Schuld und Strafe: Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung des Schuldprinzips 9783161539930, 3161539931

Das strafrechtliche Schuldprinzip, also das Zusprechen von persönlicher Schuld im richterlichen Urteil zur Legitimation

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Schuld und Strafe: Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung des Schuldprinzips
 9783161539930, 3161539931

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Perspektiven der Ethik herausgegeben von

Reiner Anselm, Thomas Gutmann und Corinna Mieth

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Julia Maria Erber-Schropp

Schuld und Strafe Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung des Schuldprinzips

Mohr Siebeck

Julia Maria Erber-Schropp, geboren 1978; 1999–2001 Universität Hildesheim Diplomstudium der Kulturwissenschaften und Ästhetischen Kommunikation (Vordiplom); 2003–2004 University of London /King’s College Studium der Philosophie und der European Studies; 2001–2006 Humboldt-Universität zu Berlin Magisterstudium der Kulturwissenschaft und der Philosophie (Magister Artium); 2007–2012 Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Wissen der Sparkasse KölnBonn (damalige SK-Stiftung CSC – Cologne Science Center), Köln; 2010–2014 RuhrUniversität Bochum Promotion an der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft; seit Januar 2013 Wissenschaftliche Leiterin der Stiftung Wissen der Sparkasse KölnBonn, Köln.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

ISBN 978-3-16-153993-0 ISSN 2198-3933 (Perspektiven der Ethik) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2016  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Stempel Garamond gesetzt, von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

Für C. B.

Vorwort Diese Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Januar 2014 bei der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft der RuhrUniversität Bochum eingereicht habe. Mein großer Dank gilt Corinna Mieth, die meine Arbeit als Erstgutachterin angenommen, mit Interesse begleitet und engagiert unterstützt hat. Stefan ­Magen danke ich, dass er das Zweitgutachten übernommen und Anregungen zur strafrechtlichen Thematik gegeben hat. Weiterer Dank gilt Jacob Rosenthal für die Durchsicht des 3. Kapitels und seinen wichtigen Impuls zur Debatte um die Willensfreiheit. Reiner Anselm und Thomas Gutmann danke ich, dass sie meine Dissertation in die Reihe Perspektiven der Ethik des Verlages Mohr Siebeck aufgenommen haben. Dank gilt auch Stephanie Warnke-De Nobili und Rebekka Zech vom Verlag Mohr Siebeck für die Betreuung des Publikationsprozesses. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften danke ich für den großzügigen Druckkostenzuschuss. Mein besonderer Dank gilt Anna Schriefl, die die Entstehung dieser Studie von der ersten Stunde an mit vielen Gesprächen und zahlreichen Anregungen unterstützt hat. Mit ihrem Interesse an dem Thema, ihren wertvollen Hinweisen bei der Lektüre meiner Arbeit und ihrer beständigen Ermutigung war sie die wichtigste Wegbegleiterin meines gesamten Promotionsvorhabens. Dank gilt zudem meiner Mutter Magdalena Erber-Schropp für das Korrekturlesen von Dissertation und Manuskript. Schließlich danke ich auch Björn Kaps dafür, dass er mich darin bestärkt hat, den Weg „Promotion“ einzuschlagen. Köln, im Dezember 2015

Julia Maria Erber-Schropp

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

Kapitel 1: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Überblick über die folgenden Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Der strafrechtliche Schuldbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.3 Überblick über den Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

. . . . . . . . . . 11

2.1 Ein kurzer Blick in die Entwicklung der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.2 Die Rolle des Schuldprinzips und der Konflikt mit dem Präventionsgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.3 Die Kritik an der Vergeltungstheorie und am Schuldprinzip . . . . . . . . . 31 2.4 Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.4.1 Die rechtshistorische Bedeutung des Schuldprinzips . . . . . . . . . . . 37 2.4.2 Die Kritik am Schuldprinzip: das strikte Präventionsmodell Barbara Woottons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.4.3 Die Kritik an den Präventionstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.4.3.1 Die negative Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.4.3.2 Die positive Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.4.3.3 Die Spezialprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2.4.3.4 Die Bewertung der Präventionstheorien nach ihrer empirisch nachweisbaren Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.4.4 Die unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik . . . . . . . . . . . . . 57 2.4.5 Ein anderes maß-gebendes Prinzip strafrechtlicher Haftung . . . . . 62 2.4.6 Resümee (1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.5 Vereinigungstheorien zur Legitimation von Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.5.1 Die Konzeption Herbert L. A. Harts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.5.2 Die Konzeption Claus Roxins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2.5.3 Resümee (2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2.5.4 Die freiheitstheoretische Vergeltungstheorie Michael Pawliks . . . . 75 2.5.5 Resümee (3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

X

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . 89 3.1 Die Diskussion um Determinismus und Indeterminismus . . . . . . . . . . . 92 3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.2.1 Willensfreiheit als normatives Postulat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.2.2 Willensfreiheit als realer Freiheitsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3.2.3 Willensfreiheit als Freiheitsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3.2.4 Das Erklärungsmodell von Peter F. Strawson . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3.2.5 Die Rezeption von Strawsons Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3.3 Resümee (1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 3.4 Die Dimensionen des Schuldprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 3.5 Das positive Schuldmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3.6 Die negativen Schuldmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3.6.1 Der entschuldigende Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 3.6.2 Der Verbotsirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 3.6.3 Die Schuldunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3.7 Die Kritik (2): Verantwortung ohne persönliche Schuld . . . . . . . . . . . . . 158 3.8 Resümee (2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

Kapitel 4: Das Schuldprinzip in der Strafrechtspraxis . . . . . . . 165 4.1 Drei Urteile zum § 20 aus den Jahren 1955–2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 4.1.1 Erstes Beispiel: ein Urteil von 1955 – das „Ungewöhnliche“ und das „Krankhafte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4.1.2 Zweites Beispiel: ein Urteil von 1983 – „seelische Abartigkeit“ oder „bloßer Charaktermangel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4.1.3 Drittes Beispiel: ein Urteil von 2008 – die „Spielarten des menschlichen Wesens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 4.2 Die Kontroversen um die Beurteilung der Schuldunfähigkeit . . . . . . . . . 176 4.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Kapitel 5: Das strafrechtliche Schuldprinzip als Grundnorm der Institution Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

Kapitel 1

Einleitung Das deutsche Strafrecht ist im Kern ein Schuldstrafrecht. Es gilt das Schuldprinzip: keine Strafe ohne Schuld (nulla poena sine culpa). Die vielzitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1966 bestätigt: „Der Grundsatz ‚nulla poena sine culpa‘ hat den Rang eines Verfassungsrechtssatzes.“1 Das bedeutet, dass die Schuld des Täters den Anknüpfungspunkt für die Strafsanktion darstellt: ohne Schuld keine Strafe. Im § 46 des Strafgesetzbuches verankert, besagt das Schuldprinzip: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“. Das legt fest, dass die Schuld des Täters nicht nur die Voraussetzung der Strafsanktion darstellt, sondern auch den Maßstab für die Bemessung ihrer Höhe. Der Täter ist also zu bestrafen, weil er schuldig ist, und die Härte der Sanktion hat der Schwere der Schuld angemessen zu sein. Die Schuld des Täters begründet und bemisst die Sanktion. Doch das Schuldprinzip steht seit langem in der Kritik. Da die Strafsanktion als Ausgleich der Schuld an dem begangenen Unrecht begründet wird, wird das Schuldstrafrecht dem Vergeltungsdenken zugeordnet. Daran wird kritisiert, dass auf der Grundlage dieser Straftheorie gesellschaftliche Strafzwecke, wie die Prävention zukünftiger Verbrechen oder die Resozialisierung des Täters, ausgeblendet blieben. Daher versperre das Schuldprinzip den Blick auf die gesellschaftliche Mitverantwortung an der Entstehung von Verbrechen und behindere die Entwicklung eines fortschrittlicheren Umganges mit abweichendem Verhalten. Die Kritik erhält dabei Unterstützung von philosophischen und neurowissenschaftlichen Debatten, die den Schuldvorwurf insgesamt als sinnlos betrachten, da das Zusprechen von Schuld nur auf der Basis einer Freiheit erfolgen könne, welche die Annahme zulasse, dass der Täter auch anders hätte handeln können. Das Schuldstrafrecht basiere daher, so die Kritik, implizit auf der Annahme der Willensfreiheit. Die klassische philosophische Diskussion um „Freiheit oder Determinismus“ fokussiert sich im Rahmen der strafrechtlichen Schulddebatte auf die Gegenüberstellung „Schuld oder Determinismus“. Die Strafe ist aber nicht die einzige Möglichkeit der Reaktion auf Verbrechen. Das deutsche Strafrecht ist zweispurig. Neben Strafsanktionen verfügt es über Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61–72 StGB), die auf die Kriminalprävention ausgerichtet sind. Diese kommen aber nur in Ausnahmefällen zur 1

 BVerfGE 1967, Bd. 20, S. 323.

2

Kapitel 1: Einleitung

Anwendung, wenn bspw. ein Täter als extrem gefährlich eingeschätzt wird. In diesem Fall kann angeordnet werden, dass dieser nach dem Strafvollzug in Sicherungsverwahrung genommen und beobachtet wird, bis die Prognose erfolgt, dass er wieder in die Gesellschaft integriert werden kann. Der wesentliche Unterschied von Strafe und Maßregel ist, dass die Strafe nach der Schuld des Täters bemessen wird, die Maßnahme hingegen nach dessen Gefährlichkeit. Da das Schuldprinzip als Element des Vergeltungsstrafrechts gilt und die Freiheit des Willens – in indeterministischem Sinn – bislang nicht nachweisbar ist, fordern Kritiker die Ersetzung des Schuldstrafrechts durch ein fortschrittliches, allein auf die Bedürfnisse der gesellschaftlichen Kriminalprävention ausgerichtetes Maßregelrecht. Meine These ist dagegen, dass der Gedanke des Schuldausgleichs als wesentliche Grundlage des Strafrechts nicht aufgegeben werden kann. Denn das Schuldprinzip sichert einen Mechanismus, der für das gesellschaftliche Zusammenleben elementar ist: Die Strafsanktion zieht den Täter aufgrund seiner Schuld an der Tat zur Verantwortung. Dabei unterscheidet es verschiedene Grade von Schuld, die für die Bemessung der Strafe ausschlaggebend sind. Dieses Prozedere gewährleistet ein gerechtes Strafen – und zwar sowohl im Interesse der Gesellschaft als auch in dem des Bestraften. Daher stellt das Schuldprinzip, wie ich zeigen werde, einen Grundpfeiler der Institution Strafe dar.

