strafe, Heidelberg 1986; Ernst Amadeus Wolff, Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität, in ZStW 97 (1985), S.  786 ff.; Ernst Amadeus Wolff, Die Abgrenzung von

2. Fragestellung und Verortung im Forschungsfeld

29

Recht und Strafe waren dabei zu integrieren, soweit sie sich methodisch und inhaltlich konsequent einbinden ließen. Zudem konnte das Modell des Anerkennungsgeflechts von Seelmann, das einen Schritt hin auf das Verstehen der Bewältigung einer Straftat jenseits von Strafe darstellt,34 tiefer gehend entfaltet werden. Die Beschreibungen einer schweren missachtenden Verletzung als „stumme Gewalt“ durch Emcke35 haben mein Verstehen der Straftat als auch kommunikativen bedeutungsgetragenen Akt der persönlichen Missachtung des Täters gegenüber dem Opfer vertieft. Anhand der Überlegungen Klaus-Michael Kodalles zum Verzeihen36 konnten die Strafe und der TOA als Versöhnungsprozess als angesichts der unabdingbaren Fehlbarkeit der Menschen fundamentale Formen unserer Praxis verstanden werden, die einen Neubeginn trotz und mit37 einer Straftat vermitteln. Die Überlegungen, mit denen ich den TOA als eine Form der Versöhnung verstehe und erläutere, stellen zudem einen Beitrag zur Philosophie der Versöhnung dar. Der TOA bestätigt sich im Rahmen meiner Überlegungen als nicht unmittelbar rechtlich regelbar, allerdings lässt sich, auch auf der Basis des vertieften Verständnisses des Interexistentials des Rechts, zeigen, inwiefern er rechtlich „umhegt“ werden kann. Das Interexistential des rechtlich umhegten oder umhegbaren Instituts habe ich bei Winfried Hassemer und Jan Philipp Reemtsma38 entlehnt. Die Erläuterungen Rentschs zur Verfasstheit unserer Praxis werden in dieser Untersuchung für die Analyse des Rechts, der Straftat, der Strafe und des TOA als Formen unserer Praxis fruchtbar gemacht. Dabei wird der TOA, soweit ich das überblicke, erstmals vertieft moral- und auch rechtsphilosophisch als eine Form der Versöhnung analysiert. Auf der Basis der philosophisch fundierten Analyse von Strafe und TOA lässt sich abschließend deren Verhältnis differenziert und nicht nur negativ abgrenzend bestimmen. Bei der Bestimmung des vernünftigen Sinns von Strafe und TOA als Reaktion auf eine Straftat und deren Verhältnisses zueinander beschränke ich mich auf das Verstehen der Straftat und deren Bewältigung im materiellen Sinne. Ausgeklammert bleibt also die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem staatlich-förmlichen Verfahren der Ermittlung und Feststellung von Straftaten (Strafprozess oder -verfahren) und TOA.39 Ihre Beantwortung setzt zum einen die Bestimmung des Verhältnisses von Strafe und TOA voraus. Zum anderen würde eine solche Analyse zusätzliche differenzierte Überlegungen zum Sinn des Strafprozesses und zum Verfahren des TOA voraussetzen, die ein eigenständiges wissenschaftliches ForKriminal­unrecht zu anderen Unrechtsformen, in: Winfried Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, Frankfurt a. M. u. a. 1987, S. 137 ff. 34 Vgl. Kurt Seelmann, JZ 1989, S. 671 (676 f.). 35 Vgl. Carolin Emcke, Stumme Gewalt, 2008. 36 Vgl. neben vielen Aufsätzen nur Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen an eine Theorie des Verzeihens, 2006. 37 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Wendezeiten, S. 57: „Versöhnung macht es möglich, mit der Schuld trotz der Schuld zu leben.“ 38 Vgl. Winfried Hassemer / Jan Philipp Reemstma, Verbrechensopfer, S. 168 ff., insb. S. 170. 39 Vgl. aber Fn. 647.

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I. Kap.: Einführung

schungsprojekt für sich in Anspruch nehmen würden. Dabei darf allerdings nicht aus dem Blick geraten, dass sich das Strafen wie der TOA prozesshaft vollziehen. Ich beschränke mich zudem auf die Analyse von Straftaten, bei denen der Täter ein Opfer als Person unmittelbar verletzt, wie bei einer Körperverletzung, einem Diebstahl oder einem Hausfriedensbruch, da es vor allem um den persönlich-unmittelbaren Tatausgleich geht. Es bleiben also die die Einzelnen übergreifenden Delikte, wie Staatsschutz- und Umweltdelikte, außen vor. Auch hier sind Formen eines unmittelbareren Tatausgleichs als der Strafe denkbar, etwa gemeinnützige Leistungen zur Erhaltung eines Naturschutzgebietes. Allerdings geht es hier nicht um den TOA im eigentlichen Sinne und sein Verhältnis zur Strafe, wie es in dieser Arbeit untersucht werden soll. 3. Methode Sobald nach dem Sinn von etwas gefragt wird, kann das Vorgehen nur ein philo­ sophisches sein. Jedwede Praxisform, also auch das Recht, die Strafe und der TOA, ist nicht nur eine faktische Erscheinung des gemeinsamen Lebens in unserer Welt, sondern immer auch sinnhaft und normativ in sie eingebunden. Um sie zu verstehen, können wir die philosophische Frage danach, was der Sinn von Praxisformen ist, ob sie im zwischenmenschlichen Miteinander richtig oder falsch sind, nicht dispensieren. a) Aufgabe der Philosophie nach Thomas Rentsch Die Welt, so wie wir sie wahrnehmen oder erleben und gestalten, ist uns nur als eine menschliche Welt, also aus der Perspektive der Menschen in der gemein­ samen Lebenswelt zugänglich. Zugang zu uns selbst und zu unserer Welt einschließlich der von uns praktizierten Formen haben wir dabei letztlich über das Verstehen, also über das sprachliche Erfassen von Sinn oder Bedeutungen. Auch unmittelbare Leiberfahrungen, wie Gefühle, werden für uns letztlich nur wirklich, indem wir sie in einer gemeinsamen Sprache benennen und damit eine bestimmte Bedeutung verbinden. Mit Rentsch verstehe ich daher unter Philosophieren das gemeinsame diskursive Bemühen darum, uns selbst zu verstehen, also eine methodisch explizit gemachte Aufklärung unserer selbst in der Welt, und zwar hinsichtlich unseres gesamten theoretischen und praktischen Welt- und Selbstverständnisses.40 Philosophische Erkenntnis ist also „gemeinsame Selbsterkenntnis“, die auf eine vernünftige Weltorientierung der Menschen in theoretischer, praktischer und religiöser Hinsicht gerichtet ist.41 Mit Immanuel Kant gesprochen: Wir orientieren uns mittels philosophischer Überlegungen grundlegend in der Welt, in

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Thomas Rentsch, Konstitution, S. II, XI. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 61.

3. Methode

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dem wir auf die Fragen „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“42 eine Antwort suchen. Alle diese Fragen gehen nach diesem Ansatz43 in der vierten Frage Kants „Was ist der Mensch?“44 auf. Um aufzuklären, was der Mensch ist, müssen wir uns die Frage nach der Basis unseres Welt- und Selbstverständnisses stellen. Die Basis dieses Selbstverstehens sind die Bedingungen, aufgrund derer wir selbst uns in unserer Welt verständlich sind oder ohne die wir uns nicht verständlich sein könnten. Die Philosophie fragt also „mit der Kantischen Formel“45 nach den Möglichkeitsbedingungen (oder auch: Sinnbedingungen) unserer selbst in unserer Welt.46 Es geht um die Grundlage unserer Praxis, wobei Praxis unseren gesamten Zugriff auf die Welt umfasst, also auch das theoretische Erkennen. Mit den Sinnbedingungen unserer Praxis werden gleichzeitig Kriterien für unsere praktisch-moralischen Einsichten als Rationalitätskriterien aufgewiesen, da wir uns selbst (wie zu zeigen sein wird) nur als praktischen Selbstentwurf angemessen verstehen können.47 Ziel der Philosophie ist nach Rentsch also der Aufweis der unabdingbaren Möglichkeitsbedingungen der menschlichen Welt, der zugleich der Aufweis dessen ist, worin eine vernünftige Welt- und damit Handlungsorientierung des Menschen besteht, sie ist daher transzendentale Anthropologie in praktischer Absicht.48 Näher kann die Methode des Philosophierens als hermeneutisch, beschreibend, praktisch und transzendental gekennzeichnet werden. b) Methode des Philosophierens nach Thomas Rentsch aa) Hermeneutisch Wir können uns selbst nur in der gemeinsamen menschlichen Lebenswelt und als Teil unserer Praxis verstehen.49 Philosophie als Selbsterkenntnis ist daher immer hermeneutisch, also auf das Verstehen in der Teilnehmerinnenperspektive ausgerichtet. Das heißt einerseits, dass es um ein Verstehen50 und damit Auslegen, Erläutern oder auch Erklären unserer Welt geht. Das heißt andererseits, dass nur wir selbst uns verstehen, also Subjekte des Philosophierens sein können. Wir können

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Vgl. Immanuel Kant, KrV, B 832 f., A 804 f.; ders. Logik, S. 448 (A 25). Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 61. 44 Vgl. Immanuel Kant, Logik, S. 448 (A 25); er spricht davon, dass sich die ersten drei Fragen auf die letzte beziehen. 45 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 62 f. 46 Thomas Rentsch, Konstitution, S. III f., 60 ff. 47 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. XXXIV, 204 f.; hier näher erläutert im II. Kapitel unter 2. c) ii). 48 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 61. 49 Vgl Thomas Rentsch, Konstitution, S. VI, 63, 66. 50 Vgl. zum Grundverständnis des Begriffs „Hermeneutik“ als Verstehen auch Axel Bühler, Hermeneutik, Enzyklopädie Philosophie 1, S. 988.

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I. Kap.: Einführung

uns selbst und unser Verstehen nicht in einem Verhältnis reiner Objektivität quasi von außen mithilfe objektiver Maßstäbe betrachten, wir sind mit einer Metapher von Rentsch gewissermaßen selbst die Kamera, durch die wir die Welt betrachten, wir stehen nicht noch einmal dahinter.51 bb) Beschreibend (phänomenologisch) und praktisch (pragmatisch) Da wir uns immer auf bestimmte Weise vorfinden, bedeutet das Verstehen unserer selbst und unserer Lebenswelt immer auch das Beschreiben dessen, was ist. Die philosophische Betrachtung bleibt dabei aber nicht an der Oberfläche der Erscheinungen. Sie dringt tiefer in die Phänomene ein, indem sie deren Möglichkeitsbedingungen aufklärt.52 Mit Phänomen ist dabei das gemeint, was ist, was also unsere Welt in ihren vielfältigen Formen als komplexe Sinngestalten ausmacht. Da unsere Lebenswelt uns selbst mit umfasst, ohne uns selbst gar nicht denkbar ist, beinhaltet Philosophie auch das Beschreiben unserer selbst in der Lebenswelt. Sie ist insofern anthropologisch. Sie ist aber nicht nur im Sinne des Bezugs auf etwas Vorfindliches anthropologisch, sie ist eine Anthropologie in praktischer Absicht. Denn die Sinnbedingungen unseres Seins sind – wie deren nähere Analyse im II. Kapitel zeigen wird – zugleich Rationalitätskriterien für unser Handeln,53 anhand derer verfehlte und gelungene Erfüllungsgestalten der menschlichen Praxis voneinander unterschieden werden können. Die Philosophie wirkt damit auch handlungsorientierend.54 Bereits hier deutet sich an, dass Sein und Sollen (Faktizität und Normativität) an der Basis unseres Seins verwoben sind. Wir finden uns zum Beispiel faktisch als vor praktische Entscheidungen gestellte Wesen vor, und wir können faktisch der Notwendigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen, nicht entfliehen.55 Es erscheint zunächst als suspekt, dass aus Beschreibungen und Aufweisen praktische Kriterien zur Bewertung von Phänomenen gefiltert werden. Dem wird gewöhnlich mit dem Einwand des naturalistischen Fehlschlusses (oder der notwendigen Trennung von Sein und Sollen) begegnet. Eine Auseinandersetzung damit erfolgt ebenfalls im II. Kapitel der Untersuchung im Rahmen der Explikation der fundamentalen Grundzüge unserer Welt und dem Aufweis von Ratio­ nalitätskriterien anhand von Praxisbeispielen.56



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Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. VI, 63, 66, 172. Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 66. 53 Im II. Kapitel unter 2. b). 54 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 67. 55 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. XVI, XXX, 109. 56 Hierzu im II. Kapitel unter 3.

3. Methode

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cc) Transzendental Als Aufgabe der Philosophie wurde der Aufweis der Sinn- und Möglichkeitsbedingungen unserer Praxis oder unserer selbst in unserer Lebenswelt benannt. Denn wenn es uns gelingt, die Bedingungen der Möglichkeit unseres Seins in der Welt und des sinnhaften Verstehens derselben aufzuzeigen, dann haben wir uns in unserer Welt verstanden. Sinnbedingungen sind also notwendige und unhinter­ gehbare, insofern apriorische Grundzüge unserer Welt, hinter die wir nicht zurückgehen können und über die wir nicht hinauswachsen können. Sinnbedingungen müssen also solche sein, die jede menschliche Situation kennzeichnen.57 Sie können in der Lebenswelt anhand der prinzipiell jeder zugänglichen grundlegenden, existentiellen Lebenserfahrung aufgezeigt werden. Damit sind nicht Erfahrungen gemeint, die experimentell in empirischer Forschung ermittelt werden. Gemeint ist die grundlegende jedem Menschen zugängliche Lebenserfahrung, etwa die, dass wir wissen, dass wir immer zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sind. Es lässt sich insofern auch von „lebensweltlichen Evidenzen“, von Erfahrungen, „die wir in und mit unserem Leben machen“ und die wir in jedem Lebensvollzug voraussetzen, sprechen. Sie bezeichnen das, was wir in all unseren Praxen, alltäglichen oder wissenschaftlichen, als notwendig voraussetzen.58 Die Sinn- und Möglichkeitsbedingungen unserer Existenz sind so Formen oder Züge unserer Welt, die für unsere Orientierung in der Welt konstitutiv sind. In diesem Sinne sind sie transzendental.59 Da wir die Lebenswelt an keiner Stelle verlassen können, können wir diese nicht aus einer Beobachterperspektive, also gleichsam von außen, gereinigt oder frei von jeglicher Vorerfahrung betrachten. Wir arbeiten die Sinnkriterien aus der Teilnehmerperspektive heraus. Das heißt, dass auch diese Tätigkeit „sprachlich verfasst, diskursiv, kulturell und geschichtlich situiert, interessegeleitet“ ist und im „Kontext anderer Unternehmungen ähnlicher Art“60 stattfindet. Das bedeutet, dass die Sinnkriterien nicht als statisch oder überzeitlich gültig verstanden werden können, obwohl sie transzendental sind. Denn wir können die Voraussetzungen unserer Praxis immer nur in ihr und damit in einem konkreten Kontext bestimmter philosophischer Traditionen und in der Abgrenzung zu diesen konstruieren und beziehen uns dabei immer (auch) auf das von uns schon Praktizierte. Wir können etwa das Wort Mensch oder den Sinn menschlichen Umgangs miteinander nicht neu erfinden, wir verstehen beides immer schon in unserer Praxis, und zwar auch normativ-kritisch.61 Wir selbst sind so „interpretierend und mit innovato­rischen

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Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. IV f., 62 f. Thomas Rentsch, Konstitution, S. IV, 64, 89, 109, 137; vgl. auch S. 328: „Aus Erfahrung und notwendig, synthetisch und apriori, in jeder Lebenssituation und von vornherein wissen wir, dass jeder Mensch sich sein Dasein so und nicht anders vorstellt.“ 59 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 65, 63. 60 Thomas Rentsch, Konstitution, S. V. 61 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 196 f.

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I. Kap.: Einführung

Sinnentwürfen an der Um- und Weiterbildung auch unserer Sinnkriterien und praktischen Einsichten beteiligt“, ohne dass deren apriorischer Geltungssinn dabei aufgehoben würde.62 Die Vernunft wird uns dabei innerhalb unserer Auseinandersetzungs- und Erläuterungskultur zugänglich, sie ist nicht auf ein abstraktes Prinzip reduzierbar.63 dd) Aufweis der Grundzüge der Lebenswelt in paradigmatischer Praxisanalyse In der Philosophie arbeiten wir die grundlegenden Bedingungen unserer Weltund Selbsterkenntnis als Rationalitätskriterien zur Bewertung unserer Praxis heraus. Gleichzeitig kann sich die Philosophie nicht aus der Lebenswelt, aus den einzelnen Situationen, in denen wir sind, lösen. Denn sie ist zum einen Teil unserer Praxis, also selbst Praxisform, zum anderen bezieht sie sich immer auf unser Dasein in der Welt. Basis der Philosophie sind daher unsere grundlegenden existentiellen Lebenserfahrungen.64 In der philosophischen Analyse werden diese selbstverständlichen Bedingungen unserer Existenz erinnert, auf sie wird erläuternd hingewiesen, sie werden aufgewiesen oder auch erklärt, entwickelt oder expliziert.65 Mittel des Aufweises können Gedankenexperimente sein. So kann ich mir ein leibloses, sprachloses solipsistisches Subjekt in einer unendlich andauernden Lebenssituation durchaus vorstellen, um mir kontrastierend dazu darüber klar zu werden, was der apriorische Voraussetzungsrahmen meiner Existenz ist, weil im extremen Kontrast das Grundlegende deutlicher zutage tritt.66 Ausgangspunkt der Philosophie des Menschen in der Lebenswelt kann daher kein isoliertes einzelnes und von den Erfahrungen abstrahiertes Subjekt (etwa „das Ich“ oder Descartes’ „Ich denke, also bin ich“) sein, denn als solches finden wir uns nie vor. Ich bin vielmehr, weil ich da bin, weil ich mich als Einheit in der Leipziger Juristenfakultät am Schreibtisch sitzend wahrnehme, nachdenke und schreibe. Dabei kann ich mich als Denkende nicht von meiner Leiblichkeit „abziehen“ (abstrahieren), denn nur in dieser ist mir das Denken möglich usw. Ich leugne damit nicht, dass ich mich selbst verstehe, ich gehe nur davon aus, dass ein angemessenes Verständnis von mir selbst sich nicht auf das Sich-selbst-Verstehen reduzieren lässt. Wir sind immer in ganzen, sprachlich verfassten, praktischen Lebenssituationen, in denen wir darüber hinaus ohne die Existenz der anderen nicht

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Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. V f., 63, 65. Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. VIII f., vgl. zum Interexistential der Vernunft auch im II. Kapitel unter 2. b) cc). 64 Vgl. zum Interexistential der grundlegenden Lebenserfahrung / lebensweltlichen Evidenz in diesem Kapitel eben unter 3. b) cc). 65 Vgl. zur gleichbedeutenden Verwendung dieser Wörter nur Thomas Rentsch, Konstitution, S. III, IX, X, XXXIV, 18, 65. 66 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. V.

3. Methode

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denkbar sind.67 Ausgangspunkt einer Philosophie können daher nur wir selbst mit unseren Erfahrungen in ganzen Lebenssituationen und nicht nur einzelne Aspekte unserer selbst sein: „Diese Welt, in der wir leben und sprechen, existieren und prädizieren, arbeiten und nach dem Sinn unseres Tuns und Lebens fragen, ist die Ebene, auf die sich die Philosophie jederzeit zurückbeziehen lassen muss.“68 Da wir uns in dieser Welt nur in konkreten sprachlich verfassten Verhaltens­ situationen zugänglich sind (ich esse, ich meditiere usw.) können auch nur diese in Beispielen Ausgangspunkt der philosophischen Analyse sein. Um unser Leben, und damit unsere Praxis, in der gemeinsamen Welt weder über- noch unterzu­ bestimmen, müssen wir „es dort aufsuchen, wo es stattfindet“69. Einzelne konkrete praktische Situationen sind in diesem Sinne unverzichtbares „paradigmatisches“ Fundament der Philosophie. Es gilt mit anderen Worten das Primat der paradigmatischen Praxisanalyse. Nur anhand der konkreten Lebenssituationen lassen sich die Möglichkeitsbedingungen unserer selbst in unserer Welt aufweisen. Dies gilt sowohl für die theoretische als auch für die praktisch-moralische Erkenntnis. Denn auch der Sinn von Normen und Prinzipien ist uns nur innerhalb unseres praktischen Miteinanders innerhalb bestimmter Kulturen zugänglich. Die moralisch orientierte Analyse der Grundbedingungen unserer Existenz muss sich daher immer exemplarisch auf vorgängige Praxisformen beziehen.70 Die so ermittelten Grundzüge erweisen sich als Rationalitätskriterien, anhand derer konkrete Gestalten der Praxis als vernünftig oder unvernünftig, moralisch oder unmoralisch beurteilt werden können.71 Auch hier wird wieder die grundlegende, ursprüngliche Verwobenheit von Sein und Sollen deutlich, die suspekt erscheint, weil aus Aspekten vorhandener Praxisformen auf Kriterien zur Bewertung derselben geschlossen wird.72 Mit letztbegründenden Ansätzen hat das Aufweisen der Grundzüge unserer Lebenswelt gemeinsam, dass es sich auf die unhintergehbaren oder transzendentalen Züge unserer Welt bezieht. Es grenzt sich allerdings klar von einem Verständnis von Letztbegründung ab, wonach die unhintergehbaren Bedingungen unserer Existenz als letzter unantastbarer Grund in einem strikt objektiv-allgemeinen, absoluten oder überzeitlichen Sinne begründet oder Sollensanforderungen aus ihnen abgeleitet werden könnten: Erstens sind die unhintergehbaren Sinnbedingungen unserer Existenz der Begründung weder fähig noch bedürftig73, sie werden vielmehr anhand von Beispielen festgestellt, aufgewiesen oder erläutert, weil sie Wissen sind, das uns allen in unserer alltäglichen Lebenserfahrung zugänglich ist



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Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. VIII, 93 f., 61 f., 71, 130 ff. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 62. 69 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 117. 70 Vgl. zum Ganzen Thomas Rentsch, Konstitution, S. XX, 15 ff., 24, 66 f. 71 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 62. 72 Hierzu näher im II. Kapitel unter 3. 73 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 17 f., 59, 65.

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I. Kap.: Einführung

und das wir in jedem Lebensvollzug voraussetzen74. Zweitens können die Grundzüge der Konstitution unserer Welt nicht „letztgültig“ in einem absoluten, überzeitlichen, strikt objektiv-allgemeinen Sinne aufgewiesen werden, da sie immer aus der Perspektive der konkret analysierenden Personen (in letztlich gemein­ samer Anstrengung) reflektiert und erläutert werden. Auch die hier erfolgende Beschreibung wird so keine endgültige sein können.75 Die für unsere Praxis konstitutiven Sinnbedingungen sind drittens kein letzter unantastbarer Grund der Praxis, aus dem konkrete Sollensnormen abgeleitet werden können, weil unsere Praxis keine solche Basis oder einen solchen Grund hat. Sie erwächst vielmehr aus uns selbst, und zwar immer schon im Rahmen einer vorhandenen Praxis, also im Erlernen und Praktizieren von konkreten Praxisformen und deren kritischer Reflexion, die selbst eine Form unserer Praxis ist.76 Das bedeutet nicht, dass wir der vorgängigen Praxis, in die wir hineinwachsen, „ausgeliefert“ sind, denn die Möglichkeit zur kritischen Reflexion und entsprechenden Wandlung der Praxisformen ist ihr immanent.77 Dabei ergibt sich im konkreten Fall die Beantwortung der Frage, was ich tun soll, nicht aus einem von unserer faktisch-normativen Praxis losgelösten idealen Sollenssystem, das wir von einem Standpunkt außerhalb unserer Praxis entwerfen, sondern aus unserem innerhalb unserer Praxis reflektierten Selbst- und Weltverständnis, das die für uns unhintergehbaren Grundzüge unserer Welt ausmacht und in unsere Praxis eingebettet ist. Das bedeutet, dass ich zwar mit Bezug auf die Grundzüge unserer Welt begründen kann, warum etwas getan werden soll oder nicht, dass aber konkrete Sollensnormen weder aus einem letzten Grund ableitbar sind noch im Rahmen eines idealen und insofern aus unserer Welt gelösten Sollenssystems, das als kritischer Maßstab an unsere konkrete faktische Praxis angelegt wird, entwickelt werden können, noch dass sie selbst begründbar wären.78 Allerdings dürften die Methode des Aufweises in paradigmatischer Praxisanalyse und neuere Ansätze der Letztbegründung einiges gemeinsam haben. Beispielsweise erläutert Wolfgang Kuhlmann in seiner transzendentalpragmatischen Untersuchung zur reflexiven Letztbegründung, dass es um den „Aufweis der Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit sinnvoller Argumente“ und „aufweisende Begründung“ gehe79 und dass die Letztbegründung auch der „historisch variable[n] Perspektivität“ und dem Fallibilismus, also der Einsicht in die Fehlbarkeit des menschlichen Erkennens, gerecht werden müsse.80 Um aufzuzeigen, was unhintergehbar ist, nimmt Kuhlmann zudem auf eine, wenn auch sehr

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Vgl. hierzu in diesem Kapitel unter 3. b) cc). Vgl. hierzu in diesem Kapitel oben unter 3. b) cc). 76 Klarstellung durch Thomas Rentsch in seinem Oberseminar am 3. Juli 2009 in Dresden, in dem ich mein Dissertationsprojekt vorgestellt habe (anhand meines Fazits dazu, S. 1 f., 3 f.). 77 Hierzu näher im II. Kapitel unter 2. a) und c) ii) (1). 78 Klarstellung durch Thomas Rentsch in seinem Oberseminar am 3. Juli 2009 in Dresden, in dem ich mein Dissertationsprojekt vorgestellt habe (anhand meines Fazits dazu, S. 4). 79 Wolfgang Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung, S. 21 und 22 (Hervorhebungen von mir, im Original auf „Argumente“ gesetzt). 80 Wolfgang Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung, S. 20.

3. Methode

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abstrakt-allgemein beschriebene, Situation eines Sprechers Bezug.81 Diese Situation ist uns aber nur vorstellbar, weil wir die vielen konkreten Kommunikationssituationen kennen, in denen wir uns alltäglich bewegen, sie gründet also letztlich auf konkreten Beispielerfahrungen. Abschließend kann festgehalten werden, dass sich der hier verfolgte Ansatz ebenso wie Ansätze der Letztbegründung auf unhintergehbare Bedingungen beziehen. Die Vorgehensweise, wie diese erläutert werden, ist jedenfalls genauer und treffender mit Aufweis in paradigmatischer Praxisanalyse benannt und in den Einzelheiten ausgeführt. c) Philosophische Analyse von Praxisformen oder Interexistentialanalyse Im letzten Abschnitt habe ich aufgezeigt, dass die Grundzüge oder Sinn- und Möglichkeitsbedingungen unserer Welt aufgewiesen, festgestellt oder erläutert werden können. Da die Grundzüge zugleich Rationalitätskriterien zur Beurteilung unseres Verhaltens sind, können mit ihrer Hilfe auch konkrete Formen unserer Praxis philosophisch analysiert werden. Im Rahmen einer solchen Analyse wird die Bedeutung der Praxisformen in der gemeinsamen Welt erläutert und im Hinblick auf bestehende Deutungsversuche kritisiert. Dabei gewinnen auch begründende Elemente an Bedeutung, indem gezeigt wird, warum eine bestimmte Sinndeutung im Hinblick auf die Grundzüge der Lebenswelt vernünftig ist oder nicht. Formen unserer Praxis sind alle diejenigen Gestalten unserer Wirklichkeit, die durch unser Verhalten geprägt sind. Da unser Zugriff auf die Welt überhaupt durch unser Verhalten geprägt ist, sind unser ganzes Weltverständnis und seine Ausformungen in den vielfältigen Teilpraxen Formen unserer Praxis. Die Aufgliederung in theoretisches und praktisches Erkennen ist also eine analytische Trennung innerhalb unserer Praxis und selbst schon Ausdruck unserer Praxis. Zu den Praxisformen gehören etwa die empirische Forschung, handwerkliche Betätigungen, Freundschaften, literaturtheoretische Analysen, moralische Debatten oder die Anwendung von Technologien, aber auch scheinbar banale Dinge wie das Essen. Sie können lokal oder auch übergreifend ausgeprägt sein; so ist eine Freundschaft zwischen konkreten Menschen eine lokale Gestalt, die auch von einem übergreifenden Begriff der Freundschaft, der ebenfalls eine Form unserer Praxis ist, geprägt wird.82 Die Praxisformen können auch als kommunikative Interexistentiale bezeichnet werden. Das heißt, sie sind sprachlich getragene Formen unserer Wirk-

81 Wolfgang Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung, S.  23: „Wenn ich (der Sprecher) mit etwas (der Proposition) etwas (Prädikat) […] einen Geltungsanspruch (etwa der Wahrheit) erhebe, und zwar zunächst gegenüber der realen Kommunikationsgemeinschaft (bzw. deren Vertretern, die die gegenwärtige Gesprächssituation mitkonstituieren), […].“ 82 Vgl. insgesamt zu den Teilpraxen und ihrem Verhältnis zu den Sinnbedingungen unserer Welt Thomas Rentsch, Konstitution, S. II f., X, XI, 61 ff.

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I. Kap.: Einführung

lichkeit (und damit zugleich unserer Praxis).83 Insofern lässt sich bei der Analyse konkreter Praxisformen auch von einer Interexistentialanalyse sprechen. Zu den Teilpraxen gehören auch rechtliche Praxen wie konkrete Gesetze, deren Anwendung durch Richterinnen, Rechtsanwälte, Verwaltungsbeamte und andere Akteurinnen sowie die politische und wissenschaftliche Diskussion über Regelungsbedürfnisse, Gesetzesentwürfe und erlassenes Recht. Auch die rechtlichen Teilpraxen können die philosophisch aufweisbaren Sinn- und Möglichkeitsbedingungen unserer Existenz, ihre Basis, nicht verlassen, sind also als vernünftig oder unvernünftig kritisierbar.84 Diese Kritik kann sich auf geltende Gesetze, Vorschläge zu deren Interpretation, deren Anwendung und auf Vorschläge zu recht­ lichen Regelungen beziehen. Mittels dieser Kritik können auch eigene Vorschläge zum Verständnis von Praxisformen wie Strafe und TOA und darauf basierende Regelungsentwürfe entwickelt werden. Bezogen auf das geltende Recht wird meine Analyse daher die kritische Funktion erfüllen, die sich normalerweise mit dem Begriff der „vorpositiven Begründung“ des Rechts oder spezifischer rechtlicher Praxisformen verbindet. Damit ist meist gemeint, dass ein vom geltenden Recht unabhängiger Maßstab entwickelt werden müsse, anhand dessen dieses dann kritisiert werden kann.85 Das Recht soll also außerhalb der Praxisform Recht begründet werden, ähnlich wie die Moralität außerhalb unserer Praxis letztbegründet werden soll. Allerdings sind auch rechtlich-kritische Sinndeutungen in Rechtspraxen eingebettet, und die Rechtspraxen werden schon immer durch rechtlich-kritische Sinndeutungen geprägt. So ist das positive Recht nicht einfach eine faktische Gestalt, sondern von bestimmten, im besten Falle kritisch durchdachten, vernünftigen Beweggründen normativ motiviert. Die Rede vom Vorpositiven als einem einer bestimmten Praxis Vorausliegenden hat insofern keinen Sinn. Allerdings können vernünftige Gründe für eine bestimmte, auch rechtliche Praxisform angegeben werden, wenn sie den Grundzügen unserer Welt entspricht, und zwar unabhängig davon, ob sie geltendes Gesetz, ein Urteil oder ein Regelungsvorschlag ist. Meine Analyse versteht sich in diesem Rahmen als ein Vorschlag, wie kriminelle Verletzungen und ihre Bewältigung auf der Basis der Möglichkeitsbedingungen unserer Lebenswelt vernünftig verstanden und beurteilt werden können. Als solche ist sie ein Beitrag im Diskurs um die Bedeutung von kriminellen Verletzungen in unserer gemeinsamen Existenz und die Möglichkeiten, diese zu bewältigen. 83 Vgl. näher zum Begriff des kommunikativen Interexistentials nach Thomas Rentsch im II. Kapitel unter 2. c) ii) (6). 84 Vgl. konkret zum Angewiesensein juristischer Diskurse auf geklärte anthropologischpraktische Grundbegriffe, Einsichten und Urteile Thomas Rentsch, Konstitution, S. 215. 85 Michael Köhler, Strafe, S. 5 f., schreibt, dass eine wirkliche Straftheorie beanspruche, für das Strafrecht in seiner Gesamtheit Gründe zu definieren, sie habe notwendigerweise eine vorpositive Qualität. Wenn dies so verstanden wird, dass eine Straftheorie kritisch sein müsse, also die Strafpraxis darauf hin zu untersuchen ist, wie sie vernünftig begründet werden kann, ist dem zuzustimmen. Allerdings hat dies keine „vorpositive“, von der Strafpraxis abtrennbare und ihr vorausliegende Qualität. Die Kriterien der Kritik sind der Praxis immanent.

3. Methode

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Dabei nehme ich in der holistischen Perspektive die Straftat in einem umfassenderen, also nicht nur auf die Strafe als Zwangsrecht bezogenen Sinn in den Blick. Auf diese Weise lässt sich meine Untersuchung auch nicht als rein rechtsphilosophische verstehen. Vielmehr wird sich zeigen, dass die Straftat verschiedene Dimensionen aufweist, die mehr oder weniger und auf unterschiedliche Weise rechtlich mitgeformt sind. Meine Überlegungen werden so allgemein moralphilosophischer und rechtsphilosophischer Art sein und lassen sich beiden Forschungsbereichen zuordnen. Die Philosophie erläutert zwar Kriterien zur Beurteilung unserer Praxis, aber auch sie kann sich nicht aus unserer Lebenswelt lösen. Denn sie ist, wie jedes menschliche Verhalten, Teil  unserer Praxis, also selbst Praxisform, und sie bezieht sich immer auf unser Dasein in der Welt, also auf andere Praxisformen, und muss auf deren vorgängige Sinndeutungen zurückgreifen (Vorgängigkeit der Praxis). Auch eine philosophische Untersuchung bedarf deshalb des Rückgriffs auf die Praxis – in diesem Fall auf die Praxis der Straftaten, des TOA und der Strafe in unserer Rechtsgemeinschaft –, die uns zudem nie total, sondern immer nur in Beispielen zugänglich ist. Die Analyse von Straftat, Strafe und TOA muss daher jeweils in einem ersten Schritt von einer paradigmatischen Beschreibung der Praxis der Straftat, des Strafens und des TOA ausgehen. Der diesen Praxisformen zugrunde liegende Begriff der recht­lichen Praxis wird dabei in einem umfassenden Sinn verstanden, er bezieht etwa die Rechtsanwendung durch die Gerichte, die rechtswissenschaftliche Diskussion und die faktische Anerkennung des Rechts mit ein. Dies alles sind Aspekte, die die rechtliche Praxis insgesamt prägen, so lässt sich die Praxis des konkreten Strafvollzugs nicht von ihren gesetzlichen Grundlagen und von den rechtswissenschaft­lichen (z. B. kriminologischen oder rechtsphilosophischen) Sinndeutungen trennen, und auch der Begriff der Straftat ist nicht unabhängig von dem, was in einer Gesellschaft als strafwürdiges Unrecht angesehen wird. Die Sinndeutungen, also die Ansätze zur Bestimmung des vernünftigen Gehalts der Praxisformen, haben allerdings eine besondere Bedeutung, da sie normativ oder handlungsorientierend wirken. Sie prägen zudem mein eigenes Verständnis der untersuchten Praxisformen mit, ich kann als Philosophin nicht gleichsam von außen einen Begriff etwa der Strafe im leeren Raum erfinden. In einem zweiten Schritt sind daher im Rahmen der Interexistentialanalyse die vorfindlichen wissenschaftlichen Sinndeutungen der Straftat, der Strafe und des TOA darzustellen, um sie vollends zu beschreiben. In einem dritten Schritt kann schließlich die kritische Auseinandersetzung mit Praxisformen einschließlich ihrer Sinndeutungen im Rückgriff auf die Grundzüge der Lebenswelt erfolgen.

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I. Kap.: Einführung

4. Gang der Untersuchung Ausgangspunkt meiner Untersuchung ist die Frage, wie sich Strafe und TOA als Formen der Bewältigung von Straftaten vernünftig verstehen lassen und wie sich beide Formen der Tatbewältigung zueinander verhalten. Um sie beantworten zu können, sind im Wege der Interexistentialanalyse ein vernünftiges Verständnis der Straftat sowie von Strafe und TOA als Formen ihrer Bewältigung anhand von Beispielen zu erläutern. Hierzu ist zunächst zu erläutern, wie wir uns und unsere Welt vernünftig verstehen und was die Kriterien zur Beurteilung der Praxisformen sind, indem im II. Kapitel die Sinn- und Möglichkeitsbedingungen unserer Existenz in der Welt aufgezeigt werden. Damit wird die Grundsituation unseres Miteinanders, in der Straftaten als Formen unserer Praxis begangen und bewältigt werden, erklärt. Die Sinnbedingungen unserer Existenz sind in unsere Praxis eingewoben, treten uns gewissermaßen aus dieser entgegen und fungieren zugleich als Rationalitätskriterien für die Beurteilung der gemeinsamen Wirklichkeit, indem sie es ermöglichen, vernünftige von unvernünftigen, gelungene von misslungenen Gestalten unserer Praxis, also etwa ein richtiges oder ein falsches Verständnis des TOA voneinander zu unterscheiden. Zu thematisieren ist dabei, wie Faktizität und Normativität an der Basis unserer Existenz verflochten sind und inwiefern eine Trennung zwischen Sein und Sollen dennoch sinnvoll ist. Dies alles wird anhand vieler Beispiele, insbesondere am Beispiel des Rechts als Praxisform86 erläutert. Da ich rechtsphilosophisch vor allem von vernunftrechtlichen Perspektiven und deren Verständnis unserer Praxis geprägt bin und mich mit ihnen im Rahmen dieser Untersuchung intensiv auseinandergesetzt habe, werde ich immer wieder kritisch auf sie Bezug nehmen. Auf der Basis der aufgezeigten Bedingungen für ein vernünftiges Selbst- und Weltverständnis ist anschließend im Wege der Interexistentialanalyse87 zu erläutern, wie Strafe und TOA als vernünftige Formen der Praxis der Bewältigung von Straftaten begriffen werden können. Hierzu wird im III. Kapitel zunächst geklärt werden, was eine Straftat ist, also wie der Begriff vernünftig und umfassender auch hinsichtlich der unmittelbar-persönlichen Ebene zwischen Täterin und Opfer verstanden werden kann. Nur im Wissen um diese Bedeutung kann deutlich werden, was durch eine Bewältigung solcher Verletzungen geleistet wird und zu leisten ist. Im IV. Kapitel wird schließlich erläutert werden können, wie die Bewältigungsformen Strafe und TOA sinnvoll verstanden werden können, etwa warum ein TOA nur freiwillig erfolgen kann und inwiefern er rechtlich regelbar ist. Zudem wird geklärt, in welchem Verhältnis beide Bewältigungsformen zueinander stehen, ob

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Im II. Kapitel unter 2. c) mm) (2) und d) cc). In diesem Kapitel unter 3. d).

4. Gang der Untersuchung

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also der TOA eine Strafe ersetzen oder strafmildernd wirken kann oder ob beide Formen streng getrennt voneinander praktiziert werden sollten. Im Rahmen dieser Betrachtungen wird beispielhaft § 46a Nr. 1 StGB und seine Anwendung durch die Gerichte kritisch gewürdigt, auch um konkret die Relevanz differenzierter moralund rechtsphilosophischer Überlegungen für die Rechtspraxis aufzuzeigen. Abschließend werden im V. Kapitel die Erträge der Arbeit innerhalb des Forschungsfeldes zusammengefasst und ihr Gang in Thesen nachvollzogen.

II. Kapitel

Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen In dieser Untersuchung soll der vernünftige Sinn von Strafe und TOA als Formen unserer Praxis zur Bewältigung von Straftaten geklärt werden. Dafür ist zu erläutern, wie menschliches Verhalten beurteilt wird oder moralisch zu bewerten ist. Ein äußerst einflussreiches Verfahren für die Prüfung von Handlungsprinzipien auf ihre moralische Verbindlichkeit hin hat Immanuel Kant mit dem kategorischen Imperativ begründet. Dieser soll zunächst erläutert und kritisiert werden. Aus der Kritik dieses Verfahrens heraus wird im Anschluss die Konstitution der Moralität nach Thomas Rentsch als gedankliche Basis für die Erläuterung und zugleich Beurteilung von Strafe und TOA als Formen unserer Praxis der Bewältigung von Straftaten entwickelt. 1. Kritik des Prüfverfahrens des kategorischen Imperativs a) Prüfverfahren des kategorischen Imperativs Nach Kant kann als uneingeschränkt gut allein der gute Wille gelten, Eigenschaften wie Mut, Verstand und Entschlossenheit taugten für die moralische Beurteilung nicht. Die Güte des Willens ließe sich auch nicht daraus ableiten, dass sich mit ihm ein bestimmter, für gut befundener Zweck erreichen ließe. Denn der Wille wäre dann nicht unbedingt gut, sondern bedingt durch die Tauglichkeit zur Erreichung dieses Zwecks. Von absolutem Wert könne nur der bloße Wille sein.88 Ein Wille sei dann absolut oder unbedingt gut, wenn die ihm zugrunde liegende Maxime, also das Handlungsprinzip, nach dem der Wille gebildet wurde, ein allgemeines Gesetz werden könnte. Denn nur das Allgemeingültige könne schlechthin oder unbedingt geboten sein, das Sittengesetz dürfe gerade nicht durch einen unabhängig von ihm begründeten Zweck bedingt sein.89 Der kategorische Imperativ lautet dementsprechend: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“90 Ein Verhalten kann demnach nur moralisch gut sein, wenn es auf einer allgemeingültigen Maxime beruht. Dies kann dahingehend ausgelegt werden, dass es möglich sein muss, die Maxime als für jeden Menschen in einer gleichartigen Situation, also überzeitlich

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Vgl. Immanuel Kant, GMS BA 1 ff. Vgl. Immanuel Kant, GMS BA 43 f., 50, 51 f.; ders., KpV § 7. 90 Immanuel Kant, GMS BA 52; vgl. ders., KpV § 7 mit Anm.

1. Kritik des Prüfverfahrens des kategorischen Imperativs

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und überindividuell, als gültig zu betrachten.91 Die Allgemeingültigkeit soll dabei allein die Form der Prüfung der Maximen betreffen, sich also nicht auf materiale Inhalte als das konkrete Verhalten oder der Zweck desselben, beziehen.92 Denn dieses Sittengesetz soll „von allem, was nur empirisch sein mag, und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert“ sein, weil es nur dann, wenn sein Grund „a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft“ liege, von absoluter Notwendigkeit sei, also für alle Menschen wie für alle anderen vernünftigen Wesen auch gelte.93 Sobald aber die moralische Gültigkeit einer Maxime von einer Materie, also einer inhaltlichen Bestimmung, abhinge, hätte sie nach Kant einen empirischen Bezug.94 Ein moralisches Gesetz, das jenseits der Bezugnahme auf die Maxime als Gegenstand der Prüfung auf menschliche Erfahrungen gründet, kann damit nach Kant nicht unbedingt gelten. Die Anwendung des kategorischen Imperativs erläutert Kant in der Grund­ legung zur Metaphysik der Sitten an vier Beispielen, von denen hier nur das zweite herausgegriffen werden soll: Im zweiten Beispiel überlegt jemand, sich durch Not gedrungen Geld zu leihen und dem Leiher zu versprechen, es zurückzuzahlen, obwohl er weiß, dass er es nicht zurückzahlen kann. Bei der Prüfung dieser Maxime auf ihre Allgemeingültigkeit hin meint Kant, dass sogleich zu sehen ist, dass diese Maxime „niemals als allgemeines Naturgesetz gelten und mit sich selbst zusammenstimmen könne, sondern sich notwendig widersprechen müsse“. Denn der Vorsatz, ein Versprechen nicht zu halten, würde das Versprechen selbst unmöglich machen, da niemand mehr glauben würde, was ihm versprochen wird.95 b) Einwand des „leeren Formalismus“ Der kategorische Imperativ verlangt mit dem Erfordernis der Allgemeinheit allen Menschen in vergleichbaren Lebenssituationen dasselbe ab und setzt jeden Menschen als Vernünftigen voraus. Die Allgemeingültigkeit als Kriterium moralischen Entscheidens erscheint dabei plausibel, denn es schließt subjektiv beliebiges Meinen und Dafürhalten als moralischen Maßstab aus und scheint so eine scharfe Unterscheidung zwischen faktischen Handlungsprinzipien und unbedingten moralischen Geboten zu erlauben. Aufgrund dieses strikt und ideal, also von der empirischen Realität losgelöst, ermittelten Sollens als Maßstab moralischen Entscheidens scheinen die moralischen Beurteilungen ihre Legitimation nicht aus den gelebten Praxisformen zu ziehen.



91 Vgl. nur Max Scheler, Formalismus, S. 278 f.; Maximilian Forschner, Reine Morallehre, S. 28. 92 Vgl. Immanuel Kant, GMS BA 43. 93 Immanuel Kant, GMS BA VII f. 94 Vgl. Immanuel Kant, KpV A 48 (§ 4). 95 Vgl. zum ganzen Beispiel Immanuel Kant, GMS BA 54 f.

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

Der kategorische Imperativ Kants ist aber gerade aufgrund dieser strikten Trennung zwischen Formalem und Inhaltlich-Materialem schon von Georg Friedrich Wilhelm Hegel als „leerer Formalismus“, der über besondere Pflichten, also das Gute, im konkreten Fall nichts aussagen könne, scharf kritisiert worden.96 Zwar werden mittels des kategorischen Imperativs besondere Pflichten gerechtfertigt, da er sich auf besondere Maximen, also etwas Inhaltliches, bezieht. Allerdings lässt sich mit einer rein formalen Prüfung auf Widersprüchlichkeit97 hin eine Handlungsmaxime genauso wie ihr Gegenteil rechtfertigen: „Ist kein bestimmter Gehalt der Intention böse, so kann auch jeder gut sein“, wie Max Scheler schreibt.98 Bezogen auf das Beispiel des notgedrungen falschen Versprechens bedeutet das: Es lässt sich ebenso gut widerspruchsfrei begründen, dass Versprechen eingehalten werden sollen, wie dass sie nicht eingehalten werden sollen. Denn einerseits können wir sagen, dass Versprechen eingehalten werden sollen, weil es im Begriff des Versprechens liegt, dass es einzuhalten ist. Genau das sagt der Versprechende ja zu. Andererseits ließe sich sagen, dass die Maxime, Versprechen nicht einzuhalten, für alle Menschen gültig konsistent denkbar ist. Zwar gäbe es im Falle der Verallgemeinerung des Grundsatzes faktisch vermutlich keine Versprechen mehr, aber dann müssten alle ihr Leben eben ohne diese Form, Vertrauen zu gewinnen, meistern. Hiergegen ließe sich zwar einwenden, dass das Leben leichter bewältigt wird, wenn uns Vertrauen geschenkt wird, da so, etwa durch die Gewährung eines Darlehens, unsere Handlungsspielräume und damit Entfaltungsmöglichkeiten erweitert werden. Dieses Argument bezieht sich aber nicht auf einen formalen Widerspruch, sondern material auf den Sinn des Versprechens in einer gemeinsamen menschlichen Praxis, gewissermaßen als Antwort auf die Frage, warum es Versprechen überhaupt geben soll99.100 Dass ein rein formales Prüfungsverfahren nicht trägt, zeigt sich auch am Begriff des Widerspruchs, den Kant bezogen auf den kategorischen Imperativ nicht begrifflich erläutert. Teils bezieht er sich auf die Allgemeinheit der Maxime als Naturgesetz101, teils entwirft er wie im Versprechensbeispiel eine Welt, in der die

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Hierzu und zum Folgenden (am Beispiel des Eigentums, der Familie und des Menschenlebens) vgl. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Rphil, § 135 Anm.; ders., Naturrecht, S. 459 ff.; vgl. zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Hegels Formalismuseinwand mit dem Anliegen, Kants Ansatz dagegen zu behaupten, Friedrich von Freier, Kant-Studien 83 (1992), S. 304 ff. 97 Ein weiteres Problem liegt in der Bestimmung des Begriffs des „Widerspruchs“ im kategorischen Imperativ, es soll hier nicht erörtert werden. 98 Max Scheler, Formalismus, S.  320, vgl. dort, allerdings am Beispiel des Mordes, auch zum Folgenden. 99 Angelehnt an die Formulierung Hegels in Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Rphil, § 135 Anm. Besser ist diese Frage als Frage nach dem Sinn von Versprechen formuliert: Die Frage warum es überhaupt Versprechen geben soll, deutet auf einen Standpunkt außerhalb dieser Welt hin, von dem aus sie ideal entworfen wird. Wie im I. Kapitel unter 3 b) cc) festgestellt, gibt es diesen Standpunkt nicht. 100 Vgl. zum Ganzen Thomas Rentsch, Konstitution, S. 321 ff. 101 Vgl. Immanuel Kant, zum 1., 3. und 4. Beispiel und nachfolgend GMS BA 53 ff.

1. Kritik des Prüfverfahrens des kategorischen Imperativs

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Maxime als durchgängig geltend gedacht wird, und beurteilt dann den gefundenen Weltzustand102. Rein formal verstanden, ist das falsche Versprechen kein Widerspruch in sich. Es widerspricht keinem Naturgesetz, und eine Welt, in der es keine Versprechen gäbe, weil ohnehin damit gerechnet würde, dass sie falsch sind, ist widerspruchslos denkbar. Das „Verschwinden“ des Versprechens als solches spricht also entgegen Kants Annahme nicht dafür, dass das falsche Versprechen schlecht oder böse ist. Ein Widerspruch zeigt sich erst, wenn wir davon ausgehen, dass Versprechen und ihre Einhaltung vernünftige Formen unserer Praxis sind, womit aber Materielles, eben das Versprechen und seine Bedeutung für uns als menschliche Praxisform, zum Kriterium moralischen Urteilens wird.103 Kant zeigt zudem keinen formalen Widerspruch auf, wenn er sagt, dass niemand mehr Versprechen annehmen würde, wenn alle davon ausgingen, dass Versprechen ohnehin nicht gehalten würden. Dies ist lediglich eine mögliche faktische Folge der geprüften Maxime, Kants Argument ist insofern materialer Natur. Ein formaler Widerspruch des falschen Versprechens könnte aber darin liegen, dass diejenige, die etwas verspricht, den Begriff des Versprechens selbst aufhöbe, da sie wolle, dass der andere vertraut, obwohl er ihr gar nicht vertrauen kann. Das wäre der Versuch aufzuzeigen, dass das falsche Versprechen begrifflich in sich widersprüchlich wäre. Dies könnte für die formale Prüfung genügen, da der Begriff des Versprechens über die Maxime in das Prüfverfahren einbezogen wird. Der Widerspruch liegt dann im geheimen Vorbehalt, also darin, dass der Versprechensempfänger nach außen etwas über seinen derzeitigen Willen sagt (nämlich das Geld in Zukunft zurückzugeben), was er zurzeit gar nicht wirklich will. Dies ist zwar kein Willenswiderspruch in sich, weil der Wille als geheimer Vorbehalt konsistent gebildet werden kann. Allerdings liegt ein Widerspruch zwischen wirklichem und erklärtem Willen vor, was dem Begriff des Versprechens widerspricht. In ihm setzen wir voraus, dass der Versprechende wirklich meint, was er sagt.104 Die Inkonsistenz zeigt sich aber hier in der Praxisform des Versprechens, also im Materiellen, selbst, so dass es keiner „zusätzlichen Universalisierungsoperation“105 bedarf, um 102

Vgl. Immanuel Kant, zum 2., 3. und 4. Beispiel GMS BA 54 ff. Deshalb geht m. E. auch der Einwand Ernst Amadeus Wolffs (ZStW 97 (1985), S.  786 (809 f. Fn. 59 am Anfang)) gegen den Formalismuseinwand Hegels fehl: Wolff meint, dass aufgrund der Gleichsetzung des allgemeinen Gesetzes mit dem Naturgesetz durch Kant (GMS, BA 52) die Maxime daraufhin zu überprüfen sei, ob sie sich widerspruchslos als allgemeiner finaler Zusammenhang denken ließe. Die Nichteinhaltung von Versprechen lässt sich aber, wie im Text gezeigt, als allgemeiner finaler, also zweckgerichteter Zusammenhang denken. Zum Aufzeigen eines Widerspruchs kommt es material auf den Zweck bzw. die Bedeutung des Versprechens als Praxisform für unsere Existenz an. 104 Das gilt auch, obwohl wir damit rechnen müssen, dass das Versprechen nicht gehalten wird. Denn es liegt im Begriff des Versprechens, dass der Versprechensempfänger Vertrauen schenkt, also gerade nicht sicher weiß, ob das Versprechen eingehalten wird. Mit jedem praktizierten Versprechen gehen wir sozusagen ein Risiko ein, dessen sich der falsch Versprechende wie auch der Versprechensempfänger bewusst ist. Im Begriff des Versprechens ist insofern dessen Einhaltung wie auch dessen Nichteinhaltung enthalten. 105 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 321 (Hervorhebung von mir). 103

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

sie aufzuzeigen. Die Frage einer zusätzlichen formalen Prüfung auf Widersprüchlichkeit stellt sich also gar nicht. Eher ließe sich sagen, dass der kategorische Imperativ als unbedingter Geltungssinn oder Erfordernis der Allgemeinheit in den konkreten Praxisformen schon enthalten ist oder „die Allgemeinheit der ‚allgemeinen Form‘ […] sich […] als die materiale, in bekannten Lebensformen konkret gewordene Allgemeinheit [erweist]“.106 Es lässt sich feststellen, dass eine ausschließlich allgemein-formale Gültigkeit von Maximen in moralischen Beurteilungen nicht aufgewiesen werden kann. Vielmehr bedarf es eines Bezuges auf die inhaltliche Bestimmung der gelebten Praxisformen, die über die bloße Aufnahme einer inhaltlich bestimmten Maxime hinausgeht.107 Die Praxisform selbst wird mit allen ihren normativ-ethischen Implikationen, also ihrer jeweils näher zu entfaltenden Bedeutung für das gemeinsame Existieren, relevant. Rentsch stellt insofern fest, dass Kant der Beispiele bedarf, um seinen Gedanken der apriorischen als rein formalen Allgemeingültigkeit von Maximen für moralische Beurteilungen überhaupt verständlich zu machen. Kants Universalismus basiert insofern auf einem paradigmatischen Fundament, das für die moralische Beurteilung einer Situation unverzichtbar ist.108 Sein Prüfverfahren ist so auch jenseits seines Gegenstandes der zu prüfenden Handlungs­ maxime nicht frei von jedweder Erfahrung, also nicht a priori rein in diesem Sinne. Denn es bedarf der in unserer Welt erfahrenen normativen Sinngehalte, auf die sich die Maxime bezieht, um sie beurteilen zu können.109

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Thomas Rentsch, Konstitution, S. 333; vgl. zum Ganzen auch S. 320 f. Ernst Amadeus Wolff (Kriminalunrecht, S. 177 f.) geht davon aus, dass im kategorischen Imperativ die Selbsterhaltung des selbstorientierten Daseins als Dasein der Vernunft immer schon mitgedacht ist. Deshalb ergänzt er die Formulierung des kategorischen Imperativs dahingehend, dass es Aspekt praktischer Allgemeinheit ist, dass die geprüfte Handlung die Möglichkeit selbstbewussten Daseins intensiviert oder erhöht. Wolff ergänzt den kategorischen Imperativ damit um eine materiale und fundamentalanthropologische, also alle Menschen in unserer Lebenswelt kennzeichnende Bestimmung. Allerdings ist auch diese Fassung bzw. Interpretation den im Folgenden formulierten Einwänden des Rigorismus, des idealen Sollens und –  allerdings mit Einschränkungen (vgl. hierzu Fn. 122) – der unzureichenden Ausformung des Aspekts der Vorgängigkeit der Praxisformen ausgesetzt, sie bleibt gewissermaßen noch zu weit entfernt von der Praxis in unserer Welt. Zudem benennt sie mit der Kennzeichnung unserer Existenz als selbstbestimmte nur einen der für unser praktisches Urteilen unhintergehbaren Grundzüge unserer Lebenswelt. 108 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 67, 319, 322, 323; vgl. auch Maximilian Forschner, Reine Morallehre, S. 28 ff. zu den Situationsbedingungen der Kantischen Beispiele. 109 Vgl. Maximilian Forschner, Reine Morallehre, S.  28 ff., vgl. zudem Max Scheler, der zeigt, dass das Apriorische nicht mit dem Formalen gleichgesetzt werden kann, sondern auch material sein kann (Formalismus, S. 72 ff). 107

1. Kritik des Prüfverfahrens des kategorischen Imperativs

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c) Einwand des Rigorismus Zusätzlich ist anzumerken, dass die Praxisform des Versprechens damit noch nicht als allgemeingültige in dem Sinne legitimiert ist, dass sie als überindividuell und überzeitlich für jede menschliche Situation gültig gedacht werden kann. Der kategorische Imperativ ist insofern zu rigoros.110 So gehen wir kaum davon aus, dass das Versprechen eines Auftragsmörders, den Zeugen einer Straftat zu töten, eingehalten werden soll. Auch in Bezug auf die von Kant gewählte Situation, in der jemand in materieller Not ein falsches Versprechen geben möchte,111 ist nicht ohne Weiteres klar, dass eine Lüge nicht zulässig wäre, etwa für den Fall, dass der falsch Versprechende sonst zu verhungern drohte.112 Hier zeigt sich, dass die Praxisform des Versprechens in komplexe Verhältnisse menschlicher Praxis eingebettet ist, in denen nicht für jede Situation, in der an die geprüfte Handlungsmaxime angeknüpft wird, gesagt werden kann, dass das Gebot, nicht falsch zu versprechen, als bestimmter Inhalt unbedingt gilt. Damit soll nicht der unbedingte Geltungssinn des Versprechens bestritten werden. Allerdings zeigt sich, dass dieser auf weiteren handlungsorientierenden Einsichten über die positive Bedeutung des Versprechens für das Zusammenleben selbstständiger Menschen und deren Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten basiert, die im Beispiel des Auftragsmörders gerade negiert werden und die im Beispiel des falschen Versprechens in großer Not existentiell gefährdet sind. Wir halten also durchaus Ausnahmen von dem Gebot, Versprechen einzuhalten, für moralisch legitim, ohne den unbedingten Geltungssinn des Versprechens dadurch infrage zu stellen.113 Gegen dieses Argument lässt sich nicht vortragen, dass die zu prüfende Handlungsmaxime dann eben situationsspezifisch gebildet werden müsse. Denn das höbe die von Kant intendierte Allgemeingültigkeit gerade auf oder würde sie als Prüfungskriterium aushöhlen, da formal für jede Situation ein Spezifikum in Anspruch genommen werden könnte, das eine Ausnahme legitimierte. Die Prüfung der Maxime bliebe also entweder so abstrakt, dass sie die konkrete Lebenssituation nicht hinreichend erfasst, oder sie würde beliebig werden, wenn sie alle Spezifika der konkret zu beurteilenden Lebenssituation einbezöge und gerade kein Kriterium dafür angeben könnte, welches Spezifikum relevant ist und welches nicht. Das Prüfverfahren des kategorischen Imperativs berücksichtigt mit anderen Worten die Komplexität der konkreten Lebenssituationen, in denen wir praktische Entscheidungen treffen, nicht114 – entweder weil sie ignoriert werden müssen, um all-

110 Vgl. zu dieser Form des Rigorismuseinwandes auch im Folgenden Thomas Rentsch, Konstitution, S. 321, XLII. Vgl. zum Einwand des Rigorismus als Einwand gegen den Pflichtzwang im II. Kapitel unter 2. d) aa). 111 Vgl. Immanuel Kant, GMS BA 54 f. 112 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 321. 113 Vgl. zum Ganzen Thomas Rentsch, Konstitution, S. 321. 114 Vgl. auch Thomas Rentsch, Konstitution, S. 324.

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

gemeingültige Aussagen zu treffen, oder weil es nicht möglich ist, zwischen den für die moralische Beurteilung relevanten und irrelevanten Merkmalen einer Situation zu unterscheiden. d) Einwand des idealen Sollens In dieser Entfernung von der Komplexität der Lebenswelt liegt außerdem, dass der mittels des kategorischen Imperativs gebildete Standpunkt ein idealer ist. Die damit legitimierte Maxime oder das damit legitimierte Sollen ist notwendig ideal, also auf eine Weise von den moralischen Anforderungen und Voraussetzungen unserer Welt entfernt, dass sie bzw. es zu einem bloßen, konkret nicht sinnvoll umsetzbaren Wunschbild werden kann. Der Einwand der Idealität kann dahingehend vertieft werden, dass das in seinem Aspekt als reine Vernunft gedachte Ich, das die Maximenprüfung vornimmt, die Welt von einem idealen, in ihr nicht oder nur unzureichend verankerten Standpunkt betrachtet. Aber schon als historisch und kulturell gebundene Subjekte können wir einen solchen Standpunkt nicht einnehmen.115 Hinzu kommt, dass sich hinter diesem abstrakten, scheinbar allgemeinen Ich, immer das ideale Ich einer konkreten historisch und kulturell gebundenen Situation verbirgt, bei Kant etwa der bürgerliche, selbstständige Mann116. Auch das ideale Ich und das ideale moralische Gebot ist also verdeckt ein typisches spezifisches Ich einer bestimmten gesellschaftlichen und individuellen Situation, das zum allgemeinen Ideal erhoben wird.117 Im Beispiel des falschen Versprechens könnte es etwa sein, dass das unbedingt geltende moralische Verbot denjenigen, der nicht falsch versprechen darf, buchstäblich verhungern lässt, wenn er nur durch das falsche Versprechen das Geld bekäme, das ihm die Grundbedingungen seiner Existenz sicherte. Das ehrliche Versprechen kann sich nur leisten, wer nicht in äußerster Not ist. Bezogen auf den Gegenstand dieser Arbeit, die Bewältigung von Verbrechen, lässt sich als weiteres Beispiel Folgendes anführen: Zur Bewältigung des Völkermordes in Ruanda werden Gacaca-Dorfprozesse durchgeführt, um den Genozid so aufzuarbeiten, dass Überlebende und Täter weiter miteinander in einer Gesellschaft leben

115 Vgl. zur Einbindung in eine vorgängige Praxis im I. Kapitel unter 3. b) cc) und in diesem Kapitel unter 2. a); vgl. zur historischen Situiertheit menschlichen Lebens auch Max Scheler, Formalismus, S. 279. 116 Deshalb kann nur dieser bei Kant aktiver (vollwertiger) Staatsbürger sein, vgl. Immanuel Kant, MdS § 46 (A 166 ff, B 196 ff.). 117 Seyla Benhabib deckt als grundlegendes Problem formal-universalistischer Moral­ theorien, die das autonome Ich zum Ausgangspunkt haben, auf, dass diese „Stellvertretertheorien“ in dem Sinn sind, dass die Erfahrungen einer bestimmten Gruppe mit dem universell geltenden, schlechthin Menschlichen identifiziert werden, und zwar genauer mit dem weißen, männlichen Erwachsenen, der Besitz oder zumindest einen Beruf hat (Der Andere, S. 460).

1. Kritik des Prüfverfahrens des kategorischen Imperativs

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können.118 In dieser Situation zu fordern, dass die Täter nach diesen, allein in ihren Zahl fast unvorstellbar vielen Verbrechen unbedingt bestraft werden müssten, wie es das Insel-Beispiel von Kant nahe legt119, wäre merkwürdig lebensfremd. Denn die Voraussetzungen dafür, einen Großteil der Täter und der Taten in einem staatlichen Verfahren zu ermitteln, in einem formalen Prozess nachzuweisen und zu ahnden, sind konkret nicht gegeben, wenn die Zahl der Täter und Delikte so groß ist, dass sie durch ein funktionierendes staatliches Gemeinwesen kaum und durch ein nur noch rudimentär bestehendes gar nicht erfasst werden können. Das soll nicht in Frage stellen, dass das Bemühen um Strafe auch in solchen Situationen sinnvoll sein kann, etwa indem die Rädelsführer vor internationale Gerichte gestellt werden. Das allein befriedet aber nicht die gesellschaftliche Situation, in der Angehörige von Mordopfern und massenhaft und unzählige Male vergewaltigte Menschen, insbesondere Frauen und Mädchen, tagtäglich mit ihren Peinigern konfrontiert sein können, wobei diese vielleicht sogar wieder wichtige gesellschaftliche Positionen, etwa als Polizisten, bekleiden.120 Jenseits der herkömmlichen Strafe und Strafprozesse kann sich hier die Praxisform des Gacaca-Dorfprozesses als sinnvolle Form der Bewältigung von Taten erweisen, die ganze Bevölkerungsteile auf Täter- wie Opferseite erfassen.121 e) Unzureichende Ausformung des Aspekts der Vorgängigkeit von Praxisformen Der kategorische Imperativ nimmt zwar Maximen aus der konkreten Lebenswelt als Gegenstand der Prüfung auf, prüft sie aber letztendlich mit einem idea­ lisierenden Verfahren von einem idealen Standpunkt aus. Die Maximen gehen der moralischen Beurteilung also auf gewisse Weise vor. Dabei bleibt die konkrete Entstehungsweise der Praxisformen und der ihnen immanenten Handlungsprinzipien unbeachtet. Die Entwicklung der Praxisformen und Handlungsprinzipien ist aber ebenso wie das Innehalten und handlungsorientierende Reflektieren, für das der kategorische Imperativ steht, Teil unserer Praxis, muss also in die Beschreibung der praktischen Situation einfließen. Wir wachsen in je konkrete vorgängige Praxisformen hinein, die immer schon vom Anspruch, vernünftig zu sein, geprägt sind, und die wir immer wieder auf ihre Vernünftigkeit hin überprüfen. Die kon 118

Vgl. zu den Gacaca-Dorfprozessen etwa Simone Schlindwein, Wahrheit, Recht und irgendwann Frieden, taz vom 7. April 2010, S. 4. 119 Vgl. Immanuel Kant, MdS II. Teil, 1. Abschnitt, E (A 199, B 229). 120 Vgl. etwa den Bericht von Erich Rathfelder in der taz vom 25. Juli 2008 über die Bosniakin Bakira Hasećić, die im Jugoslawienkrieg monatelang in ihrer Heimatstadt Visegrad von Freischärlern festgehalten und vergewaltigt wurde. Nach dem Krieg besuchte sie ihre Heimatstadt und erkannte dort drei ihrer Peiniger auf der Straße wieder, einer davon war Polizist. 121 Hiergegen lässt sich nicht einwenden, dass für diese konkrete Situation eben der Dorf­ prozess unbedingt geboten ist. Denn die situative Gebundenheit der Praxisformen kann mit dem kategorischen Imperativ, wie eben unter c) gezeigt, gerade nicht erfasst werden.

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

kreten Praxisformen sind also normativ geprägt, vernünftig oder unvernünftig.122 Die Entwicklung von Praxisformen durch uns selbst in unseren konkreten Situationen, in die wir hineinwachsen und in denen wir uns verändern, vermag auch erst erklären, warum diese historisch und kulturell und auch sonst situativ gebunden sind. Das Überprüfen oder Hinterfragen vorgängiger Praxisformen ist Teil unser Praxis, auch dieses findet also immer im Rahmen und in Bezug auf eine vorgängige Praxis statt.123 Schließlich fehlt der Aspekt der lebenssituationsgebundenen Kreativität124, mit der wir die Praxisformen, in die wir hineinwachsen, wandeln und mit der wir auch neue schöpfen, wobei auch dies immer vor dem Hintergrund der vorgängigen Praxis stattfindet und moralische Reflexion einschließt. f) Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein Maßstab oder Kriterium für moralische Beurteilungen nicht a priori rein als vor jeder Erfahrung bestehendes und rein formales Kriterium aufweisbar ist. Vielmehr hat sich in der Kritik des kategorischen Imperativs gezeigt, dass sich die Einsicht in das praktisch Angemessene aus einem vernünftigen Verständnis der praktizierten Formen, die den unbedingten Geltungssinn gewissermaßen enthalten, also aus der Praxis selbst, ergibt. Aufgrund des idealisierenden Lösens aus der gelebten Praxis berücksichtigt das Prüfverfahren Kants die Vorgängigkeit gelebter Praxisformen für das moralische Urteilen überhaupt nur unzureichend sowie die Situiertheit praktischen Urteilens und die Komplexität von Lebenssituationen nicht. Rentsch verfolgt einen Ansatz, der diese Kritik einlöst, also das moralische Urteilen als in der Lebenswelt verankert beschreibt. Zwar können dann Sein und Sollen noch unterschieden, aber nicht mehr strikt voneinander getrennt werden. Dass dies zudem nicht möglich ist, da Sein und Sollen miteinander verwoben sind, wird noch näher zu erläutern sein.125

122 Ernst Amadeus Wolff betont die in den zu prüfenden Maximen „immer schon anwesende Vernunft“ (ZStW 97 (1985), S. 786 (S. 810 Fn. 59)). Er geht also nicht davon aus, dass wir mit unseren praktischen Entscheidungen gewissermaßen frei schwebend immer wieder von vorn beginnen, sondern dass wir in eine Praxis mit „schon anwesender Vernunft“ eingebettet sind. Dem ist zuzustimmen: Die in diesem Kapitel unter 2. c) ii) (1) erfolgende Beschreibung der Struktur des praktischen Entscheidens innerhalb einer Praxis, in der die vorgängigen Praxis­ formen immer wieder distanziert und hinterfragt werden, ist von der Struktur her dem dreigliedrigen Verfahren der Prüfung von Maximen Wolffs ähnlich. Allerdings scheint mir sein den vorgängigen Maximen übergeordnetes Ich weiter für einen idealen, aus der konkreten Lebenswelt zu weit entfernten Standpunkt zu stehen, von dem aus zudem zu rigoros geurteilt wird. Vgl. auch Fn. 213; vgl. zur Verankerung des vernünftigen Urteilens in dieser Welt innerhalb einer vorgängigen Praxis im I. Kapitel unter 3. b) cc), und in diesem Kapitel unter 2. a). 123 Vgl. zur Vorgängigkeit der Praxisformen in diesem Kapitel unter 2. a) mit Nachweisen. 124 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 109, vgl. auch in diesem Kapitel unter 2. c) ii) (1). 125 In diesem Kapitel unter 3.

2. Konstitution der Moralität nach Thomas Rentsch

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2. Konstitution der Moralität nach Thomas Rentsch Thomas Rentsch geht davon aus, dass das moralische Urteilen von vornherein in unsere Praxis, also in ihre konkreten, materialen Formen, eingewoben ist. Dabei wachsen wir in eine konkrete Praxis hinein und reflektieren innerhalb derselben auf deren Rationalität. Es bedarf daher nicht nur keines besonderen Prüfverfahrens von einem aus der Lebenswelt losgelösten oder zumindest weit entfernten idealen Standpunkt aus, diesen können wir auch gar nicht einnehmen. Näher kann die Praxis des moralischen Urteilens mit Rentsch wie folgt beschrieben werden. a) Vorgängigkeit gelebter Praxisformen Der Sinn moralischer Sätze ist uns im gemeinsamen Leben unmittelbar vertraut, wir müssen keine Moralphilosophie studieren, um moralisch zu reflektieren und zu handeln. In dieser Sinngestalt als Mensch und mit unseren einzelnen Sinnorientierungen finden wir uns in einer gemeinsamen Praxis vor. Wir entwickeln unsere Sinnentwürfe nicht aus dem Nichts, sondern vor dem Hintergrund unseres Wissens um gelungene Formen menschlicher Praxis. Wir sind immer schon in einem Raum gegebener menschlicher Praxis, mit Differenzierungskriterien hinsichtlich des Gelingens und Nichtgelingens, wir haben also immer ein praktisches Vorverständnis. Dieses Vorverständnis entwickelt sich zum einen genetisch: Wir werden im Rahmen einer bestimmten menschlichen Praxis erzogen, wir wachsen in sie hinein. Zum anderen können wir auch als Erwachsene nicht aus dem Nichts schöpfen, wir verstehen uns immer nur in einer praktisch schon erschlossenen Situation. Das schließt nicht aus, dass wir Entscheidungen selbstständig treffen, wir tun dies aber im Rahmen der interexistentiell verfassten oder interexistentiell erschlossenen Praxis. Selbst wenn wir uns als Eremiten zurückzögen, würde unsere Praxis noch von dem, was wir praktisch in der Gemeinschaft für uns gelernt haben, bestimmt. Es bildete eine Basis und einen Rahmen für das Leben in der Einsamkeit. Dass wir in einer interexistentiell erschlossenen Praxis existieren, bedeutet auch, dass wir keine moralischen Systeme aus dem Nichts schaffen können, sondern immer nur innerhalb und in Abgrenzung zu konkreten uns bekannten Praxen. Die Erfüllungsgestalten gehen den Sinnentwürfen insofern vor, sind apriorisch.126 Für das moralische praktische Argumentieren und Philosophieren bedeutet dies, dass wir immer von den Sinngestalten unserer realen Praxis ausgehen müssen.127 Diese Praxisform, etwa Freundschaft, Hilfe und auch das Versprechen, sind uns selbstverständlich und grundlegend vertraut. Sie werden uns nicht erst über theoretischen Konstruktionen zugänglich, sondern sind Bestandteil der öffentlichen oder gemeinsamen Handlungswelt.128 Wenn wir in unserer Praxis in Grenzsitua­ 126

Vgl. zum Ganzen Thomas Rentsch, Konstitution, S. 127 f., 148, 160, 192, 224 f. Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 222, 226. 128 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 222.

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

tionen kommen, in denen wir unsicher sind, was richtig und was falsch ist, vergegenwärtigen wir uns, was der Kern dieser Sinngestalten oder Interexistentiale ist und wie wir ihm in der konkreten Situation gerecht werden können. Wir analysieren also bekannte Sinngestalten, erinnern uns an deren selbstverständlichen Bedeutungen und Voraussetzungen, die ihren normativen Gehalt oder Anspruch mit ausmachen.129 Diese selbstverständlichen Bedeutungen und Voraussetzungen beziehen sich auf die Grundzüge unserer Welt. Genauer formen sich die Praxisformen in der Reflexion auf die Konstituentien unserer Welt und bewähren oder verändern sich in der moralischen Auseinandersetzung in konkreten Situationen, im Rückgang auf das, was unsere Welt sinnvoll ausmacht. Das heißt, wenn wir moralisch reflektieren und dabei Kriterien brauchen, um unsere Lösungsalternativen als richtig oder falsch zu bewerten, müssen wir uns der unhintergehbaren Grundzüge unserer Welt besinnen und diese analysieren. Denn nur auf der Basis dieser Grundzüge ist eine vernünftige Welt- und damit Praxisbeurteilung möglich.130 Aber auch das Erinnern und Erläutern der unhintergehbaren Grundzüge unserer Welt findet nicht von einem idealen abstrakten Standpunkt aus, sondern in dieser Welt innerhalb einer vorgängigen Praxis statt. Es ist kulturell und historisch situiert.131 b) Grundzüge der Lebenswelt als Rationalitätskriterien für praktisches Urteilen aa) Lebenswelt Die Lebenswelt ist die Welt, in der wir sind, „in der wir leben und sprechen, existieren und prädizieren, arbeiten und nach dem Sinn unseres Lebens und Tuns fragen“132, sie ist der umfassende Horizont, in dem uns Gegenstände der Erfahrung überhaupt erscheinen können133 und in der wir uns in bestimmten Situationen vorfinden. Die Lebenswelt ist näher bestimmt als die Grundsituation oder primäre Situation134, aus der wir nicht entfliehen können, in die jede menschliche Theorie und Praxis, die ganze Bandbreite unserer Erfahrungen und weiteren Praxen eingebettet ist.135 Aspekt dieser Welt ist, dass wir uns in ihr selbst und die Welt erfahren und verstehen können. Aspekt der Welt ist aber auch umgekehrt, dass sie als Lebenswelt der Menschen nur aus menschlicher Sicht so verstehbar ist, denn wir erfahren und erkennen sie aus unserer Sicht als unsere Welt. Das heißt, wir können kein Verhältnis objektiver Betrachtung von außen zu ihr einnehmen, wir stehen, 129

Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 222. Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 62. 131 Vgl. hierzu im I. Kapitel unter 3. b) cc). 132 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 62. 133 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 102. 134 Zu den Interexistentialen Lebenswelt = primäre Welt = Grundsituation Thomas Rentsch, Konstitution, S. 62, 101. 135 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 63 f. 130

2. Konstitution der Moralität nach Thomas Rentsch

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mit einer Metapher von Rentsch, nicht als Fotografin hinter der Kamera, wir sind quasi die Kamera selbst.136 Unser Blick auf die Welt wird also immer ein perspektivischer sein. Die Welt und menschliches Leben sind in diesem Sinne wechselseitig durcheinander bedingt, das eine nicht auf das andere und umgekehrt reduzierbar.137 bb) Gleichursprüngliche Grundzüge der Lebenswelt als Rationalitätskriterien Die unabdingbaren Grundzüge machen unsere Lebenswelt aus, sie ermöglichen unsere Welt. Sie sind also Konstituentien oder Möglichkeitsbedingungen unserer Welt. Als solche kennzeichnen sie jede menschliche Situation, in der wir uns vorfinden oder vorfinden können.138 Sie sind daher apriorisch oder transzendental. Insofern sie jede menschliche Situation kennzeichnen, bilden sie einen quasi unhintergehbaren Rahmen für unsere Existenz in dieser Welt, es ließe sich auch sagen, dass unsere ganze Existenz und Praxis von ihnen durchwoben ist. Sie sind nicht Basis oder Grund, aus dem sich etwas ableiten ließe. Dabei ist präsent zu halten, dass der Aufweis der Grundzüge aus unserem jeweiligen menschlichen Blickwinkel erfolgt, also selbst perspektivisch, historisch und kulturell geprägt ist. Auch der Aufweis der Grundzüge kann somit nicht letztgültig sein.139 Die Grundzüge der primären Welt sind gleichurspünglich. Gleichursprünglich sind die Grundzüge, insofern sie sich wechselseitig ermöglichen, qualifizieren und tragen: Sie stehen auf gewisse Weise eigenständig nebeneinander, weil sie nicht auseinander ableitbar oder aufeinander reduzierbar sind. Gleichzeitig sind sie aber nur miteinander und durcheinander verständlich. Sie lassen sich also voneinander unterscheiden, aber nicht trennen oder isolieren. Aufgrund dieser wechselseitigen Bedingtheit kennzeichnen sie unsere Welt als Totalität, als Ganzheit.140 Dies lässt sich am Beispiel des Descartes’schen „Ich denke, also bin ich“ verdeutlichen: René Descartes versucht aus der Erfahrung heraus, dass er sich schon über so vieles getäuscht habe, das Unbezweifelbare zu finden. Dafür versucht er, radikal an allem zu zweifeln, sogar daran, dass alles, was er sieht, falsch ist, dass er keine Sinne habe, der eigene Körper, Gestalt, Größe, Bewegung und Ort nichts als Chimären seien, dass es keinen Himmel, keine Erde, keine Geister, keine Körper gebe.141 Schließlich stellt er fest, dass das Einzige, worüber er nicht getäuscht werden könne, sei, dass er denke, dass er etwas sei. Der Satz „ich bin, ich existiere“ sei 136 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 172 und auch S. VI, 63, 66; vgl. hierzu zudem im I. Kapitel unter 3. b) aa) m. w. N. 137 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 106. 138 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 68. 139 Vgl. hierzu im I. Kapitel unter 3. b) cc). 140 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 95 f., 109, 113, 191. 141 René Descartes, Meditationen, Erste und Zweite Meditation, insb. Zweite Meditation 2. und 3.

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

„notwendig wahr“, allein die Existenz des Ich als „denkendes Ding (res cogitans), d. h. als Geist (mens), Seele (animus), Verstand (intellectus), Vernunft (ratio)“ sei unbezweifelbar.142 Dieses denkende Ding könne zwar zweifeln, bejahen, verneinen, wollen, nicht wollen und Empfindungen haben, seines Körpers kann es aber beispielsweise nicht sicher sein, dieses „Gefüge von Gliedern“ sei er nicht.143 Allein das „Ich denke“ kann daher für Descartes sicherer Ausgangspunkt einer Philosophie sein, es ließe sich auch sagen, dass er gewissermaßen die Grundzüge der Lebenswelt auf das Selbstverhältnis als ein „Ich denke“ reduziert. Wir sind uns aber als reines Denken nicht zugänglich, dieses ist immer leiblich vermittelt, lässt sich von unserer leiblichen Basis nicht ablösen. Wir wissen nicht nur, dass wir sind, weil wir uns selbst verstehen, sondern auch, weil wir den Boden unter unseren Füßen spüren und uns als leibliche Einheit empfinden. Zudem existieren wir leiblich nur in einer umfassenden Ganzheit, die wir Welt nennen, wir können unser Denken auch nicht von uns als leiblichen Wesen in dieser Welt trennen. Dabei können wir über die konkrete Beschaffenheit unseres Leibes, dessen Notwendigkeit für unser Denken im Einzelnen und auch über die konkrete Beschaffenheit der Welt im Zweifel sein, in einem ganz ursprünglichen Sinne sind wir dies aber nicht. In unserer grundlegenden Erfahrung wissen wir zum Beispiel, dass der leibliche Tod auch das Ende unseres einzigartigen Selbst ist und dass wir uns immer in einer bestimmten Situation, die mehr ist als wir selbst, einem Weltzusammenhang vorfinden. Wir können insofern von „lebensweltlichen Evidenzen“ oder existentiell vertrauten Lebenserfahrungen sprechen, die sich uns vor jeder wissenschaftlichen Erfahrung erschließen.144 Als Grundzüge unserer Welt sind hier das Selbstverhältnis, Eingebundenheit in Situationen in einem Weltenganzen und die Leiblichkeit aufgewiesen.145 Die einzelnen Lebenssituationen sind also nicht primär allein dadurch gekennzeichnet, dass wir uns unserer selbst bewusst sind. Sie sind, wie eben aufgewiesen, primär auch dadurch gekennzeichnet, dass wir uns in bestimmten Lebenssituationen leiblich in einem Weltzusammenhang vorfinden. Selbst­ bewusstsein, Leiblichkeit und Situiertheit lassen sich dabei nicht aufeinander reduzieren oder auseinander ableiten. Sie sind aber auch nicht isoliert erfahrbar, denn, wenn ich von dem einen oder dem anderen Grundzug absehe, erweist sich dies immer als Gedankenexperiment, das von der Komplexität der realen Lebenssituationen abstrahiert. Diese Grundzüge sind also gleichursprünglich. Dabei soll der Wert der Bewusstseinsphilosophie des Descartes nicht geschmälert werden. Descartes zeigt jedenfalls auf, dass der Mensch als Selbstverhältnis, als Denkender, sich seiner selbst Bewusster existiert und die Welt von diesem Standpunkt aus betrachtet. Allerdings dürfen wir unsere Welt auch im Ausgangspunkt der Betrachtung nicht auf ein „Ich denke“ reduzieren. Wenn eine Philosophie dies tut, kann sie unsere Lebenswelt nur unvollkommen, reduziert erfassen. 142

René Descartes, Meditationen, Zweite Meditation 3. und 9., vgl. auch 2., 8., 14. René Descartes, Meditationen, Zweite Meditation, 10., 14. 144 Vgl. hierzu im I. Kapitel unter 3. b) cc). 145 Weitere Grundzüge wie Örtlichkeit, Zeitlichkeit, Faktizität usw. kommen natürlich hinzu.

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2. Konstitution der Moralität nach Thomas Rentsch

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Am Beispiel der Auseinandersetzung mit der Philosophie Descartes’ wird deutlich, dass die Grundzüge nicht nur die Bedingungen unserer Existenz sind, sondern zugleich als Rationalitätskriterien für die Beurteilung unserer Welt und Praxis in ihr fungieren.146 Nur wenn die Formulierung einer Erfahrung oder eine andere Praxis, etwa die Philosophie als Reflexion unserer Welt, den Grundzügen der Lebenswelt in ihrem komplexen Zusammenwirken entspricht, können wir sie als wirklich oder umfassend vernünftig bezeichnen. Da die Grundzüge der Lebenswelt als gleichursprüngliche jede menschliche Situation kennzeichnen, lässt sich auch davon sprechen, dass die einzelnen Lebenssituationen von einer internen minimalen Mindestkomplexität oder holistisch147 sind. Sichtweisen lassen sich so zum einen als unzulässig reduziert aufweisen, wenn sie die minimale Mindestkomplexität der Welt unterbestimmen, also unabdingbare Grundzüge nicht berücksichtigen,148 wie Descartes es tut. Zum anderen erweisen sich Sichtweisen aber auch als unvernünftig, wenn die Grundzüge der primären Welt überbestimmt werden, wenn etwa die Verhältnisse unserer räumlich-zeitlichen Wirklichkeit durch religiöse postmortale Konzeptionen, die außerhalb unserer Erfahrungs- und Denkmöglichkeiten liegen, verlassen werden.149 (In diesem Beispiel sind bereits Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Wirklichkeit als Grundzüge der Welt vorausgesetzt.) cc) Vernunft und Grundzüge der Lebenswelt Mit den Grundzügen der Lebenswelt lässt sich auch der Ort der Vernunft näher bestimmen. Die Vernunft selbst ist kein Gegenstand unserer Erkenntnis. Sie wird uns so nicht als Gegenständliches oder etwas, aus dem sich Bestimmtes, etwa bestimmte Meinungen oder Normen, ableiten ließe, zugänglich.150 Sie zeigt sich uns  – mit Rentsch – vielmehr, „wenn es uns auf eine intersubjektiv einsichtige Weise gelingt, gemeinsame Züge mehrerer, vieler oder bestenfalls aller partikularen Lebenssituationen der Menschen sowie auch der Traditionen ihrer Interpretation freizulegen“.151 Vernunft ist so von diskursivem Charakter, sie zeigt sich uns in der intersubjektiven oder interexistentiellen Kommunikation, und zwar im gemeinsamen Verstehen dessen, was unsere Lebenswelt in ihren Grundzügen ausmacht. Die Grundzüge der Lebenswelt, von denen wir bestenfalls intersubjektiv einsichtig aufweisen können, dass sie jede menschliche Situation kennzeichnen, können so als Bedingungen vernünftigen Argumentierens betrachtet werden. Zwar kann das Vernünftige 146

Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 62, 71. Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 94, 95, vgl. auch S. 69. 148 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 94 f., 101 f. 149 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 95, vgl. auch S. 101 f. 150 Vgl. Ulrich Anacker, Vernunft, Handbuch philosophischer Grundbegriffe 6, S.  1597 (1607). Dies führt zur Kritik der Möglichkeit von Letztbegründungen, vgl. hierzu im I. Kapitel unter 3. c). 151 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 71 (im Original hervorgehoben). 147

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

nicht als objektiv bezeichnet werden, es ist jedoch universal, insofern es auf jede menschliche Lebenssituation bezogen ist. Universalität und Vernunft sind also grundlegend miteinander verbunden. Das so ausgerichtete Philosophieren lässt sich mit Rentsch als anthropologischer Universalismus charakterisieren.152 Das vernünftige Erkennen basiert mit den Grundzügen auf lebensweltlichen Evidenzen, also unseren grundlegenden Erfahrungen in dieser Welt153. Es kann damit nicht als von jeder Erfahrung gereinigt als a priori rein betrachtet werden. Es ist aber apriorisch in dem hier vertretenen Sinne, also insofern es jede menschliche Situation kennzeichnet.154 c) Grundzüge der Lebenswelt Im Folgenden sollen die einzelnen Grundzüge der primären Welt – mit Beispielen zum moralischen Urteilen einschließlich Bezügen zur Analyse von Strafe und TOA als praktische Formen der Bewältigung von Straftaten – erläutert werden. Da die Grundzüge jede menschliche Situation kennzeichnen und wir selbst auch nur in konkreten Lebensvollzügen sind, können sie nur anhand (am Beispiel) von konkreten Lebensvollzügen der Menschen aufgewiesen werden. Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen können daher paradigmatisch ganz alltägliche Situationen sein, wie etwa, dass ich am Schreibtisch vor meinem Computer sitze und schreibe, dass ich im Park spazieren gehe oder mich mit dem Betreuer meiner Doktorarbeit über einen Film unterhalte usw.155 Von diesen konkreten Lebensvollzügen ausgehend können in einem Gedankenexperiment der Verallgemeinerung auf jede denkbare menschliche Lebenssituation die wesentlichen Grundzüge unserer Welt herausgefiltert werden. Auch wenn die Grundzüge als gleichursprüng­ liche jede Situation komplex durchweben, können sie hier nur linear, also nacheinander dargestellt werden. Ihre Gleichursprünglichkeit wird sich dabei aber immer wieder darin zeigen, dass bei den Erläuterungen auf andere Grundzüge verwiesen wird und einige Grundzüge auch mehrmals unter verschiedenen Perspektiven erläutert werden. aa) Situationalität Wir sind stets eingebunden in bestimmte Situationen, die etwa durch eine bestimmte Zeit oder einen Ort näher gekennzeichnet sind. Situationen sind etwas über uns Hinausgehendes, ein bestimmter Kontext oder Horizont, in dem wir uns 152

Vgl. zum Ganzen Thomas Rentsch, Konstitution, S. 71, vgl. auch S. XXXIV. Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 115: Die „Stätte der Vernunft“ ist die primäre Welt. 154 Vgl. hierzu im I. Kapitel unter 3. b) cc). 155 Vgl. hierzu schon im I. Kapitel unter 3. b) dd); vgl. auch Thomas Rentsch, Konstitution, S. 68. 153

2. Konstitution der Moralität nach Thomas Rentsch

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zwingend vorfinden, der unablöslich ist. Wir können einer Situation nicht entfliehen, ohne in der nächsten zu sein. Situationen können wir im mehr oder weniger großen, lokalen Zusammenhang beschreiben (etwa meiner Arbeitssituation in der Leipziger Juristenfakultät oder der politischen Situation hier in Deutschland), aber auch im totalen Horizont, eben dem Horizont der Lebenswelt.156 Die Situationalität kennzeichnet jede menschliche Situation, Situationen sind aber auch immer eine einzigartige Ganzheit (singuläre Totalität)157, keine ist wie die andere. In dieser gleichursprünglichen Verknüpfung zwischen Situationalität und singulärer Totalität zeigt sich auch eine ursprüngliche Verbindung zwischen Allgemeinem und Konkretem oder Bestimmtem und verweist auf die Komplexität unserer Welt. bb) Selbstverhältnis I: Existenz Joshu Jushin (778–897) wurde einst von einem Mönch gefragt: „Was ist mein Ich?“ Joshu sagte: „Hast du deine Frühstücksgrütze gegessen?“ „Ja, ich bin fertig.“ Joshu sagte ihm: „Dann wasch deine Schüssel.“158

Wie in den Darstellungen zur Lebenswelt schon deutlich wurde, ist die Welt, sind einzelne Situationen als Kontext ohne uns nicht denkbar, denn wir verorten uns in der Welt, sie erschließt sich von uns aus. Die Lebenswelt ist ohne uns nicht denkbar, wir nicht ohne die Welt, die uns umgibt.159 Wir sind dabei in einem Aspekt Selbstverhältnisse, also auf gewisse Weise von der Welt und gegeneinander abgegrenzt sowie jeweils auf uns selbst bezogen: In jedem Lebensvollzug beziehen wir uns auf uns selbst, bestimmen unser Dasein und sind uns unserer selbst als abgegrenzte Einheit bewusst. Beispielsweise sind wir unser Denken, wie auch Gegenstand unseres Denkens. Wenn wir sagen „ich lebe“ beziehen wir uns als Lebendige auf uns selbst und sind darin lebendig. Wir beziehen uns auf alle unsere Lebensvollzüge als unsere eigenen Vollzüge.160 Dabei lässt sich nicht davon sprechen, dass wir uns als „das Ich“ „selbst setzen“161. Denn zum einen setzen wir uns zwar insofern selbst, als dass wir durch unsere Lebensvollzüge unser Leben gestalten162, wir finden uns aber als diese sich 156

Vgl. zum Ganzen Thomas Rentsch, Konstitution, S. 68 ff. Zur singulären Totalität als Grundzug in diesem Kapitel unter 2. c) kk). 158 Aus Daisetz Teitaro Suzuki, Zen-Buddhismus, S. 44. Joshu Jushin war einer der bedeutendsten Zen-Meister, er lebte in China. 159 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 106 und in diesem Kapitel unter 2. b) aa). 160 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 72. 161 Vgl. etwa Johann Gottlieb Fichte, Wissenschaftslehre, § 1, ders., Naturrecht, §§ 1–3; dem folgend Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (807); ders. Kriminalunrecht, S. 162 ff. mit Fn. 2. 162 In diesem Sinne lässt sich auch Ernst Amadeus Wolff, Kriminalunrecht, S. 162, 171, 173; ders., ZStW 97 (1985), S. 786 (808), interpretieren. 157

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

ihrer selbst bewusste und ihr Leben gestaltende Einheit vor – wir existieren. Zum anderen sind wir uns nicht abstrakt als „das Ich“, sondern immer nur in konkreten Lebensvollzügen, deren Ursprung wir auch sind, zugänglich: Wenn „das Ich“ zum alleinigen Ausgangspunkt163 einer praktischen Philosophie gemacht wird, werden wir auf ein abstraktes, leeres Ich reduziert, dessen „Leistungsvollzug“ in eben­ diesem „Ich denke“ besteht. Auch die Bezeichnung als „das Ich“, das auf etwas Gegenständliches verweist, erklärt sich nur vor diesem Hintergrund. Wir sind uns aber nicht als „das Ich“, als abstraktes Denken zugänglich. Wir sind immer in ganzen Lebenssituationen, in denen wir ganze Lebensvollzüge ausführen. Wir sind also Subjekte unseres Tuns, das heißt, wir zeigen uns uns selbst als „ich“ nur in den alltäglichen Lebensvollzügen. Wir sind nicht noch einmal eine hinter unseren Lebensvollzügen stehende abstrakte Substanz, die man gewissermaßen verding­ lichen und gegenständlich anschauen oder bezeichnen könnte.164 Richtig müsste es heißen: „Ich denke über mich nach“ oder „Ich weiß, dass ich bin“. Ohne dass dies immer expliziert wird, ist dabei schon selbstverständlich mitgedacht, dass ich an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit, eingebunden in Vergangenheit und Zukunft nachdenke oder mein Selbstbewusstsein reflektiere. Würden diese selbstverständlichen Konstituentien meiner momentanen Lebenssituationen mit ausgedrückt, würde der Satz etwa lauten: „Ich sitze am 4. Februar 2009 in der Juristenfakultät am Schreibtisch und denke über mich und uns in unserem Wesen als Menschen nach.“ Auch sprachlich erweist sich „das Ich“ als Abstraktion von der Realität: Sprachlich sind wir die Subjekte unseres Verhaltens und das Wort „ich“ wie auch das damit gemeinte Lebensphänomen steht für die Urheberschaft eines Verhaltens und ist immer nur auf ein Verhalten bezogen. „Ich“ ist nicht ein Name, den ich für etwas verwenden kann, wie das Wort „Haus“.165 Wir sind also immer in einem Verhalten in einem lokalen oder totalen Welthorizont, wir können uns selbst nicht als internes Bewusstseinsmedium, in dem wir uns ausschließlich selbst zu uns selbst verhalten, betrachten.166

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So aber Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (808): „Ausgehen muss man vom selbstbewussten Dasein im kategorischen Imperativ, […].“ Anders als bei Rentsch ist sein Ausgangspunkt also nicht die Frage nach der Lebenswelt in ihrer Komplexität, sondern die Frage, wie das Ich als selbstbewusstes und selbstbestimmtes verstanden werden kann. Dies hat zur Folge, dass bei Wolff eine Vorrangstellung des selbstbewussten Ich gegeben ist oder immer wieder aufscheint (vgl. etwa Ernst Amadeus Wolff, Kriminalunrecht, S. 183 Fn. 21 „eine vom Ich ausgehende Begründung“; vgl. auch Michael Kahlo, absolute Theorien, S. 400 f., 403, 410 ff.), obwohl er etwa auch betont, dass das Ich in seinen Neigungen und Maximen auch mit dem naturhaften Leben verbunden ist und der Andere, also die Intersubjektivität, ebenso wesentlich für die Konstitution des sich seiner selbst bewussten Daseins ist. Die für die Intersubjektivität behauptete Gleichursprünglichkeit (ZStW 97 (1985), S. 786 (813); Kriminalunrecht, S. 182) findet sich aber im Ausgangspunkt seiner Philosophie nicht wieder, dieser ist das sich seiner selbst bewusste Denken. 164 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution S. 72 f., 130 ff., 185 f. 165 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution S. 130 ff. 166 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 72 f.

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cc) Wirklichkeit, Sinngetragenheit und Sprachlichkeit Auch die Wirklichkeit oder Faktizität ist eine grundlegende Form aller unserer Situationen. Gemeint ist, dass in einem grundlegenden Sinne etwas real ist, dass wir uns beispielsweise in Situationen in einem Weltganzen vorfinden, den Boden unter unserer Füßen spüren, fühlen und denken sowie uns in der Zeit wandeln. An diesen Beispielen zeigt sich, dass die hier in den Blick genommene Faktizität nicht auf empirisch nachweisbare Fakten als uns Vorgegebenes beschränkt ist. Denn zum einen ist uns mehr als das empirisch Nachweisbare auf gewisse Weise vorfindlich, zum anderen wird auch durch empirische Untersuchungen die Realität schon mitkonstituiert. Wirklichkeit ist also mehr als Vorfindliches, wirklich ist auch nur das, was kommunikativ zwischen Menschen als real gilt – die Wirklichkeit ist insofern nicht in reiner Objektivität fixierbar, sondern ein dem offenen Diskurs unterliegender Bedeutungszusammenhang.167 Wirklichkeit ist uns also nicht als vorfindliche, menschlich unbeeinflusste oder „rein objektive“ Natur zugänglich, sondern immer nur so, wie wir das Vorgegebene verstehen.168 Wir verstehen also die Wirklichkeit auch als Natur im Erfassen von Bedeutungszusammenhängen und von Sinneinheiten. Das betrifft nicht nur naturwissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch ganz alltägliche Lebensvollzüge: So kann ich das Mensamittagessen zwischen zwei Terminen in mich hineinschlingen oder bewusst zur Ruhe kommen und es genießen, auch wenn ich nur zehn Minuten Zeit dafür habe. Zwar mag ich im Augenblick des Schlingens nicht darüber reflektieren, dass ich gerade schlinge. Allerdings kann ich es als Herunterschlingen nur verstehen, das heißt, das Herunterschlingen ist mir nur als eine sprachlich getragene Bedeutung zugänglich, die diese Weise des Essens vom Genießen, Langsam-Essen usw. unterscheidet. Auf diese Weise sind uns auch Gefühle als Gefühle und als Teil unserer selbst erst im Verstehen zugänglich, auch wenn sie einen eigenen vom Denken relativ unabhängigen, wahrnehmenden Zugang zur Welt oder unserem Leben darstellen, den wir verstehend erfassen. Wir orientieren uns mit anderen Worten mittels Sinngebungen: Jede Situation, in der wir sind, hat einen Sinn, wir befinden uns in einem situativen Sinnhorizont. Dieser minimal-komplexe Sinnhorizont ist die grundlegende Einheit unserer Orientierung.169 Die bisher genannten Beispiele beziehen sich auf von uns relativ unabhängig Vorfindliches, das wir verstehen. Wirklich ist aber auch alles, was die Menschen als gemeinsame Realitäten so hervorbringen, dass sie wesentlich von Menschen kreierte Bedeutungszusammenhänge oder Sinneinheiten sind170 – etwa Phänomene 167

Vgl. zum Ganzen Thomas Rentsch, Konstitution, S. XXXIV, 76 ff., 155. Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. XXVIII, 92 f., 196, 208. 169 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 115 f., 196 ff. 170 Dies kann natürlich nur eine vorläufige Bestimmung des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis in einem engeren Sinne sein. Die genaue Grenzziehung wird schwierig, wenn einmal erkannt ist, dass auch die Theorie Praxis, also von Menschen geformt ist. Sie bleibt aber sinnvoll, wenn präsent gehalten wird, dass theoretisch keine „rein objektive“ Erkenntnis gewonnen werden kann. 168

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wie Sprache, Freundschaften und das Recht.171 Auch wenn sich die Sprache und das Recht in Schriftform gewissermaßen verobjektivieren lassen und auch Freundschaften sich in konkreten Verhaltensweisen zeigen, sind sie doch wesentlich von ihren je spezifischen Bedeutungen getragen, die wir selbst in der interexistenziellen Existenz bestimmen. Diese Sinngebungen sind als gedachte und kommunizierte und in ihrer Umsetzung vorfindlich und faktisch wirklich. So ist, wie noch näher zu zeigen sein wird,172 eine Straftat wesentlich als Verletzung eines anderen Menschen bestimmt. Dabei meint Verletzung nicht nur die konkrete faktische Wirkung des Verhaltens, das „rein faktisch“ durch einen anderen hervorgerufen würde, sondern auch eine spezifische Bedeutung des Herabsetzens des verletzten Menschen durch einen anderen Menschen, mit dem dieser jenem eine niedere Position faktisch zuweist, mit dem dieser die gemeinsame Welt, das gemeinsame Verhältnis faktisch gestaltet. Auch die Strafe ist nicht nur das Zufügen und Erleiden eines Übels in einem rein faktischen Sinne, sondern eine Praxisform der Menschen, die eine bestimmte Bedeutung als Praxisform oder Gestaltung der gemeinsamen Welt bei der Bewältigung von Straftaten im menschlichen Mitein­ander hat.173 Da uns die Welt in ihren vielfältigen Formen, zu denen unsere Praxisformen gehören, nur über das Verstehen zugänglich ist, kann es bei der Erläuterung von Strafe, TOA und Straftat nur darum gehen, deren sprachlich getragenen174 vernünftigen Bedeutungen oder deren sprachlich getragenen vernünftigen Sinn zu erläutern. Da Bedeutungszusammenhänge durch eine gemeinsame Sprache bzw. sprachliche Verständnismöglichkeiten getragen werden, zeigt sich hier zudem Sprachlichkeit als Konstituens unserer Grundsituation. Die Welt und das Verhältnis zu anderen ist kommunikativ verfasst. Auch wir selbst sind uns nur sprachlich zugänglich, das Denken lässt sich nicht von der Sprache lösen. Unsere Welt ist eine „Sprachwelt“.175 Hier erschließt sich auch, warum Untersuchungen der Sprache und des treffenden Sprachgebrauchs immer auch eine Untersuchung unseres Selbstverständnisses in der Welt sind.

171

Näher zur Selbstständigkeit / zum kreativen Aspekt des Schöpfens von Praxisformen als Grundzug unserer Existenz in diesem Kapitel unter 2. c) ii) (1). 172 Hierzu ausführlich im III. Kapitel. 173 Das Interexistential der Strafe wird näher im IV. Kapitel unter 3. erläutert. 174 Strafe und TOA werden spezifisch als Sprechakte näher von Roman Hamel, Strafen als Sprechakt, Berlin 2009, untersucht. Da beide als Bedeutungszusammenhänge notwendig sprachlich getragen sind, leuchtet dieser Ansatz ein. Aufgrund der holistischen Verfasstheit unserer Welt, darf es allerdings nicht zu einer Reduktion auf die sprachliche Ebene kommen. 175 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 107, vgl. auch S. 74 f.

2. Konstitution der Moralität nach Thomas Rentsch

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dd) Gemeinsamkeit oder Interexistentialität Ich fühle die gewaltige Einsamkeit um mich. Da ist nichts, was gleicht, kein Wesen, in dessen Anblick mein Selbst mir bewusst bliebe, ich fühle, ich verliere die Grenzen meines Seins in dieser überstarken Natur, und zum ersten Mal ahne ich das gott­ gewollte Geschenk des Mitmenschen. Christiane Ritter in der Einsamkeit der Polarnacht auf Spitzbergen, Eine Frau erlebt die Polarnacht (1938)

Die Interexistentialität oder Gemeinsamkeit mit anderen hat zunächst eine genetische und empirische Dimension – wir werden zum einen von Eltern gezeugt, von einer Mutter geboren176 und wachsen in gemeinsamen Lebensverhältnissen auf, zum anderen leben wir in gemeinsamen Verhältnissen in einem begrenzten Lebensraum177. Schon aus der sprachlichen Verfasstheit der Wirklichkeit als Grundzug wird aber ersichtlich, dass wir nicht nur faktisch in einem begrenzten Lebensraum nebeneinander existieren, sondern dass die gemeinsame Existenz mit anderen apriorisch für uns selbst und unsere Welt ist. Denn Sprache entsteht nur in gemeinsamen Beziehungen mit anderen. Wie Ludwig Wittgenstein mit seinem Privatsprachenargument herausgearbeitet hat,178 ist durch Sprache transportierte Bedeutung nur in der Gemeinsamkeit denkbar, eine Privatsprache, das Finden von Zeichen mit einem Bedeutungsgehalt für Sachverhalte, die wir je für uns empfinden oder wahrnehmen, ist nicht denkbar, und zwar so, dass wir dann weder andere noch uns selbst verstehen könnten. Bedeutung braucht als Kriterium ihrer Richtigkeit immer die anderen. So sind auch wir selbst uns als Selbstverhältnisse nur sprachlich, also in einer gemeinsamen kommunikativen Realität, zugänglich, als selbst können wir uns auch nur in einer Außenperspektive sehen, indem wir uns selbst so betrachten wie andere uns sehen. Erst im Horizont der Gemeinsamkeit vermag ich also auf mich zurückzukommen, mich zu entdecken. Das bedeutet nicht, dass ich mein Menschsein verlöre, wenn ich mich als Eremitin zurückzöge, dass also die anderen immer konkrete Bedingung meines je konkreten Seins sind. Gemeinsamkeit bedeutet, dass wir immer schon in eine „interexistentiell ‚erschlossene‘“ Situation hineinwachsen, dass wir uns in den Formen des gemeinsamen Lebens, in der gemeinsa 176 Auch hierin sind wir kein „fertiges“ aus sich gesetztes, autonomes und isoliertes nur auf sich bezogenes „das Ich“ oder Subjekt. Wir können nicht, wie Thomas Hobbes es tut, gleichsam als aus dem Boden sprießende Pilze betrachtet werden, die ohne Beziehung zueinander gereift wären (Vgl. Thomas Hobbes, Philosophical Rudiments Concerning Government and Society, in: Sir W. Molesworth (Hrsg.), The English Works of Thomas Hobbes Bd. II, Darmstadt 1966, S. 109, hier zit. nach Seyla Benhabib, Der Andere, S. 464 mit Fn. 28; vgl. dort auch zur Kritik der Hobbes’schen Er­läuterung). 177 Soweit auch Immanuel Kant, MdS, §§ 42, 43. 178 Vgl. hierzu Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§ 256–270; erläuternd etwa Ernst Tugendhat, Selbstbewusstsein, 5. Vorlesung.

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men kommunikativen Realität orientieren und auch nur in dieser selbstständig sein können.179 Zur interexistentiell erschlossenen Situation, in die wir hineinwachsen, gehört die Welt als gemeinsam verstandene Welt180 überhaupt, wie auch die konkreten Praxisformen als Phänomene unserer Welt, die wir in der gemein­samen Praxis ebenso wie die Auseinandersetzung mit ihnen durch Erziehung lernen. Wir wachsen so immer in eine historisch und kulturell in kleineren und größeren Zusammenhängen bestimmte praktische Welt, eine „öffentliche Handlungswelt“, hinein und prägen diese durch unsere eigene Praxis mit. Ob unsere Praxis vernünftig ist oder nicht, können wir dabei nur in der Kommunikation mit anderen feststellen, ein isolierte Praxis für sich ließe sich nicht von willkürlichen Einfällen unterscheiden. Auch unsere (in einem relativen Sinne) je eigene Praxis ist so in eine vorgängige gemeinsame Praxis eingebettet und auf diese angewiesen.181 Auch Strafe und TOA sowie die Bestimmung von Straftaten sind so immer in eine bestimmte kulturelle und historische Situation eingebettet, wobei sich meine Analyse auf die heutige Zeit beschränkt. Mit Rentsch lässt sich für das sprachlich getragene Erfassen unserer gemeinsamen Wirklichkeit von „kommunikativen Interexistentialen“, also gemein­samen bedeutungsvollen Formen unseres Lebens, sprechen, die im Miteinander und sprachlich getragen entstehen und uns gleichzeitig immer schon vorgegeben sind, indem wir uns immer schon in einer Welt der kommunikativen Interexistentiale bewegen und nicht in einem leeren Raum, in dem wir sie erst erschaffen.182 Da Interexistentiale immer bedeutungsgetragen oder sinnhaft sind, sind sie immer auch sprachlich vermittelt. Der Begriff kommunikatives Interexistential ist insofern ein Pleonasmus, unterstreicht aber noch einmal die sprachliche Getragenheit von Bedeutungszusammenhängen. Auch die Welt, die uns auch als natürliche nur kommunikativ in der Interexistenz vermittelt zugänglich ist, erweist sich hier als Interexistential.

179 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 148, vgl. zudem S. 155 f., 224 f. Ernst Amadeus Wolff geht davon aus, dass „das Ich“ zum einzelnen selbstständigen Bewusstsein nur so konstituiert wird, dass es sich „in einer Tat“ einen anderen gleichursprünglich als Selbstständigen gegenüberstellt, dass es einen Standpunkt außerhalb seiner selbst einnehmen kann (Kriminalunrecht, S. 182; ZStW 97 (1985), S. 786 (813 f.)). Dies wird jedoch im Ansatzpunkt seiner Philosophie nicht deutlich, Ausgangspunkt ist das sich seiner selbst bewusste Ich. Zudem bedarf es keines besonderen Setzungsaktes (vgl. hierzu in diesem Kapitel schon eben unter 2. c) bb) mit Fn. 163). 180 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 156. 181 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. XXVI f., 155 f, 158 ff., wo er dies in einem „Privatpraxisargument“ parallel zu Wittgensteins „Privatsprachenargument“ (vgl. eben bei Fn. 178) erläutert, und S. 225, 229. 182 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 155, 225.

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ee) Selbstverhältnis II: Einsamkeit Der Gemeinsamkeit korrespondiert die Einsamkeit. Wir können uns selbst zwar nur in der Interexistenz denken, also als Selbstständige nur mit den Anderen sein, wir sind diesen aber auch entzogen, von ihnen abgetrennt und (mehr oder weniger)183 fremd. Wir sind je für uns eine eigene, abgegrenzte Ganzheit (Totalität), die, wie eben erläutert,184 aber nicht subjektivistisch als monologische isolierte Bewusstseinswelt verstanden werden darf. Sprachlich erhellt dies auch daraus, dass der Indikator „ich“ nicht sinnvoll verwendet werden kann, ohne dass die ganze Gruppe der Personalindikatoren, wie „du“, „wir“, „sie“ usw. bekannt ist.185 Die Wirklichkeit des Entzogenseins wird also erst gemeinsam und sprachlich konstituiert, sie ist damit auch ein Interexistential. Dieses Entzogensein kann nicht als absolute innere Abgeschlossenheit gegenüber anderen verstanden werden, wie sich zum Beispiel daran zeigt, dass wir uns ineinander einfühlen, aber auch andere psychisch manipulieren können.186 Rentsch geht entgegen dem traditionellen Subjekt-Objekt-Modell (das zudem Intersubjektivität ganz ausblendet) davon aus, dass sich die Existenz erst auf der Basis der Interexistenz und die dinglichen Kategorien auf der Basis von Interexistenz und Existenz nach folgendem Schema konstituieren:187 (3) Kategoriale, dingliche Konstitution durch Personen in der Interexistenz und Existenz (2) Existenzielle Konstitution der einzelnen Personen und ihres Sich-zu-sich-Verhaltens (1) Interexistentielle Basis der Konstitution, Interexistentiale in der Praxis und Rede

183 Weniger fremd sind wir uns meist mit Menschen unserer Kultur (doch auch hier gibt es schon erhebliche Differenzen, wenn wir nur an das politische Spektrum vom Rechtsextremismus bis hin zu linksalternativen Konzepten denken); eine größere Fremdheit besteht gegenüber Menschen aus anderen Kulturen, auch wenn sie in unserer Mitte leben, wie sich gut an den Integrationsdebatten sehen lässt. Der Struktur nach handelt es sich um dasselbe Phänomen. Vgl. hierzu auch Thomas Rentsch, Konstitution, S. XLIV, sowie zur Andersartigkeit zwischen den Völkern und geschichtlichen Kulturen S. 179 ff. 184 Eben unter dd) in diesem Abschnitt. 185 Vgl. zum Ganzen Thomas Rentsch, Konstitution, S. 87 f., 97, 186 ff. 186 Die strikte Trennung zwischen Innen und Außen scheint damit einher zu gehen, dass „das Ich“ als etwas Substrathaftes, Vergegenständlichtes gedacht wird. Denn nur wenn ich mich als das Ich, also verdinglicht denke, stellt sich die Frage, wo dieses Ich seinen Ort abgegrenzt im Leib wie in einem „Leibbehälter“ hat, so dass es ein Innen und ein Außen geben und beides irgendwie verbunden werden muss. Begreifen wir uns selbst von vornherein als leibliche, singuläre Totalität in unseren Lebensvollzügen in einer gemeinsamen Welt, zeigt sich die Unterscheidung zwischen Innen und Außen als relative, die immer wieder auf ihre Tragfähigkeit in einer gemeinsamen Welt hinterfragt werden muss und immer wieder als relative Unterscheidung in einer gemeinsamen Welt verortet werden muss; vgl. hierzu Thomas Rentsch, Konstitution, S. 88 ff., 133. 187 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 157.

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

Der Stufenaufbau, die Nummerierung und die Bezeichnung der Interexistenz als „Basis der Konstitution“ legen nahe, dass die Interexistenz so Grundlage der Existenz und der dinglichen Welt ist, dass diese sich aus ihr erst ableiten. Dies aber würde seiner Vorstellung von der Gleichursprünglichkeit der Grundzüge der primären Welt, genauer der Gleichursprünglichkeit der Situationalität, der wechselseitig entzogenen Selbstverhältnisse und der Interexistentialität, widersprechen, die er immer wieder betont. Vermutlich geht es Rentsch eher um die Betonung der Apriorität der Interexistentialität in Abgrenzung zu monologisch-subjektzentrierten Perspektiven.188 Dies sollte aber meines Erachtens die in ihrer Gleichursprünglichkeit eigenständigen Aspekte der Situationalität und der Selbstverhältnisse nicht negieren. Denn ohne den vorgegebenen Kontext könnten wir uns auch interexistentiell nicht über ihn als real verständigen, ohne die Selbstverhältnisse gäbe es auch keine Interexistenz. Auch als sich überschneidende Mengen mit einer gemeinsamen Überschneidungsfläche ließe sich das Verhältnis der drei Grundzüge nicht angemessenen wiedergeben, denn dann bliebe je ein eigenständiges Feld für jeden Aspekt, der für sich allein nicht verständlich ist. Aufgrund der wechselseitigen Bedingtheit der gleichursprünglichen Aspekte der Grundsituation lassen sie sich nicht auf eine Weise voneinander isolieren, wonach sie je irgendwann für sich ganz allein stehen. Sie bilden insgesamt die Welt, auch wenn sie sich in ihr unterscheiden lassen. Insofern lässt sich das Selbstverhältnis in der Interexistenz auch nicht allein über die Entzogenheit gegenüber den anderen bestimmen  – es muss mehr sein, indem es die Fähigkeit zum Denken, zur Kommunikation, zum Einfühlen in den anderen und das Potential zur Selbstentfaltung und Eigenständigkeit mitbringt. Das Selbstverhältnis ist also auch  – in der interexistentiell erschlossenen Situation – positiv beschreibbar, nicht nur über das Entzogensein, die Abgegrenztheit vom anderen. Diese weitere Ausformung des Selbstverhältnisses wird im Folgenden noch erörtert.189 Es bleibt aber dabei, dass für die Selbstständigkeit als Kern des Menschseins, ebenso die interexistentiell erschlossene Situation Voraussetzung ist. Sie entsteht dabei nicht durch eine originäre Selbstsetzung eines abstrakten bewussten Ich, sondern in der Interexistenz und aufgrund der wechselseitigen Entzogenheit und Unverfügbarkeit. Wir sind eigenständig nur in Bezug auf andere und anderes. ff) Leiblichkeit, Empfinden und naturale Getragenheit Weiterer Aspekt unserer Konstitution ist, dass wir als leibliche Wesen existieren und natural getragen sind. Wir selbst sind nicht nur im Aspekt des Selbstverhältnisses und der Einsamkeit gegenüber anderen. Beides wird über eine leibliche 188

Dies deutet sich z. B. auf S. 107 (Thomas Rentsch, Konstitution) an. In diesem Kapitel unter 2. c) ii).

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2. Konstitution der Moralität nach Thomas Rentsch

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Einheit vermittelt, ohne die wir nicht existieren können und nicht denkbar sind. Wir sind dabei jeweils als Einheit gegenüber anderen, aber auch als Einheit in uns selbst und über die Lebenszeit hinweg. Das Existieren als Einheit in uns selbst bedeutet, dass wir uns in unseren Lebensvollzügen einschließlich unseres Denkens nicht vom Leib trennen können: Wir sind in unserem Verstehen, in all unseren Orientierungen und Vollzügen leiblich ermöglicht und getragen. Das bedeutet nicht, dass unsere Entscheidungen leiblich naturgesetzlich determiniert sind. Es bedeutet, dass wir ohne die Basis des Leibes nicht selbstständig denken, entscheiden und handeln können. Dabei „sitzen“ wir nicht als Kern in einem „Körperbehälter“, sondern sind ganz unser Leib.190 Der Leib ist zwar auch im empirisch wissenschaftlichen Sinne der traditionellen westlichen Medizin als Körper wahrnehmbar und verobjektivierbar, er ist als lebendige Einheit oder auch „beseelte“ Leiblichkeit aber mehr und wird uns selbst erst als Interexistential, als Form der gemeinsamen Wirklichkeit, zugänglich.191 Über den Leib sind wir auch natural getragen, also als lebendige, denkende, empfindende Wesen nicht aus uns selbst heraus geschaffen oder gesetzt. Wir sind in natürliche Abläufe, wie das Wachsen und das Altern, eingebunden; die Natur ist Basis unserer Selbstständigkeit.192 Bei der Betrachtung des Körpers als Leib können auch die Aspekte der sinn­ lichen Wahrnehmung und des Empfindens, unter anderem der Gefühle und der Intuition, in den Blick kommen. Das Wahrnehmen und Empfinden sind leiblich vermittelte Aspekte unserer Welt, die mittels des Denkens und der Sprache wirklich werden, aber als sogenanntes „unmittelbares“ Wahrnehmen und Empfinden vom Denken auch unterschieden werden können. Das Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit etwa wird uns als Teil unserer selbst als eine sprachlich getragene Bedeutung erst im Verstehen zugänglich. Wir verstehen die Einsamkeit im verstehenden Unterscheiden vom Gefühl des Aufgehoben- und Geborgenseins, auch wenn es einen eigenen vom Verstehen relativ unabhängigen Teil unserer selbst ausmacht und wir über das Empfinden oder Wahrnehmen einen relativ eigenständigen Zugang zur Welt und unserem Leben haben. Gefühle sind als Teil unseres Lebens allgegenwärtig, etwa wenn „der erste Eindruck stimmt“, wir uns zu einer Person hingezogen fühlen oder sie abstoßend finden, uns ein Bild anrührt oder wir Angst vor einer Prüfungssituation haben. Gerade in zwischenmenschlichen Verhältnissen ist die Intuition ein wichtiger Aspekt – ob es jemand aufrichtig mit uns meint oder nicht, spüren wir, wobei wir dieses Spüren nur verstehend erfassen und einordnen können. Wir können un 190

Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 89 ff. Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S.  88 ff.; vgl. zu einer Kritik eines objektiven Verständnisses vom Körper u. a. Barbara Duden, Geschichte unter der Haut, 1991. 192 Vgl. hierzu Thomas Rentsch, Konstitution, S. 92 f. Wie aus den Ausführungen zur Wirklichkeit (in diesem Kapitel oben 2. c) cc) deutlich geworden sein dürfte, ist die Natur ebenfalls ein Interexistential und uns nicht in reiner Form, sondern nur im perspektivischen Verstehen zugänglich. Wir konstituieren sie durch unsere Wahrnehmung, unsere Denkmodelle und den interexistentiellen Konsens mit, wir etablieren ein Naturverhältnis. 191

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

sere Empfindung durch Überlegungen stützen, letztlich entscheidend ist aber, ob es sich richtig anfühlt oder nicht. Wir kennen das etwa bei Entschuldigungen, wie sie unter anderem für das Gelingen eines TOA entscheidend sind: Wenn eine Entschuldigung zwar geäußert wird, aber nicht wirklich so gemeint ist, können wir das spüren und werden die Entschuldigung dann nur als äußerliche, nicht ernst gemeinte einordnen. Wenn sie hingegen einer Einsicht in fehlerhaftes Verhalten entspringt, werden wir das spüren und verstehend nachvollziehen können und die andere dann auch leichter wirklich ent-schuldigen können. Das bedeutet nicht, dass eine Entschuldigung und das Entschuldigen etwas vordergründig Gefühls­ bestimmtes wären. – Zwar kann das Entschuldigen von einem Gefühl der Reue und des Ent-schuldigens vom Mitfühlen geprägt sein. Entschuldigung, Reue und Entschuldigen lassen sich aber nicht auf ein (wenn auch verstandenes) Gefühl reduzieren. Alle drei haben eine bestimmte vernünftige Bedeutung,193 die sich auf die Bewältigung von Verletzungen in unserem Verhältnis als Selbstständige und wechselseitig voneinander Abhängige bezieht.194 gg) Räumlichkeit und Zeitlichkeit Wir befinden uns immer an einem bestimmten Ort, von dem aus wir uns in verschiedene Richtungen bewegen können, jede Situation ist räumlich verortet. Wir orientieren uns also räumlich. Gemeint ist dabei ein Orientierungsraum in einem ganz grundlegenden Sinne, also vor jeglicher Mess- und Gliederungs­praxis, die den Orientierungsraum aber näher gliedert und in seiner Gesamtheit letztlich auch mitkonstituiert. Den grundlegenden Orientierungsraum können wir nicht verlassen, wir sind immer irgendwo. Unsere Leiblichkeit, von der aus wir die Welt erfahren, ist dabei jeweils die Mitte der Welt, von der aus wir uns räumlich orientieren.195 Unsere Lebenssituationen sind nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich bestimmt und gegliedert. Wir sind immer zu einer bestimmten Zeit, die Wirklichkeit ist zu einer bestimmten Zeit, wie sie ist. Zeit ist das Eingebundensein in eine Abfolge, die durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Unumkehrbarkeit und Einmaligkeit196 von Situationen und Endlichkeit gekennzeichnet ist. Die Gegenwart lässt sich dabei nicht von der Zukunft oder der Vergangenheit abtrennen, sie wird nur aufgrund der Vergangenheit und aufgrund ihrer Richtung auf die Zukunft verständlich.197 Deutlich wird uns die Zeitlichkeit an unumkehrbaren, einmaligen 193 Vgl. parallel zum Gefühl der Freundschaft oder zu freundschaftlichen Empfindungen, Thomas Rentsch, Konstitution, S. 219. 194 Eingehend wird dies im IV. Kapitel unter 4. d) erläutert. 195 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 81, 83 f., 108. 196 Zum gleichursprünglichen Grundzug der singulären (einmaligen) Totalität in diesem Kapitel unter 2. c) kk). 197 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 82 f., 98 f., 115 f.

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Veränderungen. Auch hier wird deutlich, dass das „Ich denke“ allein nicht Ausgangspunkt einer Philosophie sein kann. Denn das menschliche Leben wird nicht in einem präsenzorientierten Blick auf „das Ich“ verständlich, sondern nur als etwas, das sich als Einheit über die Zeit seines Lebens wandelt – etwa hinsichtlich der leiblichen Verfassung und der emotional-geistigen Verfassung und Sichtweisen eines Menschen im Verlauf von Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter – und sich erst im Tod vollendet.198 Da jede Situation zeitlich und örtlich in unserer Welt gewissermaßen verankert ist, ist auch eine Straftat als eine bestimmte zwischen Menschen bestehende und durch das Verhalten von Menschen bestimmte einmalige Situation durch eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort gekennzeichnet. Das ist zum Beispiel für die Bestimmung des Begriffs der prozessualen Tat, also des Lebenssachverhaltes, der Gegenstand der strafprozessualen Hauptverhandlung ist und hinsichtlich dessen Strafklageverbrauch eintritt, wenn er einmal abgeurteilt ist, wesentlich.199 Die zeitliche Unumkehrbarkeit der Tatsituation verweist aber auch darauf, dass eine Straftat (wie jedes Verhalten) nicht rückgängig gemacht werden kann und als praktischer, das Leben und die Welt gestaltender Sinnentwurf der Täterin das Leben der Täterin und das Verhältnis zwischen Täterin und Opfer anhaltend prägt. In diesem Beispiel wird neben der Zeitlichkeit und Einmaligkeit zugleich auf unser menschliches Selbstverständnis als praktischer Sinnentwurf mit Erfüllungsrichtung Bezug genommen, einer Ausformung des gleichursprünglichen Grundzuges des Selbstverhältnisses, die noch erläutert werden wird.200 hh) Möglichkeit und Begrenztheit (Endlichkeit) Die Wirklichkeit ist nicht statisch, sondern verändert sich über die Zeit. Voraussetzung dafür ist die Potentialität der Wirklichkeit, also dass es möglich ist, dass sie sich verändert, dass sie ein offener „Raum“ von Möglichkeiten ist. Die Eröffnung von Möglichkeiten ist nicht nur ein Konstituens der naturalen Wirklichkeit, sondern auch Grundzug unseres Orientierens, Entscheidens und Handelns im Sinne von Wahlmöglichkeiten. Potentialität ist damit Möglichkeitsbedingung der Freiheit oder Selbstständigkeit, der auch kreative Momente immanent sind. Der Potentialität korrespondiert die Endlichkeit – die Begrenztheit unserer Verhaltensmöglichkeiten in konkreten Situationen, die letztlich nicht dispensierbaren zeit­ lichen Veränderungen unseres Leibes, die Endlichkeit des Lebens.201

198 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 83: „lebensbedeutsame Orientierungszeit“, vgl. zudem ders., Konstitution, S. 82 f., 98 ff., 108, 133. 199 Vgl. hierzu Art. 103 III GG, § 264 I StPO. 200 In diesem Kapitel unter 2. c) ii). 201 Vgl. zum Ganzen Thomas Rentsch, Konstitution, S. 79 ff.

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ii) Selbstverhältnis III: Existenz als Selbstständige Du sagst, du willst die Welt nicht ändern, und ich frag mich, wie machst Du das nur? Du bist doch kein Geist in der Flasche und du bist auch kein Loch in der Natur. Denn nach jedem Schritt, den du gehst, und nach jedem Wort, das du sagst, Und nach jedem Bissen, den du isst, ist die Welt anders als sie vorher war. Rio Reiser, Wann? (1987)

Der Raum menschlicher Freiheit wird nicht nur durch einen Raum von (begrenzten) Wahlmöglichkeiten eröffnet, sondern auch durch die Selbstständigkeit, das Handeln aus uns selbst heraus: (1) Selbstständigkeit als Neubeginn innerhalb einer vorgängigen Praxis Traditionell wird Selbstständigkeit als Freiheit gefasst: Kant bestimmte Freiheit unter anderem als das „Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, dessen Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht […].“202 Auch Hannah Arendt sprach in der Folge davon, dass wir als Freie „eine Reihe von vorne anfangen“203 können. Ernst Amadeus Wolff erläutert: Wenn wir uns verhalten, gehen wir nicht notwendig vom Zustand t1 zum Zustand t2 über, Zustand t2 ist vielmehr eine Möglichkeit, die wir in Ausschlagung einer anderen Möglichkeit gewählt haben, und zwar so, dass diese Wahl unsere Wahl, ein Ergebnis eigener Handlungsmächtigkeit ist; Wolff spricht auch vom „Vermögen, etwas nach eigenem Sinn ins Werk zu setzen“.204 Freiheit kann also vorläufig als das Vermögen, etwas selbst, innerhalb eines Bereiches bestimmter Möglichkeiten, in Gang zu setzen, bestimmt werden, sie gründet in unserer Vernunft. Wir können dieser Freiheit, aus uns selbst heraus zu handeln, nicht ausweichen, wir können uns nicht dafür oder dagegen entscheiden, frei zu sein, wir sind es. Diese Spontaneität ist somit faktisch gegeben, Faktizität und Spontaneität sind an dieser Stelle grundlegend verschränkt.205 Freiheit ist dabei ein Erleben, das nur aufgewiesen, 202

Imanuel Kant, KrV, B 561, A 533. Hannah Arendt, Totale Herrschaft, S. 969 f. 204 Ernst Amadeus Wolff, Kausalität, S. 62 (im Original hervorgehoben), vgl. zudem S. 57, 60. 205 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 109, vgl. auch S. XVI, XXX f. Kant geht davon aus, dass wir von der Freiheit a priori wissen und dass das Bewusstsein des Sittengesetzes, das mit Freiheit notwendig wechselseitig verbunden ist, ein unwiderlegbares, wenn auch nicht empirisches Faktum der Vernunft sei (vgl. KpV Vorrede A 4 f., § 7 Anm. A 55 f., KrV B 561, A 533). Freiheit ist also auch für ihn unleugbar und faktisch wirklich, wenn auch nicht empirisch. Der 203

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nicht aber bewiesen werden kann, das heißt, wir selbst erfahren unsere Freiheit als Faktum: Ich weiß zum Beispiel, dass ich mich entscheide, ob ich konzentriert an der Niederschrift meiner Gedanken arbeite oder lieber im Internet surfe oder Tee trinken gehe (wozu die Verführung groß ist) usw.206 Auch in der Frage „Was soll ich tun?“207 erfahren wir uns in unserer Freiheit, denn wir könnten uns diese Frage nicht stellen, wenn wir nicht darüber entscheiden können, was wir tun. Freiheit ist somit zwar unabdingbarer Grundzug unserer Existenz, Spontaneität und Faktizität sind dabei aber auch insofern miteinander verwoben, als wir nicht nur als „reine“ Vernunft, sondern als leiblich getragene Wesen existieren. Mit anderen Worten ist unser Vermögen zur Freiheit leiblich fundiert und unsere Freiheit nicht jenseits des je eigenen Leibes denkbar.208 Wir wissen dabei, dass der leibliche naturhafte Aspekt unserer Existenz unser „Verhalten“ steuern kann, so dass der menschlichen Freiheit unfreies menschliches „Verhalten“ korrespondiert. Beispielsweise werden die Körperbewegungen während eines epileptischen Anfalls durch willentlich nicht beherrschbare leibliche Abläufe gesteuert. Die Grenzen zwischen freiem und unfreiem Verhalten können dabei fließend sein, etwa bei automatisiert-reflexhaften Bewegungen oder Trunkenheit.209 Hier wird deutlich, dass das Verhältnis von Leib und Vernunft ein wechselseitig bedingtes ist: Der Leib ist zum einen die Basis unserer Existenz als Vernünftige, und die Naturhaftigkeit kann uns auf bestimmte Weisen steuern. Zum anderen beherrschen wir unseren Leib auf bestimmte Weisen im Vollziehen unserer Sinngebungen und formen ihn dadurch mit. Rentsch spricht im Zusammenhang mit der Freiheit von „erfahrungs-, lebensund gesellschaftsermöglichender Kreativität“210, also einer schöpferischen Kraft. Dabei denkt er nicht an das völlige „Neuschöpfen“ von Praxisformen, auf die die Rede vom voraussetzungslosen Neubeginn verweisen könnte. Er geht vielmehr davon aus, dass wir die Praxisformen oder praktischen Sinnentwürfe im Mitein­ ander, etwa in der Familie, im Kindergarten, der Schule usw., lernen, in diese hineinwachsen und auch als Erwachsene immer wieder im Miteinander formen. Wir wachsen also in eine schon erschlossene praktische Situation hinein, die lokal und übergreifend kulturell und historisch geprägt ist. Praktische Sinnentwürfe verweiDifferenzierung zwischen transzendentaler und empirischer Faktizität dürfte seine strikte Trennung zwischen intelligibler und Erfahrungswelt zugrunde liegen, der nicht gefolgt werden kann: Wir leben in einer untrennbaren Welt und sind in dieser faktisch vernünftig und frei. 206 Vgl. auch das Assistentenbeispiel Ernst Amadeus Wolffs, Kausalität, S. 60. 207 Immanuel Kant, KrV B 832 f., A 804 f.; ders. Logik A 25. 208 Vgl. zur leiblichen Getragenheit in diesem Kapitel bereits unter 2. c) ff). Dies bedeutet nicht, dass wir in unsere Entscheidungen naturgesetzlich bestimmt wären. Hier ist aber ein weiterer Ansatzpunkt zum Verstehen der Vorgeprägtheit unserer Praxis. Vgl. zu neueren Veröffent­ lichungen zum Zusammenhang zwischen Willensfreiheit und Neurowissenschaften ­Stephan Zimmermann, PhilR 57 (2010), S. 272 ff. und vgl. zum Zusammenhang zwischen Hirnforschung und Strafrecht u. a. Klaus Günther, KJ 2006, 116 ff. und Stefan Krauth, KritV 2008, 303 ff. 209 Dies zeigt sich auch an den notwendigen Einzelfallbetrachtungen bei der gutachterlich gestützten Feststellung von Schuldfähigkeit, verminderter Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit gem. §§ 20, 21 StGB durch die Richterin. 210 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 109 (im Original Hervorhebung von Kreativität).

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sen also immer auf eine vorgängige Praxis, auch wenn wir diese, je selbstständiger wir werden, irgendwann als eigene vollziehen und diese verändernd gestalten.211 Wir verhalten uns unausweichlich auch immer zu den vorgängigen Sinngestalten, wir gehen in ihnen nicht distanzlos auf. Wir können sie kritisch betrachten und bewerten, wir können sie kritiklos hinnehmen. Dabei setzen wir uns auch im Hinnehmen in ein Verhältnis zu den Praxisformen. In dieser kritischen Auseinandersetzung mit den Praxisformen können wir auch neue praktische Gestalten formen. Die Rede vom „Neubeginnen einer Reihe“ ist so zwar zur Abgrenzung zu strikt naturgesetzlicher Determination sinnvoll, sie ist aber im Hinblick auf die uns vorgängige Praxis zu präzisieren: Wir werden nicht durch eine vorgängige, etwa gelernte oder allgemein akzeptierte Praxis in einem strikt naturgesetzlichen Sinne bestimmt, sie prägt aber nicht nur unsere Vorstellungen sinnvoller Praxis, sie eröffnet uns gewissermaßen überhaupt erst einen Raum sinnvoller Praxis, den wir dann als Selbstständige mitgestalten und verändern: Wie Rentsch schreibt, werden wir Menschen erst „in der kommunikativen Interexistenz zu uns selbst, kommen aus den interexistentiellen Verhältnissen auf uns zu und entwerfen unsere praktischen Sinnentwürfe im gemeinsamen Leben auf kommunikative Sinngestalten hin“.212 Dabei können wir die Praxisformen selbst beurteilen, annehmen, ablehnen, modifizieren oder hinnehmen, und zwar so, dass unsere Praxis unsere eigene ist. Die Vorgängigkeit und die spezifische Entwicklung der lokaleren und übergreifenden Praxisräume zeigen sich uns als je bestimmter kultureller und historischer Horizont unserer Praxis. Nicht zuletzt sind auch die vorgängigen Praxisformen immer schon Ausdruck menschlicher interexistentieller Kreativität. Aus der Erläuterung des Verwurzeltseins innerhalb einer Praxis wird zudem deutlich, dass wir nicht als „das Ich“ von einem idealen aus der Praxis abgezogenen Standpunkt, quasi von Level „0“, aus Praxisformen entwerfen und praktisch urteilen, sondern immer in eine Praxis mit bestimmten Praxisformen eingebunden sind.213

211

Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 127 f., 148, 160, 192, 222 ff.; vgl. zudem bereits in diesem Kapitel unter 2. a). 212 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 229. 213 Vgl. dazu, dass die auch für Immanuel Kant vorgängige Maxime im Verfahren des kategorischen Imperativs dem nicht entspricht, weil sie auf eine rein faktische Erscheinungsform reduziert wird, in diesem Kapitel bereits unter 1. e). Ernst Amadeus Wolff, der den kategorischen Imperativ ergänzt und neu interpretiert, geht davon aus, dass in der Maxime immer schon Vernunft anwesend ist, was auf die Vorgängigkeit einer auch schon vernünftigen Praxis verweist, die mit der Maxime in das praktische Urteilen aufgenommen wird (vgl. ZStW 97 (1985), S. 786 (810 in Fn. 59)). Allerdings ist sein Ausgangspunkt „das Ich“, das jedenfalls in der Ausdrucksweise auf den idealen Standpunkt des Ichs als reine Vernunft, das aus der Welt gelöst ist, erinnert, so dass der Verdacht aufkommt, dass „das Ich“ bei Wolff zwar über die Maxime gewissermaßen mit einem Bein in der Welt verankert ist, mit dem anderen Bein aber in einer idealen, aus unserer Welt gelösten Standpunkt angehört (vgl. bereits oben Fn. 122).

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(2) Praktische Sinnentwürfe und Rationalitätskriterien Da jede Situation, in der wir sind, einen Sinn hat, wir uns somit in einem situati­ ven Sinnhorizont befinden, ist uns auch unser selbstständiges Entscheiden und Verhalten nur im Bezug auf Sinngestalten verständlich, das heißt, wir orientieren uns mittels Sinndeutungen und Sinngebungen214: Dieser minimal-komplexe Sinnhorizont ist die grundlegende Einheit unserer Orientierung.215 Auch das Eigene, Schöpferische ist deshalb nicht losgelöst von einem Sinn denkbar, es drückt sich also gewissermaßen mittels Sinn oder Bedeutung aus. Unsere Praxis ist nicht nur als theoretisches Erkennen sinngetragen, sie ist es bezüglich unseres Verhaltens überhaupt, also auch bezogen auf die Praxis im engeren Sinne. Insofern wir die Praxisformen im eben erläuterten Sinne selbst gestalten, können wir sie auch als praktische Sinngestalten bzw. Sinnentwürfe verstehen. Die Sinnentwürfe sind auch jenseits theoretischer Erkenntnisse nicht beliebig: Wie bereits aufgewiesen, verstehen wir Sinn oder Bedeutungen, erschließen wir uns die Welt in all ihren Ausformungen (auch der der praktischen Sinngestalten) letztlich über das Verstehen.216 Das Verstehen ist auf Wahrheit oder Richtigkeit ausgerichtet. In praktischer Hinsicht wird dies in der Frage „Was soll ich tun?“217 deutlich, mit der wir in einem Raum verschiedener Verhaltensmöglichkeiten nach dem richtigen Verhalten fragen. Die Frage nach der Richtigkeit ist die konkretere Ausformung der Anforderung der Selbstständigkeit in einem Raum von Möglichkeiten, indem wir uns als Verstehende und Vernünftige entscheiden müssen, unsere praktischen Sinngestalten sind so nicht nur immer schon vorfindlich, sondern auch immer schon normativ geprägt. Das heißt, wir bewerten die in einem Verhalten zum Ausdruck kommende Sinngestalt als richtig oder falsch, wobei dieses Bewertungsmoment der Sinngestalt immanent ist. Sie enthält gewissermaßen den Anspruch auf Richtigkeit, dem die Möglichkeit des Fehlers korrespondiert. Richtiges wie fehlerhaftes Verhalten ist somit gleichermaßen selbstständiges Verhalten. Der Anspruch auf Richtigkeit resultiert aus dem eigenen Schöpferischen des Entscheidens oder es wird umgekehrt gerade hierin das Eigenständige unserer Sinn 214 Die Begriffe der Sinndeutung und -gebung sind nicht scharf voneinander abgrenzbar: Einerseits gibt es kein eine reine Objektivität eins zu eins wiedergebendes Sinnverständnis; auch auf faktisch Gegebenes bezogene Sinndeutungen (z. B. naturwissenschaftlichen Beobachtungen) eignet ein schöpferisches Moment. Sie sind auf gewisse Weise immer auch Sinngebungen, worauf das Wort „deuten“ mit seinem auf das Verstehen bezogenen Anteil schon verweist (vgl. hierzu in diesem Kapitel bereits oben unter 2. c) cc)). Andererseits haben praktisch schöpferische Sinngebungen durch ihren Bezug auf eine vorgängige Praxis immer auch ein deutendes Moment. Das bedeutet nicht, dass die Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis sinnlos ist, sie ist aber eben nicht unbegrenzt tragfähig. Vgl. zur Differenzierung zwischen Theorie und Praxis Thomas Rentsch, Konstitution, S. XXVIII, 92 f. 215 Vgl. zum Ganzen Thomas Rentsch, Konstitution, S. 115 ff., 195 ff.; vgl. zur Sinngetragenheit in diesem Kapitel bereits oben unter 2. c) cc) und zur Anforderung der Rationalität unter 2. b) bb). 216 Vgl. in diesem Kapitel bereits oben unter 2. c) cc). 217 Immanuel Kant, KrV B 832 f., A 804 f.; ders. Logik A 25.

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entwürfe, das Schöpfen aus uns selbst deutlich. Wir verstehen uns auf diese Weise von vornherein „als moralische Personen, denen der Sinn unbedingter moralischer Orientierungen in ihrem gemeinsamen Leben mit Anderen einsichtig und vertraut ist“. Wir stehen also nie vor der Frage, „uns einmal für oder gegen ein moralisch verfasstes Selbstverständnis entscheiden zu müssen“.218 Hieraus ergibt sich auch eine über die Bedeutung als minimale Orientierungseinheit hinausgehende Bedeutung von „Sinn“: So ist etwas sinnvoll, vernünftig oder gut, wenn es richtig ist. Vernunft wird uns dabei über die konsentierten Grundzüge unserer Welt zugänglich219, die so Rationalitätskriterien auch für unsere praktischen Entscheidungen im engeren Sinne sind. Wenn wir praktisch urteilen, vergewissern wir uns des vernünftigen Sinns der Praxisformen und formen diese anhand der Grundzüge auch um. Wenn wir etwa erkennen, dass unser Verständnis der Freundschaft der Selbstständigkeit der Befreundeten nicht gerecht wird, etwa wenn wir meinen, dass eine Freundin immer für uns da sein muss, aber erkennen, dass sie dafür die Eigenständigkeit ihres Lebens aufgeben müsste, formen wir dieses neu, indem wir zum Beispiel überlegen und diskutieren, wie wir angemessenen mit den wechselseitigen Bedürfnissen nach Nähe und Unterstützung einerseits sowie Abgrenzung und Eigenständigkeit andererseits umgehen und dabei eine gewandelte, vernünftigere Form von Freundschaft entwickeln. Dabei werden die in der Praxisform der Freundschaft deutlich werdenden Grundzüge der Selbstständigkeit und Interexistentialität eine Rolle spielen.220 An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass sich Praxisformen nicht aus den Grundzügen der Lebenswelt ableiten lassen oder dass diese eine Basis für jene sind. Die Grundzüge zeigen sich uns vielmehr in den Gestalten der Welt gewissermaßen als ihre gemeinsamen Züge, und zwar so, dass wir die Welt ohne sie nicht verstehen können.221 Sie sind so zugleich Rationalitätskriterien für unser Urteilen. Auch aus den vorgängigen Praxisformen als Gestalten der Welt treten sie uns entgegen, und zwar sogar dann, wenn sie sich als Verfehlung darstellen. Andersherum formuliert, ist unsere Praxis immer schon eine vernünftige oder unvernünftige, sie ist unausweichlich normativ geprägt. Es gibt so keine Praxis, die reine Faktizität wäre. Selbst die der NS-Rassenideologie zugrunde liegende Idee einer „Herrenrasse“, die den extensiven Versuch der Ausrottung von Menschen jüdischen Glaubens, weiterer Bevölkerungsgruppen und anderer Völker legitimieren sollte, hat normative Implikationen: Das Normative zeigt sich schon überhaupt in der ideologischen Legitimation des Völker- und Massenmords. Dabei bezieht sich die Rechtfertigungsstrategie auf einen als richtig behaupteten Begriff vom Menschen, der sich, vermittelt über die Behauptung angeblich biologischer, „rassischer“ Merkmale, auf den Wert von Men 218

Thomas Rentsch, Konstitution, S. XVI, vgl. zudem 104 f., 231. Vgl. in diesem Kapitel oben unter 2. b) cc). 220 Vgl. zum Interexistential der Freundschaft auch Thomas Rentsch, Konstitution, S. 221 ff. 221 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 201, 213 und Klarstellung durch Thomas Rentsch in seinem Oberseminar am 3. Juli 2009 in Dresden, in dem ich mein Dissertationsprojekt vorgestellt habe (anhand meines Fazits dazu, S. 1 f.). 219

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schen bezieht, diese Behauptungen sollten zudem handlungsorientierend wirken und taten es auch. Damit ist die NS-Ideologie keinesfalls legitimiert, es ist nur festgestellt, dass sie mit einem normativen Anspruch handlungsorientierender Richtigkeit auftrat und, bezogen auf menschliches Verhalten, unausweichlich auftreten musste. Die Frage, ob wir moralisch handeln können oder müssen, stellt sich, wie bereits festgestellt, nicht. Es stellt sich nur die Frage, anhand welcher Kriterien wir konkretes Verhalten legitimieren können und zutreffend als richtig oder falsch einschätzen. Insofern wir als Menschen also nicht nach Naturgesetzen determiniert sind, sondern selbstständig unser je eigenes Leben sinnorientiert innerhalb einer vorgängigen Praxis führen, sind wir frei.222 Hinsichtlich des unbedingten Geltungssinns der vernünftigen Sinngestalten der Praxis, lässt sich auf diese Weise sagen, dass der kategorische Imperativ als unbedingter Geltungssinn in ihnen als kommunikativen Interexistentialen immer schon enthalten ist.223 (3) Fehlbarkeit und Paradox menschlicher Selbstständigkeit Eben wurde das Sich-in-der-Fehlentscheidung-Verfehlen als unausweichliche Möglichkeit und Realität menschlichen Entscheidens schon angesprochen. Diese ist nicht nur Ausdruck der Fragilität menschlicher Existenz, die noch erläutert werden wird,224 sondern auch Ausdruck unserer Selbstständigkeit, in der wir uns nicht automatisch richtig entscheiden, sondern der Anforderung ausgesetzt sind, nach Rationalitätskriterien praktisch zu urteilen, und diese dabei verfehlen können. Das Fehlverhalten ist so unabdingbarer Aspekt menschlicher Existenz. Wir alle sind mit der Möglichkeit und Realität eigenen oder fremden fehlerhaften Verhaltens konfrontiert.225 Dabei können wir willentlich, wissentlich oder aus Unachtsamkeit Fehler begehen, wir können uns aber auch bei gehöriger Gewissensanspannung verfehlen, da wir die Situationen und Folgen unseres Verhaltens nie gänzlich überblicken können und vieles einfach ausprobieren müssen, ohne wissen zu können, wie es enden wird.226 Die Fehlbarkeit wird auch im Zusammenhang mit Straftaten und ihrer Bewältigung relevant. Denn die Straftat ist als Fehlentscheidung der Täterin zu verstehen, in deren Umsetzung sie einen anderen Menschen existentiell missachtet. Sie verfehlt mit der Tat unter anderem die gleiche Selbstständigkeit in wechselseiti 222

Zur Autonomie vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 212. Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 321 ff., 333; hierzu auch bereits in diesem Kapitel unter 1. b). 224 In diesem Kapitel unten unter 2. c) ll). 225 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 170 f. und auch 165 ff. 226 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen, S. 6 f., 9; ders., „Geist der Verzeihung“ (1), S. 624. 223

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ger Abhängigkeit als Grundzüge unserer Existenz in der gemeinsamen Welt.227 Die Täterin hat die falsche Entscheidung als eigene, also als Selbstständige, getroffen, sie hat sich selbst für die verletzende Missachtung der anderen in existentiellen Aspekten ihrer Existenz entschieden, also trotz Wissens um die gleich zu achtende Existenz der anderen gehandelt, und damit das eigene Leben und das des Opfers gestaltet. Darauf beziehen sich die Interexistentiale der strafrechtlichen Verantwortung, wie Vorsatz und Schuld. Dieses Wissen wird selten auf diese Weise philosophisch ausgeformt sein. Es ist dennoch jedem Menschen (in unserer Kultur) der Sache nach, möglicherweise in andere Worte gefasst, präsent, weil wir dieses Wissen innerhalb unserer Praxis gelernt, dieses Wissen reflektiert und uns damit auseinandergesetzt haben. Wir wissen etwa, dass ein anderer nicht bestohlen werden darf, da sein Eigentum dem eigenen gleich zu achten ist usw. In diesem Sinne lässt sich durchaus von einem bösen Willen „als denkende Selbstverkehrung oder -vertauschung normativer Obersätze“ sprechen, der aber nicht absolut gesetzt werden darf.228 Dass es den bösen Willen als Anknüpfungspunkt strafrechtlicher Reaktionen auf eine Tat gibt, wird bestritten. So geht Arno Plack davon aus, dass der bewusst böse Wille eine Fiktion ist. Eine kriminelle Lebensführung lasse sich vielmehr als Folge frühkindlicher Qualen, Versagungen, Zurücksetzungen erklären.229 Sie ist nach Plack also Ausdruck psychischer Unselbstständigkeit, auch wenn er die Spontaneität menschlichen Verhaltens nicht bestreitet.230 Dem ist jedoch entgegenzuhalten,231 dass die Prägung durch kindliche Erfahrungen die Selbstständigkeit nicht ausschließt, sie ist vielmehr Ausdruck unseres Eingebettetseins in eine vorgängige, uns in vielerlei Hinsicht prägende Praxis und macht unsere selbstständige Existenz mit aus.232 Dabei ist unser Verhalten eben auch durch das Wissen um grundlegende Verhaltensanforderungen im Miteinander geprägt, in die wir ebenfalls hineinwachsen. Gerade bei der Missachtung grundlegender sozialer Verhaltensnormen, wie es strafrechtliche Ver- und Gebote sind, wird das Wissen um die Verhaltensanforderungen auch trotz negativer kindlicher Prägung im Grunde präsent sein. In diesem Sinne kann zwar beim „bösen“ Willen nicht grund 227 Das Interexistential der Straftat wird im Hinblick auf Strafe und TOA als Formen der Tatbewältigung ausführlich im III. Kapitel erläutert. 228 Michael Köhler, Strafe, S.  29 f., vgl. insg. S.  29 ff., 48 f., vgl. im Einzelnen und detailliert zur Schuld als Verantwortung für eine Straftat und zur Verwobenheit von selbstbestimmter und intersubjektiv-institutionellen Momenten der bei der Ausbildung der Normhaltung ders., Strafrecht AT, S. 348 ff.; vgl. zu einer kritischen Analyse seiner Position im IV. Kapitel unter 3. b) ee) (2). 229 Vgl. Arno Plack, Abschaffung, S. 211, 270. 230 Vgl. Arno Plack, Abschaffung, S. 210. 231 Vgl. zu einer weitergehenden Erläuterung und Kritik von Placks Position auch im IV. Kapitel unter 3. b) cc). 232 Sie ist als wirksames Unterbewusstsein und Emotionalität ebenfalls Ausdruck leiblicher Aspekte unserer Existenz. Auch hier zeigt sich die grundlegende Verwobenheit der Grundzüge unserer Welt, in der wir das Unterbewusst-Leibliche zwar unterscheiden, aber nicht absolut von der leiblich getragenen Selbstständigkeit trennen können.

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sätzlich von einem absolut freien gesprochen werden. Es kann aber davon gesprochen werden, dass sich jemand selbst für das Falsche entschieden hat und dafür verantwortlich ist. Dabei kann es natürlich sein, dass in einer konkreten Situation nicht steuerbare Aspekte des Unterbewussten die Oberhand gewinnen und strafrechtliche Verantwortung ausschließen oder stark verringern. Dies ist dann bei der Bestimmung der Schuld im konkreten Fall zu berücksichtigen.233 Allerdings ist es durchaus möglich, dass sich jemand bewusst um des Bösen willens falsch entscheidet und sich so einem absolut böse gesetzten Willen gewissermaßen an­nähert. Auch im Strafen selbst darf der Täter nicht als absolut böse gesetzt werden. Es ist vielmehr präsent zu halten, dass der Täter in seiner Selbstständigkeit durch vorgängige gelernte Verhaltensweisen einschließlich negativer frühkindlicher Erfahrungen geprägt ist und der Umgang mit ihm im Strafen ihn als Persönlichkeit weiter prägt. Hier ist der Anknüpfungspunkt für die die Persönlichkeit des Täters fördernden, spezialpräventiven Aspekte des Strafens.234 Da die Fehlbarkeit als Aspekt der Selbstständigkeit konstitutiv für uns ist, ist nicht nur die Freiheit als selbstständiges Handeln, sondern auch der Umgang mit dem Scheitern und den Fehlern ein wesentlicher Aspekt unserer Praxis. Dementsprechend geht Klaus-Michael Kodalle davon aus, dass die Verzeihung ein fundamentaler Begriff der Ethik sein, ja in ihrem Zentrum stehen müsste.235 Häufig konzentrieren sich die Betrachtungen zur Moralität aber auf die Bestimmung des Guten. Fehlerhaftes Verhalten wird dabei etwa bei Kant zwar im Zusammenhang mit der Strafe und den möglichen Formen seines zwangsweise durchgesetzten Unterbindens thematisiert,236 die unmittelbar einsichtsgetragenen, d. h. auf Aufrichtigkeit beruhenden, Formen der Bewältigung von Schuld, wie Reue, Entschuldigung, Verzeihung und Versöhnung werden aber kaum angesprochen.237 Die Formen der Bewältigung fehlerhaften Verhaltens sind zentral für die Moral, da sie erst den Neubeginn für sich selbst in der Bewältigung eines Fehlers und so eine praktische Lösung für ein Problem ermöglichen, das sich als ein Paradox der Selbststän­ digkeit238 bezeichnen lässt: Einerseits ist die Täterin für das Verhalten verantwortlich, mit dem sie ihr Leben und das des Opfers unumkehrbar gestaltet hat, das also nicht im eigentlichen Sinne wieder gut (rückgängig) gemacht werden kann und 233

Ausführlich dazu Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 348 ff. Vgl. hierzu im IV. Kapitel unter 3. b) ee) (2) (c) (bb) und c) bb) (1). 235 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung des Unverzeihlichen?, S.  414 f., 421, 437 f.; ders., Annäherungen, S. 22, 31; ders., Grundbegriff, S. 107, 108, 116 ff. (ebenso ders., „Geist der Verzeihung“ (2), S. 289 ff.); ders., „Geist der Verzeihung“ (1), S. 624; vgl. auch Hannah Arendt, Vita activa, S. 301 ff. 236 Vgl. Immanuel Kant, MdS, Einleitung in die Rechtslehre § D (AB 35), II. Teil 1. Abschnitt E. (A 194 ff, B 224 ff.). 237 Vgl. zu diesem Befund mit ausführlichen Textanalysen Karin Scheiber, Vergebung, S. 121 ff. (insb. S. 127 ff.). 238 Vgl. zu verschiedenen Paradoxa des Verzeihens Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung des Unverzeihlichen?, S. 414 ff.; zu den Paradoxa der Autonomie vgl. auch Thomas Khurana u. a. (Hrsg.), Paradoxien der Autonomie, 2011. 234

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

für das sie zur Verantwortung gezogen werden muss. Wenn sie so zur Verantwortung gezogen werden würde, dass ihr die Möglichkeit des Neuanfangs nie wieder zugestanden wird, würde dies der Selbstständigkeit der Täterin andererseits auch nicht gerecht.239 Reue, Strafe, TOA und auch andere Bewältigungsformen für Fehlverhalten stellen in diesem Zusammenhang Sinngestalten dar, mit denen schweres Fehlverhalten so bewältigt wird, dass ein gemeinsames Weiterleben trotz und mit240 demselben möglich ist, und zwar so, dass wir der Verantwortung für unseren Fehler gerecht werden, ohne uns für die Zukunft durch die Festlegung auf diesen Fehler zu lähmen. Strafe und TOA werden deshalb vor dem Hintergrund der Ermöglichung von Freiheit als Selbstständigkeit nach einer Straftat zu erläutern sein.241 (4) Ausrichtung der Sinngestalten auf Erfüllung Unsere praktischen Sinnentwürfe sind auf Erfüllung, also auf Umsetzung in unserem Verhalten, gerichtet. Sinnentwurf und Erfüllungsgestalt sind insofern eine Einheit und nicht voneinander lösbar. Freiheit ist dementsprechend nicht nur Wahlfreiheit, sondern drückt sich auch darin aus, dass wir notwendig praktische Sinnentwürfe je und je in einem Raum eröffneter und begrenzter Möglichkeiten vollziehen müssen.242 Notwendig auf die Erfüllung von Sinngestalten gerichtet zu sein, bedeutet, sich selbst verhalten zu müssen und aufgrund der Anforderung der Richtigkeit sich selbst auf eine bestimmte Weise verhalten zu sollen. Sich irgendwie verhalten zu müssen ist faktisch unausweichlich. Auch der (untaugliche) 239

Vgl. Hannah Arendt, Vita activa, S. 301 ff. insb. 302, 306, 307, 310 f.; Paul Ricœur, Rätsel der Vergangenheit, S.  138 f., 144 f. zum „aktiven Vergessen“ und „schweren Verzeihen“, bei dem geschehene Ereignisse zu bewahren sind, ohne dass die Schuld für die Zukunft lähmt; vgl. auch Traugott Koch, Strafe und Schuld, S. 77; Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung des Un­ verzeihlichen?, S. 418 f., 436. 240 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Wendezeiten, S. 57: „Versöhnung macht es möglich, mit der Schuld trotz der Schuld zu leben.“ 241 Ausführlich hierzu im IV. Kapitel, insbesondere unter 1. b). 242 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 109 f., 111 ff., 121 f., 127 f. In der Tradition der Bewusstseins- und Subjektphilosophie ist häufig von der Umsetzung der Erfüllungsentwürfe in der äußeren Welt die Rede, die eine strikte Trennung zwischen dem Innen und Außen des Ich voraussetzt (vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 44; Ernst Amadeus Wolff, Kriminalunrecht, S. 170 „Innenraum, in dem der Einzelne sich für sich hat“, auf S. 163 spricht er von einem „Innenraum“ und der „Teilidentität mit Momenten äußerer Wirklichkeit“, die aber eben auch die Trennung zwischen Innen und Außen voraussetzt.). Allerdings gibt es Sinngestalten, die wir – im Sinne dieser Trennung – wesentlich „innerlich“ umsetzen, eine einfache Stillemeditation zum Beispiel. Bereits hier zeigt sich, dass diese Unterscheidung in Bezug auf die Willensbildung und -umsetzung nur begrenzt tragfähig ist. Zudem sind wir uns auch in unserem „Innenleben“ nur über die kommunikativen Interexistentiale der gemeinsamen Welt zugänglich, wir lernen zum Beispiel nur in der zwischenmenschlichen Kommunikation, ein Gefühl als solches zu benennen. Auch hier zeigt sich daher, dass es sinnvoll ist, von einer gemeinsamen Welt zu sprechen, in der wir uns aber auch wechselseitig relativ entzogen sind. Vgl. in diesem Kapitel bereits oben 2. c) ee).

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Versuch, sich nicht zu verhalten, ist auf diese Weise ein Sinnentwurf, dessen Erfüllung als Umsetzung des Nichttuns, letztlich als Verfehlung in der Stagnation, als Gestaltung des Lebens in diesem Moment besteht. Unser Verhalten macht uns wesentlich mit243 aus und formt die Gestalt unseres je konkreten Lebens als Selbstständige in jeder Entscheidung mit. Insofern wir bezogen auf unser ganzes Leben der Anforderung des selbstständigen Verhaltens ausgesetzt sind und auf diese Weise unser Leben gestalten, also auf gewisse Weise selbst entwerfen, können wir davon sprechen, als Menschen notwendig ein praktischer Sinnentwurf in Richtung auf Erfüllung dieses Sinns zu sein. Wir existieren nicht nur als leibliche, interexistentiell in Raum und Zeit usw. eingebundene Wesen, sondern gleichursprünglich auch als praktischer Sinnentwurf unserer selbst, der unausweichlich auf Erfüllung ausgerichtet ist.244 (5) Praxisformen als spezifische komplexe Sinngestalten Die Praxisformen sind je konkrete und spezifische, historisch und kulturell im Miteinander entwickelte komplexe Sinngestalten, die von den Grundzügen durchdrungen sind, sich aber in ihrer spezifischen Bedeutung nicht auf diese reduzieren lassen. So hat die Strafe, hier sehr grob umschrieben, einen spezifischen Sinn als Reaktion von Menschen auf ein negativ bewertetes Verhalten eines anderen Menschen. Dabei ist die Sinngestalt der Strafe insofern komplex, als sie sich nicht nur äußerlich-beschreibend darauf reduzieren lässt, dass sie ein bloßes Übel ist, also eine Einwirkung auf einen anderen, die ihn schmerzt, einschränkt oder sonst negativ betrifft. Ihre Bedeutung lässt sich auch nicht auf ihre etwa vorbeugende oder kriminalisierende faktische Wirkung beschränken. Strafe ist zugleich eine gemeinschaftliche Reaktion auf eine existentiell missachtende Verletzung, mit der der Täter zur Verantwortung gezogen werden soll, mit der also unter anderem auf selbstständiges falsches Verhalten des Täters innerhalb der Gemeinschaft reflektiert und es als unumkehrbares Fehlverhalten bewältigt wird. Die Grundzüge der Selbstständigkeit, Interexistentialität und Zeitlichkeit zeigen sich hier zum einen im spezifischen Sinnzusammenhang der Strafe, zum anderen bemisst sich die vernünftige Bestimmung der Sinngestalt Strafe daran, dass auf die Grundzüge angemessen reflektiert wird. Beispielsweise lässt sich sagen, dass ein Massenmörder von der Rechtsgemeinschaft vernünftigerweise mit der Strafe zur Verantwortung gezogen wird und die Tat auf diese Weise bewältigt wird, dass aber die Todesstrafe eine Verfehlung der Sinngestalt der Strafe wäre, weil sie den Täter total negiert und ihn so als Selbstständigen gerade in der Möglichkeit des Neubeginnens vernich-

243

Etwa neben der Leiblichkeit und dem interexistentiellen Eingebundensein. Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 125 ff., 131 ff., 184. Wir sind insofern Zweck an uns selbst, wie Immanuel Kant feststellt (GMS BA 66). 244

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

tet. Methodisch bedeutet das für die Analyse von Praxisformen auf ihren vernünftigen Sinn hin, dass sie nicht aus dem abstrakten Ich als Freies abgeleitet werden können, sondern dass sie immer in den vorfindlichen spezifischen Sinngebungen in Bezug auf die Grundzüge der primären Welt analysiert werden müssen.245 Zudem verweist die interne Mindestkomplexität der Welt246 für die konkreten Sinngestalten darauf, dass diese sich nicht auf einen mit einem bestimmten Grundzug verbundenen Sinn reduzieren lassen, die Strafe lässt sich etwa nicht auf die Bedeutung für die Selbstständigkeit in der Interexistenz reduzieren. Sie hat immer auch faktische Wirkungen, die sich als verbrechensvorbeugende, abschreckende oder kriminalisierende Wirkung (auch mit Bezug auf die Leiblichkeit) erklären lassen und die die Praxisform Strafe unausweichlich mitprägen. Eine den Sinngestalten in unserer Welt angemessene Analyse muss also auch die Komplexität der Grundzüge in die Untersuchung mit einbeziehen. (6) Praktische Sinngestalten als kommunikative Interexistentiale Sinn als bedeutungsvolle Realität wird nur in der Interexistenz, also nur als gemeinsamer Sinn, als etwas zwischenmenschlich Getragenes, wirklich.247 Sinn­ orientierungen können daher auch praktische oder kommunikative Interexistentiale248 genannt werden. Kommunikative Interexistentiale sind sie, weil sie als sinnhafte Bedeutungen nur in der Gemeinsamkeit, als Formen des gemeinsamen Lebens, real werden, indem wir ihre Bedeutung, sprachlich getragen, in der Kommunikation lernen. Jede Praxis ist so nur in der Interexistenz eine solche, auch die Erfüllungsgestalten können in ihrem Sinn erst in der Interexistenz real werden. Sinngestalten sind daher wesentlich Formen des gemeinsamen Lebens oder auch Interexistentiale, die kommunikativ, also sprachlich, vermittelt sind. Erfüllungsgestalten sind als Interexistentiale „Grundzüge des bereits immer schon gemeinsamen Lebens in einer gemeinsamen Welt“249 (Vorgängigkeit der Praxis). Sie bilden den Horizont unserer Praxis.250 Praktische Einsichten lassen sich schon insofern, und nicht nur weil wir faktisch nicht allein sind in dieser begrenzten Welt, nicht aus einer primär subjektivistischen, monologischen Perspektive verstehen. Der praktische Horizont, der Kontext in dem wir uns orientieren und handeln, ist gleichursprünglich neben dem Aspekt der Selbstständigkeit also auch durch die

245 Konkreter zur Erläuterung der Strafe im IV. Kapitel unter 3. und zu methodischen Bedenken hinsichtlich letztbegründenden Ansätzen im I. Kapitel unter 3. b) dd). 246 Vgl. in diesem Kapitel unter 2. b) bb). 247 Vgl. in diesem Kapitel unter 2. c) cc), dd). 248 Vgl. zum Begriff der kommunikativen und praktischen Interexistentiale u. a. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 128 f., 160 f., 222 ff. und in diesem Kapitel unter 2. c) dd). 249 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 193 (im Original insgesamt hervorgehoben). 250 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 207 f.

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Interexistenz gekennzeichnet. Auch unser Selbstverständnis als selbstständiger Mensch ist nur als Interexistential, also als gemeinsam begriffene und sprachlich getragene Realität wirklich.251 jj) Interexistenz und Existenz (interexistentielle Abhängigkeit und Achtung) Wir sind sprachliche Wesen. Wir verstehen uns nur im Gespräch mit anderen. Erzählend entwickeln wir unsere Vorstellung von uns selbst. Von unserer Herkunft erfahren wir durch die Geschichten, die erinnerten, die erfundenen, unserer Vorfahren, von uns selbst erfahren wir durch die Reaktionen der Anderen. Carolin Emcke252

Bislang ist die Interexistenz als Grundzug nur dahingehend erläutert, dass unsere Realität nur aus unserer gemeinsamen Perspektive und als sprachlich vermittelte verstehbar ist. Ein weiterer Aspekt der Interexistenz, der der Existenz als Selbstständige gleichursprünglich ist, ist die kommunikative Solidarität als konstitutiver Grundzug unseres Lebens. Wir sind in unserer konkreten Lebenspraxis ebenso selbstständig wie auf unsere Mitmenschen und ihre Unterstützung unabdingbar angewiesen.253 Wir werden von Eltern gezeugt, von Müttern geboren und erwerben durch Lernen, Erziehung und Kontakt mit anderen Menschen die Fähigkeiten zur selbstbestimmten, erfüllenden Lebensgestaltung in der gemeinsamen Welt – wir wachsen in die volle Konstitution, die durch Autonomie und kommunikative Solidarität bestimmt wird, hinein.254 Als Erwachsene sind wir zwar durchaus in der Lage, ein Leben in Einsamkeit selbstständig zu führen, wie sich in einer eremitischen Lebensweise zeigt. Zunächst ist aber auch diese Lebensweise nur möglich, wenn ich mich in einem interexistentiell erschlossenen Handlungsraum255 befinde, wenn ich als Eremitin also ein Selbstverständnis und ein Verständnis für die Bedeutung des Lebens und meine Praxis entwickelt habe, was ohne kommunikative Verhältnisse nicht möglich ist.256 Die anderen erweisen sich aber auch für in die Selbstständigkeit Gewachsene, also Erwachsene, als Möglichkeitsbedingungen 251

Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 216 f. Carolin Emcke, Stumme Gewalt, S. 49. 253 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 212 f. 254 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 155 ff., 175 f. 255 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 148, 160. 256 Vgl. den Bericht (Klaus Wittmann, Anja hat ein neues Leben, taz vom 24. Dezember 2008) über die 9jährige Anja, die bis zu ihrem Auffinden im Alter von 7 Jahren von ihren Eltern in Bayersried in einem verdunkelten Raum eingesperrt war und nie das Tageslicht gesehen hatte. Sie war körperlich und seelisch verkümmert – sie konnte nicht laufen, nicht richtig essen, der Knochenbau war schwach. Auch nachdem sie bereits ca. eineinhalb Jahre in einer Pflegefamilie verbracht hatte, konnte sie keine Gefühle ausdrücken und: sie konnte nicht „ich“ sagen, sie sprach von sich in der dritten Person. 252

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der je eigenen Praxis, insofern in der Kommunikation in ganz konkreten Lebenssituationen Möglichkeiten der Gestaltung des eigenen Lebens überhaupt oder zumindest schneller und wirksamer erschlossen werden können.257 Wir erfahren etwa krisenhafte Lebenssituationen, in denen wir der teilnehmenden Unterstützung unserer Familie, von Freunden, Ärztinnen oder (therapeutischen) Beratern bedürfen, um sie zu meistern, auch wenn wir nicht in jeder Situation von anderen abhängig sind. Aber auch jenseits von Krisen können wir viele Fähigkeiten auch als Erwachsene nur ausbilden, wenn wir Unterstützung von erfahrenen Lehrern, Mentorinnen usw. bekommen. Das heißt, wir bleiben zur Entfaltung unserer selbst auf die Unterstützung anderer angewiesen, auch wenn das Maß dieser Abhängigkeit sich im Erwachsenenalter mindert. Diese Unterstützung ist unserem vernünftigen Welt- und Selbstverständnis aber nur angemessen, wenn sie die Selbstständigkeit des zu Unterstützenden achtet, also ihm teilnehmend in der selbstständigen Lebensgestaltung hilft. Dabei kann die Krise auch nicht als Ausnahme betrachtet werden – sie ist ebenso real wie die Erfüllung von Sinngestalten des Lebens, die Erfüllung nur vor dem Hintergrund der real möglichen und real erlebten Krisen verstehbar. Rentsch formuliert insofern: „(5) Wir können die Wirklichkeit unseres Lebens nicht allein erkennen. (6) Wir sind auf gemeinsame gewaltlose Gespräche mit anderen angewiesen.“258 Auf diesen beiden Einsichten beruht das praktische Interexistential der gewaltfreien Kommunikation, die eine Erfüllungsgestalt unseres gemeinsamen Lebens ist. Wir sind als Selbstständige von der gewaltfreien Kommunikation mit und durch die anderen abhängig. Beispielsweise kann mit der gewaltfreien, also den anderen als Person akzeptierenden, Kommunikation das Interexistential der Freundschaft näher bestimmt werden.259 Wesentliches Element der Freundschaft als Erfüllungsgestalt ist, dass Freundinnen füreinander in schwierigen Lebenssituationen da sind und im Gespräch das Problem erörtern. Auch dem Interexistential der wechselseitigen An­ erkennung oder Achtung liegt die praktische Einsicht in die gleiche Selbstständigkeit der Mitmenschen zugrunde, genauer gesagt, dass wir über Mitmenschen als Selbstständige nicht verfügen, dass wir sie nicht instrumentalisieren dürfen und dass wir sie unter bestimmten Umständen auch in ihrer Selbstständigkeit zu fördern haben.260 In der Erläuterung des TOA wird die wechselseitige interexisten­ tielle Abhängigkeit darin deutlich werden, dass sowohl Täterin wie Opfer der Tat auf den unmittelbaren gewaltfreien und einsichtsgetragenen Dialog zur endgültigen Bewältigung der Tat auf der unmittelbar persönlichen Ebene angewiesen sind (was aber keine Pflicht zum TOA, der unmittelbar auf persönlichen Einsichten beruht, begründet).261 In der Straftat wird zudem die Kehrseite des Angewiesenseins

257

Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 212 f. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 232. 259 Thomas Rentsch analysiert dieses Interexistential auf S. 219 ff. 260 Vgl. auch Thomas Rentsch, Konstitution, S. 231 ff. 261 Vgl. dazu im IV. Kapitel unter 4. d).

258

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auf gewaltfreie Kommunikation deutlich: Wir sind in unserer Existenz darauf angewiesen, dass andere gerade nicht gewalttätig gegen uns werden, also Verletzungen unterlassen.262 Die Straftat als Gewalt wird sich zudem als ein bedeutungs­ getragener Akt der Weltgestaltung des Täters zeigen, mit dem dieser sich anmaßt, das Opfer zu erniedrigen, also die gleiche Bedeutsamkeit in der Selbstständigkeit abzusprechen (Missachtung).263 kk) Singuläre Totalität Um die Konstitution der Moralität gänzlich erfassen zu können, ist als Möglichkeitsbedingung unserer Existenz in dieser Welt weiterhin der Zug der singulären Totalität aufzuweisen: Die Welt und ihre Aspekte, also auch wir selbst, zeigen sich uns nur als Ganzheit, als Totalitäten. Die Ganzheit des Lebens und der Welt ist also eine Voraussetzung unserer Orientierungspraxis. Für uns selbst bedeutet das zunächst, dass wir je abgegrenzte ganze Wesen sind und uns als Einheit auch über Veränderungen in der Zeit von der Geburt bis zum Tod hinweg verstehen. Diese sind zudem einmalig oder singulär, also unaustauschbar und unverwechselbar. Die einmalige Ganzheit, die wir selbst sind, gestalten wir auch praktisch, indem wir je praktische Sinnentwürfe entwickeln und umsetzen. Wir sind unentrinnbar die einmalige Ganzheit unseres Lebens und formen dessen einmalige Gestalt zugleich durch unsere Entscheidungen und unser Verhalten: „Wir müssen unsere ganze jeweilige (einmalige) Situation sowohl sein als auch gestalten.“264 Das wird zum Beispiel in Lebenskrisen praktisch relevant, wenn wir vor den Fragen stehen, wer wir sind, welchen Sinn unser Leben eigentlich hat, ob und wenn ja was wir in der uns gegebenen Zeit tun sollen. Diese Fragen lassen sich nur in der Besinnung auf die Grundbedingungen unserer Existenz, also in der Erinnerung an die unabdingbaren Grundzüge unseres Welt- und Selbstverständnisses, beantworten. Das je eigene Leben stellt sich dabei unter anderem als etwas dar, das über die Zeit hin etwas Ganzes, Einmaliges und veränderbar, durch den Tod begrenzt und schließlich je durch uns selbst bestimmt ist. Das heißt mit dem Wissen um die singuläre Totalität, Zeitlichkeit, Selbstständigkeit wird uns unser Leben als einzig­artige und einmalige Sinngestalt, die nur wir selbst ausfüllen können, deutlich. Zeitlichkeit zeigt sich dabei nicht nur als bloßes Faktum der Abfolge von Situationen und Veränderungen, sondern als „ethische Zeit“265, als endliche Zeit unseres Lebens, in der wir Veränderungen nach Sinnkriterien bewirken, in der wir die einmalige Ganz-

262

Vgl. auch Ernst Amadeus Wolff, Kriminalunrecht, S. 209 f. Vgl. im III. Kapitel insb. 2. b) bb) (1) (b), (2) (a). 264 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 132, vgl. zum Ganzen S. 132 ff., 192. 265 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 135. Er verwendet auf S. 108 zudem die Begriffe der „lebensbezogenen, praktischen […] Orientierungszeitlichkeit“ und der „existentiellen Zeit“ „unseres einmaligen Lebens“. 263

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

heit unseres Lebens gestalten.266 Im Rückgang auf die Sinnbedingungen unseres Lebens kann so über die eigene Verortung in der Lebenswelt eine Persönlichkeitsstärkung erfahren werden, die dabei hilft, grundlegende Lebensentscheidungen zu treffen und auch wirklich auszuführen. Als mir eine enge Freundin einmal in einer schwierigen Entscheidungssituation die Frage stellte „Was würdest Du machen, wenn Du wüsstest, dass Du in zwei Jahren stirbst?“, nahm sie genau auf die Endlichkeit und Einmaligkeit meines Lebens und die Tatsache Bezug, dass ich es selbst hier und jetzt, eingebunden in die Vergangenheit und ausgerichtet auf die Zukunft gestalte. Die Einmaligkeit jedes Lebens ist ein „universales transzendental-anthropolo­ gisches Faktum“267 – in unserer grundlegenden Lebenserfahrung wissen wir, dass wir jeweils wir selbst und kein anderer sind, dass wir etwa die Freude der anderen zwar nachvollziehen, aber nicht als eigene spüren können, genauso wenig wie wir ihr ihren Schmerz abnehmen können.268 Die singuläre Totalität unserer selbst als praktische auf Erfüllung ausgerichtete Sinnentwürfe, die zugleich aus der Selbstständigkeit, also dem Selbstsein, erwächst, wird uns auch in der „Unvertretbarkeit“269 unserer Einsichten deutlich. Nur wir selbst können uns als praktische Sinnentwürfe unserer selbst selbst bestimmen. Zwar sind bestimmte Verhaltensweisen als sinnvoll erzwingbar, nämlich dann, wenn es auf die Wirkung eines Verhaltens oder den symbolischen Charakter der Zwangswirkung, wie bei der Strafe, ankommt. Wirkliche Einsicht aber, wie sie für Reue, Entschuldigung und Vergebung wesentlich ist, kann nicht erzwungen werden. Doch nicht nur wir selbst sind als je Selbstständige singuläre Totalitäten, die Welt überhaupt ist es in all ihren einzelnen Aspekten und Situationen. Zum Beispiel kann eine Straftat als eine zeitlich und örtlich bestimmte, singuläre und ganze Situation verstanden werden, die einen konkreten (singulären) Täter und ein konkretes (singuläres) Opfer betrifft, deren Leben unumkehrbar durch diese einzig­ artige Situation gestaltet wird. In der Sinngestalt der Straftat selbst zeigt sich dabei, dass die Sinngestalten konkrete und allgemeine Bezüge aufweisen: Wir können zum einen sinnvoll von einer Straftat als je singulären Ereignissen sprechen, zum anderen sind diese singulären Ereignisse in einer bestimmten, noch zu erläuternden Typizität als Straftat erfasst. Wir können zum Beispiel von der Straftat als Verbrechen in einem rechtsdogmatischen Sinne sprechen, das nur beim Vorliegen bestimmter Merkmale gegeben ist und das etwa Voraussetzung für das Verhängen einer Strafe ist. Dieser Begriff darf dann aber nicht zu weit aus den Lebenssituationen, an die er konkret anknüpft, gelöst werden. Diese sind auch durch eine unmittelbar-persönliche Ebene gekennzeichnet, in der die Straftat meist als 266

Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 132, 134 f., 139 f., zu den zeitlichen Aspekten vgl. auch S. 98, 108. 267 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 134. 268 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 137 ff. 269 Thomas Rentsch, Konstitution, S. 137 f.

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sozialpsychologischer Konflikt erfasst wird und genauer als grundlegende persönliche Missachtung eines Menschen durch einen anderen Menschen der unmittelbar-persönlichen (rechtlich überformten) Ebene zu verstehen ist.270 Die holistische Perspektive ermöglicht also ein umfassenderes und damit lebens­ näheres Verständnis der Formen unserer Praxis. Diese Verständnisse sind umfassender, aber nicht umfassend, da die Lebensphänomene aufgrund der Endlichkeit unseres Erkenntnisvermögens immer nur perspektivisch und nie in ihrer Gesamtheit in den Blick genommen werden können. Die Ganzheit unserer Welt und all der Formen, die sie ausmacht, ist so etwas, das uns nur in der Begrenztheit unseres Erkenntnisvermögens zugänglich ist. Trotz der Ganzheit unserer Welt und ihrer Formen ist es sinnvoll, Unterscheidungen bezüglich dieser Formen zu treffen, etwa die Straftat nur in ihrer strafrechtlichen Dimension oder nur in ihrer unmittelbarpersönlichen Ebene als Konflikt in den Blick zu nehmen. Dabei müssen wir uns aber bewusst sein, dass wir dabei im Hinblick auf einen bestimmten Zweck unterscheiden und mit den Unterscheidungen unser Verständnis der eigentlich ganzen Gestalt auf etwas reduzieren. So ist es zum Beispiel sinnvoll, eine Straftat als spezifische Verletzung des Rechts zu verstehen, um die Strafe als spezifisch rechtliche Form der Bewältigung von Straftaten verstehen zu können. Damit ist die Straftat aber nur in einer bestimmten Hinsicht verstanden. Umfassender wird sie verstanden, wenn auch ihre unmittelbar-persönliche Ebene in den Blick kommt. Auch dabei muss präsent gehalten werden, dass diese Unterscheidung im Hinblick auf die Bewältigung der Tat unmittelbar zwischen Täter und Opfer erfolgt, wobei sich der TOA als spezifische Form der persönlich-authentischen Tatbewältigung auf der unmittelbar-persönlichen Ebene verstehen lässt.271 Im Rückgang auf die singuläre Totalität der Lebenswelt und ihrer Formen wird auch einsichtig, warum rigorose praktische Entscheidungen verfehlt sind: Sie verfehlen die Einzigartigkeit und Komplexität der Lebenssituationen. Natürlich muss dennoch auf allgemeine Kriterien, wie es die Grundzüge unserer Welt sind, Bezug genommen werden, um richtige praktische Entscheidungen zu treffen. Das Anwenden schon durchdachter und als richtig erkannter Praxisformen kann dabei ganz unproblematisch auf die neue und wieder einzigartige Situation passen. Die Schwierigkeit praktischen Urteilens kann aber auch darin bestehen, dass wir entscheiden müssen, ob diese neue Situation in Bezug auf die Grundzüge der Welt den vorherigen gleich ist, ob ich also, mit Bezug auf das Kant-Beispiel,272 nicht doch ausnahmsweise lügen darf, wenn ich dadurch ein Menschenleben rette. In dieser Situation würden wir vermutlich alle die Lüge als zulässig erachten. Es gibt aber auch schwieriger zu entscheidende Situationen, wie sich an der Debatte um 270 Das Interexistential der Straftat wird differenziert hinsichtlich verschiedener Verletzungsebenen im III. Kapitel erläutert. 271 Die umfassendere Erläuterung von Straftat, Strafe und TOA in ihren Details erfolgt im III. und IV. Kapitel. 272 Vgl. Immanuel Kant, GMS BA 54 f.; vgl. hierzu in diesem Kapitel unter 1. c).

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die Ausnahme vom Folterverbot für den Fall zeigt, dass allein durch das Foltern einer mutmaßlichen Täterin das Leben deren Opfers gerettet werden kann.273 Hier können wir immer wieder nur um die richtigen Entscheidungen und darum ringen, die Grundzüge unserer Welt (im Folterbeispiel die selbstständige Existenz der Täterin wie des Opfers) dabei im richtigen Verhältnis zu würdigen. Auch an dieser Stelle wird deutlich, warum sich sagen lässt, dass der kategorische Imperativ als Allgemeinheitserfordernis in den praktischen kommunikativen Interexistentialen schon enthalten ist.274 ll) Fragilität Konstitutiv für die Moralität ist weiterhin die Fragilität oder auch Gebrechlichkeit, Verletzlichkeit menschlichen Daseins als Grundzug der menschlichen Lebenswelt. Hierunter ist die Bedrohtheit und Endlichkeit menschlicher Lebensentwürfe zu verstehen. Sie kann durch uns selbst, durch die anderen oder von der Natur herrühren. So ist das menschliche Leben etwa durch den Tod begrenzt, dem Guten korrespondiert die Wirklichkeit des Bösen, wir können falsche Entscheidungen treffen und umsetzen275, wir sind durch andere verletzbar und auch die Formen der zwischenmenschlichen Solidarität können scheitern. Die Fragilität ist ein unabdingbarer Grundzug unserer Lebenswelt, wir können nur im Rahmen von Gedankenexperimenten von ihr absehen. Es ist möglich, jederzeit schwer zu erkranken, Opfer einer Naturkatastrophe oder von Angriffen anderer zu werden. Unsere Abhängigkeit davon, dass andere Gewalt gegen uns unterlassen,276 gründet so auch in der Fragilität. Praktische Orientierungen, die von der Fragilität absehen, sind irrational, es ist, umgekehrt formuliert, eine sinnvolle Praxis nur möglich, wenn wir die Modi der Fragilität einbeziehen.277 Bei Straftaten zeigt sich die Fragilität als Aspekt des Verhaltens gegenüber anderen, zum einen als die eigene Fehlbarkeit im Verhalten, das sich auf andere bezieht, zum anderen als die Verletzlichkeit des anderen im gemeinsamen Praxisraum. Das Interexistential der Straftat lässt sich so nur vor dem Hintergrund der Fragilität in diesen beiden Hinsichten verstehen – als fehlerhaftes Verhalten eines Menschen, mit dem ein anderer Mensch bewusst oder aus Unachtsamkeit grundlegend in dessen Existenz verletzt wurde.278 273 Exemplarisch zu den „Polen“ der Debatte: Michael Kahlo, Die Aufklärung als „Zeitenwende“ und ihre Konsequenzen für die strafrechtliche Beurteilung staatlicher Folter, in: Diethelm Klesczewski u. a. (Hrsg.), Strafrecht in der Zeitenwende, Paderborn 2010, S. 45 ff. (striktes Folterverbot), und Winfried Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, in: JZ 2000, S. 165 ff. (Zulässigkeit einer Ausnahme vom Folterverbot). 274 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 321 ff., 333; vgl. hierzu bereits in diesem Kapitel unter 1. b). 275 In diesem Kapitel unter 2. c) ii) (3). 276 Vgl. hierzu in diesem Kapitel unter 2. c) jj). 277 Vgl. zum Ganzen Thomas Rentsch, Konstitution, S. 165 ff. 278 Das Interexistential der Straftat wird ausführlich im III. Kapitel erläutert.

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mm) Asymmetrie (Dominanz oder Herrschaft) Das Zusammenleben in der Interexistenz ist schließlich notwendig mit Herrschaftsverhältnissen und asymmetrischen Lebensverhältnissen verbunden. Mit dieser Feststellung sollen keine Gewaltverhältnisse legitimiert werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass zwischenmenschliche Verhältnisse immer auch asymmetrische Verhältnisse sind, die notwendig die Frage nach legitimer Herrschaft oder Dominanz aufwerfen.279 (1) Gründe für die Asymmetrie der Lebensverhältnisse, Macht und Gewalt Als Gründe dafür, dass unsere gemeinsamen Lebensverhältnisse immer auch asymmetrische Verhältnisse sind, können die folgenden angeführt werden: –– Die Ungleichheit aller Menschen, die zwar in wesentlichen Zügen, wie der Leiblichkeit und als selbstorientierte Subjekte (oder als junge Menschen in ihrem Potential zur Selbstorientierung), gleich sind, aber eben auch Unterschiede aufweisen. So unterscheiden wir uns in der konkreten leiblichen Konstitution, etwa in unseren Fähigkeiten zum Lernen, im Maß der Emotionalität und Empathiefähigkeit, hinsichtlich der körperlichen Kräfte usw. Unterschiede in un­seren Lebensverhältnissen etablieren wir aber auch durch unsere je eigenen Lebensgestaltungen. –– Die ungleichen Lebensverhältnisse hinsichtlich sozialer und natürlicher Be­ dingungen. Wir wachsen zum Beispiel in verschiedenen sozialen Kontexten auf, die die Entfaltung unserer Anlagen auf verschiedene Weise fördern oder be­hindern. –– Die Komplexität der Gesellschaften, die aus der Vielzahl der unterschiedlichen Menschen, den unterschiedlichen Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Organisationsstrukturen resultiert. –– Die Endlichkeit unserer Welt, in der wir uns gegenseitig nur begrenzt ausweichen und nur auf begrenzte Ressourcen zurückgreifen können.280 –– Die wechselseitige Abhängigkeit. Unabhängig von der Endlichkeit der Welt ist ein wechselseitiges Ausweichen auch nur begrenzt sinnvoll, weil wir auf die anderen – in den verschiedenen Lebensphasen und -situationen mehr oder weniger – für die volle Entfaltung in unserer Existenz angewiesen sind.281 Ohne Erziehung und die damit verbundene elterliche oder erzieherische Autorität oder 279

Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 175 ff. Vgl. Immanuel Kant, MdS § 42 (AB  156), § 43 (A  162, B  192); Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (814). 281 Vgl. hierzu in diesem Kapitel unter 2. c) jj) und ll). 280

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

Dominanz können wir in unsere volle selbstbestimmte Konstitution nicht hineinwachsen.282 Zudem sind wir aufgrund unserer Fragilität wechselseitig darauf angewiesen, dass verletzende Übergriffe unterlassen werden. –– Unser je perspektivischer283 oder partikularer Blick auf die Welt. Niemand kann sie in ihrer ganzen Komplexität allumfassend, sondern jeder Mensch nur bestmöglich ­einsehen. –– Die Kreativität, mit der wir unterschiedliche vernünftige Erfüllungsgestalten für die Ordnung des gemeinsamen Daseins entwickeln können, die sich aber nicht immer gleichzeitig verwirklichen lassen. In unserem Zusammenleben wird sich aufgrund dieser Asymmetrien immer die Frage stellen, wie das Miteinander unserem Selbstverständnis angemessen geordnet werden kann oder ob es angemessen geordnet ist. Es wird sich etwa die Frage stellen, wer berechtigt über bestimmte Güter verfügen darf oder wie politische Entscheidungsgewalt zu organisieren ist. So entstehen auch in Zusammenschlüssen mit basisdemokratischem Anspruch informelle Machtverhältnisse, wenn der basisdemokratische Anspruch nicht formell abgesichert wird.284 Dabei können legitime oder illegitime Herrschaftsverhältnisse entstehen. Sie sind legitim, also Machtverhältnisse, wenn mit ihnen die Einzelnen nicht instrumentalisiert werden, wenn sie also Ausdruck nichtinstrumenteller kommunikativer Verhältnisse sind. Sie sind Gewalt, wenn sie sich als Übergriff über andere Menschen darstellen, weil diese entgegen ihrem Anspruch auf Achtung als in der Selbstorientierung Gleiche instrumentalisiert werden.285 (2) Recht als auf die Asymmetrie der Lebensverhältnisse bezogene Praxisform (a) Recht als ursprüngliche Praxisform und Gerechtigkeit Das positiv gesetzte Recht (mit den Institutionen, die zu seiner Durchsetzung eingesetzt sind)  ist eine gemeinsame Praxisform  – also eine Gestaltung des gemeinsamen Lebens von Menschen, durch Menschen –, mit der auf die Asym­metrie 282

Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 175 f. Vgl. bereits im I. Kapitel unter 3. b) aa); so auch Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (815). 284 Vgl. etwa zu den diesbezüglichen internen Problemen der mit der Studentenbewegung der 1960er Jahre einhergehenden Welle der Frauenbewegung trotz basisdemokratischen nicht-institutionalisierten Selbstverständnisses Barbara Holland-Cunz, Frauenbewegung, S. 52 ff.; vgl. auch Thomas Rentsch, Konstitution, S. 177. 285 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 176. Ein weiteres Problem stellt die legitime Gewalt als Gewalt gegen (illegitime) Gewalt dar, die rechtlich zum Beispiel in den Notrechten oder den Befugnissen der Zwangsvollstreckung verankert ist (vgl. hierzu nur Thomas Rentsch, Konstitution, S. 176; Immanuel Kant, MdS, Einleitung in die Rechtslehre, § D). 283

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der Lebensverhältnisse Bezug genommen wird. Die rechtliche Ordnung kann als menschliche Praxisform nicht beliebig und nur als Herstellen einer reibungslos funktionierenden, formalen und allgemeinverbindlichen Strukturierung des Miteinanders, also positivistisch als bloßes System geltender oder wirksamer autoritär gesetzter und durchgesetzter Normen oder als soziales Normengefüge, verstanden werden. Denn jedes menschliche Verhalten ist normativ zu beurteilen.286 Das positiv gesetzte Recht ist deshalb auf Richtigkeitskriterien angewiesen. Wenn der Sinn des Rechts als Lebensphänomen umfassend verstanden werden soll, kann der Aspekt der Gerechtigkeit also nicht aus dem Verständnis des Rechts als Interexistential ausgelagert werden. Dass Recht auf Gerechtigkeit verweist, bestätigt sich auch darin, dass Herrscher totalitärer Systeme ihre Herrschaftsform zu legitimieren versuchen, wie etwa an der nationalsozialistischen, unter anderem totalitären, rassistisch-elitären und antisemitischen Rechtfertigungsideologie zu sehen ist. An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass das Recht eine ursprüngliche Praxisform ist. Eine ursprüngliche Praxisform ist das Recht, insofern es sich nicht abstrakt aus Rationalitätskriterien ableiten lässt, sondern immer in einer historisch-kulturell konkreten Praxis verankert (situiert) ist, innerhalb der es sich am Maßstab der Gerechtigkeit messen lassen muss.287 Dabei sind die Kriterien für die Beurteilung der Richtigkeit oder Gerechtigkeit nicht beliebig  – es sind die transzendentalen Grundzüge unserer gemeinsamen Welt. Auch wenn also das NS-System für sich Richtigkeit beansprucht hat, heißt das nicht, dass es gerecht war, denn es hat in der vernichtenden Missachtung ganzer Bevölkerungsgruppen die Grundzüge unserer gemeinsamen Welt radikal verfehlt. Da uns im Konsens über die transzendentalen Grundzüge der gemeinsamen Welt Vernunft zugänglich wird, lässt sich bei einem gerechten Recht auch von vernünftigem Recht sprechen.288 (b) Kriterien für gerechtes Recht Mit Recht werden zwischenmenschliche Konflikte geregelt, die auf den Asymmetrien interexistentiellen Daseins beruhen. Vernünftig sind die Regelungen insbesondere289 dann, wenn sie auf die Fragilität und notwendige Asymmetrie der Existenz im Miteinander reflektieren und die gleiche Selbstentfaltung aller im inter­existentiellen Dasein ermöglichen, absichern oder fördern. Das bedeutet erstens, dass jeder Person Freiheitsbereiche zugeordnet werden, innerhalb derer die 286

Vgl. in diesem Kapitel unter 2. c) ii) (2). Zur Verwobenheit von Faktizität und Normativität vgl. in diesem Kapitel sogleich unter 3. 288 Der hier vertretene Rechtsbegriff lässt sich insofern als vernunftrechtlicher einordnen. Allerdings geht er davon aus, dass sich die Gerechtigkeitsidee nicht als ideale und von außen auf die Praxis als Maßstab anlegen lässt und dass diese sich auch nicht aus einem abstrakten „das Ich“ ableiten lässt. 289 Natürlich müssen auch die anderen, gleichursprünglichen Grundzüge berücksichtigt werden. So wird für die Frage der Zulässigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe die Endlichkeit als zeitliche Begrenztheit menschlichen Lebens relevant. 287

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

Basis für ihre Willensbildung im Miteinander abgesichert ist, und dass ihr Freiheits­ bereiche und Mittel zugeordnet werden, innerhalb derer und mit denen sie ihren Willen umsetzen, ihn in Erfüllungsgestalten verwirklichen kann. Diese Freiheitsbereiche können nicht nur als rein äußerliche verstanden werden, wie die vernunftrechtliche Tradition nahelegt.290 Denn mit diesen Bereichen wird auch die Basis für eine selbstständige Willensbildung garantiert, wie etwa das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gem. Art. 2 I, 1 I GG zeigt. Das Recht garantiert hier einen Bereich, der frei von Zugriffen ist und in den dann freilich auch mit recht­ lichen Mitteln nicht eingegriffen werden darf. Das berührt die Abgrenzung von Legalität und Moralität, auf die im Zusammenhang mit der Einsichtsgetragenheit menschlichen Verhaltens noch einmal eingegangen werden soll.291 Das Denken der Idee des Rechts als Abgrenzung von Freiheitsbereichen, in denen jeder für sich walten kann, geht von einem selbstständigen Subjekt aus, das nicht auf andere angewiesen ist. Lediglich negativ abgegrenzte Freiheitsbereiche könnten nur dann sinnvoll sein, wenn wir immer schon und ausschließlich als voneinander unabhängige, je aus uns selbst heraus selbstständige, monologischselbstbezogene Subjekte in der Welt wären, die nur den Raum der Welt unter sich aufteilen müssten. (Selbst das ist aufgrund der Endlichkeit der Welt, genauer der Begrenztheit der Ressourcen, problematisch.)292 Wie erläutert, sind wir aber wechselseitig voneinander abhängig, und zwar nicht nur als Kinder von den Erwachsenen, sondern auch als Erwachsene. Recht ist daher zweitens nur dann vernünftig, wenn es unsere wechselseitige existentielle Abhängigkeit angemessen berücksichtigt. Erziehung und Bildung, aber auch Pflichten zur Hilfeleistung in existentieller Not sind deshalb auch rechtlich abzusichern. In unserer Rechtsordnung kennen wir zum Beispiel das Recht und die Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu pflegen und zu erziehen (Art.  6  II 1  GG, näher ausgeformt durch das bürgerliche und das Strafrecht) oder die mit Strafe bewehrte Rechtspflicht, bei Unglücksfällen, gemeiner Gefahr und Not Hilfe zu leisten, soweit dies möglich und zumutbar ist (§ 323c StGB). Dies lässt sich auch als das Sichern von Freiheitsbereichen verstehen, insofern die notwendige Unterstützung Bedingung für Selbstständigkeit ist. Allerdings können diese Freiheiten dann nicht nur negativ abgrenzt, sondern müssen auch als wechselseitig aufeinander verwiesen gedacht werden.293 Da es grundlegender Zug aller Menschen ist, als Sinnentwurf auf praktische Erfüllungsgestalten ausgerichtet zu sein, und Recht genau diese gleiche Anlage zur 290

Vgl. etwa Immanuel Kant, MdS Einl. in die Rechtslehre § C (AB 33): Recht als „Freiheit der Willkür eines jeden“, die „mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.“ Die Willkür betrifft dabei nur das Faktisch-Äußerliche von Handlungen, vgl. ebenda § B (AB 32). Vgl. auch Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (816); ders., Kriminalunrecht, S. 197 f.; Michael Köhler, Strafe, S. 44 ff.; Michael Kahlo, Pflichtwidrigkeitszusammenhang, S. 301; Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (527 f.). 291 In diesem Kapitel sogleich unter 2. d) cc). 292 Vgl. zur Kritik des fertigen, isolierten Ich in diesem Kapitel oben unter 2. c) bb) und dd). 293 Dahingehend auch Michael Kahlo, Unterlassung, S. 256 ff.