1.1 Überblick über die folgenden Kapitel Für eine Analyse des strafrechtlichen Schuldprinzips sind zwei Debatten relevant, die ineinandergreifen. Zunächst stellt sich die übergeordnete Frage nach der Legitimation der Institution Strafe. Das Strafrecht verfügt über die härtesten Sanktionen, die ein Staat gegenüber seinen Bürgern verhängen kann. Das Strafrecht kann die stärksten Eingriffe in die Rechte der Bürger vornehmen, wie z. B. mit der (lebenslangen) Freiheitsstrafe in das mit Artikel 11 des Grundgesetzes konstatierte Recht auf Freizügigkeit.2 Die Reaktion auf Verbrechen in Form von Strafe kann daher nicht einfach als gesetzt oder als intuitiv überzeugend3 postuliert werden, sondern sie muss begründet werden. Zur Diskussion steht in diesem Kontext das zugrunde liegende Konzept der strafrechtlichen Schuld: Was bedeutet strafrechtliche Schuld und ist diese zur Begründung der Institution Strafe tragfähig? Ist der Schuldausgleich ein angemessener Strafzweck oder gibt es Strafzwecke, die eine überzeugendere Legitimation von Strafe leisten? Hier werden von Kritikern die Strafzwecke der Spezial‑ und Generalprävention ins 2

 „Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet“ (Art. 11 (1) GG).  Es ist nicht ausreichend, so Walker, zu argumentieren, “that the duty to punish is something which we simply ‘intuit’; that is, perceive rather than infer by reasoning” (Walker 1991, S. 72). 3

1.1 Überblick über die folgenden Kapitel

3

Feld geführt, die, konsequent zu Ende gedacht, die Frage nach der Schuld des Täters überflüssig machen. Neben der Diskussion um die Straftheorien fordert des Weiteren die Willensfreiheitsproblematik das strafrechtliche Schuldprinzip heraus. Ist ein Schuldstrafrecht wirklich zu rechtfertigen, wenn die Freiheit des Willens noch immer – aktuell vermehrt auch durch den Rekurs auf Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften – in Frage gestellt wird? In Kapitel 2 wird zunächst die Debatte um eine tragfähige Straftheorie aufgegriffen und herausgearbeitet, inwiefern das Schuldprinzip für die Legitimation der Institution Strafe grundlegend ist. Vertreter der fortschrittlich und zukunftsorientiert auftretenden Präventionstheorien betrachten das Schuldprinzip als atavistisches Relikt des Vergeltungsdenkens und sprechen diesem Glaubwürdigkeit und Effektivität ab. Die vielfältigen kritischen Positionen bewegen sich bspw. von der Betrachtung des Schuldprinzips als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung von Strafe4 über die Interpretation des Schuldprinzips im Kontext generalpräventiver Zweckmäßigkeit5 bis hin zu der radikalen Forderung nach einer generellen Abschaffung des Schuldprinzips und der Realisierung einer reinen Erfolgshaftung6 oder eines tatbezogenen Maßregelrechts.7 Die Analyse der verschiedenen zur Diskussion stehenden Prinzipien und Strafzwecke wird jedoch aufzeigen, dass eine Bemessung der Sanktion allein nach präventiven Aspekten die Rechte des Täters massiv beschneidet. Nur das Schuldprinzip leistet eine angemessene Eingriffsbegrenzung gegen Rechtswillkür und Strafungerechtigkeit und verhindert, dass Täter – und potentielle Täter – aus gesellschaftlichen Sicherheitsbedürfnissen heraus zu Demonstrationsobjekten kriminalpolitischer Durchsetzungsfähigkeit werden. Einige Straftheorien erkennen diese Bedeutungsebene des Schuldprinzips an und kombinieren sowohl präventive Strafzwecke als auch eine Eingriffsbegrenzung dieser durch das Schuldprinzip in einer Vereinigungstheorie zur Legitimation der Institution Strafe. Dennoch weisen die meisten dieser Vereinigungstheorien das Schuldprinzip als Legitimationsgrundlage für die Institution Strafe zurück. Das Schuldprinzip wird in diesen Theorien darauf beschränkt, eine Grundlage für die Strafzumessung zu bieten, während die Legitimation der Strafe ausschließlich auf der Basis des Präventions-

4 Roxin

2006, FN 9, S. 855; vgl. Kapitel 2.5.2 Die Konzeption Claus Roxins.  Merkel bspw. argumentiert in diesem Sinne (Merkel 2008, S. 126 f.): „Daraus ergibt sich, dass Aufgabe und zugleich Bedeutung der strafrechtlichen Reaktion vorrangig die ‚Reparatur‘ der gebrochenen Norm ist […]. Die Fairness solcher sanktionierenden Belastungen kann zu bejahen sein, auch wenn der Täter diese im strikten Sinn persönlich nicht verdient hat.“ Vgl. bspw. auch Jakobs 1976. 6 Vgl. bspw. Wootton 1981; vgl. Kapitel 2.4.2  Die Kritik am Schuldprinzip: das strikte Präventionsmodell Barbara Woottons. 7  Vgl. bspw. Baurmann 1987 oder Merkel 2006 und 2012; vgl. Kapitel 2.3 Die Kritik an der Vergeltungstheorie und am Schuldprinzip. 5

4

Kapitel 1: Einleitung

gedankens geleistet wird. Ich werde einen Ansatz8 vorstellen, wie die Institution Strafe vergeltungstheoretisch begründet werden kann, das Schuldprinzip seine elementare Funktion behält und zugleich präventive Aspekte Beachtung finden. Kapitel 3 behandelt die andere für das Schuldprinzip zentrale Debatte um die Relevanz der Willensfreiheitsdiskussion für ein Schuldstrafrecht und zeigt auf, dass die Gegenüberstellung „Schuld oder Determinismus“ nicht greift. Die Kritik am Vergeltungs‑ und Schuldstrafrecht wurde schon im 19. Jahrhundert mit dem Argument untermauert, dass diese mit der Annahme des Determinismus nicht vereinbar seien. Aktuell wird diese Kritik durch die Annahme eines neuronalen Determinismus spezifiziert. Im Rekurs auf Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften fordern Kritiker bspw., die Unterscheidung von schuldfähig und schuldunfähig aufzuheben, da der „gesunde“ und somit schuldfähige Täter bei seiner Tat nicht weniger determiniert sei als der „kranke“ und daher schuldunfähige.9 Ich begegne dieser Kritik mit einer Analyse dessen, was der strafrechtliche Schuldvorwurf überhaupt aussagt. Ein Grund, warum das Schuldprinzip immer wieder der Kritik ausgesetzt ist, wird darin gesehen, dass im Strafgesetzbuch nicht näher definiert ist, was unter Schuld verstanden wird („schuldig ist, wer …“). Zwar ist zum einen mit § 46 StGB die grundlegende Funktion des Schuldprinzips verankert: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“. Zum anderen sind dort Schuldausschließungs‑ und Entschuldigungsgründe aufgeführt, die festlegen, in welchen Fällen ein Schuldvorwurf strafrechtlich nicht legitimiert ist, bzw. der Täter entschuldigt wird. Im Strafgesetzbuch ist demnach keine positive Definition von Schuld zu finden, sondern es geht ausschließend (negativ) vor.10 Diese fehlende bzw. mangelhafte inhaltliche Definition von Schuld führt im Rahmen der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion um den Schuldbegriff sowohl zu verschiedenen konkurrierenden Konzeptionen, um das Schuldprinzip tragfähig zu untermauern, als auch zum Versuch, das Schuldprinzip auszuhebeln. Doch der Blick in die Strafrechtsdogmatik und die Analyse des Strafgesetzbuches zeigen, dass das Schuldmoment dem Täter positiv zuschreibt, dass er wusste und wollte, was er tat. Dabei werden verschiedene Stufen von Wissen und Wollen differenziert und dem Täter zugesprochen. Diese stellen, so möchte ich zeigen, gegenüber der Willensfreiheitsproblematik eine strafrechtliche Binnendifferenzierung dar, die unabhängig davon erfolgt, ob die Frage nach der Willensfreiheit bejaht oder verneint wird.

 8 Pawlik 2004 (a); vgl. Kapitel 2.5.4  Die freiheitstheoretische Vergeltungstheorie Michael Pawliks.  9  Vgl. bspw. Singer 2004, S. 63 oder Markowitsch 2004, S. 164 ff. 10 Schreiber / Rosenau 2009, S. 79.

1.1 Überblick über die folgenden Kapitel

5

Die spezifisch strafrechtliche Analyse ergänzt den Blick in die alltägliche soziale Praxis, denn diese funktioniert nach denselben Mechanismen.11 Verabreden sich bspw. zwei Freundinnen, am Abend gemeinsam ins Kino zu gehen, und verspätet sich eine der beiden, wird die andere ihr vorwerfen: „Du bist schuld daran, dass wir zu spät kommen.“ Die Menschen erwarten voneinander, dass Vereinbarungen und Regeln eingehalten werden. Wenn dies nicht der Fall ist, wird derjenige, der der Vereinbarung nicht nachgekommen ist oder die Regel gebrochen hat, zur Verantwortung gezogen. Dieser Mechanismus ist grundlegend für das soziale Zusammenleben. Ebenfalls parallel zum Strafrecht wird in bestimmten Ausnahmen auch davon abgesehen, Schuld zuzusprechen. Wenn sich bspw. die Freundin deshalb verspätet hat, weil ihr Fahrrad einen Platten hatte oder die U-Bahn aufgrund eines Unfalles ausfiel, dann wird die andere ihr keine Schuld geben bzw. ihre Verspätung entschuldigen. Doch würde die Freundin argumentieren, sie habe noch am Computer gespielt, sie hätte damit nicht aufhören können, aber daran hätte sie keine Schuld, da ihr Wille nicht frei gewesen sei, dann würde diese Argumentation den Vorwurf der anderen nicht beeinflussen. Sie würde von ihrer Freundin, abgesehen von bestimmten Umständen, erwarten, dass diese sich an Absprachen halten könne, und ihr bei einem Bruch der Vereinbarung die Schuld dafür anlasten. Die Mechanismen der alltäglichen sozialen Praxis und ihre im Strafrecht erkennbaren Parallelen belegen meine These, dass die Willensfreiheitsdebatte für das Schuldprinzip nicht von Relevanz ist und auch die spezielle Kritik des Neurodeterminismus hier nicht greift. In Kapitel 4 wird die Analyse des Strafrechts und der Strafrechtsdogmatik ergänzt durch den Blick in die konkrete Rechtspraxis. Der Vergleich von Urteilen aus verschiedenen Jahren zeigt, dass sich die Auffassung davon, wann Schuldunfähigkeit vorliegt, mehrfach verändert hat. Das wird von Kritikern als Indiz dafür gewertet, dass das Schuldprinzip insgesamt fragwürdig ist. Doch meine These ist, dass die Auffassung davon, was strafrechtliche Schuld ist, wandelbar ist und sein muss, um sich ändernden Auffassungen von rechtlichen Normen und neuen Erkenntnissen über die Voraussetzungen von normgemäßem und abweichendem Verhalten anpassen zu können; der Grundgedanke des Schuldprinzips aber und seine elementare Funktion im Strafrecht bleiben davon unberührt. Kapitel  5 fasst schließlich die wesentlichen Erkenntnisse dieser Studie zusammen, welche die elementare Bedeutung des Schuldprinzips für die Institution Strafe belegen.

11  Ich werde mich bei meiner Argumentation wesentlich auf Peter Strawson und seinen Aufsatz Freedom and Resentment beziehen (1962, wiederabgedruckt 1974).

6

Kapitel 1: Einleitung

1.2 Der strafrechtliche Schuldbegriff Um die verschiedenen Facetten der Diskussion um den Schuldbegriff besser unterscheiden zu können, differenziert die Strafrechtswissenschaft zwischen materiellen und formellen Aspekten des Schuldbegriffes bzw. zwischen Schuldidee und Rechtsanwendungsschuld.12 Mit dem Begriff der Schuldidee werden die Debatten darüber bezeichnet, was das Phänomen strafrechtlicher Schuld (materiell) bedeutet. In diesem Kontext sind die oben beschriebenen Aspekte zentral, ob der Gedanke des Schuldausgleichs zur Legitimation der Institution Strafe tragfähig ist und ob der Schuldvorwurf Willensfreiheit voraussetzt. Diese Debatten zeichnen sich durch ihren übergeordneten bzw. der Strafrechtspraxis vorgeordneten Charakter aus. Sie berühren nicht nur strafrechtliche oder generell rechtliche Fragestellungen, sondern sind auch für andere Disziplinen von Interesse, wie aktuell z. B. für die Philosophie oder die Psychologie und die Neurowissenschaften. Auf dieser Stufe wird nicht nach einem „Schuldbegriff“ als Element einer Dogmatik des positiven Rechts gefragt, sondern nach der Idee der Schuld. […] Charakteristisch für diesen an der Idee orientierten Ansatz ist es, daß die Antwort mit den Mitteln der Strafrechtsdogmatik allein nicht gegeben werden kann, daß vielmehr stets eine Rückführung auf übergreifende Prinzipien nötig ist, namentlich solche rechtsphilosophischer, anthropologischer oder soziologischer Art.13

Die Debatten um die Schuldidee beschreiben die inhaltliche Verständigung darüber, ob Strafe als Reaktion auf die Schuld des Täters gerechtfertigt und widerspruchsfrei ist. Der Begriff der Rechtsanwendungsschuld hingegen bezeichnet die Diskussion um die positiv-rechtliche (formelle) Ausgestaltung des Schuldprinzips und wird wiederum unterteilt in das Moment der Strafmaßschuld und das der Strafbegründungsschuld.14 Die Strafmaßschuld bezieht sich auf das, was in § 46 StGB definiert ist: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe.“ Sie beinhaltet die Aspekte, die für die Bemessung der Höhe der Strafe ausschlaggebend sind, sie ist „Anknüpfungstatbestand für die richterliche Strafzumessung“.15 Die Strafbegründungsschuld hingegen ist „Anknüpfungstatbestand[…] für die Strafverhängung“, sie bezieht sich darauf, welche Schuldmerkmale für das Urteil auschlaggebend sind.16 Die elementare Funktion des Schuldmerkmals ist, dass es sowohl Anknüpfungspunkt für die Begründung der Strafverhängung 12 Achenbach 1974, S. 2 ff.; ebenso Lenckner / Eisele 2010, RN 107, S. 181 ff. Diese Unter­ scheidung hat in der Strafrechtswissenschaft Befürworter und Kritiker (Achenbach 1974, S. 2 ff.; vgl. auch Roxin 2006, FN 54, S. 876 f.). 13 Achenbach 1974, S. 3. 14  Achenbach 1974, S. 3 f. 15  Achenbach 1974, S. 4. 16 Achenbach 1974, S. 4 f.

1.2 Der strafrechtliche Schuldbegriff

7

ist als auch für die Bemessung der Strafsanktion.17 Der Begriff der Rechtsanwendungsschuld, bestehend aus Strafbegründungsschuld und Strafmaßschuld, diskutiert die Voraussetzungen, um die angemessene Strafe P für die Schuld S des konkreten Täters T im Urteil U zu finden. Man könnte den drei genannten Bereichen – Schuldidee, Strafbegründungsschuld und Strafmaßschuld  – drei unterschiedliche Fragen zuordnen, um die Unterschiede plakativ zu bezeichnen: Die Schuldidee gibt eine Antwort auf die Frage, inwiefern es überhaupt legitim ist, Strafe als Reaktion auf die Schuld des Täters zu verhängen. Die Strafbegründungsschuld klärt die Frage, ob in einem konkreten Fall Strafe verhängt werden kann. Und die Strafmaßschuld beantwortet die Frage, welche Strafe in dem konkreten Fall verhängt werden kann.18 Auffallend ist das Verhältnis der beiden Bereiche: Einerseits erfolgt die Diskussion um die Schuldidee weitgehend losgelöst von der Rechtspraxis, andererseits ist ihr Einfluss auf die positiv-rechtliche Umsetzung des Schuldprinzips nicht zu unterschätzen, wie insbesondere die anhaltende Debatte um die Relevanz der Willensfreiheitsproblematik für das deutsche Schuldstrafrecht zeigt. Trotz der bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Debatte um Determinismus und Indeterminismus19 und der seit den 1980er-Jahren verstärkt mit dem Rekurs auf Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften20 geführten Diskussion um die Willensfreiheit ist die tatsächliche Praxis der persönlichen Schuldzuweisung und der strafbegründenden und strafbegrenzenden Funktion des Schuldmerkmals im deutschen Strafrecht bislang beibehalten worden.21 Die Diskussion um die positiv-rechtliche Umsetzung des Schuldbegriffes wird in erster Linie durch strafrechtsdogmatische und kriminologische Fragen geprägt. Das spezifische differenzierende Moment liegt damit in der Gültigkeit und Verbindlichkeit des gesetzten Rechts, welche die Strafrechtsdogmatik im Gegensatz zur Strafrechtsphilosophie zur Beschränkung auf Aussagen über unmittelbar anwendbare, geltende oder doch Gültigkeit intendierende, Regelungen zwingt.22

Aber auch wenn die Debatten um die Schuldidee durch einen übergeordneten Charakter ausgezeichnet sind, so fordern sie dennoch auch die Auseinandersetzung um die positiv-rechtliche Ausgestaltung des Strafrechts heraus. Es fällt […] auf, daß die Meinungsverschiedenheiten über das Vorhandensein menschlicher Freiheit, die noch von Achenbach dem Bereich der metajuristischen Schuldidee zugerechnet wurden, in allerletzter Zeit unversehens in die Strafbegründungsschuld und auch die Strafzumessungsschuld übergreifen. Etwa gleichzeitig mit dem Aufkommen der strafzweckorientierten Schuldauffassung wird nun beim Rechtsanwendungsbegriff der 17

 Achenbach 1974, S. 4 f.  Vgl. Achenbach 1974, S. 5. 19 Vgl. die Darstellung von Holzhauer 1970. 20  Keil 2009, S. 140. 21  Vgl. Achenbach 1974, S. 7 f.; auch Roxin 1979, S. 279. 22 Achenbach 1974, S. 8. 18

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Kapitel 1: Einleitung

Schuld in verstärktem Maße danach gefragt, was die materielle Substanz dieses Begriffs ausmacht, was sich inhaltlich hinter der „Vorwerfbarkeit“ verbirgt.23

Insbesondere die Auseinandersetzung um die Willensfreiheit, die noch immer intensiv geführt wird, zeigt, dass die Kontroversen um die Schuldidee – in diesem Fall die Diskussion darüber, ob für das Konzept strafrechtlicher Schuld die Frage nach der Willensfreiheit von Relevanz sei – sehr wohl eine Stellungnahme auch der Rechtspraxis herausfordern. In dieser Studie orientiere ich mich an der funktionalen Differenzierung24 von Schuldidee und Rechtsanwendungsschuld, um die relevanten Aspekte einer Analyse des Schuldprinzips methodisch besser zuordnen zu können. Ziel meiner strafrechtsphilosophischen Analyse ist, aufzuzeigen, dass die Konzeption von Strafe als Ausgleich der Schuld des Täters legitim und widerspruchsfrei ist. Zentral sind dafür die auf der Ebene der Schuldidee geführten Debatten um die Legitimation der Institution Strafe und die Relevanz der Willensfreiheitsproblematik für das Schuldstrafrecht (Kapitel 2 und 3). Um aber die Tragfähigkeit des Schuldprinzips umfassend beurteilen zu können, ist auch der Blick in die Rechtsanwendung erforderlich. Daher werde ich auf der Ebene der Strafbegründungsschuld anhand der Schuldunfähigkeitsbeurteilung exemplarisch darstellen, dass das Schuldprinzip auch in der Strafrechtspraxis überzeugt (Kapitel 4). Mit diesem Argumentationsgang werde ich meine These belegen, dass das Schuldprinzip eine elementare Funktion innerhalb des Strafrechts hat und sich gegenüber seinen Kritikern behauptet.

1.3 Überblick über den Forschungsstand Die Diskussion um die Legitimation der Institution Strafe wird sowohl innerhalb der Strafrechtswissenschaft als auch in der Philosophie geführt. In der strafrechtswissenschaftlichen Debatte der Straftheorien spielt das Schuldprinzip eine zentrale Rolle: Da das Schuldprinzip mit seiner Forderung nach einem Ausgleich der Schuld durch Strafe als ein Prinzip der Vergeltungstheorie betrachtet wird, und da sich das deutsche Schuldstrafrecht noch immer zum Schuldprinzip bekennt, sind die Fragen nach der Tragfähigkeit des Schuldprinzips und der Legitimation von Strafe aufs engste verknüpft.

23 Tiemeyer 1988, S. 529 f. (Hervorhebung im Original); vgl. auch Roxin 1979, S. 280: „Seit einigen Jahren beginnt sich dieses Bild zu verschieben. Es wird auch beim Rechtsanwendungsbegriff der Schuld […] in verstärktem Maße danach gefragt, was die materielle Substanz dieses Begriffs ausmacht, was sich inhaltlich hinter der ‚Vorwerfbarkeit‘ und dem ‚Maß der Tatschuld‘ verbirgt; und aus den Antworten werden sehr konkrete Folgerungen abgeleitet, die für die Rechtspraxis erhebliche Bedeutung gewinnen könnten.“ 24 Achenbach 1974, S. 6.