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Selbstorientierung in ihrer Entfaltung und Betätigung im Miteinander absichern soll, hat es drittens auch die Gleichheit aller in der Verwirklichung ihrer Lebensentwürfe zu garantieren. Positivrechtlicher Ausdruck dessen sind Art. 3 GG und alle rechtlichen Normen, die die Gleichheit von Lebenschancen und Verhaltensmöglichkeiten absichern sollen, wie etwa das Verbraucherschutz-, das Frauen­ förder- und das Antidiskriminierungsrecht.294 (c) Gewaltmonopol des Staates Indem rechtlich auf die Asymmetrie der Lebensverhältnisse Bezug nehmend die Selbstständigkeit im Miteinander abgesichert wird, befriedet das Recht auch das Zusammenleben. Es gibt Regelungen für die auf den Asymmetrien beruhenden Konflikte vor, und es werden innerhalb der Rechtsgemeinschaft auch Institute und Institutionen geschaffen, die im konkreten Fall über das rechtlich Verbind­liche entscheiden und mit denen das als verbindlich Anerkannte rechtlich durchgesetzt werden kann. Soweit dies gerechten Grundsätzen folgt, ist dies legitim und Ausdruck einer nichtinstrumentellen Ordnung des Zusammenlebens, die wesentlich auf Kommunikation und nicht auf Gewalt beruht. Die zwangsweise Durchsetzung der Rechte als Formen legitimer Gewalt zur Wiederherstellung rechtlicher Verhältnisse wird dabei staatlichen Institutionen als Repräsentanten der Rechtsgemeinschaft zugeordnet, der Staat hat also das Gewaltmonopol inne. Unter dem Gewaltmonopol ist zu verstehen, dass die Einzelnen in der Interexistenz im Streit- und Verletzungsfall grundsätzlich auf die eigenmächtige gewaltsame Durchsetzung ihrer Richtigkeitsansicht verzichten und die Ausübung der hier notwendigen Gewalt staatlichen Einrichtungen überlassen. Das ist vernünftig, um die gemein­samen Verhältnisse zu befrieden, denn aufgrund unseres perspektivischen und nicht umfassenden Blicks auf die Welt besteht die Gefahr, dass wir den Konflikt unmittelbar nicht gerecht, sondern einseitig im eigenen Interesse lösen und uns damit über den anderen erheben, ihn verletzen oder missachten.295 294 Dies müssen nicht unbedingt Regelungen sein, die allen formal gleiche Rechte einräumen, wie das Verbraucherschutz-, Frauenförder- und das Antidiskriminierungsrecht zeigen. Diese beinhalten Rechte, die tatsächlich ungleiche Lebensverhältnisse ausgleichen sollen. Auch hier zeigt sich, dass Recht nie unabhängig, also rein formal und abstrakt, von den konkreten Lebensverhältnissen gedacht werden kann. Wenn sich etwa herausstellt, dass Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund im Vergleich zum Bevölkerungsanteil insgesamt nur selten das Gymnasium besuchen oder eine akademische Karriere einschlagen, kann es sinnvoll sein, sie auch rechtlich besonders zu fördern, um ihnen die gleichen Chancen auf die vollen Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens in unserer Gesellschaft zu eröffnen. Die Idee der Beschränkung des Rechts auf rein formale Gleichheit würde dies verfehlen und zudem überdecken, dass das formal gleiche Recht nur auf einen bestimmten Lebensentwurf, in unserer Rechtsordnung typischerweise den des wirtschaftlich selbstständigen, gebildeten, gesunden, weißen Mannes ausgerichtet ist (vgl. nur Anja Schmidt, Grundannahmen, Rn. 4, 7, 8 f. m. w. N.). 295 Vgl. hierzu nur Ernst Amadeus Wolff, Kriminalunrecht, S. 203 ff.; ders. ZStW 97 (1985), S. 786 (817 ff.).

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(d) Strafrecht Das Strafrecht schließlich, das für das vernünftige Verstehen von Strafe und TOA relevant ist, regelt einen besonderen Bereich des Miteinanders. Es hat den Bereich unmittelbarer Übergriffsmöglichkeiten, also unmittelbarer Gewalt, zwischen den Menschen zum Gegenstand, die durch ein auf selbstständige Entfaltung im Miteinander orientiertes Recht nicht ausnahmslos verhindert werden können.296 Durch das Strafrecht werden bestimmte verletzende Verhaltenweisen verboten (oder geboten). Auf diese Weise wird allen der Rechtsgemeinschaft Angehörenden verdeutlicht, welches Verhalten auf jeden Fall zu unterlassen ist. Um unmittelbare Gewaltverhältnisse zu verhindern, ist es sinnvoll, dass in erster Linie dem Staat im Rahmen des Gewaltmonopols die Aufgabe zukommt, solche Verhaltensweisen zu unterbinden, wie dies etwa im Polizeirecht vorgesehen ist. Zudem kommt dem Staat auch in diesem Bereich die Aufgabe zu, verbindlich zu entscheiden, wann eine strafrechtlich relevante Verletzung, eine Straftat, vorliegt. An das Gewaltmonopol geknüpft ist schließlich die Aufgabe des Staates, die Straftat in Form von legitimer Gewalt, also macht-voll, in Form der Strafe zu bewältigen.297 Durch die Strafe wird auch das gemeinsame Verhältnis zwischen Täter und Opfer nach der Tat im Bereich möglicher wechselseitiger Gewaltausübung nach einer Tat befriedet, also die Rache durch das Tatopfer als illegitime Gewalt ausgeschlossen, wie noch näher zu erläutern sein wird.298 Dabei wird sich auch zeigen, dass daneben der TOA als Form der Tatbewältigung, die nur im Wege authentischpersönlicher Kommunikation möglich ist, sinnvoll ist.299 nn) Zusammenfassung Damit sind die Grundzüge unserer Welt, die Möglichkeitsbedingungen derselben und zugleich Rationalitätskriterien für unser Verstehen und Entscheiden sind, aufgewiesen. Dabei wurde unsere Existenz in der Interexistenz als leiblich getragen, in wirklichen Situationen oder Sinnhorizonten, also der Lebenswelt in all ihren Ausformungen, verortet, zeitlich eingebunden, einmalig, ganz und fragil gekennzeichnet. Dabei sind die interexistentiellen Verhältnissen von Gleichheit und Asymmetrie geprägt. Hinsichtlich des praktischen Urteilens wurde unsere Existenz in dieser Welt näher erläutert. Zwei dabei schon anklingende Aspekte sollen im Folgenden noch näher beleuchtet werden: Zum einen stellt sich für die Beurteilung von Strafe und TOA die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Verhalten erzwungen werden darf, womit die Einsichtsgetragenheit selbstständigen 296

Vgl. Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (818). Vgl. etwa Ernst Amadeus Wolff, Kriminalunrecht, S. 203 ff.; ders., ZStW 97 (1985), S. 786 (817 ff.). 298 Vgl. hierzu im IV. Kapitel unter 3. c) bb) (3). 299 Hierzu näher im IV. Kapitel unter 3. c) bb) (3) sowie 4. d). 297

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Verhaltens angesprochen ist. Zum anderen soll noch auf den möglichen Einwand des naturalistischen Fehlschlusses eingegangen werden. Der hier verfolgte Ansatz ist Vorwürfen ausgesetzt, die strikte Trennung von Sein und Sollen, die überhaupt erst eine Unterscheidung von bloß faktisch falschen Praxisformen und deren normativen Bestimmung erlaube, zu unterlaufen, so dass durch die Verortung des praktischen Urteilens innerhalb einer faktisch vorgängigen Praxis von einem Sein auf ein Sollen gefolgert würde und auf diese Weise eine vernünftige Unterscheidung zwischen richtig und falsch unmöglich gemacht werde.300 d) Moralität als einsichtsgetragenes Verhalten Bevor Straftat, Strafe und TOA analysiert werden, ist noch die Frage zu er­ örtern, wann ein moralisches Verhalten Pflicht ist. Denn im ersten Zugriff leuchtet es durchaus ein, von einer moralischen und rechtlichen Pflicht, den Täter kriminellen Unrechts zu bestrafen, zu sprechen (Strafe muss sein!), während eine moralische Pflicht, insbesondere des Opfers, sich auf einen TOA einzulassen, wohl kaum angenommen werden kann. Im Hinblick auf Strafe und TOA als (auch) rechtlich geregelte Institute, stellt sich zudem die Frage, inwiefern diese rechtlich geregelt werden können oder sollten, wo also die Grenzen des Rechts hinsichtlich unmittelbar personenbezogener Normen liegen. aa) Moralität als Verhalten aus Pflicht? Nach Kant ist „Pflicht […] die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung für das Gesetz“.301 Diese Bestimmung des Verhältnisses zwischen Sittengesetz und Wille ist nach Kant für den menschlichen Willen notwendig, weil dieser nicht, wie der heilige Wille, von sich aus gut ist – der Mensch ist auch von Bedürfnissen und sinnlichen Bewegursachen affiziert und kann aus Neigung handeln. Der Wille müsse deshalb von der praktischen Vernunft mit einem inneren, intellektuellen Zwang genötigt werden. Dieser Zwang ist die Pflicht zum Handeln nach dem Sittengesetz als Triebfeder des moralischen Willens. Ein Verhalten könne also nur dann moralisch sein, wenn es aus Pflicht, also aus Achtung für das Sittengesetz erfolge.302 Deshalb müsse das Sittengesetz auch als Imperativ formuliert sein, also als ein den Willen nötigendes Gebot der Vernunft, das durch ein Sollen ausgedrückt wird.303 Die Pflicht verlange Unterwerfung.304 300

Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. XXVIII ff. Immanuel Kant, GMS BA 14 (im Original hervorgehoben). 302 Vgl. Immanuel Kant, GMS BA 14, 36 ff.; KpV A 57 (Anm. zur Folgerung nach § 7), A 127 (Beginn 3. Hauptstück). 303 Vgl. Immanuel Kant, GMS BA 37. 304 Vgl. Immanuel Kant, KpV A 154 (3. Hauptstück, Von den Triebfedern…). 301

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Diese Bestimmung ist, wie der kategorische Imperativ, nicht unkritisiert geblieben: So geht Friedrich Nietzsche davon aus, dass ein „Sollen“ immer eine beherrschende, nötigende Autorität voraussetze, für die Moral des freien Willens sei vielmehr das „ich will“ entscheidend;305 Friedrich Schiller schreibt, dass eine Herrschaft der Vernunft allein für die Knechte und nicht für die Kinder des Hauses sorge;306 der junge Hegel meint, dass die selbstauferlegten Pflichten ein internalisiertes Herrschaftsverhältnis darstellten, das zu einer Zerrissenheit des Geistes führe.307 Eine Pflicht solle demnach (im Selbstverhältnis) keine angemessene Bestimmung der Moralität sein, da ein Pflichtzwang gerade nicht für die Freiheit, sondern für das Unterworfensein unter den Befehl einer höheren Macht steht. Der Kritik an Kant ist insofern zuzustimmen, als dass unser Verhältnis zu uns selbst als ein Verhältnis zwischen uns selbst als selbstständig Vorgängiges Beurteilende und uns selbst als vorgängig Geprägte nicht grundlegend als Unterwerfungs- oder Herrschaftsverhältnis beschrieben werden kann. Denn wenn wir etwas als richtig erkannt, also eingesehen, haben und dementsprechend handeln, ist unser Wille von dieser Einsicht getragen und wir haben uns in diesem Prozess der Willensbildung insgesamt gewandelt. Selbst in Situationen, in denen wir uns in einem tiefen Zwiespalt zwischen unseren Einsichten und Neigungen, zum Beispiel einer tief sitzenden Angst, befinden, handeln wir, wenn wir doch unserer Einsicht folgen, nicht aus Pflicht, sondern aufgrund dieser Einsicht, an die wir gebunden sind, weil es unsere eigene Einsicht ist. Wir handeln dann, weil wir es wollen, nicht weil wir es müssen. Dass wir an solche Einsichten gebunden sind, zeigt sich zum Beispiel daran, dass diese als „schlechtes Gewissen“ zum Vorschein kommen oder sich in künftigen Situationen entweder als erneute Herausforderung stellen oder verdrängt werden müssen, wenn wir ihnen nicht gefolgt sind. Unsere aktuell vernünftigen Einsichten sind so dem Vorgängigen (auch vorgängigen Einsichten) und leiblichen Bedürfnissen in gewissem Sinne übergeordnet.308 Wir wirken in unserer Möglichkeit vernünftigen Distanzierens von Vorgängigem aber nicht als Befehlsgeber gegenüber uns selbst in einem Unterwerfungsverhältnis, bei dem wir uns selbst gegenüber Zwang ausüben würden. Nur im Extremfall des inneren Widerstreits, lässt sich davon sprechen, dass sich jemand durch seine Einsicht entgegen stark widerstreitenden Neigungen geradezu selbst gezwungen hat, etwas zu tun, aber 305

Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente / Juli 1882 bis Winter 1883/84 (7/1), S. 244; ders., Nachgelassene Fragmente / Frühjahr 1884 (7/2), S. 101; ders., Zarathustra I (6/1), S. 26. 306 Vgl. Friedrich Schiller, Anmuth und Würde, S. 283. 307 Vgl. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Geist des Christentums, S. 323 f., 359 f. 308 Sie durchdringen diese aber auch. Dies betrifft unser Verhältnis zu uns selbst als vernünftige und leiblich getragene Wesen. Dieses soll hier nicht näher erörtert werden, vgl. hierzu bereits in diesem Kapitel unter 2. c) ii) (1) (bei Fn. 208). Bei Kant kommt die Notwendigkeit der Einsicht durchaus darin zum Ausdruck, dass die Vernunft sich selbst bestimmt, also tatsächlich tätig geworden sein muss, um die Pflicht auszulösen. Aber hier ist dann treffender nicht von einer nötigenden Pflicht als Selbstzwang, sondern von einer Selbstbindung zu sprechen, die darauf beruht, dass die Einsicht in das richtige Verhalten, die eigene Einsicht ist.

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auch dieser Zwang ist letztlich einsichtsgetragen. Zum Grundbegriff der Ethik wird damit der einsichtsgetragene Wille. Der Imperativ oder das Sollen, dem wir als Handlungsanforderung mit der immer wiederkehrenden Frage „Was soll ich tun?“309 ausgesetzt sind, kann also nicht als Befehl der Vernunft an den Willen verstanden werden. Das Sollen kann eher als die Anforderung, sich ständig sinngetragen verhalten zu müssen und damit das eigene Leben unentrinnbar sinnhaft zu gestalten, als faktische Grundgegebenheit der menschlichen Existenz verstanden werden. Rentsch beschreibt dies damit, dass der Mensch auf den Entwurf und die Erfüllung, also Umsetzung von Sinnentwürfen, ausgerichtet ist.310 Als faktischer Grundzug unseres Seins ist dieses Sollen zugleich ein Müssen, insofern wir dieser Anforderung nicht entfliehen können. Es ist aber ebenso ein Können und Dürfen, als Vermögen zum selbstständigen Entscheiden in lebendiger Kreativität. Die Ethik oder Moralität kann auch insofern nicht auf ein Sollen als Grundbegriff der Verhaltensanforderung reduziert werden. bb) Sinn der Rede von der Pflicht zu einem bestimmten Verhalten Damit ist aber erst die „Triebfeder“ als der Grund unseres Verhaltens näher erläutert. Für die Frage, ob gestraft werden soll oder ob jemand verpflichtet sein soll, sich auf einen TOA einzulassen, ist zudem zu erörtern, wann jemand vernünftiger Weise zu einem konkreten Verhalten verpflichtet sein oder werden kann. Fraglich ist insofern, ob Kant mit der Anforderung des Handelns aus Pflicht sagen wollte, dass eine als moralisch richtig erkannte Handlung auch notwendig, aus Pflicht auszuführen ist. Kant bestimmt hier zwar einen Pflichtbegriff, allerdings könnte dieser sich so interpretieren lassen, dass er nicht die Pflicht zu einem bestimmten Handeln, sondern die Struktur der menschlichen Willensbildung überhaupt betrifft. Die Aufforderung „Handle nur nach derjenigen Maxime […]“, wäre dann nur generell als Aufforderung zu verstehen, nur allgemeine Maximen umzusetzen, ohne dass damit gesagt wäre, dass jede als richtig erkannte Maxime auch umgesetzt werden muss. Das wäre plausibel, da sich richtig zu verhalten nicht immer bedeutet, zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet zu sein. Zum Beispiel könnte ich mehrere Möglichkeiten richtigen Verhaltens haben, etwa wenn mir verschiedene Möglichkeiten klar geworden sind, wie ich das Wochenende entspannt und stärkend verbringen kann, die ich nicht alle verwirklichen kann. Das auf ein konkretes Verhalten bezogene Dürfen, Können, Sollen und Müssen in einer

309

Vgl. Immanuel Kant, Logik, S. 448 (A 25); ders., KrV, B 832 f., A 804 f. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 109 f., 111 ff., 121 f., 127 f.; vgl. hierzu in diesem Kapitel bereits unter 2. c) ii) (4). 310

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bestimmten Situation ist insofern vom Dürfen, Können, Sollen und Müssen als grundlegende Anforderung sinnhaften Verhaltens, die sich durch jedes Verhalten als Grundzug der Selbstständigkeit zieht, zu unterscheiden. Neben der Rede von der Pflicht zu einem bestimmten Verhalten kann so also auch sinnvoll vom Dürfen oder Können gesprochen werden. Die Rede von der Pflicht ist ein praktisches kommunikatives Interexistential, das wesentlich für bestimmte Praxisformen, wie zum Beispiel das Versprechen oder die Ehe, ist. Der Sinn des Interexistentials der Pflicht ist im Miteinander entstanden und geformt sowie an typische Situationen gebunden, er kann nicht aus einem ideal überzeitlich geltenden Prinzip des Guten abgeleitet werden. Es lässt sich also zum Beispiel nicht überzeitlich streng allgemeingültig sagen, dass Strafe sein muss. Denn es sind Situationen denkbar, in denen die Forderung nach einer Strafe nicht sinnvoll wäre. Beispielsweise ist in Indien keine für alle Teile der Bevölkerung ausreichende Rechtspflege gewährleistet. Fälle innerfamiliärer Gewalt können so in den Armenvierteln faktisch nicht mit staatlicher Hilfe bewältigt werden. Zwar kann man hier grundsätzlich fordern, das Strafverfolgungsbehörden und Gerichte in ausreichender Zahl geschaffen werden, aber für eine Frau, die konkret in dieser Situation von Gewalttätigkeiten ihres Ehemannes betroffen ist, mutet die Forderung, dass dieser bestraft werden muss, angesichts der konkret fehlenden Durchsetzbarkeit des Rechts doch als recht lebensfern an. Entsprechend haben sich in Armenvierteln großer Städte im Nordwesten Indiens „Frauen für Gerechtigkeit“ zusammengeschlossen, um Frauen, die keinen staatlichen Schutz finden, vor familiärer und sexueller Gewalt schützen. Gemeinsam werden Frauen aus Gewaltverhältnissen in Sicherheit gebracht, und viele Fälle werden erfolgreich unter einem Baum am Rande des Armenviertels unter Einbeziehung aller Beteiligten so lange verhandelt, bis eine Lösung des Konflikts gefunden worden ist.311 Diese Frauen haben also jenseits des Strafens eine Möglichkeit der Bewältigung schweren Unrechts geschaffen, die ihrer Situation – dabei auch der Tatsache, dass sie nur auf der Gleichordnungsebene agieren können – entspricht. Es ist festzuhalten, dass der Sinn und die Vernünftigkeit der Rede von einer Pflicht immer auf eine konkrete Praxisform innerhalb konkreter Umstände und die Grundzüge unserer Welt zurückbezogen werden muss. Die Rede von der Pflicht beinhaltet, dass jemand aus einem bestimmten Grund, etwa einem Versprechen oder einem Vertrag, für ein bestimmtes Verhalten auf die Zukunft festgelegt ist. Sie ist einerseits Ausdruck unserer Selbstständigkeit, in der wir uns an Vorgaben orientieren können und in der wir uns auch für die Zukunft auf etwas festlegen können. Sie darf andererseits unsere Selbstständigkeit oder andere Grundzüge unserer Welt nicht negieren, um vernünftig zu sein. Es ist zum Beispiel nicht sinnvoll, sich zu versprechen, für immer in Liebe zu­ sammen zu bleiben. Denn die Liebe, nicht nur als Empfinden, sondern auch als 311 Vgl. hierzu den eindrucksvollen Dokumentarfilm „Shortcut to Justice“ von Daniel Burkholz / Sybille Fezer, Deutschland 2008.

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immer wieder einsichtsgetragenes Bekennen zu einem Menschen auch in Krisen, muss sich als authentische Persönlichkeitsäußerung immer wieder neu bestätigen. Allerdings lässt sich in einem Liebesverhältnis vernünftigerweise versprechen, immer wieder, auch in Krisen offen und authentisch, aus wirklicher Einsicht als Person aufeinander zuzugehen, soweit dies im mitschwingenden Verständnis die Fehlbarkeit auch darin einräumt und zugleich offen lässt, ob die Beziehung trotz der Krise Bestand haben wird. Denn hier liegt die Verpflichtung gerade im Selbstsein angesichts der eigenen Fehlbarkeit, wenn dies auch für schwierige Situationen versprochen wird. Die Basis hierfür ist dabei nicht die Einklagbarkeit oder Erzwingbarkeit des Verhaltens, sondern ein Vertrauenkönnen, also das wechselseitige Wissen, dass man sich aufeinander verlassen kann, und das Wissen, dass beide Seiten hierin auch scheitern können, ohne dass das Versprochene dann erzwungen werden kann. Demgegenüber gibt es auch Pflichten oder verpflichtende Praxisformen, die weit weniger auf eine authentische Persönlichkeitsäußerung angewiesen sind. So kommt es für die Verpflichtung zur Zahlung eines Mietzinses nicht darauf an, ob die Mieterin aus wirklicher Einsicht oder nur deshalb zahlt, weil sie keinen Ärger haben möchte. Eine solche Verpflichtung ist zudem ohne weiteres einklagbar und kann grundsätzlich312 zwangsweise vollstreckt werden, ohne dass die Selbstständigkeit der Mieterin negiert und unangemessen eingeschränkt wird. Die Vernünftigkeit einer Pflicht, deren zwangsweiser Durchsetzbarkeit oder von Zwang überhaupt hängt also unter anderem davon ab, ob das Verhalten, auf das verpflichtet wird bzw. das erzwungen wird, vernünftig nur als authentische, einsichtsgetragene oder aufrichtige Persönlichkeitsäußerung, die nicht erzwingbar ist, verstanden werden kann. cc) Bedeutung für die Grenzen rechtlicher Regelbarkeit Da Recht Verpflichtungen und berechtigten Zwang zur Erfüllung rechtlicher Pflichten regelt, stellt sich die Frage inwiefern sich diese Überlegungen auf die rechtliche Regelbarkeit und Erzwingbarkeit von Verhaltensweisen auswirken. In der Kantischen Tradition wird davon ausgegangen, dass Recht sich auf die Re­ gelung äußerer Freiheitsbereiche zu beschränken habe. So formuliert Bettina Noltenius, dass das Recht nur das äußere Handeln zum Gegenstand haben kann.313 Sie nimmt dabei Bezug auf die Kantische Differenzierung von Legalität und Moralität, wobei es für die Legalität nur auf die Übereinstimmung der Handlung mit dem Gesetz, nicht aber auf deren Triebfeder ankomme, während bei einer moralischen Handlung das sittliche Gesetz Triebfeder sein müsse.314 Hier deutet sich an, dass sich das Recht nur auf die Legalität eines Verhaltens bezieht. Michael Köhler be 312

Ausnahmen gelten für den Fall, dass durch die Vollstreckung die Lebensgrundlagen des Täters angegriffen werden; vgl. hierzu etwa die §§ 811, 850 ff. ZPO zum Pfändungsschutz. 313 Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (527 f.). 314 Immanuel Kant, MdS, Einleitung in die Metaphysik der Sitten III. (AB 15).

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

zieht den Rechtsbegriff auf das äußerliche Handeln, als „im (natürlichen) Material sich einzeln setzend seiner Freiheit Dasein zu geben.“315 Dies beruht auf einer Trennung der Lebenswelt in eine innere Welt des Ich und eine äußere Welt, auf die gemeinsam zugegriffen werden kann. Eine solche Trennung ist aber, wie schon erläutert wurde,316 fragwürdig: Wir leben in einer Welt, in der wir uns interexistentiell beeinflussen und aufeinander angewiesen sind, uns aber auch wechselseitig relativ entzogen sind. Zutreffend ist dennoch, dass die Selbstständigkeit in der Willensbildung jedes Einzelnen, die einen fundamentalen Zug unserer Existenz im Miteinander in der gemeinsamen Welt ausmacht, rechtlich nicht angetastet werden darf. Dies darf und muss aber nicht mit einer Unterscheidung zwischen dem Innen und Außen einer Person gekoppelt werden. Rechtlich abzusichern ist vielmehr die selbstständige Willensbildung und -betätigung unter den Bedingungen wechsel­seitiger Abhängigkeit in asymmetrischen Verhältnissen. Das heißt, es muss gesichert werden, dass jede in die Selbstbestimmung hineinwachsen und als Erwachsene ihren Willen in der gemeinsamen und endlichen Welt selbstständig bilden und betätigen kann, wobei das Recht auch der wechselseitigen Abhängigkeit in der Selbstständigkeit gerecht werden muss. Die Basis der Willensbildung ist also auch rechtlich durch das Einräumen rechtlicher Freiräume abzusichern, wie dies etwa das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gem. Art.  2  I, 1 I GG oder der Straftatbestand der Nötigung gem. § 240 StGB tun. Das Recht erweist sich hier als eines der Instrumente, mit denen Selbstständigkeit gesichert wird, was einschließt, dass diese rechtlich garantierten Freiräume auch frei von rechtlichen und sonstigen Zwängen bleiben müssen. Zwar gehen vernunftrechtliche Positionen auch davon aus, dass das Recht sich auf freie Personen bezieht, die grundsätzlich die Möglichkeit haben, sich zum Richtigen zu bestimmen, und sie erfassen die äußeren Freiheitsbereiche gerade als Bereiche, die der Umsetzung des selbstständig gebildeten Willens dienen.317 Sie ziehen daraus aber eben den Schluss, dass das Recht sich auf das äußere Handeln zu beschränken habe. Mit Winfried Hassemer und Jan Phillip Reemstma ist jedoch eher davon zu sprechen, dass die Räume selbstständiger Entfaltung im Miteinander „rechtlich umhegt“318 sind und das Recht sich so nicht auf die Regelung „äußerer“ Freiheitsbereiche beschränkt.

315 Michael Köhler, Strafe, S. 44. Auf S. 45 betont er, dass das Äußerliche den freien Willen insoweit betrifft, als das Recht als verbindlich geltend den freien Willen der anderen Subjekte bindet. Der rechtlich als äußerlich umgesetzte Wille soll in seiner Bildung rechtlich gerade nicht erfasst sein. Ähnlich Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S.  786 (816 ff.), auch bei ihm sind Gegenstand des Rechts die äußeren Bedingungen des Daseins und deren Sicherung. 316 In diesem Kapitel unter 2. c) ee) Fn. 186 und ii) (4) Fn. 242. 317 Vgl. etwa Michael Köhler, Strafe, S. 26, wonach die „Denk- und Meinungsäußerungsfreiheit als Konstitutiva des Rechtsprozesses […] im Privatrecht und Staatsrecht substantiell sein müssen[.]“; Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (523). 318 Winfried Hassemer / Jan Philipp Reemstma, Verbrechensopfer, S. 168 ff., insb. S. 170.

3. Verwobenheit von Faktizität und Normativität

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Das Recht dient also der Absicherung der Selbstständigkeit im Miteinander in wechselseitiger Abhängigkeit unter den Bedingungen asymmetrischer Verhältnisse, es ist zwangsweise durchsetzbar. Es ermöglicht so authentische Persönlichkeitsentwicklungen und -entfaltungen, darf aber nicht zur Authentizität einer bestimmten rechtlich geforderten Verhaltensweise in der Willensbildung verpflichten und auch nicht authentische Einsichten erzwingen.319 Die Strafe ist so zwar als Minderung des Täters in seinem Rechtsstatus, die zwangsweise durchgesetzt werden darf, zulässig, da diese Statusminderung nicht unmittelbar auf eine authentische Persönlichkeitsäußerung des Täters zielt. Denn die Strafe ist gerade wesentlich ein einseitig-feststellender Akt der Normbestätigung320 angesichts des Verbrechens gegenüber dem Täter zugunsten des Opfers und gegenüber der Rechtsgemeinschaft, also nicht auf die Einsicht des Täters angewiesen. Sie darf zudem als zwangsweise durchsetzbare rechtliche Maßnahme nicht auf das Erzwingen einer wirklichen Einsicht gerichtet sein.321 Soweit der TOA hingegen auf wirklich einsichtsgetragenem Verhalten, das Reue, Entschuldigung und Verzeihen ist, beruht, kann rechtlich hierzu nicht verpflichtet werden. Das schließt allerdings nicht prinzipiell eine rechtliche Verpflichtung aus, einen TOA-Versuch zu unternehmen, also zu einem gemeinsamen Treffen mit einer qualifizierten Vermittlerin zu gehen, allerdings würde eine solche Verpflichtung das Gelingen des auf persönliche Authentizität angewiesenen TOA jedenfalls im Erwachsenenbereich von vornherein erschweren und wäre so faktisch nicht sinnvoll. Dies schließt aber vor allem nicht aus, den TOA als Form der Straftatbewältigung im authentisch-persönlichen Kontakt in seinen Bedingungen abzusichern.322 3. Verwobenheit von Faktizität und Normativität sowie naturalistischer Fehlschluss Wie in der Erläuterung der Grundzüge, aber auch schon in der Einleitung deutlich wurde, ist zusammen mit Rentsch davon auszugehen, dass die Moralität selbst eine fundamentalanthropologische Tatsache ist und dass moralisch immer nur in der Lebenswelt im Rückbezug auf die tatsächlich praktizierten Sinngestalten argumentiert, entschieden und gehandelt werden kann. Das legt den Einwand nahe, dass von einem Sein auf ein Sollen geschlossen wird und allen faktisch praktizierten Sinngestalten normative Verbindlichkeit zukommt; damit wäre dieser Ansatz dem Einwand des naturalistischen Fehlschlusses ausgesetzt. Doch dieser Einwand greift nicht: 319 Vgl. auch, allerdings mit der Begrifflichkeit der innen / außen-Dichotomie, Hermann Kanto­rowicz, Recht, S. 57. 320 Vgl. zum deklarativen Charakter der Strafe Roman Hamel, Sprechakt, S. 115 ff., 212 f. 321 Im Ergebnis so auch Michael Köhler, Strafe, S. 52, 60 f.; Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (821); Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (527 f.). 322 Näher zu diesen Aspekten von Strafe und TOA im IV. Kapitel unter 3. c) bb) (1), 4. d) gg) sowie 5. b) cc) (3).

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

Der auf Überlegungen David Humes zurückgehende323 sogenannte naturalis­ tische Fehlschluss besagt, dass aus rein deskriptiven Sätzen keine normativen Sätze abgeleitet werden können.324 Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass es rein deskriptive Sätze gibt, die Welt also strikt in Faktisches und Normatives getrennt werden kann. In unserer Welt sind Faktizität und Normativität jedoch grundlegend verschränkt oder miteinander verwoben, denn: –– Wir müssen faktisch praktisch handeln, wir können der freien Entscheidung nicht ausweichen. Die Notwendigkeit selbstständig zu sein, ist unmittelbar mit selbstbestimmten Verhalten in einem faktischen Raum eröffneter Möglichkeiten verbunden. In unserem Leib als Basis unseres Seins und Mitte der primären Welt sind naturales und kommunikatives Wesen ineinander verschränkt.325 –– Wir bestimmen die Welt und uns selbst durch unsere Sinnentwürfe, das heißt, wir erfassen auch Tatsachen nur innerhalb einer kulturell geprägten Deutungs­ praxis. Wir stehen nie einer bloßen, „nackten“ Faktizität gegenüber, sondern trennen Tatsächliches und Normatives erst innerhalb unserer Erkenntnispraxis. Tatsachenerkenntnis ist daher immer auch von Erkenntnisinteressen geprägt.326 –– Das Faktische erscheint uns nur im Horizont des Normativen327 und umgekehrt. Nur weil wir nicht strikt naturgesetzlich determiniert sind, erscheint uns das Vorfindliche als Vorfindliches. Und umgekehrt, nur weil wir nicht voraussetzungslos frei entscheidende Wesen sind, können wir uns als Freie oder als Selbstständige verstehen. –– Unsere Praxis ist in vorfindlichen Erfüllungsgestalten gemeinsamer Interexistenz verankert, sie findet immer in einer praktisch schon erschlossenen Welt statt. Den Rahmen unserer Praxis bilden zudem unabdingbare, insofern faktische Grundzüge.328 Wir unterscheiden also zwar Sein und Sollen, Faktizität und Normativität, beides ist aber nur in unserer einen ganzen Welt. Es gibt keine von der Welt des Seins getrennte Welt des Sollens. Wir differenzieren Sein und Sollen innerhalb unserer Einsichtspraxis, und zwar so, dass beide gleichursprünglich sind. Die Faktizität ist nicht ohne die Normativität denkbar und umgekehrt, das eine kann nicht allein aus dem anderen abgeleitet werden und umgekehrt. Die fundamental­anthropologische

323 Vgl. David Hume, Menschliche Natur III, S. 211; vgl. zur Entstehungsgeschichte des „naturalistischen Fehlschlusses“, dessen Bezeichnung eigentlich auf George Edward Moore zu­ rückgeht, Barbara Merker, Naturalistischer Fehlschluss, Enzyklopädie Philosophie 2, S. 1722 f. 324 Vgl. Barbara Merker, Naturalistischer Fehlschluss, Enzyklopädie Philosophie 2, S. 1722. 325 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. XXXI, 109, 112; vgl. hierzu in diesem Kapitel unter 2. c) ff) und ii), insb. (2) und (4). 326 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. XXVIII, XXX f., XXXII, 92, 196, 204, 207 f. 327 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 207. 328 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 93, 127 f., 145, 160, 192, 222, 224 f.; vgl. hierzu in diesem Kapitel unter 2. a); 2. c) cc), dd), ee) sowie 2. c) ii) (1).

4. Zusammenfassung

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Feststellung, dass beide grundlegend verwoben sind, bedeutet daher nicht, dass Normatives aus rein Faktischem abgeleitet würde. Vielmehr macht sie darauf aufmerksam, dass und wie unsere Welt sozial verfasst ist, dass sie von vornherein durch und durch normativ geprägt ist. Sie schließt Vernunft und Unvernunft gleichermaßen ein, die Kriterien der Rationalitätskritik ergeben sich in dieser Welt.329 Das bedeutet nicht, dass einfach alle praktischen Sinngestalten, die es gibt, als moralisch richtig bewertet werden, dass also von einem Sein auf ein Sollen im Sinne des naturalistischen Fehlschlusses gefolgert würde. Denn den vorgängigen praktischen Interexistentialen ist ein normatives Moment immanent, sie enthalten die Anforderung richtigen Verhaltens.330 Die Freundschaft gibt es nicht nur, weil Menschen sich faktisch zueinander hingezogen fühlen, sich gegenseitig unterstützen usw. Dem Begriff der Freundschaft ist auch immanent, dass es richtig ist, sich gegenseitig zu unterstützen und aufeinander verlassen zu können, auch wenn die Freundschaft gerade eine Krise durchläuft und die Gefühle des Hingezogenseins in den Hintergrund gerückt sind. In einem rein faktischen Sinne ist zum Beispiel die Rede „Und das soll ein Freund sein?“ gar nicht verständlich. Versuchen wir hier im Rahmen eines Gedankenexperiments, den Satzes zu verstehen, wenn das Wort „Freund“ rein faktisch gebraucht würde, hätte er keinen Sinn. Normative Implikationen, wie sich ein Freund zu verhalten habe, sind ihm immanent.331 In sprachlicher Hinsicht bezeichnet Rentsch solche Worte oder praktischen Interexistentiale als dianoietische Termini, also als einsichtsbezogene Rede. Wir gebrauchen sie zur alltäglichen Verständigung, und sie verweisen nicht nur auf Vorfindliches, sondern „enthalten, präsupponieren und implizieren in ihrer ganzen Weite und internen Komplexität das Ethische bzw. die Moralität“.332 Die praktischen Interexistentiale werden als dianoietische Termini handlungsorientierend wirksam.333 4. Zusammenfassung In der Abgrenzung zum kategorischen Imperativ Kants wurde in diesem Ka­pitel die Konstitution der Moralität nach Rentsch entwickelt, mit der unser Selbstverständnis in dieser Welt als praktische Wesen erläutert wurde. Dabei war hervorzuheben, dass unser praktisches Urteilen immer schon in einer praktisch erschlosse 329 Vgl. zum Ganzen Thomas Rentsch, Konstitution, S. XXXII ff., 270 ff.; vgl. auch S. 106, 113. 330 Vgl. etwa Thomas Rentsch, Konstitution, S. 54, 222. 331 Vgl. zu einer näheren Analyse des Interexistentials der Freundschaft Thomas Rentsch, Konstitution, S.  219 ff.; vgl. zu den faktisch-normativen Implikationen des Interexistentials Mensch ebenda S. 196 f., des Interexistentials Leben S. 199, der Interexistentiale Vater, Mutter u. Ä. S. 200. 332 Thomas Rentsch, Konstitution, S. XXXIII (im Original hervorgehoben); vgl. ausführlicher zu den dianoietischen Termini S. 195 ff. 333 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 225 f.

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II. Kap.: Moralität oder das Beurteilen von Praxisformen

nen Situation mit konkreten, faktisch und normativ geprägten, vernünftigen und unvernünftigen und inhaltlich bestimmten Praxisformen verankert ist und sich auf diese bezieht. Durch die Verankerung des praktischen Urteilens in dieser konkret und zugleich allgemein bestimmten Welt in all ihren Ausformungen gelingt es auch, rigorose und unterkomplexe praktische Urteile zu vermeiden. Im praktischen Urteilen vergewissern wir uns des vernünftigen Sinns der Gestalten unserer Praxis, wobei diese hierdurch zu unseren eigenen praktischen Formen werden und wir diese modifizieren und im Entwicklungsprozess auch wandelnd kreieren können. Als Rationalitätskriterien fungieren dabei die im Einzelnen erläuterten transzendentalen Grundzüge unserer Welt, die unsere Praxisformen zugleich in gleichursprünglicher Komplexität durchdringen. Die Erläuterung des vernünftigen Sinns von Strafe und TOA erfordert daher zweierlei: Zum einen ist auf die vorgängig diskutierten Sinngebungen und -deutungen von Strafe und TOA Bezug zu nehmen, zum anderen sind diese darauf zu hinterfragen, ob diese einem vernünftigen gemeinsamen Selbstverständnis in unserer Welt entsprechen. Bevor Strafe und TOA im übernächsten IV. Kapitel erläutert werden, soll jedoch erläutert werden, wie der Begriff der Straftat vernünftig zu verstehen ist, da Strafe und TOA Formen der Bewältigung von Straftaten sind, ihren Begriff also voraussetzen.

III. Kapitel

Straftat Nachdem erläutert wurde, wie wir uns und unsere Wirklichkeit in einem grundlegenden Sinne vernünftig verstehen können, kann nun analysiert werden, was eine Straftat als Teil der Wirklichkeit unseres gemeinsamen Lebens ist und wie sie vernünftig begriffen werden kann. Das Verstehen dessen, was eine Straftat ist, ist unumgänglich für die Erläuterung von Strafe und TOA, da diese Praxisgestalten Formen der Bewältigung von Straftaten sind. 1. Straftat als kommunikatives Interexistential und ursprüngliche Praxisform sowie Methode der Analyse Eine Straftat ist ein kommunikatives Interexistential, also eine sprachlich getragene Form unseres gemeinsamen Lebens mit einer bestimmten Bedeutung, die verschiedene Dimensionen der Wirklichkeit umfasst. Hierzu gehören Aspekte, mit denen Faktisches verstehend erfasst wird, etwa die Verletzung des Körpers durch einen Messerstich, aber auch nur sprachlich getragene Sinnaspekte, wie die Missachtung des Opfers durch den Täter, der sich anmaßt, dieses verletzen zu dürfen.334 Das Interexistential der Straftat lässt sich ebenso wenig wie andere Sinngestalten der Praxis abstrakt und ideal aus den Grundzügen unserer Welt, wie sie im II. Kapitel erläutert wurden, herleiten. Denn Straftaten sind in eine vorgängige Praxis eingebettet, die sie geformt hat. Diese ist von den Grundzügen der Welt durchdrungen, die zugleich normativer Maßstab der Beurteilung unserer Praxisformen sind.335 Straftaten sind insofern hinsichtlich ihrer gemeinschaftlichen Bewertung als Straftat ursprüngliche Praxisformen. Die Einbettung des Begriffs in eine vorgängige sich gewissermaßen in sich entwickelnde Praxis zeigt sich auch daran, dass der Begriff der Straftat oder eines grundlegenden Verstoßes gegen die allgemeine Ordnung historisch-kulturellen Wandlungen unterworfen ist. So beschreibt Viktor Achter in seinem Buch „Die Geburt der Strafe“, dass die in südfranzösischen Urkunden des 11. und 12. Jahrhunderts festgehaltene „Pön“ die Reaktion auf die Störung des Rechts als Gesamtheit aller Lebensbeziehungen und göttliche Ordnung war.336 334

Vgl. zum Begriff des kommunikativen Interexistentials im II. Kapitel unter 2. c) dd). Zur Vorgängigkeit der Praxis vgl. im II. Kapitel unter 2. a) und 2. c) ii) (1). 336 Vgl. Viktor Achter, Geburt der Strafe, S. 9, 15 ff., 37 ff., 107 ff., 134. Entsprechend kann auch die Pön nicht als Strafe in unserem heutigen Sinne verstanden werden, woran sich zeigt, dass auch diese keine überzeitliche Gestalt ist; vgl. dazu unten im IV. Kapitel 2. b). 335

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III. Kap.: Straftat

Ein Verständnis der Straftat als Störung der göttlichen Ordnung liegt unserem heutigen säkularen Rechts- und Staatsverständnis sehr fern. Auch in jüngerer Zeit lassen sich zum Beispiel an der Aufhebung der Strafbarkeit spezifisch männlich-homosexueller Handlungen337 und der Diskussion um die Strafbarkeit des Geschwisterinzests gem. § 173  II  2 StGB338 eine Wandlung des Begriffs des Strafwürdigen (der dem der Straftat immanent ist) insoweit ausmachen, als ein klarer Konsens darüber besteht, dass bloß moralische Mehrheitsauffassungen und Tabus als solche nicht schützenswert sind.339 Hier soll nur das aktuelle Straftatverständnis in den Blick genommen und auf seinen vernünftigen Sinn hinterfragt werden. Dafür ist im Rahmen der Interexistentialanalyse zunächst auf zu Strömungen gebündelte vertretene Interpretationen des Straftatbegriffs einzugehen. Da uns die von uns verstandenen Phänomene, also auch Straftaten, zudem immer nur an Beispielen, die wir im Verstehen verallgemeinernd betrachten, deutlich werden, werden einführend Beispiele vorangestellt.340 Anhand der Beispiele und Verständnisvorschläge wird anschließend das Interexistential der Straftat im Hinblick auf die Grundzüge unserer Welt erläutert. Meine Analyse wird sich auf Straftaten beschränken, die ein Opfer unmittelbar und individuell betreffen, da sich in erster Linie hier Fragen des unmittelbaren Tatausgleichs zwischen Täter und Opfer wie beim TOA stellen. Die Beispiele sind aus dem Bereich verletzender Verhaltensweisen gewählt, die unumstritten strafwürdig sind, da damit die Merkmale krimineller Verletzungen klar herausgearbeitet werden können. Spezifische Probleme der Abgrenzung von strafwürdigem Verhalten zu nicht strafwürdigem Verhalten, etwa in Bezug auf abstrakte Gefährdungsdelikte (z. B. die Trunkenheitsfahrt gem. § 316 StGB, deren Strafbarkeit eine konkrete Gefährdung oder Verletzung anderer nicht erfordert), sollen hier nicht erörtert werden. Denn es kommt mir auf eine genauere Analyse der Wirklichkeit krimineller Verletzungen in ihren typischen Elementen und deren Bewältigung an.341 337

Vgl. hierzu einführend m. w. N. Anja Schmidt, Sexualität, Rn. 20 f. Vgl. BVerfG NJW 2008, 1137 ff.; hierzu u. a. m. w. N. Benno Zabel, JR 2008, 453 ff. 339 Das BVerfG urteilte noch 1957 apodiktisch, dass männlich-homosexuelle Handlungen zu Recht strafbar seien, weil sie eindeutig gegen das Sittengesetz verstießen (BVerfGE 6, 389 (423 ff.)). Es wurde also direkt auf das Sittliche jenseits des Rechts Bezug genommen. Durch das Inzest-Urteil des BVerfG (NJW 2008, 1137 ff.) wird zwar das strafrechtliche Inzestverbot des § 173 II 2 StGB aufrechterhalten, allerdings begründet das BVerfG dies nicht mit dem Inzesttabu, als schützenswerte die Grundfesten der Gesellschaft wahrende Mehrheitsauffassung, sondern sucht rechtliche Argumente (vgl. BVerfG NJW 2008, 1137 (1138 ff. (40 ff.)). Es ist dabei freilich harscher Kritik ausgesetzt, die darauf hinausläuft, dass die rechtlichen Argumente als solche nicht tragfähig sind und in Wahrheit das Inzesttabu geschützt wird (vgl. nur die abweichende Meinung des Richters Winfried Hassemer, NJW 2008, 1142 ff. und Benno Zabel, JR 2008, 453 (454 ff.)). 340 Vgl. zur Interexistentialanalyse als Methode der Analyse von Praxisformen im I. Kapitel unter 3. b) dd) und c). 341 Hieraus erwächst allerdings ein Potential zur kritischen Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Verletzungen, da sich in der Analyse die Rückführbarkeit des Interexistentials der Straftat auf die Grundzüge der Interexistenz und demgemäß dessen vernünftiger Gehalt zeigen 338

2. Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials

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2. Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials der Straftat a) Paradigmen und Strömungen in der wissenschaftlichen Diskussion um den Straftatbegriff aa) Positives Recht Als Paradigmen für Straftaten, die im Kern dem unstrittigen Bereich des Strafwürdigen angehören, können Körperverletzung und Mord gem. §§ 223 ff. und § 211 StGB, der Diebstahl gem. § 242 StGB und die Misshandlung von Schutz­ befohlenen gem. § 225 StGB angeführt werden: (1) Ehemann E schlägt seine Ehefrau F brutal zusammen, weil sie seine Sachen nicht aufgeräumt habe. Das Martyrium der F dauert schon 18 Jahre an, in denen E sie immer wieder und immer brutaler misshandelt hat. Dieses Mal stirbt F an den schweren Verletzungen. Die Kinder der beiden erleben die Misshandlungen mit.342 (2) Der Dieb D bricht die Tür der Wohnung des Studenten S auf und stiehlt dessen Notebook, um es auf dem „Schwarzmarkt“ zu verkaufen. (3) Vater V und Mutter M sperren ihr Kind K in ein abgedunkeltes Zimmer ein, sprechen nicht mit ihm und versorgen es nur unregelmäßig mit Nahrung. Als K sieben Jahre alt ist, wird es aufgrund von Hinweisen von Nachbarn von Mit­ arbeitern des Jugendamtes entdeckt und in einer Pflegefamilie untergebracht. K ist unter anderem zu leicht für sein Alter und körperlich verkümmert, es kann zum Beispiel nicht aufrecht stehen. K kann auch nicht sprechen.343 In formaler Hinsicht können Straftaten als die Verhaltensweisen bestimmt werden, die die Rechtsordnung mit Strafe bedroht (formaler Verbrechensbegriff).344 Dieser Begriff ist sinnvoll, um das zu bestimmen, was in einer Rechtsordnung positivrechtlich unter Strafe gestellt und insofern Basisbegriff für die Rechts­ anwendung ist. Doch auch in dieser Begrenztheit darf der Begriff nicht absolut gewird. Dieser Aspekt der Strafrechtskritik soll in dieser Untersuchung aber nicht weiter verfolgt werden. In meinen Erläuterungen bleibt auch die Frage, ob es von der Interexistenz relativ unabhängige Rechtsgüter gibt, die sich aus sich selbst begründen lassen (etwa bei Umweltdelikten), außen vor. 342 Vgl. zu Sachverhalten dieser Art etwa den der zu trauriger Berühmtheit gelangten Haustyrannenmord-Entscheidung (BGHSt 48, 255 ff., dort jedoch ohne Sachverhaltsabdruck) zugrunde liegenden Sachverhalt (vgl. BGH JZ 2004, S.  44 f.). In dem dort entschiedenen Fall hatte die Ehefrau ihren Mann nach einem 18jährigen Martyrium im Schlaf erschossen, weil sie sich anders nicht mehr zu helfen wusste. 343 Vgl. Klaus Wittmann, Anja hat ein neues Leben, taz vom 24. Dezember 2008, und Fn. 256 im II. Kapitel. 344 Vgl. nur Hans-Heinrich Jescheck / Thomas Weigend, Strafrecht AT, § 7 I. 1. (S. 50); Ulrich Weber u. a., Strafrecht AT, § 11 Rn. 2.

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nommen werden: Das zeigt sich daran, dass auch positiv erlassene Strafnormen verfassungswidrig sein können und dann grundsätzlich nicht anwendbar345 sind. Schon dem positiven Recht sind so Korrekturmöglichkeiten für den Fall immanent, dass eine gesetzte Strafnorm einem normativen Maßstab, dem der Verfassungsmäßigkeit, nicht entspricht. Bereits darin zeigt sich, dass die Straftat als praktische Sinngestalt nicht auf das faktisch durch das positive Recht als Straftat Umrissene beschränkt werden kann. Nach gängiger Rechtsprechung des BVerfG ist das Strafrecht „ultima ratio“ des Rechtsgüterschutzes, darf also nur dann eingesetzt werden, „wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist […]“.346 Ziel des Strafrechts sei es, die Gesellschaft „vor sozialschädlichem Verhalten zu bewahren“ und „die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens“ zu schützen.347 Daran ist zutreffend, dass das Strafrecht an eine Straftat als menschliche Verhaltensweise anknüpft, diese als in einem grundlegenden Sinne falsch, genauer als strafwürdig, bewertet und dabei als Praxisform selbst der Bewertung als richtiges oder falsches Verhalten ausgesetzt ist, also nicht einfach als Faktizität hingenommen werden darf. Entsprechend geht auch die herrschende Ansicht in der rechtswissenschaftlichen Literatur davon aus, dass der Rechtsgüterschutz Ziel des Strafrechts ist, wobei der Begriff des Rechtsguts nicht formal als das positiv-strafrechtlich geschützte Gut gefasst werden soll. Dem Begriff des Rechtsguts soll vielmehr eine strafrechtsbegrenzende Funktion zukommen, indem er ein materiales Kriterium angibt, bei welcher Art von Verletzungen strafwürdiges Unrecht vorliegt. In den personalen Rechtsgutslehren wird dieses Kriterium etwa dahin­gehend gefasst, dass Rechtsgut nur diejenigen Güter sind, die die Voraussetzungen für eine freie Entfaltung der Bürger im Zusammenleben, die Verwirklichung ihrer Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staat­ lichen Systems sichern. Meistenteils soll das Strafrecht dabei als „ultima ratio“ auf den Schutz fundamentaler Rechtsgüter, wie etwa Leben, Leib und Eigentum beschränkt sein,348 auf die auch die hier vorangestellten Beispiele349 bezogen sind. 345 Genauer kann gegen ein entsprechendes Strafurteil nach dem Ausschöpfen des Rechtsweges Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 I Nr. 4a GG erhoben werden oder der Strafrichter selbst kann das Strafverfahren aussetzen und im Wege der konkreten Normenkontrolle eine Überprüfung der Strafnorm durch das BVerfG gem. Art. 100 I GG erreichen. 346 BVerfGE 96, 245 (249); vgl. auch BVerfGE 39, 1 (47); 88, 203 (258). 347 BVerfGE 45, 187 (253, 254), vgl. einführend zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen bzw. Rahmen des Strafrechts u. a. Hans-Heinrich Jescheck / Thomas Weigend, Strafrecht AT, § 1, S. 1 ff., § 2 I. 3., S. 12 f., § 7 I. 1., S. 50; Hans-Joachim Rudolphi, SK-StGB, vor § 1, Rn. 1 ff. Etwas pessimistischer hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Schranken Ulrich Weber u. a., Strafrecht AT, § 3 Rn. 10 ff. 348 Vgl. nur Hans-Joachim Rudolphi, SK-StGB, vor § 1 Rn. 1 f., 5; Claus Roxin, Strafrecht AT, § 2 Rn. 7; Hans-Heinrich Jescheck / Thomas Weigend, Strafrecht AT, § 1 III, S. 7 f.; Dieter Rössner, Grundlagen AE-WGM, S. 343. 349 Im Beispiel (3) dürfte zudem die persönliche Integrität Minderjähriger in Abhängigkeitsbzw. Schutzverhältnissen hinzukommen.

2. Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials

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Der Begriff des Rechtsguts allein ist jedoch noch nicht geeignet, strafwürdiges Unrecht insgesamt zu erfassen, unter anderem deshalb, weil er nur die Seite des Verhaltenserfolgs im Blick hat. Eine Straftat bezieht sich aber immer auch auf menschlich zu verantwortendes Verhalten, das einen bestimmten Verletzungs­ erfolg zeitigt. Das Strafrecht schützt also nicht Rechtsgüter schlechthin, sondern speziell vor den Angriffen durch Menschen.350 Zudem wird kritisiert, dass Kriterien wie „ultima ratio der rechtlichen Instrumentarien“, „Sozialschädlichkeit“ und „fundamentale Bedeutung des Rechtsguts“ das Strafwürdige nur ungenau bestimmen können und zudem das spezifisch rechtlich zu Schützende nur ungenau von moralischen oder ethischen Werten abgrenzen können.351 bb) Straftat als spezifische Verletzung des Rechts (materiale Verbrechensbegriffe) Materiale Begriffe der Straftat oder des Verbrechens beziehen daher neben einem möglichst genau zu bestimmenden Kriterium der Strafwürdigkeit auch die Grenze rechtlicher Regelbarkeit und das menschliche Verhalten als Grund der Verletzung in die Begriffsbestimmung mit ein. Nach Michael Köhler ist das Verbrechen beispielsweise die „subjektiv-objektiv handelnde Verletzung des Rechts in seiner besonderen und allgemeingesetzlichen Geltung (‚als Recht‘) in einem Maße, das die rechtliche Selbstständigkeit der betroffenen Person oder Gemeinschaft grundlegend beeinträchtigt“.352 Ein „objektives ‚Erfolgs‘-moment“ liege dabei in der „konkret freiheitserheblichen Verletzung substantiellen Freiheitsdaseins der Person oder Gemeinschaft“, woraus sich Erfolgstatbestände wie etwa Tötung, Körperverletzung und Diebstahl begründeten.353 Zugleich verkehre der Täter in subjektiver Hinsicht in der Verletzung als Subjekt des Rechts, das das Rechtsverhältnis mitkonstituiere, das Recht zum Grundsatz des Unrechts und verletze insofern das Recht als Recht. Dabei negiere der Täter nicht nur das Recht, sondern auch anmaßend-überhebend das Opfer als selbstständiges Rechtssubjekt.354 Ernst Amadeus Wolff bestimmt das Verbrechen ähnlich als „die Verletzung Anderer in der Basis ihrer Selbstständigkeit, die in einem gegliederten, den Täter umfassenden und auch von ihm abhängigen Anerkennungsverhältnis ihr Dasein hat“ sowie 350

Vgl. auch Hans-Heinrich Jescheck / Thomas Weigend, Strafrecht AT, § 1 III, S. 8. Vgl. etwa Michael Köhler, Strafrecht AT, S.  24 f. Hinzu kommt der Einwand gegen Rechtsgutslehren generell, dass das Rechtsgut teils als eine „objektiv teleologische Vorgegebenheit“ oder als „objektiver Sozialwert“ genommen und nur unzureichend auf dessen Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen bezogen wird (vgl. ebenda, S. 24; vgl. zudem Ernst ­Amadeus Wolff, Kriminalunrecht, S. 145 ff.). Ein Vorwurf, der berechtigt ist – schon in Bezug auf die Bezeichnung Rechtsgut –, aber den im Text genannten personalen Rechtsgutslehren in der Sache insoweit nicht gemacht werden kann, als sie gerade einen Bezug zur freien und verantwortlichen Entfaltung der Bürgerinnen im Zusammenleben herstellen. 352 Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 22 (im Original hervorgehoben). 353 Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 22 f. 354 Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 22 f.; vgl. auch ders., Strafe, S. 47 ff. 351

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als „eine solche Verletzung des durch Zuordnungen konstituierten gegen­seitigen Anerkennungsverhältnisses, auf die der Einzelne sich nicht so einstellen kann, dass er sie in einem selbstorientierten Leben aus eigener Kraft zu bewältigen vermag“.355 Mit dem gegliederten bzw. durch Zuordnungen konstituierten Anerkennungsverhältnis nimmt er Bezug auf das Recht des Staates als „rechtlich konstituiertes Basisvertrauen“ oder als „Gesamtorganisation des gegenseitigen Verhältnisses von Freiheit im Bereich der äußeren Welt“, mit denen ein „Gleichheits- und Friedensverhältnis“ konstituiert wird.356 Beide Begriffsfassungen nehmen Bezug darauf, dass der Einzelne als Rechtssubjekt und das rechtliche Anerkennungsverhältnis oder Anerkennungsgeflecht Mitkonstituierender einen anderen als Rechtssubjekt fundamental verletzt, und zwar mit einem Willen, mit dem er sich über das Opfer erhebt, das eigentlich gleicher Mitkonstituent des Rechtsverhältnisses ist, worin zugleich die Negierung der allgemeinen Rechtsgeltung in diesem konkreten Fall liegt. Damit gelingt es, das Unrecht der Tat in subjektiver und objektiver Hinsicht auf Täterin- und Opferseite zu umreißen. Damit ist insbesondere die Basis für ein vernünftiges Verständnis der Strafe als Bewältigung der Straftat als Rechtsverletzung geschaffen.357 Allerdings fällt auf, dass zwar auf den Täter und das Opfer Bezug genommen wird, aber eben nur als Rechtssubjekte. Wir sind aber ganze Menschen in einer komplexen Welt, in der uns Straftaten als Täter und Opfer auch auf einer unmittelbar-persönlichen Ebene betreffen. Gerade die Reduktion auf Rechtssubjekte wird sich als vernünftig erweisen, weil sie das Verstehen der Tat als kriminelles Unrecht ermöglicht und es ermöglicht, die Bewältigungsreaktion Strafe vernünftig so zu verstehen, dass sie Täter und Opfer als selbstständigen Subjekten in einem gemeinschaftlich konstituierten Gleichheits- und Friedensverhältnis gerecht wird. Als auch „künstliche“ begriffliche Unterscheidung in einer komplexen in Ganzheiten konstituierten Welt gerät aber auch Wesentliches für die Straftatbewältigung, zum Beispiel die unmittelbar-persönliche Dimension der Tat, auf die der TOA Bezug nimmt, aus dem Blick.358 Dafür spricht, dass der TOA in diesen Konzepten nur negativ-abgrenzend aus der Perspektive strafrechtlicher Sanktionsgewalt in den Blick genommen wird. So erörtert Köhler den TOA in seinem Lehrbuch unter dem Stichwort „alternative Sanktionen“ und stellt fest, dass die „Strafrecht und Moralität vermengende Vorstellung einer ‚organisierten Aussöhnung‘ durch öffentliche Institutionen mit deutlicher Skepsis zu beurteilen [ist]“.359 Er sieht den 355

Ernst Amadeus Wolff, Kriminalunrecht, S. 211, 212. Ernst Amadeus Wolff, Kriminalunrecht, S. 210 ff.; vgl. auch, mit einer vorläufigen Definition, ders., ZStW 97 (1985), S. 786 (819). 357 Wenn diese in holistischer Betrachtungsweise auch nicht darauf reduziert werden kann, vgl. hierzu näher in diesem Kapitel 2. b) aa). 358 Dem Rechtsgutsbegriff eignet eine ähnliche Verkürzungstendenz, nämlich dann, wenn dieser auf einen ideellen Wert reduziert wird, der vom eigentlichen Tatobjekt (dem Opfer eines Tötungs- oder Körperverletzungsdelikts beispielsweise) streng zu unterscheiden sei, so etwa Ulrich Weber, Strafrecht AT, § 3 Rn.  18 (vgl. zu dieser Kritik auch Susanne Walther, Real­ konflikt, S. 215). 359 Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 668 und 670. 356

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TOA also nur unter der Folie der legitimierten rechtlichen Zwangsgewalt, nicht aber als ein Phänomen, das eine Dimension der Tat in den Blick nimmt, die von der spezifisch strafrechtlichen unterschieden werden kann und die so hinsichtlich der Tatbewältigungsform eigenständig sein könnte. Erst wenn dies gesehen wird, stellt sich zudem die Frage, ob und wie der TOA rechtlich geregelt, etwa „rechtlich umhegt“360 werden kann, ohne rechtliches Zwangsmittel der Tatreaktion zu sein. cc) Straftat als Konflikt Die Verkürzung des Straftatverständnisses auf die rechtliche Ebene der Tat wird teils als Konfliktenteignung oder Entfremdung der Konflikte von den unmittelbar Beteiligten durch die Rechtsgemeinschaft beschrieben, weil die Straftat nur noch zwischen Täter und Staat geklärt werde und das Opfer aus der eigentlichen Tat­ bewältigung in Strafprozess und -vollzug aber herausfalle.361 Dieter Rössner knüpft daran die Folge, dass die Tat in erster Linie im Wege der Wiedergutmachung unmittelbar im Verhältnis Täter-Opfer zu bewältigen sei, Schuldausgleich und präventive Einwirkungen auf den Täter seien nachrangig und nur dann notwendig, wenn die Konfliktbewältigung durch Täter und Opfer den sozialen Rechtsfrieden nicht wiederherstelle.362 Zwar versteht Rössner die Wiedergutmachung im Verhältnis zwischen Täter und Opfer als autonome Wiederherstellung des Rechts durch Täter und Opfer und so als (vorrangigen) Teil der Strafe, das Recht wird hierbei aber so weit auf das Privatrechtsverhältnis verkürzt, dass die Straftat letztlich auf einen, auch rechtlich überformten Konflikt zwischen Täter und Opfer beschränkt wird.363 Die „Enteignungsthese“ ist insofern zutreffend, als der Staat im Strafen die Bewältigung der Tat im Wege der Anwendung einseitiger Zwangsmittel aus dem unmittelbaren Verhältnis zwischen Täter und Opfer ins Rechtsverhältnis hinein löst. Das tut der Staat aber gerade als Garant für das Gleichheits- und Friedensverhältnis zwischen den Beteiligten auch nach einer Straftat, um unmittelbare Gewaltverhältnisse und Ungleichgewichte in der Konfliktlösung zwischen den Bürgern zu verhindern.364 Hiergegen ließe sich einwenden, dass der strafende Staat 360

Vgl. Winfried Hassemer / Jan Philipp Reemstma, Verbrechensopfer, S. 168 ff., insb. S. 170; hierzu näher im IV. Kapitel unter 4. d) gg) (2) und 5. b) cc) (3). 361 Vgl. nur Nils Christie, British Journal of Criminology (BritJCrim) 17 (1977), S. 1 ff.; Detlev Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S.  128 ff.; Dieter Rössner, Grundlagen AE-WGM, S. 341 ff.; ders., Wiedergutmachen, insb. S. 13 ff.; vgl. zum Verstehen der Straftat als Konflikt auch Jürgen Baumann u. a., AE-WGM, S. 22, 23; Kurt Seelmann, ZfevEth 25 (1981), S. 44 (53 f.); ders., JZ 1989, S. 670 (674). 362 Vgl. Dieter Rössner, Grundlagen AE-WGM, S. 341 ff.; vgl. auch Jürgen Baumann u. a., AE-WGM, §§ 4 ff. des AE (S. 2 f.), S. 27 ff.; Claus Roxin, Wiedergutmachung im System, S. 52; Detlev Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 133. 363 Vgl. Dieter Rössner, Grundlagen AE-WGM, S. 354 f., auch Detlev Frehsee sieht die Straftat als sozialpsychologischen Konflikt als Anknüpfungspunkt für den TOA (ders., Schadenswiedergutmachung, S. 10 f.). 364 Vgl. Kurt Seelmann, JZ 1989, 670 (674).

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solange im Hintergrund bleiben könne, wie Täter und Opfer den Konflikt unmittelbar angemessen lösen können, die Strafe wäre insofern subsidiär.365 Die Tat betrifft aber eben nicht nur Täter und Opfer, sondern über die Infragestellung des Rechtsverhältnisses die Rechtsgemeinschaft insgesamt. Die rechtliche Ebene der Tat hat so ihren vernünftigen Sinn, eine Auflösung des Tatbegriffs in einen, wenn auch rechtlich mitgeformten Konfliktbegriff würde diesen als Sinngestalt verfehlen. dd) Straftat als Konflikt und spezifische Verletzung des Rechts Es gibt deshalb Ansätze, die versuchen, den Straftatbegriff umfassender zu definieren, und zwar so, dass die rechtlich-staatlichen Aspekte und die die unmittelbare Beziehung zwischen Täterin und Opfer betreffenden Aspekte integriert werden. So kritisiert Susanne Walther, dass eine Deutung des Strafunrechts als „interpersoneller Konflikt“ ebenso verkürzend wäre, wie eine Deutung der Straftat allein als Rechtsbruch. Es gehe deshalb um ein Verständnis des Kriminal­unrechts, „das ‚ganzheitlich‘, ‚personennah‘ oder ‚menschengerecht‘, vielleicht aber am treffendsten schlicht ‚realitätsorientiert‘ genannt werden mag“ und das Kom­ ponenten des Verbrechens und des Realkonflikts umfasst.366 Entsprechend müssten der Reprobation als öffentlicher Missbilligung des Verbrechens (die Schuldfeststellung und Strafe umfasst) Maßnahmen zur Reparation korrespondieren. Reparation versteht sie dabei als die Wiedergutmachungsakte des Täters, die eine kontextgerechte, sozialkonstruktive Bewältigung der Straftat als Geschehen, das für das direkte Opfer und dessen Angehörige typischerweise traumatisierend ist, bewirken. Dies kann nach Walther unter anderem durch den TOA geschehen.367 Auch Amr Sarhan kritisiert, dass das Strafrecht traditionell vom Trennungsdogma ausgehe und so nur den vertikalen Tatkonflikt zwischen Täter und objektiv-gültigem Recht erfasse, während der horizontale Tatkonflikt zwischen Täter und Opfer als Bezugspunkt der Wiedergutmachung ins Zivilrecht ausgelagert werde. Die konfliktbasierten strafrechtlichen Wiedergutmachungstheorien würden ebenfalls zumindest unausgesprochen bei der Bestimmung der Rechtsfolgenseite im Trennungsdogma verharren, indem sie letztlich Strafe und Wiedergutmachung auf eine Weise in eins setzten, dass sie den Grundgedanken der Wiedergutmachung so an den Gedanken der von den Opferinteressen abgegrenzten Strafe anpassten, dass der Opferbezug verloren gehe. Konsistent könne das Trennungsdogma nur überwunden werden, indem das Trennungsdogma auf Voraussetzungs- und Rechts­ 365 Vgl. Dieter Rössner, Grundlagen AE-WGM, S.  343, 353; Jürgen Baumann u. a., AEWGM, S. 23 f. 366 Susanne Walther, Realkonflikt, S. 251 f., 421, vgl. auch S. 207 ff., 250 ff. Zusätzlich verbindet Walther mit ihrer Kritik eine Auflösung der Trennung zwischen Straf- und Zivilrecht bei der Regelung des Straftatkonflikts auf der Basis eines Verständnisses der Tat als „gemeinrechtlicher Realkonflikt“, der rechtlich eigenständig und einheitlich zu behandeln ist (vgl. dies., Realkonflikt, S. 218 ff.). Diese rechtssystematischen Aspekte sollen hier nicht untersucht werden. 367 Vgl. Susanne Walther, Realkonflikt, S. 289 f., 293 f.

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folgenebene in Frage gestellt werde.368 Sarhan bestimmt das deliktische Unrecht deshalb als „die Verletzung subjektiven Rechts in Gestalt einer Kränkung oder Missachtung des Opfers“, die zugleich eine „Verletzung objektiven Rechts“ sei, „als Ausdruck dafür, dass der Staat und die Gesellschaft […] die Verletzung des Opfers negativ bewerten und die Verfolgung des Täters als gerecht empfinden“.369 Der „empirisch geprägte horizontale Tatkonflikt zwischen Täter und Opfer“ und der „normativ geprägte vertikale Tatkonflikt zwischen Täter und objektiv-gültigem Recht, ideelen Werten der Gemeinschaft etc.“370 würden so nicht konkurrieren, sondern seien „gleichsam konnex-dogmatisch […] unauflösbare Bestandteile des gleichen Unrechts als zwei Seiten einer Medaille“.371 Dies läuft hinsichtlich der Rechtsfolgen auf die These hinaus, dass die Strafe von vornherein auch der Genugtuung des Opfers zu dienen habe und entsprechend auszugestalten sei.372 Bei Sarhan irritiert im ersten Zugriff die Reduzierung des horizontalen Tatkonflikts auf das Empirische, dessen Gleichsetzung mit dem subjektiven Recht des Opfers und auch die Bestimmung des objektiven Rechts mit Bezug auf das Empfinden der Rechtsgemeinschaft373. Der rationale, selbstorientiert-gestaltende Aspekt menschlicher Existenz bleibt so außen vor, er wird weder bezogen auf das Täterverhalten noch auf die Verletzung des Opfers noch auf den Begriff des Rechts einbezogen. Doch abgesehen davon leuchten die Positionen Walthers und Sarhans in ihrem Anliegen, die hier so genannte unmittelbar persönliche Ebene der Tat mit der rechtlichen in einem Begriff der kriminellen Verletzung zusammenzuführen, aus einer holistischen Perspektive ein, denn mit dieser werden unsere künstlichen deutenden Trennungen grundsätzlich auf ihre Tragfähigkeit hinterfragt. Im Folgenden soll nun im Rahmen des eben umrissenen Forschungsfelds und in kritischer Auseinandersetzung mit ihm der vernünftige Sinn des Interexisten­tials der Straftat erläutert werden. Dabei werden die skizzierten Positionen einer näheren Kritik unterzogen. Dabei wird ein Modell zum Tragen kommen, dass Kurt Seelmann für das Problem der Verbindung von abstrakt-rechtlichem Straftatbegriff und der Tat als Konflikt skizziert hat. Er beschreibt die komplexen Beziehungen zwischen Täter, Opfer und Rechtsgemeinschaft als Anerkennungsgeflecht, also als soziales Netz, über das eine Fülle unmittelbarer Anerkennungsbeziehungen miteinander verknüpft sind. Der Täter stelle auf diese Weise durch die Tat nicht nur das Verhältnis zum Opfer (und sich selbst), sondern auch die Anerkennungsbe 368

Vgl. Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, u. a. S. 153 f., 191 ff., 259 f. Vgl. Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S. 222, vgl. auch S. 225. 370 Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S.  46 f. (im Original mit Hervorhebungen), hier beschreibt Sarhan zwar nur die Konflikttheorien, er übernimmt diese Formulierungen allerdings, vgl. etwa ebenda auf S. 222, 225. 371 Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S. 222 (im Original mit Hervorhebungen). 372 Vgl. Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S. 220 ff. 373 Vgl. Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S. 221: „Die gesamtgesellschaftliche Dimension des Verbrechens – etwa die ‚Erschütterung des Rechtsfriedens‘ oder die ‚Störung der Sozialpsyche‘ – sind normative Übersetzungen als nachvollziehbare Erfassung dieses [des Opfer-] Leidens […].“ 369

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ziehungen insgesamt in Frage.374 Dieses Modell kommt der Komplexität mensch­ licher Beziehungen in ihren unmittelbaren, gemeinschaftsbezogenen und rechtlichen Aspekten näher als die Vermittlungsversuche Walthers und Sarhans, es bleibt aber skizzenhaft. Die genauere Entfaltung der Straftat als Ganzheit in ihren einzelnen Dimensionen wird sich aber am Grundgedanken des Anerkennungsgeflechts orientieren. b) Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials der Straftat als spezifisch rechtlich verbotene existentiell-missachtende Verletzung Eine Straftat ist kurz gesagt eine konkrete Verletzung eines Menschen durch einen Menschen, mit der die Verletzte existentiell missachtet wird und die als Straftat rechtlich verboten ist. Straftaten sind ganze Formen unserer Praxis, die unser zwischenmenschliches – interexistentielles – Verhältnis, und zwar sowohl auf der unmittelbar-persönlichen rechtlich überformten Ebene zwischen Täter und Opfer als „Konflikt“ als auch auf einer abstrakteren rechtlichen Ebene, über die nicht nur Täter und Opfer, sondern auch die Rechtsgemeinschaft miteinander verbunden sind, als „spezifische Verletzung des Rechts“ betreffen. aa) Straftat als singuläre Totalität Straftaten sind wie jede Sinngestalt nur als singuläre Totalität, als einzigartige komplexe Ganzheit verschiedener Aspekte375 angemessen verstanden. Auch wenn das Recht typisiert und nur den Diebstahl, die Körperverletzung oder den Mord kennt, geht es immer um Taten, die je für sich einzigartig sind. Sie wurden zu einer bestimmten Zeit unumkehrbar an einem bestimmten Ort durch bestimmte Personen begangen und haben bestimmte Personen verletzt. Auch wenn wie bei Massenvergewaltigungen viele Menschen Täter und viele Menschen Opfer sind, bekommen die Taten zwar durch ihre Vielzahl etwas Monströses, die individuelle Betroffenheit Übersteigendes, es sind aber immer auch konkrete Menschen verantwortlich und konkrete Menschen betroffen, die die Tat individuell in der einzig­ artigen Sinngestalt ihres Lebens konkret und unvertretbar erleiden. Gleiches gilt für Taten im Sinne einer übergreifenden Idee, wie etwa die Morde der RAF. Auch hier töten konkrete Täter für ihre Organisation, zur Tötung selbst kommt noch eine Dimension der Gesellschaftskritik (die abgesehen von den Mitteln ihrer Durchsetzung sinnvoll sein kann) hinzu. Entsprechend töten sie auch nicht nur einen Repräsentanten einer Idee gesellschaftlicher Ordnung sondern immer auch eine konkrete

374

Kurt Seelmann, JZ 1989, 670 (675 f.). Zur singulären Totalität vgl. im II. Kapitel unter 2. c) kk).

375

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Person, die Angehörige und Freunde hat, sie vernichten also eine einzigartige, grundlegend gleichgeordnete Existenz.376 Das Anliegen von Walther und Sarhan, nicht nur die rechtliche Dimension der Tat zu begreifen, sondern die Täter und Opfer unmittelbar betreffende „Konfliktdimension“ in den Tatbegriff mit einzubeziehen, ist aus einer holistischen Perspektive deshalb berechtigt. Das Interexistential der Straftat ist so zwar als Totalität oder Ganzheit zu begreifen, es darf aber auch nicht außer acht gelassen werden, dass innerhalb dieser Gesamtheit sinnvolle analytische Unterscheidungen getroffen werden können. Diese dürfen eben nur nicht verabsolutiert werden, und es muss immer präsent gehalten werden, in welcher Hinsicht diese Differenzierung sinnvoll ist. So wird die folgende Analyse zeigen, dass ein Reduzieren der Straftat auf einen Konflikt zwischen den unmittelbar Beteiligten, Täterin und Opfer, verabsolutierend ist, weil es die rechtliche Dimension der Straftat ausblendet. Umgekehrt wird sich aber auch zeigen, dass der materiale Verbrechensbegriff der vernunftrechtlichen Perspektiven bei Wolff und Köhler die rechtliche Dimension der Straftat, wie sie Basis für ein vernünftiges Verstehen der Strafe ist, sehr differenziert erfasst, dass sie allerdings den Tatbegriff verabsolutierend darauf reduzieren, wenn sie letztlich das Wesentliche der Straftat in der Verletzung des Rechts als Recht sehen. Es bleibt auf diese Weise nicht präsent, dass die Analyse der rechtlichen Dimension der Tat nur einen ihrer Aspekte, und zwar den im Hinblick auf die Strafe wesentlichen, erfasst. Der Straftatbegriff bleibt insofern hinsichtlich seiner Komplexität als Ganzheit unterbestimmt. Aber auch die auf die Ganzheit des Tatbegriffs ausgerichteten Positionen Walthers und Sarhans werden in der folgenden Erläuterung der Sinngestalt der Straftat daraufhin zu hinterfragen sein, ob sie der Komplexität des Straftat­ begriffs hinsichtlich der notwendigen Differenzierung der Teilaspekte der Gesamtheit „Straftat“ gerecht werden. Die folgende Analyse wird in den angedeuteten Hinsichten umfassender als die Sichtweisen der Konflikttheorien, des materialen Verbrechensbegriffs und der (immanent) holistisch ausgerichteten Positionen sein, aber auch sie wird nicht umfassend sein können, also die Ganzheit der Straftat nicht gänzlich oder absolut erfassen. Dies ist schon aufgrund der je perspektivischen Sichtweise unseres Verstehens nicht möglich, erklärt sich aber auch aus der Fragestellung dieser Untersuchung, die die Erläuterung eines philosophisch fundierten Verständnisses von Strafe und TOA in der Gegenwart unserer Gesellschaft zum Ziel hat. Denn dabei ist die Straftat im Hinblick auf Strafe und TOA zu erläutern, sind also nur die diesbezüglichen Unterscheidungen innerhalb des Interexistentials der Straftat zu entwickeln.377 Aspekte der historischen Entwicklung des Begriffs der 376 Vgl. hierzu Carolin Emcke, die die Verwobenheit der persönlichen und der politischen Dimension im Mord an Alfred Herrhausen klar analysiert, Stumme Gewalt, S. 16 f. Sehr eindrücklich zeigt zudem der Dokumentarfilm „Black Box BRD“ von Andres Veiel, Deutschland 2001, die persönlichen Ebenen des gesellschaftlichen Konflikts des „Deutschen Herbstes“ auf. 377 Vgl. zur Ganzheit unserer Praxisformen und den Unterscheidungen ihrer Aspekte in verschiedener Hinsicht im II. Kapitel unter 2. c) kk).

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Strafe und des ihm zugrunde liegenden Tatbegriffs bleiben aus der näheren Analyse auf diese Weise ebenso ausgeklammert, wie die über die einzelne Tat hinausgehenden Aspekte, wie sie etwa Taten mit politischen und unmittelbar überindividuellen Dimensionen, wie die Morde der RAF oder Massenvergewaltigungen in den kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, aufweisen. Für deren Bewältigung können sich zusätzlich zur Strafe und zu individuell-unmittelbaren Ausgleichsformen Praxisformen wie etwa Tribunale, Auseinandersetzungen mit den Tätern zu ihrer gesellschaftlichen Kritik oder die Auseinandersetzung mit Angehörigen von Mordopfern378 als vernünftig erweisen. bb) Unmittelbar-persönliche, rechtlich umhegte Ebene der Straftat im Hinblick auf den Täter-Opfer-Ausgleich Mit einer Straftat wird ein Mensch durch einen anderen Menschen unmittelbarpersönlich existentiell verletzt, und zwar so, dass die Täterin das Opfer missachtet. Diese unmittelbar-persönliche Ebene kann als Konfliktebene bezeichnet werden, was nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass auch sie rechtlich überformt ist. (1) Missachtende Verletzung durch einen Menschen (a) Als Ausdruck der selbstständigen Weltgestaltung durch den Täter Verletzungen eines Menschen können auch anders als durch menschliches Verhalten verursacht werden. So können aufgrund einer Naturkatastrophe, etwa eines Hochwassers, Tote und Verletzte zu beklagen sein, Hab und Gut verloren gehen. Wesentlicher Aspekt einer Straftat ist demgegenüber immer, dass die Verletzung durch das zu verantwortende Verhalten einer anderen, die damit das zwischenmenschliche Verhältnis gestaltet, hervorgerufen wurde. Die Straftat ist so eine Missachtung oder Nichtachtung eines Menschen, die nur als selbstständige Gestaltung der gemeinsamen Welt durch die Täterin verstanden werden kann. Die Entscheidung für die Verletzung rührt von der Täterin selbst her, sie ist ein Selbstent 378

Beispielhaft für die gesellschaftliche unmittelbar-zwischenmenschliche Bewältigung der RAF-Taten steht hier die Tagung „Terrorismus – Bestrafung – Versöhnung. Wie gehen wir in Deutschland mit Terroristen um?“ vom 19. bis 21. Februar 1999 in Bad Boll, dokumentiert von Gemeinschaftswerk der Ev. Publizistik e. V. (Hrsg.), Wie gehen wir in Deutschland mit Terroristen um?, epd-Dokumentation Nr. 32/99, Bad Boll 1999. Dort finden sich auch Berichte über den Umgang mit dem ehemaligen RAF-Mitglied Silke Maier-Witt nach der Entlassung aus der Haft im Berufsleben (S. 5 ff.) und über die Gespräche von Karl Christian von Braunmühl, Bruder des am 10. Oktober 1986 von der RAF ermordeten Gerold von Braunmühl, mit der inhaftierten Birgit Hogefeld (S. 53 ff.).

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wurf der Verletzerin, für den sie verantwortlich ist. Es ist die Täterin, die die Welt und das Leben der von der Tat Betroffenen als eigentlich Gleichgeordneten eigenmächtig gestaltet. Der Grundzug unserer Existenz als Selbstständige wird hier sichtbar.379 In der Strafrechtsdogmatik nehmen darauf die Interexistentiale der objektiven Zurechnung, des Vorsatzes und der Schuld als Voraussetzungen der Strafbarkeit Bezug. Die Verantwortung für unser Verhalten lässt sich in Bezug auf die Straftat näher als vorwerfbares Verhalten in Bezug auf die Verletzung ausformen. Die Verletzung kann genauer nur als Verletzung des Täters betrachtet werden, wenn er sich der verletzenden Folgen seines Verhaltens bewusst war, sie vielleicht sogar beabsichtigt hat oder sich der Folgen seines Handelns zumindest hätte bewusst sein müssen. Hierauf nehmen strafrechtsdogmatisch die Interexistentiale des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit als Strafbarkeitsvoraussetzungen Bezug. In den vorangestellten Beispielen gehen wir entsprechend nur von einer Verantwortung des Täters aus, wenn er sich bewusst war, dass er seine Frau verletzt, tötet oder töten könnte, wenn er sich bewusst war, dass die Wohnung nicht seine eigene und auch das Notebook ein fremdes ist, oder wenn die Eltern des vernachlässigten Kindes wussten, dass sie dessen Eltern sind und als solche für ihr Kind verantwortlich sind. Vorwerfbar ist dieses Verhalten aber nur dann, wenn sich die Täterin der Falschheit ihres Verhaltens bewusst war oder hätte bewusst sein können. Die Verantwortung basiert also auch darauf, dass wir das Falsche unseres Tuns einsehen und unser Verhalten dementsprechend einsehen können. Das können wir grundsätzlich auch alle, denn das Entscheiden nach Rationalitätskriterien ist, wie oben aufgezeigt, alltäg­ liche Praxis, in der die Grundzüge der gemeinsamen Welt als Kriterien der Vernunft neben pragmatisch-rationalen Aspekten ganz selbstverständlich einbezogen sind, und zwar auch dann, wenn wir die Normhaltung nicht fördernden sozialen Einflüssen ausgesetzt waren und sind. Denn gerade bei existentiellen Verletzungen ist unser Alltagsbewusstsein so von den grundlegenden Verletzungsverboten geprägt, dass eine Entscheidung für die Verletzung grundsätzlich vorwerfbar ist, wenn der Täter selbst­orientiert und einsichtsfähig war und sich nicht in einer erschwerenden Motivationslage befunden hat. Das Vorwerfbare lässt sich genauer als Handeln aufgrund einer Entscheidung gegen das Recht trotz der generellen Einsicht in das Rechtgemäße fassen, für das wir als Selbstständige verantwortlich sind.380 Köhler spricht auch von dem Bösen oder dem bösen Willen.381 Strafrechtsdogmatisch wird auf das insofern Vorwerfbare mit dem Interexistential der Schuld als Strafbarkeitsvoraussetzung Bezug genommen.

379 Zur Selbstständigkeit als Grundzug unserer Welt ausführlich im II. Kapitel unter 2. c) ii), insb. (3). 380 Vgl. im II. Kapitel unter 2. c) ii) (2); vgl. insgesamt zu einer sehr differenzierten und detaillreichen Erläuterung des Begriffs der Schuld Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 348 ff.; vgl. zu einer kritischen Analyse seiner Position im IV. Kapitel unter 3. b) ee) (2). 381 Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 26 ff.

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Gerade bei monströsen Taten wird schnell von dem Bösen gesprochen – etwa bei Massenvergewaltigungen von Frauen und Kindern im Bürgerkrieg im Kongo382 und bei den kriegerischen Auseinandersetzungen, die zum Zerfall Jugoslawiens führten383 oder bei der Erschießung ukrainischer Juden durch Deutsche zur Zeit des Holocausts, die teils lebendig begraben wurden, weil für jedes Opfer nur eine Kugel verwendet wurde, so dass sich die Erde über den Massengräbern teils noch drei Tage nach den Erschießungen bewegte.384 Sicher kann von dem Bösen gesprochen werden, wenn damit gemeint ist, dass es menschliche Verhaltensweisen gibt, die moralisch keinen Geltungswert haben. Überdeckt werden darf dabei aber nicht, dass es konkrete, verantwortlich handelnde Menschen sind, die anderen Menschen so etwas antun, Menschen, die ihr Verhalten reflektieren und es unterlassen könnten. Als menschliches Verhalten ist es im zwischenmenschlichen Verhältnis auch bedeutungsgetragen und stellt gerade bei schwersten Verletzungen eine grundlegende Missachtung der anderen in ihrer gleichbedeutsamen Existenz dar, es ist menschenverachtend.385 (b) Als Gestaltung des wechselseitigen Verhältnisses als Missachtung Verantwortlich für eine Verletzung zu sein bedeutet nicht nur, dass wir uns dessen bewusst sind, eine andere in ihrer leiblichen Integrität oder in ihr zugeordneten Bereichen der gemeinsamen Welt zu treffen. Bei einer Körperverletzung etwa erschöpft sich unsere Verantwortung nicht darin, dass wir in die körperliche Substanz eines anderen so eingreifen würden, wie wir die körperliche Substanz irgendeines Gegenstandes beschädigen würden. Denn wir reflektieren grundsätzlich gleichzeitig auf die Gleichordnung in unserer Existenz, uns ist in einem einfachen Sinne bewusst, dass wir „genauso viel wert“ sind wie die anderen und umgekehrt. Wenn die Verletzerin den anderen in diesem – mehr oder weniger aktuellen – Be 382

Sehr empfehlenswert hierzu der Dokumentarfilm „Im Schatten des Bösen“ von Susanne Babila, Deutschland 2007, der sehr eindrücklich die Leidensgeschichten und Traumata der betroffenen Frauen und die Ohnmacht der Hilfsorganisationen in einem menschenverachtenden Krieg dokumentiert. 383 Vgl. hierzu etwa den Bericht von Erich Rathfelder über Bakira Hasećić, die mit ihren minderjährigen Töchtern von Freischärlern während des Jugoslawienkriegs monatelang festgehalten und vergewaltigt wurde („Das Monster ist gefangen“, tageszeitung vom 25. Juli 2008), und den Spielfilm „Das geheime Leben der Worte“ von Isabelle Coixet, Spanien 2005. 384 Vgl. hierzu taz-Interview von Jan Sternberg mit Patrick Desbois, veröffentlicht am 24. Februar 2009, S. 13. Der französische katholische Priester Patrick Desbois reist regelmäßig in die Ukraine und sucht und befragt dort Augenzeugen der Ermordung der ukrainischen Juden, die teils selbst bei der Ermordung und dem Verscharren mithelfen mussten, wie die Frauen, die mit nackten Füßen auf den Leichen im Massengrab herumtrampeln mussten, damit mehr hineinpassten (ebenda). Ausführlich dokumentiert sind seine Befragungen in Patrick Desbois, Der vergessene Holocaust. Die Ermordung der ukrainischen Juden, Berlin 2009. 385 Vgl. auch Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 361 f.

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wusstsein dennoch verletzt, achtet sie ihn gerade nicht als gleichgeordnete Existenz, sie erhebt sich über ihn. Die Missachtung des Anderen als eigentlich grundlegend gleichgeordnete Existenz ist wesentliches Merkmal der Straftat.386 Teils wird allgemein auf die Sozialschädlichkeit des Verhaltens abgestellt, wie Günther Jakobs es tut.387 Lediglich auf die Sozialschädlichkeit des Verhaltens abzustellen ist allerdings nicht tragfähig, denn als sozialschädlich kann ein Verhalten immer bezeichnet werden, wenn Verletzungen in interexistentiellen Verhältnissen geschehen. Jakobs ist auch im Irrtum, wenn er andeutet, dass gesellschaftlicher Konsens beliebig zwischen sozialen Verletzungen und privaten Verletzungen differenzieren kann, wie sich an seiner Erläuterung des Beispiels der Straflosigkeit der Vergewaltigung in der Ehe zeigt: Ob die Vergewaltigung in der Ehe als Vergewaltigung strafbar sei, hänge davon ab, ob die Ehe als umfassender Privatbereich oder der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung auch dort als öffentliche Aufgabe verstanden wird.388 Im Rückgang auf die Grundzüge unserer Existenz und die Funktion des Rechts, selbstbestimmtes Dasein in der Interexistenz zu sichern, besteht aber kein Zweifel daran, dass es Aufgabe des Rechts ist, die sexuelle Selbstbestimmung im Miteinander zu schützen, egal ob sie in privaten oder öffentlichen Bereichen389 relevant wird. Gesellschaftlicher Konsens ist im Hinblick auf die Rationalitätskriterien zur Beurteilung unserer Welt und ihrer menschlich-praktischen Ausformungen nicht beliebig hinnehmbar, wenn auch die Beurteilung der Interexistentiale und ihrer Ausformungen immer auch vom faktisch Praktizierten beeinflusst ist.390 Wie bereits erläutert,391 sind wir auch als Selbstständige von der Achtung anderer in einem immerwährenden Prozess in verschiedenem Maße abhängig: In der Kindheit und Jugend sind wir in besonderem Maße darauf angewiesen, dass andere uns in unsere Selbstständigkeit hineinwachsen lassen und das Wachsen zu uns selbst teilnehmend unterstützen. Doch auch als Erwachsene haben wir einen wechselseitigen Zugriff auf unsere Selbstständigkeit und -entfaltung und bleiben 386

Vgl. Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (819); ders., Kriminalunrecht, S. 212; Rainer Zaczyk, Fichte, S. 103; vgl. auch Bettina Noltenius GA 2007, S. 518 (524 f.); Michael Köhler, Strafe, S. 47. 387 So Günther Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschnitt Rn. 25. 388 Günther Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschnitt Rn. 25. 389 Hier deutet sich an, dass die Abgrenzung des Privaten vom Öffentlichen durchaus fragwürdig ist. Im Schutz grundlegender Rechtsgüter wie der sexuellen Selbstbestimmung, der gewalt- und missbrauchsfreien Entwicklung der Persönlichkeit in der Familie und der Integrität von Leib und Leben kennt das Recht vernünftigerweise keine staatsfreien privaten Räume. Das stellt nicht in Frage, dass es persönliche Räume zur Persönlichkeitsentfaltung geben muss, in die der Staat auf bestimmte Weisen nicht eingreifen darf. Die Grenzlinie kann aber nicht anhand der traditionellen Trennung zwischen häuslich-privater und öffentlicher gesellschaftlich-staatlicher Sphäre gezogenen werden; vgl. hierzu Anja Schmidt, Grundannahmen, Rn. 15 ff. 390 Vgl. zu den Grundzügen als Rationalitätskriterien, die wir in der Teilnehmerperspektive gemeinsam, kulturell und geschichtlich situiert und interessegeleitet herausarbeiten im I. Kapitel unter 3. b) cc), und im II. Kapitel unter 2. b) bb) und cc). 391 Vgl. zur wechselseitigen Abhängigkeit als Selbstständige im II. Kapitel unter 2. c) jj).

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auf die grundlegende Achtung unserer selbst als Gleiche in der Selbstständigkeit, Einzigartigkeit und Ganzheit angewiesen. Bei einer Straftat wird diese wechselseitige Abhängigkeit vor allem darin deutlich, dass wir darauf angewiesen sind, dass andere  – die ihnen möglichen  – Übergriffe in unsere Existenz unterlassen (in der Strafrechtsdogmatik: Handlungsverbote einhalten) und uns die existentiell notwendige Unterstützung, die sie uns zu gewähren haben, zukommen lassen (in der Strafrechtsdogmatik: Handlungsgebote erfüllen). Ein Übergriff liegt etwa in den Beispielen (1) und (2) vor, genauer in dem Herabwürdigen der Ehefrau zur Sklavin und dem Schlagen und Töten der Ehefrau bzw. dem Stehlen des Notebooks. Im Beispiel (3) haben die Eltern durch extreme körperliche und seelische Vernachlässigung des Kindes notwendige Maßnahmen unterlassen, so dass das Kind in seinen Möglichkeiten, sich selbst zu entfalten und zur Selbstständigkeit hin zu entwickeln, extrem beschränkt wird. Diese Übergriffe bzw. das Unterlassen notwendiger Unterstützung betreffen die Verletzten nicht nur in ihrer Dimension des Körpers und ihrer Gefühle, sie werden auch in ihrer Existenz als in der Selbstorientierung Gleiche bzw. in ihrer Fähigkeit, sich zu in der Selbstorientierung Gleichen zu entwickeln, missachtet. Die Verletzten werden durch die Verletzenden herabgewürdigt, zum Objekt ihrer Zwecke gemacht und gerade nicht mehr als grundsätzlich in der Selbstorientierung Gleiche, also als Subjekte oder Zweck an sich selbst geachtet, sondern missachtet (im Falle von Übergriffen) bzw. nicht geachtet (im Falle von Unterlassungen). Das Opfer einer Straftat wird also durch diese Überordnung oder Nichtachtung durch den Täter herabgewürdigt und so in seiner Existenz als Selbstständiges bzw. zur Selbstständigkeit hin sich Entwickelndes verletzt. Das Verhältnis wechselseitiger Gleichordnung wird durch den Täter in ein Verhältnis der Über-Unterordnung oder Nichtachtung gewandelt, sein verletzendes Verhalten ist insofern sinngetragen. Köhler beschreibt dies treffend, als Anmaßung: „Der eine wird zum Objekt (Mittel) der Zwecksetzung des anderen herabgesetzt, der sich darin eine ungleich-privilegierte Freiheitssphäre, Überpersonalität anmaßt.“392 Das Verhalten der Täterin ist also auch insofern sinngetragen: Durch verletzendes Verhalten im Bewusstsein der Verletzung oder der Gefahr der Verletzung wird die andere in ihrer Integrität in ihren verschiedenen Dimensionen missachtet. Mit Rentsch lässt sich auch von Gewalt im Sinne illegitimer Herrschaft393 sprechen. Mit Blick auf die Täterin tritt diese Verletzung so noch einmal deutlicher als von ihr zu verantwortende gewaltsame Gestaltung des Verhältnisses zum Opfer der Tat hervor.

392

Michael Köhler, Strafe, S. 47. Allerdings beschränkt er die Anmaßung auf die Ebene der Rechtssubjektivität, was bei der Erörterung dieser Verletzungsdimension als die unmittelbarpersönliche Ebene betreffend näher zu untersuchen ist, in diesem Kapitel unter 2. b) bb) (2) (a). 393 Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 176; vgl. hierzu im II. Kapitel unter 2. c) mm) (1).

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(c) Als Gestaltung des eigenen Lebens Mit der Missachtung der Verletzten gestaltet der Verletzende nicht nur das konkrete zwischenmenschliche Verhältnis, sondern auch unumkehrbar sein eigenes Leben. Jeder Einzelne ist in der Einheit seines ganzen Lebens für seine Entscheidungen verantwortlich, insofern sich einzelne Lebensabschnitte nicht als eigentlich nicht zu diesem Leben gehörend interpretieren lassen, jede einzelne Entscheidung formt die Ganzheit des Lebens mit.394 Die Bewältigung der Tat als Bewältigung der eigenen falschen Entscheidung oder der eigenen Schuld hat so auch eigenständige Bedeutung. (2) Existentielle Verletzung eines Menschen Eine Verletzung ist konkreter Ausdruck unserer Fragilität und kann als mehr oder weniger große Beeinträchtigung unserer Existenz und unserer existenziellen Integrität oder deren totale Vernichtung beschrieben werden. Verletzt werden können wir also in dem, was unsere jeweilige Existenz ausmacht: in unserer leib­ lichen, naturalen Getragenheit, in unserem existentiellen Dasein und Entwicklungspotential als praktische Sinngestalt mit Erfüllungsrichtung (Selbstständigkeit) und in den uns interexistentiell zugeordneten Bereichen der gemeinsamen Wirklichkeit, die wir für unsere gemeinsame Entfaltung benötigen. An den vorangestellten Beispielen fällt sofort ins Auge, dass eine Straftat als Verletzung häufig eher Gegenständliches im Sinne von Fassbarem betrifft, wie Sachen (das Notebook) oder den Leib als Körper. Auf einer unmittelbaren, jedenfalls nicht in erster Linie über das Recht vermittelten Ebene ist eine Straftat aber immer auch eine Missachtung des Opfers, die unter anderem über „das Fassbare“ vermittelt wird. Die Beeinträchtigung der Sache oder des Körpers bleibt dabei von gewisser Eigen­ ständigkeit (wie sich etwa im Begriff des Schadens, der sich vor allem auf die Wiederherstellung der „fassbaren“ Aspekte bezieht, zeigt), als Verletzung im Sinne einer Straftat, ist sie aber nur zu verstehen, wenn sie auch eine Missachtung des Opfers als gleichgeordnete Person durch einen Menschen ist. Hier soll nun die Verletzung auf der unmittelbaren Verletzungsebene aus der Perspektive des Opfers in den Blick genommen werden. (a) Missachtung des Opfers als in der Selbstorientierung Gleiches Wie bereits herausgearbeitet wurde, ist wesentlicher Aspekt der Straftat als Verletzung auf einer unmittelbaren Ebene die Missachtung (oder Nichtachtung) des Opfers durch die Täterin in seinem Aspekt der Existenz als in der Selbstständigkeit 394

Vgl. Thomas Rentsch, Konstitution, S. 137 f.

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Gleiches, als praktischer, auf Erfüllung gerichteter Selbstentwurf. Genauer maßt sich der Täter eine Überpersönlichkeit gegenüber dem Opfer an, indem er eigenmächtig über dessen Existenz verfügt, obwohl das Opfer ihm in der Existenz als Selbstständiges oder zur Selbstständigkeit Fähiges grundsätzlich gleichgeordnet ist.395 Dieses Über-Unterordnungsverhältnis gestaltet die persönliche Beziehung zwischen Täterin und Opfer unmittelbar. Carolin Emcke beschreibt diesen Zustand treffend mit dem Begriff der stummen Gewalt: Das Herabwürdigen zum Objekt bedeutet gerade auch, den anderen nicht mehr in der Sphäre der gewaltfreien Kommunikation einzuordnen, also den kommunikativen Kontakt zu ihm in einem Gewaltakt oder durch das Unterlassen notwendiger Unterstützung, also durch Ignoranz, abzubrechen. Das Opfer wird quasi in ein „kommunikatives Vakuum“ durch den Täter gestoßen, was Emcke in dem der Arbeit vorangestellten Zitat als „Stille, in der Fragen verhallen ohne Echo“, ausdrückt und an anderer Stelle als einen ganz eigenen Raum von Schweigen, in den Täter und Opfer zugleich eingeschlossen werden und in dem sich die Stille wie eine Eisschicht verfestigt, beschreibt.396 Hier deutet sich an, warum auf der unmittelbar Täter und Opfer betreffenden Ebene der TOA als kommunikativer Prozess, in dem Täter und Opfer miteinander ins Gespräch kommen, für die Tatbewältigung als Wiederherstellung eines Verhältnisses wechselseitiger Achtung so wichtig ist.397 Diese unmittelbar-persönliche Ebene der Verletzung als Missachtung des Opfers durch den Täter ist rechtlich umhegt oder überformt, ohne rechtlich gänzlich erfassbar zu sein. Zum Beispiel ist die Pflicht der Eltern, für ihr Kind in seiner körperlich-geistig-seelischen Entwicklung zu sorgen, die in Beispiel (3) in gröbster Weise verletzt wird, in unserem Bewusstsein ganz selbstverständlich verankert. Dieses Bewusstsein wird aber auch durch Regelungen wie Art. 6 II GG, wonach Erziehung und Pflege der Kinder nicht nur Recht, sondern auch den Eltern zuvörderst obliegende Pflicht sind, durch §§ 1626 ff. BGB, die auf einfachrechtlicher Ebene Sorgerecht und -pflicht der Eltern konkretisieren, und durch § 225 StGB, der die Misshandlung von Schutzbefohlenen verbietet, rechtlich überformt. Das Recht gestaltet dabei die unmittelbar-persönliche Beziehung zwischen Eltern und Kindern mit. Wie § 225 StGB zeigt, lässt sich so nicht nur für privatrechtliche, sondern auch für strafrechtliche Regelungen sagen, dass sie das unmittelbar-persönliche Verhältnis zwischen Täter und Opfer mit gestalten. Das Strafrecht hat ja gerade den Bereich unmittelbarer Einwirkungsmöglichkeiten der Bürger auf andere zum Gegenstand,398 indem es bestimmte Handlungen bei Strafe ver- oder gebietet. Das bedeutet, dass sich Täter und Opfer, auch wenn sie sich unmittelbar persönlich gegenüber stehen, immer auch Rechtssubjekte sind. Köhler hat insofern recht, 395

Vgl. in diesem Kapitel bereits oben 2. b) bb) (1) (b); vgl. zur Selbstständigkeit und wechselseitigen Abhängigkeit in der Interexistenz im II. Kapitel unter 2. c) ii) und jj). 396 Carolin Emcke, Stumme Gewalt, S. 26 und S. 49. 397 Näher unter IV. Kapitel unter 4. d), insb. ee) (2). 398 Vgl. Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (818).

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wenn er schreibt, dass sich die Anmaßung „zunächst auf das unmittelbar interpersonale Rechtsverhältnis, das gleichsam vorstaatliche Privatrechtsverhältnis“ beziehen lässt und dass in ihr „wesentlich“ „die autonome Rechtssubjektivität des anderen“ negiert wird.399 Allerdings kann in einer holistischen Perspektive bezogen auf die unmittelbar-persönliche Ebene der Straftat nicht zwischen einem „gleichsam vorstaatlichen Privatrechtsverhältnis“ und einem staatlichen oder öffentlichen Rechtsverhältnis unterschieden werden, da das unmittelbar-persönliche Verhältnis von all diesen Aspekten geprägt ist. Zudem entsteht bei Köhler der Eindruck, dass Täter und Opfer als Personen ganz in der Rechtssubjektivität aufgehen, oder aber, dass beide so auf ihre Rechtssubjektivität reduziert werden, dass sie in unmittelbaren Aspekten ihrer Persönlichkeit, also als unmittelbar gleich zu achtende Person, die zum Beispiel auch leiblich in ihren Gefühlen betroffen sein kann, nicht mehr im Begriff der Straftat präsent sind. Letzteres wäre falsch: Wir lassen uns als einzigartige leiblich basierte Ganzheit nicht auf bestimmte Aspekte unserer selbst reduzieren, auch nicht in Bezug auf das vernünftige Verstehen einer Straftat, die als existentielle Verletzung auch unmittelbar missachtend wirkt und zudem große emotionale Betroffenheit auslöst. Doch auch Ersteres trifft nur eingeschränkt zu, da das Recht als gerechtes oder vernünftiges Recht uns Bereiche zur freien Entfaltung, also auch zu unmittelbaren Einwirkungen aufeinander, überlassen muss. Recht hat dann zwar die Funktion, Freiräume zu schaffen. Diese sollen aber gerade unmittelbar-persönliches authentisches, rechtlich nicht erzwingbares Verhalten mit ermöglichen. Es lässt sich also festhalten, dass sich die Missachtung des Opfers durch den Täter nicht in der Missachtung als Rechtssubjekt in einem engen Sinne erschöpft, sondern dass das Opfer immer auch unmittelbar in seiner Integrität als selbstständiger, gleich zu achtender Mensch betroffen ist. Der Aspekt der umhegenden Überformung der Lebensverhältnisse durch Recht soll am Ende des Abschnitts zu den unmittelbar-persönlichen Verletzungsebenen noch einmal für sich genommen aufgegriffen werden. Zuvor sind noch zwei weitere Dimensionen der Verletzbarkeit auf der unmittelbaren Verletzungsebene, auf denen das Opfer neben der Betroffenheit als selbstzweckhafte Sinngestalt als solche verletzt sein kann, zu erörtern: Zumeist400 betrifft die Straftat auch „fassbare“ Aspekte der gemeinsamen Welt, wie den Leib, als Basis unserer Existenz, in dem 399

Michael Köhler, Strafe, S. 47. Hier soll nicht näher untersucht werden, ob auch die Verletzung dieser Ebene allein, etwa bei einer Beleidigung, ausreicht. Damit wird die Frage berührt, was Regelungsbereich des Rechts sein kann, genauer ob es sich auf die Abgrenzung äußerer Willkürbereiche beschränken sollte, wie in der Rechtsphilosophie traditionell angenommen wird. Diese Frage in einer holistischen Perspektive umfassend zu erörtern ist ein eigener Untersuchungsgegenstand, der an dieser Stelle anschließt. Er muss hier aber nicht zwingend untersucht werden, da es hier auf eine differenzierte Analyse der Tatebenen im Hinblick auf Strafe und TOA als Formen der Bewältigung der Tat ankommt. Einzelaspekte des Problemkomplexes des vernünftig rechtlich Regelbaren wurden im II. Kapitel unter 2. c) mm) (2) (b) und d) cc) und werden konkret für Strafe und TOA im IV. Kapitel unter 3. c) bb) (1) und (5); 4. d) gg) und 5. b) cc) (3) zu erörtern sein. 400

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sich Entzogenheit und Gemeinsamkeit vermitteln, und auch Gegenstände und andere Sinngestalten der gemeinsamen Welt (wie das Vermögen), die wir uns wechselseitig zuordnen: (b) Leiblichkeit Der Leib macht unser Dasein wesentlich mit aus, ohne ihn können wir nicht sein.401 Deshalb ist eine Verletzung unseres Leibes eine Verletzung unserer selbst. Wir wissen auch, dass und wie diese Basis angreifbar ist, wie die Beispiele (1), das Verprügeln und die Tötung der Ehefrau, und (3), das auch körperliche Vernachlässigen des Kindes, belegen: Der Leib kann zunächst durch die Tötung und die Verletzung des Körpers einer anderen Person verletzt werden. Beides kann entweder durch einen unmittelbaren Eingriff, wie das brutale Verprügeln, oder durch das Vernachlässigen grundlegender körperlicher Bedürfnisse, für deren Erfüllung eine Person, wie Eltern gegenüber ihren Kindern, verantwortlich ist, geschehen. Die Verletzung oder Straftat als Interexistential, also als eine Bedeutung vermittelnde und ganze Gestalt, wird hier darin deutlich, dass es auch Eingriffe in die körperliche Integrität gibt, die wir nicht als Verletzungen betrachten, etwa eine medizinische Operation zur Heilung einer Krankheit, in die die Patientin eingewilligt hat. Hier passiert zwar äußerlich hinsichtlich des Eingriffs in die leibliche Substanz das Gleiche wie bei einem Messerstich zur Verletzung eines anderen Menschen, allerdings ist das Verhalten von einem anderen Sinn umfasst, so dass es für uns in seiner Ganzheit grundsätzlich keine Verletzung, sondern ein Heileingriff ist.402 Für eine Verletzung ist also nicht nur der Übergriff in die Integrität einer anderen Existenz entscheidend, sondern auch von welchem Sinn sie getragen wird, wobei dieser Sinn von den konkreten Umständen (der Situation, dem Kontext)403 mitgetragen wird. Der spezifische Sinn von Verletzungen kann vorläufig als Beeinträchtigung der leiblichen Existenz beschrieben werden, während der Heileingriff letztlich deren Erhaltung dient. Es deutet sich an, dass eine Verletzung nur als komplexe Sinn­einheit, die mehrere Züge unserer Wirklichkeit gleichursprünglich durch unsere Sinndeutungen als Interexistential in sich vereint, verständlich wird.

401

Zum Leib als Basis der Existenz vgl. im II.  Kapitel unter 2. c) ff). Bei der ärztlichen Behandlung, in die der Patient eingewilligt hat und die lege artis durchgeführt wurde, ist das im Ergebnis Konsens. Streitig ist hier, ob der Unrechtsausschluss auf der fehlenden Tatbestandsmäßigkeit oder der rechtfertigenden Einwilligung beruht. Streitig ist darüber hinaus, wie sich die fehlende Einwilligung auf die Strafbarkeit der Ärztin auswirkt, auch wenn der Eingriff lege artis ausgeführt wurde (vgl. zum Ganzen m. w. N. nur Volker Krey / Uwe Hellmann / Manfred Heinrich, Strafrecht BT 1, Rn.  206 ff.; Hans Lilie, Leipziger Kommentar zum StGB, vor § 223 Rn. 3 ff.); vgl. zum Beispiel ärztlicher Heilung auch Thomas Rentsch, Konstitution, S. 113. 403 Vgl. zur Situationalität, zur Sinngetragenheit und zur Ganzheitlichkeit der Strukturen der Praxis im II. Kapitel unter 2. c), aa), ii) und kk). 402

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In einer holistischen Perspektive auf den Straftatbegriff kommt unser Leib nicht nur als Körper, also als „fassbar“ Verletzbares, in den Blick, auch unsere seelische Integrität kann vom Tatbegriff wie bei den Konfliktbegriffen erfasst werden: In unserer leiblichen Existenz können wir nicht nur total negiert oder körperlich verletzt werden, sondern auch in unserer psychischen Integrität, also in unseren Gefühlen und im selbstwerthaften Empfinden unserer selbst, getroffen werden. In dieser Hinsicht legen die Beispiele (1), Verprügeln und Tötung der Ehefrau, und (3), Vernachlässigen des Kindes, nahe, dass das Kind eine emotionale Stabilität oder ein emotional basiertes Selbstwertgefühl gar nicht entwickeln kann und dass die Ehefrau aufgrund der jahrzehntelangen Misshandlungen nicht nur körperliche Verletzungen, sondern auch extreme psychische Traumata erlitten hat. Ein Diebstahl wie in Beispiel (2) kann ein generelles Gefühl der Angst und des Bedrohtseins auch in privaten Rückzugsräumen auslösen. Zur gefühlsmäßigen Verletztheit kann auch die Betroffenheit und Erschütterung nach schweren Straftaten gegenüber einem selbst oder gegenüber nahe stehenden Menschen gefasst werden, wie es in den dieser Arbeit vorangestellten Gedanken von Emcke deutlich wird, deren Patenonkel und Freund Alfred Herrhausen von Mitgliedern der RAF im Namen der RAF im November 1989 ermordet wurde: „Kaum jemand, der nicht Opfer dieser stummen Gewalt geworden ist, kann verstehen, was das heißt: […]“.404 In dem Begriff der stummen Gewalt, der sie ausgesetzt ist, ohne dass die Täter unmittelbar ihr gegenüber Gewalt angewendet haben, kommt eine große emotionale Betroffenheit zum Ausdruck, die sich auch darin zeigt, wie der Mord und die innere Auseinandersetzung mit den Tätern Emcke bis in ihre Träume verfolgt, in denen sie mit den Tätern das Für und Wider der Tat erörtert und versucht, sie von der Falschheit ihres Tuns zu überzeugen.405 Es geht aber nicht um die emotionale Erschütterung allein, wie die Auseinandersetzungen Emckes mit der Tat in ihren Träumen, die rationale Tiefe ihrer Überlegungen überhaupt und der Wunsch nach einer Rechtfertigung, die zumindest „in der Logik des Gegenübers sinnhaft wäre“406, zeigen. Der Begriff der „stummen Gewalt“ verweist damit sowohl auf die psychische Ebene wie auf die Verletzung des Achtungsanspruches, der nun näher erörtert wird. Dabei ist das Gefühl des Herabgesetztseins eng mit dem Versagen von Achtung verbunden, dieses ist aber als eigenständiges Interexistential von den Interexistentialen der emotionalen Ebene unterscheidbar. Während wir das Gefühl sinnge 404

Carolin Emcke, Stumme Gewalt, S. 26. Vgl. Carolin Emcke, Stumme Gewalt, S. 24 ff. 406 Carolin Emcke, Stumme Gewalt, S. 26 (Hervorhebung von mir). Aus der Einheitlichkeit des Verletzungsgeschehens, dem Verwobensein der individuellen und gemeinschaftlichen Ebenen in ihren verschiedenen Ausformungen resultiert auch, dass sich die persönliche und die gesellschaftlich-rechtliche Dimension einer Straftat nur begrenzt trennen lassen. Mir leuchtet deshalb ohne Weiteres ein, dass Emcke in ihrer persönlichen Betroffenheit neben dem Persönlichen über das Politische (und Individuelle) der RAF-Morde und ihre Bewältigung schreibt, auch wenn sie selbst darüber sehr im Zweifel war (vgl. dies., Stumme Gewalt, S. 17 ff.): Eine klare, absolute Trennung dieser Ebenen gibt es nicht, auch nicht für nicht unmittelbar persönlich Betroffene. 405

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III. Kap.: Straftat

tragen als Gefühl verstehen, das wir als solches vorfinden und für das wir einen Auslöser benennen können, ist die Herabwürdigung als ein eine Bedeutung zuweisender Akt unmittelbar eine sinnhafte Gestaltung des wechselseitigen Verhältnisses durch einen Selbstorientierten, mit der anderen in der Verletzung eine untergeordnete Bedeutung zugewiesen wird. Verdeutlicht werden kann auch das am Mord an Herrhausen, durch den die RAF ihm das Recht zu leben abgesprochen und sich zum Vollstrecker dieses Urteils gemacht hat. Der Mord nahm nicht nur Herrhausen das Leben und rief dadurch eine emotionale Betroffenheit bei dessen Angehörigen und Freunden hervor. Das mit ihm verbundene Absprechen des Lebensrechtes ist eine sinnhafte Dimension der Tat, die Behauptung eines vernünftigen Sinnentwurfs bezüglich der Lebensgestaltung (oder der Selbstentwürfe) von Herrhausen, die die gemeinsame Wirklichkeit ebenso gestaltet wie die Tötung selbst. Es geht also nicht nur darum, emotional getroffen zu sein, sondern auch in unserer einzigartigen Weltgestalt der selbstständigen und zur Selbstständigkeit fähigen Existenz verletzt zu werden. Wie sich am Beispiel des Mordes zeigt, erstreckt sich diese Verletzlichkeit auch nicht nur auf das unmittelbare Opfer einer Tat. Sie kann alle, die von ihr wissen, emotional wie auch hinsichtlich des gemeinsamen Weltverständnisses erschüttern, denn wir sind in der Interexistenz über unser gemeinsames Wissen, über uns als je gleiche Möglichkeit zum Selbstentwurf verknüpft. Eine Tat, die dies abspricht, stellt die grundlegende wechselseitige Gleichheit ein Stück weit auch generell in Frage. (c) Zugeordnete Bereiche gemeinsamer Wirklichkeit Die Verletzung kann zudem Bereiche betreffen, die uns in der gemeinsamen Welt jenseits der je eigenen leiblich basierten Existenz407 als eigener Bereich zugeordnet sind. So ist dem Studenten in Beispiel (2) die Wohnung als Mieter und 407 Ich spreche hier bewusst von Bereichen der gemeinsamen Welt, die von unserer je leiblichen Identität verschieden sind, und nicht von der äußeren Welt, die rechtlich als Willkür­ bereiche zugeordnet wird, wie Kant zur Abgrenzung der Regelungsgebiete des Rechts schreibt (Immanuel Kant, MdS, Einl. in die Rechtslehre, §§ B, C (AB 31 ff.)) und wie es in der Rechtsphilosophie in Kantischer Tradition übernommen wird (vgl. Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (816); ders., Kriminalunrecht, S. 197 f.; Michael Köhler, Strafe, S. 44 ff.; Michael Kahlo, Pflichtwidrigkeitszusammenhang, S.  301; Bettina Noltenius, GA 2007, S.  518 (527 f.)). Ein Grund dafür ist, dass zwischen dem Innen und Außen einer Person nicht absolut unterschieden werden kann, da auch das, was wir traditionell als das Innere verstehen, in der Interexistentialität, also im gemeinsamen Raum der Welt, geformt wird (vgl. hierzu im II. Kapitel unter 2. c) dd) und ee)). Doch auch der relative Sinn einer solchen Unterscheidung in Bezug auf den Rechtsbegriff dürfte sehr differenziert zu betrachten sein, wie sich am Beispiel des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gem. Art. 2 I, 1 I GG zeigt: Dieses Recht sichert gerade auch die „innere“ Entfaltung der Person und garantiert ihr grundsätzlich Räume, in denen sie ihre innere und äußere Entfaltung umsetzen kann. Die Begrenzung des Rechts auf das Äußere als Durchsetzung des Rechts mittels Zwangs betrifft eine zweite Ebene, also die der Rechtsdurchsetzung, die sich auf das Erzwingbare bezieht (vgl. hierzu im II. Kapitel unter 2. c) mm) (2) (b); d) cc)).

2. Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials

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insofern Hausrechtsinhaber und das Notebook als Eigentümer zugeordnet. Sein Hausrecht und sein Eigentum werden durch den Diebstahl verletzt. Die Zuordnung von Bereichen der gemeinsamen Welt, die von unserem Leib unterschieden sind, hat darin ihren vernünftigen Sinn, dass wir als Selbstentwurf auf die Erfüllung unserer Sinnentwürfe in der gemeinsamen Welt ausgerichtet sind und dabei notwendig die gemeinsame Welt auch über unseren Leib und unsere Entscheidungsfähigkeit hinaus für uns beanspruchen. Dies geschieht schon, indem wir uns ernähren oder einfach an einem Ort sind oder eine Behausung in Anspruch nehmen, also ein Stück der Welt „besitzen“. Diese Bereiche nehmen wir nicht nur in Anspruch, wir ordnen sie uns auch wechselseitig als Ausdruck wechselseitiger Anerkennung zu. Diese Zuordnung ist in unserer Gesellschaft auch und wesentlich als rechtliche ausgeformt, wie sich etwa im Grundrecht auf Eigentum gem. Art. 14 GG, der bürgerlichrechtlichen Ausformung von Besitz und Eigentum gem. §§ 854 ff., 903 ff. BGB und dem strafrechtlichen Schutz von Eigentum und Vermögen durch die §§ 242 ff., 249 ff., 263 ff. StGB zeigt. In unseren Beispielen ist die Privatsphäre des Studenten S in Beispiel (2) durch Art. 13 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung) und § 123 StGB (Hausfriedensbruch), sein Eigentum an dem Notebook unter anderem durch §§ 242 ff. StGB geschützt, und er konnte das Eigentum daran auch nur unter rechtlichen Bedingungen erwerben. Insbesondere Straftaten sind dabei immer auch Fälle von Rechtsverletzungen, weil das Strafrecht selbst die jeweils geschützten Aspekte unter rechtlichen Schutz stellt und damit die geschützten Aspekte in ihrer konkreten Gestalt mit ausformt. Das gilt auch für Leib, Leben und Selbstbestimmung, die etwa durch die Grundrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und auf Leib und Leben (Art.  2  I i. V. m. 1  I; 2  II GG), konkrete bürgerlich-rechtliche (z. B. §§ 823 ff. BGB) und Strafrechtsnormen (§§ 212 ff., 223 ff., §§ 185 ff., §§ 240 f. StGB – Straftaten gegen Leib und Leben, die Ehre und die freie Willensentschließung) geschützt werden. Leib, Leben und Selbstbestimmung können nur vom Recht unabhängiger verstanden werden als das Eigentum, auch wenn ihr Verständnis ebenfalls durch recht­ liche Wertungen geprägt ist. (d) Existentielle Verletzung Die eben unter (a) bis (c) erläuterten Verletzungsebenen können verschiedene Verletzungen, nicht nur Verletzungen rechtlich strafbewehrter Ver- und Gebote betreffen. Es ist allerdings nicht sinnvoll, jedwede Verletzung auch strafrechtlich zu erfassen. Denn Strafe ist die in ihrer Bedeutung schärfste Sanktion des Rechts oder der Gemeinschaft für ein missachtendes Verhalten, das deshalb auf eine besondere Weise schwerwiegend sein muss. Mit dem Strafrecht soll die Rechtsgemeinschaft in einem grundlegenden Sinne befriedet, soll allen Bürgern die Basis ihrer selbstständigen Existenz im Miteinander gesichert werden. Die eingangs angeführten Auffassungen, wonach das Strafrecht „ultima ratio“ im Instrumentarium des Gesetzgebers ist und nur im Falle besonders sozialschädlichen Verhaltens ein-

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III. Kap.: Straftat

gesetzt werden darf,408 hat insofern ihre Berechtigung. Allerdings ist damit nur gesagt, dass Strafe als schärfste rechtliche Sanktion subsidiär ist, ab wann die Basis der Existenz so betroffen ist, dass gestraft werden sollte, bleibt offen. Es ist zunächst intuitiv plausibel, dass sich die in der Qualität schwerste Sanktion der Rechtsordnung nicht auf missachtende Verletzungen überhaupt, sondern auf Verletzungen einer besonderen Schwere bezieht. Vertreter materialer Verbrechensbegriffe sprechen davon, dass das Opfer „substantiell betroffen“ oder „grundlegend beeinträchtigt“409 oder dass das „rechtlich konstituierte Basisvertrauen“410 verletzt sein muss. Unmittelbar leuchtet ein, dass Menschen von Verletzungen in ihrer Existenz unterschiedlich schwer betroffen sein können: Eine Verletzung kann nur einzelne Aspekte der Existenz beeinträchtigen, diese kann aber auch grund­ legend gefährdet oder negiert werden. Eine leichte Ohrfeige stellt den Geohrfeigten weniger in Frage als ein Messerstich in den Oberarm. Dieser wirkt weniger schwer als ein lebensgefährlicher Messerstich in den Bauch. Durch eine lebensgefährliche Verletzung, die Tötung, durch Stehlen der Tagesration Brot einer Obdachlosen oder durch das Versklaven hingegen wird die Existenz des Mitmenschen noch grundlegender in Frage gestellt oder sogar negiert. Ein klares Abgrenzungskriterium zwischen kriminellem und sonstigem Unrecht hinsichtlich der Schwere der Verletzung oder in anderer Hinsicht zu finden ist jedoch schwierig. Es gibt eindeutige Fallgestaltungen, in denen das Opfer so missachtet wird, dass es in seiner Existenz negiert wird oder negiert zu werden droht. Die andere wird dann, wie Köhler schreibt,411 grundlegend, also überhaupt als gleichbedeutsame Existenz in Frage gestellt, als Person negiert. Für Konstellationen wie die Tötung, schwere Eingriffe in den Leib durch Körperverletzungen oder sexuelle Übergriffe, durch die Beeinträchtigung der Willensbildung durch Menschenhandel oder das Versklaven oder durch den Diebstahl überlebenswichtiger Güter werden Menschen grundlegend in ihrem Dasein betroffen, wird ihre Existenz an der Basis im Sinne grundlegender Elemente ihrer Integrität weitestgehend in Frage gestellt, so dass sich eindeutig aufzeigen lässt, dass kriminelles Unrecht vorliegt. Insofern der Leib Basis für die Existenz überhaupt ist, ließe sich auch daran denken, dass sehr leichte Körperverletzungen, etwa eine leichte Ohrfeige, strafwürdig sind. Allerdings ist diese Betrachtung zu formal und abstrakt von dem, was real passiert. Mit Basis der Existenz ist im Zusammenhang mit der Erörterung der Strafwürdigkeit von Verhalten insofern zunächst die reale Betroffenheit in den Lebensgrundlagen gemeint. Allerdings erfasst Recht die geregelten Sachverhalte auch im Sinne gleicher Regelung von Sachverhalten typisierend, so dass es auch nachvollziehbar ist, dass Körperverletzungen in § 223 StGB 408

Vgl. in diesem Kapitel unter 2. a) aa). Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 22, 30. 410 Ernst Amadeus Wolff, Kriminalunrecht, S.  213, vgl. auch S.  140; vgl. ders., ZStW 97 (1985), S. 786 (819). 411 Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 47. 409

2. Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials

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generell unter Strafe gestellt werden, zumal auch schon mittelschwere Körperverletzungen die leibliche Basis des Daseins so betreffen, dass der Verletzte in seinem Dasein für eine bestimmte Zeit grundlegend beeinträchtigt ist. Mit einem Blick in die Kasuistik zu § 223 StGB412 oder § 185 StGB wird aber auch deutlich, dass sich Fälle ergeben, in denen eine Abgrenzung nicht mehr eindeutig getroffen werden kann: Ist etwa das zwangsweise durchgesetzte Abschneiden gepflegter langer Haare, um einen anderen zu demütigen, strafwürdig oder nicht? Ist es kriminelles Unrecht, wenn zu einem Polizisten gesagt wird „Du Oberförster! Zum Wald geht es da entlang!“413? Jakobs ist daher insofern zuzustimmen, als sich ein exakt subsumierbares Kriterium für die Abgrenzung strafwürdigen Unrechts von sonstigem Unrecht nicht angeben lässt. Allerdings gibt es Rationalitätskriterien, die teils klare Entscheidungen ermöglichen und teils immerhin den Prozess der Diskussion über die Strafwürdigkeit strukturieren. Dieser Diskussionsprozess ist als legitimierendes Verfahren jeweils und unter Berücksichtigung der konkreten gesellschaftlichen Umstände zu führen. Kriminelles Unrecht ist dann hinsichtlich seiner Schwere vorläufig so bestimmt, dass das Opfer durch den Täter in seiner Existenz missachtet und dabei so grundlegend verletzt wird, dass er in seinem selbstständigen Dasein im Miteinander vernichtet oder wesentlich beeinträch­ tigt wird. Der Schutz der Mindestbedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist eine staatliche Aufgabe und ermöglicht es, das interexistentielle Verhältnis zu befrieden, indem unmittelbare Gewalt oder Übergriffe auf den anderen unterbunden oder geahndet werden. Die rechtliche Fassung von Straftatbeständen im Gesetz als positives Recht414 hat insofern die Funktion, allgemeinverbindlich festzulegen, welche Verhaltensweisen zu unterlassen oder geboten sind, weil sie die Mindestbedingungen der gemeinsamen Existenz negieren oder gefährden würden. Es wird auch klar gestellt, dass an diese Verhaltensweisen Strafe als gemeinschaftliche rechtliche Sanktion geknüpft ist, dass diese also gemeinschaftlich nicht geduldet werden. Die auf diese Weise positiv-rechtlich gefassten Tatbestände besonderer Verletzungen können annähernd alle Verletzungen erfassen, die grundlegende Missachtungen anderer darstellen, also dem Anspruch der Regelung der Mindestbedingungen gemeinsamen Daseins entsprechen. Sie können dieses materiale Kriterium zur Bestimmung des kriminellen Unrechts aber auch verfehlen, indem sie strafwürdige Verhaltensweisen zum einen nicht erfassen, wie das etwa bis 1997 bzw. 1998 bei der Straflosigkeit der Vergewaltigung von Ehefrauen als Vergewaltigung und der Straflosigkeit der Vergewaltigung von Männern als Vergewal-

412

Vgl. zur Kasuistik bspw. Hans Lilie, Leipziger Kommentar zum StGB, § 223 Rn. 7 ff. Vgl. AG Berlin-Tiergarten, NJW 2008, 3233. 414 Vgl. zu diesem Erfordernis Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (819); ders. Kriminalunrecht, S. 213; Rainer Zaczyk, Fichte, S. 103; Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 43, 72 ff. Auch das Gesetzlichkeitsprinzip gemäß Art. 103 II GG und § 1 StGB entspricht dem. 413

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III. Kap.: Straftat

tigung der Fall war.415 Die positiv-rechtlichen Straftatbestände können zum anderen Verhaltensweisen erfassen, die nicht strafwürdig sind, wie dies bei abstrakten Gefährdungsdelikten der Fall ist, die Verhaltensweisen erfassen, die weit vor der eigentlichen Verletzung liegen, wie sie etwa zur Terrorbekämpfung erlassen werden, was zuhöchst umstritten ist.416 Die material-normativen Aspekte des Interexistentials der Straftat sind diesem von vornherein und ebenso immanent, wie dass eine Straftat positiv-rechtlich als strafwürdiges Unrecht gefasst ist oder gefasst werden sollte. Denn das Interexistential der Straftat ist von vornherein im Hinblick auf die Grundzüge unserer Welt normativ geprägt und lässt sich nicht verabsolutierend auf einen rein formalen positiv-rechtlichen Begriff des kriminellen Unrechts reduzieren.417 Ein angemessenes Verständnis des Interexistentials ist so immer ein kritischer Begriff der Straftat. Mit der Frage danach, was strafwürdiges Unrecht ist, ist auch die Frage verbunden, was rechtlich regelbar ist. Hierzu wurden bei der Erläuterung des Rechts als Praxisform Kriterien aufgezeigt.418 Diese sollen hier in Bezug auf das Strafrecht nicht weiter vertieft werden, da sie für die genauere Analyse der Tatdimensionen im Hinblick auf Strafe und TOA nicht unmittelbar relevant sind. (3) Das strafrechtliche Verbot als rechtliche Umhegung der unmittelbar persönlichen Ebene (rechtlich ausgeformtes Anerkennungsgeflecht) Bevor auf die Straftat in ihrer Dimension als spezifische Verletzung des Rechts eingegangen werden soll, ist noch einmal genauer zu erläutern, inwiefern die unmittelbar-persönliche Ebene der Tat rechtlich umhegt und damit rechtlich überformt ist. Vernunftrechtliche Verbrechensbegriffe blenden die unmittelbar-persönliche Ebene wie aufgezeigt entweder aus oder lassen sie ununterschieden in der Rechtssubjektivität aufgehen.419 Die Theorien, die ausdrücklich versuchen die unmittelbar-persönliche Ebene der Tat mit in den Tatbegriff einzubeziehen, analysie-

415

§ 177 StGB wurde auf Taten zulasten des Ehepartners durch das 33. Strafrechtsänderungsgesetz vom 1. Juli 1997 (BGBl. I S. 1067, in Kraft seit dem 5. Juli 1997) und durch die geschlechtsneutrale Formulierung durch das 6. Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26. Januar  1998 (BGBl.  I S.  164, in Kraft seit dem 1. April  1998) auch auf Taten zulasten von Menschen, die nicht Frauen sind, ausgedehnt. Vgl. zu diesem Themenkomplex Ulrike Lembke, Gewalt, Rn. 9 ff., 12 ff. 416 Vgl. zu den abstrakten Gefährdungsdelikten m. w. N. etwa Claus Roxin, Strafrecht AT I, § 11 Rn. 154 ff., vgl. zur Problematik der Terrorbekämpfungsdelikte §§ 129 ff. StGB nur Diethelm Klesczewski, Tatbestandsbildung, S. 109 ff. 417 Vgl. zur grundlegenden Verwobenheit von Normativität und Faktizität im II. Kapitel unter 2. a), c) ii) (2) und 3. 418 Im II. Kapitel unter 2. c) mm) (2) (b). 419 Vgl. hierzu in diesem Kapitel unter 2. a) bb) und b) bb) (2) (a).

2. Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials

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ren diese Aspekte und ihre Verwobenheit nicht näher. Walther spricht nur davon, dass das Kriminalunrecht weder auf den interpersonellen Konflikt, noch auf den Rechtsbruch reduziert werden darf,420 Sarhan vermengt die Gefühle und das Genugtuungsbedürfnis des Opfers sowie die Empathie der Rechtsgemeinschaft unscharf mit dem Recht,421 Seelmann entwickelt die Struktur des Anerkennungs­ geflechts, geht aber auf dessen Dimensionen nicht näher ein.422 Wie aufgezeigt, sind auch die unmittelbar-persönlichen Verhältnisse rechtlich umhegend überformt. Das Recht wirkt in alle Lebensbereiche hinein, sei es, dass es wie das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gem. Art. 2 I GG einen freien, geschützten Raum für die individuell-unmittelbare Lebensgestaltung mit eröffnet und Instrumente zu dessen Schutz bereit stellt. Strafrechtlich werden durch die gesetzliche und strafbewehrte Fassung von Verletzungsverboten Verhaltensweisen im Bereich der unmittelbar möglichen Gewaltausübung umrissen, die verboten sind. Damit werden Bereiche des unmittelbaren Kontaktes abgesteckt, die staatlich geschützt sind, allein schon durch die Formulierung und Verdeut­ lichung der Verletzungsverbote für die Angehörigen der Rechtsgemeinschaft, aber auch durch die Verhinderung von Straftaten, wie sie Aufgabe der Polizei zum Beispiel gem. § 1  SächsPolG ist.423 Auf diese Weise wird durch das Recht und den Staat ein öffentlich und gemeinschaftlich gesichertes Friedensverhältnis etabliert, in dem das Recht, unmittelbare Gewalt auszuüben, grundsätzlich nur dem Staat zur Aufrechterhaltung der rechtlich etablierten Verhältnisse zusteht. Dies ist ein Aspekt der Rede vom Gewaltmonopol des Staates.424 Rechtliche Normen sind also normative Bedeutungsgehalte (Interexistentiale), mit denen Menschen den zwischenmenschlichen Umgang und Formen des gemeinschaftlichen Lebens regeln, indem sie unter anderem verbindliche Rechte und Pflichten von Menschen vorsehen und damit bestimmte Verhaltensstandards im unmittelbaren Umgang miteinander festlegen. Sie formen also das interexistentielle Verhältnis auf eine bestimmte Weise aus und sind so in unmittelbar-persön 420

Vgl. Susanne Walther, Realkonflikt, S. 251 f. Vgl. Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S. 221: „Die gesamtgesellschaftliche Dimension des Verbrechens – etwa die ‚Erschütterung des Rechtsfriedens‘ oder die ‚Störung der Sozialpsyche‘  – als „normative Übersetzungen als nachvollziehbare Erfassung dieses [des Opfer-] Leidens […].“ 422 Vgl. Kurt Seelmann, JZ 1989, S. 671 (675 f.). 423 Vgl. auch § 1 I des Musterentwurfes eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder in der Fassung des Vorentwurfs zur Änderung des MEPolG, insbesondere hinsichtlich der Ergänzungen durch den Vorentwurf (kursiv): „Die Polizei hat die Aufgabe, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren. Sie hat im Rahmen dieser Aufgabe auch für die Verfolgung von Straftaten vorzusorgen und Straftaten zu verhüten (vorbeugende Bekämpfung von Straftaten) sowie Vorbereitungen zu treffen, um künftige Gefahren abwehren zu können (Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr).“ Insgesamt als Anhang abgedruckt in WolfRüdiger Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 401 ff. 424 Vgl. hierzu bereits im II. Kapitel unter 2. c) mm) (2) (c), (d); vgl. auch Ernst Amadeus Wolff, Kriminalunrecht, S. 203 ff.; ders., ZStW 97 (1985), S. 786 (817 ff.). 421

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III. Kap.: Straftat

lichen Beziehungen präsent, auch wenn sie in diesen gerade Freiräume schaffen. Recht ist dabei dann gerecht und vernünftig, wenn es zwangsfreie Räume der individuellen und gemeinsamen selbstständigen Entfaltung garantiert und vor Eingriffen schützt.425 Das Recht gestaltet so die konkreten und unmittelbaren interexistentiellen Verhältnisse durch konkrete rechtliche Regelungen mit und ist damit ein Aspekt der unmittelbar-zwischenmenschlichen Verhältnisse. Da das Recht als menschliche Praxisform die interexistentiellen Verhältnisse mitformt, ist es auch eine konkrete Form von Achtung, Miss- oder Nichtachtung derjenigen, deren Verhältnisse geregelt werden. Soweit rechtliche Regelungen gerecht sind, also unserem Selbstverständnis als in der Interexistenz Selbstständige entsprechen, stellen sie also eine Form wechselseitiger Achtung oder Anerkennung dar. Insofern lässt sich von einem Anerkennungsgeflecht sprechen, wie Seelmann es tut.426 Das Modell des Anerkennungsgeflechts vermag dabei die komplexe Verwobenheit der zwischenmenschlichen Beziehungen abzubilden. Das Recht regelt somit zwar (auch) die unmittelbar-persönlichen Lebensverhältnisse, es bleibt dabei aber auf gewisse Weise abstrakt. Zum Ersten ist das Recht abstrakt, weil es die geregelten Sachverhalte nur typisierend anhand bestimmter, dann rechtlich wesentlicher Merkmale erfasst. Dies zeigt sich etwa daran, dass § 223 StGB vom Anspucken, über eine kräftige Ohrfeige bis hin zu einem lebensgefährlichen Messerstich in den Bauch eine große Bandbreite der Verletzungen der körperlichen Integrität erfasst. Zweitens knüpft das Recht nur an bestimmte Aspekte von Situationen als rechtlich wesentlich an. So wird mit dem rechtsdogmatischen Begriff der Straftat die Verletzung als Konflikt mit verschiedenen Dimensionen und einer möglichen Vielzahl von Betroffenen und Verursachern auf bestimmte rechtlich relevante Merkmale verkürzt und werden so auch ein anhand dieser Merkmale bestimmter Täter und ein bestimmtes Opfer aus dem Kreis der Betroffenen herausgelöst. Diese rechtliche Unterscheidung zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem ist zur Abschichtung von Verantwortungsbereichen in Bezug auf die staatliche Strafsanktion sinnvoll, erweist sich aber in Bezug auf andere Formen der Konfliktbewältigung wie den TOA nur als begrenzt tragfähig. Sie legt beispielsweise verbindlich die Verantwortung für die konkrete mit der Straftat umrissene Verletzung fest, erfasst allerdings nicht die Vorgeschichte des Konflikts, für den das Opfer im Sinne des Strafrechts durchaus mitverantwortlich sein kann. Drittens ist das Recht, auch insofern es Freiräume schafft, innerhalb dieses Freiraumes abstrakt, als es diesen ja gerade nicht konkret ausgestaltet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass auch die unmittelbar persönliche Ebene der interexistentiellen Verhältnisse rechtlich umhegt oder überformt ist. Dabei schafft das Recht vernünftigerweise Bereiche der selbstständigen Entfaltung 425

Vgl. hierzu im II. Kapitel unter 2. d) cc). Vgl. Kurt Seelmann, JZ 1989, S. 671 (675 f.); vgl. auch Ernst Amadeus Wolff, Kriminal­ unrecht, S. 140, wonach Recht die Anerkennungsverhältnisse mitkonstituiert. 426

2. Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials

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in der Gemeinschaft mit. Auf diese Weise kann es unmittelbare Übergriffe zwischen den einer Rechtsgemeinschaft Angehörenden nicht überhaupt verhindern und es kann auch bestimmte Ebenen der Straftat bei deren Bewältigung nicht erreichen. Es kann genauer zwar das unmittelbar-persönliche Verhältnis hinsichtlich erzwingbarer Maßnahmen wie Schadensersatzleistungen bis hin zum zwangsweisen Durchsetzen solcher Ansprüche regeln. Es kann aber das zwischenmensch­ liche Verhältnis als auf authentische und gewaltfreie Kommunikation angewiesenes Verhältnis nicht unmittelbar regeln, also zum Beispiel die wirkliche Reue, Entschuldigung oder Vergebung nicht erzwingen. Hier kann es mit rechtlichen Mitteln nur Freiräume schaffen und absichern, indem es zum Beispiel entsprechende Bewältigungsformen nicht verbietet, die Rahmenbedingungen für deren Wahrnehmung schafft und den zwangsweisen Eingriff verbietet (rechtlich umhegtes Institut). Die unmittelbar-persönliche Ebene der Straftat kann so verstanden werden als die Ebene, auf der sich Täter und Opfer unmittelbar als Personen, die auch Rechtssubjekte sind, gegenüberstehen. Der Staat regelt hier über das Recht das Verhältnis zwischen gleichgeordnet einander unmittelbar Gegenüberstehenden. Durch das Recht wird dieses Verhältnis insofern als Gleichordnungsverhältnis geregelt und es werden Möglichkeiten geschaffen, in diesem Verhältnis auftretende Konflikte gerecht und endgültig beizulegen. Diese Ebene der Tat lässt sich auch als Konflikt fassen, der allerdings nicht auf eine sozialpsychologische Dimension reduziert werden kann, sondern eben auch rechtlich umhegt und damit rechtlich überformt ist. cc) Ebene der Straftat als Missachtung des Rechts, soweit sie mit Strafe rechtlich bewältigt werden kann Die Bedeutung des Rechts für Straftaten erschöpft sich nicht darin, dass bestimmte Verhaltensweisen gemeinschaftlich verboten werden und der Staat dafür sorgt, solche Taten zu verhindern. Wenn jemand eine andere Person strafrechtlich relevant verletzt, verstößt er auch gegen das Recht als Ausformung des Anerkennungsgeflechts; mit Hegel ließe sich auch sagen, dass „das Recht als Recht verletzt“427 wird. Das Recht als Recht wird durch den Straftäter in zweierlei Hinsicht verletzt: Wie sich schon aus dem Vorhergehenden ergibt, verletzt die Täterin das Opfer auch als rechtlich anerkanntes Subjekt, missachtet es also grundlegend auch in seiner Rechtssubjektivität. Zugleich stellt sie die Geltung des Rechts in der konkreten Situation durch ihr konkretes Verhalten in Frage, es ließe sich auch von einer Missachtung des Rechts sprechen. Mit der Tat als von der Täterin zu verantwortendem Verhalten maßt sich die Täterin also nicht nur eine Überpersönlichkeit gegenüber dem Opfer, sondern auch die eigenmächtige Entscheidung über die partikuläre Nichtgeltung des Rechts, also der strafrechtlichen Verbotsnorm, in

427

Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Rphil, § 95.

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III. Kap.: Straftat

der konkreten Situation der Tat an.428 Ihr Verhalten ist bezogen auf das Recht also bedeutungsgetragen: Mit der Rechtsverletzung wird durch die Täterin behauptet, dass das Recht in der konkreten Situation für sie selbst nicht gelte und dass die verletzte Person als Rechtsperson nicht anzuerkennen sei. Das Verhalten der Täterin weist zudem in seinem Geltungsanspruch als Verhalten einer selbstständig die Welt Gestaltenden über die konkrete Tat hinaus. Aufgrund des damit verbundenen Richtigkeitsanspruches wohnt ihm eine Tendenz zur Verallgemeinerung inne, wenn es unwidersprochen so stehen bleibt. Denn der Täter wie auch andere können sich an diesem Verhalten, das als Verhalten eines Selbstständigen Anspruch auf Richtigkeit erhebt, orientieren.429 Die Verletzung des Rechts als Recht betrifft uns alle als in der Rechtsgemeinschaft Verbundene, denn wir sind in einer Rechtsgemeinschaft über das Recht, das ein Gleichheits- und Friedensverhältnis mitetabliert, in einem Geflecht wechselseitiger Anerkennung verbunden430. Zum einen geht die Rechtsgemeinschaft die Missachtung des einen Opfers als Rechtssubjekt schon deshalb an, weil das Opfer ein in seiner Entfaltung durch die Rechtsgemeinschaft zu schützendes Rechtssubjekt ist, wie für die unmittelbar-persönliche Ebene der Tat erläutert wurde. Die Rechtsgemeinschaft übernimmt mit der Strafe zudem einen Teil der Bewältigung der Tat, und zwar den Teil, der nur auf der Ebene der unmittelbaren Gewalt oder des Zwanges erledigt werden kann und der in das rechtliche Friedensverhältnis überführt ist. Die verletzte Rechtssubjektivität bedeutet im Strafrecht also auch, dass die Rechtsgemeinschaft als Staat im Rahmen des Gewaltmonopols bestimmte Formen der Bewältigung der Tat übernimmt und sich hier an die Stelle des Opfers stellt. Das Verhältnis zwischen Täter und Opfer wird insofern ein mittelbares, der Staat steht zwischen ihnen.431 Zum anderen wird die Rechtsgemeinschaft natürlich dadurch betroffen, dass die Rechtsgeltung überhaupt mit einer Tendenz zur Verallgemeinerung in Frage gestellt wird. Dies beschränkt sich nicht auf ein Gefühl der Betroffenheit, das sich einstellen kann, wenn wir etwa in der Zeitung vom sogenannten „Ehrenmord“ an Schwestern oder Töchtern aus muslimischen Familien mit Migrationshintergrund oder vom Kindesmissbrauch in der Nachbarschaft lesen. Es geht hier auch darum, den Zustand des rechtlich gesicherten Zusammen­ lebens in der gemeinsamen reflektierten Praxis trotz und mit432 der Tat zu erhalten. Das Gefühl der Betroffenheit geht mit der Betroffenheit aus Einsicht in die grund 428

Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 48 f.; ders., Strafrecht AT, S. 23, vgl. auch S. 350, 351 f. zur Schuld als Entscheidung zum Unrecht; Ernst Amadeus Wolff, Kriminalunrecht, S. 209 ff.; ders., ZStW 97 (1985), S. 786 (819 f.); Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (526 f.). 429 Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 49; ders., Strafrecht AT, S. 23. 430 Vgl. in diesem Kapitel unter 2. b) bb) (3). 431 Wolff spricht insofern davon, dass das Opfer zum Repräsentanten der Gemeinschaft werde (vgl. Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (819)). Allerdings ist in dieser Hinsicht wohl eher umgekehrt zu sagen, dass das Opfer durch die Gemeinschaft repräsentiert wird; vgl. hierzu auch im IV. Kapitel unter 3. c) bb) (3). 432 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Wendezeiten, S. 57: „Versöhnung macht es möglich, mit der Schuld trotz der Schuld zu leben.“

2. Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials

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legende Verhaltensfehlbarkeit aller Menschen, die grundlegende Verletzlichkeit aller Menschen und das daraus entstehende Konfliktpotential in der gemeinsamen Welt einher. Insofern gehen uns Straftaten alle an, und das Strafrecht ist auch eine Form, gemeinschaftlich mit diesen Grundzügen der menschlichen Welt so umzugehen, dass ein selbstständiges Miteinander in der Interexistenz trotz der Fehlbarkeit und Verletzlichkeit der Einzelnen möglich ist. Die Strafe lässt sich so auch als ein Mittel der Verdeutlichung der Rechtsgeltung trotz der Straftat vernünftig verstehen.433 Die Dimension der Tat als Verletzung des Rechts als Recht lässt sich also sinnvoll im Hinblick auf die Strafe als staatliche Bewältigungsform unterscheiden, wobei aber nicht übersehen werden darf, dass auch die unmittelbar-persönliche Ebene der Tat rechtlich überformt und Täter und Opfer auch in ihr als Rechtssubjekte betroffen sind. Theorien zum materialen Begriff des Verbrechens halten nicht ausreichend präsent, dass es nur eine Dimension der Tat ist, wenn sie die Straftat als Verletzung des Rechts als Recht kennzeichnen.434 Zwar ist auch hier klar, dass die Tat eine objektive, individuelle Verletzungsebene und eine Ebene der konkreten subjektiven Verantwortlichkeit aufweist, die Anlass für die Bestrafung sind, aber hinsichtlich der rechtlichen Relevanz scheint die Tat auf das Rechtliche reduziert zu werden. Beispielsweise schreibt Noltenius ausdrücklich, dass die objektive Verletzung eine empirische Seite hat und auf der geistigen Seite in einer Negation der Anerkennung bestehe. Letztere sei für die Unrechtsbegründung entscheidend, wobei das Recht eben nur die Regelung der äußeren Willkürverhältnisse betreffe.435 Köhler sieht im Verbrechen zwar auch „die Negation der Daseinsbesonderheit der äußeren Freiheit eines anderen (anderer), einer subjektiven Willensbesonderheit z. B. Leben, Köperintegrität usf. in ihrer einzelnen Wirklichkeit“436, doch hierin liegt schon die Reduktion auf eine „äußere“ Willkürsphäre, auf die sich das Recht bezieht. Zudem ist für ihn das Wesentliche des Verbrechens die darin liegende Negation der autonomen Rechtsubjektivität des anderen.437 Spätestens bei den Betrachtungen zur Tatreaktion werden die Überlegungen einseitig auf die Strafe als rechtliche Tatreaktion oder die Strafe als „Rechtsinstitut“ fokussiert, so dass die unmittelbar-persönliche Verletzungsebene in dem rechtlich nicht unmittelbar beeinflussbaren Teil hinsichtlich der Tatbewältigung aus dem Blick gerät. So er­örtert Köhler den TOA in seinem Lehrbuch unter dem Stichwort „alternative Sanktionen“ und stellt fest, dass die „Strafrecht und Moralität vermengende Vorstellung einer ‚organisierten Aussöhnung‘ durch öffentliche Institutionen mit deutlicher 433

Zur Strafe ausführlich im IV. Kapitel unter 3., zur Strafe als Ausdruck des Gewaltmonopols insb. unter 3. c) bb) (3). 434 Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 47 ff.; ders. Strafrecht AT, S. 22 f.; Ernst Amadeus Wolff, Kriminalunrecht, S. 213; ders., ZStW 97 (1985), S. 786 (819): „Verletzung des öffentlich festgelegten Basisvertrauens“; Rainer Zaczyk, Fichte, S. 103; Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (524). 435 Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (524). 436 Michael Köhler, Strafe, S. 47. 437 Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 47.

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III. Kap.: Straftat

Skepsis zu beurteilen ist“.438 Auch Noltenius stellt in Bezug auf das Verhältnis Täter – Opfer lediglich fest, dass das Recht und damit auch das Recht des Strafens nur das äußere Handeln zum Inhalt haben könne.439 Beide sehen den TOA also nur unter der Folie der legitimierten rechtlichen Zwangsgewalt, nicht aber als ein Phänomen, das eine Dimension der Tat in den Blick nimmt, die von der spezifischen Verletzung des Rechts als Recht unterschieden werden kann und die so hinsichtlich der Tatbewältigungsform eigenständig ist. Erst wenn dies gesehen wird, stellt sich zudem die Frage, ob und wie der TOA rechtlich geregelt, etwa „rechtlich umhegt“440 werden kann, ohne rechtliches Zwangsmittel der Tatreaktion zu sein. Auch wenn man davon ausgeht, dass die Strafe auch das unmittelbar-persön­ liche Verhältnis zwischen Täter und Opfer im Bereich der unmittelbaren Übergriffsmöglichkeiten nach der Tat klärt, werden in der Strafe Täter und Opfer nur als Rechtssubjekte in einem reduzierten Sinne erreicht – das, was Emcke als „stumme Gewalt“ bezeichnet und was nur authentisch unmittelbar und gewaltfrei zwischen Täter und Opfer geklärt werden kann, bleibt außen vor. Zudem betrifft die Strafe auch die Rechtsgemeinschaft insgesamt. Entsprechend geht in den vernunftrechtlichen Perspektiven spätestens bei der Erläuterung der Strafe als angemessene Form der Tatbewältigung die unmittelbar-persönliche Dimension der Tat verloren.441 Wenn über eine umfassende Klärung der Tat nachgedacht wird, ist deshalb die Differenzierung zwischen rechtlicher und unmittelbar-persönlicher, wenn auch rechtlich überformter Ebene der Straftat sinnvoll. Sarhan bezieht zwar die unmittelbar-persönliche Tatebene in seinen Tatbegriff mit ein, dieser bleibt aber in rechtlicher Hinsicht weit unterbestimmt: Bei der Darstellung des Trennungsdogmas erläutert er die unmittelbar-persönliche Verletzungsebene als den horizontalen empirisch geprägten Tatkonflikt, der die objektsprachlich erfassbare Wirklichkeit der Tat, also Umstände, die man sinnlich wahrnehmen kann, auf die man zeigen kann, erfasse. Auch bei der Erläuterung des von ihm postulierten Konnexdogmas geht es um das Genugtuungsbedürfnis des Opfers und die fremde Erfahrung des Opferleidens, also emotionale Aspekte, zur Erfassung des Wesentlichen des Konflikts.442 Das ist jedoch zu undifferenziert. Zum einen können wir nichts auf bloße Empirie reduzieren, das rein Faktische ist uns nicht zugänglich, es ist immer in eine Praxis eingebettetes Verstandenes.443 (Das Faktische ist dabei auch nicht treffend umschrieben, so sind Gefühle, wie etwa Schmerzen, nichts, auf das sich zeigen ließe.) Doch auch wenn Gefühle, Schäden, Wunden, Bedürfnisse nicht als rein empirisch sondern als Aspekte unserer selbstständigen Existenz in der Interexistenz und in unsere Praxis eingebettet verstanden werden, ist der unmittelbare Tatkonflikt, wie erläutert wurde, noch nicht gänz 438

Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 668 und 670. Vgl. Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (527 f.). 440 Winfried Hassemer / Jan Philipp Reemstma, Verbrechensopfer, S. 168 ff., insb. S. 170. 441 Zur Strafe ausführlich im IV. Kapitel unter 3. 442 Vgl. Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S. 23, 46 f., 220 ff. 443 Vgl. im II. Kapitel unter 2. c) cc).

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2. Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials

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lich erfasst: In der unmittelbar-persönlichen Dimension der Tat ist die Verletzung vor allem ein das Verhältnis zwischen Täterin und Opfer als Miss- oder Nichtachtung des Opfers gestaltender praktischer Akt der Täterin, der über den Leib oder die zugeordneten Bereiche der gemeinsamen Wirklichkeit vermittelt wird. Bereits in der unmittelbar persönlichen Dimension sind Täter und Opfer Rechtssubjekte, die Missachtung des Opfers ist also immer auch eine schwere Missachtung desselben in seiner Rechtssubjektivität und eine Missachtung des Rechts überhaupt. Darin liegt ein gestaltender und Richtigkeit beanspruchender Akt des Täters gegenüber dem Opfer und der Rechtsgemeinschaft. Diese springt in der Strafe also nicht nur aus Empathie und ausschließlich wegen des Opfers für die Befriedigung dessen Genugtuungsbedürfnisses ein, sondern stellt die Geltung des Rechts als gemeinsame Praxisform zur Sicherung der gemeinsamen selbstständigen Existenz aller in der Rechtsgemeinschaft wieder her. Walther fasst den Konflikt mit Viktor Achter als „Entordnung“, als etwas, das vom Gestaltungswillen des Menschen erfasst wird. Sie grenzt sich dabei von einem Verständnis der Kriminalität als Konflikt in einem sozialwissenschaftlichkriminologischen Sinne ab, der das Strafunrecht einseitig auf eine sozialpsychologische Dimension zulasten der Ebene des Rechtsbruchs verkürzt.444 Diese Auffassung stimmt mit der hier entfalteten insoweit überein, als die Tat nicht auf einen Konflikt jenseits der rechtlichen Ebene reduziert werden darf und die Tat dabei als etwas zu begreifen ist, dass vom menschlichen Gestaltungswillen getragen wird. Allerdings wird die Analyse der Tatebenen und ihres Verhältnisses zueinander hier weit vertiefter behandelt, bei Walther bleibt das über die zitierten Beschreibungen Hinausgehende, wohl wegen einer anderen Schwerpunktsetzung, offen. Konflikttheorien, wie die von Rössner, die die Bewältigung der Tat auch auf rechtlicher Ebene primär als Aufgabe von Täter und Opfer betrachten,445 verfehlen die Bedeutung des Rechts und des Staates als Schutzgemeinschaft für Opfer und Täter und vermögen auch den Aspekt der Verletzung des Rechts als Recht, der die Rechtsgemeinschaft unmittelbar angeht, nicht zu erfassen. dd) Sinn der Unterscheidung zwischen der rechtlich umhegten unmittelbar-persönlichen Verletzungsdimension und der Dimension der Missachtung des Rechts Eine Straftat ist also die schwere missachtende Verletzung eines Menschen durch einen Menschen, die rechtlich als kriminelles Unrecht gefasst ist. Sie ist eine ganze Einheit verschiedener faktischer und normativer Aspekte, die komplex miteinander verwoben sind. Dabei lassen sich die Aspekte in verschiedenen Hin 444

Vgl. Susanne Walther, Realkonflikt, S. 251 f. Vgl. Dieter Rössner, Grundlagen AE-WGM, S. 343 ff.; vgl. auch Jürgen Baumann u. a., AE-WGM, S. 24. 445

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III. Kap.: Straftat

sichten, aber nicht absolut trennend unterscheiden. Im Hinblick auf die Tatbewältigungsformen Strafe und TOA lassen sich der Aspekt der rechtlich umhegten unmittelbar-persönlichen Dimension der Tat und der Aspekt der Missachtung des Rechts, in der sich der Staat zwischen Täter und Opfer schiebt, unterscheiden. Wie sich gezeigt hat, ist eine Unterscheidung zwischen einer nicht-rechtlichen, rein soziologisch-faktisch zu bestimmenden und einer rein rechtlichen Ebene nicht sinnvoll, denn das unmittelbar-persönliche Verhältnis ist immer auch rechtlich geprägt, und die Ebene der spezifischen Verletzung des Rechts nimmt Bezug auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, indem es diese gerade regelt. Das Interexistential der Straftat des Verbrechens oder der kriminellen Verletzungen kann nicht unabhängig von der darauf folgenden Sanktion verstanden werden. Dies zeigt sich auch schon im Begriff der Straf-Tat, also der zu bestrafenden Tat. Im Interexistential der Straftat liegt damit eine inhaltliche Reduktion auf das für die Bestrafung Wesentliche, wie es zum Beispiel auch die vorgestellten materialen Verbrechensbegriffe zum Gegenstand haben. In einer holistischen Perspektive, die nach der Bewältigung der Tat überhaupt fragt, sollte daher eher von einer kriminellen Tat oder Verletzung gesprochen werden.446 Dies würde den Blick für andere Bewältigungsformen der Tat neben der Strafe öffnen, ohne dass damit deren Berechtigung in Frage gestellt wird. Neben dem TOA würde etwa auch der Schadensersatz als weitere Bewältigungsform für kriminelle Verletzungen auf der rechtlich überformten unmittelbaren Ebene der Tat eher als Bewältigung einer kriminellen Verletzung in den Blick kommen. Zwar ist der Schadensersatz auch eine Form der Bewältigung anderer rechtlich gefasster Verletzungen und weist mit diesen Gemeinsamkeiten auf. Allerdings lässt sich bei einem Fokus auf die kriminelle Verletzung als gemeinsamer Grund von Tatbewältigungsformen deren Verhältnis und die Besonderheit ihres Grundes besser im Blick behalten. Auch andere Bewältigungsformen, wie es zum Beispiel mit der Tagung „Terrorismus  – Bestrafung  – Versöhnung. Wie gehen wir in Deutschland mit Terroristen um?“ vom 19. bis 21. Februar 1999 in Bad Boll versucht wurde und von denen auf dieser Tagung berichtet wurde,447 beziehen sich auf diese Ebene, können aber auch weitere Aspekte, etwa den der Politik und Bürgergesellschaft, zum Gegenstand haben. Dabei können zudem weitere Betroffene der Straftat in den Blick kommen. Beispielsweise kann die unmittelbar-persönliche Ebene der Tat über Täter und 446 Entsprechend sprechen einige auch von Kriminalrecht, vgl. z. B. Jürgen Baumann u. a., AE-WGM, S. 23 f.; Susanne Walther, Realkonflikt, im Untertitel: „Neuordnung des kriminalrechtlichen Sanktionensystems“, vgl. auch S. 157 ff. Hier soll weiter von „Straftat“ die Rede sein, da die Untersuchung ihren Ausgangspunkt von der praktischen Wirklichkeit nimmt und sich kritisch auf diese bezieht. 447 Dokumentiert von Gemeinschaftswerk der Ev. Publizistik e. V. (Hrsg.), Wie gehen wir in Deutschland mit Terroristen um?, epd-Dokumentation Nr. 32/99 Bad Boll 1999. Dort finden sich auch Berichte über den Umgang mit dem ehemaligen RAF-Mitglied Silke Maier-Witt nach der Entlassung aus der Haft im Berufsleben (S. 5 ff.) und über die Gespräche von Karl Christian von Braunmühl, Bruder des am 10. Oktober 1986 von der RAF ermordeten Gerold von Braunmühl, mit der inhaftierten Birgit Hogefeld (S. 53 ff.).

2. Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials

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Opfer im Rechtssinne hinausreichen. Auch andere unmittelbar persönlich Betroffene, wie etwa Emcke als enge Freundin eines Mordopfers der RAF, oder die Kinder der misshandelten, traumatisierten und ermordeten Ehefrau in Beispiel (1) kommen auf dieser Ebene, die zwar rechtlich überformt ist, aber nicht den in recht­ licher Hinsicht sinnvollen Reduzierungen und Typisierungen ausgesetzt ist, in den Blick. ee) Wirklichkeit von Straftaten als unumkehrbare und je einzigartige Gestaltungen des gemeinsamen Lebens mit Wirkung für die Zukunft Eine Straftat ist in allen ihren Dimensionen unumkehrbar wirklich: als von einem Menschen bewirkte Missachtung eines Menschen in seinen leiblichen Aspekten, in ihm zugeordneten Gütern, als anzuerkennende Person und als anzuerkennendes Rechtssubjekt sowie als Missachtung des Rechts als Ausformung des alle in einer Rechtsgemeinschaft umfassenden Anerkennungsgeflechts. Auch wenn nur einige dieser Dimensionen wirklich im Sinne von gegenständlich oder sachlich vorgegeben sind (etwa der Körper oder das Notebook in den Ausgangsbeispielen (1) und (2)), sind sie alle als Interexistentiale für uns zugänglich und wirklich. Es sind gewissermaßen Sachverhalte, die wir verstehen, denen wir eine Bedeutung geben, die uns nur sprachlich getragen in der gemeinsamen Welt verständlich sind und die nur so für uns wirklich werden.448 Das Recht oder die Person als anzuerkennende sind so zwar nicht gegenständlich in der Welt wie beispielsweise ein Tisch oder ein Buch (auch das Gesetzbuch ist nicht gegenständlich das Recht), sie sind aber ein genauso wirklicher Teil der gemeinsamen Welt. Auch wenn das Recht typisiert nur den Diebstahl, die Körperverletzung oder den Mord kennt, geht es immer um Taten, die je für sich einzigartig sind, also die Lebenssituation der Beteiligten ganz konkret und individuell gestalten. Sie wurden zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort durch bestimmte Personen begangen und haben bestimmte Personen verletzt. Auch wenn wie bei Massen­ vergewaltigungen viele Menschen Täter und viele Menschen Opfer sind, bekommen die Taten zwar durch ihre Vielzahl etwas Monströses, die individuelle Betroffenheit Übersteigendes, es sind aber immer auch konkrete Menschen verantwortlich und konkrete Menschen betroffen, die die Tat individuell in der einzigartigen Sinngestalt ihres Lebens konkret und unvertretbar erleiden. Gleiches gilt für Taten im Sinne einer übergreifenden Idee, wie etwa die Morde der RAF. Auch hier töten konkrete Täter für ihre Organisation, zur Tötung selbst kommt noch eine Dimension der Gesellschaftskritik (die abgesehen von den Mitteln ihrer Durchsetzung sinnvoll sein kann) hinzu. Entsprechend töten sie auch nicht nur einen 448 Vgl. zum Verständnis der Interexistentiale im Geflecht von Wirklichkeit, Sprachlichkeit und Interexistentialität im II. Kapitel unter 2. c) cc) und dd).

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III. Kap.: Straftat

Repräsentanten einer Idee gesellschaftlicher Ordnung, sondern immer auch eine konkrete Person, die Angehörige und Freunde hat, sie vernichten also eine einzig­ artige, grundlegend gleichgeordnete Existenz.449 Die mit der Straftat bewirkte Verletzung ist in ihren Dimensionen auch unumkehrbar in der Zeit wirklich, sie gestaltet die konkreten Lebenssituationen der Beteiligten nicht nur für den Augenblick, sondern auch für die Zukunft. Wir leben in der Zeit, als Einheit über das Verstreichen jeweils einzigartiger, singulärer Augenblicke hinweg. Was einmal geschehen ist, kann nicht rückgängig gemacht werden, ist unumkehrbar in der Welt. Zwar kann der Körper nach dem Verprügeln gege­ benenfalls geheilt, das Notebook oder sein Wert ersetzt werden, das macht die Verletzung aber nicht ungeschehen, sondern gleicht lediglich die hervorgerufenen Beeinträchtigungen aus. Auch die Missachtung als Herabsetzung im wechselseitigen Verhältnis in seinen verschiedenen Ausformungen ist fortdauernd wirklich, besonders deutlich wird dies für die unmittelbar persönliche Ebene in den Ausgangsbeispielen (1) und (3) der verprügelten Ehefrau bzw. des vernachlässigten Kindes, deren Persönlichkeit und deren Verhältnis zu ihrem bzw. seinen Peinigern durch die anhaltende Demütigung und Nichtachtung tief greifend geprägt ist. Ausgedrückt wird dies auch im Begriff der „stummen Gewalt“ von Emcke. Im Hinblick auf die spezifische Verletzung des Rechts lässt sich mit Wolff davon sprechen, dass der nach der Verletzung bestehende, gegenwärtige Friedenszustand vermindert ist.450 Diese wirkliche, anhaltende Gestaltung der gemeinsamen Welt, die ja auch mit der Behauptung richtigen Verhaltens durch den Täter, also einem Geltungsanspruch seines Verhaltens, verbunden ist, verweist auf die Notwendigkeit der Bewältigung krimineller Verletzungen, wie sie nun im IV. Kapitel erläutert werden wird.

449 Vgl. hierzu Carolin Emcke, die die Verwobenheit der persönlichen und der politischen Dimension im Mord an Alfred Herrhausen klar analysiert, Stumme Gewalt, S. 16 f.; sehr eindrücklich zeigt zudem der Dokumentarfilm „Black Box BRD“ von Andres Veiel, Deutschland 2001, die persönlichen Ebenen des gesellschaftlichen Konflikts des „Deutschen Herbstes“ auf. Vgl. auch die Entscheidung des BVerfG (E 46, 160 ff.) zur Schutzpflicht des Staates gegenüber Hanns Martin Schleyer, der am 5. September 1977 von der RAF entführt worden war. Sein Sohn hatte in seinem Namen einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung unter anderem gegen die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland gestellt, wonach diese den Forderungen der Entführer stattzugeben habe, um das Leben Schleyers zu retten. Allein in diesem Antrag wird die persönliche Dimension der Tat deutlich. Das BVerfG lehnte im Übrigen eine solchermaßen konkretisierte Schutzpflicht ab, da der Staat eine Schutzpflicht nicht nur gegenüber dem Einzelnen, sondern gegenüber der Gesamtheit aller Bürger habe und sein Handeln für Terroristen nicht berechenbar werden dürfe (BVerfGE 46, 160 (165)). Auch in dieser Hinsicht musste Hanns Martin Schleyer letztlich mit seinem Leben für etwas Übergreifendes einstehen, er wurde am 18. Oktober 1977 von der RAF ermordet. 450 Vgl. Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (788, Fn. 4); vgl. auch Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Rphil, § 97 „Die geschehene Verletzung des Rechts als Rechts ist zwar eine positive, äußerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist.“

3. Zusammenfassung

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3. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine Straftat eine einzigartige komplexe Ganzheit ist, mit der ein konkreter Mensch (der Täter) einen anderen Menschen (das Opfer) zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort in existentiell-missachtender Weise trotz eines rechtlichen und rechtlich strafbewehrten Verbots verletzt. Diese Missachtung ist eine Gestaltung des Lebens des Opfers, der gemeinsamen Welt und des Lebens der Täterin durch diese, in der sie sich dem Opfer gegenüber und gegenüber dem Recht als Ausformung eines gemeinschaftlichen Anerkennungsgeflechts eine übergeordnete Position des Vorrangs der eigenen Richtigkeitsauffassung anmaßt. Hinsichtlich Strafe und TOA als Formen der Bewältigung der Straftat lassen sich zwei Ebenen oder Dimensionen Tat unterscheiden: die unmittelbar-persönliche rechtlich umhegte Ebene der Missachtung des Opfers und die Ebene der Missachtung des Opfers als Rechtsperson und des Rechts als spezifische Verletzung des Rechts. Die erstgenannte Ebene kann als Konflikt, die zweitgenannte Ebene durchaus als Ebene der spezifischen Rechtsverletzung gefasst werden, dies darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass auch die Konfliktebene rechtlich überformt ist: Auf dieser Ebene ist das Opfer ebenso rechtlich geschützte und zu achtende Person wie auf der unmittelbar rechtlichen Ebene, allerdings kann auf dieser Ebene die Tat nicht unmittelbar mit rechtlichen Mitteln bewältigt werden. Die Straftat ist unumkehrbar wirklich, das heißt der Geltungsanspruch der Missachtung dauert fort. Dies verweist auf die Bewältigung der Tat im Zusammenleben von Täter und Opfer als gleichgeordnete Selbstständige innerhalb der Rechtsgemeinschaft, also die Wiederherstellung der Verhältnisse wechselseitiger Achtung auf allen Ebenen der Tat, und zwar trotz und mit der Tat.

IV. Kapitel

Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich als Formen der Bewältigung von Straftaten 1. Bewältigung von Straftaten als unumkehrbar Geschehenes damit es anders anfängt zwischen uns allen Hilde Domin451

a) Wiedergutmachung der Tat? Wenn die Bewältigung von Straftaten näher charakterisiert wird, wird insbesondere für den Schadensersatz und den TOA, aber auch für die Tatbewältigung überhaupt von (materieller, ideeller und symbolischer) Wiedergutmachung gesprochen, dies hat sich als Oberbegriff eingebürgert, ohne dass es besonderer Erläuterungen bedarf.452 Der Alternativentwurf eines Gesetzes zur Integration unmittelbar-persönlicher Tatfolgen in das kriminalrechtliche Sanktionensystem trägt den Titel „Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung (AE-WGM)“453. Auch im Gesetzestext wird in § 46a StGB im Zusammenhang mit dem TOA der Begriff des Wiedergutmachens der Tat verwendet. Teils wird die Wiedergutmachung von der Strafe abgegrenzt, mit der dem Täter die Verantwortung für die Tat durch den Staat auferlegt werde, während die Wiedergutmachung die Folgen der Tat betreffe.454

451

Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, 11. Aufl., Frankfurt a. M. 2006, S. 329. Vgl. nur und zumeist schon im Titel der Untersuchung: Detlev Frehsee, Schadenswiedergutmachung als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle, zudem u. a. S. 8 f.; Christian Laue, Symbolische Wiedergutmachung, zudem u. a. S. 45; Dirk Hertle, Schadenswiedergutmachung als opfernahe Sanktionsstrategie, zudem u. a. S. 6; Kurt Seelmann, Strafzwecke und Wiedergutmachung, ZfevEth 25 (1981), S. 44 (53, 55); Susanne Walther, Realkonflikt, im Untertitel „Grundlagen und Grundzüge einer Wiedergutmachung und Strafe verbindenden …“ und insb. S. 281 ff.; Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, zugunsten des Opfers im Lichte strafrechtlicher Trennungsdogmatik, zudem insb. S. 51; Katja Buttig, Die Wiedergutmachung der Folgen einer Straftat, zudem insb. S. 21 ff. 453 Jürgen Baumann u. a. (Arbeitskreis deutscher, schweizerischer und österreichischer Strafrechtslehrer), Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung (AE-WGM), München 1992. 454 Vgl. Jürgen Baumann u. a., AE-WGM, §§ 1, 2; Begründung S. 24; Thomas Weigend, Müller-Dietz-FS, 2001, S. 975 (977, Fn. 13); Katja Buttig, Die Wiedergutmachung der Folgen einer Straftat, 2006, S. 21 ff. 452

1. Bewältigung von Straftaten als unumkehrbar Geschehenes 

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Eine Straftat kann aber, wie andere Verletzungen auch, nicht im Wortsinne wieder-gut-gemacht werden.455 Denn, wie eben abschließend unter III. erläutert,456 sind Straftaten unumkehrbar wirklich in der Welt, die Täterin hat eine konkrete Situation im Verhältnis zum Opfer gestaltet, ohne dass dies rückgängig gemacht werden könnte. Auch eine Unterscheidung zwischen Strafe und der Bewältigung der Folgen der Tat als Wiedergutmachung ist nicht sinnvoll, weil die Tatbewältigung unabhängig davon, welche Dimension der Tat sie betrifft, eine Bewältigung der Tat nach der Tat ist, sich insofern auf deren Fortwirkungen bezieht. Sicher ist allen, die den Begriff der Wiedergutmachung verwenden, ganz selbstverständlich bewusst, dass die Straftat unumkehrbar geschehen ist.457 Allerdings tendiert die Rede von der Wiedergutmachung dazu, die Tatsache der Unumkehrbarkeit von Geschehenem und damit auch die Verantwortung des Täters zu über­ decken, sie erweckt den Eindruck, als sei dann „alles gut“ wie vor der Tat. Das kann zum Beispiel dazu führen, dass bei einem Ausgleich des Schadens gar nicht mehr mitgedacht wird, dass das Opfer gar nicht genau so, wie ohne den erlittenen Schaden gestellt werden kann. Im „Wieder-gut-Machen“ schwingt zwar durchaus der Verweis auf ein auszugleichendes Ereignis mit, da ja etwas wieder gut zu machen ist, also gegenwärtig nicht gut sein kann und einmal gut gewesen sein muss. Allerdings ist der Begriff der Tatbewältigung angemessener, da er ausdrücklich auf die Tat verweist und das Wort Bewältigung nicht im Sinne eines einfachen „Es ist wieder gut“ verstanden werden kann. b) Tatbewältigung und das Paradox der Selbstständigkeit Die Rede von der Tatbewältigung verweist auf die Zukunft nach der Tat im Umgang mit der Tat.458 Dabei zeigt sich ein Paradox der Selbstständigkeit:459 Einerseits bedeutet Selbstständigkeit, sich für ein verletzendes Verhalten entscheiden zu können und diesen Entschluss umzusetzen, also Verantwortung für die Tat. Diese Verantwortung kann der Täter auch nicht einfach als Aspekt seines Lebens neben vielen anderen hinter sich lassen, weil er ohnehin in jedem Augenblick in einer neuen Situation ist und sich neu entscheiden kann. Denn die Tat prägt seine Lebensgeschichte so wie die des Opfers und das Verhältnis zu ihm fortdauernd, er hat damit die gemeinsame Welt über den Augenblick hinaus gestaltet, die Ganz 455 Die folgenden Überlegungen gehen zurück auf eine Anregung Thomas Rentschs in seinem Oberseminar am 3. Juli 2009 in Dresden, in dem ich mein Dissertationsprojekt vorgestellt habe (anhand meines Fazits dazu, S. 4). 456 Vgl. im III. Kapitel unter 2. b) ee). 457 So ausdrücklich Dirk Hertle, Schadenswiedergutmachung, S. 6. 458 Auch hier sei noch einmal verwiesen auf Klaus-Michael Kodalle, Wendezeiten, S.  57: „Versöhnung macht es möglich, mit der Schuld trotz der Schuld zu leben.“ 459 Vgl. zu verschiedenen Paradoxa des Verzeihens Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung des Unverzeihlichen?, S. 414 ff.; zu den Paradoxa der Autonomie vgl. auch Thomas Khurana u. a. (Hrsg.), Paradoxien der Autonomie, 2011.

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

heit seines Lebens mitgeformt. Würde der Täter sich andererseits die Schuld für die Dauer seines Lebens nachtragen oder würde sie ihm durch die Mitmenschen dauer­haft nachgetragen, würde er in seiner Identität auf das festgelegt werden, was er zum Zeitpunkt der Tat war, die Person wäre nicht mehr „als das Unrecht, das sie beging“,460 die Tat würde sie bis ans „Lebensende im wahrsten Sinne des Wortes verfolgen“.461 Ihm würde also der der Selbstständigkeit eigentümliche Neu­beginn nicht zugestanden.462 Die Praxisformen der Tatbewältigung, die sich auf die Verantwortung des Täters beziehen, gehen genau mit diesem Paradox um. Sie können dabei in das eine oder andere Extrem ausschlagen, indem sie den Täter entweder auf seine Schuld festlegen, wie bei der Todesstrafe, oder über seine Schuld hinwegsehen, ohne diese angemessenen zu würdigen, wie das bei einem Absehen von der Strafverfolgung der Fall sein kann oder bei einem Verständnis des Begriffs „Wiedergutmachung“ als Rückgängigmachen. Sie können aber auch die Gegensätze des Paradoxes der Selbstständigkeit vermitteln, indem die Schuld des Täters festgestellt und im Erinnern bewahrt wird, ihm aber zugleich die Möglichkeit des Neubeginns, der Änderung seiner Person zugestanden wird.463 Dieses Verständnis wird den beiden Seiten der Selbstständigkeit als Verantwortung für die eigenen Entscheidungen und als Anforderung des ständigen Neubeginnens im Rahmen der vorgängigen Praxis gerecht und entspricht so einem angemessenen Verständnis unserer Existenz als Selbstständige. Die Fehlbarkeit wird trotz ihrer alltäglichen Realität in der praktischen Philosophie häufig gegenüber den Erläuterungen zur Bestimmung des Guten oder Richtigen vernachlässigt, sie eher nur als Grund dafür genommen, dass überhaupt erörterungsbedürftig ist, wie sich das Gute bestimmen lässt. Hinsichtlich der Bewältigung von falschem Verhalten wird allenfalls die Strafe als Sanktion fehlerhaften Verhaltens erörtert. Die Bewältigung von Fehlern oder verletzendem Verhalten sollte aber ein ebenso fundamentaler Aspekt des Nachdenkens über die Selbstständigkeit oder Freiheit sein, wie die Bestimmung des richtigen Verhaltens oder des Guten, und zwar auch jenseits des Strafens, z. B. in der Form des Verzeihens.464 Denn sie ist von wesentlicher Bedeutung für die Moralität, da die Fehl 460

Vgl. Hannah Arendt, Vita activa, S. 311. Hannah Arendt, Vita activa, S. 302. 462 Vgl. zum Ganzen Hannah Arendt, Vita activa, S. 301 ff. insb. 302, 306, 307, 310 f.; vgl. auch Traugott Koch, Strafe und Schuld, S. 77; Paul Ricœur, Rätsel der Vergangenheit, S. 134, 144 f. zum „bewahrenden Vergessen“ und „schweren Verzeihen“, das paradoxerweise die Erinnerung notwendig macht, um der Schuld das „Lähmende“, den Täter auf alle Zukunft Fest­ legende zu nehmen; Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung des Unverzeihlichen?, S. 419, 436. 463 Vgl. Paul Ricœur, Rätsel der Vergangenheit, S. 134, 144 f. zum „bewahrenden Vergessen“ und „schweren Verzeihen“; vgl. zum „Akt des Verzeihens“ als „neuen Anfang“ Hannah Arendt, Vita activa, S. 307. 464 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen, S. 22 f., 31; ders., Grundbegriff, S. 107, 108, 116 ff. (ebenso ders., „Geist der Verzeihung“ (2), S.  289 ff.); ders., „Geist der Verzeihung“ (1), S.  624; ders., Verzeihung des Unverzeihlichen?, S.  414 f., 421, 437 f.; Hannah Arendt, Vita ­activa, S.  301  – das Verzeihen als „Gegenmittel der Unwiderruflichkeit des Handelns“ und S.  306. Dieter Rössner geht immerhin davon aus, dass die „Wiedergutmachungsidee“ 461

2. Kommunikative Interexistentiale und ursprüngliche Praxisformen

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barkeit eine sich immer wieder realisierende und nicht tilgbare Modalität unserer selbstständigen Existenz als Grundzug unserer Welt ist.465 Die Rede von der Tatbewältigung ist nur vernünftig zu verstehen, wenn sie sich auf die Vermittlung des Paradoxes der Selbstständigkeit bezieht. Hier wird noch einmal deutlich, warum das Wort Tat-Bewältigung angemessener als das Wort Wiedergutmachung das Gemeinte ausdrückt, denn jenes verweist ausdrücklich auf die nicht rückgängig zu machende Tat und auf die Bewältigung derselben in die Zukunft hinein. 2. Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich als kommunikative Interexistentiale und ursprüngliche Praxisformen sowie Methode der Analyse 2. Kommunikative Interexistentiale und ursprüngliche Praxisformen

a) Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich als kommunikative Interexistentiale Ebenso wie Recht, Straftat und alle anderen Phänomene unserer Lebenswelt sind auch Strafe und TOA als Formen der Bewältigung von Straftaten kommunikative Interexistentiale, also sprachlich getragene Sinngestalten, die im Miteinander entstehen.466 Sinngetragen sind sie auch, wenn sie sich auf faktisch Vorfindliches, wie das Erleiden eines Übels467 oder den materiellen Ausgleich eines Schadens, beziehen. Strafe und TOA können dementsprechend nicht als bloße Verschiebung von Gegenständen oder die Zufügung von Leiden oder das Sprechen als Austausch von Lauten im Sinne einer reinen oder bloßen Faktizität reduziert werden.468 Diese Bewältigungsformen von Straftaten haben als praktische Gestalten im engeren Sinne immer auch einen spezifischen Sinn im menschlichen Miteinander: Sie sind sinngetragenes Verhalten von Menschen gegenüber anderen Menschen, mit denen diese als Menschen im Miteinander auf eine bestimmte Weise eingeordnet werden, sie sind Ausdruck eines menschlichen praktischen Sinnentwurfs, der sich unmittelbar auf andere Menschen bezieht, das Miteinander gestaltet und ihnen dabei eine bestimmte Bedeutung zumisst. Strafe und TOA machen nur so unsere Wirklichkeit, unsere gemeinsame Welt mit aus.

ein „elemen­tar-anthropologisches Prinzip“ ist, dass auf der „allgemein menschlichen Erfahrung beruht, dass keiner ohne Verletzung von Interessen anderer oder der Gemeinschaft zu leben vermag“ (Grundlagen AE-WGM, S. 341). Er nimmt damit zutreffend auf die Fehlbarkeit und Fragilität unserer Existenz Bezug, ohne allerdings das Paradox der Selbstständigkeit zu pointieren. 465 Vgl. hierzu Thomas Rentsch, Konstitution, und im II. Kapitel unter 2. c) ii) (3). 466 Vgl. zu den kommunikativen Interexistentialen im II. Kapitel unter 2. c) cc) und dd). 467 Der Begriff der Strafe wird allerdings häufig auf die Zufügung eines Übels verkürzt, vgl. etwa Susanne Walther, Realkonflikt, S. 289; Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S. 222; Dieter Rössner, Grundlagen AE-WGM, S. 342; ders., Wiedergutmachen, S. 17 f. 468 Vgl. ausführlich im II. Kapitel unter 2. c) cc).

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

b) Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich als ursprüngliche Praxisformen Im Folgenden soll der vernünftige Sinn der Interexistentiale der Bewältigung von Straftaten und der konkreten Bewältigungsformen der Strafe und des TOA als Versöhnung erläutert werden. Ihr vernünftiger Sinn ist immer schon in unsere konkrete reflektierte Praxis eingebettet – wir kennen die Strafe und den TOA wie den Grundsatz, dass Verletzungen im Miteinander nicht unbewältigt bleiben dürfen, aus unserer Praxis, wir wachsen in deren Sinnbedeutungen und deren kritische Reflexion hinein, zum Beispiel im Erleben des „Fernsehverbots“ als Sanktion in der Kindheit bis zur Diskussion über ein konkretes Strafurteil unter Freunden und Kolleginnen oder im Rahmen eines rechtswissenschaftlichen Studiums oder dem Verfolgen einer politischen Debatte darüber in den Medien.469 Strafe und TOA sind so ursprüngliche Formen unserer Praxis. Ihr vernünftiger Sinn kann nur anhand (am Beispiel) der konkreten Praxis­ formen, einschließlich der Debatten um ihren Sinn, und innerhalb unserer Praxis, die die kritische Sinnreflexion immer schon mit enthält, entfaltet werden.470 Das heißt, dass er nicht als ein Ideal der Vernunft aus dem gedachten (insofern abstrakten) Miteinander von vernünftigen und selbstbestimmten Ichs als Maßstab unserer Praxis abgeleitet werden kann. Es lässt sich so nicht sinnvoll sagen, dass Strafe als vernünftige Reaktion auf eine schwere Verletzung eines Menschen an einem anderen Menschen notwendig ist, weil vernünftige, einander gleichgeordnete Wesen sich ihr Zusammenleben nur so in jedem einzelnen Verletzungsfall vorstellen können. Darauf deutet aber etwa folgende Formulierung Ernst Amadeus Wolffs hin, mit der er beschreibt wie die selbstbewussten Einzelnen im Verhältnis wechselseitiger Anerkennung für den Fall des Verbrechens „folgende ausgleichende und stützende allgemeine Bestimmung treffen: Sie werden […] vorsehen, ihm [dem Täter] seinen gemeinschaftlich konstituierten Freiheits- oder Gleichheitsstand zu mindern, […]“.471 Diese Formulierung deutet auf einen Raum hin, in dem die selbstbewussten Einzelnen die Strafe als Praxisform erst schaffen und vernunftgemäß aus ihrer Konstitution ableiten oder sie doch zumindest in einem gedachten idealen Raum abstrakt von ihrer Lebenswelt rechtfertigen können. Strafe wäre dann konsequent als überzeitliche, transkulturelle und ideale Vernunftgestalt selbstbewusster Wesen als ausschließliche oder zumindest zwingend notwendige Reaktion auf strafwürdiges Unrecht in Anerkennungsverhältnissen begründet. Wir kennen die Strafe aber nicht aus einer idealen Welt, sondern aus unserer Praxis als Sanktion auf schwere Verletzungen und reflektieren diese kritisch. Es lässt sich also nur sinnvoll sagen, dass Strafe als Reaktion auf eine schwere Verletzung zwischen Menschen sinnvoll ist, weil sie das Opfer wie den Täter als selbstständige und gleichgeordnete Wesen nach einer Verletzung achtet und das Gleichordnungs­verhältnis 469

Darauf weist auch Dieter Rössner, Grundlagen AE-WGM, S. 341, hin. Vgl. zur Methode der Interexistentialanalyse im I. Kapitel unter 3. c). 471 Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (820, Hervorhebung von mir).

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2. Kommunikative Interexistentiale und ursprüngliche Praxisformen

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zwischen beiden zumindest auf gewisse Weise auf der rechtlichen Ebene wiederherstellt. Es lässt sich zudem sagen, dass gestraft werden soll, weil wir so gleichgeordnete Verhältnisse nach einer Straftat wiederherstellen können und nur dies einem angemessenen Miteinander entspricht. Das ist dann aber kein aus einer übergeordneten Vernunft oder in einem gedachten idealen Raum hergeleitetes oder darauf gegründetes Prinzip, sondern eine Argumentation innerhalb unserer Praxis, die auf die Grundzüge unserer Existenz im Miteinander reflektiert.472 Eine solche Argumentation schließt nicht aus, dass es andere vernünftige Bewältigungsformen für Straftaten gibt und dass das Strafen eine historisch-kulturell gebundene, also situierte Gestalt ist, die im menschlichen Miteinander vielleicht, so wie wir sie heute ver­stehen, einmal entbehrlich wird. Sehr verbreitet ist wahrscheinlich die Vorstellung, dass es das Strafen schon immer in irgendeiner Form „als Reaktion auf Übeltaten“473 gegeben habe, wenn sich die Strafen auch in ihren konkreten Ausformungen, wie der Kreuzigung, dem Martern474 oder der Freiheitsstrafe, gewandelt hat. Auch wenn es in jeder mensch­ lichen Ordnung sanktionierende Reaktionen auf Störungen derselben gegeben hat, dürften diese Strafen oder Reaktionen in den verschiedenen Zeitaltern und Kulturen einen unterschiedlichen Sinn gehabt haben, der sich aus dem Selbstverständnis der jeweiligen Ordnung ergab und von unserem heutigen Selbst- und Strafverständnis grundlegend verschieden ist.475 Deshalb wird beispielsweise von Viktor Achter vertreten, dass es in Westeuropa bis etwa zum Hochmittelalter keine Strafe gab. Die vorherigen Übelreaktionen oder Reaktionen auf Verstöße gegen die Ordnung seien von der heutigen Strafe wesensmäßig verschieden. Zwar habe es „Pönformeln“ in südfranzösischen Urkunden des 11.  und 12.  Jh. gegeben, in denen zum  Beispiel festgehalten war, dass bei einem Zuwiderhandeln gegen die beurkundete Einigung den Zuwiderhandelnden der Zorn Gottes treffen oder er am Tage des Jüngsten Gerichts nicht erlöst werden soll usw. Diese könnten jedoch nicht als Strafe verstanden werden. Denn sie stellten keine Missbilligung von Tat und Täter dar, sondern ein „objektives Heilmittel“ zur Wiederherstellung der durch die Zuwiderhandlung gestörten (göttlichen) Ordnung. Recht sei die Gesamtheit aller Lebensbeziehungen gewesen, in die jeder Mensch ganz selbstverständlich eingebettet war; es war damit zugleich göttliche Ordnung. Mit der Pön sei so ein „Opfer“ zur Wiederherstellung der „besudelten Ordnung“ in einem Akt der Magie erbracht worden.476 Von einem Verständnis der Strafe als Reaktion einer menschlichen Ge 472

Zur Kritik der Methode der Letztbegründung ausführlich im I. Kapitel unter 3. b) dd). So etwa Eberhard Schmidhäuser, Strafe, S. 7, und auch Günther Jakobs, Strafrecht AT, 1. Abschn. Rn. 2. 474 Vgl. zum Beispiel die Schilderungen bei Eberhard Schmidhäuser, Strafe, S.  8 ff., oder bei Michel Focault, Überwachen, S. 9 ff. zur Hinrichtung des „Königsmörders“ Damiens am 17. März 1857 in Paris. 475 Dies lässt sich schon an einem Überblick über die vor allem philosophischen Strafbegriffe im HWbPhil, Bd. 10, Helmut Hühn u. a., Strafe, Sp. 207 ff. absehen. 476 Vgl. Viktor Achter, Geburt der Strafe, Frankfurt a. M., 1951, S. 9 f., 15 ff., 37 ff., 107 ff., 134. 473

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

meinschaft auf einen Rechtsbruch durch einen Menschen gegenüber diesem ist das so grundlegend verschieden, dass sich bis auf die recht grobe Bestimmung der Reaktion auf eine Störung mit einer zwangsweise durchgesetzten Einbuße (die im Übrigen zudem auf den heutigen mit staatlicher Hilfe durchgesetzten Schadensersatz passen würde) keine Deckungsgleichheit der Strafbegriffe herstellen lässt. Auch ein heutiger vernunftgemäßer Strafbegriff kann also nicht als überzeitlich gültige Gestalt gedacht werden. Er entspricht vielmehr, wie zu zeigen sein wird, einem vernünftigen Verständnis der Praxisform Strafe in unserer heutigen Gesellschaft als rechtlich verfasstes Gemeinwesen selbstständiger und voneinander abhängiger Menschen. Auch am TOA als sehr junger Form der Tatbewältigung477 wird deutlich, dass sich die Formen unserer Praxis, innerhalb unserer Praxis an normativen Kriterien orientiert faktisch wandeln und fortentwickeln, auch so, dass neue Formen entstehen. Im TOA verweben sich das Anliegen der Restitutionsbewegung, den persönlichen Konflikt zwischen Tatopfer und Täter zu lösen und dabei gerade auch das Tatopfer in den Prozess der Tatbewältigung einbinden zu können, ausdifferenzierte Erfahrungen und das Wissen um Versöhnung als gemeinsame Gestalt unserer Praxis zur persönlichen Bewältigung von Konflikten. Der TOA kann so als eine konkrete Ausformung der Versöhnung in der Bewältigung von Straftaten betrachtet werden.478 Auch die Versöhnung ist in ihren übergreifenden Grundzügen und konkreten Ausformungen eine ursprüngliche Form unserer Praxis, die sich innerhalb des praktischen Miteinanders immer wieder formt und wandelt. Weder der TOA noch die Versöhnung sind so als vernunftgemäßes Ideal aus den Grundzügen unserer Welt ableitbar. Sie dürfen umgekehrt aber auch nicht biologistisch verkürzt werden, wie dies Dieter Rössner tut, wenn er vermutet, dass „Verhaltensweisen der Versöhnung zum biologischen Programm der Menschen gehören“, weil sich in empirischen Forschungen gezeigt hat, dass es in Schimpansengruppen Versöhnungsgesten nach Aggressionen gibt.479 Zwar dürfte Versöhnung leibliche, genauer emotionale Aspekte aufweisen, sie lässt sich aber nicht darauf reduzieren.480 Denn sie ist immer auch eine Form unserer gemeinsamen Praxis als selbstständige Existenzen, deren Sinn wesentlich auch aus den eigenständigen Sinngebungen durch uns als Selbstständige resultiert.

477 Er wird in der Bundesrepublik Deutschland seit Mitte der 1980er Jahre praktiziert, vgl. in diesem Kapitel unter 4. a) aa). 478 Zum Verhältnis der Interexistentiale TOA und Versöhnung näher in diesem Kapitel unter 4. b). 479 Dieter Rössner, TOA-Begleitforschung, S.  13; vgl. auch ders., Grundlagen AE-WGM, S. 341. 480 Wobei auch Gefühle kein „biologisches Programm“ darstellen und zudem gefragt werden müsste, ob die Schimpansen lediglich einem solchen folgen.

3. Vernünftiger Sinn von Strafe

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c) Methode der Analyse Das Verständnis von Strafe und TOA als ursprüngliche Praxisformen bedingt, dass diese nicht aus von der konkreten Praxis abstrakten Prämissen abgeleitet oder auf deren Basis letztbegründet werden können. Strafe und TOA sind innerhalb unserer Praxis zu verstehen und zu kritisieren. Die kritisch-philosophische Analyse von Strafe und TOA hat deshalb folgende Elemente: Beide sind als Formen unserer konkreten Praxis zu beschreiben. Zu dieser Beschreibung gehören auch die normativen Elemente der Sinndeutung und Sinnkritik, wie sie vor allem wissenschaftlich entfaltet werden. Mit diesen Sinndeutungen hat dann eine Auseinandersetzung im Rückgriff auf die Grundzüge unserer Existenz zu erfolgen, es ist beispielsweise die Frage zu untersuchen, ob die Sinndeutungen der Strafe unserem angemessenen Selbstverständnis als selbstständige und voneinander abhängige Subjekte entsprechen oder wie ein angemessenes Strafverständnis dem entsprechen kann.481 3. Vernünftiger Sinn von Strafe In diesem Abschnitt wird der Sinn des kommunikativen Interexistentials des Strafens als eine Form der Bewältigung krimineller Verletzungen, so wie wir es heute praktizieren und verstehen, analysiert. Hierzu werden die Praxis des Strafens in groben Zügen beschrieben und paradigmatisch gebündelt die grundlegenden Theorieströmungen zum Begriff oder Sinn des Strafens vorgestellt. Diese werden auf ihre Tragfähigkeit im Hinblick auf die Grundzüge unserer Lebenswelt kritisiert. Anhand dessen kann abschließend der Begriff des Strafens, wesentlich auf den – kritisch hinterfragten – Strafbegriffen Michael Köhlers und Ernst Amadeus Wolffs beruhend, reformuliert werden. a) Strafe in der Rechtspraxis Die Strafe ist in der deutschen Rechtspraxis aufgrund der Strafgesetze die für tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft begangene Straftaten grundsätzlich vorgesehene Sanktion. Nach dem deutschen Recht können drei Formen der Strafe verhangen werden: Freiheitsstrafe, lebenslang oder kurz, d. h. von einem Monat bis zu 15 Jahren, (§ 38 f. StGB); Geldstrafe (§§ 40 ff. StGB) sowie das Fahrverbot als Nebenstrafe, das eine Verurteilung zu einer Freiheits- oder Geldstrafe voraussetzt (§ 44 StGB). Außerdem tritt in gem. § 45 StGB bestimmten Fällen der Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts ein. Die Bemessung der Strafe richtet sich nach den §§ 46 ff. StGB. Gem. § 46 I StGB ist die Schuld des Täters Grundlage für die Zumessung der Strafe, wobei die Wirkungen der Strafe für 481

Vgl. zur Methode der Interexistentialanalyse im I. Kapitel 3. c).

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

das zukünftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu berücksichtigen sind. Gem. § 46 II StGB sind dabei verschiedene Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander abzuwägen. Dazu gehören unter anderem die Beweggründe und Ziele des Täters, die verschuldeten Auswirkungen der Tat und das Verhalten nach der Tat, insbesondere Wiedergutmachungs- und Ausgleichsbemühungen des Täters. Die konkrete Strafe wird in einem förmlichen Gerichtsverfahren (als Anklageschrift mit Hauptverfahren oder Strafbefehlsverfahren, geregelt in der StPO), an dem der Täter als Angeschuldigter oder Angeklagter beteiligt ist, ausgesprochen. Die Geldstrafe wird anschließend beigetrieben (§§ 459 ff. StPO), die Freiheitsstrafe in Justizvollzugsanstalten („Gefängnissen“) nach dem StVollzG vollstreckt. Ziel des Vollzugs der Freiheitsstrafe ist, die Gefangene zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu vollführen; er soll auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten dienen (§ 1 StVollzG). Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Vollstreckung der Strafe oder eines Strafrestes zur Bewährung ausgesetzt werden, etwa wenn zu einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr verurteilt wurde und zu erwarten ist, „dass der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird“ (§ 56 I 1 StGB, vgl. insgesamt §§ 56 ff. StGB). Auch eine Verwarnung mit Strafvorbehalt und das Absehen von Strafe sind möglich (§§ 59 ff. StGB). Zwar wird mitunter in Frage gestellt, ob das Strafen überhaupt sinnvoll ist, weit umstrittener ist jedoch, welchen Sinn das Strafen hat: Einige gehen davon aus, dass Strafe die Geltung der Verbotsnorm für alle bestätigen oder für alle abschreckend wirken und so zukünftige Straftaten verhindern soll (Generalprävention). Für andere soll Strafe vorbeugend auf den Täter einwirken, ihn also von der Begehung von Straftaten durch Abschreckung oder durch positive Unterstützungsmaßnahmen abhalten (Spezialprävention). Einige sehen den Sinn der Strafe darin, das begangene Unrecht auszugleichen (Vergeltung). Vor allem moderne Positionen kombinieren diese Grundgedanken, wie dies auch in § 46 StGB, der Grundnorm zur Strafzumessung, zum Ausdruck kommt: § 46 I Satz 1 StGB besagt, dass die Schuld und damit das begangene Unrecht Grundlage für die Zumessung der Strafe ist, ihm liegt also der Gedanke des Unrechts- und Schuldausgleichs zugrunde. Nach § 46 I Satz 2 StGB sind aber auch – spezialpräventiv – die Wirkungen der Strafe für das zukünftige Leben des Täters zu berücksichtigen. Entsprechend geht die in der Rechtsprechung herrschende „Spielraumtheorie“ davon aus, dass innerhalb des durch die Schuld vorgegebenen Rahmens generalpräventive und spezialpräventive Zwecke bei der Zumessung der konkreten Strafe berücksichtigt werden können. Welche Strafen wie oft und für welche Delikte verhängt werden und wie Strafen in ihren konkreten Formen auf den Täter, sein Umfeld und die Gesellschaft wirken, wird kriminologisch erschlossen.482 Dabei hängen die zu untersuchenden Parameter insbesondere für die Wirkungen der Strafe wesentlich davon ab, wel 482

Vgl. umfassend einführend Hendrik Schneider, Sanktionen, § 34 A.-C. (S. 671 ff.).