1.3 Überblick über den Forschungsstand

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Auffällig ist, dass die philosophische Diskussion um die Legitimation staatlichen Strafens in der jüngeren Zeit fast ausschließlich in der angloamerikanischen Fachliteratur geführt wird (Philosophy of Punishment).25 Diese findet hingegen kaum Resonanz in der deutschsprachigen Fachliteratur. Die Beiträge zur Philosophy of Punishment werden wenig in der strafrechtswissenschaftlichen Debatte, die in Deutschland um die Straftheorien geführt wird, rezipiert und selten in der deutschsprachigen Philosophie aufgegriffen.26 Straftheorien sind kaum ein Thema der deutschsprachigen zeitgenössischen Philosophie. Ebenfalls bemerkenswert ist, dass in der (angloamerikanischen) philosophischen Diskussion der Straftheorien das Schuldprinzip27 wiederum nicht die zentrale Rolle spielt wie in der Diskussion der (deutschsprachigen) Strafrechtswissenschaft. Der Fokus liegt hier auf der Gegenüberstellung von konsequentialistischen, präventiven Erwägungen und deontologischen, retributiven Erwägungen. Auch im deutschsprachigen philosophischen Diskurs wurde die Bedeutung des strafrechtlichen Schuldprinzips bislang kaum einer eigenständigen Analyse unterzogen.28 Die deutschsprachige Philosophie nähert sich dem Thema über die Willensfreiheitsdiskussion. Da Entscheidungsfreiheit und Anders-handeln-Können  – indeterministisch verstanden – als notwendige Bedingung von Verantwortung und Schuld diskutiert werden, erhält auch die Frage nach dem strafrechtlichen Kontext in diesem philosophischen Diskurs immer stärkere Beachtung und Bedeutung.29 Die Debatte um die Freiheit des menschlichen Willens gewinnt daher vermehrt auch an Aktualität für die strafrechtswissenschaftliche Diskussion um das Schuldprinzip, was die Zunahme der strafrechtswissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema seit den 1980er-Jahren eindrücklich beweist.30 Auffällig ist wiederum, dass die Willensfreiheitsfrage – wie auch der Schuldbegriff – in der Philosophy of Punishment kaum thematisiert wird. So wird zwar in der Diskussion des zeitgenössischen Retributivismus (new retributivism / modern 25  Vgl. exemplarisch aus der englischsprachigen Literatur: Acton 1969; Ezorsky 1972; Gross/ von Hirsch 1981; Honderich 2006; Ten 1987; Walker 1991. 26 Eine der wenigen deutschsprachigen Untersuchungen stellt bspw. die von Jean-Claude Wolf dar. Wolf bemerkt in seiner Untersuchung ebenfalls diese Auffälligkeit (Wolf 1992, S. 11). 27 Im englischen Strafrecht ist die Frage nach der strafrechtlichen Zurechnung durch das Element der mens rea (guilty mind) geregelt und wird (wie das Schuldprinzip im deutschen Strafrecht) intensiv diskutiert, bspw. in Gegenüberstellung zu der ebenfalls angewendeten strict liability, einer verschuldensunabhängigen Haftung (Näheres dazu in Kapitel 2.4.2 Die Kritik am Schuldprinzip: das strikte Präventionsmodell Barbara Woottons). 28  Zwar gibt es einige philosophische oder interdisziplinäre Untersuchungen zum Thema Schuld, dabei wird jedoch die spezifisch strafrechtliche Perspektive entweder nicht in ihrer eigenständigen Problematik herausgearbeitet oder nur angeschnitten. Vgl. exemplarisch: Dorn 1976; Ebers 2009; Hubbertz 1992; Schiefelbein 2010. 29  Aus der Reihe der neueren Veröffentlichungen belegen dies sowohl philosophische als auch interdisziplinäre Arbeiten, wie z. B.: Fink / Rosenzweig 2012; Geyer 2004; Lampe/ Pauen/ Roth 2008; Pauen 2004; Pauen / Roth 2008; Schleim / Spranger /Walter 2009. 30  Einen guten Überblick über den Forschungsstand geben z. B. Lenckner / Eisele 2010, S.  179 f.

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Kapitel 1: Einleitung

retributivism) auf den wesentlichen Anknüpfungspunkt der Bestrafung an die Tat als freiwillig begangene (voluntary conduct) verwiesen31, ohne dabei aber die Brisanz dieser Forderung mit Blick auf die klassische Diskussion um die Freiheit des Willens anzumerken. Das Ziel dieser Studie ist, sowohl die Diskussion um die Straftheorien und die Frage nach der strafrechtlichen Relevanz der Willensfreiheitsproblematik zusammenzuführen, als auch eine Synthese der philosophischen Debatte einerseits und der strafrechtswissenschaftlichen andererseits zu bilden. Des Weiteren wird der deutschsprachige Diskurs um den angloamerikanischen ergänzt, da die Philosophy of Punishment auf der Seite der Philosophie einen wesentlichen Beitrag zu der Diskussion um die Straftheorien leistet. Doch auch wenn hier einschlägige Aspekte der angloamerikanischen Diskussion hinzugezogen werden, fokussiert diese Studie nur die Analyse des deutschen Schuldstrafrechts.

31  “[…] people are to be penalized only for acts which they freely decide to commit” (Walker 1991, S. 94; vgl. auch Ten 1987, S. 46).

Kapitel 2

Die Legitimation der Institution Strafe Die Diskussion um die Legitimation strafrechtlicher Sanktionen reicht weit zurück in die Auseinandersetzung um die Institution Strafe. Textlich belegt lässt diese sich zurückführen bis auf Platon. Im Dialog Protagoras führt Platon aus: Wer aber mit Vernunft sich vornimmt, einen zu strafen, der bestraft nicht um des begangenen Unrechts willen, denn er kann ja doch das Geschehene nicht ungeschehen machen, sondern des zukünftigen wegen, damit nicht ein andermal wieder, weder derselbe noch einer, der diesen bestraft gesehen hat, dasselbe Unrecht begehe. (Prot. 324b)

Diese Formulierung wird gern von Vertretern des Präventionsgedankens zitiert, da Platon hier zur Legitimation der Institution Strafe die Verhinderung zukünftiger Verbrechen, also Prävention, benennt: Wenn man, so die Argumentation, den Zweck der Bestrafung allein in der Bestrafung des begangenen Verbrechens sehe, so sei die Bestrafung rückwärtsgewandt und ausschließlich auf die Vergangenheit bezogen. Die Bestrafung müsse jedoch in die Zukunft blicken und sich nach einem vorwärtsgewandten Zweck richten: Nur die Verhinderung zukünftiger Verbrechen stelle einen legitimen Zweck staatlichen Strafens dar. Dies kennzeichnet in aller Kürze zwei Positionen, die sich bis heute als die konträren Lager in der Diskussion um die Rechtfertigung der Institution Strafe gegenüberstehen: die Vertreter eines Vergeltungsstrafrechts (Retributivismus) auf der einen und die eines Präventionsstrafrechts auf der anderen Seite. Im Kern zielt das Vergeltungsprinzip auf den Ausgleich des begangenen Verbrechens und das Präventionsprinzip auf die Verhinderung zukünftiger Verbrechen. Die auf dem Vergeltungsgedanken beruhenden Straftheorien werden auch als absolute Straftheorien gegenüber den relativen Straftheorien der Kriminalprävention bezeichnet. Die relativen Theorien, die für ein Präventionsstrafrecht plädieren, sehen die Legitimation des Strafens in einem „äußerlichen“ Zweck der Bestrafung: in den positiven Folgen für die Allgemeinheit durch die Verhinderung weiterer Verbrechen. Diese liefern die Rechtfertigung für die Institution Strafe und stellen zugleich den Maßstab dafür dar, wie die Sanktionen der Strafe zu gestalten sind, sodass sie die erwünschten Folgen bewirken. Die Frage nach der genauen Ausgestaltung des Strafensystems reduziert sich demnach zu einer Art von technischem Optimierungsproblem, und das Ausmaß seiner Aufgabenerfüllung ist – jedenfalls im Prinzip – empirisch nachprüfbar.1 1

 Vgl. exemplarisch Pawlik 2004 (a), S. 21.

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Eine strafrechtliche Sanktion ist dann gerechtfertigt, wenn sie den Zweck fördert, zukünftige Verbrechen zu verhindern. Diese, sich auf den Nutzen für die Gesellschaft und auf empirisch nachprüfbare Wirksamkeit berufende, Rechtfertigungsstrategie erklärt den „Plausibilitätsvorschuß“2, den die Präventionstheorien gegenüber dem Vergeltungsdenken auszeichnen. Die Präventionstheorien unterscheiden dabei, wie es bereits in der Formulierung Platons angedeutet ist, zwei Zielrichtungen der Wirkung: die Spezialprävention („damit nicht ein andermal wieder, […] derselbe […] dasselbe Unrecht begehe“, Prot. 324 b) und die Generalprävention („damit nicht ein andermal wieder, […] einer, der diesen bestraft gesehen hat, dasselbe Unrecht begehe“, Prot. 324 b). Die Spezialprävention richtet sich an den Täter selbst. Dabei wird die negative Spezialprävention, die auf die Sicherung des Täters (durch Wegsperren) zielt, von der positiven Spezialprävention unterschieden, die den Zweck der Institution Strafe darin sieht, mit den strafrechtlichen Sanktionen auf den Täter bessernd und resozialisierend zu wirken. Die Spezialprävention sieht die Wirkung der Strafe demnach entweder in der Unschädlichmachung oder der Behandlung des Täters.3 Die Generalprävention hingegen betrachtet den Zweck der Institution Strafe in ihrer Strafdrohung4, die an die Allgemeinheit gerichtet wird. Sie unterscheidet wiederum zwei Wirkungsbereiche: Die Generalprävention erhofft sich „in ihrer engen Fassung (nur) eine Abschreckung potentieller Straftäter, in ihrer weiten Fassung eine Verfestigung des Normbewußtseins aller durch Strafe und Strafvollzug“.5 Die negative Generalprävention beabsichtigt, durch die Androhung von Strafe und die entsprechende Ausgestaltung der Strafsanktion auf potentielle Täter abschreckend zu wirken. Die positive Generalprävention hingegen beabsichtigt, durch die entsprechende Ausgestaltung der Strafsanktion die Gültigkeit der Norm zu bestätigen und damit das Verhalten der (generell) normkonform handelnden Bürger, also deren Normtreue, zu bestärken und wird daher auch als Integrationsprävention6 bezeichnet. In der aktuellen angloamerikanischen Diskussion wird meist von utilitaristischen, teilweise auch von teleologischen7, anstatt von präventiven Straftheorien gesprochen. Dabei wird zudem weniger zwischen der Spezial‑ und der Generalprävention, sondern hauptsächlich zwischen der Abschreckungsfunktion (deterrence) und der Besserungsfunktion (reform) unterschieden.8 Dennoch ist das Schema, in dem die verschiedenen Varianten der Präventionstheorie betrachtet werden, konsistent: Die Bezeichnungen positiv und negativ bzw. 2 Vgl.