3. Vernünftiger Sinn von Strafe

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cher Sinn dem Strafen, welches Täter- und Gesellschaftsverständnis ihm zugrunde gelegt wird. Dieses ist der Dreh- und Angelpunkt für ein Verständnis der Strafe als Form menschlicher Praxis, wobei präsent zu halten ist, dass diese immer faktische und normative Elemente aufweist. Im Folgenden soll die Diskussion um den vernünftigen Sinn des Strafens näher dargestellt und kritisch analysiert werden. b) Strömungen in der wissenschaftlichen Diskussion um den Begriff der Strafe Gewöhnlich werden die zum Sinn der Strafe vertretenen und auch heute in der Diskussion noch wirksamen Theorien in drei Strömungen eingeteilt: absolute Straftheorien, relative Straftheorien und die sogenannten „Vereinigungs­theorien“, bei denen Elemente der erstgenannten Theoriebündel in einem Theoriekonstrukt vereint werden. Die Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Straftheorien wird meist auf eine Fundstelle bei Seneca zurückgeführt: „Denn, wie schon Plato sagt, straft kein Vernünftiger, weil gefehlt worden ist, sondern damit nicht gefehlt werde. Was geschehen ist, kann nämlich nicht ungeschehen gemacht werden, was noch bevorsteht, kann abgewendet werden.“483 Absolute Theorien sind also solche, die den Sinn der Strafe darin erblicken, das getane Unrecht zu vergelten, auszugleichen. Als relativ werden hingegen Straftheorien bezeichnet, die den Zweck des Strafens in der Verhinderung zukünftiger Straftaten sehen. Diese Entgegensetzung ist unglücklich, weil dies den Eindruck erweckt, dass das Strafen nach absoluten Theorien keinen auf die Zukunft gerichteten Zweck erfüllt. Der Ausgleich oder die Vergeltung begangenen Unrechts ist aber auch mit einem Zweck verbunden, da menschliches Handeln immer auf ein Ziel gerichtet ist.484 Bei einer Theorie der Wiedervergeltung liegt in der Bereinigung des geschehenen Rechtsbruchs so häufig zugleich die Wiederherstellung des Friedenszustandes für die Zukunft. Umgekehrt kann die Zweckgerichtetheit allein präventive Theorien nicht in Frage stellen, denn die Erreichung eines Zwecks kann vernünftig oder auch sinnvoll sein. Festgehalten werden aber kann, dass die sogenannten absoluten Theorien tatsächlich „zurückblicken“, insofern es ihnen um die Vergeltung gesche 483 „Nam, ut Plato ait, nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur. Revocari enim praeterita non possunt, futura prohibentur.“ Seneca, De ira, zitiert nach Eberhard Schmidhäuser, Strafe, S. 18, zurückgehend auf Platon, Protagoras, 324a, b: „Denn niemand bestraft die, welche Unrecht getan haben, darauf seinen Sinn richtend und deshalb, weil einer eben Unrecht getan hat, außer wer sich ganz vernunftlos wie ein Tier eigentlich nur rächen will. Wer aber mit Vernunft sich vornimmt, einen zu strafen, der straft nicht um des begangenen Unrechts willen – denn er kann ja doch das Geschehene nicht ungeschehen machen – sondern des zukünftigen wegen, damit nicht auf ein andermal wieder weder derselbe noch einer der diesen bestraft gesehen hat, dasselbe Unrecht begehe.“ 484 Vgl. Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (788); Michael Köhler, Strafe, S. 9; Michael Kahlo, absolute Theorien, S. 417 f., 420; vgl. auch Eberhard Schmidhäuser, Strafrecht AT, Studienbuch, 2. Kapitel Rn. 14 (S. 17 f.), der daraus allerdings folgert, dass nur relative (präventive) Straftheorien berechtigt sind.

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

henen Unrechts geht (die aber auch in die Zukunft wirkt), während die sogenannten relativen oder präventiven Theorien das geschehene Unrecht nur zum Anlass für das Strafen nehmen, mit dem zukünftige Straftaten verhindert werden sollen. Im Folgenden sollen diese beiden Strömungen nebst einer Position zum Abschaffen des Strafens und neben für die unmittelbar-persönliche Bewältigung der Tat interessante Sühnetheorien in ihren Grundzügen anhand exemplarischer Vertreter dargestellt werden. Ziel ist es, den Rahmen abzustecken, innerhalb dessen sich das Rechtfertigen des Strafens bewegt. Eine intensivere Auseinandersetzung wird mit den Ansätzen Köhlers und Wolffs erfolgen, da meine eigene Position von ihnen nachhaltig geprägt wurde. aa) Tatorientierte (absolute) Straftheorien (1) Wiedervergeltung Das Prinzip absoluter Strafe  – die Vergeltung oder eben Talion (vom latei­ nischen talio, „Wiedervergeltung eines Körperschadens“) – kennen wir bereits aus der Bibel, aus dem 2. Buch Moses 21,23–25: „(23) Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, (24) Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, (25) Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde.“ Noch in der heutigen deutschen Diskussion werden die Wurzeln absoluten Strafdenkens unter anderem bei Immanuel Kant verortet. Kant geht davon aus, dass der Täter zu bestrafen ist, „weil er verbrochen hat“, nicht „bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst oder für die bürgerliche Gesellschaft, […] denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborne Persönlichkeit schützt […].“ „Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ […].“485 Nach Kant wird also gestraft, weil dies ein Gebot der Gerechtigkeit bei geschehenem Unrecht ist: „Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinander zu gehen, und sich in alle Welt zu zerstreuen), müsste der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; […].“486 Mit der Strafe wird bei Kant der Täter als Freier, in seiner „angebornen Persönlichkeit“ als „Zweck an sich selbst“ zur Verantwortung für das von ihm begangene Unrecht als seine Tat gezogen. Da sich die Strafe ausschließlich an dem begangenen Unrecht orientiert, kann sie nach Kant auch nur ein Maß haben: Sie 485 Immanuel Kant, MdS, Allg. Anm. E zu §§ 43–49 (A 196, B 226, im Original mit Hervorhebung). 486 Immanuel Kant, MdS, Allg. Anm. E zu §§ 43–49 (A 199, B 229).

3. Vernünftiger Sinn von Strafe

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kann nur auf dem Prinzip der Gleichheit beruhende Wiedervergeltung (ius talionis) sein. Nur so könne „die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angegeben [werden]; alle andere sind hin und her schwankend, und können, anderer sich einmischenden Rücksichten wegen, keine Angemessenheit mit dem Spruch der reinen und strengen Gerechtigkeit enthalten.“ Eine Geldstrafe beispielsweise könne eine Beleidigung nicht gerecht ausgleichen, weil sie den Armen härter träfe als den Reichen, der sich eine Beleidigung sonst „wohl einmal zur Lust erlauben“ könne.487 Nach Kant wird also gestraft, weil der Täter verbrochen hat und nicht, um zukünftige Taten zu verhindern. Diese Strafe entfaltet allerdings auch in der Zukunft ihre Wirkung, denn, wenn nicht gestraft würde, bliebe „die Blutschuld“ „auf dem Volke hafte[n], das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; […]“.488 (2) Wiedervergeltung im Wert Auch Georg Friedrich Wilhelm Hegels tatorientiertes Strafdenken bestimmt die heutige Diskussion mit. Er geht davon aus, dass das Verbrechen eine „geschehene Verletzung des Rechts als Recht“ ist, die „zwar eine positive, äußerliche Existenz [ist], die aber in sich nichtig ist“. Diese Nichtigkeit muss nach Hegel notwendig manifestiert werden.489 Dies geschieht durch das Strafen, mit dem „die positive Existenz der Verletzung […] als der besondere Wille des Verbrechers“ aufgehoben und damit das Recht wiederhergestellt wird.490 Auch für Hegel ist also das Strafen ein Gebot der Gerechtigkeit, da sonst das Verbrechen, also die Verletzung des Rechts als Recht, „gelten würde“, der rechtliche Zustand also an Geltung verlöre.491 Das Verbrechen bewirkt mit anderen Worten, dass auch der gesellschaftliche Zustand nach der Tat in seinem Status als Friedenszustand gemindert ist,492 und zwar als Gestaltung des Rechtsverhältnisses durch den Verbrecher.493 Nach dem Bisherigen wundert es nicht, dass auch für Hegel die Strafe als „Aufheben des Verbrechens“ Wiedervergeltung ist, die zugleich die rechtliche Ordnung wiederherstellt. Dabei „wird der Verbrecher als Vernünftiges geehrt“.494 Allerdings bedeutet das für Hegel nicht, dass die Strafe dem Verbrechen in einem „bestimmten, qualitativen und quantitativen Umfang“ gleich sein muss, es genügt, wenn sie ihm 487 Immanuel Kant, MdS, Allg. Anm. E zu §§ 43–49 (A 198, B 227 f.); vgl. auch ders., KpV, A 66. 488 Immanuel Kant, MdS, Allg. Anm. E zu §§ 43–49 (A 199, B 229). 489 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rphil, § 97 (im Original mit Hervorhebungen), vgl. auch § 95. 490 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rphil, § 99 (im Original mit Hervorhebungen). 491 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rphil, § 99 mit Anm. (im Original mit Hervorhebungen). 492 Vgl. Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (788 Fn. 4). 493 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rphil, § 99: „Die positive Existenz der Verletzung ist nur als der besondere Wille des Verbrechers.“ 494 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rphil, § 99 und Anm. zu § 100 (im Original mit Hervorhebung).

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

im Wert entspricht.495 Nur so ließe sich allgemeine „innere Gleichheit“ zwischen Tat und Strafe herstellen, während die äußere Gleichheit eine Absurdität sei. Denn äußere Gleichheit ließe sich durch die Strafe ohnehin nicht herstellen, da sie „ein Späteres als das Substantielle der Sache selbst“ sei. Die äußere Form des Strafens könne zudem nicht mit absoluter Gültigkeit bestimmt werden, absolut bestimmt werden könne nur die Strafe als die Aufhebung des Verbrechens. Allein hierin liege die notwendige „innere Identität“ zwischen Verbrechen und Strafe, deren wertmäßige Gleichheit. Diese wertmäßige Gleichheit zu ermitteln, Verbrechen und Strafe also vergleichbar zu machen, sei eine Sache des – endlichen – Verstandes.496 Hegel macht das konkrete Strafmaß zudem davon abhängig, wie gefährlich das verbrecherische Handeln für die Gesellschaft ist, was auch davon abhängig ist, wie stabil und gefestigt diese ist.497 Dies ändert aber nichts am Sinn des Strafens, das Verbrechen als Negation zu negieren, sondern betrifft ebenfalls nur die konkrete Strafbemessung. (3) Aspekte kritischer Analyse Der Idee der Talion ist zuzugestehen, dass sie dem Strafen mit der Beschränkung auf die Gleichheit des Ausgleichs ein Maß gibt – für das eine Auge darf auch nur ein Auge und nicht zwei genommen werden. Dennoch haftet ihr etwas Martialisches an, auf das auch der Kern der Kritik an den absoluten Theorien zielt: Wie sollte ein Übel, das Verbrechen, mit einem weiteren Übel, der Strafe, vergolten werden können? Eine vergeltende Strafe stelle nur ein weiteres Übel, das zum Übel des begangenen Unrechts hinzukomme, dar.498 Diese Kritik steckt auch in Hegels Überlegungen, wenn er die wiedervergeltende Strafe als absurd und äußerlich bezeichnet und davon ausgeht, dass man es als unvernünftig ansehen könne, ein Übel nur deshalb zu wollen, weil es schon ein anderes Übel gibt.499 Allerdings zeigt vor allem Hegel deutlich, dass es bei der Wiedervergeltung nicht nur um einen äußeren Ausgleich geht: Strafe ist eben nicht nur Äußeres, sondern hat einen Sinn – nach Hegel die Aufhebung des Verbrechens als Gebot der Gerechtigkeit,500 als notwendige Manifestation der Nichtigkeit des Verbrechens als unvernünftige Tat. 495

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rphil, § 101 (im Original mit Hervorhebungen). Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rphil, Anm.  zu § 101 (im Original mit Hervor­ hebungen). 497 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rphil, § 218. 498 Vgl. etwa Dieter Rössner, Wiedergutmachen, S. 17 f.; Arno Plack, Plädoyer, S. 93, 137 f.: Strafe als Aggression; vgl. zum Verkürzen der Strafe auf ein Übel auch Susanne Walther, Realkonflikt, S. 289; Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S. 222; Dieter Rössner, Grundlagen AEWGM, S.  342; vgl. zu einer konstruktiven Kritik und Interpretation des Kantischen Inselbeispiels im Sinne einer auf die Widerherstellung des Rechtsfriedenszustandes gerichteten Straftheorie Rainer Zaczyk, Inselbeispiel, S. 72 ff. 499 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rphil, Anm.  zu § 99 (im Original mit Hervor­ hebungen). 500 Deutlich Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rphil, Anm. zu § 99. 496

3. Vernünftiger Sinn von Strafe

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Ein weiterer von Seneca formulierter, auf Platon zurückgehender Kritikpunkt gegen die tatorientierten Wiedervergeltungstheorien wurde bereits einführend benannt: Es dürfe nicht gestraft werden, weil gefehlt worden sei, da das Geschehene nicht mehr ungeschehen gemacht werden könne, vielmehr könnten durch die Strafe nur für die Zukunft Verbrechen verhindert werden.501 Doch Denker der Wiedervergeltung orientieren sich auch auf die Zukunft, und zwar auf der Basis dessen, was die geschehene Tat als unumkehrbare aktuell im Zeitpunkt des Strafens für das Zusammenleben bedeutet. So geht Kant davon aus, dass dem Volk durch die Tat eine „Blutschuld“ anhafte, die es zu beseitigen gelte (ein Gedanke der hier im Übrigen nicht kritisiert werden soll). Hegel formuliert weit prägnanter, dass mit der Tat das Recht als Recht verletzt wurde, so dass der rechtliche Zustand an Geltung verloren hat. Mit Bezug auf die Tat ist also für ein friedliches Zusammen­ leben die Geltung des Rechts durch das Strafen wiederherzustellen. Die Orientierung auf die Tat bedeutet also nicht, dass deren Unumkehrbarkeit in Frage gestellt wird, vielmehr wird die Tat als Gestaltung des Zusammenlebens mit ihrem andauernden Geltungsanspruch hinsichtlich des gemeinsamen Rechts- und Friedenszustandes ernst genommen und im Strafen der Geltungsanspruch der Rechtsgemeinschaft gegenüber dem Täter geltend gemacht, um den gemeinsamen Rechts- und Friedenszustand wiederherzustellen. Insofern ist, wie Arthur Kaufmann schreibt, „die gerechte Strafe […] eo ipso auch die zweckmäßige Strafe“.502 Die Täterin wird von den Theorien der Wiedervergeltung im Strafen grundsätzlich zutreffend als Freie zur Verantwortung gezogen. Allerdings rechtfertigen Kant wie auch Hegel die Todesstrafe,503 womit sie verkennen, dass die Freiheit oder Selbstständigkeit eben nicht nur Verantwortung für die Tat, sondern auch die Möglichkeit, neu beginnen zu können, bedeutet.504 Hierin deutet sich auch an, dass sie die menschliche Freiheit zu absolut, als vollkommen freien Willen setzen.

501 Vgl. Seneca, De ira, zitiert nach Eberhard Schmidhäuser, Strafe, S. 18, zurückgehend auf Platon, Protagoras, 324a, b (vgl. oben bei und in Fn. 484). 502 Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 207 Fn. 421. 503 Bei Immanuel Kant folgt das aus dem Prinzip der auf Gleichheit beruhenden Wiedervergeltung: „Hat er aber gemordet, so muss er sterben (MdS, Allg. Anm. E zu §§ 43–49 (A 199/B 229, im Original mit Hervorhebung; vgl. insg. A 197/B227 ff.). Georg Wilhelm Friedrich Hegel äußert sich eher mittelbar zur Todesstrafe: Seiner Auseinandersetzung mit der die Todesstrafe ablehnenden Auffassung Cesare Beccarias lässt sich entnehmen, dass die Todesstrafe in der Handlung des Verbrechers als angemessene Reaktion angelegt sein kann (Rphil Anm. zu § 100). Dem Zusatz eines Schülers zu § 100 nach hat Hegel als Folge der Bemühungen Beccarias aber gewürdigt, dass angefangen worden sei zu unterscheiden, was ein todeswürdiges Verbrechen sei und was nicht, so dass die Todesstrafe als höchste Spitze der Strafe verdientermaßen seltener geworden sei. Sein Standpunkt ist auch hier weniger rigoros als der Kants, was sich in seine Theorie, wonach die Tat nur im Wert wiedervergolten werden muss, einfügt. 504 Zum Paradox der Selbstständigkeit vgl. in diesem Kapitel unter 1. b).

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

bb) Präventive (relative) Straftheorien Die zukunftsbezogenen Straftheorien lassen sich in grundsätzlich zwei Strömungen einteilen; die eine zielt mit den Wirkungen von Strafen auf die Bevölkerung insgesamt, also generell auf die Verhinderung von Verbrechen (Generalprävention), die andere sieht den Zweck des Strafens in der Verhinderung weiterer Verbrechen durch den schon straffällig Gewordenen (Spezialprävention). (1) Generalpräventiv Die bekannteste Grundidee generalpräventiver Theorien ist, dass die Straf­ drohung und -vollstreckung gegenüber allen abschreckend wirkt und auf diese Weise von der Begehung von Straftaten abhält (sog. negative Generalprävention). Dass Strafen jedenfalls auch abschreckend wirken können, dürfte uns allen aus eigener Erfahrung bekannt sein, und gerade bei schweren Verbrechen mögen wir auch hoffen, dass effektive Strafverfolgung abschreckend wirkt. Dass das Strafen tatsächlich abschreckend wirken kann, wird von den Theoretikern der Generalprävention aber nicht nur aufgezeigt, sondern als Zweck des Strafens überhaupt begriffen. Für Thomas Hobbes zum Beispiel ist „Strafe ein Übel, […] zu dem Zweck, den menschlichen Willen zum Gehorsam anzuhalten“, „jedes Übel, das nicht in der Absicht oder ohne die Möglichkeit zu bieten, den Täter oder – durch sein Beispiel – andere Menschen zum Gehorsam gegen die Gesetze zu bringen, zugefügt wird, ist keine Strafe“.505 Die Einzelnen haben nach Hobbes dem Staat, dem Levia­ than, das Recht auf alles eingeräumt, er darf das Recht nach seinem Gutdünken zum Schutz aller anwenden, also auch strafen.506 Die Straftat wird dabei vor allem als Gefahr für die einzelnen im Staat Zusammengeschlossenen betrachtet, die von jedem Einzelnen verursacht werden kann, von der also alle abzuhalten sind. Auch Anselm von Feuerbach geht davon aus, dass der Staat Straftaten zu verhindern habe. Das Strafen diene diesem Zweck durch die abschreckende Strafdrohung. Diese übe einen psychologischen Zwang aus, der den sinnlichen Antrieb zur Rechtsverletzung aufhebe. Die Strafdrohung müsse also so ausgestaltet und bemessen sein, dass sie den Trieb zur Begehung der konkreten Art von Verbrechen aufhebe. Die Vollstreckung der Strafe ist für von Feuerbach sekundär, sie unterstreicht lediglich den Ernst der Strafdrohung.507 Für von Feuerbach steht das Verbrechen als etwas im Vordergrund, das einen „psychologischen Entstehungsgrund“ hat, es entspringt der Lust und dem Begehrungsvermögen des Täters.508 505

Thomas Hobbes, Leviathan, 28. Kap. (S. 237 und 238, im Original mit Hervorhebung). Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, 28. Kap. (S. 237), 17. Kap. (S. 134 f.). 507 Vgl. Anselm von Feuerbach, Peinliches Recht, §§ 12 ff. 508 Vgl. Anselm von Feuerbach, Peinliches Recht, § 13.

506

3. Vernünftiger Sinn von Strafe

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Der Gefahr des Begehens von Straftaten gilt es nach von Feuerbach also zu begegnen, indem ihrer Ursache entgegengewirkt wird. (2) Spezialpräventiv Um die Begehung von Straftaten in der Zukunft zu verhindern, setzen einige direkt bei demjenigen an, der schon eine Tat begangen hat, dem Verbrecher. Franz von Liszt betrachtet das Verbrechen als Schädigung der Gesellschaft, deren Ur­ sache der Verbrecher ist. Der Verbrecher sei zu dieser Schädigung aufgrund von inneren Anlagen und Einflüssen seiner Umwelt bewegt worden. Strafe sei demnach ein Zwang, der sich aus Anlass des Verbrechens gegen den Willen des Verbrechers richte, indem sie seine Rechtgüter verletze oder vernichte, um weitere Verbrechen seinerseits zu verhindern. Durch die Strafe verhindert werden könnten zukünftige Verbrechen dieses Verbrechers, weil die Strafe psychologisch ein Gegenmotiv zur Begehung von Verbrechen erzeuge und den Verbrecher so bessern und abschrecken könne. Zudem würde er für die Zeit des Strafvollzugs unschädlich gemacht, da er von der Gesellschaft ausgeschlossen sei. „Besserung, Abschreckung, Unschädlichmachung: das sind demnach die unmittelbaren Wirkungen der Strafe.“509 Auf dieser Basis entwickelte von Liszt ein System von Verbrechergruppen, für die er jeweils bestimmte Wirkungen der Strafe als passend betrachtete, der unverbesserliche Gewohnheitstäter sei unschädlich zu machen, der besserungsbedürftige und -fähige künftige Gewohnheitsverbrecher zu bessern, der nicht besserungsbedürftige Gelegenheitsverbrecher abzuschrecken.510 Die Besserung kann dabei als Aspekt positiver Spezialprävention, Abschreckung und gesellschaftlicher Ausschluss als negative Spezialprävention bezeichnet werden. Von Liszt schloss zudem nicht aus, dass das Strafen und seine Androhung generalpräventiv wirkten, ganz besonders wirkten sie aber auf den Verbrecher selbst, als Ursache des Angriffs auf die Gesellschaft.511 Zudem sei die Schutzstrafe Vergeltungsstrafe, denn das Gleichgewicht der Rechtsordnung bestehe in deren Sicherung.512 Dennoch lässt sich wohl nicht von einer Vereinigungstheorie sprechen, denn der Kern seiner Argumentation „ist der Zweckgedanke“,513 die Sicherung des Rechts durch Einwirkung auf den Willen des Täters, aus dem eine Gefahr für die Gesellschaft erwächst.

509

Franz von Liszt, Zweckgedanke, S. 29 f. Vgl. Franz von Liszt, Zweckgedanke, S. 31 ff. 511 Vgl. Franz von Liszt, Strafrecht, S. 21. 512 Vgl. Franz von Liszt, Zweckgedanke, S. 38. 513 Franz von Liszt, Zweckgedanke, S. 37.

510

154

IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

(3) Aspekte kritischer Analyse Zwar ist für die traditionellen präventiven Theorien Strafe einfach ein Übel oder ein Zwang, allerdings ist sie das Mittel zu einem – den präventiven Theoretikern zufolge – sinnvollen Zweck, nämlich zukünftige Verbrechen zu verhindern. Damit orientieren sie sich im Strafen an einem außerhalb der Tat liegenden Sicherungszweck. Das führt dazu, dass die Strafe und das Strafmaß nicht vom Unrechts- und Schuldgehalt der Tat ausgehend bestimmt werden, sondern danach, was nötig ist, um den Täter oder andere von künftigen Taten abzuhalten. So geht etwa von Liszt davon aus, dass der unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher auf Lebenszeit oder zumindest unbestimmte Zeit einzusperren ist, unabhängig davon, wie schwer die Tat ist, die er begangen hat.514 Es wäre nach einer generalpräventiven Theorie sogar denkbar, dass eine Unschuldige als Täterin präsentiert und bestraft wird, wenn zu erwarten ist, dass zukünftig andere von ähnlichen Taten abgehalten werden. Die (vermeintliche) Täterin würde dann also benutzt, um auf den Willen anderer einzuwirken. Ein klassisches Argument gegen präventive Theorien ist dem­gemäß, dass der Täter mit einer vorbeugenden Strafe nicht als Selbstständiger behandelt wird, sondern wie ein Gegenstand des Sachenrechts als Mittel für die Zwecke anderer, deren Abschreckung oder deren Schutz vor Straftaten, benutzt werde (Instru­ mentalisierungseinwand).515 Daran trifft zu, dass die Täterin in ihrer Existenz unterbestimmt wird, wenn sie darauf reduziert wird, eine Gefahrenquelle zu sein, und zwar unabhängig davon, ob ihr die Selbstständigkeit in der Willensbildung überhaupt abgesprochen wird oder sie nur in ihrer Möglichkeit, sich für das Verbrechen zu entscheiden, wahrgenommen wird. Zwar ist die Täterin ein Mensch, der eine Gefahr für andere darstellt, indem er sich seinen sinnlichen Antrieben hingeben und frei für das Böse entscheiden kann. Sie kann sich aber als Selbstständige immer auch für das Richtige entscheiden, und zwar selbst dann, wenn sie sich schon einmal für das Falsche entschieden hat. Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt an rein präventiven Theorien ist, dass sie mit dem begangenen Verbrechen eigentlich nichts zu tun haben. Zwar mag dieses Anlass für das Strafen sein, aber grundlegender Strafzweck dieser Theorien ist, Verbrechen zu verhindern, also einer Gefahr für die Zukunft zu begegnen. Verbrechensprävention aber muss da ansetzen, wo die Gefahr besteht, dass Verbrechen begangen werden könnten. Dafür kann eine begangene Tat ein Indiz sein, muss es aber nicht. Außerdem können Verbrechen auch seitens Menschen drohen, die zuvor noch nie eines begangen haben. Indem präventive Theorien an die Gefahr zukünftiger Taten anknüpfen, können sie also das Verbrechen als kriminelle Verletzung nicht in seiner eigenen Bedeutsamkeit als aktuelle Gestaltung der 514

Vgl. Franz von Liszt, Zweckgedanke, S. 33. Vgl. Immanuel Kant, MdS, Allg. Anm. E zu §§ 43–49 (A 196, B 226); dem folgend Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (796); Wolfgang Preiser, Recht zu Strafen, S. 75; vgl. auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rphil, Anm. zu § 100; Michael Köhler, Strafe, S. 58 f., 69 ff.; Rainer Zaczyk, Inselbeispiel, S. 76 f. 515

3. Vernünftiger Sinn von Strafe

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Wirklichkeit durch den Täter erfassen. Es handelt sich demgemäß in der Sache nicht um Straftheorien, sondern um Theorien zum Recht der Verhinderung der Gefahr, dass Straftaten realisiert werden (Einwand der Gefahrverhinderung).516 cc) Abschaffung des Strafens (1) Darstellung der Theorie Konsequenter sind insofern Standpunkte, die sich gänzlich auf die Frage konzentrieren, warum jemand Täter wird und wie dies im Rahmen eines Rechts der Gefahrverhinderung im Respekt für die persönliche Entwicklung des Täters oder etwaiger Täter verhindert werden kann. Das Strafen wird dann als bloß repressive Maßnahme gänzlich abgelehnt. Zudem gibt es Konflikttheorien, die der autonomen Bewältigung der Tat durch Täter und Opfer den Vorrang vor dem Strafen einräumen und insofern auch das Strafen ablehnen oder eindämmen wollen. Die Strafe bleibt hier als subsidiäre Möglichkeit der Tatbewältigung zumindest im Hintergrund aber immer präsent, so dass diese Positionen eher das Verhältnis zwischen Strafe und unmittelbar-persönlicher Tatbewältigung betreffen und erst beim Bestimmen des Verhältnisses zwischen TOA und Strafe noch einmal aufgenommen werden.517 Einen konsequent abolitionistischen Standpunkt vertritt Arno Plack. Er geht in seinem „Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts“ davon aus, dass die Schuld als bewusster böser Wille eine Fiktion ist. Denn der Täter handele zwar spontan, aber nicht völlig frei und bewusst böse, seine kriminelle Lebensführung sei eine Spätfolge frühkindlicher Frustration und Peinigung, er sei psychisch unselbstständig. Die Schuld als bewusst böser Wille sei ein primär soziales Phänomen als Zuschreibung der Gemeinschaft zum Täter, die Gerechtigkeit des Schuldstrafrechts fiktiv.518 Die Strafe sei bloße Repression, also eine aggressive Niederdrückung des Täters durch die Gemeinschaft, mit der diese ohne schlechtes Gewissen und im Namen des Rechts ihre Aggressionen ausleben könne.519 Entsprechend möchte er das Schuldprinzip durch ein „Prinzip der sozialen Gefährlichkeit“ ersetzen. Sozial nicht duldbarem Verhalten würde mit einem Maßnahmerecht zur Verhinderung des gefährlichen Verhaltens begegnet, das insbesondere der psychischen Resozialisierung des Täters diene. Hinsichtlich der Reaktion auf solches Verhalten 516 Vgl. unter anderem Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 203 f.; Michael Köhler, Strafe, S. 69 ff.; entsprechend bezeichnet Franz von Liszt die Strafe als „zur Bekämpfung von Verbrechen bestimmte Maßregel“, Strafrecht, S. 21. 517 So etwa Dieter Rössner, Grundlagen AE-WGM, S. 353 ff.; Dieter Rössner, NStZ 1992, S. 409 (411 ff.); Jürgen Baumann u. a., AE-WGM, S. 23 ff.; vgl. auch Michael Walter, Theoretische Perspektiven, S. 69 f.; vgl. hierzu in diesem Kapitel unter 5. a) bb). 518 Vgl. Arno Plack, Plädoyer, S. 207 ff., 259 ff., 266 ff. 519 Vgl. Arno Plack, Plädoyer, S. 93 ff., 137 ff.

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

würde das Sühne- und Vergeltungsdenken durch den Grundsatz der Wiedergutmachung abgelöst, der vor allem dem zivilen Schadensausgleich dienen solle. Zur Wiedergutmachung gehören nach Plack neben dem Schadensausgleich aber auch unentgeltliche Dienste für die Allgemeinheit, Arbeitserziehung in geschlossenen Heimen und – als angemessene Ausgleichshandlung – befristete Auflagen, die den Lebensstandard des „Rechtsbrechers“ einschränken, als „symbolische Wiedergutmachung“.520 Er geht davon aus, dass für die Umsetzung seines Konzepts eines Maßnahmerechts ein mühsamer tief gehender Bewusstseinswandel innerhalb der Gesellschaft vom Schuld- und Vergeltungsdenken hin zu einem den Menschen in seiner Triebhaftigkeit akzeptierenden, Gefahren verhütenden Denken notwendig wäre. Reformen der Pädagogik zur Förderung des Auslebens triebhafter Neigungen in gemeinschaftsbildender Weise wären erforderlich, es könnten vorbeugend stationäre Behandlungen angeordnet werden, wenn sich ein Mensch als in bestimmter Weise gefährlich erweise. Dies sei ein langwieriger Prozess, dessen Ergebnisse nicht von heute auf morgen vorweggenommen werden können.521 Auch Gustav Radbruch verortet einen strafrechtsfreien Zustand der Gesellschaft eher als Utopie in einer mehr oder weniger fernen Zukunft. Er wünscht sich, „dass die Entwicklung des Strafrechts über das Strafrecht einstmals hinwegschreiten und die Verbesserung des Strafrechts nicht in ein besseres Strafrecht ausmünden wird, sondern in ein Besserungs- und Bewahrungsrecht, das besser als Strafrecht, das sowohl klüger wie menschlicher als das Strafrecht wäre.“522 (2) Aspekte kritischer Analyse Plack geht also davon aus, dass das Strafen zwecklos ist und sozialschädliches Verhalten im Rahmen eines gefahrbegegnenden Maßnahmerechts zu verhindern ist. Ihm ist zuzugestehen, dass er die Verhinderung von Straftaten analytisch klar von der Tatreaktion trennt. Entsprechend konsequent gefahrbezogen ist es, wenn Plack mit seinem Maßnahmerecht nicht nur die Personen erfassen will, die sich schon sozialschädlich verhalten haben, sondern mit den Maßnahmen zur Reform der Pädagogik auch alle die, die sich sozialschädlich verhalten können. Das sind grundsätzlich alle in der Rechtsgemeinschaft lebenden Menschen, wie sich an seinen Überlegungen zur Reform der Pädagogik zeigt. Hier zeigt sich aber auch, dass die Maßnahmen nach Plack nicht eigentlich die Reaktion auf eine begangene Straftat sind, wenn sie denn nicht verhindert werden konnte. Dies wäre nur dann ein adäquater Umgang mit Straftaten, wenn diese sich durch ein Maßnahmerecht angemessen verhindern ließen. Dagegen spricht zweierlei: Zum einen müsste auch 520

Vgl. Arno Plack, Plädoyer, S. 381 ff. Vgl. Arno Plack, Plädoyer, S. 387 ff., 395 ff. 522 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, S.  157 (§ 22 a. E., Hervorhebungen im Original); vgl. in der Tendenz auch Michael Walter, Theoretische Perspektiven, S.  63, aber auch 69 f.; zum Überblick über abolitionistische Standpunkte vgl. Detlev Frehsee, Schadenswiedergut­ machung, S. 193 ff. 521

3. Vernünftiger Sinn von Strafe

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ein besserndes Maßnahmerecht die Selbstständigkeit der der Rechtsgemeinschaft Angehörenden beachten, diese lassen sich nicht darauf reduzieren, dass sie gänzlich beherrschbare Gefahrenquellen sind. Bei einer zwangsweise durchgesetzten Therapie zum sozial gewünschten Verhalten hin, würde der „Gefährder“ gerade in seiner Fähigkeit zur selbstständigen, einsichtsgetragenen Willensbildung verkannt, diese würde ihn entweder als Person brechen523 oder wäre sinnlos. In dem von der unabdingbaren Selbstständigkeit und wechselseitigen Abhängigkeit geprägten Zusammenleben sind so zwar auch therapeutische Maßnahmen zur Förderung selbstständigen Verhaltens in Achtung der Selbstständigkeit anderer möglich und sinnvoll. Eine bessere psychosoziale Betreuung von Menschen im Hinblick auf typische Ursachen von Kriminalität als Ausdruck auch sozialer Missstände ist vermutlich sogar angezeigt. Gänzlich verhindern könnte sie Straftaten aber nicht, wenn den Einzelnen Freiräume zu ihrer Willensbildung und -betätigung, so wie es unserem vernünftigen Selbstverständnis als Selbstständige angemessen ist, eingeräumt werden. Auch wenn die Häufigkeit von Straftaten drastisch gesenkt werden könnte, würde sich die Frage, wie mit begangenen Taten umzugehen ist, also nicht erübrigen. Denn die Straftat ist eine Gestaltung der gemeinsamen Welt durch den Täter, mit der dem Opfer der Status als gleich zu achtende Person und der Rechtsgemeinschaft im Recht als Ausformung der gesellschaftlichen Verhältnisse wechselseitiger Achtung die Geltung abgesprochen wird. Dieser Zustand muss bezogen auf die begangene Tat und nicht nur bezogen auf Taten, die möglicherweise in Zukunft begangen werden, bewältigt werden, wenn das Zusammenleben friedlich und in wechselseitiger Achtung fortgesetzt werden soll. Das setzt nicht voraus, dass wir einen absolut freien bösen Willen fingieren müssen. Das Eingebunden­ sein unserer Freiheit in eine vorgängige Praxis als Selbstständigkeit bedeutet auch, dass wir in unseren Entscheidungen davon geprägt sind, wie wir in den interexistentiellen Verhältnissen aufgewachsen sind und wie sich unsere sozialen Kontakte im Erwachsenenalter gestalten. Selbstständigkeit bedeutet so auch das Eingebundensein in eine von bestimmten Kontakterfahrungen geprägte Lebensgeschichte. Dennoch sind wir selbstständig, unsere Weltgestaltungen sind unsere eigenen Weltgestaltungen, insbesondere soweit wir die Bedeutung unseres Verhaltens einschätzen können und es insofern bewusst steuern.524 Wenn also jemand einen anderen bewusst verletzt und dies im Bewusstsein des Verbotenseins dieser Verletzung tut, dann ist ihm die Tat auch als Selbstständigem zurechenbar und kann so das Strafen rechtfertigen. Dabei lässt sich die Strafe ebenso wenig wie die Straftat als bloßes Abreagieren von Aggressionen verstehen, auch wenn im Strafen als Schuldausgleich auch einem Genugtuungsinteresse des Opfers entsprochen wird. Denn Strafe ist keine verbrämte emotionsgeladene Rache, sondern eine vernünftig verstehbare und ausgestaltbare Reaktion der Rechtsgemeinschaft auf die Tat, die auch im Interesse des Opfers stattfindet. Verbrechen und Strafe dürfen also nicht 523

Vgl. auch Ernst Amadeus Wolff, Kriminalunrecht, S. 139 f. Hierzu ausführlich im II. Kapitel unter 2. c) ii) (3); detailreich dazu im strafrechtlichen Zusammenhang: Michael Köhler, Strafrecht AT, insb. S. 383 ff., 438 ff. 524

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

reduzierend psychologisiert werden, auch wenn sie von psychologischen Aspekten geprägt sind. Auch Plack scheint sich dem Gedanken der Notwendigkeit des Strafens nicht ganz verwehren zu können, denn in den von ihm benannten Formen der symbolischen Wiedergutmachung scheint ein Strafgedanke in Form des zwangsweise durchgesetzten Ausgleichs begangenen Unrechts wieder auf. Sein Anliegen, Verbrechen zu verhindern, indem Menschen in ihrer Fragilität ernstgenommen und ihnen geholfen wird zu lernen, mit Konflikten sozialadäquat umzugehen, ist dennoch berechtigt. Denn Kriminalität ist in interexistentiellen Verhältnissen auch etwas gemeinschaftlich Gewachsenes, an dem die Gesellschaft eine Mitverantwortung trägt. Dies muss zudem auch schuldbegrifflich geltend gemacht werden.525 dd) Sühnefunktion der Strafe Demgegenüber betonen Sühnetheorien wieder die Funktion der Strafe als Schuldausgleich in der Form der Sühne des Täters als eine modernere Form absoluten Strafdenkens. Sie sollen hier noch erwähnt werden, da Sühne ein Aspekt unmittelbar-persönlicher Tatbewältigung durch den Täter ist. Hauptaufgabe des Strafens ist nach Wolfgang Preiser etwa, dass sich der Rechtsbrecher durch das Auf-sich-Nehmen des Strafleidens von der „selbstverschuldeten Persönlichkeitseinbuße“ befreit. Nur durch die „sühnende[n], reinigende[n] Funktion“ der Strafe könne er den „sittlichen Makel, den er sich selbst durch seinen Rechtsbruch zu­ gezogen hat“ tilgen. Die Gemeinschaft sei verpflichtet, dies dem Täter durch Verhängung und Vollzug der Strafe zu ermöglichen.526 Sühne wird als eine sittliche Leistung des Täters verstanden, die nicht erzwungen werden kann und dem Täter eine seelische Reinigung und damit „die Lösung von seiner Schuld“ ermöglicht, indem er in der Einsicht in seine Schuld die Strafe auf sich nimmt.527 Sie sei eine „Entlastung des Gewissens, Entsühnung und Wiederherstellung des inneren Friedens“.528 Mitunter klingt an, dass die Sühne auch der „Versöhnung“ mit oder dem Wiedereingliedern in die Rechtsgemeinschaft dienen sollte, etwa wenn Arthur Kaufmann kritisiert, dass der „aus der Strafanstalt Entlassene [… heute nicht mehr] als ein Entsühnter gilt und darum auch nicht wieder als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt wird“.529 Auch Sühnetheorien sind tatorien 525

Dahingehend auch Peter Noll, Ethische Begründung, S. 14 ff.; Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 348 ff., 383 ff., 438 ff., hierzu in diesem Kapitel unter 3. b) ee) (2). 526 Wolfgang Preiser, Recht zu strafen, S. 77 f. 527 Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S.  206 f., 274; vgl. auch Wolfgang Preiser, Recht zu strafen, S. 77 f. 528 Eduard Dreher, Gerechte Strafe, S. 24. 529 Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 207; vgl. zum Gedanken der Versöhnung des Täters mit der Rechtsgemeinschaft auch Peter Noll, Die ethische Begründung der Strafe, S. 8; Rainer Zaczyk, Inselbeispiel, S. 86 und die Hegel-Interpretation von Paolo Becchi, Versöhnung, insb. S. 92 f.

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tiert, da die Strafe der Sühne des begangenen Unrechts, der verwirklichten Schuld dient. Gegen sie wird, und zwar zu Recht, vor allem eingewendet, dass Sühne als Akt eigener Einsicht des Täters nicht erzwungen werden und demgemäß nicht Hauptssinn des Strafens als rechtlich legitimierter Zwang sein kann.530 Allerdings kann festgehalten werden, dass die vergeltende Strafe Anlass für die Sühne und damit für die persönliche Bewältigung der Tat für den Täter sein kann und soll sowie zugleich spezialpräventiv dazu beiträgt, Rückfälle zu verhindern, da sie auf wirklicher Einsicht des Täters beruht.531 Demgegenüber wird bestritten, dass die vergeltende Strafe als Übelszufügung die Sühne fördert.532 Kritisch ist des Weiteren anzumerken, dass Sühnetheorien einseitig nur die persönliche Haltung des Täters nach der Tat sehen. Die Wirkungen der Tat im Verhältnis zum Opfer und teils auch zur Rechtsgemeinschaft geraten aus dem Blick.533 ee) Verschiedene Elemente vereinigende Theorien Vor allem moderne Theorien nehmen die Kritik an den eindeutig absolut oder relativ ausgerichteten Theorien so auf, dass sie versuchen, die verschiedenen diskutierten Grundgedanken des Strafens in einem Ansatz zusammenzuführen. Eine Leitidee ist, dass die Strafe in allen ihren Aspekten als Phänomen der Lebenswirklichkeit begrifflich erfasst werden soll, wobei eben alle diese Aspekte als wesentlich für den Strafbegriff und nicht als bloße Nebenwirkung betrachtet werden.534

530

Vgl. nur Peter Noll, Die ethische Begründung der Strafe, S. 8 f.; Eberhard Schmidhäuser, Strafe, S. 50 f.; Heinrich Jescheck / Thomas Weigend, Strafrecht AT, § 8 II. 2. a) (S. 67); vgl. auch Michael Köhler, Strafe, S. 52: „Der Strafinhalt […] darf allerdings in keiner Weise auf […] moralische Selbstvermittlung zielen.“ und S. 60 f., 67 ff. 531 Vgl. etwa Hans Welzel, Strafrecht, § 32 I 1a) (S. 238); Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 206 f., 274 f.; Hans-Heinrich Jescheck / Thomas Weigend, Strafrecht AT, § 8 I. 2. a) (S. 64 f.). 532 Vgl. Peter Noll, Ethische Begründung, S. 9. 533 Eine Versöhnungstheorie der Strafe könnte den Aspekt der Versöhnung mit dem Opfer neben dem der Sühne (oder Reue) als Umkehr des Täters stellen. Strafe müsste dann in erster Linie in einer autonomen Beilegung der Straftat als Konflikt zwischen Täter und Opfer verstanden werden. Einige Formulierungen von Dieter Rössner deuten darauf hin, etwa wenn er schreibt, dass es dahingestellt bleiben könne, ob die neue Sinntendenz der autonom-konfliktlösenden Wiedergutmachung einen weiteren selbstständigen Strafzweck bildet (NStZ 1992, S.  409 (412)). Allerdings wäre eine solche Theorie ebenfalls dem Einwand ausgesetzt, dass wirkliche Einsicht nicht erzwingbar ist, also keine Strafe im eigentlichen Sinne sein kann. Dementsprechend will Rössner die Wiedergutmachung als weitere Spur neben der Strafe und dieser vorrangig in das Strafrecht einführen (vgl. etwa ebenda S. 414 ff.). Es geht ihm also um eine weitere Sanktion oder Rechtsfolgenspur im Strafrecht und nicht eigentlich um eine versöhnende Funktion der Strafe selbst. Hierauf ist kritisch bei den Überlegungen zur rechtlichen Umhegung des TOA und bei der Bestimmung des Verhältnisses von Strafe und TOA einzugehen (in diesem Kapitel unter 4. d) gg) und unter 5. a)). 534 Vgl. z. B. Robert von Hippel, Deutsches Strafrecht I, 1925, S.  491 (zit. nach Eberhard Schmidhäuser, Strafe, S. 28).

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

(1) § 46 I StGB und der seiner Anwendung zugrunde liegende Vereinigungsgedanke (a) Darstellung Das geltende Recht nimmt bei den gesetzlichen Grundlagen der Strafzumessung auf die Strafzwecke Bezug. Ihnen liegt ein „Vereinigungsgedanke“ zugrunde: Gem. § 46 I StGB ist die Schuld des Täters Grundlage für die Strafzumessung, wobei „die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind“, zu berücksichtigen sind. Denn „unser Strafrecht ist ein Schuldstrafrecht. Schuld und Strafe müssen in einem gerechten Verhältnis zueinander stehen“, wie es in der mündlichen Begründung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform hieß.535 Da sich die Schuld des Täters nach dem begangenen Unrecht und bestimmten weiteren subjektiven Komponenten bemisst, wird die Strafe also grundsätzlich in der Tradition der Vergeltungstheorien tat­ orientiert bemessen. Mit dem Halbsatz, wonach bei der Strafbemessung die „Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters zu erwarten sind“ zu berücksichtigen sind, wurden gleichermaßen positiv-spezialpräventive Aspekte im Gesetz verankert. Dabei sollte es nach Meinung des Sonderausschusses gestattet sein, „im Interesse eines erfolgreichen, auf Resozialisierung bedachten Vollzugs der Freiheitsstrafe das Maß der Schuld in geringen Grenzen zu überschreiten“.536 § 2 StVollzG legt entsprechend als Ziel des Vollzugs der Freiheitsstrafe fest, dass der Gefangene befähigt werden soll, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“. In den §§ 47 I, 56 III, 59 I Nr. 3 StGB ist schließlich vorgesehen, dass in bestimmten Fällen und neben anderen Voraussetzungen von der Verhängung der Geld- oder einer kurzen Freiheitsstrafe abgesehen oder der Vollzug der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden darf, wenn „die Verteidigung der Rechtsordnung“ die Verurteilung bzw. den Strafvollzug nicht gebietet. Unter Verteidigung der Rechtsordnung wird gewöhnlich verstanden, dass die Strafe die durch die Tat verletzte Rechtsordnung gegenüber dem Täter durchzusetzen hat, um so künftigen Rechtsverletzungen durch ihn und andere vorzubeugen. Hierdurch soll auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechts- und Friedensordnung und damit deren Rechtstreue gestärkt werden.537 Damit ist zum einen ein Aspekt des Unrechtsausgleichs, zum anderen sind damit aber auch Aspekte posi­ tiver Generalprävention angesprochen. Das Bundesverfassungsgericht bestätigt, dass das Strafen dem Schuldgrundsatz entsprechen und die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens schützen soll.538 535

So der Abgeordnete Schlee, BT, 5. Wahlperiode, 230. Sitzung, Protokolle S. 12708 (A). So der Abgeordnete Schlee, BT, 5. Wahlperiode, 230. Sitzung, Protokolle S. 12708 (B) (Hervorhebung von mir). 537 Vgl. nur BGHSt 24, 40 (44 f. m. w. N.); Walter Stree / Jörg Kinzig, Schönke / SchröderStGB, 28. Aufl., Vorbem. §§ 38 ff. Rn. 11 f. m. w. N. 538 Vgl. nur BVerfGE 20, 323 (331); 45, 187 (253 f., 259 f.); 86, 288 (313). 536

3. Vernünftiger Sinn von Strafe

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Dabei akzeptiert es „Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht“ „als Aspekte einer angemessenen Strafsanktion“539, es erkennt also vergeltende und spezialpräventive Zwecke des Strafens an. Bei der Strafzumessung durch die Strafgerichte wird die sogenannte „Spielraum-“ oder „Schuldrahmentheorie“ angewendet: Danach könne die schuldangemessene Strafe nicht genau bestimmt werden, vielmehr bestehe ein Spielraum, der „nach unten durch die schon schuldangemessene Strafe und nach oben durch die noch schuldangemessene Strafe“540 begrenzt werde. Innerhalb dieses Spielraumes könnten auch andere, insbesondere präventive Zwecke des Strafens, wie etwa die Verteidigung der Rechtsordnung, die Abschreckung der Allgemeinheit und des Täters von zukünftigen Taten oder die Besserung des Täters, leitende Gesichtspunkte für die Strafzumessung sein.541 (b) Aspekte kritischer Analyse Zwar erscheint es zunächst plausibel, die feststellbaren Wirkungen des Strafens „auf einen Begriff zu bringen“. An der vorgestellten Gesetzeslage und Rechts­ praxis fällt jedoch auf, dass sie die verschiedenen Strafzwecke im Rahmen der tat­ entsprechenden Schuld lediglich „addiert“. Die verschiedenen Strafzwecke lassen sich jedoch nicht konsistent „addieren“, da sie verschiedenen Grundsätzen folgen:542 Hat jemand eine schwere Tat begangen, etwa eine Beziehungspartnerin in einer extremen Konfliktsituation getötet, dann verlangen tatorientierte Theorien grundsätzlich eine eher schwere Strafe, da das Unrecht der Tötung eines Menschen schwer wiegt. Gerade in solchen Fällen kann es aber vorkommen, dass spezialpräventiv keine Strafe nötig ist, da eine Rückfallgefahr ausgeschlossen ist. Oder: wenn in einer Gesellschaft bestimmte kleinere Delikte überhand nähmen, könnte es general- und spezialpräventiv angezeigt sein, sehr hohe oder tief einschneidende Strafen zu verhängen, diese wären dann aber nicht mehr tatorientiert. Es wundert deshalb auch nicht, dass der Sonderausschuss des Bundestages beim Entwurf des § 46 I StGB davon ausging, dass die schuldangemessene Strafe aus Gründen positiver Spezialprävention überschritten werden können soll. Die Rechtsprechung ist dem mit der Orientierung an der Schuld als Rahmen der Strafzumessung zwar nicht gefolgt, was im Sinne des Schuldprinzips ist. Auch das lässt sich aber auf der theoretischen Basis eines Vereinigungsgedankens, der die Strafzwecke lediglich kumuliert, nicht systematisch konsequent begründen. An einer Idee, warum und auf welche Weise die einzelnen Strafzwecke in der praktisch je einen Strafe inte 539

BVerfGE 45, 187 (253 f., vgl. detaillierter S. 254 ff.). BGHSt 7, 28 (32). 541 Vgl. nur BGHSt 7, 28 (32); 7, 86 (89); 20, 264 (266 f.); 24, 132 (133 f.); BGH NStZ 1992, 275 (275); Hans-Jürgen Bruns, Strafzumessung, S.  105 ff.; Franz Streng, Sanktionen, Rn. 626 ff. 542 Vgl. auch Michael Köhler, Strafzumessung, S. 15 ff. 540

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

griert sind, an einem „vermittelnden Prinzip“ also, fehlt es.543 Es gibt aber Vereinigungstheorien, die versuchen, dies zu leisten. Paradigmatisch seien hierfür die vernunftrechtlichen Positionen Köhlers und Wolffs angeführt. (2) Wiederherstellung des Rechts als Recht mit Integration präventiver Zwecke nach Michael Köhler Köhler entwickelt ein sehr differenziertes, die präventiven Strafzwecke integrierendes Konzept einer tat- und täterorientierten Straftheorie. Wesentlicher Ausgangspunkt und Leitfaden seines Strafrechtssystems ist das Verbrechen als Tat eines vernünftigen Rechtssubjekts, also eines Subjekts, das sich frei für oder gegen die Rechtsverletzung entscheiden konnte und das sich dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit der jeweils seinem Verhalten zugrunde liegenden Maximen bewusst ist. (a) Zum Letztbegründungsanspruch der Theorie Dem methodischen Anspruch nach handelt es sich um einen letztbegründenden Ansatz, also um eine Vorgehensweise, von der sich die hier verfolgte im Grundsatz abgrenzt.544 In seiner Monographie zum Begriff der Strafe schreibt Köhler, dass „das Strafrecht […] in seiner handlungsnormativen Identität absolut, gut, letztbegründet sein [muss]“.545 Die Frage sei, „ob in einem am (höchsten) Guten ideal orientierten normativen Gesamtzusammenhang im Recht“ die Strafe als Reaktion auf Verbrechen gesollt sein kann.546 Nur auf diese Weise könne „das Gesamtverhältnis des (staatlichen) Strafens in bestimmten Begriffen auf allen Setzungsebenen bis hin zur Einzelfallbestimmung widerspruchsfrei-systematisch gerecht entfaltet werden […], sei es bestätigend, sei es kritisch-negierend auf die gegenwärtige Strafrechtspraxis bezogen“.547 Dabei erläutert Köhler an dieser Stelle nicht ausdrücklich, was er unter „letztbegründet“ versteht. In seiner Einführung zu von Liszts „Der Zweckgedanke im Strafrecht“ führt er aber im Zusammenhang mit der Straftheorie aus, dass sich „das Wort ‚absolut‘“ zunächst nur auf die Abgrenzung zu einer reinen Zweckausrichtung der Strafe anhand eines „reduziert empirischen Mechanismus triebbedingter Motive“ beziehe.548 Es geht ihm also vor allem um die Abgrenzung zu „relativen“, das heißt auf präventive Zwecke ausgerichteten Theorien der Strafe und den Rückbezug des Strafens auf den Verbrecher 543

Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 44; vgl. auch ders., Strafzumessung, S. 26 ff. Vgl. hierzu allgemein in der Einleitung im I. Kapitel unter 3. b) dd). 545 Michael Köhler, Strafe, S. 1. 546 Michael Köhler, Strafe, S. 17. 547 Michael Köhler, Strafe, S. 1. 548 Michael Köhler, Zweckgedanke, S. XIV.

544

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als vernünftige und verantwortliche Person, denn es sei „die erste, grund­legende immanente Zweckkategorialität aus menschlicher Freiheit (Autonomie), worin Strafe […] zu begründen ist.“ Der Ansatz „‚absoluter‘ Strafrechtsbegründung“ sei von „diesseitig-immanente[r] Teleologik“ und von „letztgründlich-­kritisch auf die wirklichen Zusammenhänge bezogenen methodologischen Status“.549 In seinem Lehrbuch zum Allgemeinen Teil  des Strafrechts schreibt er zum Verständnis einer Straftheorie als „absolut“, dass das Strafrecht „einen notwendigen immanenten Zweck zu erfüllen [hat], das gestörte Rechtsverhältnis zu restituieren; es bildet dadurch zur Wahrung der Freiheit die Grundlage und die Grenze jeglichen Präventionszweckhandelns.“550 Der Sache nach grenzt sich seine mit Letztbegründungsanspruch verfolgte Straftheorie, die sich dem sogenannten „absoluten“ Strafdenken verpflichtet weiß, also von den „relativen“ Straftheorien ab. Das zeigt sich vor allem darin, dass wesentlicher Zweck des Strafrechts die Gewährleistung und Wiederherstellung von Freiheit ist und dass sich Strafe aus der Freiheit begründen lassen muss.551 In den Worten des hier verfolgten Ansatzes lässt sich das so deuten, dass sich die Bestimmung des Strafbegriffs nach Köhler auf die unhintergehbaren Bedingungen unserer Existenz beziehen muss, wobei er als solche Bedingung die Freiheit im Blick hat. Köhler ist, wie bei der folgenden kritischen Analyse der Inhalte seiner Theorie gezeigt wird, darin zuzustimmen, dass das Strafrecht auch im Hinblick und im hartnäckigen Beharren auf die Freiheit oder Selbstständigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft als fundamentalem Grundzug unserer Praxis legitim sein muss. Damit ist allerdings noch nicht positiv gesagt, was mit „Letztbegründung“ als Methode gemeint ist. Zudem lässt sich auch unsere Freiheit oder Selbstständigkeit als Rationalitätskriterium für die Beurteilung von Praxisformen nur anhand unserer Praxis an Beispielen, also im Wege der paradigmatischen Praxisanalyse, aufweisen oder erläutern. Die Freiheit als Grundzug oder Möglichkeitsbedingung unserer Praxis ist schließlich kein „Grund“ derselben, aus dem sich Praxisformen ableiten ließen. Sie ist vielmehr, neben den anderen im II. Kapitel erläuterten Grundzügen, in unsere Praxis wie eine Tiefenstruktur eingewebt und tritt uns aus dieser entgegen.552 Weitere Formulierungen fördern zudem zumindest Missverständnisse hinsichtlich seines Begründungsanspruches. Wenn Köhler fragt, „ob in einem am (höchsten) Guten ideal orientierten normativen Gesamtzusammenhang im Recht“ die Strafe als Reaktion auf Verbrechen gesollt sein kann,553 deutet es zunächst auf einen Ansatz, mit dem abstrakt von der faktisch vorfindlichen Praxis ein System der Gründe für gerechtes Strafen aus einem obersten Prinzip des absolut Gu 549

Michael Köhler, Strafe, S. 9. Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 43. 551 Dies betonen auch Michael Kahlo, Absolute Theorien, S. 403 ff.; Rainer Zaczyk, Inselbeispiel, S. 76 ff. 552 Vgl. hierzu ausführlich im I. Kapitel unter 3. b) dd). 553 Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 17. 550

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ten entwickelt werden soll, anhand dessen die vorfindliche Praxis als gerecht oder ungerecht bewertet werden kann. Allerdings kommt auch Köhler nicht ohne Bezug zu den konkreten Handlungszusammenhängen in unserer Lebenswelt aus. So greift er im Ausgangspunkt für die Entwicklung des Strafbegriffs auf dessen vorfindliche Bestimmungen als ein Übel, als Sicherungsmittel, als Behebung des (Freiheits-)Geltungsverlusts554 zurück, die er in einer „absoluten Straftheorie“ im Sinne einer kategorialen Bestimmung des Strafbegriffs vermitteln will.555 Für die Entfaltung des Strafbegriffs ist er also auf in unserer Praxis vertretene Sinndeutungen der Strafe angewiesen, er entwickelt ihn nicht von einem Standpunkt außerhalb unserer Welt (und dies wäre auch nicht möglich). Auch sein Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des Strafrechts beginnt er entsprechend mit, zwar sehr abstrakt und allgemein formulierten, Beschreibungen zu den Straftaten und zum Vorverständnis von Recht und Strafrecht.556 Er schreibt allerdings auch, dass für die Strafrechtsbegründung zunächst Distanz zu nehmen sei von der „Faktizität des geltenden Kriminalrechts in seinen historisch-empirischen Erscheinungsformen […]“.557 Hier bleibt unklar, wie weit diese Distanzierung geht: Ihm ist zuzustimmen, dass das Gegebene nicht einfach als das Gesollte genommen werden kann, jenes also kritisch zu reflektieren ist. Es bleibt aber offen, auf welcher Grundlage diese Kritik entwickelt werden kann – aus einer vorgängigen Praxis heraus oder am Maßstab eines idealen, absoluten Guten, welches außerhalb dieser vorgängigen Praxis liegt.558 Köhler sieht das Problem, dass „das Gute“, nicht von einem Standpunkt außerhalb unserer Welt entwickelt werden kann: Er schreibt, es gehe nicht um „eine objektiv-inhaltliche Teleologie im Sinne der älteren (vorkantischen) Metaphysik“.559 Er spricht vom „letzten Grund von Verhaltensnormativität“ als dem Guten und davon, „dass das menschliche Denken (mithin subjektiv-immanent) durch sich und für sich gültig am Wahrheitsgrund teilhat“. Die „kritische Begründung aller Konkretionen des Guten, des Rechts“ müsse sich deshalb „gleichursprünglich auch für und durch menschliche Vernunftsubjektivität als wahr aufweisen“.560 Das ließe sich so verstehen, dass das Gute von Köhler gewissermaßen in diese Welt hineingeholt wird, indem er die menschliche Vernunftsubjektivität als Autonomie daran teilhaben lässt. Dabei würde allerdings das Gute als etwas Objektives, auch außerhalb der Lebenswelt Befindliches gerade nicht aufgegeben. Der Ansatz schwankte dann zwischen lebensweltlicher Verankerung und strikter Allgemeinheit im Ver 554

Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 13, 15. Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 9. 556 Vgl. Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 7 f. 557 Vgl. Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 37. 558 Vgl. im II. Kapitel zur Vorgängigkeit der Praxis Abschnitt 2. a), zur Kritik der vorgängigen Praxisformen Abschnitt 2. b) ii) (2) sowie zur Kritik des Arguments des naturalistischen Fehlschlusses aufgrund der Verwobenheit von Faktizität und Normativität Abschnitt 3. 559 Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 9; zudem ders., Zweckgedanke, S. XIV. 560 Michael Köhler, Strafe, S. 16 (Hervorhebungen von mir). 555

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such, strikte Allgemeinheit „diesseitig-immanent“561 zu begreifen.562 Wir müssen aber davon ausgehen, dass das Gute ein Teilaspekt menschlicher Existenz ist, dem die Endlichkeit und Fehlbarkeit menschlicher Existenz bis hin zum Bösen als Ausdruck der Fragilität unserer Existenz korrespondiert. Etwas wie ein absolut Gutes in einem rein objektiven Sinne können wir als letzten Grund unserer Praxis und deren Bewertung nicht identifizieren. Die Rede vom Guten ist vielmehr gänzlich in unserer Praxis zu verankern und bekommt damit ein relatives Moment, weil wir die Frage, ob etwas gut ist oder nicht, immer nur aus unserem Blickwinkel beantworten können, der im Verstehen zwar auf Vernunft und Allgemeinheit ausgerichtet, aber dennoch immer perspektivisch (unter anderem kulturell gebunden) und auch fehlbar ist. Um diese fortbestehende Trennung des Guten und des Subjekts zu vermeiden, ließe sich Köhler auch so lesen, dass das Gute ganz im Subjekt aufgeht, so dass das Subjekt selbst das Gute verkörpert. Diese Interpretation ist allerdings fernliegend, denn dass der Mensch nicht schlechthin gut ist, wissen wir nicht nur aufgrund der historischen und aktuellen Erfahrungen von Unrechtsregimen, sondern auch aus ganz alltäglichen Fehlern. Dass dies auch für Köhler klar ist, ergibt sich schon aus seiner Prämisse, dass von den historisch-empirischen Erscheinungsformen des Kriminalrechts Distanz zu nehmen sei.563 Zusammengefasst bleibt bei Köhler unklar, inwieweit das Eingebettetsein des strafrechtlichen Begründens in eine konkrete historisch-kulturell situierte praktische Situation in seiner Vorgehensweise eine Rolle spielen darf, was das „absolut Gute“ ist und wie es sich zur konkreten Subjektivität in unserer Welt verhält. Im Zusammenhang mit dem Letztbegründungsanspruch fallen auch die sehr abstrakten Formulierungen Köhlers auf. Sein Text wird nur verständlich, wenn er in die eigene Lebenswirklichkeit gewissermaßen „übersetzt“ wird. Was zum Beispiel Strafe im moralischen Sinne ist als „praktische[r] (denkend-handelnde[r]) ­Selbstaufhebung des objektiv-subjektiven allgemeinen Geltungswiderspruchs zum

561

Michael Köhler, Strafe, S. 9. Auch in seinem Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des Strafrechts gibt es in beide Richtungen deutende Ansatzpunkte: Für eine lebensweltliche Verortung spricht durchaus die Stelle, an der Köhler feststellt, dass die „praktische Selbstkonstitution“ „den grundsätzlichen Zusammenhang mit dem objektiven Normprinzip wahren [muss], wenn auch in seiner historischen, kulturellen oder sonstigen Relativität“ (Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 355 f.), denn hier scheint das objektive Normprinzip an die jeweilige historisch-kulturelle Erscheinungsform gebunden zu sein. Allerdings spricht er auch von der „idealen Grundnorm, den Menschen zu einer selbstbestimmten Rechtsperson […] werden zu lassen“ (S. 359) sowie von der „unbedingte[n] Grundlage rechtlicher Selbstbestimmung“ und der „Bedingtheit ihres endlich konkreten Daseins“, wobei er auch deren intersubjektiv-institutionellen Momente im Blick hat, (S.  357), was auf eine Trennung zwischen ideal gedachter Selbstbestimmung und endlicher Selbstbestimmung hindeutet. Soweit mit der „unbedingte[n] Grundlage rechtlicher Selbstbestimmung“ die „unaufhebbare ‚Anlage zum Guten‘“ (S. 357) gemeint ist, ist ihm insoweit zuzustimmen, als wir faktisch unhintergehbar moralische Subjekte sind, allerdings sind wir es in dieser einen endlichen Welt. 563 Vgl. Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 37. 562

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Norm­prinzip des Guten, der im Begriff des geschehenen bösen Handelns liegt,“564 kann ich nur verstehen, wenn ich mir verdeutliche, dass zum Beispiel Selbstaufhebung die Einsicht in die Falschheit meines Tuns, deren Äußerung gegenüber anderen und gegebenenfalls die Akzeptanz daran geknüpfter Sanktionen ist und dass es einen Widerspruch in meinen Entscheidungen dahingehend gibt, dass ich etwas als generell geltend betrachte und diese Einsicht in einem konkreten Fall beiseite geschoben habe. Entsprechend erläutert Köhler seine abstrakten Begründungen auch für die „Realitätsebene“ als „rückschauend schlechtes Gewissen“ und in Bezug auf zwischenmenschliches Verhalten.565 Das bedeutet nicht, dass das von Köhler bezogen auf die Lebenswelt Gemeinte unzutreffend ist. Die äußerst abstrak­ ten letztbegründenden Formulierungen erscheinen aber wie ein „Umweg“ bei der Erläuterung des Gemeinten, bei dessen Beschreiten zudem die Gefahr besteht, dass die Verwurzelung des Philosophierens in dieser einen Welt durch das Übergehen in eine ideal konstruierte Welt verloren geht.566 Zu betonen ist allerdings, dass Köhler beansprucht, dass die „Strafrechtsbegründung“ „die Begriffe Strafe und Strafrecht im gesamten Handlungszusammenhang kritisch und konkretionsfähig zu bestimmen“ hat567 und dass er in seinem Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des Strafrechts diese Konkretionen auch entwickelt, etwa als Täter- und Verbrechens­ typologie, die bei der Bestimmung der Strafrechtfolgen Bedeutung erlangt.568 Auch wenn der Ansatz Köhlers methodisch zwischen dem Anspruch strikter Allgemeingültigkeit und lebensweltlicher Verankerung schwankt, stellt er eine spezifische Sinndeutung des Strafbegriffs dar, die mein begriffliches Vorverständnis ebenso wie der nachfolgend erläuterte Ansatz von Wolff entscheidend geprägt hat. Diese Prägung ist in der Analyse offen zu legen. Zudem weisen Köhler und Wolff in der Auseinandersetzung um den Sinn des Strafens vehement darauf hin, dass dieser der Freiheit der Beteiligten gerecht werden muss, womit sie sich, entgegen vielen präventiven Positionen, handlungsnormativ klar auf unsere Existenz als Selbstständige als unabdingbaren Grundzug unserer Welt beziehen. Hier zeigt sich, dass dem hier vertretenen, Rentsch folgenden Ansatz und den letztbegründenden strafrechtstheoretischen Ansätzen der Rückgang auf die fundamentalen unhintergehbaren Bedingungen unserer Existenz gemeinsam ist, dass also beide Vorgehensweisen insofern transzendental sind.569 Methodisch ergibt sich gegenüber diesen Ansätzen eine klare Perspektivenverschiebung vom Guten, das auch in der Lebenswelt verankert ist, hin zur gänzlichen Konstitution der Moralität innerhalb unserer Lebenswelt. 564

Michael Köhler, Strafe, S. 41. Michael Köhler, Strafe, S. 39 f. 566 Das schließt lebensweltbezogene abstrakte Formulierungen als Erfassen allgemeiner Aspekte nicht aus, entscheidend ist, ob damit der lebensweltliche Rahmen verlassen wird. 567 Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 37. 568 Vgl. Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 366 f., 438 ff., 605 ff. 569 Vgl. zur Transzendentalität und Abgrenzung zur Letztbegründung überhaupt im I. Kapitel unter 3. b) cc) und dd). 565

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(b) Darstellung der Inhalte der Theorie Köhler geht in seiner Monographie zur Begründung der Strafe davon aus, dass zunächst der moralische Begriff der Strafe zu entwickeln ist. Denn nur so könne Strafe in der allgemeinen Verhaltensgesetzlichkeit letztfundiert, also auf das Prinzip des guten Handelns, das der freiheitlichen Verfasstheit des Subjekts immanent ist, zurückgeführt werden.570 Strafe im moralischen Sinne reagiere dabei auf das Böse, den handelnd umgesetzten bösen Willen. Im betätigten bösen Willen werde die Wirklichkeit des Guten dadurch negiert, dass das denkend-handelnde Subjekt sich selbst im Bewusstsein der Allgemeingültigkeit richtiger Maximen konkret aus der Allgemeingültigkeit ausbeziehe. Die auf Widerspruchsfreiheit oder Allgemeingültigkeit gerichtete Vernunftleistung werde so in sich selbst pervertiert und negiert. Dieses Verhalten habe die praxislogische Tendenz, sich zu universalisieren, also sich im Täterverhalten und für andere als – scheinbar – gute Maxime zu verfestigen.571 Die moralische Strafe stelle als Reaktion auf den bösen Willen das Geltendmachen dieses Widerspruchs, die „Negation der Negation“ dar. Negation bedeute, dass der Täter seine verbrecherische Maxime auf sich selbst verallgemeinere. Diese Negation sei dabei nicht einfach Negation, sondern Aufhebung des Widerspruchs zur Restitution der Geltung des Guten, Strafe habe insofern ein negatives und ein positives Identitätsmoment.572 Strafe sei auf dieser Ebene als Prozess der moralischen Selbstbestimmung gedacht, der beide Seiten des Bösen, die denkende und die handelnde, umfassen müsse. Das bedeute zunächst das Bewusstsein des Nicht-sein-Sollens. Es reiche aber nicht, wenn dieses Bewusstsein nur in neuen Situationen handlungsbestimmend würde, da dann der schon existente Widerspruch nicht aufgehoben werde. Vielmehr bedürfe es eben der tätigen Verallgemeinerung der Verbrechermaxime auf sich selbst. In der Realität bedeute die Strafe für das Subjekt das rückschauend schlechte Gewissen und die widerspruchslose Anerkennung der Geltung seiner eigenen Handlungskonsequenz. Im Sich-selbstRichten liege schon eine Anerkennungsnegation für sich. Strafe im moralischen Sinne sei so rein selbstvermittelt.573 Im intersubjektiven Verhältnis vollziehe sie sich schon mit der intersubjektiven Äußerung des schlechten Gewissens und der Anerkennung der (Selbst-)Negation des Subjekts durch den anderen, in einem „ideal konvergierenden zweiseitigen Selbstbestimmungsvorgang“.574 Die Rechtsstrafe könne „grundsätzlich analog“ der Bestimmung der mora­ lischen Strafe „rekonstruiert werden“, nur sei sie komplizierter, da sie sich auf das „wechselseitig-äußere (Rechts-)Verhältnis zwischen Verbrecher und betroffener 570

Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 19 f., 55. Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 29 ff. 572 Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 33 ff.; er orientiert sich dabei ausdrücklich an Hegel, den er hier im Sinne eines „Prozesses moralischer Selbstbestimmung“ interpretiert; vgl. dazu auch ders., Strafrecht AT, S. 49. 573 Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 33 ff., 39 f. 574 Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 40 f. 571

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

Allgemeinheit“ beziehe.575 Die Rechtsstrafe reagiere auf das Verbrechen, das er mit Hegel als eine „Verletzung des Rechts als Recht“ versteht. „Verletzung des Rechts als Recht“ fasst Köhler näher als Verletzung der Daseinsbesonderheiten der äußeren Freiheit eines anderen, und zwar so, dass der Täter sich Überpersonalität gegenüber dem anderen als eigentlich gleiches Rechtsubjekt anmaßt. Der andere werde nicht einfach nur in seinen Rechtsgütern beeinträchtigt, sondern ihm werde im verbrecherischen Willen zumindest partiell die gleiche „autonome Rechtsvernunftzweckhaftigkeit“ aberkannt (tätig-böser Unrechtswille). Der Widerspruch im Willen des Täters bezieht sich hier also auf die Rechtssubjektivität, die er für sich beansprucht und einem anderen zugleich abspricht. Das Verbrechen werde in seinem Geltungsanspruch als allgemeingültiges Handeln äußerlich-objektiv und habe insofern eine Tendenz zur allgemeinen, ausgedehnten Habitualität und damit eine Tendenz zur Aufhebung des Rechtsverhältnisses insgesamt.576 Mit der Rechtsstrafe werde durch die Verallgemeinerung der negativen Maxime des Täters auf ihn selbst im Verhältnis äußerer Freiheit zu den anderen (das heißt durch die Minderung des Täters in seinem Rechtsstatus) das gleiche Rechtsverhältnis restituiert. Das negative Moment des Strafens, also die Statusminderung des Täters, ist insofern in der Restitution des partikulär verletzten Rechtsverhältnisses wiederaufgehoben. Es könne so auch nicht einfach negativ und isoliert – also als bloßes Übel – betrachtet werden, sondern sei eben bezogen auf die Wiederherstellung des Rechtsverhältnisses „durch wechselbezüglich autonome Rechtsvernunftschlüsse des Täters und der anderen“ und dadurch im positiven Moment des Strafens aufgehoben.577 Die Rechtsstrafe sei zwingend heteronom, also durch die anderen auch gegen den Willen des Täters gesetzt, da die wirkliche Anerkennung des Rechts durch den Täter nicht erzwingbar sei. Strafe dürfe so auch nicht auf die moralische Selbstvermittlung durch den Täter zielen, sondern sei darauf beschränkt, ihn in seinen äußeren Freiheitsbereichen einzuschränken.578 Das Strafmaß müsse konsequent aus dem Zweck des Strafens, wechselseitig gleiche Verhältnisse in äußerer Freiheit wiederzugewinnen, fortbestimmt werden: Dem Täter müsse sowohl die „Gegenständlichkeit äußerer Freiheit für rechtsvernünftige Interaktion“ äußerer Freiheit belassen als auch anbietend eröffnet werden. Der Täter dürfe also zum einen nicht total negiert werden, und seine objektiv-äußeren Freiheitsverhältnisse, etwa als Teilhabe an gesellschaftlicher Tätigkeit, dürften durch die Strafe nicht total entwirklicht werden. Zum anderen seien ihm Handlungsmöglichkeiten auch anzubieten.579 In seinem – elf Jahre nach der Monographie zur Strafe erschienenen  – Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des Strafrechts ergänzt und konkretisiert Köhler diese 575

Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 50, vgl. auch S. 60. Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 47 f.; vgl. hierzu und zum Folgenden auch ders., Strafrecht AT, S. 48 ff., 350 und ARSP 75 (1989), S. 265 (266 f.). 577 Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 50 ff., vgl. auch S. 38, 41 zum Begriff der moralischen Strafe. 578 Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 52, 60 f., 67 f. 579 Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 53, 68. 576

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Überlegungen. Insbesondere bezieht er hier die gesellschaftlichen Einflüsse auf die Entwicklung des Täters hin zu delinquentem Verhalten in die Erläuterung des Schuldbegriffs und der Strafarten mit ein. So geht er davon aus, dass das „potentielle Normwissen des Subjekts […] lebensgeschichtlich erworben [wird] und […] sich zu einer schlüssigen Normhaltung (oder: Habitus) in einem intersubjektiv-institutionellen Prozess handelnder Selbstkonstitution in der Zeit [formt]“;580 die Selbstkonstitution bestehe „in einem Prozess der Bildung der (normativen) Identität in selbstbestimmten und zugleich intersubjektiven (institutionellen) Verhaltenszusammenhängen“.581 Tatschuld beruhe also „lebensgeschichtlich auf subjektiv-moralischer und intersubjektiv-konstitutioneller Konstitution der Normhaltung“.582 Mit institutionellen Bedingungen der Identitätsbildung sind dabei familiäre und gesellschaftliche Aspekte gemeint.583 Aus dieser nunmehr explizit und detailliert einbezogenen lebensgeschichtlichen Prägung des Täters im gesellschaftlichen Miteinander folgert Köhler, dass der Schuldbegriff „um seine habituellen und intersubjektiv-institutionellen Momente erweitert werden“584 und „sowohl „subjektiv-täterorientierte (kriminalpsychologische) als auch institutionelle (kriminalsoziologische) Bezüge“ integrieren muss.585 Auf dieser Basis entwickelt er eine Typologie von Verbrechen und Tätern, für die er jeweils spezifische Ausformungen des Schuldbegriffs erläutert.586 Zudem stellt Köhler fest, dass aufgrund des Schuldprinzips Maß und Arten des Strafens der aufgezeigten gesellschaft­ lichen Mitverantwortung für das begangene Unrecht und der Abhängigkeit der Delinquenz vom Gesamtzustand der Gesellschaft (z. B. Massenarbeits­losigkeit) gerecht werden müssen.587 Aus dem Schuldgrundsatz folge insbesondere, „dass die Intensität der Strafrechtsfolge durch chanceneröffnende Handlungs- und Behandlungsangebote modifiziert werden muss“.588 Dies erläutert er für die Ausgestaltung des Strafvollzugs auch ausführlicher und kritisiert dabei das geltende Recht und die Vollzugspraxis.589 Hinsichtlich der verschiedenen Strafzwecke erkennt Köhler in seiner Monographie zur Strafe die präventiven Funktionen des Strafens an. Die vernunftschlüssige Aufhebung des Geltungswiderspruches der Tat sei aber der „Zweck der Zwecke des Strafens“, präventive Ziele seien über die Vernunftschlüssigkeit des Strafens vermittelt und „müssen in der Tat nur Nebenwirkungen bleiben“.590 Der Vernunft 580

Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 350. Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 354. 582 Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 438. 583 Vgl. Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 358, 359 f., 360, 417. 584 Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 387. 585 Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 439. 586 Vgl. etwa Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 348 ff., 438 ff. 587 Vgl. hierzu Michael Köhler, Strafrecht AT, 441 ff. 588 Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 441, vgl. auch S. 50, 387, 633, 644 ff.; für das Jugendstrafrecht S. 449. 589 Vgl. Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 644 ff. 590 Michael Köhler, Strafe, S. 42, 59. 581

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

schluss des Täters zum Guten oder zum Recht hin sei Grundvoraussetzung für dessen autonome Besserung (Spezialprävention), die Stabilisierung des Rechts in der Allgemeinheit durch das Strafen teile sich im Rahmen intersubjektiver Auseinandersetzung allen Subjekten des Rechtsverhältnisses vernunftschlüssig mit, nur die gerechte Strafe habe bewusstseinsbildende Kraft.591 Der Freiheitsstrafenvollzug sei als Form des Strafens geeignet, schwerdelinquente Personen zu sichern (ein Aspekt der negativen Spezialprävention), die Sicherung sei insofern als ein Moment des Strafens legitimiert, aber nicht selbstständig begründet.592 Festzuhaltender „Angelpunkt“ des Strafens sei der „subjekt-substantielle[n] oder moralische[n] Begründungszusammenhang“.593 Dies betont er auch noch einmal in seinem Lehrbuch, wonach die Basis spezial- und generalpräventiver Strafzwecke nur die Begründung der Strafe als Wiederherstellung des Rechtsverhältnisses freier und gleicher Personen sein kann.594 (c) Kritische Analyse der Inhalte (aa) Unhintergehbarkeit der Selbstständigkeit Köhler ist im Beharren auf der Unhintergehbarkeit der Selbstständigkeit des Subjekts in seinen intersubjektiven Bezügen zuzustimmen. Wie im Folgenden noch erläutert wird, bleiben allerdings die intersubjektiven Bezüge jedenfalls in der Monographie zur Strafe unterbestimmt. Festzuhalten ist allerdings, dass ­Köhler die Strafe vom selbstbestimmten moralischen Subjekt her entwickelt und die Aufhebung des betätigten Willenswiderspruches des Täters in der Restitution des Rechtsverhältnisses versteht, also – in meinen Worten – davon ausgeht, dass die Straftat eine selbstbestimmte Gestaltung der gemeinsamen Welt durch den Täter in Form der Negierung des Rechtsverhältnisses ist, was im vernünftigen Beurteilen der Bedeutung der Tat und der Formen ihrer Bewältigung geltend zu machen ist. Der Täter wird dabei nicht nur hinsichtlich der Zurechnung der Tat, sondern auch in der Tatreaktion als in der Selbstständigkeit grundsätzlich gleich zu Achtender und der Unterstützung Bedürftiger, also von anderen Abhängiger, respektiert, unter anderem wenn Köhler betont, dass dem Täter im Strafen nicht nur die Gegenständlichkeit äußerer Freiheit belassen, sondern auch anbietend eröffnet werden muss. Zuzustimmen ist ihm auch, wenn er schreibt, dass die „immanente Restitution des verfehlten (verletzten) Guten in seine vorgängig anerkannte Allgemeingültigkeit […] nicht wie ein unvermittelter Neuentwurf geschehen [kann]“, dass es also nicht nur um den „Einbezug einer für das Subjekt neuen Handlungs­ situation […], sondern um die Wiederaufhebung eines schon existenten Selbst­ 591

Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 42, 59, vgl. auch S. 43, 58 und ders., Strafrecht AT, S. 51. Vgl. Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 50 f. 593 Michael Köhler, Strafe, S. 55. 594 Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 50.

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widerspruchs“ geht.595 Denn darin klingt das hier mit dem Paradox der Selbstständigkeit Gemeinte596 an, wonach mittels der Strafe die Straftat als Gestaltung des Täters, die unumkehrbar in die Gegenwart hineinwirkt, so bewältigt wird, dass in Zukunft ein Neuanfang trotz und mit der Tat ermöglicht wird. Indem Köhler aber allein die Selbstständigkeit als „Angelpunkt“ des Strafens versteht, wird diese als Grundzug unserer Existenz als vorrangig gegenüber den anderen Grundzügen gesetzt, was unter anderem der Bedeutung der Interexistentialität nicht gerecht wird. Aufgrund dieser Vorrangstellung der Selbstständigkeit bleiben die einbezogenen präventiven Strafzwecke konsequent auch bloße Nebenwirkungen des Strafens. (bb) Vorrangstellung der Existentialität vor der Interexistentialität Auch wenn Köhler die Selbstständigkeit des Täters zutreffend als wesentlich für das Verständnis des Strafens betrachtet, ist dieser Aspekt jedenfalls in seiner Monographie zum Begriff der Strafe im Verhältnis zur Interexistentialität überbestimmt: Köhlers Perspektive dürfte hier von einer subjektzentrierten Tradition geprägt sein, wie sich schon daran zeigt, dass der rechtliche Strafbegriff auf einem moralischen, subjektbezogenen Strafbegriff basiert. Dieser ist aber fast ausschließlich subjektivtäterbezogen bestimmt, nur hinsichtlich der Äußerung des schlechten Gewissens gegenüber einem anderen ist von einem „ideal konvergierenden zweiseitigen Selbstbestimmungsvorgang“597 die Rede. Zwar ist das Anliegen dieser Trennung, die Strafe auf die freie Entscheidung des Täters zum Verbrechen zu beziehen und die Strafe aus der Selbstständigkeit des Täters nachvollziehbar zu machen, vollkommen berechtigt, denn der Täter muss mit der zwischenmenschlichen Praxisform Strafe angemessen als Selbstständiger behandelt werden. Dass das gemeint ist, ergibt sich klarstellend aus dem Lehrbuch zum Allgemeinen Teil  des Strafrechts, wo Köhler das „‚moralische‘ Moment“ der Strafbegründung als subjektivreflexives Moment erklärt, auf dem die ganze Handlungs- und Zurechnungslehre beruht.598 Allerdings gibt es die von Köhler in seiner Veröffentlichung zum Strafbegriff so bezeichnete „reine Selbstvermitteltheit der im strengen Sinne mora­ lischen Strafe“599 nicht. Denn Strafe ist eine kulturell im Miteinander gewachsene Praxisform, die das zwischenmenschliche Verhältnis und nicht rein das Verhältnis zu uns selbst betrifft; ein reines Selbstverhältnis gibt es zudem nicht.600 Entsprechend bleibt auch unklar, was Köhler mit „der tätigen Verallgemeinerung der Ver 595

Michael Köhler, Strafe, S. 35. Vgl. hierzu in diesem Kapitel unter 1. b). 597 Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 41. 598 Vgl. Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 49. 599 Michael Köhler, Strafe, S. 41. 600 Vgl. zur Interexistentialität der Praxis im II. Kapitel unter 2. c) cc) und dd).

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

brechensmaxime auch für sich selbst“, mit der sich der Täter selbst in die Konsequenz seines Handelns einbeziehe, als notwendigen negativen Aspekt des Begriffs der moralischen Strafe601 meint. Köhler identifiziert zwar die „moralische Strafe“ auch mit dem rückschauend schlechten Gewissen, das gegenüber anderen geäußert und durch diese anerkennend aufgenommen werden kann.602 Das ist allerdings keine Strafe, auch nicht in einem moralischen Sinne, sondern eben ein schlechtes Gewissen, die wirkliche Einsicht in die Falschheit des eigenen Tuns oder Reue und deren Äußerung gegenüber anderen, im besten Falle gepaart mit einer Entschuldigung und ausgleichenden Maßnahmen gegenüber dem Betroffenen. Diese Formen sind von der Strafe als Praxisform zu unterscheiden und wesentlich für den Prozess des TOA (wenn sie auch nicht auf dieses Verfahren beschränkt sind).603 In seiner Monographie zum Begriff der Strafe kommt die Vorrangstellung der Subjektivität in Köhlers Theorie auch darin zum Ausdruck, dass er dort das Verhältnis des Täters zu den anderen nur als „äußerliches“ Verhältnis selbstständiger Subjekte betrachtet. Selbst wenn die Beschränkung des Rechts auf die äußeren Freiheitsbereiche so rigoros zu akzeptieren wäre,604 müsste doch die Verbundenheit der Subjekte auf der moralischen Ebene geltend gemacht werden. Der dort benannte „ideal konvergierende[n] zweiseitige[n] Selbstbestimmungsvorgang“605 verweist aber nur auf ein eigentümlich unverbundenes Nebeneinander unabhängig voneinander Selbstständiger. Die wechselseitige Abhängigkeit beim Wachsen in die und in der Bestätigung in der Selbstständigkeit, in der sich die Interexistentialität als gleichursprüngliche zeigt,606 wird aber hinsichtlich der Ursachen für die Tat hier nicht berücksichtigt. Die Straftat erscheint als alleiniger Ausdruck des frei gesetzten Willens des Täters. Dessen Einbindung in die Gesellschaft und seine soziale Prägung, wie sie etwa in der Kriminologie hinsichtlich der Ursachen von Kriminalität erforscht werden, spielen keine Rolle. Bei der Thematisierung des Strafmaßes aber erfasst Köhler das interexistentielle Verhältnis als Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit in der Unterstützung, wenn er davon ausgeht, dass dem Täter im Strafen auch Chancen zur Selbstständigkeit im Belassen äußerlicher Freiheitsbereiche zu eröffnen, ihm beispielsweise Bildung und Arbeit anzubieten

601 Michael Köhler, Strafe, S. 35 f. Zwar schreibt Köhler an späterer Stelle, Strafe bedeute, die Geltung der unguten Maxime für sich selbst als Handlungskonsequenz für sich selbst anzuerkennen (S. 39), was bedeuten könnte, dass das tätig-negative Moment der Strafe die Anerkennung der von anderen gesetzten Einbuße ist. Aber erstens bleibt unklar, ob dies so gemeint oder nur auf das Selbstverhältnis des Täters bezogen ist, zweitens wäre eine durch andere gesetzte Einbuße des Täters jenseits des Rechts auch Rache und nicht Strafe. 602 Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 39 f. 603 Vgl. hierzu näher in diesem Kapitel unter 4. d) bb). 604 Zur Kritik der Beschränkung des Rechts auf Regelung äußerer Freiheitsbereiche vgl. im II. Kapitel unter 2. c) mm) (2) (b) und d) cc). 605 Michael Köhler, Strafe, S. 41. 606 Vgl. im II. Kapitel unter 2. c) dd) und jj).

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sind.607 Warum die Interexistentialität hier Bedeutung erlangt, im Ausgangspunkt der Erläuterungen zum Verbrechen jedoch nicht, bleibt unklar. In seinem Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des Strafrechts bezieht Köhler die interexistentiellen Aspekte unserer Existenz allerdings intensiv ein, indem er, wie bereits dargestellt, unter anderem die Bedeutung der „intersubjektiv-institutionellen Momente“ für die Entwicklung des Täters beschreibt, den Schuldbegriff in den einzelnen Entfaltungen entsprechend modifiziert und die intersubjektiv-institutionellen Aspekte der Lebensgeschichte des Täters sowie die gesellschaftliche Mitverantwortung bei Art und Maß des Strafens geltend macht. Er stellt hier auch ausdrücklich klar, dass sich die „praktische Selbstkonstitution […] weder subjektlos, noch solipsistisch, sondern in einem intersubjektiv-wechselseitigen Selbstbestimmungsprozess- oder Anerkennungsverhältnis [vollzieht]“.608 Dem ist zuzustimmen, insbesondere der Folgerung, dass die Strafe intensiv mit chanceneröffnenden Angeboten modifiziert werden muss. Denn das interexistentielle Verhältnis ist auch ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit zwischen Selbstständigen und beim Wachsen in die Selbstständigkeit, so dass weder der betätigte Entschluss, Unrecht zu begehen, noch die Strafe auf einen isoliert und zu absolut gedachten selbstständigen bösen Willen zum Verbrechen bezogen werden darf. Vielmehr ist in der grundsätzlichen Bestimmung des Schuldbegriffs, in der Beschreibung konkreter Verschuldensformen einschließlich des Schuldmaßes und entsprechend in Strafbegriff, Strafmaß und bei der Ausgestaltung der Strafe differenziert zu berücksichtigen, dass und inwiefern das soziale Umfeld des Täters eine Mitverantwortung für die Tat trägt, und dem Täter ist durch die Rechtsgemeinschaft dabei zu helfen, ein Leben im Rahmen des Rechts zu führen. Dennoch bleibt ein Zweifel, ob die Überlegungen Köhlers schon mit letzter Konsequenz entwickelt sind: Zwar bezieht er in seinem Lehrbuch das lebensgeschichtliche Gewordensein des Täters in einem sozialen Umfeld und die gesellschaftliche Mitverantwortung in die Erläuterung von Schuld, Strafe und Strafvollzug detailliert und differenziert ein, allerdings scheint Ausgangspunkt zunächst allein das freie Subjekt zu bleiben, etwa wenn er Schuld als „freie[n] (selbstbestimmte[n]) Entschluss (Entscheidungsprozess) zur Unrechtsmaxime, d. h. zur Verletzung des Rechts ‚als Recht‘ in bestimmt tatbestandsmäßiger Weise (Willensschuld)“ definiert.609 Hier scheint der Schuldbegriff immer noch in erster Linie von der Freiheit des Subjekts her gedacht zu sein, obwohl diese gleichursprünglich auf der Interexistentialität beruht. Das wäre schuldbegrifflich schon im Ansatz geltend zu machen, etwa dahingehend, dass der Entschluss des Täters zur Tat auf seinem selbstständigen Willen vor dem Hintergrund einer konkreten Lebensgeschichte in einem konkreten sozialen Umfeld beruht, was eine Verantwortlichkeit des Täters für die Tat begründet, aber eine absolut-einseitige Zuweisung der Verantwortung an den Täter zumeist ausschließt. 607

Vgl. Michael Köhler, Strafe, S. 53, 68. Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 355. 609 Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 348.

608

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

Dieser Vorrang der Selbstbestimmung macht sich auch bemerkbar, wenn Köhler davon ausgeht, dass die „Strafzwecke der Einwirkung auf den Täter (Spezial­ prävention) und der Normbefestigung der Allgemeinheit (Generalprävention), […] mittelbar auf der gegebenen Begründung“ beruhen.610 Denn bei einer angemessenen Berücksichtigung der Interexistentialität sind bestimmte generalpräventive Wirkungen des Strafens wie die über die generelle Bewusstseinsbildung vermittelte Bestätigung der Geltung der Strafrechtsnorm in der Rechtsgemeinschaft nicht nur eine Nebenwirkung der Strafe, sondern von vornherein und gleichrangig in ein vernünftiges Verständnis der Strafe integriert. Die Tat betrifft als Infragestellung des Rechts alle einer Rechtsgemeinschaft Angehörenden, die sich immer innerhalb einer Praxis mit anderen orientieren, also immer auch bewusstseinsbildend dem Einfluss der Praxis der anderen ausgesetzt sind. Die Strafe als Bestätigung der Rechtsgeltung ist so nicht nur eine Bestätigung der Rechtsgeltung gegenüber dem Täter, sondern gegenüber allen, genauso wie die Tat Geltungs­ anspruch gegenüber allen erhebt. Die bewusstseinsbildende Wirkung des Strafens ist so genauso wesentlich für den Strafbegriff wie die Verdeutlichung der Falschheit des willensgetragenen Verhaltens des Täters und der Restitution des Rechtsverhältnisses als fremdbestimmte Minderung des Rechtsstatus des Täters. Auch der chanceneröffnende Aspekt des Strafens ist spezialpräventiv von vornherein in den Strafbegriff integriert. Es handelt sich also um verschiedene interexistenz- und existenzbezogene Aspekte des Strafbegriffs, die jeweils unverzichtbar und miteinander verwoben sind und diesen so in ihrer Gesamtheit prägen. Das steckt mög­ licherweise auch in dem Gedanken Köhlers, dass „Rechtsgrund der Strafe […] die notwendige ausgleichende Wiederherstellung des durch die Tat in seiner Allgemeingültigkeit verletzten Rechtsverhältnisses“ ist,611 denn die Strafe macht den Rechtsbruch in der Gemeinschaft selbstständiger und wechselseitig voneinander Abhängiger geltend. Köhler ist allerdings darin zuzustimmen, dass instrumentalisierende general- und spezialpräventive Strafzwecke, wie die Sicherung vor zukünftigen Taten des Täters oder die Abschreckung der anderen, bloße Nebenwirkungen der Strafe sind, aber nicht unmittelbar strafbegründend sein können. (3) Schuldausgleich in Verbindung mit präventiven Zwecken nach Ernst Amadeus Wolff Die Geltendmachung des Vernunftwiderspruches des Täters in der Strafe zwecks Wiederherstellung des Rechtsverhältnisses lässt sich auch als Ausgleich der Tatschuld verstehen: Mit der Betätigung seines strafrechtswidrigen Willens handelt der Täter schuldhaft, die Aufhebung des in diesem Willen liegenden Widerspruches ist demnach der Ausgleich der Schuld. Entsprechend bestimmt Wolff ebenso wie Köhler Strafe auf der Basis eines freiheitlichen letztbegründenden Ansatzes 610

Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 50. Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 37 (im Original hervorgehoben).

611

3. Vernünftiger Sinn von Strafe

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als Ausgleich der Tatschuld. Genauer sei die Strafe eine zwangsweise durchgesetzte Minderung des Täters in seinem „gemeinschaftlich konstituierten Freiheitsund Gleichheitsstand“ entsprechend seiner Tat, wobei der Täter dem Grundsatz unterworfen wird, unter den er den anderen unterworfen hat. Des Weiteren sei die Bestrafung „eine Manifestation des allgemeinen Willens, dass solche Handlungen zu unterlassen sind“.612 Wolff formuliert teils ebenso abstrahierend wie Köhler und setzt wie dieser zunächst bei einem einzelnen Ich an: „Ausgehen muss man vom selbstbewussten Dasein im kategorischen Imperativ“, Ausgangspunkt ist damit „das Ich“.613 Doch auch seine Ausführungen weisen lebensweltliche Bezüge auf, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung der Intersubjektivität und der Leiblichkeit für das Strafen. Die Strafe ist für Wolff von vornherein im zwischenmenschlichen Verhältnis verankert: Die Beziehungen zwischen den selbstbewussten Einzelnen seien Anerkennungsverhältnisse. Die Strafe sei eine besondere Art, diese labilen Verhältnisse im Falle deren fundamentaler Verletzung aufrechtzuerhalten, indem die geschehene Verletzung ausgeglichen und die Existenz des Anerkennungsverhältnisses wieder hergestellt werde. Beide Momente würden durch den selbstbewussten Einzelnen „zusammengehalten“.614 Die Strafe kommt so als gemeinsame Praxisform in den Blick, wobei Wolff aber den Aspekt der historischen und kulturellen Gewachsenheit (Situiertheit) nicht ausreichend erfasst, etwa wenn es in Bezug auf die Strafe heißt: „Die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft werden bei dieser Sachlage [dem Verbrechen] […] füreinander folgende ausgleichende und stützende allgemeine Bestimmung treffen: […]“.615 Hier entsteht der Eindruck idealer in Gemeinschaft lebender Selbstbewusstseine, deren Verhalten idealtypisch vorausgesagt werden kann. Wolff stellt zunächst auch die Unabdingbarkeit der Intersubjektivität für den autonomen Einzelnen abstrakt und ideal dar: Die ursprüngliche Erkenntnis des Ich sei eine Denkbewegung, in der das Ich sich und den Anderen „in einer Tat“ „gleich ursprünglich sich gegenüberstellt“.616 Nur: Eine solche ursprüngliche Erkenntnis hat sicher niemand von uns erfahren und in einer Tat einer Gegenüberstellung vollzogen. Vielmehr wachsen wir in die Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung im Miteinander, insbesondere im Kontakt mit den Eltern, durch lebensprägende Erfahrungen und deren Reflexion hinein.617 Allerdings ist Wolff zuzugestehen, dass er diese konkrete Entwicklung auch im Blick hat, denn er verweist darauf, dass auch(!) eine konkrete Teilhabe stattfinden müsse, damit das Ich sich und den Anderen setzen könne, und dass die Entwicklung hin zum er 612 Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), 786 (820 f., 825, vgl. auch 822); vgl. zur Strafe als Ausgleich der Tatschuld auch Michael Kahlo, absolute Theorien, S. 397 ff., insb. 417 ff. 613 Vgl. Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), 786 (808, 807); vgl. auch ders., Kriminal­ unrecht, S. 162 ff. 614 Vgl. Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), 786 (825 f.). 615 Vgl. Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), 786 (820). 616 Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), 786 (813). 617 Näher hierzu im II. Kapitel 2. c) dd) und jj).