exemplarisch Pawlik 2004 (a), S. 22.  Vgl. Pawlik 2004 (b), S. 214. 4  Vgl. z. B. Stratenwerth 2011, RN 27, S. 12 oder Roxin 2006, RN 23, S. 79. 5 Hassemer 1990, S. 282. 6  Vgl. bspw. Pawlik 2004 (b), S. 214 oder Roxin 2006, RN 27, S. 81. 7  Vgl. z. B. Ezorsky 1972. 8 Koller 1979, S. 49. 3

Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

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Besserung und Abschreckung stellen die Strafzweckbestimmungen9 dar, sie beschreiben die unmittelbare Strafwirkung, also „die Art und Weise wie die Prävention von Delikten bewerkstelligt werden soll“10. Die Bezeichnungen Spezial‑ bzw. Generalprävention beziehen sich zusätzlich auf die Endzweckbestimmungen11, diese bezeichnen den jeweiligen Adressaten, auf den die verschiedenen Maßnahmen zielen: den individuellen Täter, die potentiellen Täter oder die Allgemeinheit. Die wirkungsmächtigste Konzipierung der negativen Generalprävention innerhalb der deutschen Strafrechtswissenschaft stammt von Paul Johann Anselm von Feuerbach. Im ersten Band seiner Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts von 1799 hat Feuerbach seine Theorie des psychologischen Zwanges am ausführlichsten dargestellt. Die Übelzufügung der Strafsanktion sei, so Feuerbach, nur gerechtfertigt, wenn sie der „Sicherung“, dem „Schutz der vollkommenen Rechte“ diene (S. 38). Diese Sicherungsaufgabe bzw. dieses „Sicherungsrecht“ (S. 38) der Institution Strafe beziehe sich nun, so die wesentliche Präzisierung Feuerbachs, nicht nur auf diejenigen Personen, die bereits Verbrechen begangen hätten, sondern auf alle Personen, die potentiell die Sicherheit der Gesellschaft gefährden würden. Die zentrale Frage sei, so Feuerbach, wie der Staat diese Sicherungsaufgabe bewerkstelligen solle, da er schlecht „alle Bürger an Ketten legen“ (S. 40) könne. Die einzige Möglichkeit sei, auf „das Begehrungsvermögen“ (S. 40) der potentiellen Verbrecher zu wirken: […] der Staat muß sich solcher Mittel bedienen, durch welche es den Bürgern psychologisch unmöglich wird, zu schaden; durch welche sie bestimmt werden, keine Rechtsverletzungen zu begehen, sich zu keiner zu entschliessen. (S. 40, Hervorhebung im Original)

Das Handeln des Menschen sei, so Feuerbach weiter, determiniert durch Lust und Unlust, die eine Handlung auslösen (S. 43), denn das Handeln des Menschen folge jeweils der stärksten „Triebfeder des Begehrens“ (S. 43). Ein Mensch sei somit nur entgegen seiner Triebfeder beeinflussbar, indem ihm eine stärkere Triebfeder entgegengesetzt werde (S. 44 f.). Die Übertretungen werden daher verhindert, wenn jeder Bürger gewiß weis, daß auf die Übertretungen ein größeres Uebel folgen werde, als dasjenige ist, welches aus der Nichtbefriedigung des Bedürfnisses nach der Handlung (als einem Object der Lust) entspringt. (S. 45 f., Hervorhebungen im Original)

Nur eine wirksame Strafandrohung und eine entsprechende Strafverfolgung würden, so die Theorie Feuerbachs, Verbrechen effektiv verhindern: „Der Zweck des Gesetzes und der in demselben enthaltenen Drohung, ist daher Abschreckung von der mit dem Uebel bedingten That“ (S. 49, Hervorhebungen im Original).  9

 Koller 1979, S. 56.  Koller 1979, S. 49. 11 Koller 1979, S. 56. 10

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Die Legitimation zu diesem Verfahren wiederum betrachtet Feuerbach dem Strafgesetz unmissverständlich aufgrund seiner Sicherungsfunktion gegeben: Welches ist nun der allgemeine Rechtsgrund, aus welchem der Staat seine Glieder zwingen kann? Er ist eine Gesellschaft zum Schutz der Rechte, und alle Rechte, die er besitzt, hat er nur um dieses Zwecks willen. (S. 31)

Feuerbach gilt insofern als der Gewährsmann der relativen Straftheorien: Der kriminalpolitische Nutzen der Strafsanktion legitimiere die Institution Strafe.12 Die verschiedenen absoluten Theorien zu strukturieren ist schwieriger, da eine Vielzahl von sich teilweise überschneidenden Denkmodellen existiert – je nachdem, durch welche Rahmentheorie der Gedanke der Vergeltung legitimiert wird. In einführenden Darstellungen werden oft Gerechtigkeitstheorie und Sühnetheorie13 gegenübergestellt und die absoluten Theorien auf ihre klassischen Quellen zurückgeführt: die Idealistische Philosophie Immanuel Kants und Georg Wilhelm Friedrich Hegels und die Einflüsse der christlichen Theologie. Gemäß der Gerechtigkeitstheorie gleicht „die Strafe […] sozusagen die durch das Delikt verursachte Störung der sozialen Ordnung aus und stellt den Zustand der Gerechtigkeit wieder her“.14 Die Sühnetheorie betrachtet „die Bestrafung eines Delinquenten als dessen Versöhnung mit der durch das Delikt ‚beleidigten‘ Gesellschaft“.15 In beiden Theorien stellt die Strafe einen Ausgleich der begangenen Tat dar und wird entweder beschrieben als Akt der Gerechtigkeit oder der Versöhnung. Die Sühnetheorie wird auch als Umformulierung16 der Vergeltungstheorie beschrieben und steht teilweise stärker in der Kritik als die Gerechtigkeitstheorie, da die „Versöhnung mit der Gesellschaft […] als Hauptaufgabe der Strafe heute nicht mehr ausgegeben“17 werde. Daneben gibt es neoabsolute Denkmodelle, die das Vergeltungsdenken durch z. B. kommunikationstheoretische18 oder freiheitstheoretische Konzeptionen19 untermauern.

12 Vgl.

Naucke 1962, S. 50. z. B. Roxin 2006, RN  2 ff., S. 70  ff; Baumann/Weber/Mitsch 2003, RN  50, S. 24; Jakobs 1991, S. 15–20. 14 Koller 1979, S. 47. 15 Koller 1979, S. 47. 16  Vgl. z. B. Roxin 2006, RN 10, S. 73. 17  Jakobs 1991, S. 19; vgl. auch Roxin 1987, S. 357: „Versteht man aber den Gedanken des vergeltenden Schuldausgleichs so, dass der Täter durch eine Verbüssung der Strafe von Schuld und Vorwurf wieder gereinigt wird und hernach als entsühnt in die Gesellschaft zurückkehrt, so wäre das eine der sozialen Realität widersprechende Fiktion. Denn jeder weiss, dass Vorstrafen gesellschaftlich diskriminieren und dass die schwersten Zeiten für einen Straftäter oft erst nach der Entlassung aus der Strafanstalt beginnen.“ 18  Vgl. exemplarisch Jakobs 2008 und Hörnle 1999 und 2011 (a), S. 7. R. Antony Duff hat 2001 eine vieldiskutierte retributive Straftheorie vorgelegt, die er kommunikationstheoretisch begründet (“as communicating to offenders the censure that their crimes deserve”, Duff 2001, S. 79) und dabei Strafe als weltliche Buße (“secular penance”, ebd. S. 106) begreift. 19 Vgl. exemplarisch Pawlik 2004 (a). 13 Vgl.

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Der gemeinsame Nenner der absoluten Theorien und ihr wesentlicher Unterschied zu den relativen Theorien liegen darin, dass der Strafe ein immanenter Wert zuerkannt wird.20 Die Legitimation von Strafe beruht nicht auf äußerlichen, mit der Strafe zu erzielenden Zwecken, sondern auf dem Akt der Bestrafung selbst: In dem Ausgleich des Verbrechens durch die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen liegt der immanente Wert und damit die Rechtfertigung der Institution Strafe. Die Legitimation erfolgt demnach bei den absoluten Straftheorien über eine deontologische, bei den relativen hingegen über eine konsequentialistische Argumentation. Die zentrale Hervorhebung des intrinsischen Wertes der Institution Strafe wird jedoch von Kritikern als zweckfreie Idealisierung interpretiert („Die Strafe dient also zu nichts, sondern trägt ihren Zweck in sich selbst.“21), die lediglich metaphysische oder religiöse Ideen verkörpere, welche in offensichtlichem Widerspruch zu den gesellschaftlich notwendigen Aufgaben des Strafrechts stünden.22 Doch schon die Ausführungen von Immanuel Kant und Georg W. F. Hegel über die Legitimation der Institution Strafe können nicht eindeutig als absolute Straftheorie bezeichnet werden.23 Bei beiden Philosophen findet sich eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem Thema Strafe. Die meisten Bemerkungen über die Institution Strafe, auf die sich die Interpreten von Immanuel Kant beziehen, finden sich in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten von 1797/1798. Der zentrale Begriff der Kantischen Rechtfertigung von Strafe ist „Gerechtigkeit“24: Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ, und, wehe dem! welcher die Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht, um etwas aufzufinden, was durch den Vorteil, den es verspricht, ihn von der Strafe, oder auch nur einem Grade derselben entbinde, nach dem pharisäischen Wahlspruch: „es ist besser, daß ein Mensch sterbe, als daß das ganze Volk verderbe“; denn, wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben.“ (A 196 f./B 226 f., Hervorhebung im Original)

Die Verwirklichung der Gerechtigkeit zeigt sich in dieser Formulierung Kants in der Tat als absolutes Ziel der Institution Strafe: Von diesem Ziel dürfe „kein Grad“ abgewichen werden. Analog zu dieser Forderung sieht Kant auch nur eine Möglichkeit für die Bemessung der Strafsanktion: Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) […], kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben; alle andere sind hin und her schwankend, und können, anderer sich einmischenden Rücksichten wegen, keine Angemessenheit mit dem Spruch der reinen und strengen Gerechtigkeit enthalten. (A 197 f./B 227 f., Hervorhebung im Original)

20

 Koller 1979, S. 47.  Roxin 1966, S. 377. 22 Vgl. Kapitel 2.3 Die Kritik an der Vergeltungstheorie und am Schuldprinzip. 23  Vgl. bspw. Avrigeanu, der von „den vielfach anzutreffenden so bezeichneten Zerrbildern der Straftheorien Kants und Hegels“ spricht (2006, S. 14); auch Hörnle 2011 (b), S. 17. 24 Vgl. dazu ausführlicher Avrigeanu 2006, S. 11 ff. 21