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

wachsenen Selbstbewusstsein stufenweise verlaufe.618 Dennoch fällt hier auf, dass von „Setzung“, also einem Gegenbegriff zu Entwicklung, die Rede ist und dass das Konkrete neben dem Abstrakten steht. Zwar setzen wir uns auf gewisse Weise selbst, indem wir uns zu den vorgängigen Sinngestalten verhalten, diese modifizieren und kreativ neue entwerfen. Aber Ausgangspunkt ist eben keine originäre Setzung in einem „leeren praktischen Raum“, indem wir ohne Vorprägung völlig frei existieren würden.619 Die Ausführungen Wolffs changieren hier zwischen einer abstrakt-dinglichen Erfassung der zwischen-menschlichen Verhältnisse und deren konkret-lebensweltlicher Realität, und zwar ohne dass klar wird, wie sich beides zueinander verhält. Wolff gelingt es noch vor Köhlers Lehrbuch zum Allgemeinen Teil  des Strafrechts die Aspekte des Strafens, die die konkrete Wiederherstellung von Verhältnissen wechselseitiger Anerkennung zwischen Täterin und Rechtsgemeinschaft betreffen, hinsichtlich des lebensweltlich Erfahrbaren und der leiblichen Aspekte genauer zu fassen, weil er gegenüber dessen Monographie zum Strafbegriff die Intersubjektivität genauer und konkreter entfaltet.620 So geht Wolff zum einen davon aus, dass das Herstellen gemeinsamer Richtigkeit durch das Strafen (als Herausstellen der Falschheit der Maxime des Täters) notwendig mit der „Realität des Dialoges“ verbunden sei. Dies erfolge „durch begründende Sätze, durch Gerichtsurteile, in denen die gegenseitige Regelung [das Recht als das gemeinschaftlich für richtig Festgelegte] ausdrücklich zum Gegenstand gemacht ist.“ Dies sei auch von „realer Eindruckskraft“ auf den Täter.621 Wolff verweist hier darauf, dass das Strafen eine sprachliche und sinngetragene Praxisform ist, deren Sinn kommuniziert wird und zu kommunizieren ist, um eine konkrete auf Wiederherstellung des Rechtsverhältnisses gerichtete Beziehung mit der Täterin einzugehen. Der Strafprozess erscheint so als Bestandteil des Strafens, als eine bestimmte Form der Kommunikation zwischen Täterin und Rechtsgemeinschaft. Zum anderen geht Wolff davon aus, dass die Wiederherstellung des Anerkennungsverhältnisses neben der Statusminderung des Täters in der Anstrengung gegenseitiger Förderung besteht. Die Aufgabe, das Verhältnis wechselseitiger Anerkennung nicht nur formal, sondern auch material wiederherzustellen, sei eine gemeinsame Aufgabe. Unter anderem sei dem Täter unmittelbar-positive Hilfe in einer Art anzubieten, die sonst dem „personal-ethischen Bereich“ zugehöre. Hier werde die Möglichkeit praktisch, in „stellvertretend auf-sich-nehmendem Vollzug die fremde Schwierigkeit 618

Vgl. Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), 786 (813 und Fn. 65 auf S. 813). Vgl. hierzu ausführlicher im II. Kapitel 2. c) bb). 620 Michael Köhler siedelt solche Bestimmungen nicht auf der Strafbegründungsebene an, wie in seiner Monographie deutlich wird: „Das Weitere sind meistenteils spezifische Maßfragen; es kann deshalb nicht ohne Eingehen auf die Bestimmungsgründe in Tat und Täter (resp. Zurechnungsvoraussetzungen) mit Einbezug der Verstandesbestimmungen geklärt werden. Aber schon auf der Strafbegründungsebene ergibt sich […]“ (ders., Strafe, S. 53 f.) – Hier verstärkt sich noch einmal der Eindruck der Trennung zwischen einer empirischen Welt und einer ideal begründet / entwickelten Welt, was aus meiner Sicht der Vorgängigkeit der Praxis widerspricht. 621 Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (821). 619

3. Vernünftiger Sinn von Strafe

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durch eigene – auch emotionale – Leistung zu verringern“.622 Auch bei der Darstellung der Intersubjektivität verweist Wolff darauf, dass die Einzelnen so miteinander verbunden sind, dass sie sich wechselseitig in die Willensbildung einschalten und intellektuell und emotional so am anderen teilhaben können, dass sie ihn zur Wahrheit (aber auch zu ihn verletzender und herabsetzender Verwirrung) bringen können.623 Er verweist ebenso wie schon Köhler in seiner Monographie zur Strafe darauf, dass das Strafen Chancen für den Täter eröffnen muss. Wenn Wolff dabei davon spricht, dass es eine gemeinschaftliche Aufgabe ist, das Anerkennungs­ verhältnis auch material wiederherzustellen, und wenn er beschreibt, dass wir uns wechselseitig in unsere Willensbildung einschalten können, setzt er voraus, dass wir in der Selbstständigkeit wechselseitig voneinander abhängig sind. Allerdings wird diese Prämisse nicht klar vorangestellt, denn Ausgangspunkt seiner Theorie ist „das Ich“ als „selbstbewusstes Dasein im kategorischen Imperativ“,624 so dass auch hier eine Unklarheit verbleibt. Da Wolff gegenüber Köhler die Strafe von vornherein als gemeinschaftliche Praxisform begreift, bestimmt er auch das Verhältnis der Strafzwecke anders. Er geht davon aus, dass in der Strafe gleichzeitig zwei Zwecke verbunden sind, nämlich die schuldhafte Tat auszugleichen und die Möglichkeit zum Verbrechen überhaupt zu reduzieren.625 Im Folgenden bleibt unklar, wie der Zweck, die Möglichkeit zum Verbrechen überhaupt zu reduzieren, genauer verstanden werden kann. Es bieten sich zwei Ansatzpunkte: Wolff schreibt zum einen, dass Strafdrohung und Bestrafung eine Manifestation des allgemeinen Willens sind, Verbrechen zu unterlassen. Zum anderen bezeichnet er die Wiederherstellung des Anerkennungsverhältnisses als die Aufgabe, die mit dem Ausgleich der geschehenen Verletzung zusammen­ falle.626 Die Textstelle lässt sich so interpretieren, dass sich die Möglichkeit der Reduzierung von Verbrechen aus zwei Aspekten ergibt: Erstens in generalpräven­ tiver Hinsicht daraus, dass die Gemeinschaft gegenüber der Täterin die Richtigkeit der Strafnorm geltend macht und es so gleichzeitig für jedes Mitglied der Rechtsgemeinschaft möglich wird, sich nachvollziehend der Geltung der Rechtsnorm zu versichern.627 Zweitens ergäbe sich spezialpräventiv die Wirkung, die Begehung von Verbrechen einzudämmen, daraus, dass dem Täter angeboten wird, konkret in teilnehmender Hilfe zur Unrechtseinsicht zu kommen und er dabei unterstützt wird, sein Leben zukünftig ohne die Begehung von Straftaten zu gestalten. Damit wären im Strafen die einsichtsvermittelten general- und spezialpräventiven Wirkungen mit dem Tat- und Schuldausgleich unmittelbar verbunden, und zwar als gleichgeordnete Zwecke, nicht als Nebenwirkungen. 622

Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (823 f.). Vgl. Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (814). 624 Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), 786 (808, 807); vgl. auch ders., Kriminalunrecht, S. 162 ff. 625 Vgl. Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (825). 626 Vgl. Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (825 f.). 627 So Ernst Amadeus Wolff auch an einer früheren Stelle im Text ZStW 97 (1985), 786 (822). 623

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

c) Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials der Strafe als gemeinsame rechtliche Form unserer Praxis zur Bewältigung von Verbrechen Auf der Basis dieser kritischen Analyse vertretener Standpunkte zum Sinn und Zweck des Strafens kann nun die Strafe in ihrer lebensweltlichen Bedeutung kritisch beschrieben und handlungsorientierend legitimiert werden. Diese Überlegun­ gen basieren insbesondere auf den inhaltlichen Bestimmungen von Köhler und Wolff, die jedoch strikt lebensweltlich-holistisch eingebunden und hinsichtlich der sich auch im Strafen als Praxisform zeigenden und sich zeigen sollenden Grundzüge unserer Existenz erläutert werden. Dies ist trotz der unterschiedlichen methodischen Ansätze möglich. Denn die begrifflichen Bestimmungen Köhlers und Wolffs sind komplexe und differenzierte Sinndeutungen des Strafbegriffs innerhalb unserer Lebenswelt. aa) Das Strafen als ursprüngliche Praxisform und kommunikatives Interexistential Die Strafe ist eine sinngetragene ursprüngliche Form unserer gemeinsamen Praxis, die als spezifische Einheit oder Ganzheit von unterscheidbaren faktischen und normativen Aspekten geprägt ist. Sie ist im Miteinander entstanden. Das heißt, wir lernen die Bedeutung des Strafens als Reaktion der anderen auf unser Fehlverhalten (und zwar vor allem auch jenseits der Rechtsstrafe), reflektieren die gelernten Bedeutungen kritisch und bestätigen oder wandeln sie in unserer weiteren Praxis.628 Als kulturell gewachsene und sich weiter formende Praxisform kann sie nicht aus von der konkreten Praxis abstrakten, in einem strikten Sinne allgemeinen idealen Vernunftgrundsätzen abgeleitet werden. Allerdings ist auch das Strafen als Praxisform von den Grundzügen unserer Existenz geprägt: Diese lassen sich einerseits auch anhand des Strafens verallgemeinernd aufweisen, andererseits sind konkrete Strafbegriffe und Strafformen handlungsorientierend zu kritisieren, indem untersucht wird, ob sie den Grundzügen unserer Welt entsprechen, sie also vernünftig verstanden werden können oder nicht.629 Das Verstehen des Strafens als einzig­artige oder spezifische komplexe Ganzheit verschiedener Aspekte630 ermöglicht es, die Strafe in allen ihren Bedeutungsaspekten in den Blick zu bekommen. Beispielsweise wird Strafe in der philosophischen Analyse dann nicht nur auf ihren vernunft­gemäßen „Verständniskern“ reduziert, sondern kann auch in ihrer faktischen, etwa stigmatisierenden Wirkung betrachtet werden.

628

Vgl. hierzu ausführlicher in diesem Kapitel oben unter 2. a), b). Vgl. zur Einheit unserer Praxis und zum Fungieren der Grundzüge unserer Welt als Ratio­ nalitätskriterien im II. Kapitel unter 2. a), b). 630 Vgl. zur singularen Totalität als Grundzug unserer Welt II. Kapitel unter 2. c) kk). 629

3. Vernünftiger Sinn von Strafe

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bb) Spezifischer komplexer Sinn des Strafens als einseitig-feststellende Wiederherstellung des Anerkennungsgeflechts mit rechtlichen Mitteln Konkret ist der vernünftige Sinn von Rechtsstrafe wie folgt zu umreißen: Mit der Strafe reagiert die Rechtsgemeinschaft auf Straftaten, um diese so zu bewältigen, dass Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung zwischen dem Täter, dem Opfer und der Rechtsgemeinschaft wiederhergestellt werden, soweit dies mit rechtlichen Mitteln bewerkstelligt werden kann. Dies geschieht mittels der Minderung des Täters in seinem Rechtsstatus, soweit ein entsprechendes Verhalten von ihm erzwungen werden kann. In dieser rechtlichen Dimension wird die Straftat mit der Strafe so bewältigt, dass sie als geschehenes Verbrechen, also als strikt verbotenes Verhalten, festgestellt, dem Täter als sein Verhalten vorgeworfen und ihm mit dem Vollzug der Strafe ein Neuanfang in der Rechtsgemeinschaft als ein gleiches Rechtssubjekt eingeräumt wird. Auf diese Weise wird die Rechtsgemeinschaft im Strafen der Selbstständigkeit des Täters im Hinblick darauf, dass er für die Tat verantwortlich ist, und im Hinblick darauf, dass er neu beginnen kann, gerecht.631 Genauer kann der Sinn des Strafens hinsichtlich des Täters, der Rechtsgemeinschaft und des Opfers wie folgt beschrieben werden. (1) Minderung des Rechtsstatus des Täters Die Tat wird bewältigt, indem der Täter in seinem Rechtsstatus in einem der Tat entsprechenden Maß herabgesetzt wird. Diese gemeinschaftlich verhängte und vollzogene Statusminderung kann die Tat als unumkehrbar geschehene faktisch nicht rückgängig machen, aber als verletzendes Geschehen in bestimmter Hinsicht bewältigen. Bewältigen bedeutet dabei bezogen auf den Täter näher, dass seine missachtende Verletzung ihm gegenüber als solche verdeutlicht wird, indem auf ihn seinem Tatgrundsatz entsprechend ein herabsetzender Handlungsgrundsatz angewendet wird. Die tatsächliche Einbuße im Rechtsstatus, die den Täter zugleich faktisch in seinen Verhaltensmöglichkeiten einschränkt (etwa tatsächlichen Einschränkungen der Lebensgestaltungs- und Bewegungsfreiheit bei der Freiheitsstrafe), entspricht dabei den tatsächlichen und rechtlich verbotenen Verletzungswirkungen, die zwangsweise durchgesetzte Verhängung und Vollstreckung der Strafe entspricht der durch die Tat umgesetzten zwangsweise durchgesetzten Herabsetzung des Opfers durch die Täterin. Insofern ist die Strafe ein symbolischer Tatausgleich. Zugleich kennzeichnet die Rechtsgemeinschaft im Strafen autoritativ-einseitig feststellend632 das Verbrechen als solches und gegenüber dem Täter als nicht ge 631

Vgl. zum Paradox der Selbstständigkeit im II. Kapitel unter 2. c) ii) (3) und in diesem Kapitel 1. b). 632 Vgl. zu dieser deklarativen Wirkung der Strafe als Sprechakt Roman Hamel, Sprechakt, S. 115 ff., 212 f.

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

wollt. Die Strafe kann ihm so Anlass zur einsichtsgetragenen Umkehr zum Recht werden (Reue), auch wenn der Täter vermittelt über die eigene Herabsetzung zur Einsicht in das Unrecht und zur dem Recht entsprechenden Willensbildung finden muss.633 Dieser Prozess ist faktisch fragil, was sich darin zeigt, dass er etwa durch nicht beabsichtigte faktische Nebenwirkungen wie eine Stigmatisierung des Täters erschwert werden oder auch in sein Gegenteil, die Vertiefung des „inneren Widerstandes“ gegen die Regeln des Zusammenlebens, umschlagen kann. Diese faktische Fragilität des Strafens, die den Täter als Person herabwürdigen kann, aber nicht soll, ist bei der konkreten Ausgestaltung des Strafens zu berücksichtigen. Die Täterin wird mit der Strafe durch die Rechtsgemeinschaft für die Tat verantwortlich gemacht, ihr wird die Tat also als Selbstständige, die sich – auch trotz und wegen der Prägung im Zusammenleben – für, aber auch gegen die missachtende Verletzung entscheiden konnte, zugerechnet und deshalb zum Vorwurf gemacht. Die Strafe bezieht sich so direkt auf die Selbstständigkeit der Täterin, sie wird in diesem Sinne nach dem Hegelwort „als Vernünftiges geehrt“.634 Daraus, dass der Täter in der Interexistenz grundsätzlich als gleiche und selbstbestimmte Existenz zu achten ist, die einen neuen Anfang finden kann, ergibt sich aber auch, dass er nicht absolut bestraft, also mit der Strafe nicht vernichtet werden oder so eingeschränkt werden darf, dass ihm ein eigenständiges Leben überhaupt nicht mehr möglich ist. Auch der Strafvollzug ist so auszugestalten, dass dem Täter Raum für eine menschenwürdige Gestaltung seines Lebens bleibt.635 Für die Strafe als Verhalten der Rechtsgemeinschaft gegenüber dem Täter gelten zudem die sich aus den anderen Grundzügen der gemeinsamen Welt ergebenden Handlungsanforderungen. Dazu gehört die Bedeutung der Interexistenz als wechselseitige Abhängigkeit zum Wachsen in die und Entwickeln in der Selbstständigkeit.636 Dies gilt umso mehr, als wir auch als Selbstständige nicht in einem absoluten Sinne frei sind, sondern auch tief greifend durch frühere Erfahrungen des sozialen Miteinanders geprägt sind, die zur kriminellen Haltung beigetragen haben können.637 Um mit dem Täter im Strafen angemessen umzugehen, ist ihm daher auch teilnehmende Hilfe zur persönlichen Bewältigung der Tat und der Gestaltung eines selbstständigen, gewaltfreien Lebens in der Gemeinschaft anzubieten, und er ist kommunikativ als Selbstständiger anzufordern. Mit der tat- und 633 Vgl. zu den damit verbundenen Schwierigkeiten Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (822). 634 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rphil, Anm. zu § 100 (im Original mit Hervorhebung). 635 Vgl. näher zur Kritik der Todes- und der lebenslangen Freiheitsstrafe Michael Köhler, Strafe, S. 74 f., vgl. auch S. 53: Ziel des Strafens ist „die Wiedergewinnung eines Verhältnisses wechselseitig-gleicher Autonomie in äußerer Freiheit“, auch der Täter muss also nach dem Strafen als Selbstständiger in der Gemeinschaft weiterleben können; vgl. ders., Strafrecht AT, S. 591 f.; vgl. zudem Rainer Zaczyk, Inselbeispiel, S. 83 f. 636 Vgl. hierzu im II. Kapitel unter 2. c) jj). 637 Vgl. hierzu im II. Kapitel unter 2. c) ii) (3) und in diesem Kapitel unter 3. b) cc) (2).

3. Vernünftiger Sinn von Strafe

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täterorientierten oder tat- und schuldausgleichenden Komponente sind also den Täter teilnehmend-unterstützende Aspekte positiver Spezialprävention unmittelbar verbunden. Sichernde Spezialprävention ist als Verbrechensprävention kein Zweck des Strafens, mit dem auf Straftaten reagiert wird, indem diese in gewissem Sinne ausgeglichen werden. Sie kann nur faktisch sichernd und nur vermittelt über die gemeinsame Missbilligung der schon betätigten Verhaltensgrundsätze des Täters bewusstseinsbildend und auf diese Weise verbrechensverhindernd wirken. Die Verhinderung von Straftaten ist für sich genommen eine Aufgabe staatlichen Handelns, und zwar unabhängig davon, ob jemand schon eine Tat begangen hat oder nicht. Entsprechend wird die Verhinderung von Straftaten in unserer Rechts­ ordnung als Gefahrenabwehr dem Polizeirecht zugeordnet. Mit der vollzogenen Strafe gilt die Tat für die Rechtsgemeinschaft für das weitere zukünftige Zusammenleben mit dem Täter grundsätzlich als erledigt, ohne dass die Tat als Verbrechen vergessen wäre. In der Strafe wird vielmehr auch das Verbrechen als solches dokumentiert, denn gerade das Verbrechen soll durch sie bewältigt werden. Der angemessen verstandene und entsprechend vollzogene strafende Tatausgleich ist nicht bloßes, dem Verbrechen addiertes Übel, sondern getragen von dem Sinn, das Verbrechen als solches gegenüber dem Täter einseitig feststellend geltend zu machen sowie trotz und mit638 der Tat ein Leben in wechselseitiger Achtung mit dem Täter in der Rechtsgemeinschaft für die Zukunft zu ermöglichen. Die Strafe ist dabei Ausdruck des Gewaltmonopols des Staates, das heißt, sie erledigt die Tat auf der Ebene der Möglichkeit der Ausübung wechselseitiger Gewalt, und zwar gegenüber dem Tatopfer und gegenüber den Angehörigen der Rechtsgemeinschaft. Sie schließt so auch rächende Gewalt durch das Opfer oder andere aus. In Bezug auf die rechtlich bewirkte Wiederherstellung des Anerkennungsverhältnisses und mit dem Ausschluss von Gewalt zur Tatbewältigung lässt sich durchaus davon sprechen, dass das Strafen versöhnend wirkt. (2) Wiederherstellung des Rechts und normbestätigende Wirkung gegenüber den Angehörigen der Rechtsgemeinschaft Die Wiederherstellung des Rechts durch das Strafen ist in Bezug auf die Rechtsgemeinschaft eine Bestätigung des Rechts als eine Ausformung der Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung, also eine Bestätigung des rechtlich ausgeformten Anerkennungsgeflechts. Die Rechtsgemeinschaft nimmt die gemeinsame Richtigkeit nicht nur gegenüber dem Täter, sondern gegenüber allen ihren Mitgliedern in Anspruch und stellt so das durch die Tat partikulär verletzte Rechtsverhältnis nicht nur in Bezug auf das Tatopfer, sondern auch bezogen auf die anderen Mit 638 Diese Formulierung geht zurück auf Klaus-Michael Kodalle, Wendezeiten, S. 57: „Versöhnung macht es möglich, mit der Schuld trotz der Schuld zu leben.“

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

glieder der Rechtsgemeinschaft wieder her. Denn mit der Tat kommuniziert der Täter innerhalb der Rechtsgemeinschaft nicht nur gegenüber dem Opfer, sondern auch gegenüber deren anderen Mitgliedern den Anspruch, dass sein Verhalten in Situationen dieser Art generell richtig ist. Da das Täterverhalten mit der Strafe als Verbrechen gegenüber der Rechtsgemeinschaft offengelegt wird, wird auch für alle Mitglieder der Rechtsgemeinschaft klargestellt oder bestätigt, dass ein solches Verhalten nicht sein soll. Die Strafurteile und der Strafvollzug können so den Rechtsfrieden in zweifacher Hinsicht gewährleisten: zum einen, indem die Bürger im Nachvollziehen der Urteile bestätigt bekommen, dass das Recht für den Umgang miteinander weiter gilt, sich des Rechtes also (im Bewusstsein und Gefühl) weiter sicher sein können; zum anderen, indem sie im kritischen Nachvollziehen der Strafurteile ihre eigenen Einsichten ins Recht verändern oder vertiefen können.639 Dieses kritische Nachvollziehen wird beispielhaft plastisch in den kontroversen Diskussionen über die strafrechtliche Bewertung von Gewaltandrohungen des stellvertretenden Frankfurter Polizeipräsidenten Wolfgang Daschner gegenüber dem (bei der Androhung nur tatverdächtigen) Magnus Gäffgen (Folter), der ein Kind entführt hatte und dessen Aufenthaltsort nicht preisgeben wollte.640 Insofern wirkt das Strafen auch bewusstseinsvermittelt generalpräventiv, und zwar vermittelt über das Vermögen der Mitglieder der Rechtsgemeinschaft zur selbstständigen und gemeinsamen Reflexion, bei der die Willensbildung des Täters als strafwürdiges Verbrechen diskutiert wird. Die Strafe ist so eine Form der Kommunikation im gemeinschaftlichen Zusammenleben. Auch für die abschreckende – negative – Generalprävention gilt, dass vollzogene Strafprozesse, Strafurteile und vollzogene Strafen faktisch abschreckend wirken können. Eine solche Nebenwirkung kann als solche in der Perspektive der Gewährleistung faktischer Sicherheit durchaus begrüßt werden, allerdings macht sie nicht den wesentlichen Sinn des Strafens aus. Welche Bedeutung diese normbestätigende Wirkung des Strafens hat, lässt sich auch leicht an einem Gedankenexperiment verdeut­ 639

Vgl. insoweit durchaus auch Günther Jakobs, Strafrecht AT, 1. Abschn. Rn. 9 ff., der die Strafe allerdings darauf reduziert, dass sie als Organisationsmittel der Gesellschaft Verhaltenserwartungen stabilisiert und so Orientierungsmuster für das Verhalten aller ist. Die Selbstständigkeit wird hier nur in einem Teilaspekt des Orientierens an vorgängiger Praxis erfasst, der Aspekt des Distanzierens und kritischen Auseinandersetzens ausgeblendet. Ich folge hier Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (803 f., 822), der sich ebenda auf S. 799 ff. kritisch mit Ansätzen positiver Generalprävention, denen auch Günther Jakobs’ Position zuzurechnen ist, auseinandersetzt. vgl. zur Notwendigkeit der Normbestätigung auch Winfried Hassemer / Jan Philipp Reemstma, Verbrechensopfer, S.  121 ff., vgl. auch 132 ff., die die positive General­ prävention allerdings als Rahmenzweck, in den die anderen Zwecke eingeordnet werden sollen, verstehen. 640 Vgl. zum Fall u. a. LG Frankfurt, NJW 2005, 692 ff. Exemplarisch zu den „Polen“ der Debatte um die Folter: Michael Kahlo, Die Aufklärung als „Zeitenwende“ und ihre Konsequenzen für die strafrechtliche Beurteilung staatlicher Folter, in: Diethelm Klesczewski u. a. (Hrsg.), Strafrecht in der Zeitenwende, Paderborn 2010, S. 45 ff. (striktes Folterverbot), und Winfried Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, in: JZ 2000, S. 165 ff. (Zulässigkeit einer Ausnahme vom Folterverbot).

3. Vernünftiger Sinn von Strafe

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lichen: Wenn wir uns vorstellen, dass schweres Unrecht nicht verfolgt würde, hätte das zur Folge, dass wir uns weit weniger auf die Einhaltung grundlegender Normen verlassen könnten. Dies würde vermutlich zu drastischen, auch gewalttätigen Selbstschutzmaßnahmen und zur Selbstjustiz führen, der Staat bzw. die Rechtsgemeinschaft als Friedensgemeinschaft also brüchig werden und sich letztlich auflösen.641 (3) Bestätigung des Rechtsstatus des Tatopfers und Erledigung der Tat im Bereich möglicher wechselseitiger Gewaltausübung Der Verhängung der Strafe und der Minderung des Täters in seinem Rechtsstatus korrespondiert die Bestätigung des Tatopfers in seinem Rechtsstatus als gleich zu achtende Person. Denn die Minderung des Rechtsstatus als Strafe steht symbolisch für die Wiederherstellung der Verhältnisse wechselseitiger rechtlich überformter und gewährleisteter Anerkennung nicht nur in Bezug auf das Recht als solches, sondern auch in Bezug auf das Tatopfer. Sein Achtungsanspruch als Person wird insoweit auch im Strafen geltend gemacht, in diesem Sinne einem Genugtuungsinteresse des Opfers entsprochen.642 Hier wird deutlich, dass der Staat auch für das Opfer straft. Es kann insofern nicht gesagt werden, dass das Opfer zum Repräsentanten der Gemeinschaft werde, wie Wolff dies tut,643 der Staat repräsentiert vielmehr im Strafen nicht nur die Rechtsgemeinschaft insgesamt, sondern auch das Opfer. Für das Tatopfer bedeutet die Strafe insofern, dass die Tat auf der Ebene der Möglichkeiten wechselseitiger Gewaltausübung erledigt ist, es also nicht in Selbstjustiz Rache üben darf. Dieses Verständnis ist in unserer und anderen Rechtskulturen auch tief verankert. So sagte Bakira Hasećić – eine Bosniakin, die mit ihren minderjährigen Töchtern durch serbische Männer im Balkankrieg 1992 in ihrer Heimatstadt Visegrád gefangen gehalten, gefoltert und unzählige Male vergewaltigt wurde – in einem Interview aus Anlass der Verhaftung des Ex-Serbenführeres Radovan Karadžić, dass sie keine Rache wolle, sondern

641 Vgl. näher Eberhard Schmidhäuser, Strafe, S.  56 f.; Winfried Hassemer / Jan Philipp Reemstma, Verbrechensopfer, S. 132 ff. 642 Vgl. insoweit auch Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S. 220 ff. Sarhan spricht dabei allerdings nur teilweise vom Achtungsanspruch des Opfers und von dessen Missachtung in der Selbstbestimmung. Teilweise verkürzt er die Betroffenheit des Opfers auf emotional-leibliche Aspekte, etwa wenn er wiederholt von einer Besänftigung des Opfers spricht (vgl. etwa S. 252, 258) und wenn er schreibt, es gehe um „das Gefühl der Kränkung beim Opfer und sein Bedürfnis nach Vergeltung […]“, so dass „das Wesen der Kriminalstrafe“ „in der Vergeltung der gekränkten Gefühle des Opfers […]“ liege (S. 222). Auch Gefühle können durch das Strafen befriedigt werden, dieses kann aber nicht auf eine emotionale Genugtuung reduziert verstanden werden, schon weil sich das Opfer nicht auf die emotional-leibliche Ebene in seiner Existenz als Selbstständiges reduzieren lässt. 643 Ernst Amadeus Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 (819).

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

Gerechtig­keit.644 Die Wahrnehmung des Genugtuungsinteresses des Opfers durch den Staat im Strafen ist auch von besonderer Bedeutung für das Tatopfer als Mitglied der Rechtsgemeinschaft, denn sie stellt auch zugunsten des Opfers deklarativ klar, dass es eine zur Rechtsgemeinschaft gehörende und durch diese zu schützende Rechtsperson ist.645 Die rechtsgemeinschaftliche Form der Bewältigung betrifft in Bezug auf das Tatopfer aber nur die Ebene der Möglichkeit wechselseitiger Gewaltausübungen, die Ebene der unmittelbar-persönlichen Bewältigung der Tat zwischen Täterin und Opfer durch einsichtsgetragene Kommunikation, der auch der TOA zuzuordnen ist, hat sie nicht zum Gegenstand, wenn sie auch in diese hineinwirken kann. (4) Strafen als kommunikativer Prozess Die Bedeutungen der Strafe werden nicht nur durch die Statusminderung selbst als sprachlich getragener Sinn, der autoritativ die Geltung des Rechts in Bezug auf den Täter, das Opfer und die Rechtsgemeinschaft feststellt,646 vermittelt. Das Strafen ist vielmehr, wie der TOA, kein punktuelles Ereignis, sondern ein Prozess. Dieser Prozess findet bei der vollzogenen Freiheitsstrafe über die Haftdauer hinweg statt, aber auch die Geldstrafe wird nicht nur dadurch wirksam, dass sie einfach gezahlt oder beigetrieben wird. Denn schon mit der Ermittlung der strafprozessualen Wahrheit und dem Verhandeln über deren rechtliche Bewertung im Strafprozess werden die Bedeutungen des Strafens unmittelbar kommuniziert, da die Feststellung des Täterverhaltens und die Beantwortung der Frage, ob dieses im rechtlichen Sinne falsch war, der Gegenstand des Strafprozesses sind. Zwar ist der Prozess selbst noch keine Strafe im eigentlichen Sinne, er kann ja auch in einem Freispruch enden. Allerdings basiert das Strafurteil auf der vorherigen prozessualen Kommunikation, diese trägt das Strafen mit.647 644 Vgl. Bakira Hasećić, interviewt von Erich Rathfelder, taz vom 31. Juli 2008, S. 4, vgl. zu ihrer Leidensgeschichte Erich Rathfelder, „Das Monster ist gefangen“, taz vom 25. Juli 2008. 645 Vgl. hierzu Roman Hamel, Sprechakt, S.  182, 184 ff.; Winfried Hassemer / Jan Philipp Reemstma, Verbrechensopfer, S. 127 ff., insb. S. 131 f. 646 Vgl. zu dieser deklarativen Wirkung der Strafe als Sprechakt auch Roman Hamel, Sprechakt, S. 115 ff., 212 f. 647 Hier ist der Ansatzpunkt zu Überlegungen zu einem vernünftigen Verständnis des Strafprozesses. Diese Überlegungen könnten mit einer kritischen Analyse des TOA als Prozess zusammengeführt, und es könnte darüber nachgedacht werden, ob und inwiefern beide Verfahren der Tatbewältigung miteinander verbunden oder zumindest koordiniert werden könnten. Dabei müssen die Spezifika, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Praxisformen als Kommunikationsprozesse differenziert erfasst und angemessen berücksichtigt werden. Vgl. zum TOA als wesentlich kommunikativem Prozess in diesem Kapitel unter 4. d) aa) und ee). Nils Christie (BritJCrim 1977, 1 (8, 10 ff.)) schlägt ein differenziertes vierstufiges Verfahren einer Gerichtsverhandlung der aus seiner Sicht unmittelbar Beteiligten  – Täter, Opfer und Nachbarn als Laienrichter – vor: Zuerst soll, wie herkömmlich, festgestellt werden, was passiert ist (Tat), wer Täter und Opfer sind; dabei kommt es darauf an, dass die Tat einen Rechtsbruch dar-

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(5) Strafe als Rechtsinstitut Die (Kriminal-)Strafe ist auf diese Weise als Wiederherstellung der Verhältnisse wechselseitiger Achtung durch die autoritativ-einseitige feststellende Bestätigung des Verbrechens als Verbrechen, des Opfers als gleich zu achtender Rechtsperson und der Geltung des Rechts gefasst, die letztlich durch eine durch die Rechtsordnung einseitig verhängte Minderung des Täters in seinem rechtlichen Status bewirkt wird, die auch mit rechtlichen Mitteln erzwungen werden kann. Sie bezieht sich in ihrem spezifischen Sinn also unmittelbar auf das Recht und kann insoweit als unmittelbar rechtliches Institut bezeichnet werden. Als rechtliches Institut ist sie herkömmlich von nichtrechtlicher Gewalt, wie es die Rache wäre, und von anderen willkürlichen Zwangsmaßnahmen abgegrenzt.648 Als unmittelbares recht­ liches Institut ist sie von rechtlich umhegten oder umhegbaren Instituten zu unterscheiden. Diese können in ihrem spezifischen Sinn nicht unmittelbar bezogen auf das Recht verstanden werden, weil sie sich auf einsichtsgetragen-kooperatives und nicht auf einseitig deklaratives Verhalten, dessen Wirkungen wesentlich mit rechtlichen Mitteln erzielt werden können,649 beziehen. Hierzu zählen etwa die Ehe und Lebenspartnerschaft und der TOA. d) Zusammenfassung Der vernünftige Sinn des rechtlichen Strafens kann wie folgt zusammengefasst werden: Die Strafe ist eine historisch-kulturell im Miteinander gewachsene Praxisform, die als solche normativ reflektiert wird und zu reflektieren ist. Mit der Strafe wird ein Verbrechen durch die Rechtsgemeinschaft bewältigt, indem die Täterin entsprechend dem im Verbrechen betätigten Verhaltensgrundsatz und dem Gewicht der Tat angemessen durch die Rechtsgemeinschaft in ihrem Rechtsstatus gemindert wird. Mit diesem Tatausgleich wird das Verbrechen einseitig-feststellend einerseits als solches gekennzeichnet und andererseits so ausgeglichen, dass die Täterin nach dem Vollzug der Strafe als im Rechtsstatus gleichwertige Person stellt. Als Zweites wird die konkrete Situation des Opfers erörtert und festgelegt, wie es bei der Bewältigung des Konflikts zu unterstützen ist, insbesondere wie der Schaden wiedergutgemacht werden kann. Für die Unterstützung herangezogen wird zunächst der Täter, ersatzweise die Nachbarschaft, für diese ersatzweise der Staat. Drittens erlegt das Laiengericht dem Täter eine Strafe auf, wenn es sie zusätzlich zu den Bemühungen des Täters um Wiedergutmachung für erforderlich hält. Dies soll offensichtlich der Wiederherstellung des nachbarschaftlichen Friedens dienen, da es darauf ankommt, ob die Nachbarschaft die Sanktionslosigkeit im Übrigen für nicht tolerierbar hält oder nicht. Im vierten Schritt wird untersucht, ob und wie dem Täter sozial, medizinisch oder religiös geholfen werden kann. Allerdings dürfte dieses Verfahren nicht dem TOA als persönlichem kommunikativen Prozess zwischen Täter und Opfer, der ja auch in einem von der Öffentlichkeit abgeschirmten, insofern geschützten Raum privater Kommunikation stattfindet, entsprechen. 648 Vgl. etwa Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (523). 649 Die Strafe kann und sollte dabei aber seitens der Rechtsgemeinschaft einsichtsgetragen sein.

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wieder am gemeinsamen Leben teilhaben kann. Auch das Opfer wird in seinem Status als gleich zu achtende Person mit rechtlichen Mitteln bestätigt. Der Täter darf in seinem Rechtsstatus durch die Strafe nicht überhaupt als Selbstständiger negiert werden. Das heißt ihm müssen Räume zur selbstständigen sinnvollen Gestaltung seines Lebens verbleiben. Ebenso wie der Selbstständigkeit des Täters muss im Strafen die wechselseitige Abhängigkeit in der Existenz zur Geltung kommen, und zwar durch die Berücksichtung der sozialen Mitverantwortung für die Straftat im Strafmaß und durch eine angemessene psychosoziale Versorgung im Strafvollzug. Auf der Ebene der Möglichkeit der wechselseitigen Ausübung von Gewalt ist die Tat gegenüber dem Opfer und allen anderen Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft mit dem Strafen erledigt. Mit der Strafe wird also das Geflecht wechselseitiger Anerkennung in Bezug auf den Täter, das Opfer und die Rechtsgemeinschaft wiederhergestellt, soweit dies mit rechtlichen Mitteln möglich ist. Mit der Strafe drückt die Rechtsgemeinschaft zudem gegenüber dem Täter und ihren anderen Mitgliedern aus, dass das Verbrechen nicht sein soll und das Recht trotz des Verbrechens weiter gilt. Die Strafe ist als rechtliche Form der Bewältigung einer Straftat, die durch rechtlichen Zwang durchsetzbar ist, ein unmittelbar rechtliches Institut. 4. Vernünftiger Sinn des Täter-Opfer-Ausgleichs als Versöhnungsprozess Mit dem TOA soll der Konflikt zwischen Täter und Opfer auf einer persönlichen Ebene insgesamt geschlichtet und der soziale Frieden zwischen beiden wiederhergestellt werden. Er basiert wesentlich auf einer authentisch-einsichtsgetragenen persönlichen Kommunikation zwischen Täter und Opfer und bezieht sich damit auf Verhaltensweisen, die rechtlich nicht erzwungen werden können. Zunächst ist die Praxis des TOA zu beschreiben, danach zu klären, inwiefern der TOA als Versöhnungsprozess verstanden werden kann, und schließlich der vernünftige Sinn des TOA als Versöhnungsprozess zu erläutern. a) Täter-Opfer-Ausgleich in der Praxis Der TOA ist ein Verfahren, das sich zunächst praktisch und sozialwissenschaftlich begleitet etabliert und so auch rechtliche Reformen angestoßen hat. Zunächst wird daher beschrieben, wie sich der TOA entwickelt hat und was sein Verfahren genauer ausmacht. Danach wird seine Einbindung ins Recht erläutert.

4. Vernünftiger Sinn des Täter-Opfer-Ausgleichs als Versöhnungsprozess 

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aa) Entwicklung und Praxis des Täter-Opfer-Ausgleichs als Verfahren der Konfliktschlichtung Seit Mitte der 1980er Jahre wurde der TOA in Westdeutschland in wissenschaftlich begleiteten Modellprojekten, vor allem mit Jugendlichen, als Alternative zur Strafe erprobt, da im Jugendstrafrecht der Erziehungsgedanke gegenüber dem Schuldausgleich im Vordergrund steht. 1984 nahm wohl auch das erste deutsche Modellprojekt im Erwachsenenstrafrecht in Tübingen seine Arbeit auf. Es wurde ebenfalls wissenschaftlich begleitet.650 Grundanliegen des TOA ist es, den an einer Straftat Beteiligten die Möglichkeit zu geben, ihren Konflikt im unmittelbarpersön­lichen Kontakt außergerichtlich unter fachkundiger Anleitung so auszutragen und zu bereinigen, dass beide Seiten Frieden miteinander schließen können. Durch die unmittelbare Konfliktlösung soll auch ein entscheidender Beitrag dazu geleistet werden, den gesellschaftlichen oder Rechtsfrieden wiederherzustellen.651 Der Konflikt soll umfassend ausgetragen werden, sich also nicht auf den rechtlich relevanten Ausschnitt der Tat beschränken. So ist es möglich, dass das spätere Tat­ opfer den Täter etwa im Rahmen schon lang andauernder Nachbarschaftsstreitigkeiten zum Überschreiten der Schwelle des Rechts provoziert hat. In der Konfliktschlichtung kann der Nachbarschaftsstreit dann insgesamt aufgearbeitet werden. Ein weiterer Unterschied zur rechtlichen Bewältigung des Konflikts liegt in der Stellung der Beteiligten: Das rechtliche Strafverfahren konzentriert sich einseitig auf den Beschuldigten und den Erweis oder Nichterweis seiner Tatschuld im Rahmen eines staatlichen Machtverhältnisses. Im Konfliktschlichtungsverfahren wird demgegenüber davon ausgegangen, dass beide Parteien sich autonom, gleich und persönlich gegenüberstehen. Der Vermittlerin kommt eine allparteiliche Rolle zu, sie hat darauf zu achten, dass die Interessen von Täter und Opfer gleich gewichtet werden, etwa darauf, dass keine Seite aus spontaner Erleichterung heraus eine Vereinbarung eingeht, der sie später nicht mehr zustimmen würde.652 Statistisch und aus Erfahrungsberichten lässt sich der Erfolg der Konfliktvermittlung und die Zufriedenheit mit ihr durchaus belegen; die im TOA vereinbarten Ausgleichsleistun 650 Vgl. Dieter Rössner, TOA-Begleitforschung, S.  7; Thomas Hestermann, Verbrechensopfer, S. 179 f. (der allerdings davon ausgeht, dass das bundesweit erste Modellprojekt für erwachsene Täter und Opfer 1992 in Hannover gegründet wurde). Auf dem 55. DJT 1984 in Hamburg wurde die Durchführung und finanzielle Förderung von Modellprojekten gefordert, vgl. DJT (Hrsg.), Sitzungsberichte 55. DJT, Bd. II, C 194. 651 Vgl. TOA-Servicebüro / BAG TOA, TOA-Standards; vgl. auch die Homepage des TOAServicebüros http://www.toa-servicebuero.de/faq (23.3.2010); Hans-Jürgen Kerner, Handbuch Mediation, § 33 Rn. 8, 23, 27, 48; Thomas Trenczek, TOA-Infodienst Nr. 12 (November 2000), S. 5; Thomas Trenczek ZRP 1992, 130 ff.; Heinz Schöch, Gutachten C 59. DJT, C 65 f.; Thomas Hestermann, Verbrechensopfer, S. 185 f.; Bernd-Dieter Meier, GA 1999, S. 1 (3); Lars Oliver Michaelis, JA 2005, S. 828 (828 f., 830 f.). 652 Vgl. Thomas Hestermann, Verbrechensopfer, S.  185 f.; Hans-Jürgen Kerner, Handbuch Mediation, § 33 Rn. 8, 23; Thomas Trenczek ZRP 1992, 130 ff.; Bernd-Dieter Meier, GA 1999, 1 (3); Lars Oliver Michaelis, JA 2005, 828 (828 f., 830 f.); Heinz Messmer, Parteiautonomie, S. 115 ff.

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gen werden ganz überwiegend erbracht.653 Allerdings werden von Kritikerinnen auch erhebliche Zweifel am Modell des Gleichgewichts der Konfliktparteien und der Neutralität (Allparteilichkeit) des Vermittlers geäußert, denn gerade bei einer schweren Verletzung wie bei einer Straftat besteht im Ausgangspunkt kein Gleichgewicht der Parteien, sondern ein durch die Verletzung bewirktes Über-Unterordnungsverhältnis. So sei es etwa das falsche Signal, wenn bei häuslicher Gewalt die Tat nicht als strafbares Unrecht (und damit als illegitimes Herrschaftsverhältnis), sondern als Gegenstand partnerschaftlicher Übereinkünfte erscheine. Gerade bei deutlichen Machtgefällen dürfe die Mediation als Verfahren der Konfliktschlichtung durch einen neutralen Dritten nicht zum Einsatz kommen.654 Andere zeigen hingegen die spezifischen Probleme des TOA bei Gewalt in Paarbeziehungen und Möglichkeiten, mit diesen Schwierigkeiten konstruktiv umzugehen, auf. So weist Heike Rabe darauf hin, dass in einem Modellprojekt zum TOA bei Gewalt in Paarbeziehungen gesehen wurde, dass eine Entschuldigung in solchen Fällen nicht die gleiche Wertigkeit wie in „normalen“ TOA-Verfahren hat. Denn Entschuldigungen und Beteuerungen, dass sich nun alles ändern werde, seien bei häuslicher Gewalt fester Bestandteil der Gewaltbeziehung, die der momentanen Beruhigung der Situation dienten, aber eben keine längerfristige Verhaltensänderung anzeigten. Entsprechend wurde empfohlen, längerfristige Kontrollmechanismen in den Bewältigungsprozess einzubauen.655 Das Verfahren des TOA beginnt in der Regel damit, dass der Vermittler mit den Beteiligten im Rahmen getrennter Gespräche klärt, ob sie sich auf ein Ausgleichsverfahren einlassen wollen und welche Voraussetzungen für eine ausgleichende Maßnahmen bestehen. Teilweise soll schon diese Vermittlung für eine Konfliktschlichtung genügen.656 Wenn beide Seiten jedoch hierzu bereit sind, können sie 653

Vgl. BMJ (Hrsg.), TOA in Deutschland, S. 45 ff.; Dieter Rössner, TOA-Begleitforschung, S. 19 ff.; Franziska Kunz, MschKrim 2007, S. 466 (insb. 471 ff., 480 f.) für den TOA mit Jugendlichen und heranwachsenden Tätern; vgl. auch Hans-Jürgen Kerner, Handbuch Mediation, § 33 Rn. 42; Annemarie Kuhn, Erfolgskriterien, S. 82; Gabriele Kawamura, TOA, S. 71 ff.; Jürgen Schreckling, Ausgleichsverläufe, S. 90; Constanze Jansen / Kari-Maria Karliczek, Schlichtungsprozess, S. 173 f.; Kari-Maria Karliczek, Begleitforschung, S. 60 ff. 654 Dagmar Oberlies, Offener Brief für den DJB vom 12.3.2001. 655 Vgl. Heike Rabe, Streit 2002, S. 111 (117 f.). Sie setzt sich auf den S. 114 ff. ausführlich, differenziert und mit umfangreichen Nachweisen mit dem Für und Wider des TOA als Mittel der Konfliktbewältigung bei Gewalt in Paarbeziehungen auseinander und weist konstruktiv auf Möglichkeiten hin, diesem besonderen Problemfeld gerecht zu werden. Vgl. auch die von einer Arbeitsgruppe des Bundesarbeitstreffens zum TOA im Erwachsenenbereich im März 2004 erarbeiteten „Standards zur Bearbeitung von TOA-Fällen aus dem sozialen Nahraum“ unter http://www.toa-servicebuero.de/files/standards_haeuslgewalt.pdf (19.5.2010). Vgl. zu TOA und häuslicher Gewalt nunmehr auch Nadine Bals, Der Täter-Opfer-Ausgleich bei häuslicher Gewalt, 2010. 656 Nach Dieter Rössner, TOA-Begleitforschung, S. 19 in ca. 60 % der Fälle. Allerdings wird nicht deutlich, welche Art von Fällen das betrifft. Nahe liegend ist, dass eine bloße Vermittlung durch den Schlichter in Fällen ausreicht, in denen die konkrete persönliche Verletzung nicht tief geht. Es könnte aber auch sein, dass das Opfer einfach froh ist, überhaupt eine Ausgleichsleistung zu bekommen.

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gemeinsame Gespräche aufnehmen, die der Vermittler moderiert und bei denen sich beide Seiten auch von Beiständen, etwa Verwandten oder einer Rechtsanwältin begleiten lassen können. In diesen Gesprächen sollen die Sichtweisen beider Seiten auf den Vorfall entfaltet, die emotionale Situation von Täterin und Opfer eingebracht und aufgearbeitet sowie konkrete Leistungen zur Wiedergutmachung vereinbart werden. Es können auch Mechanismen zur Kontrolle der Zusagen verabredet werden. Für das Opfer der Tat besteht so die Möglichkeit zu erfahren, wie es zur Tat kam und warum gerade es zum Opfer wurde. Es kann sich seiner durch die Tat ausgelösten Gefühle, etwa Angst und Wut, klar werden, diesen unmittelbar gegenüber dem Täter im Rahmen des moderierten Gesprächs Ausdruck verleihen und auch deutlich machen, was es an ausgleichenden Maßnahmen erwartet. Die Täterin konfrontiert sich im unmittelbaren Kontakt mit dem Opfer häufig intensiver mit der eigenen Tat und der Verantwortung für sie als im Gerichtssaal, wo sie sich aufgrund der Formalität des Strafverfahrens leichter persönlich in sich zurückziehen kann. Sie hat Gelegenheit zu erklären, wie es zur Tat kam, kann Verantwortung für sie übernehmen und sich unmittelbar gegenüber dem Opfer entschuldigen. Beide Seiten lassen sich so auf einen intensiven persönlichen Aufarbeitungsprozess ein, der von beiden Seiten viel verlangt, den Konflikt damit aber auch nachhaltig in der persönlichen Beziehung zwischen Täter und Opfer befrieden kann. Daneben können individuell passende Lösungen zum Ausgleich des Schadens und auch zum immateriellen Ausgleich der Tat, etwa in Form von Geschenken, gemacht werden. Diese individuellen Vereinbarungen werden auch überwiegend eingehalten. Es kann sogar vorkommen, dass der Täter mehr leistet als das, wozu er rechtlich verpflichtet wäre. Allerdings steht die Entschuldigung bei den Vereinbarungen im Vordergrund.657 Der TOA kann allerdings auch an seine Grenzen stoßen, etwa wenn der Vermittler seine allparteiliche Rolle verlassen müsste, um Täter oder Opfer therapeutisch beizustehen, weil die Tat Ausdruck einer Traumatisierung des Täters ist oder weil das Opfer durch die Tat traumatisiert wurde. Hier ist dann die Hinzuziehung fachkundiger Beistände oder eine Übermittlung an die entsprechenden Stellen notwendig.658 Hier können nur grundlegende Strukturen eines TOA-Verfahrens aufgezeigt werden. Wie sich bereits am TOA bei Gewalt in Paarbeziehungen gezeigt hat, ist es von der Art des konkreten Konflikts anhängig, wie dieser den aufgezeigten Leitlinien und Zielen entsprechend auszugestalten ist. Der TOA kommt vor allem bei Körperverletzungsdelikten, Sachbeschädigungen, Beleidigungen, Bedrohungen mit einem Verbrechen, Nötigungen, Hausfriedens­ 657 Vgl. umfassend TOA-Servicebüro / BAG TOA, TOA-Standards; vgl. zum Ganzen Thomas Hestermann, Verbrechensopfer, S.  181 ff.; Hans-Jürgen Kerner, Handbuch Mediation, § 33 Rn. 8 ff., 23, 45 f.; Hendrik Middelhof, Prozessleitplan zum TOA; Heinz Messmer, Parteiautonomie, S. 116 ff.; Gabriele Kawamura, TOA, S. 71 ff. 658 Vgl. zum Ganzen Thomas Hestermann, Verbrechensopfer, S. 187 ff., der ausführlich ein konkretes Beispiel schildert; vgl. auch Bernd Glaeser, Partnerbeziehungen, S.  12; TOA-Ser­ vicebüro / BAG TOA, TOA-Standards.

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bruch und Eigentumsdelikten zur Anwendung.659 Bei kleineren Delikten, die nachvollziehbaren Abläufen entsprangen, sind der Sinn des TOA und sein Gelingen auch gut nachvollziehbar. So schildert Thomas Hestermann einen Fall, bei dem ein Pizzaausfahrer einen Rentner geschlagen und dessen Mofa überfahren hatte, nachdem dieser ihn wegen des Aufblendlichts beschimpft hatte. Der Pizzafahrer war bereits sehr abgespannt und an dem Tag schon einmal beleidigt worden. Seine Überreaktion tat ihm sehr leid, und er bot dem Rentner an, ein neues Mofa zu kaufen, obwohl das kaputte bereits fünf Jahre alt war. Im Laufe des Gesprächs verfielen beide mitunter ins „Du“, der Rentner nannte den Pizzafahrer „Kollege“, und sie lachten miteinander, nachdem sie sich zu Beginn der Vermittlung nur eisig begrüßt und sich gegenseitig lange nur über den Vermittler angesprochen hatten.660 Aber auch schwere Delikte wie versuchter Mord oder Totschlag oder Sexual­delikte werden mit dem TOA bearbeitet, allerdings sehr selten.661 Wirkliche Versöhnung scheint bei so schweren Delikten nur ausnahmsweise stattfinden zu können, aber möglich zu sein. So wurde im „chrismon“-Magazin über die Aussöhnung zwischen Klara Schauer und ihrem Mann Walter, der versucht hatte, sie wegen einer außerehelichen Affäre zu erschießen, berichtet.662 Natürlich kann der TOA auch misslingen. Ein Beispiel ist eine der Skinheadszene angehörende Gewalttäterin, die eine „Kameradin“ so lange mit Fußtritten getreten hatte, bis sich deren Kopfhaut ablöste, und die an einem TOA und einem Anti-Gewalt-Training teilgenommen hatte. Beides führte nicht zu der Einsicht, dass Gewalt keine adäquate Form im Miteinander ist und andere nicht misshandelt werden dürfen: „Das Mädchen war wohl traumatisiert oder so. Ich habe aber nach wie vor keinen Respekt vor ihr, und sie hat auch immer noch Angst vor mir.“ „Das [Anti-Gewalt-Training] ist eine nette Theorie. Ich habe verstanden, was die von mir wollen, aber in der Praxis mache ich es auf meine Weise. Ich kann mit körperlicher Gewalt gut leben.“663 Hier zeigt sich, dass der TOA (und andere auf die persönliche Entwicklung und Einsicht zielende Maßnahmen) hinsichtlich der persönlichen Entwicklung und Konfliktlösung nicht nur nachhaltig befriedend und lösend wirken kann, sondern in hohem Maße von der persönlichen, nicht erzwingbaren Einsicht der Beteiligten abhängig und deshalb sehr fragil ist. Es fällt schwer, ein genaues Bild davon zu gewinnen, inwiefern der TOA für die Bewältigung von Straftaten insgesamt praktisch relevant ist. Statistisch ist der TOA bislang nur lokal begrenzt oder für Einzelprojekte untersucht. Umfassende und detaillierte amtliche Angaben zur tatsächlichen Relevanz des TOA in der Strafverfolgungspraxis stehen nicht zur Verfügung, lediglich einzelne Aspekte 659

Hans-Jürgen Kerner, Handbuch Mediation, § 33 Rn. 47. Thomas Hestermann, Verbrechensopfer, S.181 ff. 661 Hans-Jürgen Kerner, Handbuch Mediation, § 33 Rn. 47. 662 Vgl. Elisabeth Hussendörfer, Nach dem großen Knall, chrismon 1/2006, S. 12 ff., vgl. zur Autonomie der Beteiligten hinsichtlich des persönlichen Bewältigungsprozesses in diesem Kapitel unter 4. d) aa) (4), 4 d) bb) (3) und 4. d) cc) (3). 663 Vgl. Annette Langer, „Die will einfach nicht verrecken“, Spiegel-Online am 28.6.2005. 660

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lassen sich beziffern. Aus der Geschäftsstatistik der Strafgerichte aus 2006 geht beispielsweise hervor, dass das Strafverfahren bezüglich 956.842 Beschuldigter erledigt wurde, wobei sich 1527 Einstellungen auf einen TOA bezogen.664 Für das Jahr 2000 wurde hochgerechnet, das bundesweit 20.000–30.000 im Strafverfahren bearbeiteter Fälle jährlich auch im TOA bearbeitet werden.665 Der TOA dürfte so im vergangen Jahrzehnt praktisch an Bedeutung gewonnen haben. Allerdings hat er bei der Bewältigung von Straftaten überhaupt ein relativ geringes Gewicht, wie folgende Zahlen für Nordrhein-Westfalen belegen: Dort wurden im Jahr 2007 4.535 TOA-Verfahren aus Anlass eines Strafverfahrens durchgeführt, denen 184.800 Verurteilungen in demselben Jahr gegenüberstanden.666 bb) Einbindung des Täter-Opfer-Ausgleichs in das Recht Aufgrund der als erfolgreich eingeschätzten Modellprojekte wurde der TOA dann recht schnell in das Sanktionensystem integriert. Er wurde zunächst durch das erste Jugendgerichtsänderungsgesetz vom 30.  August  1990667 als Weisung (Erziehungsmaßregel) im Jugendstrafrecht eingeführt. Zuvor konnte bereits nach dem Jugendgerichtsgesetz vom 4. August 1953668 als Zuchtmittel zur Ahndung der Straftat (§ 15 I Nr. 1, 2 JGG) und als Bewährungsauflage (§ 23 i. V. m. § 15) die besondere Pflicht auferlegt werden, den Schaden wiedergutzumachen669 und / oder sich bei dem Verletzten persönlich zu entschuldigen. Schon damals war das Verhalten des Täters nach der Tat Kriterium für die Aussetzung einer Jugendstrafe zur Bewährung (§ 21 JGG). Im Erwachsenenstrafrecht fand „das Verhalten des Täters nach der Tat“ als Kriterium für die Entscheidung zur Aussetzung einer nicht mehr als einjährigen Freiheitsstrafe zur Bewährung (heute: § 56 I StGB) schon lange670 und seit 1969671 (in schärfender wie mildernder Hinsicht) im Rahmen der Strafzumessung (§ 46 II 6.  Alt.  StGB) Beachtung. Seit In-Kraft-Treten des Verbrechensbekämpfungsgesetzes im Jahre 1994672 kann im Falle eines vor Verurteilung 664

Vgl. zum Ganzen m. w. N. Hans-Jürgen Kerner, Handbuch Mediation, § 33 Rn.  36 ff. (insb. 36 und 40); Peter Münster, Die Erfassung von Kriminalität, in: Michael Bock (Hrsg.), Kriminologie, § 23 Rn. 54 f. 665 Vgl. Dieter Rössner, TOA-Begleitforschung, S. 15. 666 Vgl. Michael Kubink, DRiZ 2008, S. 345 (346). 667 BGBl. I S. 1853. 668 BGBl. I S. 751. 669 Heute ist aufgrund einer Änderung nur noch die Auferlegung der Wiedergutmachung „nach Kräften“ möglich. 670 Bekanntmachung des Wortlautes des Strafgesetzbuches vom 25. August 1953 (ab 1. Januar 1954 geltend), BGBl. I S. 1083 ff., dort § 23 II. 671 Das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts (2.  StrRG) vom 4.  Juli  1969, BGBl.  I S. 717 (in Kraft seit 1. Oktober 1969), § 46 II 6. Alt. wurde durch das Opferschutzgesetz vom 18. Dezember 2003, BGBl. I S. 2496 (in Kraft seit 1. April 1987) um die Worte „sowie das Bemühen des Täters einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen“ ergänzt. 672 Vom 28. Oktober 1994, BGBl. I S. 3186 (in Kraft seit 1. Dezember 1994).

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

erfolgten TOA, einer Wiedergutmachung der Tat, deren ernsthaften Erstrebens oder im Falle einer Schadenswiedergutmachung die Strafe gemildert und sogar von ihr abgesehen werden, wenn eine bestimmte Strafhöhe nicht überschritten ist (§ 46a StGB). Auch hier wurde der TOA als Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen, gesetzlich definiert. Weiterhin wurden das Bemühen um Schadenswiedergutmachung als Kriterium für die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung bei einer über ein- bis zweijährigen Freiheitsstrafe (§ 56 II StGB), die Bewährungsauflage bei Freiheitsstrafen, zur Genugtuung für das begangene Unrecht den durch die Tat verursachten Schaden nach Kräften wiedergutzumachen“ (§ 56b II Nr. 1 StGB), und die Bewährungsauflage bei Geldstrafen, „sich zu bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen oder sonst den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen (§ 59a), eingeführt, um „den Belangen der Opfer von Straftaten stärkeres Gewicht zu verleihen“673. Auch das Strafprozessrecht enthält einige Normen zum TOA. Seit 1975674 konnte unter anderem von der Eröffnung des Hauptverfahrens abgesehen oder dieses vorläufig eingestellt werden, wenn dem Beschuldigten bzw. Angeschuldigten bei geringer Schuld auferlegt wurde, zur Wiedergutmachung des durch die Tat verursachten Schadens eine bestimmte Leistung zu erbringen, und diese Auflage geeignet war, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen (§ 153a I Nr. 1 StPO i. d. F. bis 27.  Dezember  1999). Wurde die Auflage erfüllt, konnte die Tat nicht mehr als Vergehen verfolgt werden. Seit dem 28. Dezember 1999675 ist eine solche Einstellung bei der Erfüllung von Auflagen und Weisungen auch möglich, wenn der Be- bzw. Angeschuldigte sich ernsthaft bemüht, einen Ausgleich mit dem Verletzten (TOA) zu erreichen und dabei seine Tat ganz oder zum Teil  wiedergutmacht oder deren Wiedergutmachung erstrebt (§ 153a I Nr. 5 StPO). Gemäß dem ebenfalls 1999676 eingeführten § 155a StPO sollen Staatsanwaltschaft und Gericht in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeiten prüfen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen, und in geeigneten Fällen darauf hinwirken, soweit der Verletzte nicht ausdrücklich widerspricht. Seit 2004677 soll der Beschuldigte gem. § 136 I StPO bei der ersten Vernehmung in geeigneten Fällen darauf hingewiesen werden, dass ein TOA möglich ist. Die Regelungen zum TOA ordnen sich so in Regelungen zur „Wiedergutmachung“ der Tat gegenüber dem Verletzten ein. Dabei kann ein TOA zur Einstellung des Strafverfahrens, zu einer Strafmilderung oder zur Aussetzung des Vollzugs 673 So zunächst zur Problemstellung des Gesetzesentwurfes, vgl. BT-Drs. 12/6853, S. 1 (vgl. auch S. 21 ff.); in der ausführlichen Begründung werden auf S. 21 auch auf den Täter bezogene spezialpräventive Erwägungen deutlich. 674 Bekanntmachung der Neufassung der Strafprozessordnung vom 7. Januar 1975, BGBl. I S. 158. 675 Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs und zur Änderung des Gesetzes über Fernmeldeanlagen vom 20. Dezember 1999, BGBl. I S. 2491. 676 Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs und zur Änderung des Gesetzes über Fernmeldeanlagen vom 20. Dezember 1999, BGBl. I S. 2491. 677 Opferrechtsreformgesetz vom 24. Juni 2004, BGBl. I S. 1354.

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einer Freiheitsstrafe auf Bewährung führen, ohne dass im Gesetz näher ausgeformt wäre, welche Anforderungen an das Ausgleichsverfahren zwischen Täter und Opfer oder an das ernsthafte Bemühen des Täters darum zu stellen sind. Die in der Praxis ausdifferenzierten verfahrensmäßigen Anforderungen zur Gewährleistung der Ziele des TOA-Verfahrens finden so im Gesetz keinen Niederschlag. Beispielsweise ist nicht vorausgesetzt, dass eine unabhängige Dritte den Konflikt vermitteln muss, Anforderungen hinsichtlich deren fachlicher Qualifikation sind damit erst recht nicht rechtlich gesichert.678 b) Verhältnis der Interexistentiale Täter-Opfer-Ausgleich und Versöhnung Im philosophisch-kritischen Hinterfragen des TOA als Form unserer Praxis lässt sich dieser als formalisierter durch eine Dritten vermittelter Prozess der Versöhnung zwischen Täter und Opfer einer Straftat auf der unmittelbar-persönlichen Ebene verstehen. Dabei wird versucht, das persönliche Verhältnis wechselseitiger Anerkennung als Gleichgeordnete in der Existenz auf authentisch-persönliche Weise wiederherzustellen, also in einer Form der Kommunikation, deren Bedingungen rechtlich abgesichert werden können, die aber selbst nicht rechtlich oder auf andere Weise erzwingbar ist. Der TOA ist so eine konkrete Ausformung der Versöhnung in der Bewältigung von Straftaten, die damit auf der Ebene des persönlichen, unmittelbaren authentischen Kontakts zwischen den Beteiligten bewältigt werden kann. Dabei ist die Versöhnung nach einer Straftat nicht an die Formen des TOA gebunden, sie kann sich auch auf andere Weise vollziehen. Es lässt sich sagen, dass er eine konkrete Form der Versöhnung nach einer Straftat ist, so wie die Freiheitsstrafe eine Form des Strafens zur Bewältigung einer Straftat ist. Dabei sind Strafe und Versöhnung darüber hinaus übergreifende Sinngebungen zur Bewältigung von Konflikten in unserem Miteinander, die auch der Bewältigung andersartiger Konflikte oder Verletzungen zugrunde liegen. Der TOA soll nun in seinem vernünftigen Sinn als Versöhnungsprozess erläutert werden. Eine Detailkritik, etwa hinsichtlich der Verfahrensstandards oder der Spezifika, die sich aus der Art von Straftaten ergeben, erfolgt nicht.

678 Für die Mediation als Verfahren der Konfliktbeilegung in zivilrechtlichen Angelegenheiten liegt ein Gesetzesentwurf der Fraktionen der CDU und der FDP im Niedersächsischen Landtag vom 17. August 2007 vor, Nds. LT Drs. 15/3708, der sich allerdings durch Ablauf der Wahlperiode erledigt hat; vgl. dazu auch den Antrag der SPD-Fraktion zum Ausbau der Vorreiterrolle Niedersachsen bei der einvernehmlichen Streitbeilegung vom 30. September 2008, Nds. LT Drs. 16/504. Inzwischen ist am 26. Juli 2012 auf Bundesebene das Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konflikt­beilegung in Kraft getreten (BGBl. I S. 1577; vgl. auch BT-Drs. 17/5335 und BR-Drs. 377/12).

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c) Paradigmen und wissenschaftliche Entfaltungen des Interexistentials der Versöhnung Das Verständnis von Versöhnung dürfte in unserer Kultur wesentlich von einer christlich-theologischen Tradition geprägt sein. Hier betrifft sie zum einen das Verhältnis des Menschen zu Gott, zum anderen das zwischenmenschliche Verhältnis. Versöhnung mit Gott bezeichnet dabei die Wiederherstellung der vom Menschen schuldhaft zerbrochenen Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch durch Jesus Christus. Zentral für dieses Verständnis ist der zweite Brief des Paulus an die Korinther (2 Kor 5,17–19): „(17) Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. (18) Aber das alles ist von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. (19) Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort der Versöhnung.“ Die Versöhnung folgt demnach einer Verfehlung und besteht darin, dass Gott dem Menschen seine Sünden erlässt; sie ermöglicht so einen neuen Anfang. Sie setzt eine Ausgleichsleistung, den stellvertretenden Sühnetod Christi, voraus. Der Bruch mit der über dem Menschen stehenden göttlichen Weltordnung wird durch Gott allein geheilt, die Versöhnung widerfährt dem Menschen. Teilweise wird deshalb davon ausgegangen, dass sie keine Mitwirkung des Menschen erfordert, teils wird aber auch betont, dass die Versöhnung die Reue als Umkehrwillen des Menschen voraussetzt, auch wenn sie gött­ liche Gnade bleibt.679 Es gibt aber auch Bibel-Stellen, die sich auf das Vergeben im zwischenmenschlichen Verhältnis beziehen. Beispielsweise heißt es im Markus-Evangelium (Mk 11,25): „Und wenn ihr steht und betet, so vergebt, wenn ihr etwas gegen jemanden habt, damit auch euer Vater im Himmel euch vergebe eure Übertretung.“ Vor allem in den alttestamentarischen Rechtssammlungen geschieht die Aussöhnung über die Wiedergutmachung des Schadens. Die Vergebung findet hier zwischen Menschen, also grundsätzlich in einem Verhältnis Gleichgeordneter statt und setzt dessen Buße als Schadenswiedergutmachung voraus.680 Die Stelle bei Markus benennt als Motiv der Vergebung, dass eigene Fehler des Vergebenden dann auch durch Gott vergeben werden. Sie verweist insofern auf die Fehlbarkeit auch des Vergebenden und damit darauf, dass jeder Mensch auf Vergebung angewiesen ist, weil er fehlbar ist. Das Verständnis von Versöhnung innerhalb der christlich-theologischen Tradition dürfte sich aber auch in einem Umfeld entwickelt, ihren Versöhnungsbegriff also nicht gänzlich aus sich selbst geschöpft haben. Gerade für die zwischen 679 Vgl. zum Ganzen Harm Alpers, Versöhnung / I. Theologie, HWbPhil, 11. Bd., Sp. 891 ff., Horst Bürkle u. a., Versöhnung, sowie Walter Radl u. a., Vergebung, Lexikon für Theologie und Kirche, 10. Bd. 719 ff. sowie 651 ff., vgl. auch Karin Scheiber, Vergebung, S. 15 ff. 680 Umfassend zeigt Beate M. Weingardt, Vergeben, S. 18 ff., die zwischenmenschliche Vergebung als Thema der Bibel auf, vgl. auch Paul Deselares, Versöhnung / II. Biblisch-theologisch, Lexikon für Theologie und Kirche, 10. Bd. Sp. 720 f.

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menschliche Ebene haben wir alle Erfahrungen mit dem miss- oder geglückten Bereinigen von Konflikten jedweder Art.681 Für eine philosophische Analyse des Interexistentials der Versöhnung im Wege der Interexistentialanalyse682 bedeutet dies, dass der Begriff auch auf der Basis eigener reflektierter und zu reflektierender Versöhnungserfahrungen und den Beschreibungen von Versöhnungserfahrungen und -reflexionen gewissermaßen „eingekreist“ und ihr rationaler Gehalt im Rückgriff auf die Grundzüge unserer Lebenswelt aufgezeigt wird. In die folgenden Überlegungen werden also immer auch persönliche Erfahrungen und Erfahrungsberichte einfließen, etwa die von einer intensiven persönlichen Auseinandersetzungen geprägten Überlegungen über Bewältigung der Taten der RAF von Carolin Emcke, die sie mit „Stumme Gewalt“ veröffentlicht hat. Ebenso bilden Erfahrungsberichte zum TOA und die dort ausgeformten Verfahrensschritte eine Basis für Überlegungen zum Versöhnungsbegriff.683 Auch wenn meine Analyse auf den TOA als formalisierten Prozess der Versöhnung in der Bewältigung von Straftaten beschränkt sein soll, kann auf persönliche Versöhnungserfahrungen zurückgegriffen werden, auch wenn sie andere Verletzungen als Straftaten betreffen. Denn die Verletzungsdimension der Negierung im unmittelbar-persönlichen Verhältnis besteht unabhängig davon, ob der Verletzte durch eine kriminelle Verletzung in der Basis seiner Existenz oder in geringerem Ausmaß betroffen ist. Hier gibt es graduelle Abstufungen, das Wesentliche dieser Dimension, die Erhebung über den anderen oder dessen Nichtachtung ist jedoch die gleiche. Auch die Bewältigung dieser Dimension in Gestalt der Versöhnung ist daher ihrer Struktur nach bei kriminellen und sonstigen Verletzungen die gleiche.684 In meiner persönlichen Erfahrung fällt mir auf, dass ein Konflikt für mich erst wirklich bereinigt ist, wenn ich mich mit der anderen darüber verständigen konnte, was geschehen ist, wenn wir uns also darüber klar werden, wie sich der Konflikt für jede von uns darstellte. Wichtig ist zudem, dass – im Falle eines verletzenden Verhaltens – eine Einsicht darüber besteht, dass das Verhalten verletzend war, sich die Verantwortliche dafür entschuldigt und die andere diese Entschuldigung annehmen kann oder dass – im Falle eines nicht eigentlich verschuldeten Konflikts – jedenfalls deutlich wird, dass wir uns beide als Person respektieren und schätzen; die Authentizität in der Kommunikation ist wesentlich für die ganze Konfliktbearbeitung. Die oben beschriebene Struktur des TOA685 und praktisch-theologische Ansätze zur Konfliktbear 681 Eine knappe prägnante Sammlung von Alltagsreflexionen zu Schuld, Sühne und Vergebung findet sich bei Kai Nitschke / Monika Goetsch, Drei Worte, die alles verändern, chrismon 03/2006, S. 12 ff. Bei Beate M. Weingardt, Vergeben, S. 120 ff., lassen sich die Ergebnisse ihrer qualitativen Studie zu Einstellungen zur Vergebung und zum Prozess des Vergebens, die ebenfalls Alltagserfahrungen der persönlichen Bewältigung verschiedener Konflikte aufgreifen, nachlesen. 682 Vgl. im I. Kapitel unter 3. c). 683 Vgl. hierzu in diesem Kapitel unter 4. a) aa). 684 Allerdings erweist es sich praktisch aufgrund der Schwere der Verletzung – der Verletzte ist in der Basis seiner Existenz negiert worden – und des Verschuldens als viel schwieriger, diese Verletzungsdimension zu bewältigen. 685 In diesem Kapitel unter 4. a) aa).

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beitung686 verweisen auf Gleiches: einen Prozess der freiwilligen kommunikativen Aufarbeitung der Tat, der im Falle eines gelungenen Ausgleichs die Reue und Entschuldigung des Täters und die Akzeptanz des Opfers einschließt. Hinzu kommen gegebenenfalls die ebenfalls freiwillig vereinbarten Ausgleichsleistungen. Der Rückgriff auf je persönliche Erfahrungen ist auch deshalb besonders bedeutsam, weil wissenschaftliche Sinndeutungen des Interexistentials der Versöhnung rar sind. Zwar wird das Versöhnen vor allem in der Theologie, in der Psychologie und in der Friedensforschung untersucht,687 aber gerade in der Moralphilosophie ist es nur ansatzweise entfaltet, obwohl die Fragilität als Fehlbarkeit unseres Verhaltens in unsere Praxis konstitutiv eingewoben ist, also eine Grundfrage unserer Moralität betrifft. Die Ethiken konzentrieren sich vor allem auf die Pflicht, das Sollen und das Gute, also die Bildung des richtigen Willens oder die Bestimmung des Guten; als Sanktion fehlerhaften Verhaltens wird allenfalls die Strafe erörtert.688 Der Begriff der Versöhnung ist so nicht auf dieselbe Weise wie der Begriff der Strafe oder der Straftat wissenschaftlich entfaltet worden, es lässt sich eher von vereinzelten Versatzstücken im Forschungsfeld sprechen, die teils auch nur Aspekte des Versöhnungsprozesses erfassen. Für die Philosophie hat vor allem Klaus-Michael Kodalle eingedenk der Fundamentalität des Verzeihens für die menschliche Praxis die Schriften verschiedener Denker hierzu aufgearbeitet und selbst „Annäherungen an eine Theorie des Verzeihens“ ausgeführt. Auch die persönliche Auseinandersetzung von Emcke in „Stumme Gewalt“ ist von philo­ sophischer Tiefe und Schärfe. Karin Scheiber hat in einer systematisch-theologischen Untersuchung den Begriff der Vergebung im Spannungsfeld zwischen theologischen Deutungen der göttlichen und zwischenmenschlichen Vergebung und moralphilosophischen Überlegungen zur Vergebung als bedeutungsgetragenen kommunikativen Akt entfaltet. Gestützt auf diese Recherchen und Überlegungen, im Grenzgang zwischen eigenen Erfahrungen, Erfahrungsberichten anderer und den Reflexionen weiterer Disziplinen soll nun das Interexistential der Versöhnung bezogen auf den persönlichen Prozess der Bewältigung einer Straftat im TOA kritisch im Hinblick auf die Konstitution unserer Praxis erläutert werden.689 Damit wird der TOA, soweit ich das überblicke, erstmals philosophisch analysiert. Meine Überlegungen verstehen sich zugleich als ein Beitrag zur moralphilosophischen Ausformung des Interexis 686

Vgl. hierzu Konrad Baumgartner, Vergebung, IV. Praktisch-theologisch, Lexikon für Theologie und Kirche, 10. Bd., Sp. 654; Karin Scheiber, Vergebung, S. 116 ff., 254 ff., 315 f. 687 Einen Überblick gibt Beate M. Weingardt, Vergeben, S. 18 ff. 688 Zum fundamentalen Charakter der Versöhnung bzw. des Verzeihens als Umgang mit fehlerhaftem Verhalten, vgl. umfassend im II. Kapitel unter 2. c) ii) (3). Vgl. zum Befund in den Moraltheorien neben Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen, S. 6 f., 31; ders., Verzeihung des Unverzeihlichen?, S. 414 f., 421, 437 f., ders., Geist der Verzeihung (1), S. 623; ders., Grundbegriff, S. 107 f.; Karin Scheiber, Vergebung, S. 116 ff., Beate M. Weingardt, Vergeben, S. 49 ff. 689 Vgl. zur Methode des Annäherns auf der Grenze zwischen verschiedenen, auch wissenschaftlichen Zugängen auch Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen, S. 7 ff., insb. 11 f.

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tentials der Versöhnung als – angesichts der Fehlbarkeit und Verletzlichkeit unserer Existenz – fundamentaler Aspekt unseres Zusammenlebens als Selbstständige und voneinander Abhängige. Entsprechend werden die Aspekte des Versöhnens näher erläutert, die sich auf die Bewältigung von Verletzungen zwischen selbstständigen fehlbaren, verletzlichen und aufeinander angewiesenen Existenzen ergeben. Auch damit wird kein umfassendes Bild des Versöhnens gezeichnet werden können. So können auf die Leiblichkeit bezogene, für das Versöhnen ebenfalls wichtige Gesichtpunkte, wie sie etwa für die Kraft zum Versöhnen als „Kraft des Herzen“, in der Rede vom „Verzeihen als Tun aus Liebe“690 und für die Rolle von Scham und Selbstentblößung in der Reue691 im Verzeihensprozess relevant sein dürften, hier nicht näher untersucht werden. d) Erläuterung des vernünftigen Sinns des Interexistentials des Täter-Opfer-Ausgleichs als Versöhnungsprozess nach einer Straftat Der TOA kann als formalisierter durch eine allparteiliche Dritte vermittelter Prozess der Aufarbeitung einer Straftat zwischen Täter und Opfer mit dem Ziel der Versöhnung verstanden werden. Dabei wird in der Versöhnung das unmittelbarpersönliche Verhältnis zwischen Täter und Opfer in der einsichtsgetragenen Gestaltung des unmittelbaren Kontakts als Verhältnis wechselseitiger Anerkennung wiederhergestellt. Das Gelingen des TOA hängt davon ab, ob Täter und Opfer die Tat kommunikativ aufarbeiten können, der Täter das Fehlerhafte seines Tuns einsieht und sich entschuldigt, das Opfer die Entschuldigung annehmen, also dem Täter vergeben, kann und vergibt sowie ob sich Täter und Opfer auf Ausgleichsleistungen einigen können, wenn das Opfer einen Ausgleich möchte. Diese Aspekte des TOA als Versöhnungsprozess sollen nun im Einzelnen erläutert werden. aa) Kommunikative Aufarbeitung der Tat Wenn Täter und Opfer sich auf einen TOA einlassen, wird zunächst der Konflikt im Gespräch entfaltet, auch jenseits dessen, was rechtlich relevant ist. Der Tat­ hergang wird aus der Sicht der beiden Parteien geschildert, die Motive für die Tat werden aufgedeckt, deren Wirkungen umfassend, also etwa in materieller und psychischer Hinsicht, geklärt und die Straftat möglicherweise in einen größeren Kon 690 Vgl. praktisch zu den Herzmeditationen zum Bewältigen von Verletzungen in einer zenbuddhistischen Tradition Thich Nhat Hanh, Ich pflanze ein Lächeln, und Stephen Levine, Sein Lassen, beide mit Erfahrungsberichten zu Versöhnungs- und Verzeihensprozessen nach schwersten Verletzungen, etwa der Ermordung des eigenen Kindes, sexuellen Missbrauchs und zur Bewältigung persönlicher Erfahrungen durch Veteranen des Vietnamkrieges. 691 Vgl. hierzu Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen, S.  31; Karin Scheiber, Vergebung, S. 156 f. mit Fn. 104.

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flikt eingeordnet. Der Täter hat die Möglichkeit, persönlich gegenüber dem Opfer seine Motive zu erklären, das Opfer hat die Möglichkeit, den Täter persönlich mit den Folgen der Tat zu konfrontieren. Die Tat wird so verstehbar, kann also in die Lebensgeschichte des Täters und des Opfers als dessen Teil eingeordnet werden. Diese persönliche Aufklärung und Konfrontation ermöglicht die Selbstbehauptung von Täter und Opfer nach einer Verletzung. Durch das gemeinsame Aufklären der Tat in ihrer ganzen Bedeutung wird sie interexistentiell als Verletzungsgeschehen wirklich, sie steht gewissermaßen als gemeinsame Wahrheit in ihren konkreten Facetten im Raum. Zur Erläuterung dieser Aspekte sei zunächst an das meiner Untersuchung vorangestellte Zitat von Emcke692 erinnert: Kaum jemand, der nicht Opfer dieser stummen Gewalt geworden ist, kann verstehen, was das heißt: allein zu sein mit dieser Stille, in der Fragen verhallen ohne Echo. Allein zu sein mit diesem Zorn, der keinen Adressaten kennt. Nicht Einspruch erheben zu können, selbst wenn es zu spät ist, einklagen zu können, eine Rechtfertigung zumindest, die in der Logik des Gegenübers sinnhaft wäre..693

(1) Verstehen der Tat In diesem Zitat und auch im Schlagwort der „stummen Gewalt“ kommt zum Ausdruck, dass der Täter die Opfer einer Tat hilf- und sprachlos zurücklässt; sie sind mit einer Erniedrigung oder Negierung, die ihre Existenz in der gemeinsamen Welt unmittelbar betrifft, konfrontiert. Die Tat widerfährt ihnen, wirft Fragen auf: Warum gerade ich (oder mein Freund), was hat die Täter dazu bewegt, hat das irgendeinen Sinn? Um die Tat in die eigene Lebensgeschichte einordnen zu können, muss sie verstanden werden. Da sie die Tat eines anderen ist, ist Basis für das Verstehen die Möglichkeit, den anderen zu fragen. Die Tat zu verstehen ermöglicht es, sie in die Welt einzuordnen, sie gedanklich zu erfassen: Das sprachlich getragene Verstehen ist der Zugang zu unserer Welt, in dem wir wir selbst sind. Anders formuliert: wir sind wir selbst, indem wir uns, unser Leben und die Welt verstehen. Dies geschieht nicht in einem grundsätzlichen Lebensakt, sondern entfaltet sich in Kindheit und Jugend und vollzieht auch danach noch andauernd. So wie wir unser Leben in allen seinen Aspekten verstehen und sinngetragen gestalten, formen wir seine Gestalt im Augenblick und über die Zeit hinweg mit. Auch Gefühle sind uns als Gefühle letztlich nur als sinngetragene Bedeutung im Verstehen zugänglich, auch wenn sie einen eigenen vom Denken relativ unabhängigen, wahrnehmenden Zugang zur Welt und unserem Leben darstellen, über den wir reflektieren.694 692 Auch wenn die Taten der RAF, die Emcke im Blick hat, ein kollektive Dimension haben, haben sie doch auch eine individuelle Ebene – konkrete Menschen haben konkrete Menschen getötet, deren Angehörige und persönlichen Freunde intensiv von der Tat betroffen, also auch Opfer sind, wenn auch nicht im strikt strafrechtlichen Sinne. 693 Carolin Emcke, Stumme Gewalt, S. 26. 694 Vgl. hierzu im II. Kapitel unter 2. c) cc).

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Die Ereignisse, die unser Leben betreffen und gestalten, also unser Leben und unsere Welt mit ausmachen, erfassen wir in all ihren Aspekten letztlich verstehend. Zu diesen Verhaltensweisen und Ereignissen, die uns widerfahren, zählen Straf­ taten und kriminelle Verletzungen. Ein Bedürfnis der Beteiligten, die Tat aufzuklären, also zu erklären, wie es zur Tat kam und was sie bewirkt hat, ist dem entsprechend nicht bloßes Gefühl, sondern ist der Weg, die Tat als Tat zu verstehen und so in das eigene Leben als dessen Teil, als etwas, was jemand getan hat oder was jemandem durch einen anderen widerfahren ist, zu integrieren, also als Bestandteil der eigenen Identität zu akzeptieren und zu verarbeiten. Die gemeinsame Klärung der Hintergründe der Tat und deren Auswirkungen, das Bedürfnis des Täters zu erklären, warum es zur Tat kam, die wesentlicher Teil des TOA-Prozesses sind, wirken deshalb auch nicht nur emotional erleichternd. Sie ermöglicht auch, die Tat für den Täter wie für das Opfer als Teil des je eigenen Lebens zu verstehen, wirkt also identitätsbildend. (2) Tat als gemeinsam erzählte Geschichte Kann diese Geschichte wie im TOA gemeinsam mit demjenigen aufgearbeitet und erzählt werden, der in sie als Gestalter oder als Betroffener involviert ist, so gewinnt die kommunikative Aufarbeitung der Tat eine andere Qualität. Denn die Geschichte kann vollständiger werden, wenn sie mit all denjenigen besprochen wird, die von ihr betroffen sind, und auch nur unmittelbar zwischen den Beteiligten kann die wechselseitige Achtung unmittelbar wieder wirklich werden. Auch im Strafprozess wird zwar auf einer sprachlichen Ebene über die Tat verhandelt und der Täter als Person, die sich falsch verhalten hat, und das Opfer als verletzte Person behandelt. Allerdings betrifft der Strafprozess nicht das unmittelbar-persönliche Verhältnis von Täter und Opfer in ihren authentischen Persönlichkeitsäußerungen. Beide können sich der Verhandlung insofern entziehen, und, auch wenn sie dort authentisch kommunizieren, ist der Strafprozess auf eine strafrechtliche und nicht auf eine persönlich-unmittelbare Aufarbeitung der Tat ausgerichtet. Der unmittelbar-persönliche Kommunikationsprozess ist dabei ungleich fragiler als der des Strafprozesses.695 Die persönliche Konfrontation mit Wut und Enttäuschung durch das Opfer kann zum Beispiel in Rache, etwa durch eine Beleidigung der Täterin, umschlagen. Die Wahrung eines kommunikativen Gleichgewichts, also das fortdauernde Anerkennen als Kommunikationspartnerinnen, ist deshalb ein wesentlicher Aspekt des TOA, der durch geschulte Vermittler zu gewährleisten ist.696 Durch das gemeinsame Aufarbeiten der Tat wird sie auch für Täter und Opfer gemeinsam wirklich, es wird zwischen ihnen festgehalten, was geschehen ist. Das kann nur in sprachlicher Form geschehen, da das, was für uns wirklich ist, also 695

Vgl. hierzu ausführlicher Heinz Messmer, Parteiautonomie, S. 117 ff., insb. S. 127 ff. Vgl. zur Rolle des vermittelnden Dritten auch Heinz Messmer, Parteiautonomie, S. 129 ff.

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auch das, was uns widerfährt oder was wir tun, sprachlich getragen ist. Die Beteiligten erzählen gewissermaßen jeweils ihre Tat-Geschichte und damit ein Stück ihrer Lebensgeschichte, es kann sich eine gemeinsame Wahrheit über die Tat bilden. Diese kann anders und umfassender sein, als das, was im Strafprozess festgestellt wurde. Denn das Gespräch im TOA erlaubt es, auch Dimensionen der Tat, die nicht rechtlich relevant sind, mit einzubeziehen, etwa eine weit vorausgehende Verletzung des Täters durch das Opfer. Zudem unterscheidet sich die Form der Wahrheitsfindung im Strafprozess und im TOA: Während dort dem Täter eine Tat als prozessuale Wahrheit nachgewiesen wird, möglicherweise ohne dass sich der Täter selbst geäußert hat,697 ist das aufklärende Gespräch im TOA auf die Mitwirkung beider Seiten angewiesen. Diese gemeinsam festgestellte Geschichte der Tat bildet die Basis für Einsicht, Reue, Entschuldigung und Vergebung. Denn, wie noch erläutert wird, kann nur das Geschehene bewältigt werden und muss dabei als geschehen stehen bleiben können. Und erst wenn es eine Geschichte ist, können die Beteiligten beginnen, sie als in der Vergangenheit geschehen hinter sich zu lassen.698 (3) Selbstbehauptung Opfer und Täter können sich im Prozess der aufrichtigen kommunikativen Aufarbeitung der Tat unmittelbar gegenüber dem anderen als selbstbestimmte und gleichgeordnete Existenzen behaupten. Der Täter zeigt sich als Mensch im persönlichen Öffnen zu den Motiven der Tat, das Opfer behauptet sich selbst in dem Äußern über die Folgen und auch in der Konfrontation des Täters mit seiner Ohnmacht und Wut. Im Sichäußern in der Erwartung des wechselseitigen Zuhörens und im wechselseitigen Zuhören wird der andere schon jeweils als gleichgeordnete Person, als Kommunikationspartner, anerkannt. Der Dialog ist ein Schritt aus der Stille, aus dem Nichts, in die das Opfer und die Betroffenen durch die Tat geworfen werden, hinaus. Opfer und Täter treten wieder füreinander in die Existenz als grundsätzlich gleichgeordnete Personen ein, indem sie miteinander sprechen und sich zuhören, also sich als Personen wahrnehmen. 697 Im Übrigen kann auch das Aufklären der Tat im Strafprozess m. E. nicht nur als Basis für die Verurteilung des Täters, sondern auch als Erzählen einer Geschichte, also als Festhalten des Geschehenen, verstanden werden. Vgl. hierzu etwa Thomas Blatt, ehemaliger Insasse des KZ Sobibor, der im Spiegel-Interview mit Jan Friedmann und Klaus Wiegrefe am 12. Mai2009 zum Prozess gegen den ukrainischen KZ-Aufseher John Demjanuk sagte: „Mir ist egal, ob er ins Gefängnis muss oder nicht; der Prozess ist mir wichtig. Ich will die Wahrheit. Die Welt soll erfahren, wie es in Sobibor gewesen ist.“ 698 Vgl. Carolin Emcke, Stumme Gewalt, S. 97: „Der Prozess der Historisierung, des Schreibens und Nachdenkens über die RAF als abgeschlossene Phase der Geschichte hat längst begonnen, aber für die Opfer und die Täter der ungeklärten Fälle, für die Familien von Braunmühl, Beckurts, Zimmermann, Rohwedder und Herrhausen sind die Taten noch nicht Geschichte geworden. […] Dazu fehlt auch das Wissen.“

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(4) Aufrichtigkeit Das Besondere des TOA gegenüber der Strafe liegt gerade darin, dass er als unmittelbar-persönlicher kommunikativer Prozess Täter und Opfer in ihrer Authentizität als Personen erfasst, wenn sie sich darauf einlassen. Die Strafe stellt einseitigfeststellend symbolisch das Anerkennungsverhältnis zum Opfer und im Hinblick auf die Rechtsgemeinschaft her, im TOA wird auf die konkrete unmittelbar-persönliche Wiederherstellung wechselseitiger Achtung hingewirkt. Entsprechend ist eine Beteiligung an der Aufarbeitung der Tat als gemeinsame Geschichte nicht erzwingbar. Damit ist der Prozess des TOA gegenüber dem Strafprozess fragil – er misslingt, wenn eine der beiden Seiten sich nicht öffnet oder lügt, während der Strafprozess nicht auf die authentische Mitwirkung insbesondere des Täters angewiesen ist und grundsätzlich mit einer prozessualen Wahrheit, die zum Freispruch oder zur Verurteilung führt, endet. Der TOA bietet gegenüber dem Strafprozess aber auch die Chance, die Hintergründe der Tat wirklich und umfassend so zu klären, dass Täter und Opfer mit ihren Fragen hinsichtlich des Tatgeschehens abschließen können. (5) Existenz, Interexistenz und Sprachlichkeit In der Bedeutung der narrativen Aufarbeitung der Tat zeigt sich, dass wir vom anderen nicht nur hinsichtlich des Unterlassens von Verletzungen, sondern auch in unserer Identität als eigen- und selbstständige Wesen abhängig sind. Neben der Interexistentialität wird auch die Sprachlichkeit in der Form der Narration als Grundzug unserer Welt deutlich: „Wir sind sprachliche Wesen. Wir verstehen uns nur im Gespräch mit anderen. Erzählend entwickeln wir unsere Vorstellung von uns selbst. Von unserer Herkunft erfahren wir durch die Geschichten, die erinnerten, die erfundenen, unserer Vorfahren, von uns selbst erfahren wir durch die Reaktion der anderen.“699 Der TOA als aufarbeitender kommunikativer Prozess zwischen Täter und Opfer einer Tat ist so Ausdruck der Grundzüge der Sprachlichkeit, Interexistentialität und Existenz in unserer Lebenswelt. bb) Reue und Sichentschuldigen (1) Reue und das Paradox der Selbstständigkeit Neben der Aufarbeitung der Tat ist ein grundlegendes Element der Versöhnung, dass die Verletzende die Verantwortung für ihr Verhalten übernimmt, also einsieht, dass sie schuldhaft eine andere verletzt hat und dass dies ein fehlerhaftes Verhalten ist. Sie muss sich also bewusst machen, dass sie selbst Grund für dieses Verhalten war, dass sie sich auch anders hätte entscheiden können, sie muss zudem 699

Carolin Emcke, Stumme Gewalt, S. 49.

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einsehen, dass sie die andere als in der Existenz Gleichgeordnete missachtet oder nicht geachtet hat, und sich schließlich darüber klar werden, dass dies eine Verfehlung ist. In dieser Distanzierung von der Tat, liegt auch die Einsicht, dass das Opfer zum Zeitpunkt der Tat zu achten gewesen wäre und auch in Zukunft zu achten ist. Mit dieser Einsicht bereut die Täterin die Tat. In der Reue wird die eigene Schuld anerkannt.700 Die Tat wird im Bereuen durch die Täterin als schuldhafte, verletzende und darin fehlerhafte Tat überhaupt erst anerkannt. Das heißt auch, dass der Täterin bewusst werden muss, was die Tat als ihr Verhalten für das Opfer bedeutet. Basis für die Reue ist so das Verstehen der Tat auch in ihrem ganz konkreten Ausmaß und ihren Auswirkungen auf das Opfer, wie es in der kommunikativen Aufarbeitung des TOA erreicht werden kann. Das Anerkennen der Tat als verletzend-fehlerhaftes verantwortliches Verhalten ermöglicht andererseits, mit der Tat abzuschließen und neu zu beginnen.701 Das Schuldigsein ist so nicht ewig und unaufhebbar, wie Nicolai Hartmann meint, da das Schuldigsein der sittlichen Zurechnungsfähigkeit entspreche, also Ausdruck unserer Freiheit sei.702 Denn auch wenn die Schuld unser Leben mitgestaltet und prägt, bedeutet das nicht, dass wir ewig auf sie festgelegt sind. Die Reue als Praxisform ermöglicht es, trotz und mit703 einem schuldhaften Verhalten weiterzu­ leben und das eigene Leben in Freiheit oder Selbstständigkeit für sich selbst und im gleichgeordneten Miteinander weiter zu gestalten. Beim Abschließen mit der Tat durch die Reue wird dabei das fehlerhafte Verhalten nicht einfach vergessen, also gewissermaßen aus der eigenen Lebensgeschichte gelöscht. Es wird vielmehr als schuldhaftes, verletzendes und fehlerhaftes Verhalten durch die Täterin selbst anerkannt. Würde die eigene Schuld nicht anerkannt, sondern einfach vergessen, würde die Täterin ihrer Selbstständigkeit tatsächlich nicht gerecht, da sie sich ihrer Verantwortung nicht bewusst wäre. Das könnte sich zum Beispiel darin ausdrücken, dass das fehlerhafte Verhalten permanent wiederholt wird.704 Würde die Täterin nicht im Bewusstsein der Schuld mit der Tat abschließen können, würde ihr ganzes zukünftiges Verhalten durch die Tat bestimmt, die Schuld immer weiter drücken, sie würde auf die Schuld lebenslang fixiert,705 so dass sie nicht „mehr 700 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung des Unverzeihlichen?, S. 421; Karin Scheiber, Vergebung, S. 156, 162; Traugott Koch, Strafe und Schuld, S. 77. Hierin liegt zumindest teilweise „die Entlastung des Gewissens, Entsühnung und Wiederherstellung des inneren Friedens“, wie sie Eduard Dreher, Gerechte Strafe, S. 24 als Sühne beschreibt. Allerdings übersieht dies, das in wechselseitigen Verhältnissen die Straftat nicht durch eine bloße Einsicht auf Seiten der Täterin bewältigt werden kann, vgl. hierzu näher in diesem Kapitel unter 4. d) ee). 701 Zum Verzeihen als Neuanfang vgl. Hannah Arendt, Vita activa, S. 307; vgl. insg. zum Paradox der Selbstständigkeit im II. Kapitel unter 2. c) ii) (3) und in diesem Kapitel unter 1. b). 702 Vgl. Nicolai Hartmann, Ethik, S. 818. 703 Diese Formulierung geht zurück auf Klaus-Michael Kodalle, Wendezeiten, S. 57: „Versöhnung macht es möglich, mit der Schuld trotz der Schuld zu leben.“ 704 Vgl. hierzu Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung des Unverzeihlichen?, S. 418. 705 Klaus-Michael Kodalle, Wendezeiten, S. 55.

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[wäre] als das Unrecht, das sie beging“706. Ein wirklicher Neubeginn, der die Einsicht in Fehler und immer wieder neue Sinngebungen und Verhaltensmöglichkeiten verbindet, wäre nicht möglich. Paul Ricœur hat dies als „bewahrendes Vergessen“ bezeichnet, ein Vergessen, mit dem die Tat in der Erinnerung bewahrt wird, ohne dass sie den Beteiligten ewig hinterher getragen wird.707 Mit Kodalle lässt sich vom Hinter-sich-Lassen der Tat „mit der Schuld trotz der Schuld“, also von einem Weiterleben trotz und mit der Tat sprechen.708 Die Reue wird unser Verfasstheit als Selbstständige also gerecht, indem in ihr einerseits Verantwortung wahrgenommen wird und sie andererseits einen Neubeginn auf der Basis dieser Einsicht ermöglicht. Reue und die mit ihr zusammenhängenden Praxisformen wie Entschuldigen, Verzeihen oder Vergebung und Versöhnung entsprechen so einerseits dem paradoxen Charakter der Selbstständigkeit und prägen andererseits unser Verständnis von Selbstständigkeit wesentlich mit. Sie sind daher für ethische Reflexionen so wesentlich wie der Begriff der Selbstständigkeit (oder Freiheit) und der Verantwortung selbst.709 (2) Sichentschuldigen: Äußern der Reue als kommunikativer Akt Die Reue bezieht sich bei Verletzungen anderer, wie bei Straftaten nicht nur auf das eigene Verhalten als Haltung zu sich selbst. Sie umfasst auch die Einsicht, eine andere falsch behandelt, missachtet zu haben. In dieser Einsicht als fehlerhaftem Verhalten, erkennt der Täter die andere also auch für sich wieder als Gleichgeordnete an, da ihm bewusst wird, dass sein Verhalten gerade deshalb falsch war, weil es die andere als in der Existenz Gleichgeordnete beeinträchtigt oder negiert hat. In der Reue geht der Verletzende so schon einen Schritt in Richtung auf die Wiederanerkennung der Anderen. Die Reue wird im gemeinsamen Verhältnis aber nur wirklich, wenn sie geäußert wird, die Täterin muss sich also entschuldigen.710 Anders würde die grundlegende Achtung zwischen den Beteiligten nicht vollstän 706

Hannah Arendt, Vita activa, S. 311, vgl. insb. S. 301 ff. Vgl. Paul Ricœur, Rätsel der Vergangenheit, S. 134, 144 f.; vgl. auch Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung des Unverzeihlichen?, S. 418, 419; ders., Wendezeiten?, S. 53 ff., ebenfalls bezogen auf das Verzeihen gegenüber dem Täter. 708 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Wendezeiten, S. 57. 709 Vgl. zum Ganzen Hannah Arendt, Vita activa, S. 301 ff.; Klaus-Michael Kodalle, Grundbegriff, S. 107 f.; vgl. auch ders., Annäherungen, ders., Wendezeiten, S. 4 f., 56 f.; ders., Verzeihung des Unverzeihlichen?, S. 414, 421, 437 f.; ders., Geist der Verzeihung (1), S. 623; vgl. zum für die Ethik fundamentalen Charakter dieser Praxisformen auch im II. Kapitel unter 2. c) ii) (3). 710 Entschuldigen kann auch so verstanden werden, dass jemand eigentlich keine Schuld trägt, etwa weil er in einer Notsituation gehandelt hat. In diesem Sinne sind die Entschuldigungsgründe des Strafrechts zu verstehen, auch Karin Scheiber (Vergebung, S. 266 f.) fasst das Interexistential des Entschuldigens so. Hinzu kommt, dass auch das Verzeihen alltagssprachlich gleichbedeutend mit Ent-schuldigen verwendet wird. Das Interexistential lässt sich so in verschiedenen Bedeutungen verstehen. 707

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dig wiederhergestellt werden können, da das interexistentielle Verhältnis sprachlich vermittelt ist und der Kommunikation bedarf.711 Wir alle wissen aus den Konflikten des alltäglichen Lebens, dass ein Konflikt erst bereinigt ist, wenn wir uns auch darüber ausgesprochen haben. Dies kann in alltagssprachlichen Sätzen wie „Das war falsch, das hätte ich nicht tun sollen. Es tut mir leid.“ geschehen, kann aber auch konkludent vermittelt werden, indem für die andere im Kontakt spürbar wird, dass der Täter bereut. Denn selbst wenn ein Verhalten eine Bedeutung nicht ausdrücklich, sondern konkludent oder schlüssig transportiert, ist diese Bedeutung sprachlich getragen. So kann ein Geschenk als Zeichen einer Entschuldigung gemeint sein und so verstanden werden, auch wenn die Beteiligten die rechten Worte nicht finden. Eine Geste oder eine Haltung kann dabei weit aussagekräftiger als Worte sein, wie der Kniefall Willy Brandts am Ehrenmal der Helden des Ghettos in Warschau beispielhaft gezeigt hat. (3) Aufrichtigkeit Die Reue ist eine persönliche Einsicht der Täterin, und sie muss eine wirkliche Einsicht sein, sonst können wir nicht von Reue sprechen. Würde jemand nur vorspiegeln, bereut zu haben, obwohl er das Fehlerhafte, Schuldhafte und Verletzende seines Tuns nicht eingesehen hat, würden wir sagen, dass er nur so tut, als ob er bereut hätte oder dass wir ihm die Reue nicht abnehmen. Versöhnung kann dann nicht wirklich gelingen. Reue und Entschuldigung sind so ein höchst aufrichtiges, authentisches Verhalten, zu dem die Täterin nur persönlich in wirklicher Einsicht finden kann. Hierin zeigt sich die Einzigartigkeit und Unvertretbarkeit unserer selbst als Person.712 Als aufrichtiges oder authentisches Verhalten ist Reue auch nicht erzwingbar. Der Prozess der Reue kann zwar durch teilnehmende Hilfe gefördert werden (etwa durch die Bereitschaft zuzuhören oder Hilfe beim Verstehen des eigenen Verhaltens als verantwortliches Verhalten), der Täter muss sich aber letztlich selbst, für sich zur Reue durchringen. Parallel zum Verstehen des Verzeihens als Gabe kann so auch die Reue und das Sichentschuldigen als Gabe verstanden werden.713 Als nicht erzwingbare Einsicht oder als wesentlich aufrichtiges Verhalten können Reue und Entschuldigung auch rechtlich nicht erzwungen werden. Eine rechtliche Pflicht zu bereuen oder sich zu entschuldigen, wäre eine faktisch sinnlose Regelung. Doch auch moralisch lässt sich meines Erachtens nicht von einer Pflicht zur Reue nach einem fehlerhaften Verhalten sprechen. Wir sind vielmehr als in der 711 Vgl. auch Karin Scheiber, Vergebung, S. 156; im II. Kapitel unter 2. c) cc) und in diesem Kapitel unter d) aa). 712 Zur Einzigartigkeit und Unvertretbarkeit als Grundzüge unserer Welt vgl. im II. Kapitel unter 2. c) kk). 713 Vgl. zum Verzeihen / Ver-Geben als Gabe Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung des Unverzeihlichen?, S. 422 ff.