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Kant legitimiert die Institution Strafe hier eindeutig als Vergeltung im Sinne eines Talionsrechtes, da nur dieses ausgleichende Gerechtigkeit gewährleisten könne. Aus diesem Grund spricht sich Kant auch für die Todesstrafe aus, da es Verbrechen gebe, wo nur die Todesstrafe die angemessene Reaktion darstelle („Hat er aber gemordet, so muß er sterben.“ A 199/B 229, Hervorhebung im Original).25 Doch auch wenn diese Textstellen ein Bekenntnis zum Vergeltungsgedanken belegen, so ergänzt Kant in der zweiten Auflage von 1798 eine wesentliche Unterscheidung. Strafgerechtigkeit sei zwar das Ziel der Institution Strafe, dennoch zeige die Strafrechtspraxis, dass die Strafsanktion mitunter verschiedenen Anforderungen gerecht werden müsse. Die Strafgerechtigkeit (iustitia punitiva), da nämlich das Argument der Strafbarkeit moralisch ist (quia peccatum est), muß hier von der Strafklugheit, da es bloß pragmatisch ist (ne peccetur) und sich auf Erfahrung von dem gründet, was am stärksten wirkt, Verbrechen abzuhalten, unterschieden werden [….]. (B 171, Hervorhebung im Original)

Kant erkennt den Unterschied an zwischen der Anforderung an die Legitimation der Institution Strafe, die er nur als Vergeltungsstrafrecht möglich sieht, und aber der Anforderung an die Strafrechtspraxis, wo er unter pragmatischen Gesichtspunkten auch die Bedeutung präventiver Aspekte bemerkt („was am stärksten wirkt, Verbrechen abzuhalten“). Dementsprechend ist sich Kant auch bewusst, dass Gerechtigkeit in der Praxis meist „nicht nach dem Buchstaben möglich sein kann“ (A 198/B 228). Doch von der Anerkennung präventiver Aspekte im Rahmen der Strafrechtspraxis ist deutlich Kants Kritik an der Präventionstheorie als Legitimationsgrundlage der Institution Strafe zu unterscheiden. Seine vielzitierte Argumentation ist: Richterliche Strafe […] kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborne Persönlichkeit schützt, ob er gleich die bürgerliche einzubüßen gar wohl verurteilt werden kann. (A 196/B 226, Hervorhebung im Original)

Kant spricht sich vehement dagegen aus, den Gedanken der ausgleichenden Gerechtigkeit für die Erreichung eines bestimmten Zweckes aufzugeben. Die Legitimation der Institution Strafe ist für Kant nur als Wiedervergeltung denkbar, doch ihn nur als Vertreter einer absoluten Straftheorie zu betrachten, greift zu kurz. Die Rechtfertigung von Strafe, die Georg W. F. Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1821 skizziert, besteht aus zwei Argumenten, die 25  Als Reaktion auf eine Publikation von Cesare Beccaria von 1764 wird die Todesstrafe bereits unter den Zeitgenossen Kants kritisiert.

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in der Rezeption sowohl als eigenständige26 als auch als zu einer Argumentation gehörige27 Bestandteile interpretiert werden. In § 97 formuliert Hegel den bekannten Gedanken, dass das Verbrechen eine Verletzung des Rechts sei und somit nichts Positives, sondern etwas Negatives darstelle. Aufgabe der Strafe sei dementsprechend, auf diese Verletzung zu reagieren, also das Negative zu negieren. Durch ein Verbrechen wird irgend etwas verändert, und die Sache existiert in dieser Veränderung; aber diese Existenz ist das Gegenteil ihrer selbst und insofern in sich nichtig. Das Nichtige ist dies, das Recht als Recht aufgehoben zu haben. […] Die Tat des Verbrechens ist nicht ein Erstes, Positives, zu welchem die Strafe als Negation käme, sondern ein Negatives, so daß die Strafe nur Negation der Negation ist. Das wirkliche Recht ist nun Aufhebung dieser Verletzung, das eben darin seine Gültigkeit zeigt und sich als ein notwendiges vermitteltes Dasein bewährt. (§ 97)

Ein Beispiel kann den Hegelschen Gedanken verdeutlichen: Indem bspw. sich eine Person das Eigentum einer anderen nimmt, hebt diese damit das Recht auf Eigentum (Art. 14 (1) GG) auf. Ihre Tat negiert das Recht auf Eigentum. Die Aufgabe der Strafsanktion ist, das Recht „wiederherzustellen“ und dieses Verbrechen „aufzuheben“ (§ 99). Die Legitimation der Institution Strafe basiert dementsprechend auf der vorausgehenden Verletzung des Rechtes durch das Verbrechen. In § 100 führt Hegel den vielzitierten Gedanken aus, dass der Verbrecher mit der Strafsanktion „als Vernünftiges geehrt“ wird: Denn in seiner [des Verbrechers, J. E.-S.] als eines Vernünftigen Handlung liegt, daß sie etwas Allgemeines, daß durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er in ihr für sich anerkannt hat, unter welches er also als unter sein Recht subsumiert werden darf. […] Daß die Strafe darin [in der Tat des Verbrechers, J. E.-S.] als sein eigenes Recht enthaltend angesehen wird, darin wird der Verbrecher als Vernünftiges geehrt. (§ 100, Hervorhebung im Original)

Auch hier ein Gedankenbeispiel zur Verdeutlichung: Eine Person, die eine andere entführt, hebt mit dieser Tat das Recht auf Freizügigkeit auf (Art. 11 (1) GG) und daher ist es zugleich legitim, auch das Recht dieser Person auf Freizügigkeit zu verletzen, also diese mit einer Freiheitsstrafe zu belegen. Die Verletzung elementarer Grundrechte, wie die des Rechts auf Eigentum durch die Geldstrafe, des Rechts auf Freizügigkeit durch die Freiheitsstrafe  – und zur Zeit Hegels auch des Rechts auf Leben durch die Todesstrafe – diese Verletzungen legitimiert Hegel mit dem Argument, dass der Täter mit seiner Tat zuvor bereits eine Verletzung als „sein eigenes Recht“ proklamiert habe. Er müsse hinnehmen, dass er mit einer Verletzung belegt werde, wenn er selbst eine Verletzung sich als sein Recht zuvor herausgenommen habe. Becchi sieht genau darin den wesentlichen Zusammenhang der §§ 97 und 100. Während Hegel in § 97 erläutere, weshalb 26

 Vgl. bspw. Seelmann 2011. bspw. Becchi 2011.

27 Vgl.

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Strafe generell („an sich“) legitim sei, so führe er in § 100 aus, inwiefern diese auch insbesondere gegenüber dem konkreten Täter gerechtfertigt sei („ein Recht an den Verbrecher selbst“).28 Das Verbrechen fordert quasi die Verletzung des Täters durch die Strafsanktion, da es selbst Verletzung des Rechts ist. Diese Art der Reaktion orientiert sich am Handeln des Täters und, so die Formulierung Hegels, „ehrt den Verbrecher als Vernünftigen“. Genau dieser Gedanke gibt den Ausschlag, weshalb für Hegel die Institution Strafe nur vergeltungstheoretisch und nicht präventionstheoretisch legitimierbar ist. „Diese Ehre wird ihm nicht zuteil“, so Hegels explizites Argument gegen die Theorie Feuerbachs29, „wenn er nur als schädliches Tier betrachtet wird, das unschädlich zu machen sei, oder in den Zwecken der Abschreckung und Besserung“ (§ 100). Nur die Ausgestaltung der Strafsanktion als Wiedervergeltung nimmt den Täter und seine Handlung ernst. Die Legitimation der Strafsanktion ist darin gegeben, dass auf die Verletzung des Täters in gleicher Form reagiert wird: „Das Aufheben des Verbrechens ist insofern Wiedervergeltung, als sie dem Begriffe nach Verletzung der Verletzung ist […]“ (§ 101). Die Wiedervergeltung betrachtet Hegel dementsprechend als „strafende Gerechtigkeit“ (§ 103). Doch Hegel differenziert die Straftheorie der Wiedervergeltung in mehrfacher Hinsicht. In § 101 kritisiert Hegel die Gleichsetzung des Gedankens der Wiedervergeltung mit dem Talionsrecht  – möglicherweise in Abgrenzung zu Kant, der die Wiedervergeltung eindeutig als Talionsrecht begreift.30 Hegel ist der Ansicht, dass „die Gleichheit […] nur die Grundregel für das Wesentliche, was der Verbrecher verdient hat [darstelle], aber nicht für die äußere spezifische Gestalt dieses Lohns“. Der Gedanke der Wiedervergeltung beschreibe somit den Grundgedanken der Institution Strafe, als Zumessungsregel für die konkrete Ausgestaltung der Strafsanktion sei er jedoch ungeeignet, da die geforderte Gleichheit nicht immer verwirklicht werden könne. Des Weiteren betrachtet Hegel in § 218 die Bedeutung der Sozialgefährlichkeit einer Tat für die Bemessung der Strafsanktion und führt hier die generalpräventive Argumentation an, dass durch den Gesichtspunkt der Gefährlichkeit der Handlung […] einerseits die Größe des Verbrechens verstärkt wird; andererseits aber setzt die ihrer selbst sicher gewordene Macht der Gesellschaft die äußerliche Wichtigkeit der Verletzung herunter und führt daher eine größere Milde in der Ahndung desselben herbei. (§ 218, Hervorhebungen im Original)

28 Becchi

2011, S. 88.  In § 99 formuliert Hegel die Kritik an Feuerbach mit dem vielzitierten Bild des Hundes: „Es ist mit der Begründung der Strafe auf diese Weise, als wenn man gegen einen Hund den Stock erhebt, und der Mensch wird nicht nach seiner Ehre und Freiheit, sondern wie ein Hund behandelt. Aber die Drohung, die im Grunde den Menschen empören kann, daß er seine Freiheit gegen dieselbe beweist, stellt die Gerechtigkeit ganz beiseite.“ (§ 99) 30 Vgl. oben S. 24. 29

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Die Höhe der Strafsanktion sei, so Hegel, abhängig von der Konstitution der Gesellschaft. In einer Gesellschaft, in der bspw. weniger Verbrechen geschähen, könnten die Sanktionen somit auch milder ausgestaltet werden. Obwohl Hegel die Institution Strafe als Wiedervergeltung legitimiert, belegt diese Stelle, dass sich Hegel auch mit Argumenten der präventiven Straftheorien auseinandersetzt.31 In § 220 wendet sich Hegel schließlich gegen die Auffassung, dass Wiedervergeltung Rache bedeutet. Die Reaktion auf das Verbrechen habe nicht, so Hegel, „subjektive und zufällige Wiedervergeltung durch Rache zu sein“, sondern „wahrhafte Versöhnung des Rechts mit sich selbst“, genauer in objektiver Rücksicht als Versöhnung des durch Aufheben des Verbrechens sich selbst wiederherstellenden und damit als gültig verwirklichenden Gesetzes, und in subjektiver Rücksicht des Verbrechers als seines von ihm gewußten und für ihn und zu seinem Schutze gültigen Gesetzes, in dessen Vollstreckung an ihm er somit selbst die Befriedigung der Gerechtigkeit […] findet. (§ 220, Hervorhebung im Original)