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Selbstständigkeit Fehlbare, deren Leben sich wesentlich auch als Ganzheit unserer Einsichten und Entscheidungen formt, der Anforderung ausgesetzt, unsere Einsichten zu beurteilen und immer wieder auf der Basis des Gewesenen neu zu beginnen. Ob dies gelingt oder nicht, ist eine Frage des Gelingens unseres Lebens, nicht aber einer idealen oder prinzipiellen moralischen Pflicht.714 Der Prozess des Bereuens und Sichentschuldigens kann sehr komplex sein, sehr viel Mut erfordern und persönlich äußerst tief gehend sein, abhängig von der konkreten Verletzung, von der Persönlichkeit und dem Lebenshintergrund der Täterin. Denn sie ist hier nicht nur als Rechtssubjekt, sondern als Person im Ganzen involviert. Das Bereuen erfordert es, sich radikal mit sich selbst, der eigenen Verantwortung, Fehlbarkeit und den Folgen des eigenen Handelns zu konfrontieren. Das Eingestehen eines schweren Fehlers gegenüber einem anderen in der Entschuldigung ist auf diese Weise ein Akt der Selbstentblößung, mit dem sich die Täterin dem Opfer in ihrer eigenen Integrität auch ausliefert.715 Es zeigt sich, dass der Versöhnungsprozess zwar von einem Missverhältnis zwischen Täterin und Opfer ausgeht, gleichzeitig aber selbst in ein Missverhältnis zuungunsten der Täterin umschlagen kann. Grund dafür ist, dass beide sich in einer Kommunikationssituation als integre und verletzbare Personen begegnen, die Situation sich also nicht ausschließlich als Verhältnis der Überordnung des Täterin über das Opfer darstellt. cc) Verzeihen (Vergeben, Ent-schuldigen) Sprich mich bitte mit meinem wirklichen Namen an […] Ich bin das zwölfjährige Mädchen in einem Flüchtlingsboot, das sich ins Meer stürzt, nachdem es von einem Seeräuber vergewaltigt wurde. Und ich bin der Seeräuber, dessen Herz noch nicht fähig ist, zu verstehen und zu lieben. […] Thich Nhat Hanh716

(1) Verzeihen, das Paradox der Selbstständigkeit und das Unverzeihliche Der Reue des Täters muss die Verzeihung oder Vergebung717 des Opfers korrespondieren, wenn von einer gelungenen Versöhnung gesprochen werden soll. Im 714

Vgl. zur Kritik der Rede von moralischen Pflichten im II. Kapitel unter 2. d). Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen, S.  31; ders., Verzeihung des Unverzeih­ lichen?, S. 423. 716 Thich Nhat Hanh, entnommen aus Stephen Levine, Sein Lassen, S. 115 f. 717 Verzeihen und Vergeben werden hier gleichbedeutend verwendet. Karin Scheiber differenziert zwischen dem Vergeben und dem Verzeihen als duldendem Verzeihen als Hinnehmen der 715

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Verzeihen befreit das Opfer den Täter von der Schuld (ent-schuldigt ihn) für die Zukunft, ohne dass damit die geschehene Tat und Schuld vergessen ist. Das Opfer erkennt darin den Täter als fehlbaren Menschen an, der sich in der Verletzung ihm gegenüber verfehlt hat, der aber zur Einsicht in die Falschheit seines Tuns und zu einem Weiterleben in wechselseitiger Achtung fähig ist. Auch das Verzeihen beruht so auf einer tief gehenden Einsicht in die Fehlbarkeit der Existenz, der Einsicht, dass der Täter und auch das Opfer selbst, wie alle anderen Menschen auch, fehlbar ist und dass nur trotz und mit718 der Fehlbarkeit ein Leben in Selbstständigkeit möglich ist.719 Die Rückkehr ins Verhältnis wechselseitiger Achtung oder die Achtung des Täters als in der Selbstständigkeit verantwortliche und fehlbare Existenz kann sich zum Beispiel darin ausdrücken, dass das Opfer auf Akte der Rache verzichtet, eine wechselseitige Beziehung mit dem Täter in wechselseitiger Achtung fortgeführt wird oder dass man auseinandergeht, jeweils ohne dem anderen die Tat nachzutragen, ihn also auf seine Schuld zu festzulegen.720 Das Verzeihen ist insofern ein Verzicht721 auf die rächende Erniedrigung des Täters und ein Schritt auf ihn zu als gleichgeordnete Person in Anbetracht des Fehlers. Auch im Interexistential der Verzeihung zeigt sich das Paradox der Selbstständigkeit, es zeigt sich gewissermaßen aus der Perspektive des Opfers. Im Verzeihen wird in der zwischenmenschlichen Beziehung das Weiterleben trotz und mit den unumkehrbaren Fehlern möglich.722 Es lässt sich so sagen, dass sich im Verzeihen Selbstständigkeit oder Freiheit unmissverständlich manifestiert, als Wahrung der eigenen Würde in der Achtung der Würde des Schuldiggewordenen.723 Das Verzeihen ist so kein „Hinwegglauben“ der Sünde (also der Schuld) als des Sichtbaren wie Sören Kierkegaard formuliert und auch kein „Rückgängigmachen eines Gehandelten“ wie Hannah Arendt schreibt.724 Denn es lässt die Schuld und die geschehene Tat stehen und ermöglicht in der Einsicht in die mit der Selbstständigkeit des Menschen verbundene Möglichkeit der Erfüllung und der Verzerrung der Erfüllungsgestalten einen neuen Anfang. Der Täter wird durch das Opfer nicht nur auf die Schuld reduziert.

Verletzung bzw. als darüber Hinweggehen (Vergebung, S. 268). Dies ist jedoch meines Erachtens ein Erdulden und kein Verzeihen. Ein duldendes Verzeihen gibt es nicht, da der Verzeihende gerade nicht erduldet, sondern sich als Person aktiv in die wechselseitige Beziehung einbringt. 718 Diese Formulierung geht zurück auf Klaus-Michael Kodalle, Wendezeiten, S. 57: „Versöhnung macht es möglich, mit der Schuld trotz der Schuld zu leben.“ 719 Klaus-Michael Kodalle, Grundbegriff, S.  117; ders., Verzeihung des Unverzeihlichen?, S. 414 f., 421, 437 f.; Hannah Arendt, Vita activa, S. 301 ff.; vgl. auch Thomas Rentsch, Konstitution, S. 173, 221. 720 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa, S. 306. 721 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen, S. 36. 722 Vgl. neben Klaus-Michael Kodalle, Wendezeiten, S. 57, auch Hannah Arendt, Vita activa, S. 301 f. 723 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen, S. 35. 724 Sören Kierkegaard, Liebe, S. 325; Hannah Arendt, Vita activa, S. 308.

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Die Bereitschaft zu verzeihen wird im konkreten Einzelfall regelmäßig davon getragen sein, dass der Verletzte im kommunikativen Prozess mit dem Verletzer von den Auslösern, den Motiven und der konkreten Situation des Verletzers bei Begehung der Tat erfährt, sie also konkret nachvollziehen und verstehen kann. Denn dann wird ersichtlich, was die Täterin zur Tat geführt hat, sie zeigt sich in ihrer Fehlbarkeit. Dadurch wird das Annehmen der Fehlbarkeit der Täterin (und darin auch der eigenen generellen Fehlbarkeit) im Verstehen der Tat ermöglicht. Gerade bei leichten Delikten, etwa bei einer von Wut in einer ausweglosen Situation ausgelösten Beschädigung eines Mofas, kann der Verletzte so einsehen, dass dies jedem unter bestimmten Umständen „passieren“ kann, also auch ihm selbst hätte passieren können. Doch gerade bei schwerem Unrecht scheinen wir an die Grenzen des Nachvollziehbaren, also an die Grenzen dessen, was als fehlerhaftes Verhalten verstehbar und verzeihbar ist, zu geraten. So war die Shoa für V ­ iktor Jankélévitch das schlechthin Unsühnbare, Nichtwiedergutzumachende, Unverzeihbare: „Die Verzeihung ist in den Todeslagern gestorben.“725 Für Arendt ist „das radikal Böse“ das, was wir weder bestrafen noch vergeben können, das „den Bereich menschlicher Angelegenheiten übersteigt und sich den Machtmöglichkeiten des Menschen entzieht“. Sie spricht insofern auch davon, dass böse Taten „buchstäblich Un-taten“ seien, die alles weitere Tun unmöglich machen.726 Angehörige von Mordopfern der RAF bestehen auf einer Aufarbeitung der Tat, um die Täter mit deren Folgen für sie als Personen zu konfrontieren und das Geschehene verstehbar zu machen, wollen aber nicht von Verzeihung oder Versöhnung sprechen.727 Es ist absolut nachvollziehbar und zu respektieren, dass jemand schwerste Verletzungen, die ihm oder anderen zugefügt wurden, nicht verzeiht. Dennoch scheint es mir falsch zu sein, vom schlechthin Unverzeihbaren zu sprechen. Denn die Rede vom schlechthin Unverzeihlichen kann zwar zutreffend das Ungeheuer­ liche von Taten betonen, läuft aber Gefahr, darüber hinweg zu täuschen, dass Menschen dies Menschen abgetan haben, dass möglicherweise auch Sie oder ich unter bestimmten Umständen dazu in der Lage wären: „Ich bin das zwölfjährige Mädchen in einem Flüchtlingsboot / das sich ins Meer stürzt, nachdem es / von einem Seeräuber vergewaltigt wurde. / Ich bin der Seeräuber, dessen Herz noch nicht fähig ist, / zu verstehen und zu lieben.“728 Das bedeutet nicht, dass wir dasselbe Unrecht begangen haben oder die Tat unter den gleichen Umständen wie die Täter tatsächlich tun würden! Doch auch bei schwerstem Unrecht handelt es sich um menschliches Fehlverhalten, dass als solches verstanden und verziehen, dass im Eingestehen der schwersten Schuld vergeben werden kann.729 Allerdings erfor 725

Vgl. Viktor Jankélévitch, Verzeihen, S. 243 ff., Zitat auf S. 271. Hannah Arendt, Vita activa, S. 307 f. 727 Vgl. Karl Christian von Braunmühl (der Bruder des am 10. Oktober 1986 von RAF-Mitgliedern erschossenen Gerold von Braunmühl), epd-Dokumentation Nr. 32/99, S. 53 ff.; vgl. auch Carolin Emcke, Stumme Gewalt, S. 101. 728 Thich Nhat Hanh, Aus dem Gedicht „Sprich mich bitte mit meinem wirklichen Namen an“, entnommen aus Stephen Levine, Sein Lassen, S. 115 f. 729 Vgl. zum Bösen bereits im III. Kapitel unter 2. b) bb) (1) (a). 726

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dert dies weit mehr an emotionaler, gedanklicher und dialogischer Durcharbeitung des Geschehens als für eine „einfache“ Straftat, wie etwa der Diebstahl eines Fahrrads, gerade weil die Tat als menschliches Verhalten so ungeheuerlich und so erschütternd ist und der Prozess des Verzeihens wie der der Reue ein Höchstmaß an Authentizität verlangt. Gerade hier werden Versöhnungsprozesse oft nicht gelingen oder es werden „nur“ die ersten Schritte der persönlichen Kommunikation über die Tat gegangen,730 die den Opfern (aber auch den Tätern in der Konfrontation mit dem Ungeheuerlichen ihrer eigenen Tat) selbst schon ein Höchstmaß an persönlichem Einlassen trotz der ungeheuerlichen Tat abverlangen. Wenn ich von der Möglichkeit der Verzeihung auch für schwerstes Unrecht spreche, möchte ich damit nur ausdrücken, dass es das schlechthin oder in einem objektiven oder absoluten Sinne Unverzeihliche (in einem normativen Sinn) nicht gibt. Damit ist nicht gesagt, dass auch schwerstes Unrecht verziehen werden muss. Das Verzeihen beruht immer auf einem Prozess der authentisch-persönlichen, schmerzhaften Verarbeitung der Tat, in der die Betroffene zum Verzeihen findet oder nicht. Gerade bei extremen Traumatisierungen731 kann es auch sein, dass ein authentischer Weg zum Verzeihen nicht gefunden werden kann, dass das Opfer die Konfrontation mit dem Täter im Bewältigen Tat, als Finden in die eigene Integrität trotz und mit der Tat, gar nicht erträgt. Eine Straftat kann so faktisch für eine konkrete Person nicht verzeihbar, also unverzeihlich sein.732 An diese Grenzen der faktischen Unmöglichkeit des Verzeihens stoßen wir auch, wenn das Opfer getötet wurde. Sie ist Ausdruck der faktischen Endlichkeit unserer Existenz, der Begrenztheit unserer Existenz darin. Für den Täter bedeutet dass, das er tatsächlich mit einer im unmittelbaren Kontakt gegenüber dem Opfer untilgbaren Schuld wird leben müssen. (2) Verzeihen als kommunikativer Akt (jemanden Ent-schuldigen) Kodalle geht davon aus, dass das Verzeihen nicht versprachlicht werden sollte: „Im beredten Schweigen verspricht sich die Wahrheit einer Begegnung, die sich der angemessenen Versprachlichung entzieht“;733 „die Kommunikation, die im Akt der Verzeihung gestiftet wird“, sei „fast nicht zu versprachlichen“.734 Er spricht sogar davon, dass das Verzeihen ans Inkognito gebunden werden sollte, sich der Verzeihende als Person quasi zurückziehen und sie nicht öffentlich stattfinden sollte, dass die „Sprache der Ausnahmesituation des Verzeihens niemals gerecht“ werde

730 So das Plädoyer von Braunmühl und Emcke, vgl. Karl Christian von Braunmühl, epdDokumentation Nr. 32/99, S. 53 ff.; vgl. auch Carolin Emcke, Stumme Gewalt, S. 101. 731 Vgl. hierzu Günter Jerouschek, JZ 2000, S. 185 (187 ff.). 732 Vgl. näher hierzu in diesem Kapitel unter 4. d) cc) (3). 733 Klaus-Michael Kodalle, Gabe, S. 81 f. 734 Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen, S. 35; ders., Grundbegriff, S. 119 (im Original mit Hervorhebungen).

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und dass auf Versprachlichung womöglich überhaupt zu verzichten sei.735 Das ist nachvollziehbar im Hinblick darauf, dass das Kommunizieren des Konflikts, das Äußern der Reue, das Verzeihen und das Annehmen des Verzeihens persönlich sensible Akte der Selbstentblößung736 sind. Die Schwierigkeit, die richtigen Worte zu finden, um etwas so Großes und so Persönliches wie Vergebung auszudrücken, wurzelt hier. Eine Geste kann so, „im beredten Schweigen“, viel mehr sagen, als vielleicht missglückende Formulierungen. Das Verzeihen bleibt aber auch darin ein sprachlich, also bedeutungsgetragener Akt, der, wenn auch mittelbar, geäußert werden muss, um im Verhältnis zur Täterin wirklich werden zu können. Er ist ein auf einen anderen gerichtetes Verhalten, das nur in der Kommunikation mit dem anderen in der gemeinsamen Beziehung seine Bedeutung entfalten kann.737 Dies entspricht der Konstitution unserer Praxis, in der die Wirklichkeit, auch die der interexistentiellen Verhältnisse, sprachlich getragen ist.738 Das Verzeihen als Ausdruck einer menschlichen Einsicht ist sprachlich getragen und kann entsprechend auch ausdrücklich in Worte gefasst werden. Das bedeutet nicht, dass das geäußerte Verzeihen immer auch für ein wirkliches Verzeihen steht. Die für das Verzeihen stehenden Worte garantieren nicht die Authentizität des Verzeihens. Das authentische Verzeihen muss aber, im beredten Schweigen oder ausdrücklich, geäußert werden, damit es die gemeinsame Beziehung gestaltet, damit die Versöhnung gelingt. (3) Aufrichtigkeit Das Verzeihen beruht, wie die Reue, auf einem persönlichen Prozess der Verarbeitung der Tat, der unmittelbar einsichtsgetragen ist und nicht gleichwertig durch ein bloßes Sprechen des Verzeihens oder das Handeln anderer ersetzt werden kann. Hierin zeigen sich die Selbstständigkeit und Einzigartigkeit als Person, in der wir unvertretbar sind, als Grundzug unserer Praxis.739 Gerade bei Straftaten, also schweren Verletzungen, wird das Bewältigen der Tat durch das Opfer im Verhältnis zum Täter ein emotional und gedanklich sehr tief gehender Prozess sein. In diesem Prozess ist nicht nur zu verarbeiten, dass einer durch einen anderen eine schwere Verletzung widerfahren ist. Ebenso ist zu verarbeiten, dass die Fehlbarkeit als Grundzug menschlicher Existenz nicht nur den Täter, sondern auch die eigene Existenz und Praxis betrifft. Dem haftet etwas Ungeheuerliches, Großes an. Damit ist nicht gemeint, dass das Verzeihen etwas Quasi-Göttliches ist, der Verzeihende die göttliche Rolle eines quasi schuldlosen Wesens einnehmen muss, wie Kodalle meint.740 Ich sehe das Große des Verzeihens darin, dass es eine enorme mensch­ 735 Klaus-Michael Kodalle, Gabe, S. 81 f.; vgl. ders., Grundbegriff, S. 119; ders., Annäherungen, S. 35 f.; ders., Wendezeiten, S. 57; ders., Verzeihung des Unverzeihlichen, S. 435. 736 Vgl. zum Aspekt der Selbstentblößung Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen, S. 31. 737 Vgl. hierzu auch Karin Scheiber, Vergebung, S. 158. 738 Vgl. hierzu im II. Kapitel unter 2. c) cc) und dd). 739 Vgl. hierzu im II. Kapitel unter 2. c) ii) und kk). 740 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen, S. 31 f.

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

liche Fähigkeit und Leistung ist, auch schwerste Verletzungen im Verzeihen bewältigen zu können, und zwar im Wissen auch um die eigene Fehlbarkeit. Das Verzeihen ist als menschliches Verhalten enorm, aber eben doch menschlich, weil es auf menschlicher Einsicht beruht. Auch Arendt geht davon aus, dass das Verzeihen eine Fähigkeit ist, die „in dem Vermögen des Handelns verwurzelt“741 ist. Das Verzeihen ist ein fragiler Prozess, in dem sich das Opfer dem Täter als Person sehr weitgehend öffnet, und zwar ohne sicher sein zu können, ob der Täter sich in Zukunft nicht wieder verletzend verhalten wird. Im Verzeihen vertraut das Opfer darauf, dass der Täter seinen Fehler eingesehen hat und sich in Zukunft nicht noch einmal so verhalten wird. Darin gesteht es dem Täter auf der Ebene des persönlich-unmittelbaren Verhältnisses den Neuanfang trotz und mit der Tat zu.742 Im Verzeihen kann das Opfer aber auch ganz für sich selbst als Person einstehen, also die eigene Würde wahren. Damit soll nicht gesagt sein, dass das Verzeihen unabdingbar für das Wahren der eigenen Würde nach einer Verletzung ist. Es ist ein möglicher Akt, in dem die eigene Würde gewahrt werden kann – im Bewältigen der Tat, die das eigene Leben unumkehrbar gestaltet hat; im Annehmen der eigenen und der Fehlbarkeit des Täters als unabdingbarer Grundzug unserer Existenz; im Mitwirken am Finden in eine Beziehung wechselseitiger Achtung mit dem Täter nach der Tat, die diese als verletzendes, unumkehrbares Geschehen einbindet. Als wirkliche und nur persönlich durch das Opfer vollziehbare Einsicht ist auch wirkliches Verzeihen nur als aufrichtige oder authentische Persönlichkeitsäußerung möglich.743 Es kann unterstützend gefördert, aber nicht erzwungen werden. Das Verzeihen ist so eine Gabe (wie sich im Wort Ver-gebung auch zeigt)744 und kann nicht eingefordert werden. Es lässt sich also nicht sinnvoll von einer Pflicht zum Verzeihen nach Verletzungen in einem grundsätzlichen Sinne zu sprechen745: Es lässt sich nicht sinnvoll sagen, dass wir verzeihen sollen, weil wir alle fehlbar sind, dem Täter ein Weiterleben nicht nur mit, sondern auch trotz der Schuld ermöglicht werden und das Opfer in ein Anerkennungsverhältnis zum Täter nach der Tat finden muss, da anderenfalls die Freiheit in der gemeinsamen Existenz nach einer Verletzung verfehlt würde. Denn zum einen würde dieses abstrakte Ableiten einer Pflicht (eines idealen Sollens) aus der Freiheit in der gemeinsamen Existenz für den Fall einer Verletzung das Verzeihen als ursprüngliche im Miteinander gewachsene, gelernte und immer wieder kritisierte Praxisform verkennen. Zum anderen kann sich die generelle Einsicht in die Fehlbarkeit des selbständigen Menschen nur je und je im konkreten Fall unter konkreten Umständen durch konkrete 741

Hannah Arendt, Vita activa, S. 302. Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Wendezeiten, S. 57. 743 Vgl. auch Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung des Unverzeihlichen?, S. 434 f., der mit der Authentizität allerdings verbindet, dass das Verzeihen nicht direkt versprachlicht werden sollte. 744 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung des Unverzeihlichen?, S.  423 f.; ders., Gabe, S. 71 ff. 745 Vgl. auch Klaus-Michael Kodalle, „Geist der Verzeihung“ (1), S. 623: „Verzeihung […] ist kein Begriff einer universalen Sollensphilosophie.“; ders., Grundbegriff, S. 113. 742

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Menschen in konkreten Lebenssituationen als wirkliche Einsicht realisieren. Dabei ist es nachvollziehbar und zu akzeptieren, wenn ein Opfer innerhalb seiner konkreten Lebens- und Verletzungsgeschichte nicht den Weg des Verzeihens geht und andere Formen der persönlichen Verarbeitung der Tat sucht, etwa im Wege einer Psychotherapie unter strikter Vermeidung einer Konfrontation mit dem Täter. Auch Verdrängung kann als Selbstschutzmechanismus, der das psychische und physische Überleben sichert, gerechtfertigt sein. Das Sprechen von einer Pflicht zum Verzeihen würde so der selbständigen Verfasstheit unserer selbst, die sich im Suchen und Finden eigener Einsichten äußert, widersprechen. In einem grundsätzlichen Sinne kann nur von der faktischen Anforderung gesprochen werden, das eigene Leben als eigenes und im Zusammenleben in Achtung mit den anderen auch dann gestalten zu müssen, wenn einer Verletzendes durch andere Menschen widerfährt.746 Die Grundzüge der Existenz in der Interexistenz als Selbstständigkeit in wechselseitiger Abhängigkeit zeigen sich hier in all ihren Facetten. Sinnvoll kann dabei sein, davon zu sprechen, dass jemand verzeihen sollte oder sich zumindest überlegen sollte, ob er jemanden verzeihen kann, wenn in einer konkreten Situation bestimmte Umstände dafür sprechen. Das ist zum Beispiel in einem Fall wie dem des zerstörten Mofas denkbar,747 wenn der Täter sich also bei einer leichteren Tat auf eine offene Kommunikation über diese eingelassen hat, sein Fehlverhalten nachvollziehbar einer nunmehr bereuten Über­ reaktion entspringt, er sich aufrichtig entschuldigt, den Schaden ausgleicht und das Opfer nur noch „über den eigenen Schatten“ springen muss, um auf den Täter zuzugehen. Dies ist dann aber eine Aufforderung und nicht als Pflicht zum Verzeihen gemeint. Zum Verzeihen finden und für diese in der Kommunikation einstehen kann nur die Verzeihende selbst. dd) Bedeutung von Ausgleichsleistungen Versöhnung kann generell  – und ist es im TOA typischerweise  – mit Verein­ barungen zur einer Ausgleichsleistungen seitens der Täterin gegenüber dem Opfer verbunden sein. Diese Ausgleichsleistungen können zum einen den durch die Tat angerichteten Schaden betreffen und diesen ersetzen, zum anderen können sie ein über den Schadensausgleich hinausgehendes Geschenk darstellen. Die Verantwortung für den Schadensausgleich entspricht dabei der Verantwortung für die Tat. Auch im Schadensausgleich und der Vereinbarung dazu wird das Opfer vom Täter als gleichgeordnet anerkannt, denn der Täter nimmt seine Verantwortung für den dem Opfer schuldhaft zugefügten Schaden wahr und gesteht ein, dass dem Opfer seine Güter zustehen. Die Vereinbarung über die Ausgleichsleistung betrifft das unmittelbar-persönliche Verhältnis zwischen Täter und Op 746

Vgl. im II. Kapitel unter 2. d) aa). Vgl. bei der Beschreibung der Praxis des TOA in diesem Kapitel unter 4. a) aa) bei Fn. 660.

747

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

fer, das auch in der Achtung oder Verletzung der jeweils zugeordneten Güter ausgeformt ist. Es kann daher Bestandteil des persönlichen Versöhnungsprozesses sein. Soweit der Schaden freiwillig und aus einer aufrichtigen Haltung heraus ersetzt wird, steht er auch für den Versöhnungswillen des Täters. Ein solcher Schadensausgleich fügt sich in den Versöhnungsprozess als authentisch-persönlicher Prozess der Aufarbeitung der Tat auf der Ebene der unmittelbar-persönlichen Beziehung zwischen Täter und Opfer ein. Dem steht nicht entgegen, dass der Schadensausgleich auch faktisch erzwingbar und vernünftigerweise rechtlich geregelt ist. Der nur aufgrund einer Rechtspflicht geleistete oder durch Zwangsvollstreckung beigetriebene Schadensersatz betrifft zwar auch die unmittelbar-persön­ liche Ebene der Beziehung zwischen Täter und Opfer, erreicht diese aber nur hinsichtlich der materiellen Güterverschiebung soweit diese gegenüber dem Täter erzwingbar ist. Er ist so nicht Bestandteil eines persönlich-aufrichtigen Versöhnungsprozesses, sondern einer Aufarbeitung der Tat mit rechtlichen Mitteln. Dem steht nicht entgegen, dass für den freiwilligen Schadensausgleich im TOA als Versöhnungsprozess die rechtlichen Wertungen eine Rolle spielen, um bestimmen zu können, was eine angemessene Ausgleichsleistung ist. Wesentlich ist hier, dass die Beteiligten im unmittelbaren Dialog zu einer freiwilligen Vereinbarung zum Schadensausgleich, der die Interessen beider Seiten angemessen berücksichtigt, finden. Soweit die Ausgleichsleistungen über den Schadensersatz hinausgehend ein Geschenk darstellen, können sie als freiwillige Sühneleistung symbolisch für die Aufrichtigkeit der Reue des Täters und seiner Bitte um Entschuldigung und für den Wunsch stehen, das über den Schaden hinaus erlittene Leid des Opfers anzuerkennen. Möglicherweise sind hierin noch Spuren der Sühneleistung als besondere Buße für eine begangene Verletzung zu sehen, wie sie teils als Voraussetzung für Vergebung gelten.748 Die Ausgleichsleistungen können den Schaden und das Leid des Opfers nicht wieder gut, also nicht ungeschehen machen. Sie können das Opfer hinsichtlich der ihm zugeordneten Güter nur wie vor der Tat stellen und die erlittene Verletzung symbolisch kompensieren oder symbolisch für die aufrichtige Reue und Bitte um Entschuldigung durch den Täter stehen. Doch auch hier zeigt sich der unmittelbarpersönliche Bewältigungsprozess als ausgesprochen fragil. Es besteht die Gefahr, dass über eine Ausgleichsleistung Druck auf den Verletzten ausgeübt wird, um die Sache für erledigt zu erklären, ohne dass sich der Täter wirklich auf den Bewältigungsprozess einlässt. So versuchte in einem vom BGH entschiedenen Fall die Familie des wegen Vergewaltigung Angeklagten in der Vorinstanz mit der Zahlung von 3.500,00 € an das Opfer im Gerichtssaal für den Angeklagten die Strafmilderungsmöglichkeit gem. § 46a StGB zu „erkaufen“.749 Eine solche Zahlung, die zudem nicht durch den Angeklagten selbst geleistet wurde, steht dann nicht für 748

Vgl. zur Buße Paul Deselares, Versöhnung / II. Biblisch-theologisch, Lexikon für Theologie und Kirche, 10. Bd. Sp. 721. 749 Vgl. BGHSt 48, 134 ff.; das vorgehende Urteil des LG Konstanz 1 Kls 33 Js 6077/02 vom 15. Mai 2002 ist nicht veröffentlicht.

4. Vernünftiger Sinn des Täter-Opfer-Ausgleichs als Versöhnungsprozess 

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die aufrichtige Reue des Täters und seine Achtung für das Opfer, sondern offenbart sich als taktisches Mittel zur Abmilderung der den Täter treffenden strafrecht­ lichen Folgen seiner Tat und kann darin das Opfer erneut erniedrigen. Auch hier ist der TOA eine Chance zur persönlichen Bewältigung der Tat, birgt aber zugleich die Möglichkeit neuer Verletzungen. ee) Versöhnung als wechselseitiger kommunikativer Prozess (1) Versöhnung als wechselseitiger Prozess Versöhnung gelingt nur, wenn der Versöhnungsprozess als wechselseitiger Prozess gelingt, wenn sich also beide Seiten auf die persönliche und aufrichtige Auseinandersetzung über die Tat, der Täter zur aufrichtiger Reue und Entschuldigung und freiwilliger Ausgleichsleistung und das Opfer zu aufrichtigem Verzeihen durchringen können. Dies verlangt insbesondere bei schweren Verletzungen viel von den Beteiligten  – durch die Verletzung ist das Opfer persönlich intensiv betroffen, Täter und Opfer müssen sich in Akten der Selbstentblößung persönlich intensiv und authentisch auf den Prozess einlassen, und dieser kann als zwischenmenschliche Kommunikation auch immer wieder fehlschlagen, er ist gerade aufgrund der erforderlichen persönlichen Involvierung zuhöchst fragil. Fragil ist der Versöhnungsprozess auch, weil die Aufrichtigkeit des anderen nicht mit letzter Gewissheit feststellbar ist. Ob ein Verhalten aufrichtig ist, kann zunächst nur die sich verhaltende Person, die einzige, die sich unmittelbar reflexiv-spürend zugänglich ist, beurteilen. Darin zeigt sich die wechselseitige Entzogenheit oder Einsamkeit als Grundzug unserer Existenz750 als faktische Grenze im Kontakt. Allerdings wissen wir aus unserer grundlegenden Erfahrung, dass uns im teilnehmenden Empfinden und Reflektieren die Qualität des Einsichtsprozesses eines anderen nachvollziehbar sein kann („Hineinversetzen in den anderen“).751 Wir alle kennen Situationen, in denen wir den anderen als aufrichtig erlebt haben oder in denen wir den Verdacht hatten, dass er ein Problem nur äußerlich loswerden möchte. Allerdings wissen wir aus unserer alltäglichen Lebenserfahrung ebenfalls, dass unsere Wahrnehmungen hier falsch sein können, da wir die Komplexität des Fühlens und Denkens der uns auch entzogenen anderen nie ganz erfassen können. Das Opfer und eine Dritte, wie die Konfliktvermittlerin oder die Richterin, die beurteilt, ob die Strafe des Täters aufgrund des TOA gemildert werden kann, können hier letztlich nur auf ihr Verstehen und Empfinden vertrauen. Die Einschätzung, ob der Täter aufrichtig bereut, sich entschuldigt und den Schaden ersetzt hat oder ob das Opfer aufrichtig vergeben hat, ist eine unvertretbar-persönliche. Das Opfer und der Täter sind so voneinander auch darin abhängig, dass sie dem ande 750

Vgl. zur Einsamkeit oder Entzogenheit im II. Kapitel unter 2. c) ee). Hier zeigt sich zudem eine Form der Verschränkung von Leiblichkeit und Einsicht, die in dieser Untersuchung nicht weiter vertieft werden soll, vgl. auch im II. Kapitel 2. c) ff). 751

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

ren ihre Aufrichtigkeit vermitteln können. Zudem können Täter, Opfer, Konfliktvermittler, Richterin und andere irgendwie Beteiligte nur je für sich persönlich einschätzen, ob das Verhalten von Täter und Opfer aufrichtig-authentisch ist. Darin liegt auch die Berechtigung selbstständiger Beurteilungen: Das Opfer etwa kann für sich entscheiden, ob es das Verhalten des Täters als aufrichtiges akzeptiert, die Richterin ist an diese Einschätzung des Opfers bezüglich der Reue des Täters aber nicht gebunden.752 Gegen die Wechselseitigkeit könnte sprechen, dass das Verzeihen und auch die Reue nur bedingungslos gegeben werden können. Kodalle etwa wendet sich dagegen, die Vergebung einer tausch- und vertragsmäßigen Zirkulation und Berechnung zu unterwerfen. Die Vergebung sei grundlos, sie dürfe nicht darauf aus sein, Verbindlichkeiten und Verpflichtungen zu schaffen. Die höchste Gestalt der Ver­ gebung sei die, die bedingungslos gegeben werde.753 In diesem Gedanken scheint die theologische Deutung der göttlichen Vergebung als von einer Vorleistung des Menschen unabhängiger Akt der Gnade auf. Es ist zutreffend, dass Reue, Entschuldigung und Verzeihung als aufrichtige Verhaltensweisen eine freiwillige Gabe sind, die zudem für die Zukunft nicht verpflichten kann, also im Vertrauen auf die zukünftig richtige Einsicht des Täters und das, ebenfalls einsichtsbasierte, Verzichten auf Rache oder Nachtragen der Tat durch das Opfer erfolgt. Das bedeutet aber nicht, dass Reue und Entschuldigung sowie Vergebung sich nicht aufeinander beziehen können. Das Gelingen der Versöhnung hängt sogar davon ab, dass sie aufeinander bezogen sind,754 denn mit ihr wird das zwischenmenschliche Verhältnis als wechselseitiges bereinigt. Mit diesem wechselseitigen Bezug ist aber kein Tausch gemeint, bei dem die eine Leistung durch die des anderen (juristisch: „synallagmatisch“) bedingt ist, gerade weil Reue, Entschuldigung und Verzeihen in ihrer Authentizität immer aus einer aufrichtigen, nicht vorhersehbaren und nicht vorherbestimmbaren Haltung im Vertrauen auf das Gelingen des zukünftigen Kontakts geschehen.755 Davon zu trennen ist die Frage, ob Verzeihung die Reue des anderen voraussetzt, also nur auf die Reue des Täters hin erfolgen kann. Dies verneint Kodalle mit der Grundlosigkeit des Verzeihens konsequent: Das Verzeihen sei dort am reinsten, wo es vorlaufend, unabhängig von der Bitte um Vergebung gewährt werde.756 Auch darin scheint der Gedanke der göttlichen Gnade auf. Für Jankélévitch hingegen kann nicht verziehen werden, wenn das Verbrechen nicht als solches eingestanden, bereut und um Vergebung gebeten wird.757 Meines Er 752 Vgl. hierzu näher bei der Erläuterung der Voraussetzungen für eine Strafmilderung in diesem Kapitel unter 5. b) cc) (2). 753 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung des Unverzeihlichen?, S.  423 f., 429 (im Anschluss an Jacques Derrida); ders., Gabe, S. 85 f. (im Anschluss an Traugott Koch). 754 Vgl. auch Karin Scheiber, Vergebung, S. 156 f., 159 f. 755 Dies entspricht auch Klaus-Michael Kodalle, Gabe, S. 82, 83. 756 Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung des Unverzeihlichen?, S.  429 (im Anschluss an ­Jacques Derrida). 757 Vgl. Viktor Jankélévitch, Verzeihen, S.  271 f.; vgl. zum Ganzen auch Klaus-Michael ­Kodalle, Verzeihung des Unverzeihlichen?, S. 428 f.

4. Vernünftiger Sinn des Täter-Opfer-Ausgleichs als Versöhnungsprozess 

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achtens setzt wirkliches Verzeihen die Reue des Täters, als Anerkennen der Rea­ lität des Verbrechens als eigene falsche Gestaltung der Welt im Übergriff auf einen anderen, und deren Äußerung voraus.758 Denn im Verzeihen nimmt das Opfer die Rückkehr des Täters in das Verhältnis wechselseitiger Anerkennung an. Das ist wesentlicher Aspekt des Verzeihens neben dem eigenen Verzicht auf eine Erniedrigung des Täters. Dieser setzt die Reue nicht voraus, er ist unmittelbarer Ausdruck der Achtung des Opfers gegenüber dem Täter, der als grundsätzlich Gleichgeordneter trotz der Tat nicht einfach erniedrigt werden darf. Die Verzeihung kann so nicht als quasi göttlicher Akt der Gnade gewährt werden. Soweit das Opfer auch unabhängig von der Reue und Entschuldigung des Täters zum Verstehen der Tat und der Bereitschaft, dem Täter zu vergeben, gefunden hat, kann zutreffend von einer Haltung der Versöhnlichkeit oder von Vergebungsbereitschaft gesprochen werden.759 Der Täter kann demgegenüber aufrichtig bereuen und sich entschuldigen, ohne dass dem die Verzeihung des Opfers korrespondiert, denn die Reue ist eine Einsicht in den eigenen Fehler und Entschuldigung die Bitte um Vergebung auf dieser Basis. Sie richtet sich zwar an das Opfer, setzt ein Verhalten seinerseits aber nicht voraus. Natürlich können die Kommunikation über die Tat, die Reue und Entschuldigung von der Versöhnungsbereitschaft des Opfers gefördert werden. (2) Versöhnung als Form der wechselseitigen Anerkennung oder Modus der kommunikativen Solidarität Die kommunikative Aufarbeitung der Tat, Reue, Entschuldigung, Vergebung und Vereinbarungen zu Ausgleichsleistungen sowie diese selbst sind Aspekte des Prozesses der Versöhnung nach einer Straftat. Die Versöhnung ist ein komplexer persönlicher Prozess, der (im hier zu erörternden Zusammenhang der Bewältigung von Straftaten) nach der Missachtung eines Menschen durch einen Menschen die Bewältigung der Verletzung unmittelbar zwischen den Beteiligten so ermöglicht, dass das Geschehene einerseits als schuldhafte verletzende Tat festgestellt und andererseits ein Verhältnis wechselseitiger Achtung für die Zukunft ermöglicht wird. Sie kann die Tat nicht ungeschehen machen, ermöglicht aber auf der Ebene des unmittelbar-persönlichen Miteinanders ein Weiterleben der Beteiligten in wechsel­seitiger Achtung trotz und mit der Tat. Versöhnung ist so eine Form der wechselseitigen Anerkennung oder Achtung als Menschen. Sie vermittelt die Unumkehrbarkeit des Verschuldens als Aspekt der Selbstständigkeit und Zeitlichkeit mit dem Neubeginn als Aspekt von Selbstständigkeit und Zeitlichkeit im menschlichen Miteinander. Versöhnung ist für die menschliche Praxis zentral, da diese konstitutiv durch Selbstständigkeit, also die Freiheit zur Erfüllung authentischer 758

Ebenso Karin Scheiber, Vergebung, S. 159 f., 261 ff. Vgl. Karin Scheiber, Vergebung, S. 261 ff.

759

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

Praxismodi und zum Fehler, und durch die Unumkehrbarkeit und Einzigartigkeit jeden Geschehens (auch des neuen gegenüber dem alten) geprägt ist.760 In der Praxisform der Versöhnung zeigt sich zugleich die wechselseitige Abhängigkeit in der Existenz, denn sie kann als Wiederanerkennung nach einer Verletzung im wechselseitigen Verhältnis letztlich nur gemeinsam gelingen. Auch die sprachliche Getragenheit unserer Welt und damit unserer Beziehungen scheint darin auf, dass Reue und die Bitte um Entschuldigung ebenso wie die Vergebung gegenüber dem anderen geäußert werden müssen. Denn das wechselseitige Verhältnis ist noch von dem unbewältigten Bruch geprägt, wenn die Täterin im Verarbeiten der Tat zur Reue und das Opfer zur Bereitschaft zum Versöhnen findet, dieses aber nicht gegenüber dem anderen aussprechen. Das wissen wir vermutlich alle aus unserer eigenen Erfahrung von Konflikten, bei denen es zu keiner Aussprache kam. Versöhnung ist so ein Modus wechselseitiger kommunikativer Solidarität.761 (3) Faktische (A-)Symmetrien zwischen Täter und Opfer im Bewältigungsprozess Der Versöhnungsprozess nach einer Straftat ist von Asymmetrien im Verhältnis der Betroffenen zueinander geprägt. Denn er bezieht sich auf eine Verletzung, bei der der Täter das Opfer missachtet, sich ihm übergeordnet hat. Diese Missachtung kann sich zudem, insbesondere bei schon länger dauernden übergriffigen Beziehungen, wie im Falle häuslicher Gewalt, bis in den Bewältigungsprozess hinein fortsetzen. Wenn es einen dieser Verletzung zugrunde liegenden Konflikt gibt, kann es auch schon zu anderen Missachtungen gekommen sein, auch solchen, bei denen sich das Opfer dem Täter gegenüber eine Höherstellung angemaßt hat. Auch der Versöhnungsprozess selbst ist sehr fragil und kann in Asymmetrien, also neue Verletzungen des Täters gegenüber dem Opfer, aber auch seitens des Opfers gegenüber dem Täter, umschlagen. Denn Täter und Opfer öffnen sich einander persönlich und machen sich so gegenüber dem anderen besonders verletzbar. Zudem können sie dem anderen nur in der Hoffnung auf eine aufrichtige Gegengabe etwas geben, deren Verweigerung verletzend wirken kann. Der Bewältigungsprozess im TOA ist im Falle seines Gelingens aber auch von einer grundlegenden Symmetrie gekennzeichnet: Wenn sich beide Seiten aufrichtig auf den Prozess der Versöhnung einlassen (auch wenn sie noch nicht wissen können, wie er endet), sind sie bereit, einander zuzuhören und etwas von sich 760 Vgl. zur zentralen Stellung des Verzeihens für Moralität und Ethik Hannah Arendt, Vita activa, S. 301 ff.; Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen, S. 31; ders., Verzeihung des Unverzeihlichen?, S. 414 f., 421, 437 f.; ders., Geist der Verzeihung (1), S. 623; ders., Grundbegriff, S. 107 f. (= ders., Geist der Verzeihung (2), S. 289 f.) und im II. Kapitel unter 2. c) ii) (3). 761 So Thomas Rentsch, Konstitution, S. 173.

4. Vernünftiger Sinn des Täter-Opfer-Ausgleichs als Versöhnungsprozess 

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preiszugeben. Indem sie sich als Kommunikationspartner achten, achten sie sich auch wieder als Personen, die sich in der Anforderung der Aufrichtigkeit und des persönlichen Öffnens gleich sind, und zwar ohne dass das Verletzungsungleich­ gewicht als Gegenstand des Versöhnungsprozesses zu negieren ist. Dieses kommunikative Gleichgewicht ist der Punkt, an dem der TOA als Vermittlung zwischen zwei in der Vermittlungssituation gleichrangigen Parteien als Gesprächspartnerinnen ansetzt, nicht der Gegenstand, über den verhandelt wird. Während es in der Sache darum geht, dass die Täterin im Kontakt mit dem Opfer zu ihrer Schuld steht, das Opfer die Tat vergeben kann und dass realistische Ausgleichsleistungen vereinbart werden, geht es hinsichtlich des kommunikativen Rahmens um die Ab­ sicherung gleicher und freier Räume für das wechselseitige Sprechen, Zuhören und selbstständige Entscheiden. Hier ist insbesondere zu beachten, dass sich beide Seiten in ihrer „kommunikativen Kraft“, also ihrer Fähigkeit, für ihre Interessen gegenüber dem anderen einstehen zu können, gleich begegnen können. Bevor also ein TOA oder ein anderes Versöhnungsverfahren nach einer Unterwerfungsbeziehung, wie sie etwa bei häuslicher Gewalt auftreten kann, sinnvoll ist, müsste die Person, die unterworfen wurde, zunächst in ihrer Fähigkeit, sich dem anderen gegenüber als sie selbst zu behaupten, gestärkt werden. Auch in Fällen einer „Identifikation des Opfers“ mit dem Angreifer, die psychisch die Abwehr von Angst ermöglicht,762 wird ein TOA so nicht ohne Weiteres sinnvoll sein. Gerade in Beziehungen, in denen sich das durch die Tat begründete Missverhältnis auf das kommunikative Gleichgewicht nach der Tat auswirkt, ist so die Grenze zwischen dem Gegenstand und dem kommunikativen Rahmen des Versöhnungsprozesses schwer zu ziehen. Er läuft Gefahr, grundsätzlich zu scheitern, wenn nicht gar zu neuen Verletzungen zu führen. Die Sorge, dass der TOA in solchen Fällen zur Bewältigung der Tat ungeeignet ist, ist insofern berechtigt. Allerdings ist es denkbar, dass der TOA-Prozess den Besonderheiten dieser Fälle so angepasst wird, dass diesen Gefahren begegnet werden kann.763 ff) Konfliktvermittlung durch geschulte Dritte Der TOA wird in der TOA-Praxis als ein außergerichtliches Angebot verstanden, den Tatkonflikt im persönlichen Kontakt mithilfe eines professionellen Vermittlers beizulegen.764 Angesichts der Komplexität und Fragilität des Versöhnungsprozess insbesondere nach Straftaten leuchtet ohne Weiteres ein, dass es faktisch häufig notwendig ist, dass geschulte Konfliktvermittlerinnen den Bewältigungsprozess absichern und unterstützen, um das Gelingen der Tatbewältigung zu fördern und erneute Verletzungen zwischen Täterin und Opfer zu vermeiden. Dies gilt umso mehr, als Straftaten Verletzungen darstellen, die das kommunikative 762

Vgl. hierzu Andreas Plöger, epd-Dokumentation 32/99, S. 58 (61 f.). Vgl. in diesem Kapitel unter 4. a), aa) bei Fn. 654 f. 764 Vgl. in diesem Kapitel unter 4. a), aa) bei Fn. 652, 658.

763

218

IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

Verhältnis zwischen Täter und Opfer regelmäßig nachhaltig stören. Ohne eine Unterstützung Dritter wird hier eine wirkliche und nachhaltige Konfliktbeilegung im unmittelbar-persönlichen Kontakt häufig gar nicht möglich sein. Die Parteien sind so auf die Unterstützung durch eine geschulte, nicht in den Konflikt involvierte, insofern unbeteiligte Dritte angewiesen, die beiden Seiten einen geschützten Raum für ihre kommunikative Integrität im unmittelbaren Kontakt schaffen und so die Beilegung des Konflikts ermöglichen oder zumindest wesentlich fördern kann.765 Genauer achtet die Vermittlerin auf die Einhaltung der Kommunikationsregeln, die Wahrung des Kommunikationsgleichgewichts und die Wahrnehmung der eigenen angemessenen Interessen durch die Beteiligten. Zudem kann sie als geschulte Konfliktvermittlerin den Bewältigungsprozess strukturieren und angemessen lenken. Eine Spezialisierung auf den TOA hat sich dabei als sinnvoll erwiesen,766 auch Spezialisierungen auf bestimmte Fallgruppen, bei denen der Bewältigungsprozess spezifischen Gefahren, wie bei Gewalt in Paarbeziehungen, ausgesetzt ist, dürften sinnvoll sein. In der Angewiesenheit auf einen unbeteiligten Dritten zeigt sich die wechselseitige Abhängigkeit in unserer Existenz, die unser ganzes Leben kennzeichnet, also nicht nur auf die Kinder- und Jugendzeit beschränkt ist.767 Der Rolle des unterstützenden, nicht in den Konflikt involvierten Dritten entspricht es, dass der Konfliktvermittler nach den TOA-Standards allparteilich sein soll. Er soll von beiden Parteien „in der Summe seiner Handlungen als fair erlebt werden können“. Er darf also keine Partei einseitig betreuen, ist aber zugleich verantwortlich dafür, dass „zu jedem Zeitpunkt ein respektvoller Umgang gewährleistet ist und keine der Parteien ungerecht behandelt wird.“768 Der Vermittler ist also insofern allparteilich, als er über das kommunikative Gleichgewicht im Ausgleichs­ prozess wacht. Das ist angemessen, da der Prozess der Tatbewältigung im TOA als unmittelbar-persönlicher Prozess der Begegnung beider Seiten als authen­ tische Personen in ihrer Selbstständigkeit dient. Sie können innerhalb dieses Prozesses daher durch einen Dritten auch nur hinsichtlich des kommunikativen Gleichgewichts geschützt werden, sobald dieses kippt oder nicht gewährleistet werden kann, erweist sich der TOA im konkreten Fall als ungeeignetes Mittel der persönlichen Bewältigung der Tat. Das Verfahren ist abzubrechen, und es ist auf andere Unterstützungs- und Bewältigungsmöglichkeiten zu verweisen.

765

Vgl. auch Winfried Hassemer / Jan Philipp Reemstma, Verbrechensopfer, S. 93. Vgl. TOA-Servicebüro / BAG TOA, TOA-Standards, 2.1. 767 Vgl. hierzu im II. Kapitel unter 2. c) jj). 768 TOA-Servicebüro / BAG TOA, TOA-Standards, 4.4.

766

4. Vernünftiger Sinn des Täter-Opfer-Ausgleichs als Versöhnungsprozess 

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gg) Rechtliche Regelung des Versöhnungsprozesses im Täter-Opfer-Ausgleich (1) Faktische Sinnlosigkeit einer rechtlichen Pflicht zur Konfliktbeilegung im Täter-Opfer-Ausgleich Als auf Freiwilligkeit basierender auf das aufrichtige und unmittelbar einsichtsbezogene Verhalten der Beteiligten zielender Prozess ist der TOA faktisch weder rechtlich noch auf andere Weise erzwingbar. Eine Regelung, mit der Täter und Opfer verpflichtet würden, in einem Prozess der persönlichen Tatbewältigung den Konflikt beizulegen, wäre so faktisch sinnlos.769 Zwar ist es vorstellbar, Täter und Opfer darauf zu verpflichten, sich um einen Ausgleich zu bemühen, also sich auf ein Ausgleichsverfahren einzulassen.770 Denn das erfordert zunächst nur Verhaltensweisen, wie Sich-zur-Ausgleichsstelle-Begeben und Sich-ein-Anliegen-schildernLassen, die also nicht unmittelbar einsichtsbezogen und aufrichtig sein müssen. Allerdings untergräbt ein derartiger Zwang faktisch mittelbar das Anliegen des TOA als persönlich-authentisches und lebendiges Ausgleichsverfahren, indem er eher Widerstand beider Seiten gegen ein Ausgleichsgespräch und eine aufrichtige Auseinandersetzung mit der Tat erzeugen dürfte.771 Ein so fragiler Prozess wie der TOA sollte von äußeren Zwängen möglichst frei gehalten werden. Als Extremfall wäre zudem das bloße Erscheinen in der Ausgleichstelle und das Absitzen der Zeit bezogen auf die Tatbewältigung schlicht sinnlos. Dabei sind im Rahmen des TOA nicht nur die Reue, Entschuldigung und Verzeihung als persönlich-authentische Praxisformen verstehbar. Gleiches gilt für die Ausgleichsvereinbarung innerhalb des TOA. Zwar kann jemand zum Ersatz eines Schadens rechtlich verpflichtet und gezwungen werden, weil ein materieller Ausgleich zwar einen Zugriff auf das Vermögen einer Person darstellt, diese dadurch aber grundsätzlich nicht in ihrer persönlichen Integrität betroffen ist. Die Verpflichtung zum Schadensersatz, wie sie im deutschen Recht zivilrechtlich in den §§ 823 ff., 249 ff. BGB geregelt ist, kann daher sinnvoll rechtlich geregelt werden. Die Zahlung aufgrund eines entsprechenden zivilrechtlichen Urteils ist aber keine

769

Vgl. auch Winfried Hassemer / Jan Philipp Reemstma, Verbrechensopfer, S. 94, 95, wo sie den Täter-Opfer-Ausgleich als „lebendigen Kommunikationsprozesses“ verstehen; vgl. zudem Michael Köhler, Strafe, S. 67 f.; ders., Strafrecht AT, S. 670 und Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (527 f.), die davon ausgehen, dass das Strafrecht nur das äußere Handeln, nicht aber moralisches Verhalten der Person zum Gegenstand haben kann, und deshalb den TOA als strafrechtliche Sanktion ablehnen. 770 Entsprechende Regelungen gibt es im Jugendstrafrecht, das maßgeblich vom Erziehungsgedanken geprägt ist, vgl. §§ 10 I Nr. 7; 15 I Nr. 2 JGG. Dessen Besonderheiten sollen hier nicht erörtert werden. 771 Strukturell gleich ist die Problematik der Verpflichtung zur Schwangerschaftskonfliktberatung gem. § 219 StGB, die die abbruchwillige Schwangere in Anspruch nehmen muss, ohne dass sie faktisch verpflichtet werden kann, sich in der Sache darauf einzulassen.

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

Ausgleichsleistung im Sinne eines TOA, in dessen Rahmen die Ausgleichsvereinbarung und -leistungen eine freiwillige Leistung der Täterin darstellen.772 (2) Rechtliche Absicherung des Täter-Opfer-Ausgleichs Der rechtlichen Regelung entzogen sind aber nur die Verhaltensweisen von Täter und Opfer, soweit sie als authentische und freiwillige nicht erzwungen werden können und bezogen auf diese auch mittelbar kein rechtlicher Druck ausgeübt werden sollte. Sie können aber als authentische Verhaltensweisen rechtlich abgesichert werden. Die Bedingungen, die einen authentischen und erfolgreichen unmittelbaren Tatausgleich zwischen Täter und Opfer ermöglichen oder fördern, können also rechtlich geregelt werden, soweit sie ihrerseits erzwingbar, also rechtlich durchsetzbar sind. Die Einrichtung von Vermittlungsstellen in bedarfsgerechter Zahl, die Regelung der Finanzierung, die Ausstattung mit den erforderlichen finanziellen Mitteln und die Anforderungen an die fachliche Ausbildung der Konfliktvermittler sind rechtlicher Regelung ebenso zugänglich wie etwa die Einrichtung und Finanzierung von Gerichten und Ausbildungsvoraussetzungen für Richterinnen. Dadurch wird der TOA aber nicht zu einem Instrument im Interesse staatlicher Strafjustiz oder zu einer straf- oder kriminalrechtlichen Sanktion, wie es die Rede von der Wiedergutmachung als „dritte Spur“ des Strafrechts nahelegt.773. Denn er hat ein anderes Ziel und einen anderen Gegenstand als die Strafe, und er wird durch die rechtliche Absicherung kein Tatbewältigungsmittel des (strafenden) Staates. Es lässt sich eher mit Winfried Hassemer und Jan Philipp Reemstma von einem rechtlich umhegten Lebensbereich sprechen.774 Der TOA kann also unproblematisch rechtlich institutionell abgesichert werden. Die eigentliche Frage in diesem Bereich aber ist, ob der Staat den TOA absichern und fördern muss. Er kommt dabei nicht als Institution, die Freiheitsräume rechtlich gegeneinander abgegrenzt und durchsetzt, in den Blick, sondern als Institution, die die Bedingungen von Selbstständigkeit auch in faktischer Hinsicht sichert, also Räume zur Betätigung von Freiheit schafft.775 Es kann hier nur kurz aufgezeigt werden, was für eine Pflicht des Staates, den TOA (oder auch andere Formen der persönlichen Tatbewältigung) abzusichern, spricht, ohne dass

772

Vgl. hierzu in diesem Kapitel bereits oben unter 4. d) dd). Vgl. etwa Jürgen Bauman u. a., AE-WGM, S. 23 ff.; vgl. zu weiteren Positionen, die den TOA (bzw. die Schadenswiedergutmachung) als dritte oder vierte Spur in des System des kriminalrechtlichen Sanktionenrechts einordnen, im I. Kapitel unter 2. bei Fn. 23 sowie in diesem Kapitel bei der Bestimmung des Verhältnisses von TOA und Strafe unter 5. a) bb) bei Fn. 781. 774 Winfried Hassemer / Jan Philipp Reemstma, Verbrechensopfer, S. 168 ff., insb. S. 170. 775 Vgl. zu dieser Differenzierung im II. Kapitel unter 2. c) mm) (2) (b) sowie 2. d) cc). 773

4. Vernünftiger Sinn des Täter-Opfer-Ausgleichs als Versöhnungsprozess 

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diese Frage endgültig geklärt wird.776 Für eine Unterstützungs- und Schutzpflicht spricht, dass Täter und Opfer durch die Tat in den grundlegenden Bedingungen ihrer Existenz betroffen sind und zur unmittelbar-persönlichen Bewältigung der Tat typischerweise auf die Unterstützung durch unabhängige, in der straftatbezogenen Konfliktlösung geschulte Dritte angewiesen sein können. Denn der Staat ist eine gemeinschaftliche Institution, die die Bedingungen unseres Zusammenlebens als Selbstständige, die voneinander abhängig sind, rechtlich sichern soll. Deshalb sind die Strafgesetzgebung und die Strafjustiz auch Kernbereiche staatlicher Regelungen als Umsetzung der Pflicht des Staates, seine Bürger vor grundlegenden und schwerwiegenden Eingriffen in ihre Existenz zu schützen und geschehene Eingriffe so zu bewältigen, dass der gesellschaftliche Rechtsfrieden einschließlich der Interessen der unmittelbar Betroffenen gewahrt bleibt. Da sich der TOA als ein angemessenes Verfahren zur persönlich-unmittelbaren Bewältigung von Straftaten bewährt hat, würde seine institutionelle Absicherung einer entsprechenden Schutzund Unterstützungspflicht des Staates gerecht werden. Dagegen kann nicht eingewendet werden, dass der Staat dieser Pflicht bereits mit seinem strafrechtlichen Instrumentarium ausreichend gerecht wird. Denn dieses erreicht zwar das unmittelbar-persönliche Verhältnis zwischen Täter und Opfer hinsichtlich der Unterbindung unmittelbarer Gewaltausübung, nicht aber die unmittelbar-persönliche Ebene der einsichtsgetragen-authentischen Konfliktbeilegung.777 e) Zusammenfassung Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der TOA ein durch eine geschulte, allparteiliche Dritte vermittelter Kommunikationsprozess mit dem Ziel ist, auf der unmittelbar-persönlichen Ebene des einsichtsgetragen-authentischen Kontakts eine Versöhnung zwischen Täter und Opfer nach einer Straftat herbeizuführen. Beim Gelingen des TOA wird der durch die Straftat ausgelöste oder ihr zugrundeliegende Konflikt so bewältigt, dass sich Täter und Opfer wieder wechselseitig als gleichgeordnete Personen achten, das schließt einen Ausgleich der durch die Tat verursachten Einbußen ein. Als von persönlicher Kommunikation und Einsicht getragener Versöhnungsprozess kann die Tatbewältigung im TOA nicht erzwungen werden, allerdings können die Bedingungen für einen erfolgreichen Versöhnungsprozess rechtlich abgesichert werden (rechtlich umhegtes Institut). Am Versöhnungsprozess im TOA sind unmittelbar der Täter, das Opfer und die vermittelnden Personen beteiligt. Der Staat als Rechtsgemeinschaft kann als derjenige, der den TOA rechtlich absichert, beteiligt sein. 776 Eine Klärung dieser Frage würde eine ausführliche Analyse des Staates als unmittelbar unterstützende Institution (also als „Leistungsstaat“) einschließlich der Voraussetzungen einer Schutzpflicht und den mit ihr verbundenen Entscheidungsspielräumen voraussetzen. Wesentlich für die Analyse wäre das fundamental-anthropologische Faktum, dass wir nicht nur selbstständig, sondern in der Selbstständigkeit auch wechselseitig voneinander abhängig sind. 777 Vgl. weitergehend zum Verhältnis zwischen Strafe und TOA in diesem Kapitel unter 5.

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

5. Verhältnis von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich Auf der Basis des in der Interexistentialanalyse herausgearbeiteten vernünftigen Sinns von Strafe und TOA kann nun deren Verhältnis näher bestimmt werden. a) Eigenständiges Nebeneinander von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich aa) Eigenständiges Nebeneinander von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich als Ergebnis der Interexistentialanalyse Das Verhältnis von Strafe und TOA kann nur auf der Basis deren vernünftigen Sinns bestimmt werden. Die Interexistentialanalyse hat gezeigt, dass der TOA und die Strafe zwar Reaktionen auf ein einheitliches Verletzungsgeschehen sind, dass sie dieses aber in verschiedenen Aspekten erfassen und auf diese Weise ihren je eigenen Sinn haben und verschiedenen Grundsätzen folgen. Der TOA zielt als Versöhnungsprozess darauf, die Straftat als unmittelbar-persönlichen Konflikt von Täter und Opfer auf der Ebene des unmittelbar einsichtsgetragen-authentischen Kontakts in der Wiederherstellung des unmittelbar-persönlichen Verhältnisses wechselseitiger Achtung zwischen Täter und Opfer im Rahmen des Rechts zu bewältigen. Mit der Strafe reagiert der Staat als Rechtsgemeinschaft auf die Straftat als Verletzung des Rechts als Recht, die das Opfer und die Rechtsgemeinschaft insgesamt betrifft, mit rechtlichen Mitteln. Mit ihr wird durch eine Minderung des Täters in seinem Rechtsstatus, die einseitig festgestellt wird und zwangsweise durchgesetzt werden kann, das Rechtsverhältnis als Ausformung des Geflechts wechselseitiger Anerkennung innerhalb der Rechtsgemeinschaft im Hinblick auf das Opfer und die Rechtsgemeinschaft symbolisch wiederhergestellt. Sie betrifft so auch das unmittelbar-persönliche Verhältnis zwischen Täter und Opfer, allerdings nur soweit dieses rechtlich einseitig-feststellend und durch eine erzwingbare Statusminderung symbolisch wiederhergestellt wird und der Staat Gewalthandlungen zwischen Täter und Opfer unterbinden kann. Die Strafe ist, insofern sie sich auf die umfassende Wiederherstellung des Rechts mit rechtlichen Mitteln bezieht, ein unmittelbar rechtliches Institut, während die Wiederherstellung des wechselseitigen Verhältnisses im TOA nicht, auch nicht rechtlich, erzwungen werden kann. Der Staat kann den Versöhnungsprozess aber in seinen Bedingungen absichern.

5. Verhältnis von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

223

Im Überblick können Strafe und TOA wie folgt einander gegenüber gestellt werden: Strafe

TOA 1. Gegenstand ist die Straftat als

Verletzung des rechtlich ausgeformten Anerkennungsgeflechts (Rechtsverhältnis), die das Tatopfer als rechtlich zu schützende Person und die Rechtsgemeinschaft betrifft.

als unmittelbar persönliche Verletzung einer anderen Person auch jenseits recht­licher Typisierungen (Konflikt).

2. Ziel ist die Tatbewältigung als Wiederherstellung des Rechtsverhältnisses als Normbestätigung gegenüber der Rechtsgemeinschaft und der Bestätigung des Opfers als Rechtsperson durch die symbolische Wirkung der Strafe als einseitig festgestellte Minderung des Täters in seinem Rechtsstatus.

unmittelbar einsichtsgetragen-authentische Wiederherstellung des persönlichen Verhältnisses von Täter und Opfer als Verhältnis wechselseitiger Achtung, das auch den Ausgleich materieller Verluste des Opfers einschließt.

3. Zwangscharakter: grundsätzlich zwingend vom Staat nach einer Straftat zu verhängen und als Rechts­ einbuße selbst erzwingbar

als authentischer durch persönliche Einsichten getragener Kommunikationsprozess letztlich nicht erzwingbar, allerdings durch Dritte förderbar

4. Rechtscharakter: Strafe ist eine einseitig festgestellte Bestätigung des Rechts in Bezug auf Täter, Opfer und Rechtsgemeinschaft mit rechtlichen Mitteln und insofern ein unmittelbares Rechtsinstitut.

TOA ist ein rechtlich umhegbares Institut (rechtliche Absicherung der Bedingungen eines erfolgreichen TOA).

5. Beteiligte: Täter und Opfer, als Rechtspersonen

als unmittelbar-authentisch einander gegenüberstehende Personen, die auch Rechtspersonen sind der Staat als

Repräsentant der Rechtsgemeinschaft und des Opfers als Rechtsperson

den TOA fördernde Rechtsgemeinschaft und der allparteiliche Konfliktvermittler

224

IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

Strafe und TOA knüpfen so zwar an dasselbe Ereignis, die Straftat, an, haben aber deren Bewältigung auf verschiedenen Ebenen und auf verschiedene Weise zum Gegenstand. Strafe und TOA stehen deshalb als eigenständige Formen der Bewältigung von Straftaten nebeneinander. bb) Abgrenzung zu anderen Positionen zum Verhältnis von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich Mein Fazit ordnet sich damit innerhalb der Positionen ein, die den TOA als ein Institut betrachten, das nicht als rechtliche Sanktion vorgesehen werden kann und von der Strafe strikt zu unterscheiden ist.778 Diese Positionen werden insbesondere damit begründet, dass Strafe als rechtlicher Zwang nicht auf ein Verhalten des Täters gerichtet sein darf, dass nur freiwillig sinnvoll ist.779 Eine eigenständige Analyse des TOA erfolgt dabei nicht, vermutlich weil er nicht als rechtlich erzwingbar verstanden werden kann. Demgegenüber wurde hier neben einem vernünftigen Verständnis der Strafe auch ein eigenständiges Verständnis des TOA entwickelt. Aufgrund einer genaueren Analyse des Rechtsbegriffs hinsichtlich der Absicherung persönlicher Entfaltung wird es zudem möglich, den TOA als rechtlich regelbares, genauer als rechtlich umhegbares Institut, zu verstehen.780 Eine solche rechtliche Regelung des TOA, die dessen vernünftigem Sinn entspricht, könnte durchaus als Bestandteil eines weiteren Bereichs oder einer weiteren Spur des Kriminalrechts verstanden werden. Das Kriminalrecht in diesem Sinne wären die rechtlichen Regelungen, die die Bewältigung von Straftaten zum Gegenstand hätten. Der Bereich des Kriminalrechts, zu dem der TOA gehört, würde sich auf die unmittelbar-persönliche Bewältigung von Straftaten beziehen, die auch in anderer Form möglich ist. Dabei darf dieser Bereich nicht als Regelung einer Rechtsfolge oder einer weiteren Spur des Sanktionenrechts verstanden werden.781 Denn der TOA selbst kann keine Rechtsfolge sein, da er nicht erzwing 778

Vgl. Hans Joachim Hirsch, ZStW 102 (1990), S. 534 (538, 544 ff.); Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 53, 614, 670; Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (526, 527 f.); vgl. zur Eigenständigkeit auch Thomas Trenczek, ZRP 1992, 130 (132), der entgegen der hier vertretenen Position allerdings von einer Vorrangstellung der Konfliktregelung gegenüber der Strafe ausgeht; vgl. grundsätzlich auch Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S. 246, 253 ff. 779 Dahingehend Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 53, 614, 670; Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (527 f.). 780 Vgl. hierzu in diesem Kapitel bereits unter 4. d.) gg) und im Folgenden unter 5. b) cc) (3); vgl. zum Rechtsbegriff im II. Kapitel unter 2. c) mm) (2) und 2. d) cc). 781 So aber Claus Roxin, Wiedergutmachung im System, S. 41; 50 ff.; Claus Roxin, Wiedergutmachung als dritte Spur, S. 243 f.; ähnlich Heinz Schöch, Gutachten C zum 59. DJT, insb. C 63 ff.; Jürgen Baumann u. a., AE-WGM, S. 23 ff.; hierzu Dieter Rössner, Grundlagen AEWGM, S.  353 ff.; Dieter Rössner, NStZ 1992, S.  409 (411 ff.); Susanne Walther, Realkonflikt, S. 281 ff., 421 f.; Detlev Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 82 f., 119; Nils Christie, BritJCrim 1977, 1 ff. Die Position Christies lässt sich durchaus auch in das Theoriebündel „Abschaffung des Strafens“ zugunsten einer wirklichen Konfliktlösung einordnen, da sie die

5. Verhältnis von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

225

bar, also nicht zwangsweise durchsetzbar ist. Er kann auch keine Sanktion sein. Eine Sanktion ist die  – billigende oder missbilligende  – einseitige Reaktion auf das Verhalten eines anderen. Der TOA ist aber keine einseitige Reaktion, sondern ein wechselseitiger kommunikativer Prozess, der unmittelbar auch vom Täter als demjenigen getragen wird, dessen Verhalten als Straftat Anlass für den TOA gegeben hat. Dass der TOA nicht als Strafe verstanden werden kann, ergibt sich von selbst aus der These der Eigenständigkeit von Strafe und TOA. Ein Verständnis des TOA (oder von „Wiedergutmachung“) als Strafe wird vor allem damit begründet, dass diese spezial- und generalpräventiv wirken, also Strafzwecke erfüllen,782 oder dass die Klärung des Konflikts zwischen Täter und Opfer den Rechtsfrieden wiederherstellt,783 so dass Strafe entbehrlich wird. Doch diese Argumente tragen nicht: Auch wenn der TOA spezial- oder generalpräventiv wirkt und einen Teil des Verhältnisses zwischen Täter und Opfer klärt, hat er einen anderen Gegenstand als die Strafe. Diese bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Täter und Opfer auf der Ebene unmittelbarer Gewalt und bezieht auch das Verhältnis zur Rechtsgemeinschaft mit ein; jener bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Täter und Opfer auf der Ebene unmittelbar-einsichtsgetragenen Verhaltens. Die Eigenständigkeit von Strafe und TOA schließt aber nicht aus, dass sich die Strafe auf den TOA oder der TOA auf die Strafe auswirken kann. b) Wechselwirkungen zwischen Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich am Beispiel des § 46a Nr. 1 StGB Strafe und TOA sind also eigenständige Formen der Bewältigung kriminellen Unrechts, die grundsätzlich nebeneinander zum Zuge kommen können und sollen, wenn sich Täter und Opfer auf den persönlichen Versöhnungsprozess einlassen. Allerdings sind beide Bewältigungsformen nur relativ unabhängig voneinander, denn mit ihnen wird auf die Straftat als einem einheitlichen Lebensvorgang reagiert, das heißt, sie betreffen Täter und Opfer in erster Linie in bestimmten unterscheid­ baren Aspekten ihrer Existenz, aber letztlich doch immer auch als ganze Personen unmittelbare Konfliktbewältigung zwischen Täter und Opfer betont und diese gegenüber dem Strafen durch die Nachbarschaft als unmittelbar involvierte (vgl. S. 10) vorrangig ist. Allerdings bleibt es so zumindest subsidiär bei der Möglichkeit des Strafens im Hintergrund der Konfliktlösung. 782 Vgl. Thomas Weigend, Wiedergutmachung, S.  987 ff.; Kurt Seelmann, JZ 1989, S.  671 (676 f.); vgl. auch Klaus Sessar, Schadenswiedergutmachung, S.  152 ff., 159, wobei unklar bleibt, ob er die Wiedergutmachung als Strafe oder als sonstige negative Sanktion, die Strafe ersetzen kann, betrachtet. 783 Vgl. zu dieser Konstruktion Kurt Seelmann, ZfevEth, 25 (1989), S. 44 (53 f.); vgl. auch Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S.  245 ff., der Wiedergutmachung insofern mit der Strafe gleichsetzt, als die Geldstrafe dem Opfer zugute kommen und die „Genugtuungsentschädigung als ein Bestandteil des Schmerzensgeldes zu einer strafrechtlichen Sanktion transformiert“ werden soll (S. 246 f. im Original hervorgehoben).

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

in ganzen Lebenssituationen.784 Zum einen kann es so zu faktischen Wechselwirkungen zwischen Strafe und TOA kommen, beispielsweise kann dem Verletzungsopfer das Verzeihen leichter fallen, wenn es die genugtuende und ihn als gleiche Rechtsperson bestätigende Wirkung des Strafens erfahren hat. Zudem können Strafe und TOA aber auch durch menschliche Lebensgestaltungen sinnvoll zuein­ ander in Beziehung gesetzt werden. Ausdruck dessen ist etwa § 46a Nr. 1 StGB als vom Gesetzgeber erlassene Norm, wonach unter anderem das Bemühen des Täters um einen Ausgleich mit dem Verletzten, das ganz oder überwiegend zur Wiedergutmachung geführt hat, oder jedenfalls sein ernsthaftes Bestreben um Wiedergutmachung strafmildernd berücksichtigt werden kann. Als Ausdruck menschlichen Verhaltens sind § 46a Nr. 1 StGB und seine Anwendung durch die Rechtsprechung normativer Beurteilung zugänglich. Ob § 46a Nr. 1 StGB Strafe und TOA vernünftig zueinander ins Verhältnis setzt, soll nun näher untersucht werden. Die Analyse orientiert sich am kritisch hinterfragten Sinn von Strafe und TOA, wie er anhand der Grundzüge unserer Welt als Rationalitätskriterien erläutert wurde.785 Beide können bei einem vernünftigen Verständnis nur so zueinander in Beziehung gesetzt werden, dass ihr je vernünftiger Sinn erhalten bleibt und die Verhältnisbestimmung einerseits der Einheitlichkeit der betroffenen Lebensphänomene und andererseits deren vernünftiger Differenzierung hinsichtlich verschiedener Aspekte entspricht. aa) Regelung des § 46a Nr. 1 StGB und gesetzgeberische Motive Herkömmlich konnten gem. § 46  II 6.  Umstand  StGB die Bemühungen des Täters, den Schaden wiedergutzumachen oder einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen, bei der Strafzumessung im engeren Sinne (der letztendlichen Abwägung und Festlegung des konkreten Strafmaßes durch den Richter) strafmildernd ins Gewicht fallen. 1994 wurde durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz786 § 46a StGB eingeführt. Gemäß dessen Nr. 1 kann der Richter die Strafe gem. § 49 I StGB mildern oder (bei einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen) ganz von Strafe absehen, wenn der Täter „in dem Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (Täter-OpferAusgleich), seine Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutgemacht oder deren Wiedergutmachung ernsthaft erstrebt“ hat. Für den Fall persönlich-unmittelbarer Ausgleichsbemühungen des Täters sieht das Gesetz damit einen vertypten fakultativen Strafmilderungsgrund vor. Anliegen des Gesetzgebers war es, dem TOA (und der Schadenswiedergut­ machung) „in größerem Umfang als bisher Eingang in das Erwachsenenstrafrecht“ 784

Vgl. zur singulären Totalität als Grundzug unserer Welt und der Unterscheidbarkeit verschiedener Aspekte ganzer Gestalten unserer Praxis im II. Kapitel unter 2. c) kk). 785 In diesem Kapitel unter 3. und 4. 786 In Kraft seit 1. Dezember 1994, BGBl. I S.  3186 ff.

5. Verhältnis von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

227

zu verschaffen. Die Interessen der Opfer einer Straftat sollten so stärker berücksichtigt werden, in dem „diese Reaktionsmöglichkeiten sinnvolle materielle und immaterielle Hilfen durch Schadenskompensation und Abbau von Ängsten geben können“.787 Darin deutet sich an, dass das Bemühen des Täters um einen TOA nicht nur zur Voraussetzung einer Strafmilderung gemacht, sondern der TOA auch innerhalb der Möglichkeiten, auf eine Straftat zu reagieren, verankert werden sollte. In der Gesetzesbegründung ist auch ausdrücklich von einer „Verankerung“ des TOA die Rede.788 Dennoch soll unabhängig vom Gelingen des TOA, das eine Mitwirkung des Opfers erfordert, nach dem Gesetzeswortlaut ein Bemühen des Täters um den Ausgleich mit dem Verletzten oder ein ernsthaftes Erstreben der Wiedergutmachung ausreichen. Dem entspricht das weitere Anliegen des Gesetzgebers, gegenüber dem Täter einen Anreiz für Ausgleichsbemühungen zu schaffen.789 Der Begriff des TOA selbst wird durch die Legaldefinition in § 46a Nr. 1StGB nur vage als „Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen“ gefasst. In der Gesetzesbegründung wird klargestellt, dass es sich um umfassende Ausgleichsbemühungen handeln muss, wobei „unter Anleitung eines Dritten […] eine Lösung des der Tat zugrundeliegenden Gesamtkonflikts anzustreben“ ist.790 Der Gesetzgeber hatte dabei wohl den praktisch erprobten förmlichen, durch einen fachkundigen Dritten vermittelten TOA, wie er hier erläutert wurde,791 vor Augen,792 ohne dessen Voraussetzungen jedoch genau festzulegen. Das Gesetz selbst schwankt also im Wortlaut wie hinsichtlich der gesetzgeberischen Motive zwischen einer täterorientierten Regelung des Strafzumessungsrechts und einer „Verankerung“ des TOA im Sanktionenrecht, wobei dies zudem als Anreiz für den Täter wirken soll. Diese inhaltliche und systematische Unklarheit spiegelt sich auch in der Anwendung des § 46a Nr. 1 StGB durch die Gerichte wider. bb) Grundzüge der Anwendung des § 46a Nr. 1 StGB in der Rechtsprechung Die Gerichte distanzieren sich bei der Anwendung des § 46a Nr. 1 StGB in der Sache und teils ausdrücklich793 von diesem Leitbild des TOA: In der ständigen Rechtsprechung des BGH794 wird lediglich ein kommunikativer Prozess zwischen 787

Vgl. BT-Drs. 12/6853, S. 21. Vgl. BT-Drs. 12/6853, S. 21. 789 Vgl. BT-Drs. 12/6853, S. 21. 790 Vgl. BT-Drs. 12/6853, S. 21 f. 791 In diesem Kapitel unter 4. 792 So BGH NJW 2002, 3264 (3265); Peter König / Helmut Seitz, NStZ 1995, S. 1 (2); ­Michael Kilchling, NStZ 1996, S. 309 (311 f.). 793 Vgl. BGHSt 48, 134 (139). 794 Vgl. zur Rechtsprechung der Obergerichte Bert Hüttemann, StV 2002, S. 678 ff. 788

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

Angeklagtem795 und Opfer verlangt, der auf einen umfassenden friedensstiftenden Ausgleich der Folgen der Tat gerichtet sein muss. Neben dem formalisierten (eigentlichen) TOA sollen so auch andere Kommunikationsformen zur Schadenswiedergutmachung berücksichtigt werden können. Dieser Kommunikationsprozess setzt die Einbeziehung des Opfers voraus, dieses muss sich freiwillig bereit finden, daran teilzunehmen.796 Allerdings müssen sich im Rahmen dieses Prozesses Angeklagter und Opfer nicht zwingend persönlich begegnen, insbesondere bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder anderen Gewaltdelikten sei der kommunikative Prozess seltener von einem persönlichen Gespräch zwischen Angeklagtem und Opfer geprägt. Hier könne die Vermittlung über einen Dritten, der aber auch der Rechtsanwalt des Angeklagten sein kann, ausreichen.797 Der vermittelnde Dritte muss so nicht zwingend ein von den Parteien unabhängiger und fachkundiger Dritter sein. Letztlich kommt es nach der Rechtsprechung aber nicht auf die Vermittlung durch eine weitere Person an. Teils wird dies damit begründet, dass dem Angeklagten nicht zwingend vorgeschrieben werden könne, auf welche Weise er sich um die Lösung des Konflikts bemüht.798 Vom Leitbild des TOA wird hier in einer traditionell-strafrechtlich täterorientierten Sichtweise abge­ wichen. Teils wird aber, dem Leitbild des TOA entsprechend, angenommen, dass bei schwerwiegenden Gewaltdelikten, zum Beispiel bei einer Vergewaltigung oder einem Tötungsversuch, eine annähernd gelungene Konfliktlösung im Sinne des § 46a Nr. 1 StGB in der Regel nur schwer erreichbar sein wird.799 Nicht nur hinsichtlich des Gesamtrahmens, auch hinsichtlich des konkreten Verhaltens von Angeklagtem und Opfer entsprechen die von der Rechtsprechung ge 795

Im Strafprozess gilt der Angeklagte nicht als Täter, solange seine Schuld nicht erwiesen ist und er nicht verurteilt wurde. Dies weist auf zwei Schwierigkeiten hin: Zum einen stellt sich der Täter einem TOA möglicherweise nicht, um eine Verurteilung zu vermeiden. Hier kommt zum Tragen, dass Strafverfahren und TOA verschiedenen Verfahrensprinzipien folgen. Während das Strafverfahren als Zwangsverfahren gegenüber dem Be-/Angeschuldigten bzw. Angeklagten (§ 157 StPO) besonders auch an der Wahrung dessen Rechte orientiert ist, basiert der TOA gleichermaßen auf der kommunikativen Integrität von Täter und Opfer. Bei einem Nachdenken über das Verhältnis von Strafverfahren und TOA-Prozess wäre dies zu berücksichtigen. Zum anderen wird hier deutlich, dass die Bezeichnung „Täter“ für den Täter-Opfer-Ausgleich zweifelhaft oder zumindest unscharf ist, da der Verdächtige, Be- oder Angeschuldigte oder Angeklagte strafprozessual nicht als Täter gilt, solange seine Schuld nicht im Strafprozess erwiesen und er verurteilt wurde. Die Bezeichnung als Täter-Opfer-Ausgleich und die Bezeichnung als Täter dürfte aber insofern berechtigt sein, als dass ein Täter-Opfer-Ausgleich nur sinnvoll ist, wenn er zwischen dem wirklichen Täter und dem wirklichen Opfer zustande kommt und wenn ersterer bereit ist, zu seiner Tat zu stehen, auch wenn er strafprozessual (noch) nicht als Täter gilt. 796 Vgl. BGHSt 48, 134 (139); BGH NStZ 1995, 492 (493); BGH wistra 2002, 21 (21); BGH NStZ 2002, 29 (29); BGH NJW 2002, 3264 (3265); BGH NStZ 2003, 29 (30 Rn. 2); BGH StV 2004, 72 (73); BGH NStZ 2006, 275 (276 Rn. 2); BGH NStZ 2008, 452 (452 f.); BGH wistra 2009, 309 (310); vgl. auch OLG Hamm NStZ-RR 2008, 71 (71 f.); OLG Hamm NStZ-RR 2009, 272 (273). 797 BGHSt 48, 134 (140); BGH NStZ 2003, 29 (30 Rn. 2). 798 Vgl. BGH NStZ 1996, 390 (390); Eckhard Horn, SK-StGB, § 46a Rn. 3, 6. 799 Vgl. BGH NStZ 1995, 492 (492); BGH NStZ 2002, 646; BGH NStZ 2008, 452 (453).

5. Verhältnis von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

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prüften Voraussetzungen der Anwendung des § 46a Nr. 1 StGB nicht dem Leitbild des TOA: Aufseiten des Opfers setze ein erfolgreicher TOA im Sinne des § 46a Nr. 1 StGB grundsätzlich voraus, dass es die Leistungen des Angeklagten als friedensstiftenden Ausgleich akzeptiere.800 Allerdings wurde teils geurteilt, dass es auf eine fehlende Einwilligung des Opfers nicht zwingend ankomme, wenn sich der Angeklagte ernsthaft um eine Wiedergutmachung bemüht habe. Die Möglichkeit der Strafmilderung soll nicht ausschließlich vom Willen des Opfers abhängen.801 Dass für die Strafmilderung ein ernsthaftes Bemühen des Angeklagten ausreicht, soll teils sogar dann gelten, wenn das Opfer nicht mitwirkt, weil es sich um ein schwerwiegendes Sexualdelikt handelt, bei dem sich das Opfer aufgrund der Schwere und Art des Delikts nicht auf einen persönlichen Kontakt mit dem Angeklagten einlassen will.802 Letztlich kommt es nach diesen Urteilen auf die Akzeptanz des Ausgleichsbemühens des Angeklagten durch das Opfer oder gar auf dessen Vergebung, wie es ein Gelingen des TOA im formalen Sinne erfordert, nicht an und es wird traditionell-strafrechtlich allein auf den Angeklagten (als mutmaß­ licher Täter) abgestellt. In einigen Urteilen wird für Fälle dieser Art aber davon ausgegangen, dass sie für die Durchführung eines TOA nicht geeignet sind. Allerdings wird hier meist nicht näher ausgeführt, ob ein ernsthaftes Bemühen des Angeklagten um einen Ausgleich dennoch zur Strafmilderung nach § 46a Nr. 1 StGB ausreichen könnte und welche Anforderungen daran zu stellen wären.803 Was ein ernsthaftes Ausgleichsbemühen des Angeklagten im Sinne des § 46a Nr.  1  StGB ist, welche Anforderungen also an das Verhalten des Angeklagten zu stellen sind, wird in der Rechtsprechung uneinheitlich beurteilt: Das LG Köln stellte ausdrücklich klar,804 dass die Anwendung des § 46a  StGB bei jahrelangem sexuellen Missbrauch nur ausnahmsweise in Betracht komme und nicht unbedingt nahe liege, so dass der Versuch des Angeklagten, sich zu entschuldigen, und das Anbieten eines finanziellen Ausgleichs keinesfalls genüge. Demgegenüber milderte das LG Konstanz in einem Fall einer Vergewaltigung (sexuelle Nötigung in einem besonders schweren Fall gem. § 177 II Nr. 1 StGB) die Strafe gem. § 46a Nr.  1  StGB, obwohl der Angeklagte in der Hauptverhandlung die Tat zunächst vollständig bestritten hatte, erst im Laufe des Prozesses und nach der Befragung des Opfers ein Fehlverhalten einräumte, ein durch einen Sozialtherapeuten vermitteltes Gespräch anbot und seine Familie (nicht er selbst) im Gerichtssaal

800

Vgl. BGHSt 48, 134 (142, 143); BGH NJW 2002, 3264 (3265); BGH NStZ-RR 2003, 363 (363); BGH StV 2004, 72 (73); BGH NStZ 2006, 275 (276 Rn. 3); BGH Urt. v. 12. Januar 2012, Az. 4 StR 290/11, zit. nach juris Rn. 13; vgl. auch OLG Hamm Beschl. v. 26. Februar 2009, Az. 3 Ss 69/09, zit. nach juris Rn. 14. 801 Vgl. BGH NJW 2002, 3264 (3265); BGH NStZ 2002, 364 (365 Rn.  6, 7), vgl. auch BT-Drs. 12/6853, S. 21. 802 Vgl. BGHSt 48, 134 (140); BGH NJW 2002, 3264 (3265). 803 Vgl. BGH NStZ 1995, 492 (492); BGH NStZ 2006, 275 (276); BGH StV 2004, 72 (73); BGH NStZ 2008, 452 (453). 804 LG Köln Streit 2001, 36 (37).

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

3.500  € zum Ausgleich des immateriellen Schadens zahlte. Das Verhalten des Ange­klagten sei nachvollziehbar gewesen, da in der Hauptverhandlung seine Familienangehörigen, Freunde und seine Verlobte anwesend gewesen seien.805 Dieses Urteil wurde allerdings nicht rechtskräftig. Der BGH hob es auf, weil ein ernsthaftes Ausgleichsbemühen den Urteilsgründen nicht zu entnehmen sei, unter anderem spreche einiges dafür, dass die Familie des Angeklagten diesen habe „freikaufen“ wollen.806 Das Verhalten des Angeklagten im Verfahren müsse „Ausdruck der Übernahme von Verantwortung“ sein, er habe für das begangene Unrecht einzustehen, dazu gehöre auch, „dass er die Opferrolle respektiert“ und seine Schuld gegenüber dem Opfer vor der Verurteilung eingesteht. Sein Verhalten dürfe sich nicht als „routiniert vorgetragenes Lippenbekenntnis“ oder „Freikauf“ darstellen.807 Ein bestimmtes Prozessverhalten, etwa ein umfassendes Geständnis setze dies jedoch nicht zwingend voraus, auch der schweigende Täter könne in die Kommunikation einbezogen werden.808 Bei Gewaltdelikten und Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung setze die Strafmilderung aber regelmäßig ein Geständnis des Angeklagten voraus, da dem Opfer ein Bekennen zur Tat hier besonders wichtig sei.809 Selbst wenn das Opfer den Ausgleich akzeptiert habe und an einer Bestrafung des Angeklagten nicht mehr interessiert sei, komme es darauf an, ob dessen Ausgleichsbemühungen dem Ausgleich mit dem Opfer oder einer Vermeidung der Bestrafung dienen.810 Einer Anwendung des § 46a Nr. 1 StGB stehe nicht von vornherein entgegen, dass der Angeklagte einen finanziellen Ausgleich durch seinen Verteidiger oder erst zu einem Zeitpunkt veranlasst habe, zu dem ihn das Opfer bereits auf Zahlung in Anspruch genommen habe.811 cc) Kritische Analyse § 46a Nr. 1 StGB und seine Anwendung in der Rechtsprechung sind in grundlegender Hinsicht zu kritisieren: Zum einen wird im Gesetzestext der Begriff der Wiedergutmachung verwendet. Zum anderen vermengt er kategorial den TOA als unmittelbar-persönlichen authentischen Ausgleichsprozess zwischen Täter und Opfer mit dem Nachtatverhalten des Täters, so dass er weder als Strafmilderungsgrund konsequent ausgestaltet, noch als gesetzliche Regelung des TOA sinnvoll ist. 805

Vgl. LG Konstanz Urt. v. 15. Mai 2002, Az. 1 Kls 33 Js 6077/02, S. 6 f. (nicht veröffentlicht). BGHSt 48, 134 (145 ff.). 807 BGHSt 48, 134 (140, 141 f.); dem folgend BGH NStZ-RR 2008, 71 (71 f.); BGH NStZRR 2010, 176 (177); BGH Beschl. v. 25. August 2010, Az. 1 StR 393/10, zit. nach juris Rn. 10; BGH NStZ 2010, 82 (82); OLG Hamm NStZ-RR 2008, 71 (72); OLG Hamm NStZ-RR 2009, 272 (273). 808 Vgl. BGHSt 48, 134 (140 f., 142); BGH StV 2002, 649 (649). 809 Vgl. BGHSt 48, 134 (140 ff.); BGH NStZ 2010, 82 (82). 810 Vgl. BGH StV 2001, 457 (457). 811 Vgl. BGH NStZ 1995, 284 (284); BGH NStZ 2002, 364 (365 Rn. 6); BGH NStZ 2003, 29 (30 Rn. 2). 806

5. Verhältnis von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

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(1) Keine „Wiedergutmachung“ der Tat Bei der Lektüre des § 46a Nr. 1 StGB (und auch des § 46 II 6. Umstand StGB) fällt zunächst auf, dass er sich im Wortlaut darauf bezieht, dass die Tat „wiedergutgemacht“ oder deren „Wiedergutmachung“ ernsthaft erstrebt wird. Die Tat kann aber nicht im Wortsinne wieder gut gemacht werden, da sie unumkehrbar geschehen ist. Sie kann nur als menschliches Fehlverhalten gegenüber anderen Menschen im Miteinander so bewältigt werden, dass ein Zusammenleben in wechselseitiger Achtung trotz und mit812 der Tat möglich ist. Es ist daher angemessener von einer Bewältigung der Tat zu sprechen.813 Hier ist eine sorgfältigere Formulierung des Gesetzestextes mit dem Wort „Tatbewältigung“ wünschenswert. (2) § 46a Nr. 1 StGB als vertypter Strafmilderungsgrund wegen eines bestimmten Nachtatverhaltens § 46a Nr. 1 StGB ist auch in anderer Hinsicht sehr vage formuliert: In ihm ist mit den Worten „Ausgleich mit dem Verletzten“ nur sehr ungenau umschrieben, was ein TOA als Voraussetzung für eine Strafmilderung ist. Er schreibt nicht das Leitbild des praktisch erprobten formalisierten TOA als unmittelbar-persönlichen durch einen allparteilichen, geschulten Dritten vermittelten Prozess der Tatbewältigung fest. Zudem kommt es nach dem Gesetzeswortlaut nur auf das Bemühen des Täters um einen Ausgleich mit dem Verletzten oder sein ernsthaftes Bestreben um Wiedergutmachung und nicht auf das Gelingen der Bewältigung der Tat auf der unmittelbar-persönlichen Ebene im authentischen persönlichen Kontakt an. Für einen Strafmilderungsgrund typisch wird letztlich auf das Verhalten des Täters abgestellt. Auch bei der Erläuterung der Rechtsprechung zu § 46a Nr. 1 StGB fiel auf, dass diese sich teils nicht am Leitbild des TOA orientiert, indem sie vor allem auf das Täterverhalten abstellt. Der Gesetzgeber, das erlassene Gesetz und seine Anwendung scheinen hier merkwürdig zwischen der Regelung eines Strafmilderungsgrundes und einer „Verankerung“ des TOA im Erwachsenenstrafrecht zu schwanken. Im Folgenden soll erläutert werden, aus welchen auf das Nachtatverhalten bezogenen Gründen, die mit dem TOA zusammenhängen, die Strafe vernünftigerweise gemildert werden kann. Es wird sich zeigen, inwiefern der TOA ein ungeeigneter Bezugspunkt dafür ist und sich als „Fremdkörper“ im Recht der Strafzumessung erweist.

812

Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Wendezeiten, S. 57. Zur Kritik am Interexistential der Wiedergutmachung vgl. zu Beginn dieses Kapitels unter 1.  813

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IV. Kap.: Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

(a) Aufrichtige Reue der Täterin und gelungene unmittelbar-persönliche Tatbewältigung als strafmildernder Umstand Zunächst erscheint es als problematisch, dass sich ein Verhalten der Täterin nach der Tat auf die Strafe auswirken können soll, denn sie knüpft an die im Tatzeitpunkt unumkehrbar gegebene Tatschuld an.814 Entsprechend lehnen es die Rechtsprechung und die herrschende Lehre ab, ein Verhalten nach der Tat neben der Schuld als selbstständigen Aspekt bei der Strafzumessung zu berücksichtigen und gehen davon aus, dass ein Nachtatverhalten nur als Indiz begrenzte Rückschlüsse auf die Tatschuld zulässt.815 Doch die Berücksichtigung nachträglichen auf die Tat bezogenen Verhaltens widerspricht einem schuldbezogenen Strafbegriff, wie er hier vertreten wird, nicht. Denn das Strafen ist ein der Tat nachfolgendes Verhalten, bei dem auf die nachträgliche Änderung der Haltung des Täters und dessen Verhalten nach der Tat nicht nur reflektiert werden kann, sondern auch muss. Denn die Strafe orientiert sich zwar an der Schuld der Täterin, gleicht diese aber mit Blick auf die Wiederherstellung des Rechtsverhältnisses für die Zukunft aus. Ausgangspunkt für dieses Argument ist, dass eine Strafmilderung oder die täter­ begünstigende Berücksichtigung eines Umstandes bei der Strafzumessung dem Sinn des Strafens entsprechen muss. Sinn der Strafe ist, die Rechtsverletzung des Täters als Betätigung dessen rechts- und opfermissachtenden Willens durch eine Einbuße im Rechtsstatus, die symbolisch für die Wiederherstellung des Rechtsverhältnisses steht, gegenüber dem Tatopfer rechtlich auszugleichen und die Geltung des Rechts gegenüber dem Tatopfer und der Rechtsgemeinschaft zu bestätigen. Die Strafe wird dabei als ausgleichende und rechtsbestätigende Zwangsmaßnahme unabhängig vom Täterwillen verhängt und ihre Vollstreckung kann erzwungen werden.816 Für die rechtsbestätigende Wirkung ist dies unabdingbar, weil der Täter nicht zur Unrechtseinsicht gezwungen werden kann. Wenn der Täter die Tat aber aufrichtig bereut, also das Falsche seines Verhaltens aufrichtig einsieht und dabei die Geltung des Rechts anerkennt, wendet er sich dem Recht aus eigener Einsicht wieder zu, so dass ein Zweck des Strafens zumindest in gewissem Maße entfällt. Mit einer entsprechenden Strafmilderung und Berücksichtigung der aufrichtigen Reue des Täters bei der Strafzumessung wird also dem Umstand Rechnung getragen, dass sich die Haltung des Täters nach der Tat geändert hat. Das ist berechtigt, weil die Strafe sich zugleich auf den Ausgleich der Tat als unumkehrbar Geschehenes und auf die Wiederherstellung des Rechtsverhältnisses für die Zukunft des 814 Vgl. Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 259: „Nun kann sicher kein Zweifel sein, dass mit der Vollendung der Tat die beiden Größen Unrecht und Schuld für immer feststehen, sich also später nicht mehr ändern können.“ 815 Vgl. u. a. BGHSt 1, 105 (106); BGH NStZ 1998, 404 (404); Hans-Jürgen Bruns, Strafzumessung, S. 219 ff., 230 ff., auch mit Nachweisen zur älteren Rechtsprechung; Eckhard Horn, SK-StGB, § 46 Rn. 132; Franz Streng, Sanktionen, Rn. 572 m. w. N. 816 Vgl. zur Strafe umfassend in diesem Kapitel unter 3.