Die Institution Strafe ist für Hegel demnach (vergleichbar zu Kant) nur als Wiedervergeltung legitim, da diese die Versöhnung sowohl des verletzten Gesetzes als auch des für die Verletzung verantwortlichen Täters leiste, indem sie die Gerechtigkeit wiederherstelle.32 Aber auch die Ausführungen Hegels über die Institution Strafe zeigen insgesamt eine differenzierte Auseinandersetzung mit verschiedenen, innerhalb der Straftheorie relevanten, Aspekten (Vergeltung, Talion und Prävention), so dass Hegel ebenfalls nicht eindeutig als Vertreter einer absoluten Straftheorie betrachtet werden kann. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass sowohl die Ausführungen Kants als auch die Hegels über die Legitimation der Institution Strafe stark fragmentarisch sind und kaum als eigenständige Straftheorie bezeichnet werden können. Beide Denker haben sich in ihren Schriften jedoch mit den zentralen Aspekten der Debatte – Vergeltung und Prävention – auseinandergesetzt. Neben der bis heute gängigen Gegenüberstellung von absoluten und relativen Straftheorien gibt es auch die Forderung, „die nicht-präventionsorientierten Ansätze als expressive oder kommunikationsorientierte Straftheorien zu bezeichnen“.33 Tatjana Hörnle markiert in ihrer Darstellung der Straftheorien34 zwei Kennzeichen der expressiven Straftheorien: Die Strafsanktion (1) beziehe sich im Rahmen einer expressiven Straftheorie „auf den angemessenen Umgang mit vergangenem Verhalten“35, weise also wesentlich retributive Elemente auf und (2)  habe eine kommunikative Funktion, die an „ein legitimes Interesse 31 Becchi

2011, S. 93.  Vgl. Becchi 2011, S. 92. 33  Hörnle 2011 (a), S. 57. Tatjana Hörnle ordnet weitere Strafrechtswissenschaftler der expressiven Straftheorie zu, wie bspw. Günther 2002, Jakobs 2008, Pawlik 2004  (a) und von Hirsch 2011. 34  Hörnle 2011 (a). 35 Hörnle 2011 (a), S. 29. 32

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

der Allgemeinheit oder der Straftatopfer anknüpfe[…]“.36 Hörnle zielt in ihrer Darstellung einerseits darauf ab, die noch immer vorherrschende Betrachtung nicht-präventionsorientierter Straftheorien als absolute und zweckfreie Theorien zu überwinden und andererseits fasst sie verschiedene Ansätze unter dem Begriff „expressive Straftheorien“ zusammen, die den retributiven Gedanken um Aspekte der positiven Generalprävention erweitern und so die klassische Gegenüberstellung von „absolut“ und „relativ“ aufweichen.37 Innerhalb der expressiven Straftheorien unterscheidet Hörnle normorientierte38 und personenorientierte39 Ansätze. Normorientierte expressive Theorien legitimierten Strafe dadurch, so Hörnle, dass sie die Strafsanktionen als „kommunikative Prozesse“ verstünden, die notwendig seien, „um eine Erosion der Norm zu verhindern“.40 Dabei bliebe jedoch die Rolle von Täter und Opfer als die wesentlichen Personen innerhalb dieses kommunikativen Aktes ausgeblendet.41 Personenorientierte expressive Straftheorien hingegen, so Hörnle weiter, würden dieses Defizit nicht aufweisen, da sie „auf andere Kommunikationspartner ab[stellten], nämlich nicht auf eine abstrakt gedachte Allgemeinheit, sondern auf die als Täter und / oder als Opfer beteiligten Personen“.42 Dementsprechend stellt Hörnle „das berechtigte Interesse von Straftatopfern an einem nicht trivialen, d. h. durch Übelszufügung verstärkten Unwerturteil“ in den Focus ihrer eigenen personenorientierten expressiven Straftheorie.43 Die wesentliche Bedeutung der Strafsanktion im Rahmen des kommunikativen Prozesses sei, so ihre Ansicht, das Urteil, das über das Unrecht gefällt werde, zu verdeutlichen. Daher könne auf die Verstärkung durch die Übelszufügung der Strafsanktion, so Hörnle, nicht verzichtet werden. Denn die Strafsanktion sei die sowohl gegenüber dem Täter als auch insbesondere gegenüber dem Opfer notwendige „Verstärkung und Ausdifferenzierung des kommunikativen Aktes“.44 Ihre Funktion sei, die „Verdeutlichung des Ernstes einer 36

 Hörnle 2011 (a), S. 57. ist der Ansicht, dass eine überzeugende Straftheorie nicht aus einem „eindimensionalen Erklärungsansatz“ entwickelt werden könne (1999, S. 387, vgl. auch 2011 (a), S. 60). 38  Dieser Richtung ordnet sie bspw. Jakobs (2008) zu. 39 Dieser Richtung ordnet sie Günther (2002) und von Hirsch (2011) zu und ihren eigenen Ansatz. 40  Hörnle 2011 (a), S. 31. In diesem Sinne formuliert bspw. Jakobs (2012, S. 13 f.): „Mit dieser Deutung als ‚Rede‘ und ‚Antwort‘ sind Straftat und Strafe auf der Ebene der Gesellschaft angekommen, als Kommunikationen über die normative Struktur der Gesellschaft.“ 41  Hörnle 2011 (b), S. 24. 42  Hörnle 2011 (b), S. 25. Von Hirsch bspw. betrachtet die normative Botschaft des Tadels als zentrales Element der Strafsanktion. „Die Botschaft des strafrechtlichen Tadels bringt gegenüber dem Täter zum Ausdruck, dass sein Verhalten unrecht war – kein schwierig zu erklärendes Urteil, wenn, beispielsweise, in dem Verhalten eine absichtliche (oder [in] manchen Fällen fahrlässige) Verletzung eines anderen liegt.“ Dieser Tadel sei, so von Hirsch, die notwendige und legitime Reaktion auf normwidriges Verhalten (2011, S. 51 f.). 43  Hörnle 2011 (a), S. 58. 44 Hörnle 2011 (a), S. 45. 37 Hörnle

2.1 Ein kurzer Blick in die Entwicklung der Diskussion

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Aussage […] durch symbolische Unterstützung in Form der Übergabe oder des Entzuges von tangiblen Gütern zu erreichen.“45 Diese Verstärkung durch die Strafsanktion sei unumgänglich, so das Argument Hörnles, da „die Möglichkeiten begrenzt sind, notwendige Differenzierungen des Grades an Tadel mit einer nur in Worte gefassten Missbilligung auszudrücken“.46 Die von Hörnle formulierte expressive Straftheorie verbindet somit den retributiven Grundgedanken mit dem Aspekt der Normstabilisierung: Die Strafsanktion kommuniziert das gesellschaftlich notwendige Unwerturteil über die begangene Tat. Abschließend stellt sich die Frage, inwiefern nun die Debatte um die Legitimation der Institution Strafe und die konkurrierenden Straftheorien die Diskussion um das Schuldprinzip tangieren. Das strafrechtliche Schuldprinzip wird als Element der Vergeltungslehre47 betrachtet, da es die wesentlichen Charakteristika des Vergeltungsdenkens aufweist: Es blickt („zurück“) auf die Schuld an der begangenen Tat und betrachtet Strafe als Ausgleich der Schuld. Das Vergeltungsprinzip definiert den Ausgleich als Zweck der Strafe, das Schuldprinzip präzisiert, wo der Ausgleich anzusetzen hat: bei der Schuld des Täters. Nach dieser Lesart wird von Kritikern das Schuldprinzip als vergeltendes Element der Institution Strafe der absoluten Straftheorie zugeordnet und dessen Abschaffung gefordert.

2.1 Ein kurzer Blick in die Entwicklung der Diskussion Die Diskussion um die Straftheorien verdichtet sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts innerhalb der Strafrechtswissenschaft zum „Schulenstreit“. Gegenüber der „klassischen Schule“, welche Strafe als „Äquivalent für das Verbrechen“48 betrachtet und die Institution Strafe nur durch den Rekurs auf den Vergeltungsgedanken legitimiert sieht, bildet sich die „moderne Schule“ unter dem wesentlichen Einfluss von Franz von Liszt heraus. Von Liszt, der als Begründer der modernen wissenschaftlichen Kriminalpolitik gilt, definiert Strafe als „soziale Reaktion gegen soziale Störungen“49 und bringt damit den auf gesellschaftliche Interessen gerichteten Zweckgedanken als zentrales Element in die Strafrechtswissenschaft ein. Die Anhänger der „klassischen Schule“ befürchten zunächst 45 Hörnle

2011 (a), S. 42.  Hörnle 2011 (a), S. 42. 47  Roxin 2006, RN 51, S. 91. 48 Schmidt 1995, S. 387. 49  Von Liszt 1883, S. 11 (Hervorhebungen im Original). In „Die Zukunft des Strafrechts“ erklärt von Liszt (1905  (a), S. 3): „Ich möchte dann weiter unser Glaubensbekenntnis dahin formulieren, daß wir das Verbrechen auffassen müssen als notwendiges Produkt aus der den Verbrecher umgebenden Gesellschaft und den wirtschaftlichen Verhältnissen einerseits und aus der Eigenart der Individualität des Verbrechers andererseits, welche teils angeboren, teils durch Entwicklung und Lebensschicksale erworben ist.“ (Hervorhebungen im Original) 46

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

als Folge des von Liszt’schen Gedankengutes die „gefährliche Preisgabe der rechtsstaatlichen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts“ und den „Rückfall in den überwundenen Polizeistaat“.50 Ohne dass der Streit um die Legitimation der Institution Strafe beigelegt würde, erkennen die Kritiker im Verlauf der Debatte jedoch die Notwendigkeit der von Liszt’schen Reformbestrebungen an, was zu der Strafrechtsreform in der Weimarer Republik führt und 1933 mit der Einführung der Maßregeln der Sicherung und Besserung in die Zweispurigkeit des Strafrechts mündet. Von Liszts Plädoyer für eine Umgestaltung des Strafrechts nach kriminalpolitischen Zwecken wirkt nachhaltig. Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hat Stratenwerth dem Schuldprinzip die Prognose gestellt, „daß es, in mehr oder minder absehbarer Zeit, durch andere Prinzipien des Umgangs mit abweichendem Verhalten abgelöst werden dürfte“.51 Die Fragen, die es daher zu klären gilt, sind, so Stratenwerth, welches die Funktionen sind, die das Schuldprinzip in unserer Gesellschaft bei der Abwicklung des Bruches strafrechtlich geschützter Normen erfüllt, und ob oder inwieweit man es in diesen seinen Funktionen entweder entbehren oder aber adäquat ersetzen kann.52