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Zusammenlebens in der Rechtsgemeinschaft bezieht und der Täter mit der Unrechtseinsicht das Recht anerkennt und so einen Schritt auf die Wiederherstellung des Rechtsverhältnisses hin macht. Die Schuld des Täters mindert sich durch die aufrichtige Reue so zwar nicht nachträglich für den Zeitpunkt der Tat, der Zweck des Strafens ist in einem gewissen Maße aber schon erfüllt.817 Für eine mildere Strafe im Falle aufrichtiger Reue spricht auch, dass dem Täter ein Vertrauensvorschuss für zukünftiges dem Recht entsprechendes Verhalten eingeräumt werden kann, also darauf vertraut werden kann, dass das Recht seinerseits in Zukunft gewahrt bleibt.818 Diese „Rückkehr des Täters ins Rechtsverhältnis“ kann insbesondere bei leichteren Delikten eine Reaktion der Rechtsgemeinschaft überflüssig machen. Allerdings ist Strafe dennoch grundsätzlich notwendig, denn zum einen lässt sich die Tat als solche nicht ungeschehen machen und die Strafe ist auch ein Ausgleich der Tat als betätigter missachtender Wille. Zum anderen bestimmt sich das Maß des Verbrechens und der Tatschuld nicht nur aus der Betroffenheit des einzelnen Verletzten, sondern hat als Rechtsverletzung auch Bedeutung für die Allgemeinheit und dient zugleich der Bestätigung der Geltung des Rechts als gemeinschaftlich ausgeformtes Anerkennungsverhältnis für alle.819 Aufrichtige Reue ist so, im Ergebnis der herrschenden Meinung entsprechend, ein mildernder Umstand zugunsten des Täters im Rahmen der Strafzumessung820 und kann auch Grund für eine vertypte Strafmilderung sein. Es stellt sich zudem die Frage, ob der Ausgleich des Tatschadens als solcher strafmildernd wirken kann, da dieser wie die aufrichtige Reue ein Teilaspekt des TOA ist. § 46 II 6. Umstand und § 46a Nr. 2 StGB legen dies nahe. Der Ausgleich der Tatfolgen (oder die Schadenswiedergutmachung) ist für sich genommen je 817 Insoweit lässt sich nicht von einer der Tatschuld nachgelagerten „Strafzumessungsschuld“ sprechen: Die Tatschuld ist mit der Tat unumkehrbar gegeben, sie kann im Nachhinein nur so bewältigt werden, dass die aufrichtige Reue bei der Strafzumessung mildernd berücksichtigt werden kann. Das schließt allerdings nicht aus, das Interexistential „Strafzumessungsschuld“ so zu verwenden, dass es einen bestimmten Aspekt der Tatschuld in den Vordergrund rückt, nämlich deren Maß im Zeitpunkt der Festsetzung der Strafe (so etwa Gerhard Schäfer u. a., Strafzumessung, Rn. 314), allerdings bleibt dies missverständlich. 818 Vgl. zum Gedanken des Vertrauensvorschusses in Bezug auf die Strafaussetzung zur Bewährung bei Ersttätern Ernst Amadeus Wolff ZStW 97 (1985), S. 786 (823). 819 Vgl. auch Michael Köhler, Strafe, S. 73. 820 Vgl. BGH StV 1991, 106 (107 f.); Hans-Jürgen Bruns, Strafzumessung, S.  233; Franz Streng, Sanktionen, Rn. 575; ders., NK-StGB, § 46 Rn. 78; Gerhard Schäfer u. a., Strafzumessung, Rn. 383; Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 604. Hier wird aber eben nicht auf die Indizwirkung für die Tatschuld, sondern auf die Anerkennung des Rechts durch den Täter nach der Tat abgestellt. Vgl. auch Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S. 252 ff., der als Grundlage der Strafmilderung im Falle einer Wiedergutmachung allerdings sieht, dass der Täter im Interesse des Opfers nicht zu hart bestraft werden darf, auch wenn dies das allgemeine Interesse erfordern würde, weil das Opfer durch die Wiedergutmachung Genugtuung erfahren hat und die weitergehende Bestrafung den Schadenersatzinteressen des Opfers zuwiderlaufen könnte. Dies verkennt, dass Strafe die Wiederherstellung des Anerkennungsgeflechts in seiner rechtlichen Ausformung ist, die eine Bestätigung des Opfers als Rechtsperson ebenso wie eine Bestätigung der Rechtsgeltung enthält. Beide Aspekte sind miteinander zu vermitteln.

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doch grundsätzlich kein Strafmilderungsgrund. Denn die unumkehrbar geschehene Tat kann nicht durch einen bloßen Ersatz der Tatfolgen ausgeglichen werden, da sie auch als Ausdruck des betätigten opfer- und rechtsmissachtenden Willens des Täters zu kompensieren ist. Der Schaden ist so grundsätzlich unabhängig von der Strafe zu ersetzen, Strafe und Leistungen zum Schadensausgleich (unabhängig davon, ob sie im Rahmen eines TOA erfolgen) sind eigenständige Formen der Tatbewältigung.821 Der Ausgleich der Tatfolgen (oder die Schadenswiedergut­ machung) kann bei der Strafzumessung aber insofern berücksichtigt werden, als er ein Indiz für die aufrichtige Reue der Täterin und ihren Willen, die Tat einem vernünftigen Selbstverständnis angemessen zu bewältigen, sein kann. Das wird nicht immer der Fall sein, so könnte sie den Schaden auch aus taktischen Gründen ersetzen, um sich „freizukaufen“.822 Im Extremfall verhält sie sich wie im Beispiel ­Hegels vom römischen Bürger, der umherging und Ohrfeigen verteilte, weil er Ohrfeigen verteilen wollte und sich die Strafsumme leisten konnte: Sein Wille zum Unrecht bleibt ungebrochen, das Zahlen der Strafe dokumentiert nicht seine Rückkehr zum Recht.823 Wenn der TOA aber als angemessene Bewältigung der Tat gelungen ist, wenn also aufrichtige Reue, Entschuldigung, der Ausgleich der Tatfolgen sowie Vergebung und Akzeptanz durch das Opfer zusammentreffen, ist das unmittelbar-persönliche Verhältnis so weit bereinigt, wie es im authentisch-persönlichen Kontakt bereinigt werden kann, so dass auch ein Teil der Tatschuld ausgeglichen824 und eine Strafmilderung gerechtfertigt ist. Die Tatschuld als unumkehrbare anmaßend-missachtende Willensbetätigung des Täters gegenüber dem Tatopfer, mit der er es in seiner Integrität substantiell verletzt, ist damit aber noch nicht zwingend bewältigt.825 Insoweit ist Strafe als ausgleichende zwangsweise Minderung des Täters in seinem Rechtsstatus auch im Hinblick auf das Opfer, wenn auch nicht in demselben Umfang, noch notwendig. Entsprechend wünschen Opfer auch nach einem gelungenen TOA häufig noch eine Sanktionierung der Tat.826

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Vgl. auch Hans Joachim Hirsch, ZStW 102 (1990), S. 534 (541). Überhaupt ist praktisch das eigentliche Problem, im Rahmen des Strafprozesses festzustellen, ob ein Täter im konkreten Fall aufrichtig bereut hat, ob also etwa ein TOA oder eine Wiedergutmachung des Schadens für dessen Reue als Einsicht in die eigene Schuld und für dessen aufrichtiges Bemühen um eine Bewältigung der Tat steht; vgl. Hans-Jürgen Bruns, Strafzumessung, S. 231 f., 233 f.; deutlich skeptisch sind Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 604, 669, 670 und Wolfgang Schild, TOA, S. 161; vgl. zur Einschätzung der Aufrichtigkeit in diesem Kapitel auch unter 4. d) ee) (1). 823 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rphil, § 99 Randbem. 824 Vgl. Bernd-Dieter Meier GA 1999, S 1 (12); im Ergebnis ähnlich, aber mit anderer Begründung aus einer teleologischen Auslegung des § 46a StGB heraus Manfred Maiwald, GA 2005, S. 339 (348); dem folgend Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (519); ähnlich ebenfalls Heinz Schöch, Gutachten C 59. DJT, C 63 f.; vgl. ansatzweise auch Wolfgang Stein, NStZ 2000, 393 (396). 825 Vgl. hierzu beim Strafbegriff in diesem Kapitel unter 3. c) bb) (1) und (3). 826 Vgl. hierzu Nadine Bals u. a., Täter-Opfer-Ausgleich, S. 437, 440 f., 461. 822

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(b) Kritik des § 46a Nr. 1 StGB als vertypter Strafmilderungsgrund § 46a Nr. 1 StGB macht das Bemühen der Täterin um einen Ausgleich mit dem Verletzten und die gänzliche oder überwiegende Wiedergutmachung der Tat oder das ernsthafte Erstreben der Wiedergutmachung zur Voraussetzung für eine Strafmilderung. Er knüpft damit als Strafmilderungsgrund zutreffend einseitig an das Verhalten der Täterin nach der Tat an. Dabei stellt er jedoch dem Wortlaut nach weder auf die Reue der Täterin noch auf deren Aufrichtigkeit noch auf die Freiwilligkeit der Ausgleichsleistungen ab. Entsprechend setzen auch die Gerichte, außer in Fällen sexueller und anderer schwerer Gewalt, ein einsichtiges Geständnis oder eine aufrichtige Einsicht in die eigene Schuld bei einer Strafmilderung nach § 46a Nr. 1 StGB nicht voraus827 und lassen es genügen, wenn der Täter erst auf die Aufforderung des Opfers oder einen Hinweis seines Verteidigers hin Schäden mate­ riell ausgleicht.828 Zwar kann der Ausgleich auch in solchen Fällen aus Einsicht in die eigene Schuld und freiwillig geleistet werden, aber darauf kommt es nach der Rechtsprechung eben nicht an. Hinzu kommt, dass sich § 46a StGB nur auf den TOA als Ausgleichsbemühen gegenüber dem Verletzten und die Schadenswiedergutmachung im Falle erheblicher persönlicher Leistungen oder persönlichen Verzichts bezieht. Beides kann Ausdruck von aufrichtiger Reue und einer Aufarbeitung der Tat sein. Auch ein gelungener TOA im eigentlichen Sinne umfasst die aufrichtige Reue des Täters. Die einsichtsgetragene Umkehr zum Recht kann sich aber auch auf andere Weise dokumentieren. So könnte der Täter sexueller Gewalt etwa in einer Psychotherapie oder in einem Täterprojekt sein eigenes Verhalten so aufarbeiten, dass zu erwarten ist, dass er zukünftig keine solche Delikte mehr begehen wird. Eine Strafmilderung aufgrund der aufrichtigen Umkehr des Täters zum Recht sollte also ausdrücklich in erster Linie auf die aufrichtige Reue und Unrechtseinsicht des Täters abstellen. Der Gesetzestext sollte entsprechend formuliert sein, und zwar unabhängig davon, ob die Berücksichtigung zugunsten des Täters aufgrund eines vertypten Strafmilderungsgrundes wie in § 46a  StGB oder nur als strafmildernder Umstand im Rahmen der Strafzumessung wie gem. § 46 II 6. Umstand StGB erfolgt. Dabei könnten der TOA im eigentlichen Sinne und die Schadenswiedergutmachung aufgrund erheblicher persönlicher Leistungen oder persönlichen Verzichts als Beispiele oder Indizien für die aufrichtige Reue des Täters benannt werden. Für das Gelingen der unmittelbar-persönlichen Bewältigung der 827 Vgl. BGH StV 2002, 649 (649); BGHSt 48, 134 (140 ff.); dem folgend BGH NStZRR 2008, 71 (71 f.); BGH NStZ-RR 2010, 176 (177); BGH Beschl. v. 25. August 2010, Az. 1 StR 393/10, zit. nach juris Rn. 10; BGH NStZ 2010, 82 (82); OLG Hamm NStZ-RR 2008, 71 (72); OLG Hamm NStZ-RR 2009, 272 (273). 828 Vgl. BGH NStZ 1995, 284 (284); BGH NStZ 2002, 364 (365 Rn. 6); BGH NStZ 2003, 29 (30 Rn. 2).

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Tat ist dabei eine weitergehende Strafmilderung denkbar als für den Fall, dass nur auf die aufrichtige Reue des Täters Bezug genommen werden kann. Auch in der Anwendung beider Normen ist, in systematisch-teleologischer Auslegung, auf die aufrichtige Reue des Täters oder das Gelingen der unmittelbar-persönlichen Bewältigung der Tat abzustellen. Dabei ist es Aufgabe der Richterin zu beurteilen, ob das Täterverhalten für dessen Reue steht bzw. ob die unmittelbarpersönliche Bewältigung der Tat wirklich gelungen ist. Das bedeutet auch, dass sie nicht an die Einschätzung des Opfers bezüglich des Gelingens des TOA gebunden ist. Denn zum einen kann sie die Aufrichtigkeit nur persönlich nach ihrem eigenen Eindruck einschätzen,829 zum anderen geht es um die Beurteilung des Strafmaßes als Aufgabe des Staates, die die Richterin bei der Strafzumessung wahrnimmt. Solange § 46a Nr. 1 StGB in dieser Form gilt, ließe sich diesen am vernünftigen Sinn des TOA und der Strafe entwickelten Überlegungen durch eine systematischteleologische Auslegung gerecht werden. (c) Vorschläge zur systematisch-teleologischen Auslegung des § 46a Nr. 1 StGB Dem Grundgedanken der Strafmilderung aufgrund aufrichtiger Reue oder einer gelungenen unmittelbar-persönlichen Tatbewältigung entsprechend ist § 46a Nr. 1 StGB bei seiner Anwendung teleologisch auszulegen. Dabei ist systematisch sein Verhältnis zu § 46 II 6. Umstand StGB zu beachten. Entsprechend dem vernünftigen Sinn der Strafe und des TOA kommt es für eine Strafmilderung in erster Linie auf die aufrichtige Reue der Täterin an, der TOA oder andere Formen des unmittelbar-persönlichen Tatbewältigung können nur strafmildernd wirken, wenn sie wirklich gelungen sind, was aufrichtige Reue, einschließlich des Zur-Tat-Stehens voraussetzt. Eine solche Auslegung würde den Wortlaut des § 46a Nr. 1 StGB konkretisieren und auch einer gesetzgeberischen Intention, den TOA als unmittelbare Konfliktbewältigung auch im Interesse des Verletzten zu stärken, entsprechen. Dafür ist dann aber auf die wirklich gelungene unmittelbar-persönliche Tatbewältigung abzustellen. Wie bereits aufgezeigt, sollte für die Strafmilderung in erster Linie auf die aufrichtige Reue der Täterin abgestellt werden. Es ist insofern zutreffend, wenn die Gerichte davon ausgehen, dass es für eine Strafmilderung letztlich auf das Opferverhalten nicht ankommt.830 Auf diese Weise lastet auf dem Opfer auch weniger Druck wegen eines Einflusses auf das Strafmaß. Für den Fall des Gelingens des TOA im eigentlichen Sinne oder anderer Formen des unmittelbar-persön­lichen 829

Vgl. hierzu in diesem Kapitel unter 4. d) ee) (1). Vgl. hierzu in diesem Kapitel unter 5. b) cc) (2) (a); vgl. auch Fritz Loos, Bemerkungen, S. 864; anderer Ansicht: Heinz Schöch, Täter-Opfer-Ausgleich, S. 322 f.; vgl. auch Frank Rose, JR 2004, S. 275 (280).

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Tatausgleichs, der eine weitergehende Strafmilderung rechtfertigt, kommt es allerdings auf die Mitwirkung des Opfers an. Denn die Strafmilderung begründet sich dann aus dem hierdurch bewirkten (teilweisen) Tatschuldausgleich durch die Tatbewältigung im unmittelbar-persönlichen Kontakt mit dem Opfer. Da die aufrichtige Reue als Nachtatverhalten in der ständigen Rechtsprechung zu § 46  II 6.  Umstand  StGB schon täterbegünstigend erfasst war und die unmittelbar-zwischenmenschlich gelungene Tatbewältigung eine weitergehende Strafmilderung rechtfertigt, sollte § 46a Nr. 1 StGB daher aus systematischen und teleologischen Gründen nur auf die Fälle wirklich gelungener unmittelbar-persönlicher Tatbewältigung angewendet werden. Der Wunsch des Opfers, sich nicht persönlich mit dem Täter zu konfrontieren, ist insoweit zu respektieren, es ist nicht verpflichtet, an den Voraussetzungen einer Strafmilderung des Täters mitzuwirken.831 Dies widerspricht auch nicht den berechtigten Interessen des Täters, denn dieser hat mit der Tat die Strafe auch gegenüber dem Opfer verwirkt. Damit dürfte sich der faktische Anwendungsbereich des § 46a Nr. 1 StGB erheblich verkleinern. Da es um die Strafzumessung geht, bleibt es bezüglich der Beurteilung des Gelingens der unmittelbar-persönlichen Tatbewältigung allerdings bei der Beurteilungskompetenz des Richters. Ein Einlenken des Opfers, das aus seiner Sicht nicht einer wirklichen Bewältigung des Tatgeschehens entspricht, darf er so nicht strafmildernd berücksichtigen.832 Gerade bei einer Vergewaltigung in einer Beziehung oder in Fällen jahrelangen sexuellen Missbrauchs innerhalb einer Familie dürften angesichts familiärer oder in der Beziehung gründender Abhängigkeitsstrukturen erhebliche Zweifel an der wirklichen Bewältigung der Tat bestehen, auch wenn Täter und Opfer wieder zusammenleben.833 Dabei dürfte eine unmittelbar-persönliche Tatbewältigung oft nur im Rahmen eines förmlichen TOA mithilfe der Vermittlung einer Dritten gelingen. Ein solcher entfaltet so eine Indizwirkung. Allerdings können Täter und Opfer auch andere Wege einer angemessenen Bewältigung der Tat im unmittelbar-persönlichen Kontakt finden. Insofern trifft zu, dass es auf den förmlichen TOA nicht zwingend ankommt. Daraus lässt sich aber nicht folgern, dass jedweder Schadensausgleich genügt.834 Täterin und Opfer werden durch die weitergehende Strafmilderung nicht zu einer unmittelbar-persönlichen Tatbewältigung gezwungen, sie können frei darüber entscheiden, ob sie sich auf einen Prozess unmittelbar-persönlicher Bewältigung der Tat einlassen. Weder § 46 II 6. Umstand StGB noch § 46a StGB kön 831

So im Ergebnis auch BGH NStZ 1995, 492 (492); BGH NStZ 2008, 452 (452 f.); BGH Urt. v. 12. Januar 2012, Az. 4 StR 290/11, zit. nach juris Rn. 13. 832 Dem entsprechen etwa die Entscheidungen BGH StV 1995, 635 (635); BGH NJW 2002, 3264 (3265); OLG Bamberg NStZ-RR 2007, 37 (38). 833 Zweifelhaft sind insofern die Entscheidungen BGH StV 2001, 457 (457); BGH NStZ 2003, 29 (30 f. Rn. 3). 834 So auch BGH NStZ 1995, 492 (493); BGH NStZ 1996, 390 (390); BGH NStZ 1995, 492 (493); OLG Hamm NStZ-RR 2009, 272 (273); vgl. auch BayOLG JR 1999, 40 (40); anders jedoch Eckhard Horn, SK-StGB, § 46a Rn. 3, 6; ders. JR 1999, 41 (41).

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nen also bei entsprechender Auslegung als moralisierendes Strafrecht verstanden werden, das Täter und Opfer zu einem bestimmten einsichtsgetragenen Verhalten zwingt.835 Gegenstand des Strafens bleibt trotz der Strafmilderung allein der (noch notwendige)  Ausgleich der Tatschuld nebst Bestätigung der Geltung der strafrechtlichen Norm. Die Haltung des Täters als aufrichtige Reue, die die Übernahme der Verantwortung für die Tat umfasst, und der unmittelbar-persönliche Tatausgleich müssen auch der Schwere der Tat entsprechen. Ein einfaches Entschuldigungsschreiben oder ein durch Rechtsanwälte vermittelter Schadensausgleich im Falle einer schweren Vergewaltigung oder sexuellen Missbrauchs dürfte so meist nicht Ausdruck einer aufrichtigen Übernahme von Verantwortung durch den Täter oder einer wirklichen unmittelbar-persönlichen Bewältigung der Tat sein. Letztere wird zudem nur in den seltensten Fällen gelingen. Dass ein unmittelbar-persönlicher Tatausgleich schwierig ist, ist also kein Argument dafür, von seinem Gelingen bei einer Strafmilderung gem. § 46a Nr. 1 StGB abzusehen, auch wenn sich der Täter aufrichtig um einen Tatausgleich bemüht hat.836 Vielmehr wird dann nur die täterbegünstigende Berücksichtigung der aufrichtigen Reue des Täters im Rahmen der Strafzumessung gem. § 46 II 6. Umstand StGB in Betracht kommen.837 Dass die unmittelbar-persönliche Tatbewältigung aus nachvollziehbaren Gründen nicht gelingt, geht so in legitimer Weise zulasten des Täters. Denn er hat mit der Strafe für seine unumkehrbar vollzogene Tat einzustehen. Auch die Argumentation, dass ein Geständnis im Strafprozess (mit Ausnahme von Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und schweren Gewaltdelikten) nicht zwingend erforderlich sei und es für die Anwendung des § 46a Nr. 1 StGB auf die Übernahme von Verantwortung für die Tat und das Akzeptieren der Opferrolle ankomme, trägt nicht. Denn es ist kaum vorstellbar, wie ein Angeklagter die Verantwortung für seine Tat übernimmt und die Opferrolle respektiert, ohne die Tat zu gestehen.838 Die Rechtsprechung, wonach bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und schweren Gewaltdelikten regelmäßig ein Geständnis für die „Wiedergutmachung“ der Tat i. S. d. § 46a Nr. 1 StGB erforderlich sei,839 sollte daher auf alle für einen unmittelbar-persönlichen Tatausgleich in Betracht kommenden Delikte ausgeweitet werden. Zudem kann gerade ein Geständnis Indiz für die aufrichtige Übernahme von Verantwortung als Einsicht in das Unrecht der Tat sein, so dass es strafmildernd wirken kann. Dabei ist genau zu prüfen, ob das Geständnis Ausdruck aufrichtiger Reue ist. Das wird etwa dann nicht der Fall sein, wenn es auf erdrückenden Beweisen beruht, erst auf einen Vorhalt hin oder nach 835

Vgl., wenn auch mit Einschränkungen, Lars Oliver Michaelis, JA 2005, 828 (832); anderer Ansicht: Eckhard Horn, JR 1999, 41 (41); Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (530 f.); deutlich skeptisch auch Michael Köhler, Strafrecht AT, S. 670; Wolfgang Schild, TOA, S. 161. 836 Anders aber BGHSt 48, 134 (140). 837 Im Ergebnis ebenso Amr Sarhan, Trennungsdogmatik, S. 256. 838 Vgl. Ulrich Franke, NStZ 2003, 410 (414). 839 Vgl. BGHSt 48, 134 (140 ff.); BGH NStZ 2010, 82 (82).

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einem Hinweis auf die Strafmilderungsmöglichkeit abgelegt wurde.840 Das widerspricht auch nicht der strafprozessualen Unschuldsvermutung.841 Denn der (im Strafprozess mutmaßliche) Täter wird nicht gezwungen, die Voraussetzungen für eine Strafmilderung zu schaffen, indem er sich im Strafprozess als Täter bekennt. Die Strafmilderung nimmt vielmehr darauf Bezug, dass der Täter freiwillig zu seiner Verantwortung steht.842 (d) Kritik des § 46a Nr. 1 StGB als Regelung des Täter-Opfer-Ausgleichs Auch soweit § 46a Nr. 1 StGB nach der gesetzgeberischen Intention den TOA im Gesetz verankern soll, ist die Norm missglückt. Denn die Regelung des TOA als Tatbewältigungsform stellt einen Fremdkörper im Recht der Strafzumessung dar, da er eine eigenständige Form der Bewältigung einer Straftat neben der Strafe ist.843 § 46a Nr. 1 StGB ist als Regelung des TOA als Tatbewältigungsform auch insofern missglückt, als er dessen Voraussetzungen nur äußerst vage definiert. Entsprechend weicht auch die Rechtsprechung von den Voraussetzungen des formalisierten TOA weitgehend ab. Dem formalisierten TOA im eigentlichen Sinne wird so als Institut eher geschadet als genützt. Er wird durch das Verknüpfen mit der Strafmilderung auch in seinem Gelingen gefährdet, zum einen weil gegenüber dem Opfer Druck aufgebaut wird, weil es den Täter hinsichtlich des Strafmaßes in der Hand zu haben scheint, zum anderen weil eine strategische Nutzung des TOA im Rahmen des Strafprozesses gefördert und die Aufrichtigkeit des Täters von vornherein in Frage gestellt wird. Auch das gesetzgeberische Motiv, den TOA durch die Anreizwirkung der Strafmilderung attraktiv zu machen,844 ist so verfehlt.

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Vgl. Hans-Jürgen Bruns, Strafzumessung, S. 233 f.; weitergehend aber Gerhard Schäfer u. a., Strafzumessung, Rn. 383 f. mit Nachweisen zur aktuellen Rechtsprechung zur Berücksichtigung des Geständnisses bei der Strafzumessung gemäß § 46  II 6.  Umstand StGB; vgl. auch Lars Oliver Michaelis, JA 2005, 828 (832). 841 Vgl. zu dahingehenden Bedenken Manfred Maiwald, GA 2005, S. 339 (342 f.); Bettina Noltenius, GA 2007, S. 518 (527). 842 Vgl. auch Lars Oliver Michaelis, JA 2005, S. 828 (832). Freilich bleibt das Risiko, dass ein Unschuldiger verurteilt wird und dann nicht in den Genuss der Strafmilderung kommt, obwohl er sich nachvollziehbar einem unmittelbar-persönlichen Ausgleich nicht gestellt hat. Das ist aber kein Argument gegen die Strafmilderung des Täters, der aufrichtig bereut und sich einsichtsgetragen um einen unmittelbar-persönlichen Tatausgleich bemüht. Dieses Problem stellt sich überhaupt für die Strafmilderung aufgrund eines Geständnisses. 843 Auf Gegenläufigkeiten weisen zumindest hin Wolfgang Stein, NStZ 2000, S. 393 (397); Bernd-Dieter Meier, GA 1999, S. 1 (17). 844 Vgl. BT-Drs. 12/6853, S. 21.

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(3) Eigenständige rechtliche Institutionalisierung des Täter-Opfer-Ausgleichs Dem berechtigten Anliegen, den TOA zu stärken und institutionell auch rechtlich als Form der unmittelbar-persönlichen einsichtsgetragenen Konfliktregelung nach einer Straftat zu verankern, lässt sich nur durch eine eigenständige Regelung des TOA, die seinem vernünftigen Sinn entspricht, gerecht werden.845 Dies wäre auch die dem je eigenständigen Sinn von TOA und Strafe angemessene, systematisch richtige Lösung. Im Rahmen der eingeständigen rechtlichen Institutionalisierung darf der TOA als Form der unmittelbar-persönlichen Bewältigung der Tat im authentisch-persönlichen Kontakt nicht als Sanktion vorgesehen werden, er muss rechtlich vielmehr so ausgestaltet sein, dass die Selbstständigkeit der Parteien als unmittelbar einsichtsgetragen agierende Personen gewahrt bleibt. Der TOA wäre dabei als Institut rechtlich so zu umhegen, dass ein Freiraum für eine einsichtsgtragene persönliche Bewältigung der Straftat durch die Parteien geschaffen wird.846 Zunächst wäre – orientiert am vernünftig verstandenen Leitbild des TOA – begrifflich festzulegen, was ein TOA ist. In Anlehnung an einen Entwurf eines Niedersächsischen Mediations- und Gütestellengesetzes847 könnte konkret festgeschrieben werden, dass der TOA ein Verfahren der Konfliktregelung nach einer Straftat mithilfe eines fachlich ausgebildeten allparteilichen Vermittlers ist, bei dem versucht wird, die Straftat einsichtsgetragen im persönlichen Kontakt zwischen Täter und Opfer zu bewältigen (vgl. § 1 S. 1). Es sollte zudem näher umrissen werden, dass die Konfliktregelung nach einer Straftat in Bezug auf diese erfolgreich ist, wenn der Täter die Verantwortung für sein Verhalten übernimmt und sich entschuldigt, das Opfer dessen Entschuldigung annehmen kann und sich beide über angemessene und tragfähige Ausgleichsleistungen des Täters einigen können. Für den Fall, dass der Straftat ein umfassenderer Konflikt zugrunde liegt, sollte vorgesehen werden, dass der TOA darauf zielt, diesen Konflikt umfassend zu lösen, wenn er für das TOA-Verfahren geeignet ist. Zudem sollte die Rolle der Vermittlerin, ihre Pflichten gegenüber den Parteien einschließlich einer Pflicht zur Verschwiegenheit, die persönlichen und fachlichen Anforderungen an ihre Qualifikation und Ausbildungsstandards geregelt sein.848 Es könnte zudem geregelt sein,

845 Auf den Missstand der fehlenden Regelungen weist ebenfalls Bernd-Dieter Meier GA 1999, S. 1 (17 f.) hin. 846 Vgl. hierzu in diesem Kapitel unter 4. d) gg) (2) und im II. Kapitel unter 2. d) cc); vgl. auch Thomas Trenczek ZRP 1992, 130 (132). 847 Vgl. Nds. LT Drs. 15/3708 Art. 1, es handelt sich um einen Gesetzesentwurf der Fraktionen der CDU und FDP im Niedersächsischen Landtag vom 17. April 2007, der nicht beschlossen worden ist und sich durch Ablauf der Wahlperiode erledigt hat. 848 Vgl. hierzu die §§ 2 ff. des Entwurfs eines Niedersächsischen Mediations- und Gütestellengesetzes, Nds. LT Drs. 15/3708 Art. 1 vom 17. April 2007; vgl. zu den Rahmenbedingungen des TOA Thomas Trenczek ZRP 1992, 130 (132); TOA-Servicebüro / BAG TOA, TOAStandards; vgl. nunmehr auch §§ 2 ff. des Gesetzes zur Förderung der Mediation und anderer

5. Verhältnis von Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich

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welche Fälle für einen TOA geeignet sind, welche Pflichten der Vermittler im Falle der Nichteignung hat, wer verantwortlich dafür ist, TOA-Stellen in welcher Zahl einzurichten und wie diese finanziert werden. c) Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass TOA und Strafe als eigenständige Formen der Tatbewältigung nebeneinander stehen. Sie können aber sinnvoll zuein­ ander in Beziehung gesetzt werden, insofern die aufrichtige Reue des Täters im TOA-Verfahren seine aufrichtige Umkehr zum Recht indiziert und diese ein täterbegünstigender Umstand bei der Strafzumessung oder Grund für eine Strafmilderung sein kann. Die gelungene unmittelbar-persönliche Bewältigung der Tat setzt ebenfalls die aufrichtige Reue der Täterin voraus, kann aber als ein gewisser Ausgleich der Tatschuld weitergehend strafmildernd berücksichtigt werden. § 46a Nr. 1 StGB, mit dem gleichzeitig versucht wird, eine Strafmilderung und den TOA zu regeln, ist sowohl als Strafmilderungsregel als auch als Regelung des TOA missglückt, da Strafe und TOA, vernünftig verstanden, eigenständigen Grundsätzen folgen. § 46a Nr. 1 StGB ist als Strafmilderungsgrund am Sinn der Strafe orientiert teleologisch und im Verhältnis zu § 46 II 6. Umstand StGB systematisch auszulegen. Die Strafmilderung sollte sich vor allem täterbezogen auf dessen Änderung der Haltung zu seiner Tat nach der Tat beziehen, die sich auch im TOA ergeben oder zeigen kann. Dieser Umstand ist bereits in § 46 II 6. Umstand StGB berücksichtigt. Die Strafmilderung gem. § 46a Nr. 1 StGB sollte den Fällen wirklich gelungener unmittelbar-persönlicher Tatbewältigung, für die ein erfolgreiches TOA-Verfahren im eigentlichen Sinne ein starkes Indiz ist, vorbehalten bleiben. Eine Regelung des TOA muss demgegenüber den Interessen von Täter und Opfer bei der einsichtsgetragenen persönlichen Bewältigung der Straftat entsprechen. Dem ließe sich durch eine eigenständige rechtliche Regelung des TOA als „rechtlich umhegtes“ Institut, das die Voraussetzungen für die einsichtsgetragene persön­ liche Bewältigung der Straftat zwischen Täter und Opfer absichert, entsprechen.

Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung der Bundesregierung vom 1. April 2011, in Kraft seit dem 26. Juli 2012, BGBl. I S. 1577; vgl. auch BT-Drs. 17/5335 und BR-Drs. 377/12.

V. Kapitel

Zusammenfassung 1. Ertrag der Untersuchung In dieser Untersuchung wurde das Verhältnis von Strafe und TOA auf der Basis einer moral- und rechtsphilosophischen Hinterfragung des Sinns beider Praxisformen bestimmt. Strafe ist demnach eine der Straftat angemessene Einbuße des Täters in seinem Rechtsstatus, die durch die Rechtsgemeinschaft verhängt und gegebenenfalls zwangsweise vollzogen wird. Mit ihr wird in einem einseitig feststellenden Akt die Geltung des Rechts gegenüber dem Täter und gegenüber der Rechtsgemeinschaft festgestellt und das Opfer als rechtlich zu achtende Person bestätigt. Sie steht symbolisch für die Wiederherstellung des durch die Tat verletzten Anerkennungsverhältnisses zwischen dem Täter einerseits und dem Opfer und der Rechtsgemeinschaft andererseits, kann dieses aber nur in ihrer das Opfer als gleich zu achtenden Rechtsperson und das Recht bestätigenden Wirkung wiederherstellen. Im unmittelbar-persönlichen Verhältnis zwischen Täter und Opfer betrifft die Strafe die Erledigung der Straftat auf der Ebene der Möglichkeit der wechselseitigen Ausübung von Gewalt. Der TOA betrifft die Bewältigung der Straftat im unmittelbar-persönlichen Verhältnis zwischen Täterin und Opfer durch einsichtsgetragenes Verhalten. Er hat genauer die Bewältigung der Tat in einem durch einen allparteilichen und fachlich geschulten Dritten vermittelten Prozess der persönlichen einsichtsgetragen-authentischen Kommunikation als Versöhnung zum Gegenstand. Dieser Prozess kann als wesentlich einsichtsgetragener Prozess nicht erzwungen werden, allerdings können seine Voraussetzungen rechtlich abgesichert werden, er kann also rechtlich umhegt werden. Strafe und TOA beziehen sich so zwar auf denselben Lebenssachverhalt, die Straftat, allerdings auf verschiedenen Ebenen und auf verschiedene Weise: Die Strafe hat die einseitig festgestellte und mit rechtlichem Zwang durchsetzbare Wiederherstellung des rechtlichen Anerkennungsverhältnisses im Verhältnis des Täters gegenüber dem Opfer und der Rechtsgemeinschaft zum Gegenstand; der TOA bezieht sich auf die nicht erzwingbare Wiederherstellung des unmittelbarpersönlichen Verhältnisses wechselseitiger Achtung zwischen Täter und Opfer im einsichtsgetragen-authentischen Kontakt. Beide Formen der Bewältigung der Straftat stehen so eigenständig nebeneinander und können grundsätzlich nicht durch die andere ersetzt werden. Allerdings können sie sich faktisch aufeinander auswirken und auch sinnvoll zueinander in Beziehung gesetzt werden: Beispielsweise ist das ernsthafte und aufrichtige Bemühen des Täters, die Tat mit dem Opfer

1. Ertrag der Untersuchung

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im TOA umfassend zu bewältigen, ein starkes Indiz dafür, dass er die Tat aufrichtig bereut, was bei der Strafzumessung als täterbegünstigender Umstand zu berücksichtigen ist. Das Gelingen der unmittelbar-persönlichen Bewältigung der Tat im TOA kann als gewisser Ausgleich der Tatschuld weitergehend strafmildernd berücksichtigt werden. Die Strafe und der TOA als Versöhnungsprozess wurden dabei als für unsere gemeinsame Praxis  – angesichts der unabdingbaren Fehlbarkeit menschlichen Verhaltens – fundamentalen Formen der Bewältigung von Straftaten verstanden, mit denen wir in unserer Praxis dem Paradox der Selbstständigkeit gerecht werden. Denn Straftaten sind als schwere missachtende Verletzungen eines Menschen durch einen Menschen menschliche Gestaltungen unserer Welt und damit Ausdruck menschlich fehlbaren Verhaltens in Selbstständigkeit. Sie sind so unumkehrbare Gestaltungen der Lebenswelt einschließlich des Lebens anderer durch die Täterin als selbstständige Person. Diese hat sie einerseits zu verantworten, darf aber andererseits gerade als Selbstständige, die jederzeit auf der Basis neuer Einsichten auch neu beginnen kann und der Anforderung des Neubeginnens immer ausgesetzt ist, nicht für die gesamte Zukunft auf die Tat festgelegt werden. Strafe und TOA sind so Formen der Vermittlung des Neubeginns trotz und mit849 einer Straftat. Die differenzierte und fundierte Bestimmung des Verhältnisses von Strafe und TOA beruht auf einer philosophisch fundierten kritischen Hinterfragung ihres Sinns als Formen unserer gemeinsamen Praxis der Bewältigung von Straftaten, die ihrerseits auf einer philosophisch-kritischen Beschreibung der Straftat und von Aspekten des Rechts beruht. Damit wurde, soweit ich das überblicke, erstmals ein philosophisch fundiertes Verständnis des TOA als Versöhnungsprozess entfaltet. Die Erläuterungen des TOA als Versöhnungsprozess stellen zugleich einen Beitrag zur Ausformung einer philosophischen Erläuterung des Interexistentials der Versöhnung dar, wie sie Klaus-Michael Kodalle zur Verzeihung neben eigenen Überlegungen auf der Basis der Überlegungen anderer Denker umreißt.850 Vom philosophischen Ansatz her basiert diese Untersuchung wesentlich auf den Analysen Thomas Rentschs zur Konstitution, also Verfasstheit, unserer Moralität.851 Dies ist ein strikt lebensweltlich-holistischer Ansatz, der methodisch klar die vernünftigkritische Analyse von Praxisformen in unserer Welt ermöglicht. Er wird hier anhand der Analyse von Aspekten des Rechts, der Straftat, der Strafe und des TOA für die Rechtsphilosophie fruchtbar gemacht. Die lebensweltlich-holistische Perspektive wurde in der Abgrenzung zu vernunftrechtlichen strafrechtsphilosophischen Perspektiven, wie sie Ernst Amadeus

849 Diese Formulierung geht zurück auf Klaus-Michael Kodalle, Wendezeiten, S. 57: „Versöhnung macht es möglich, mit der Schuld trotz der Schuld zu leben.“ 850 Vgl. neben vielen Aufsätzen nur Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen an eine Theorie des Verzeihens, 2006. 851 Genauer auf: Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralität, 1999.

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V. Kap.: Zusammenfassung

Wolff852 und Michael Köhler853 entwickelt haben, gewählt: Die vernunftrechtlichen strafrechtsphilosophischen Ansätze verstehen das Recht als Mittel der Gewährleistung selbstständiger Entfaltung durch die Abgrenzung der Bereiche äußerer Freiheit, die durch rechtlich legitimen Zwangs durchsetzbar ist. Die Strafe ist so ohne Weiteres als rechtliche und zwangsweise durchsetzbare Reaktion auf Straftaten als Rechtsinstitut erfassbar. Der TOA ist auf dieser Basis allerdings nur insoweit verstehbar, als er keine durch rechtlichen Zwang durchsetzbare Sanktion auf Straf­ taten sein kann, da er auf nicht erzwingbarem Verhalten von Täter und Opfer beruht. Die Abgrenzung zur Strafe erfolgt also nur negativ und beruht nicht auf einer positiven Erläuterung des TOA aus sich heraus. Zudem scheinen die vernunftrechtlichen Perspektiven aufgrund ihres Letztbegründungsanspruchs die Strafe als ideale überzeitlich gültige Gestalt begründen wollen, was sie als wenn auch grundlegende, so doch historisch und kulturell geprägte und in dieser Welt praktizierte Gestalt nicht ist. Schließlich ist ihr Ausgangspunkt ein für sich stehendes Subjekt oder „das Ich“. Der holistisch-lebensweltliche Ansatz Rentschs ermöglichte es demgegenüber, die Formen unserer Praxis klar als faktisch praktizierte, vorgängige und zugleich normativ geprägte zu verstehen, die wir nur innerhalb unserer Welt und unserer Praxis handlungsorientierend kritisch hinterfragen können. Sie konnten so in ihrem vernünftigen Gehalt und in ihrer historisch-kulturellen Entwickeltheit oder Situiertheit erfasst werden. Aufgrund der holistischen Perspektive kamen die Strafe, der TOA, die Straftat und das Recht als ganze komplexe praktische Gestalten in den Blick, die umfassender und differenzierter verstanden werden konnten. So konnte ein kritisches Verständnis des TOA erläutert werden und das Verhältnis von TOA und Strafe nicht nur negativ-abgrenzend, sondern positiv und differenziert bestimmt werden. Der TOA konnte zudem als Praxisform verstanden werden, die zwar nicht unmittelbar rechtlich regelbar ist, da sie nicht, auch nicht rechtlich, erzwingbar ist, die aber mit den Worten Winfried Hassemers und Jan Philipp Reemstmas „rechtlich umhegt“854 werden kann, indem ihre (erzwingbaren) Bedingungen rechtlich abgesichert werden. Der Rechtsbegriff wird insofern gegenüber den vernunftrechtlichen Perspektiven hinsichtlich der Absicherung authentisch-persönlicher Entfaltung als Selbstständige in wechselseitiger Abhängigkeit vertiefter verstanden. In der holistischen Perspektive konnte auch das Interexistential der Straftat differenzierter im Hinblick auf die für Strafe und TOA wesentlichen Dimensionen beschrieben werden. Hilfreich war hierfür das Modell des Anerkennungsgeflechts, wie es Kurt Seelmann skizziert hat855. Die Beschreibungen einer schweren missachtenden Verletzung als „stumme Gewalt“ durch 852 Vgl. Ernst Amadeus Wolff, Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität, in ZStW 97 (1985), S. 786 ff.; ders., Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: Winfried Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, 1987, S. 137 ff. 853 Vgl. nur Michael Köhler, Der Begriff der Strafe, 1986; ders., Strafrecht, allgemeiner Teil, 1997. 854 Vgl. Winfried Hassemer / Jan Philipp Reemstma, Verbrechensopfer, S. 168 ff., insb. S. 170. 855 Vgl. Kurt Seelmann, Paradoxien der Opferorientierung im Strafrecht, in: JZ 1989, S. 670 ff.

2. Zusammenfassende Thesen

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Carolin Emcke856 hat mein Verstehen der Straftat als auch kommunikativen bedeutungsgetragenen Akt der persönlichen Missachtung des Täters gegenüber dem Opfer vertieft. Die Erläuterung der Strafe als Praxisform konnte wesentlich auf Überlegungen Wolffs und Köhlers gestützt werden, soweit dies methodisch und inhaltlich konsequent und möglich war, da beide auf der Achtung der Selbstständigkeit des Täters auch im Strafen beharren und so einen der unabdingbaren Grundzüge unserer Welt nach dem Ansatz Rentschs betonen. Rentsch löst ihnen gegenüber die Gleichursprünglichkeit von Existentialität und Interexistentialität in der Verfasstheit der Mora­lität, also gewissermaßen in der Basis der praktischen Philosophie, ein. Wir sind in unserem Selbstverständnis als Menschen so angemessen als in unserer Selbstständigkeit wechselseitige voneinander Abhängige, die für ihre Selbstständigkeit grund­legend auf wechselseitige gewaltfreie Kommunikation angewiesen sind, verstanden. Wir können deshalb in unserer Selbstständigkeit im Ausgangspunkt nicht als ein Subjekt oder „das Ich“, das isoliert für sich neben anderen steht, gefasst werden. Im Rückgang darauf ließ sich die besondere Bedeutung des TOA als authentische gewaltfreie Kommunikation zwischen Täter und Opfer für Täter und Opfer als Selbstständige bei der Bewältigung der Straftat verdeutlichen. 2. Zusammenfassende Thesen Abschließend soll die Untersuchung in ihren wesentlichen Thesen im Überblick zusammengefasst werden: I. 1. Ausgangspunkt meiner Untersuchung war die Frage, wie sich Strafe und TOA verstehen lassen und wie sich beide Formen der Bewältigung von Straftaten zueinander verhalten. Damit ist nach dem vernünftigen Sinn von Strafe und TOA gefragt, anhand dessen auch erst das Verhältnis beider Formen zueinander fundiert und differenziert geklärt werden kann. Die Fragestellung war daher philosophisch zu untersuchen. Basis der moral- und rechtsphilosophischen Analyse von Strafe und TOA sind die praktisch-philosophischen Überlegung Rentschs zur Konstitution der Moralität, also zur Verfasstheit unserer Praxis. 2. In diesem Rahmen sind Strafe und TOA als Formen unserer gemeinsamen Praxis in unserer Welt zu verstehen. Es war also zu erläutern, wie wir unsere Lebenswelt – also uns selbst, unsere Praxisformen und den uns umgebenden Kontext oder Welthorizont – verstehen und vernünftig beurteilen können. Im Philosophieren verstehen wir uns in unserer Welt, so wie wir uns in ihr vorfinden, einschließlich der Kriterien, anhand derer wir sie in all ihren Formen ver 856

Vgl. Carolin Emcke, Stumme Gewalt, 2008.

246

V. Kap.: Zusammenfassung

nünftig beurteilen können. Diese Kriterien sind die Sinn- und Möglichkeitsbedingungen unserer Welt, die für diese als unabdingbare Grundzüge konstitutiv sind und unsere Welt so in allen Situationen kennzeichnen. Die Philosophie als das Verstehen unserer selbst in der Lebenswelt ist daher mit Rentsch phäno­menologisch (beschreibend), hermeneutisch (aus unserer, der Teilnehmerinnenperspektive verstehend), transzendental (die für uns in unserer Welt konstitutiven Grundzüge derselben betreffend)  und pragmatisch oder praktisch (handlungsorientierend). 3. Wir erfahren uns in konkreten Lebenssituationen, in denen wir uns verstehen. Basis der Analyse können daher nur unsere grundlegenden existentiellen Lebenserfahrungen sein, mit denen wir uns in konkreten Situationen (im Hier und Jetzt) als Einheit über die Zeit hinweg vorfinden und verstehen. Das, was unsere Lebenswelt konstitutiv ausmacht, die Grundzüge unserer Welt, können wir daher nur anhand konkreter Beispielssituationen im Wege der paradigmatischen Praxisanalyse aufweisen. Damit grenzt sich der hier verfolgte Ansatz von der Methode der Letztbegründung ab. Denn die Grundzüge unserer Welt sind zwar konstitutiv für diese, sie sind aber weder einer letztgültigen, absoluten, überzeitlich geltenden Begründung zugänglich, noch können aus ihnen als abstrakter idealer „Grund“ unserer Welt konkrete Formen unserer Praxis abgeleitet werden (im Anschluss an Rentsch). 4. Auch die Analyse konkreter Formen unserer Praxis, wie Strafe und TOA, ist so in unserer Welt, in unserer Praxis verankert. Sie findet immer in einem vorgängigen Kontext von auch wissenschaftlich ausgearbeiteten Sinndeutungen, also vor einem konkreten praktischen Hintergrund in einer konkreten praktisch vorgeprägten Situation statt. Ihre wissenschaftliche Analyse hat sich daher immer der vorgängigen auch wissenschaftlichen Sinndeutungen, die das Verständnis der Analysierenden prägen, zu vergewissern und diese anhand der Grundzüge unserer Welt kritisch zu hinterfragen (Methode der Interexisten­ tialanalyse als Analyse von Praxisformen).

II. 5. Zunächst war, basierend auf den Überlegungen Rentschs zur Konstitution der Moralität, zu erläutern, wie wir die Formen unserer Praxis vernünftig beurteilen können. Das ist nicht anhand eines rein formalen und abstrakt von einer vorgängigen Praxis gelösten Maßstabes möglich. Denn unser praktisches Urteilen findet immer in konkreten Situationen innerhalb einer vorgängigen Praxis anhand konkreter Formen der Praxis statt. Dabei beurteilen wir die praktischen Formen anhand der Grundzüge unserer Welt als Rationalitätskriterien. Moralisches Handeln bemisst sich daran, ob wir uns den Rationalitätskriterien entsprechend vernünftig oder unvernünftig verhalten, ob wir etwa eine andere Person als selbstständige, gleich zu achtende Existenz behandeln (etwa wenn

2. Zusammenfassende Thesen

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wir als Ärztin ihr Auge heilen) oder ob wir sie nur wie ein Ding benutzen (etwa wenn der Eingriff am gesunden Auge Teil eines Experiments am Menschen ist). 6. Die Grundzüge unserer Welt, die jede menschliche Situation kennzeichnen und die als Rationalitätskriterien für die Beurteilung der Formen unserer Praxis fungieren, sind mit Rentsch: (1) Situationalität: Wir sind immer in einer konkreten Situation, wenn wir aus einer heraustreten, sind wir schon in der nächsten. Die Situationen sind zudem ein uns umgebender Kontext oder Horizont (im umfassenden Sinne: die Welt). (2) Selbstverhältnis (Existenz I): Wir verhalten uns zu uns selbst. Wir zeigen uns uns selbst in den alltäglichen Lebensvollzügen, unser Verhalten gestaltet unser Leben. (3) Wirklichkeit: Das Verständnis unserer Lebenswelt ist davon geprägt, dass etwas faktisch ist, wirklich ist. Wir sind, die Welt ist. (4) Sprachlichkeit: Die Wirklichkeit ist uns nur in sprachlich getragenen Bedeutungen oder sprachlich getragenem Sinn, die bzw. den wir verstehen, zugänglich. Das Verstehen ist sprachlich getragen. (5) Gemeinsamkeit (Interexistentialität I): Wir sind nur in einer gemeinsamen Welt, die Welt wird für uns nur als gemeinsame wirklich. Denn wir sind für das Verstehen und das Beurteilen des Verstandenen auf die anderen angewiesen. Auch unsere je eigene Praxis ist nur innerhalb einer gemeinsamen praktisch-interexistentiell schon erschlossenen Situation möglich (Privatpraxisargument nach Rentsch). Die Formen unserer Welt, auch die Formen unserer Praxis im engeren Sinne, sind so gemeinsame sprachlich getragene Gestalten mit einem je konkreten Sinn, also kommunikative Interexistentiale. (6) Einsamkeit (Existenz II): Obwohl auch wir selbst uns nur in der Gemeinsamkeit zugänglich sind, sind wir voneinander abgegrenzt und einander entzogen. (7) Leiblichkeit und naturale Getragenheit: Wir sind leibliche Wesen, die als Einheit natural getragen sind, empfinden und denken. Unsere Welt tritt uns über uns und unsere Praxis hinaus als vorgängige Natur entgegen. (8) Zeitlichkeit und Räumlichkeit: Wir sind immer zu einer bestimmten Zeit und dabei auch als Einheit über die Zeit hinweg. Der gegenwärtige Augen­ blick erklärt sich gänzlich nur als aus der Vergangenheit erwachsend und in die Zukunft ausgerichtet. Wir sind zudem immer an einem bestimmten Ort, der von anderen Orten unterschieden und zu diesen in Beziehung gesetzt ist.

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V. Kap.: Zusammenfassung

(9) Möglichkeit und Endlichkeit: Uns und der Entwicklung der Welt stehen verschiedene Möglichkeiten offen. Diese Möglichkeiten sind zugleich begrenzt (endlich). (10) Selbstständigkeit (Existenz III): (a) Wir existieren als selbstständige Wesen, das heißt wir entwerfen uns verstehend innerhalb einer vorgängigen gemeinsamen Praxis selbst und sind darauf ausgerichtet, unsere Selbstentwürfe im Rahmen des Möglichen auch zu erfüllen. Die Selbstständigkeit zeigt sich in unserer Möglichkeit, vorgängige Praxisformen zu beurteilen, zu modifizieren oder in der Auseinandersetzung mit ihnen neue Praxisformen zu entwickeln und insofern innerhalb unserer Praxis immer wieder neu beginnen zu können. In Praxisformen als Entwürfen unserer selbst gestalten wir uns selbst, also unser Leben, und unsere Welt. So stellt sich zum Beispiel eine Straftat als Gestaltung der gemein­samen Welt und des Lebens des Opfers durch die Täterin, die zugleich ihr eigenes Leben formt, dar. (b) Unsere praktischen Sinnentwürfe sind von vornherein normativ geprägt, also anhand der Grundzüge unserer gemeinsamen Welt als richtig oder falsch (gut oder böse) zu beurteilen. Die Fehlbarkeit ist dabei unausweichliche Möglichkeit und Realität menschlichen Entscheidens. (c) Unsere unabdingbare Fehlbarkeit stellt uns vor das Paradox der Selbstständigkeit: Einerseits verantworten wir als Selbstständige unsere Fehler, mit denen wir unumkehrbar unser Leben und die Welt gestalten. Andererseits bedeutet Selbstständigkeit, dass wir nach dem Fehler zu neuen Einsichten kommen und unser Leben anders gestalten können und immer wieder neu gestalten müssen. Wir können also nicht für immer auf diesen Fehler festgelegt werden. Praxisformen wie Strafe, Reue, Entschuldigung, Verzeihung und Versöhnung ermöglichen einen Neubeginn trotz und mit dem fehlerhaften Verhalten, zum Beispiel einer Straftat (angelehnt an Paul Ricœur, Hannah Arendt, Kodalle). In ihnen wird die unumkehrbare Realität des Fehlers mit der Möglichkeit, neu zu beginnen, vermittelt. Auf diese Weise werden wir in unserer Praxis dem Paradox der Selbstständigkeit gerecht. Auf die Bewältigung fehlerhaften Verhaltens gerichtete Praxisformen sind angesichts der Unabdingbarkeit der Fehlbarkeit fundamental für unserer Praxis (Kodalle). (11) Interexistenz und Existenz: Wir sind in unserer Existenz als Selbstständige grundlegend von den anderen abhängig, denn wir können nur durch die gewaltfreie Kommunikation mit den Anderen in die Selbstständigkeit hineinwachsen und bleiben auch als Erwachsene für bestimmte Lebensgestaltungen auf die anderen angewiesen. Zum Beispiel lässt sich eine

2. Zusammenfassende Thesen

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Straftat im Verhältnis zwischen Täter und Opfer auf der unmittel­barpersönlichen Ebene nur im einsichtsgetragen-authentischen Kontakt durch Versöhnung als eine Gestalt gewaltfreier Kommunikation bewältigen. (12) singuläre Totalität: Wir können uns selbst und unsere Welt in all ihren Formen nur als einzigartige Ganzheiten verstehen. So ist auch eine Straftat eine einzigartige Situation, die einen bestimmten Täter und ein bestimmtes Opfer zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort betrifft. Wir selbst und die konkreten Formen unserer Welt sind dabei komplexe Ganzheiten, innerhalb derer wir verschiedene Aspekte zu einem bestimmten Zweck unterscheiden können (holistischer Ansatz). So ist auch eine Straftat nicht nur ein Lebenssachverhalt, der sich im Hinblick auf die Strafe als missachtende Verletzung des Opfers als Rechtsperson und des Rechts als Ausformung des Anerkennungsngeflechts verstehen lässt. Sie lässt sich auch im Hinblick auf den als Versöhnungsprozess verstandenen TOA als unmittelbar-persönlicher Konflikt beschreiben, der wesentlich dadurch gekennzeichnet ist, dass der Täter das Opfer als selbstständige und gleichgeordnete Person unmittelbar-persönlich missachtet. (13) Fragilität: Wir sind als menschliche Existenz verletzlich. Das Leben endet mit dem Tod, und wir sind in den einzelnen Aspekten unserer Existenz verletzbar. Die Bedrohung unseres Lebens oder seiner Aspekte kann von uns selbst, von anderen und von der Natur herrühren. Eine Straftat lässt sich als existentiell missachtende Verletzung des Opfers durch den Täter verstehen. (14) Asymmetrie: (a) Die zwischenmenschlichen Verhältnisse sind trotz der Gleichheit und Gleichordnung in der Selbstständigkeit immer auch durch Asymmetrien gekennzeichnet, da wir unser je eigenes Leben mit je verschiedenen Voraussetzungen und unter verschiedenen Bedingungen gestalten. (b) In der endlichen Welt bestehen auf diese Weise Machtgefälle, es besteht die Gefahr der wechselseitigen Über- oder Unterordnung als Gewalt. Das Recht ist eine gemeinsame Praxisform, die sich auf die Asymmetrie der Lebensverhältnisse und die daraus resultierenden Konflikte bezieht. Als vernünftiges oder gerechtes Recht regelt es die zwischenmenschlichen Verhältnisse so, dass jeder die selbstständige Entfaltung im Miteinander ermöglicht wird. Das schließt die Absicherung der selbstständigen Willensbildung und -betätigung und, angesichts der fundamentalen interexistentiellen Abhängigkeit, die Regelung wesentlicher Unterstützungspflichten ein. Als gerechtes oder vernünftiges Recht ist es eine praktische Form wechselseitiger Anerkennung, also eine Ausformung des die Menschen in einer Rechtsgemeinschaft verbindenden „Anerkennungsgeflechts“ (Seelmann).

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V. Kap.: Zusammenfassung

7. Diese Grundzüge kennzeichnen mit Rentsch jede Situation gleichursprünglich. Das heißt, sie sind zugleich Aspekte der Welt und ihrer Formen als Ganzheiten, die nicht auseinander ableitbar sind, voneinander unterscheidbar sind und wechselseitig aufeinander verweisen. So ist in der Lebenswelt etwa die Interexistenz nicht ohne die Existenz und die Existenz nicht ohne die Interexistenz denk- und erfahrbar. Jede Situation ist daher von einer minimalen Komplexität gekennzeichnet, die im Urteilen nicht verfehlt werden darf. 8. Zwar können wir in Bezug auf konkrete Praxisformen sinnvoll von Pflichten sprechen, allerdings ist moralisch nicht ein Verhalten aus Pflicht, sondern einsichtsgetragenes Verhalten, das den Grundzügen unserer Welt als Ratio­ nalitätskriterien entspricht und so vernünftig ist. Einsichtsgetragenes Verhalten kann aufgrund unserer Selbstständigkeit nicht erzwungen werden, es ist somit auch rechtlich nicht erzwingbar. Praxisformen, die in ihrem vernünftigen Sinn nicht auf die Einsicht des Verpflichteten angewiesen sind, können so rechtlich erzwingbar sein, während Praxisformen, die wesentlich auf einsichtsgetragenem Verhalten beruhen, zwar rechtlich nicht erzwungen, aber rechtlich abgesichert werden können. Die Strafe setzt als einseitig-fest­ gestellte Minderung des Täters im Rechtsstatus eine Einsicht des Täters in ihre Richtigkeit in der konkreten Situation nicht voraus und ist so mit recht­ lichem Zwang durchsetzbar. Der TOA beruht als Form der Versöhnung wesentlich auf einsichtsgetragenem Verhalten von Täter und Opfer und kann so weder rechtlich noch auf andere Weise erzwungen werden, also auch nicht als (rechtliche) Sanktion verstanden werden. Er kann aber rechtlich abgesichert (nach Hassemer/Reemtsma „umhegt“) werden. 9. Wir existieren faktisch als ihr Verhalten normativ beurteilende und sich daran orientierende Wesen, wir müssen praktisch urteilen. Wir schöpfen unsere Praxisformen zudem nie völlig neu, sondern orientieren uns innerhalb einer vorgängigen Praxis, die wir nicht verlassen können, in Bezug auf faktisch vorgefundene Praxisformen. Normativität und Faktizität sind so in mehrfacher Hinsicht auf grundlegende Weise miteinander verwoben. Das bedeutet nicht, dass von einem Sein auf ein Sollen geschlossen werden könnte, dass also das Faktische als vorgängige Praxisformen moralisch verbindlich ist. Denn die Formen unserer Praxis sind immer auch Ausdruck unseres praktischen Urteilens, und wir verhalten uns als Selbstständige immer praktisch urteilend zu den vorgängigen Praxisformen. (Kritik des naturalistischen Fehlschlusses nach Rentsch)

III. 10. Strafe und TOA sind Formen der Bewältigung von Straftaten, sie wären daher nicht verständlich, ohne dass das Interexistential der Straftat erörtert würde. Dabei habe ich mich im Hinblick auf die Erläuterung des TOA auf Straftaten, bei denen ein Täter ein Opfer unmittelbar als Person verletzt, beschränkt.

2. Zusammenfassende Thesen

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11. Eine Straftat ist eine einzigartige komplexe Ganzheit, mit der ein Mensch (der Täter) einen anderen Menschen (das Opfer) in existentieller Weise missachtet und so als in der Selbstständigkeit gleichgeordnete Person trotz eines recht­ lichen und rechtlich strafbewehrten Verbots grundlegend verletzt. Sein Verhalten ist auf diese Weise bedeutungsgetragen, er gestaltet faktisch das Leben des Opfers, sein Verhältnis zu ihm, die gemeinsame Welt in bestimmten Aspekten und sein eigenes Leben unumkehrbar und mit Wirkung für die Zukunft. In der Missachtung maßt er sich gegenüber dem Opfer eine Überordnung und gegenüber dem Recht als Ausformung des Anerkennungsgeflechts die Überordnung seiner Auffassung von der Nichtgeltung des Rechts in Situationen von der Art der Tatsituation als richtige an. 12. Es lassen sich verschiedene Ebenen oder Dimensionen der Straftat im Hinblick auf Formen ihrer Bewältigung unterscheiden: a) Im Hinblick auf den TOA als Form der einsichtsgetragenen persönlichen Bewältigung der Tat zwischen Täterin und Opfer tritt die Straftat als existentielle Missachtung des Opfers als eigentlich der Täterin gleichgeordnete selbstständige Person hervor, die zugleich in ihrer Leiblichkeit oder anderen zugeordneten Bereichen der gemeinsamen Welt durch die Tat beeinträchtigt ist. Emcke hat diese persönliche gewaltsame Missachtung in ihrer kommunikativen Dimension treffend als „stumme Gewalt“ beschrieben. Diese Ebene der Tat kann als Konflikt beschrieben werden, ist aber hier genauer im Hinblick auf unser vernünftiges Selbstverständnis gefasst. Die Ebene der unmittelbar-persönlichen Missachtung ist rechtlich umhegt und damit rechtlich über- oder mitgeformt: Das persönliche Verhältnis zwischen Täterin und Opfer wird durch das Strafrecht als öffentliches Friedensverhältnis etabliert, in dem das Recht, unmittelbare Gewalt auszuüben, grundsätzlich nur dem Staat zukommt. Das Recht schafft auf diese Weise Freiräume persönlicher Entfaltung in der Gemeinschaft und formt so das gemeinschaftliche Anerkennungsgeflecht mit aus. Die Straftat kann so weder als „Konflikt“ nicht-rechtlich gedacht werden noch umgekehrt im Hinblick auf die Strafe nur als spezifische Verletzung des Rechts in einem reduzierten Sinn begriffen werden. b) Im Hinblick auf die Strafe missachtet der Täter das Opfer mit einer Straftat existentiell auch als Rechtsperson, das heißt als durch das Recht gleichgeordnete und staatlichem Schutz unterstellte Person. Zudem missachtet er in besonderer Weise das Recht als Ausformung des Anerkennungs­ geflechts (Seelmann), das alle in der Rechtsgemeinschaft Lebenden verbindet, indem er durch die Tat die Geltung des Rechts für sich und Situationen dieser Art in Frage stellt. Auf diese Weise ist auch die ganze Rechtsgemeinschaft betroffen. (Basierend auf Köhler und Wolff.)

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V. Kap.: Zusammenfassung

IV. 13. Mit der Tat hat der Täter das Verhältnis zum Opfer als Person und Rechts­ person und zur Rechtsgemeinschaft durch seine Missachtung des Opfers und des Rechts unumkehrbar gestaltet. Strafe und TOA beziehen sich auf die Bewältigung der Tat mit dem Ziel, Verhältnisse wechselseitiger Achtung trotz und mit der Tat (angelehnt an Kodalle) wiederherzustellen. Sie stellen Formen des Umgangs mit dem Paradox der Selbstständigkeit dar: Einerseits ist der Täter als Selbstständiger verantwortlich für die Tat, andererseits kann er als Selbstständiger zu neuen Einsichten in die Richtigkeit von Verhalten finden und ist ihm als Selbstständigem die Chance zur eigenständigen Gestaltung seines Lebens einzuräumen. Er darf insofern nicht absolut auf die Tat festgelegt werden. 14. Strafe und TOA sind ursprüngliche, historisch-kulturell in der gemeinsamen Praxis gewachsene praktische Formen, die normativ geprägt und zu reflektieren sind. 15. Die Strafe ist eine durch die Rechtsgemeinschaft verhangene und zwangsweise durchsetzbare Minderung des Täters in seinem Rechtsstatus, mit der der Verhaltensgrundsatz des Täters der Tat entsprechend auf ihn selbst angewendet wird. Sie ist eine sprachlich-bedeutungsgetragene Form der gemeinsamen Praxis, die autoritativ und einseitig-feststellend (Roman Hamel) das Opfer als gleich zu achtende Person und die Geltung des Rechts gegenüber dem Täter und der Rechtsgemeinschaft bestätigt. Die Strafe ist als rechtliche Form der Bewältigung einer Straftat, die durch rechtlichen Zwang durchsetzbar ist, ein unmittelbar rechtliches Institut. (Basierend auf Köhler und Wolff.) Auf der Ebene der möglichen wechselseitigen Ausübung von Gewalt ist die Straftat mit der Strafe gegenüber dem Opfer und der Rechtsgemeinschaft erledigt, der Täter ist nach dem Strafen als im Status gleiche Rechtsperson wieder in die Gemeinschaft einzugliedern. 16. Der TOA ist eine Form des Versöhnungsprozesses zwischen Täter und Opfer nach einer Straftat. Er ist ein kommunikativer durch eine geschulte allparteiliche Dritte vermittelter Prozess zwischen Täter und Opfer mit dem Ziel, die Tat auf der unmittelbar-persönlichen Ebene zwischen Täter und Opfer im einsichtsgetragenen Kontakt so zu bewältigen, das beide sich trotz und mit der Tat wechselseitig als gleichgeordnete Person achten. Das erfordert die kommunikative Vergewisserung über die Tat als gemeinsame wesentlich vom Täter zu verantwortende Geschichte, die aufrichtige Reue des Täters und Entschuldigung gegenüber dem Opfer, das aufrichtige Verzeihen des Opfers und einen freiwilligen Ausgleich der Tatfolgen durch den Täter. Als einsichtsgetragener Versöhnungsprozess kann der TOA rechtlich nicht erzwungen werden und so nicht in das kriminalrechtliche Sanktionensystem eingeordnet werden. Er ist gleichwohl eine wichtige Form der Tatbewältigung, die eine unmittel-

2. Zusammenfassende Thesen

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bar-persönliche Bewältigung der Tat im einsichtsgetragenen Kontakt häufig erst ermöglichen dürfte. Er sollte daher rechtlich institutionalisiert und abge­ sichert werden. Er ist rechtlich umhegbar, anders ausgedrückt, ein rechtlich umhegbares Institut (Hassemer/Reemtsma). V. 17. Grundsätzlich stehen Strafe und TOA als Formen der Bewältigung einer Straftat eigenständig nebeneinander. Denn sie beziehen sich zwar auf die Bewältigung ein- und derselben Straftat, allerdings in verschiedener Hinsicht und auf verschiedene Weise. 18. Allerdings können sich Strafe und TOA faktisch aufeinander auswirken und auch sinnvoll zueinander in Beziehung gesetzt werden, da sie die Straftat als einen einheitlichen Lebensvorgang sowie Täter und Opfer als ganze Personen in ganzen Lebenssituationen betreffen. Beispielsweise kann das aufrichtige Bemühen der Täterin, die Tat im TOA zu bewältigen, ein Indiz für ihre aufrichtige Reue und damit für die Umkehr zum Recht sein und so strafmildernd wirken. Die gelungene unmittelbar-persönliche Bewältigung der Tat im TOA gleicht in einem gewissen Maße die Tatschuld aus und kann so weitergehend strafmildernd wirken. Aufrichtige Reue und die unmittelbar-persönliche Bewältigung der Tat sind dabei auch außerhalb eines TOA möglich. 19. § 46a Nr. 1 StGB ist vor diesem Hintergrund sowohl als Strafmilderungsregel wie auch als Regelung des TOA missglückt. TOA und Strafe sollten eigenständig geregelt sein. Als Indiz für die aufrichtige Reue des Täters sollte der TOA im Rahmen der Strafzumessung gem. § 46 II 6. Umstand StGB wie auch andere Formen der aufrichtigen Reue zugunsten der Täterin berücksichtigt werden. Die Anwendung des vertypten Strafmilderungsgrundes gem. § 46a Nr.  1 StGB sollte den Fällen wirklich gelungener unmittelbar-persönlicher Bewältigung der Tat, für die ein erfolgreicher TOA ein starkes Indiz ist, die aber auch in anderen Formen der Versöhnung geleistet werden kann, vor­ behalten bleiben.

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Filme „Black Box BRD“ von Andres Veiel, Deutschland 2001. „Das geheime Leben der Worte“ von Isabelle Coixet, Spanien 2005 „Im Schatten des Bösen“ von Susanne Babila, Deutschland 2007. „Shortcut to Justice“ von Daniel Burkholz und Sybille Fezer, Deutschland 2008.

Sachverzeichnis Fundstellen aus den Zusammenfassungen der einzelnen Abschnitte und der abschließenden Zusammenfassung im V. Kapitel sind nicht im Sachverzeichnis angegeben. § 46a Nr. 1 StGB  23, 138, 191 f., 225 ff. –– gesetzgeberische Motive  226 f., 231, 239 –– in der Anwendung durch die Rechtsprechung  227 ff., 239 –– Kritik als Regelung des TOA  227, 231, 239 –– Kritik als vertypter Strafmilderungsgrund  226 f., 228 f., 231 ff., 235 f. –– Legaldefinition des TOA  226 f. –– systematisch-teleologische Auslegung  236 ff. –– und Gelingen des TOA  226 f., 227 ff., 236 ff. –– und Geständnis  238 f. a priori, apriorisch  33 f., 43, 46, 51, 53, 55 f. Abhängigkeit/Angewiesensein, wechselsei­ tige/s  28, 79 ff., 85 f., 88 –– und Recht  88, 96 f. –– und Strafe  170 f., 172 f., 176 f., 180 f. –– und Straftat  80 f., 84, 115 f. –– und TOA/Versöhnung 118, 129, 201, 216, 218 Abschaffung des Strafens (Abolitionismus)  25 f. mit Fn. 23, 155 ff. absolut –– absolute (auf Tatschuldausgleich ausgerichtete)  Straftheorien  147, 148 ff., 158, 162 ff., 174 ff., 179 ff. –– absolutes Strafen (Todesstrafe, lebenslange Freiheitsstrafe)  75, 77 f., 140, 151, 180 mit Fn. 635 –– Kritik an der Verabsolutierung  35 ff., 42 ff., 63, 74 f. mit Fn. 232, 103 ff., 110 f., 121 f. Fn. 406 f., 126, 133 f.,151, 157, 162 ff. abstrakt, insb. Kritik an Abstrahierungen  34 ff., 47 f., 48, 52, 58, 64, 78, 87, 101, 142, 145, 163 ff., 175 ff.

allgemein/konkret  35 ff., 47 f., 48 f., 56 f., 82 ff., 94, 102, 164 f., 167 f., 178 alternative Justizformen  48 f., 94 Anerkennung oder Achtung  79 ff., 86, 105 f., 123, 128, 167 f., 175 ff., 197 ff. –– siehe auch Anerkennungsgeflecht –– siehe auch Missachtung/Nichtachtung –– Versöhnung als Form wechselseitiger Anerkennung  118, 193, 197 ff., 215 ff. Anerkennungsgeflecht  27, 29, 106, 109 f., 126 ff., 129 ff., 176, 179 ff. –– Recht als Ausformung des Anerkennungs­ geflechts  106, 126 ff., 129 ff., 233, –– Strafe als Wiederherstellung des Anerkennungsgeflechts mit rechtlichen Mitteln  179 ff. Anfang/Neubeginn im Zusammenhang mit der Selbstständigkeit  29, 68 ff., 75 f., 139 f., 171, 179 f., 194, 202 f., 206, 210, 215 Anforderung selbstständigen Verhaltens/Ausrichtung auf Erfüllung  71 ff., 76 f., 93, 98, 211 Anthropologie –– anthropologischer Universalismus  46, 56 –– transzendentale in praktischer Absicht  31, 32 Asymmetrie –– (A)Symmetrien zwischen Täter und Opfer im TOA  187, 199, 205, 216 f., 218 –– als Grundzug  85 ff. Aufrichtigkeit (Authentizität, Einsichtsgetragenheit) –– darauf beruhende Fragilität des Versöhnungsprozesses  201, 207 f., 210, 213 –– Einschätzung/Nachvollziehbarkeit der Aufrichtigkeit  65 f., 213 f., 236 –– und Pflicht/Erzwingbarkeit  94 f., 204, 210 f., 219

Sachverzeichnis –– und unmittelbar-persönliche Bewältigung der Tat  75, 97, 201, 204, 209 ff., 213, 216 f., 219 Aufweisen (Erläutern, Erklären, Feststellen, Erinnern, Entwickeln, Explizieren)  31, 33, 34 ff., 46, 53, 55, 163, 178 Außen/Innen der Person –– Bezug des Rechts auf äußere Freiheits­ bereiche  88, 95 ff., 122 mit Fn. 407 –– Kritik der Unterscheidung des Außen und Innen der Person  63 mit Fn. 186, 76 Fn. 242, 96, 122 Fn. 407, 172 Bedeutung siehe Sinn, Sinngestalt, situativer Sinnhorizont Begrenztheit siehe Endlichkeit Begründen  36, 37 Beispiele (Paradigmen in methodischer Hinsicht)  32, 34 ff., 39, 56, 102, 103 ff., 145 ff., 186 ff., 194 ff. –– kategorischer Imperativ und paradigma­ tisches Fundament  43, 46 Bereiche, zugeordnete gemeinsamer Welt  114, 122 f. mit Fn. 407, siehe auch Freiheitsbereiche beschreibend (phänomenologisch)  32 Bewältigung  138 ff., 223, 231 –– als Ganzheit  225 f. –– einer Straftat auf der Ebene der Missachtung des Rechts  178 ff. –– einer Straftat auf der unmittelbar-persönlichen, rechtlich überformten Ebene  186 ff. –– fundamentaler Charakter der Bewältigung fehlerhaften Verhaltens für Moralität und Ethik  29, 75 f., 140 f., 196 f., 215 f. böse –– das Böse  114, 165, 207 –– böser Wille  74 f., 84, 113, 151, 155 ff., 157, 167 ff., 180 f. –– böser Wille als Fiktion  74 f., 155 ff. „das Ich“  34 f., 48, 50 Fn.  122, 57 f. mit Fn. 163, 61 f. Fn. 176 und 179, 63 Fn. 186, 64, 67, 70 mit Fn.  213, 78, 87 Fn.  288, 142,175 ff. dianoietische (einsichtsbezogene) Termini  99 „dritte Spur“ des Sanktionenrechts  26, 220, 224 f.

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Ebenen/Dimensionen der Straftat  110 ff. –– der Missachtung des Rechts  105 ff., 108 ff., 129 ff., 149 f., 168, 181 ff. –– der unmittelbar-persönlichen Missachtung, rechtlich überformte  82 f., 106, 112 ff., 131 f. –– Sinn der Unterscheidung von Ebenen der Straftat  133 ff. Einsamkeit (Entzogenheit)  51, 63 f., 79, 213 Einsicht, Einsichtsgetragenheit  92 f., 97, 99, 180, 201 f., 203, 204 f., 206, 209, siehe auch Aufrichtigkeit –– Unvertretbarkeit von Einsichten  82 Einzigartigkeit (Einmaligkeit, Singularität)  57, 81 ff., 110 f., 115 f., 135 f., 204, 209, 215 f. Empirische Forschung  37, 59 Endlichkeit (Begrenztheit)  67, 83, 84, 85, 165, 208 Enteignungsthese  107 Entschuldigung  21 f., 66, 75, 82, 97, 129, 172, 189, 203 f., 213 ff., 229, 230 ff. Erzwingbarkeit/Zwang/autoritativ-einseitige Feststellung  82, 95 ff., 106 f., 119, 122 mit Fn.  407, 129, 168, 185, 179 ff., 201, 204 f., 209 ff., 215 f., 219 ff., 223, 240 f. Evidenzen, lebensweltliche (Lebenserfahrun­ gen, grundlegende)  33, 34 ff., 54, 56 Existenz, grundlegend gleichgeordnete  110 f., 113, 114 f., 117 f., 122, 124, 200, 211 f. Existenzialität  57 f., 63 f., 68 ff., 79 ff., siehe auch Einsamkeit, Selbstständigkeit und Selbstverhältnis –– Gleichursprünglichkeit von Existenzialität und Interexistenzialität  61 f., 63 f., 77, 78 f., 79 ff., 171 ff., 175 f. Faktizität (Wirklichkeit)  59 f., 68, 97 ff. –– reine siehe Objektivität, reine Fehlbarkeit  29, 36, 73 ff., 84, 130 f., 140 f., 165, 194, 196 f., 204 f., 206 f., 209 f., 215 f. –– fundamentaler Charakter der Bewältigung fehlerhaften Verhaltens für Moralität und Ethik  29, 75 f., 140 f., 196 f., 215 f. Folter  83 f., 182 Fragilität (Verletztlichkeit, Fehlbarkeit, Endlichkeit, Bedrohtheit)  73 ff., 84, 86, 87, 210

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Sachverzeichnis

–– und Strafe  158, 165, 180 –– und Straftat  112 ff., 117 ff., 129 ff. –– und Täter-Opfer-Ausgleich  190, 196, 199, 201, 210, 212, 213, 216, 217, 219 Freiheit  22, 67, 68 ff., 87 ff., 92, 95 ff., 162 f., siehe auch Selbstständigkeit –– und Neurowissenschaften  69 Fn. 208 Freiheitsbereiche, als äußerliche  88, 95 ff., 106, 122 f. mit Fn. 407, 131 Freundschaft  80, 99 Ganzheit (Totalität)  34 f., 53, 57, 58, 63, 83, 108 f., 174, 81 ff., 110 ff. –– komplexe Ganzheit und Differenzierungen  83, 106 f., 108, 110 ff., 120, 178, 133 ff., 222, 225 f., siehe auch holistisch und Komplexität Gedankenexperiment  34, 54, 56, 84, 99, 182 f. Gefahrenabwehr  127, 152 ff., 155 ff. Gefühl, Empfinden, Wahrnehmen  30, 59, 65 f., 76 Fn.  242, 94 f., 99, 121 f., 127, 130 f., 198 Gemeinsamkeit (Interexistenzialität, Abhängigkeit)  28, 61 f., 63 f., 70, 78 f., 79 ff., 84, 85 f., 88 f., 96 f., 98, 110 ff., 167 ff., 171 ff., 174 ff., 178 ff., 197 ff., 201 –– eremitische Lebensweise  51, 61, 79 –– genetisch  51, 61, 79, 169, 173, 175 f. –– Gleichursprünglichkeit von Existenzialität und Interexistenzialität  61 f., 63 f., 77, 78 f., 79 ff., 171 ff., 175 f. –– Hilfe/Unterstützung  51, 79 f., 88, 116, 118, 170 ff., 176 f., 180 f., 204, 217 f., 237, 240 –– interexistentielle Einflüsse auf Tatschuld  73 ff., 169, 172 f. –– kommunikative Solidarität/authentische gewaltfreie Kommunikation  20, 28, 79, 80 f., 84, 89, 118, 129, 184, 193, 195, 197 ff., 208, 215 f., 218 –– siehe auch Abhängigkeit/Angewiesensein, wechselseitiges Genugtuung des Opfers  22, 109, 127, 132 f., 157, 183 f. mit Fn. 642, 192, 233 Fn. 820 Gerechtigkeit, gerecht  86 ff., 119, 128 f., 147 ff., 218 Gewalt  81, 84, 86 mit Fn. 285, 90, 116, 118

Gewaltmonopol des Staates  21, 89, 90, 127, 130, 181 Gleichheit/Ungleichheit  85, 89 mit Fn. 294 Gleichursprünglichkeit  53 ff., 56, 58 Fn. 163, 61 f. mit Fn.  179, 63 f., 77, 78 f., 79 ff., 171 ff., 175 f. Grundzüge (Sinn- und Möglichkeitsbedingun­ gen) unserer Welt  28, 31, 52 ff., 101 –– als Rationalitätskriterien  28, 31, 32, 34 f., 37, 53 ff., 71 ff., 87, 99, 113, 125, 163 –– gleichursprüngliche siehe Gleichursprünglichkeit –– transzendentale  33 f. handlungsorientierend (hinsichtlich des praktischen Entscheidens)  32, 42, 47, 49, 51 ff., 71 ff., 99, siehe auch Anforderung selbstständigen Verhaltens Handlungsraum, gemeinsamer (interexistentiell erschlossener, öffentlicher)  51, 61 f., 69 f., 79 hermeneutisch (verstehend, auslegend)  31 f., 59 Herrschaft  86 holistisch  28, 39, 55, 60 Fn. 174, 83, 108 f., 111, 119, 133 ff., siehe auch Ganzheit und Komplexität „Ich denke, also bin ich.“  34 f., 53 f., 67, 175 f. ideal, ideales Sollen  36, 48 f., 50 Fn.  122, 101, 142, 144, 163 f., 166, 167, 175, 178, 210 „Insel-Beispiel“  49, 148 f. Institut –– rechtlich umhegbares oder umhegtes  29, 96, 129, 185, 220 f., 223, 224, 240 f. –– unmittelbar rechtliches/Rechtsinstitut 131 f., 185, 223 Interexistentialanalyse, Methode der  37 ff., 102, 142, 145, 195 ff. Interexistenzial, kommunikatives  37 f., 62, 78 f., 141 Interexistenzialität siehe Gemeinsamkeit kategorischer Imperativ  42 f., 73, 83 f., 175 –– Kritik des  43 ff., 70 Fn. 213, 83 f. –– paradigmatisches Fundament  43, 46, 83 f.

Sachverzeichnis –– Strafgesetz als kategorischer Imperativ 148 –– und Pflicht  91 ff. Kommunikation, gewaltfreie  80, 89, 118, 129, 176 –– im TOA  197 ff., 203 f., 208 f., 212 –– siehe auch Solidarität, kommunikative Komplexität  47 f., 57, 59, 77 f., 83 f., 85 f., 133 ff., 178, siehe auch Ganzheit und holistisch –– Mindestkomplexität, interne  55, 59, 71 Kreativität  50, 69, 86 Kriminalrecht  26, 108, 134, 224 kriminelles Unrecht  106 Leben, Lebenszeit als „ethische Zeit“, Ganzheit des Lebens  66 f. mit Fn.  198, 81 f., 117, 139 f., 198 f., 200, 205 Lebenserfahrungen, grundlegende siehe Evidenzen, lebensweltliche Lebenswelt, gemeinsame  31, 52 f., 54, 62, 81, 82 –– lebensweltlich, eingebunden in unsere Welt, Ganzheit der Welt  28, 34 f., 98 f., 142, 164, 166, 178 Legalität und Moralität  95 f. Leiblichkeit  34 f., 64 f., 69, 74 Fn. 232, 120 –– „Leibbehälter“, Leib/Körper  63 Fn. 186, 65 Letztbegründung, Kritik der Methode der  35 ff., 162 ff. Macht  86 Mensch  31, 79, 93 Methode –– der Analyse von Praxisformen siehe Interexistentialanalyse –– des Philosophierens  31 ff. Missachtung  114 ff. –– als Anmaßung  116, 118, 129 f., 168 –– als Nichtachtung/Unterlassen  116, 118 –– des Opfers als in der Selbstorientierung Gleiches  117 ff. Möglichkeit (Potentialität)  67 Möglichkeitsbedingungen siehe Grundzüge unserer Welt Moralität (vernünftige Welt- und Praxisbeurteilung)  42, 51 ff., 91 ff. –– Verfasstheit der  28, 51 ff., 166

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Natur  65 mit Fn. 192 naturale Getragenheit  64 f. naturalistischer Fehlschluss  97 ff. Nebeneinander von Strafe und TOA  222 ff. Neubeginn im Zusammenhang mit der Selbstständigkeit siehe Anfang Normativität, unausweichliche siehe Anforderung selbstständigen Verhaltens Objektivität, reine  31 f., 52 f., 55 f., 59 f., 65 mit Fn. 192, 71 f. mit Fn. 214, 97 ff., 104, 132, 135, 141, 165, siehe auch Perspektivität/Situiertheit Opfer  128, 134 f. –– Einbeziehung in Bewältigung einer Straftat  22 f., 186 ff. paradigmatische Praxisanalyse, Primat der und Methode des Aufweises in  34 ff. Paradox der Selbstständigkeit  75 f., 139 ff., 170 f., 179, 181, 202 f., 206, 210, 215 f. Perspektivität/Situiertheit  31 f., 33 f., 36, 48, 52 f., 65 mit Fn. 192, 83, 86, 87, 89, 98, 111, 142 f., 165, 175 Pflicht  91 ff., 204 f., 210 f., 219 f. Phänomen  32 Philosophie –– Aufgabe der  30 f. –– Ausgangspunkt der  34 f., 48 Fn. 117, 54, 56, 58 mit Fn. 163, 62 mit Fn. 179, 67, 70 Fn. 213, 162, 173, 175, 177 –– Methode des Philosophierens  31 ff. „Pön“  101 f.,143 ff. Potentialität, vgl. Möglichkeit praktisch (pragmatisch, handlungsorientierend in methodischer Hinsicht)  32 Praxis –– gemeinsame siehe Handlungsraum, gemeinsamer –– Verfasstheit der siehe Moralität, Verfasstheit der –– Vorgängigkeit der siehe Vorgängigkeit der Praxis Praxisformen/praktische Sinngestalten  37 f., 46, 51 f., 71 ff., 78 f., 210 –– als kommunikative Interexistentiale  78 f. –– als komplexe Sinngestalten siehe Komplexität

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Sachverzeichnis

–– Analyse von Praxisformen siehe Interexis­ tentialanalyse –– ursprüngliche  142 ff., 178, 210 privat/öffentlich  115 mit Fn. 389 Privatpraxisargument  62 mit Fn. 181 Privatsprachenargument  61 Rache  90 Rationalitätskriterien siehe Grundzüge als Rationalitätskriterien Räumlichkeit  66 Recht  28, 38 f., 86 ff., 115, 127 f. –– Abstrahierung und Typisierung durch Recht  87, 89 Fn.  294, 110, 124 f., 127, 128, 135 –– als Ausformung des Anerkennungsgeflechts  127 f., 129 –– als gemeinschaftlich konstituiertes Gleichheits- und Friedensverhältnis  106, 127 –– als ursprüngliche Praxisform  86 f. –– Bezug des Rechts auf äußere Freiheitsoder Willkürbereiche  122 f. mit Fn. 407, 167 f. –– gerechtes, vernünftiges  87 ff. mit Fn. 288 –– Missachtung des Rechts als Recht  105 ff., 108 ff., 129 ff., 149 f., 168, 181 ff. –– positives  38, 103 ff., 125 f. –– Positivismus  87, 126 –– rechtliche Überformung/Umhegung  118 f., 126 ff., 131 –– Schaffung von Freiräumen für individuelle Entfaltung durch Recht  87 ff., 95 ff., 119 Rechtsgut  104 f., 106 Fn. 358 Rechtsinstitut  131 f., 185, 223 –– rechtlich umhegbares oder umhegtes Institut  29, 96, 129, 185, 220 f., 223, 224, 240 f. Rechtssubjekt/Rechtssubjektivität  106, 116 Fn. 392, 118 f., 129 f., 131 f., 168 Reue  180, 201 ff. –– Aufrichtigkeit  204 f. –– und Entschuldigung  203 f. –– und Paradox der Selbstständigkeit  202 ff. –– und Strafmilderung, § 46  II 6.  Umstand StGB  232 ff., 235 f. richtig/falsch  71 ff.

Schuld  69 mit Fn. 209, 74 ff. mit Fn. 228 und 239, 113, 117, 129 f. mit Fn. 428, 139 f., 145 f., 148 f., 154, 155 ff., 158 f., 160 ff., 169, 173, 174 f., 177, 179 ff., 187, 202 f., 205 f., 209 f., 217, 232 f. Sein und Sollen siehe Verwobenheit von Faktizität und Normativität Selbstständigkeit  64, 68 ff., 105, 163, 167 ff., 174 ff., 179 ff., 200, 201, 206, 210 f., 215 f., siehe auch Fehlbarkeit und Paradox der Selbstständigkeit Selbstverhältnis  57 f., 63 ff., 68 ff., 171 Singularität siehe Einzigartigkeit Sinn (Bedeutung), Sinngestalt, situativer Sinnhorizont  30 ff., 39, 51 f., 59 f., 62, 69 f., 71 ff., 76 f., 77 f., 78 f., 81 f., 98 –– komplexe Sinneinheit als singuläre Totalität  59 f., 71 f., 77 f., 81 ff., 110 ff., 120, 135 f., 179 ff. –– vernünftiger Sinn des Interexistentials der Straftat  101 f., 110 ff. –– vernünftiger Sinn der Strafe  141 ff., 178 ff. –– vernünftiger Sinn des TOA  141 ff., 197 ff. –– vernünftiger Sinn von Strafe und TOA und deren Verhältnis zueinander  222 ff. Sinndeutung und -gebung  71 mit Fn. 214 Sinnentwurf, praktischer mit Erfüllungsrichtung  76 f. Sinn- und Möglichkeitsbedingungen siehe Grundzüge unserer Welt Situationalität  56 f. Situationen, ganze  34 f., 56 f. Situiertheit siehe Perspektivität Solidarität, kommunikative  79, 84, 215 f. –– Versöhnung als Form der Sprachlichkeit, sprachliche Verfasstheit  30, 60, 61, 65, 78, 199 f., 208 f., siehe auch Kommunikation Staat  221 Strafe  145 ff., 178 ff., 223 –– absolutes Strafen (Todesstrafe, lebenslange Freiheitsstrafe)  75, 77 f., 140, 151, 180 mit Fn. 635 –– als Form der rechtlichen Bewältigung von Straftaten (Paradox der Selbstständigkeit)  90, 106, 130, 179 ff. –– als ideale Vernunftgestalt  94, 163 f., 175 –– als kommunikativer Prozess  184

Sachverzeichnis –– als kommunikatives Interexistential  141, 178 –– als komplexe, ganze Praxisform  77 f., 178 –– als Minderung des Täters in seinem Rechtsstatus/symbolischer Tatausgleich  168, 175, 179 f. –– als Übel  141, 150, 154, 168, 181 –– als unmittelbares Rechtsinstitut  185 –– als ursprüngliche Praxisform  142 ff., 178 –– Bestätigung des Rechtsstatus des Tatopfers  183 –– einseitig-feststellender Charakter  97, 168, 179 f., 181 –– in der Rechtspraxis  145 ff. –– moralischer Begriff der  167, 171 f. –– normbestätigende Wirkung für Täter und Rechtsgemeinschaft  131, 181 ff. –– Subsidiarität der  107 f., 123 f., 155 –– und Selbstständigkeit des Täters  148 ff., 167 ff., 170 ff., 174 ff., 180 –– und Unterstützung des Täters  168, 170 f. 173, 176 f., 180 f. –– Verhältnis zum TOA  222 ff. –– vernünftiger Sinn der Strafe  178 ff. –– Versöhnung durch Strafe  158 f. mit Fn. 533, 181 –– Wiederherstellung des rechtlichen Anerkennungsgeflechts  181 ff. –– Wirkung im unmittelbar-persönlichen Verhältnis/Ausschluss von Rache  132, 181, 183 f. Strafmilderung –– aufgrund eines TOA oder Versöhnungsprozesses  226 ff., 235 ff. –– aufgrund Reue und Ausgleichsbemühungen der Täterin  226 ff., 232 ff. –– Einschätzung der Aufrichtigkeit/des Gelingens des TOA  65 f., 213 f., 236 –– systematisch-teleologische Auslegung von § 46 II 6. Umstand und § 46a Nr. 1 StGB  236 ff. Strafprozess (Strafverfahren)  21, 176, 184 mit Fn.  647, 199 f. mit Fn.  697, 228 mit Fn. 795 Strafrecht  90, 118, 123 f., 127, 131, siehe auch Kriminalrecht/Kriminalunrecht Straftat  60, 101 ff., 110 ff., 223 –– als existentielle Verletzung  84, 117 ff.

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–– als Ganzheit/holistische Perspektive  39, 106 f., 120 f., 133 ff., 222 –– als kommunikatives Interexistential  101, 120, 134 –– als Konflikt  82 f., 107 f., 133 –– als Konflikt und spezifische Verletzung des Rechts  108 ff., 110 ff., 132 f. –– als selbstständige Weltgestaltung des Täters  73 f., 112 f. –– als singuläre unumkehrbar wirkliche komplexe Ganzheit  67, 82, 110 ff., 135 f., 151 –– als spezifische Verletzung des Rechts  83, 105 ff., 129 ff. –– als ursprüngliche Praxisform  101 f. –– Bewältigung von 138 ff., 223 –– Ebene der Missachtung des Rechts  105 ff., 108 ff., 129 ff., 149 f., 168, 181 ff. –– Ebene der unmittelbar-persönlichen Missachtung, rechtlich überformte  82 f., 106, 112 ff., 131 f. –– formaler Verbrechensbegriff  103 f. –– konkrete Betroffenheit  135 f. –– Kritik des Interexistentials anhand material-normative Aspekte  103 ff., 105, 126 –– materialer Verbrechensbegriff 105 ff., 131 f. –– positiv-rechtliche Fassung als Straftatbestand  125 f., 126 ff. –– Sinn der Unterscheidung zwischen unmittelbar-persönlicher, rechtlich überformter Ebene und Ebene der Missachtung des Rechts  39, 106 f., 133 ff. –– Sozialschädlichkeit  115 –– Unumkehrbarkeit  82, 135 ff., 138 ff. –– Verstehen der Tat  198 ff. –– wechselseitige Abhängigkeit  80 f. Straftheorien –– absolute (Tatschuldausgleich)  148 ff. –– generalpräventive  153 f., 154 f. –– Kritik der Unterscheidung in absolute und präventive Theorien  147 f. –– Schuldrahmentheorie  160 ff. –– spezialpräventive  153 f. –– Sühnetheorien  158 f. –– Tatschuldausgleich und präventive Aspekte vermittelnde Theorien 162 ff., 174 ff., 179 ff. –– Versöhnung durch Strafe  158 f. mit Fn. 533, 181 –– siehe auch Abschaffung des Strafens

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Strafzwecke –– Ausgleich der Tatschuld 147, 162 ff., 174 ff., 179 ff. –– Bestätigung des Rechtsstatus des Tatopfers und Ausschluss von Rache  183 f. –– generalpräventive  152 f., 169 f., 174, 177, 181 f. –– spezialpräventive  153, 169 f., 174, 177, 180 f. –– Vergeltung  148 ff. –– Verhältnis der  174, 177, 180 f., 182 f. –– Wiederherstellung des rechtlichen Anerkennungsgeflechts als Bestätigung der Rechtsgeltung  167 f., 176, 181 f. „stumme Gewalt“  27 f., 29, 118, 132, 136, 198 Subjekt-Objekt-Modell, Kritik am  63 f. Subjektivismus, Kritik am 34, 61 f. mit Fn. 176, 63 f., 78 f., 88, 173 Täter  128, 134 f. Täter-Opfer-Ausgleich (TOA)  23 f., 172, 186 ff., 193, 197 ff., 223 –– § 46a Nr. 1 StGB und Anwendung durch die Rechtsprechung  226 ff. –– (A)Symmetrien zwischen Täter- und Opfer und kommunikatives Gleichgewicht  187, 199, 205, 216 f., 218 –– allparteilicher Vermittler  187 f., 199, 217 f., 223, 227, 228, 231 –– als kommunikatives Interexistential  141 –– als Sanktion  106 f., 131 f., 220, 240 –– als ursprüngliche Praxisform  142 ff. –– als wechselseitiger Prozess  213 ff. –– Aufrichtigkeit/Erzwingbarkeit 97, 190, 195 f., 201, 204 f., 209 ff., 213 f., 219 f. siehe auch Aufrichtigkeit und Einschätzung der Aufrichtigkeit –– Ausgleichsleistungen 189, 194, 196, 211 ff., 218 f., 235 –– bei häuslicher Gewalt/Gewalt in Paar­ beziehungen  188, 217, 218 –– Einschätzung/Nachvollziehbarkeit der Aufrichtigkeit  65 f., 213 f., 236 –– Entwicklung und Praxis des TOA  186 ff. –– Erfahrungsberichte  187 f., 194 f. –– Fragilität/Selbstentblößung  190, 201, 205, 208 f., 210, 212, 213

–– kommunikative Aufarbeitung der Tat/Gespräch  197 ff., 206 f., 208 f., 212 –– Legaldefinition  226 f. –– Pflicht/Zwang zum TOA  219 f. –– rechtlich-institutionelle Absicherung de lege ferenda  220 f., 240 f. –– rechtliche Einbindung de lege lata  191 ff., siehe auch § 46a Nr. 1 StGB –– Reue und Entschuldigung  194, 201 ff. –– Selbstbehauptung  200 –– staatliche Pflicht zur rechtlichen Institu­ tionalisierung  220 f. –– Statistik  187 f., 190 f. –– Verfahren  188 f. –– Verhältnis zur Strafe  222 ff. –– Verhältnis zur Versöhnung  190, 193 –– Verstehen der Tat  198 ff. –– Verzeihen/Vergeben  194, 205 ff. –– wechselseitige Abhängigkeit  80, 118, 129, 201, 216, 218 Theorie/Praxis  37, 59 mit Fn. 179 Totalität siehe Ganzheit transzendental (unhintergehbar)  31 f., 35 ff., 53, 166 Universalismus  45 f. –– anthropologischer  56 Unumkehrbarkeit, insb. bzgl. Fehlverhalten  66 f., 77, 110, 117, 179, 215 f., 232 f. Unvertretbarkeit  110 Unverzeihliches  207 f. Vergewaltigung  125 f., 135 Verhältnis Strafe und Täter-Opfer-Ausgleich  25 ff., 222 ff. Verhältnis Täter-Opfer-Staat  130 mit Fn. 431, 180 Vernunft  34, 50 mit Fn.  122, 56 f., 68, 99, 142 –– Faktum der  68 mit Fn 205 Versöhnung(sprozess)  21, 144, 193, 194 ff., 197 ff. –– als Form wechselseitiger Anerkennung/ kommunikativer Solidarität  215 f. –– durch Strafe  158 f. mit Fn. 533, 181 –– fundamentaler Charakter für die menschliche Praxis 29, 75 f., 140 f., 196 f., 215 f. –– Gelingen  214

Sachverzeichnis –– in der Form des TOA  197 ff., siehe auch Täter-Opfer-Ausgleich im Einzelnen –– Methode der Analyse  194 ff. –– Verhältnis zum TOA  193 –– Verständnis der Versöhnung in unserer Kultur und wissenschaftliche Entfaltungen des Interexistentials  194 ff. Verstehen  30 f., 31 f., 51, 52, 54, 55 f., 59 f. 61, 65 f., 71, 78, 79, 102, 111, 165, 198 f., 201 f., 204, 206 f., 213 Verwobenheit von Faktizität und Normativität (oder von Sein und Sollen)  32, 36, 68, 72 f., 97 ff. Verzeihen/Vergebung –– als kommunikativer Akt  208 f. –– Aufrichtigkeit  209 –– das Unverzeihliche  207 f. –– fundamentaler Charakter für die menschliche Praxis  29, 75 f., 140 f., 196 f., 215 f.

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–– Paradox der Selbstständigkeit  206 –– Reue als Voraussetzung für  214 f. –– und eigene Fehlbarkeit  194, 206, 209 f. Vorgängigkeit der Praxis  39, 49 f., 51 f., 62, 69 f., 78, 79, 98 f., 101 f.,142 f., 164 „vorpositive Begründung“ des Rechts  38 Wahlmöglichkeiten und Selbstständigkeit  67, 68 „Was soll ich tun?“  31, 69, 93 Wechselwirkungen von Strafe und TOA, insb. Strafmilderung  225 ff. Wiedergutmachung –– im Verhältnis zur Strafe  25 f. –– Kritik der Rede von der Wiedergutmachung  138 f., 191 f., 212, 231 Wirklichkeit siehe Faktizität Zeitlichkeit  66 f., 81 f., 135 ff.