Interessanterweise ist jedoch in der Debatte um die Straftheorien nicht nur in der deutschsprachigen, sondern z. B. auch in der angloamerikanischen Literatur nach einer Zeit des Vertrauens in die Erfolge der Präventionsmaßnahmen eine Rückbesinnung auf das vergeltungstheoretische Denken zu beobachten. In den USA erreicht die Präventionstheorie in den 50er Jahren des 20.  Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Der Gedanke, dass Kriminalität „heilbar“ sei, ist zu dieser Zeit vorherrschend. Prisons became “correctional institutions” and prisoners became “residents”, “clients”, or even “patients”. The notion of a treatment approach to criminality became widespread.53

Doch die zunehmende Kritik an den Zuständen in den psychiatrischen Anstalten und Gefängnissen und die Enttäuschung über die mangelnden Erfolge der Behandlung und die hohen Rückfallquoten54 führen zu einem Umdenken in den 60er und 70er Jahren. Besonders in der Kritik steht der Freiheitsentzug auf unbestimmte Zeit (indeterminate sentencing). Zu Beginn der 70er Jahre wird dem Präventionsstrafrecht daher die Forderung nach einem gerechteren Strafen unter dem Begriff der just deserts oder der commensurate deserts und dem Rückgriff auf retributive Elemente gegenübergestellt. 50

 Schmidt 1995, S. 387. 1977, S. 7. 52  Stratenwerth 1977, S. 7. 53  Singer 1979, S. 4. 54 Große Aufmerksamkeit erreichte z. B. der Bericht von Martinson 1974. 51 Stratenwerth

2.1 Ein kurzer Blick in die Entwicklung der Diskussion

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But the rehabilitationist theory, which had for so long promised salvation, now appeared not only as an empty promise, but as an intentional deceit, repeated only to perpetuate jobs and power. The reaction, as any reaction to crushed hopes, was jolting – the movement to commensurate deserts drew some of its greatest energies from disillusioned rehabilitationists.55

In Deutschland ist etwas später ein ähnlicher Paradigmenwechsel zu beobachten. Nach der „‚Reformeuphorie‘ der 60er‑ und frühen 70er-Jahre“56 ist ebenfalls spätestens zu Beginn der 90er Jahre eine „Renaissance der absoluten Straftheorie“57 bemerkbar. Zunehmend werden die Defizite der präventiven Modelle herausgestellt und eine Überschätzung der Präventionswirkung kritisiert. Bis heute wird die Legitimation der Institution Strafe kontrovers diskutiert. Daneben gibt es aber auch Stimmen, die für eine Suche nach einem generell anderen Umgang mit kriminellem Verhalten plädieren: Das Strafrecht wird in seiner Wirksamkeit und Wirkungsweise masslos und entgegen jeder wissenschaftlich überprüfbaren Erfahrung überschätzt. Das Strafrecht kann ausgerechnet die schweren Missstände und Fehlentwicklungen, um deretwillen es ständig ausgebaut wird, nicht erfolgreich bekämpfen. […] Die Gesellschaft bedarf für ein friedliches Zusammensein eines Grundkonsenses über ethische Prinzipien des Zusammenlebens, der weit stärker, umfassender und nachhaltiger wirkt als staatliche Strafdrohung und Strafvollzug.58

Neben abolitionistischen Modellen, die z. B. für eine Reprivatisierung der Konfliktbewältigung plädieren59, ist jedoch die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung sehr viel stärker: die zunehmende Forderung nach einem Sicherheitsstrafrecht. Das Fatale der Entwicklung, die uns unmittelbar bevorsteht, liegt darin, dass die Strafe ihres ursprünglichen Zweckes entgrenzt worden ist. Sie soll nicht mehr das Unrecht einer Tat sühnen, auch nicht mehr den Einzelnen abschrecken oder bessern. Er [der Täter, J. E.-S.] wird auf seine Tat, seine Konstitution, auf seine Gefährlichkeit ein für alle Mal festgelegt. Der Schutzzweck der Strafe, die nun Massnahme oder Verwahrung oder Sicherheitsverwahrung genannt wird, erfordert das.60

Die aktuelle Diskussion um ein Sicherheitsstrafrecht kennzeichnet nach Heribert Ostendorf zu Beginn dieses Jahrtausends den Wandel von der Kriminalprävention hin zur Angstprävention.61 Das Strafrecht scheint dabei als eine Stellschraube betrachtet zu werden, „an der man nur etwas drehen oder regulieren muß“, um 55 Singer

1979, S. 8.  Pawlik 2004 (a), S. 29. 57  Schünemann 2002, S. 327. 58 Zihlmann 2002, S. 147, 150. 59  Vgl. exemplarisch Christie 1986. 60  Zihlmann 2002, S. 160 (Hervorhebung im Original). 61 Ostendorf 2004, S. 3; Karl-Ludwig Kunz (2011, S. 328 f.) spricht von einer Angstkultur und sieht „eine tiefgreifende und umfassende Verunsicherung über die Möglichkeit krimineller Großereignisse mit unabsehbaren Folgeschäden für die Selbstsicherheit und damit die Stabilität des sozialen Gefüges“. 56

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

die gewünschte Sicherheit für die Allgemeinheit produzieren zu können.62 Rücken jedoch die Sozialgefährlichkeit des Täters und das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit generell in das Zentrum des Strafrechts, dann wird die Grenze zum Maßregelrecht aufgehoben und die Gültigkeit des Schuldprinzips – nulla poena sine culpa – verletzt. Das Schuldprinzip erweist sich somit als zentraler Aspekt in der Debatte um die Aufgabe und die Legitimation der Institution Strafe. Einerseits steht es als atavistisches63 Element der Vergeltungslehre im Fokus der Kritik und scheint mit den Interessen der Kriminalprävention zu kollidieren bzw. diese nur unzureichend zu erfüllen. Andererseits hat es eine bedeutende Funktion im Strafsystem, da es nach der persönlichen Verantwortung und der Schuldfähigkeit fragt und Anknüpfungspunkt und Maßstab für eine schuldangemessene Strafsanktion ist. Die Tragweite dieser Diskussion kann erst nachvollzogen werden, wenn „die Dimensionen dieses Prinzips vollständig auseinandergelegt sind und ihre Bedeutung für unsere Strafrechtskultur sichtbar geworden ist“.64 Dieser Aufgabe stellt sich die vorliegende Arbeit. Wichtig ist, hervorzuheben, dass die hier gestellte Frage nach der Legitimation der Institution Strafe von der Frage, ob Strafe generell legitimierbar ist (ob Strafe überhaupt sein muss), zu unterscheiden ist. Denn dieser Aspekt ist der hier gestellten Frage vorgelagert und wird auch von Vertretern des Präventionsgedankens nicht thematisiert. Auch wenn die Präventionstheorien immer wieder den „Sinn von Strafe“ in Frage stellen und von präventiven oder bessernden Maßnahmen sprechen, so halten aber auch diese an Sanktionen fest, die, veranlasst durch einen Normbruch oder auch nur durch die Befürchtung eines weiteren Normbruches, verhängt werden. Eine gesellschaftlich legitimierte Reaktion auf einen Normbruch des Einzelnen wird somit auch von präventiven Konzepten nicht in Frage gestellt.

2.2 Die Rolle des Schuldprinzips und der Konflikt mit dem Präventionsgedanken Der Kern und zugleich der wesentliche Diskussionspunkt des Schuldprinzips ist, dass dieses einen persönlichen Vorwurf 65 darstellt: Dem Täter wird die Schuld an der Tat persönlich zugeschrieben. An die Schuld des Täters knüpft sich die strafrechtliche Sanktion. Die Schuld des Täters ist eines von drei Merkmalen, die eine Tat als Straftat kennzeichnen. Die anderen beiden Merkmale sind die Tatbestandsmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit. Eine Straftat ist eine Tat erst dann, wenn sie sich als eine „tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Hand62 Frisch

2002, S. 670.  Ebert 1988, S. 42. 64  Hassemer 1983, S. 93. 65 Wessels/ Beulke / Satzger 2013, RN 394, S. 154. 63

2.2 Die Rolle des Schuldprinzips und der Konflikt mit dem Präventionsgedanken

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lung“66 erweist. Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld bilden die drei Stufen des strafrechtsdogmatischen Verbrechensaufbaus. Sie kennzeichnen eine Tat als Verbrechen und definieren das Prozedere bei der Prüfung einer Tat hinsichtlich ihrer strafrechtlichen Relevanz.67 Die Tatbestandsmäßigkeit prüft, ob eine vorliegende Handlung ein strafbares Delikt verwirklicht. Fügt bspw. eine Person einer anderen mit einem Knüppel gefährliche Verletzungen zu, so verwirklicht diese Handlung den Tatbestand der Körperverletzung (§ 223 StGB). Nicht nur tatbestandsmäßig, sondern auch rechtswidrig ist eine Tat aber erst, wenn keine Rechtfertigungsgründe vorliegen wie z. B. Notwehr (§ 32 StGB). Der Rechtfertigungsgrund der Notwehr würde aus dem Unrechtstatbestand der Körperverletzung einen Erlaubnistatbestand machen. Wenn z. B. der Angreifer A, der sein Opfer B mit einer Schusswaffe bedroht, von B vorsätzlich mit einer herumliegenden Holzplanke abgewehrt und verletzt wird, so ist die Tat des B – obwohl sie eine vorsätzliche Handlung darstellt – gerechtfertigt. Sein Handeln erfolgt in Notwehr und erfüllt deshalb keinen Unrechtstatbestand.68 Nach dem Tatbestand und der Rechtswidrigkeit ist als dritter Schritt die Schuld zu prüfen. Hier wird die Frage gestellt, ob die Tat dem Täter auch persönlich vorzuwerfen ist. Im Rahmen der Prüfung des Verbrechensmerkmals Schuld können wiederum Entschuldigungs‑ und Schuldausschließungsgründe greifen. In der Literatur wird als Beispiel der psychisch kranke Mörder69 genannt, dem die Rechtswidrigkeit seiner Tat durchaus bewusst gewesen sein könnte, der sein Handeln aber nicht gemäß dieser Einsicht steuern konnte und daher mit der Feststellung seiner Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB seine Schuld ausgeschlossen wird. Erst wenn auch die Schuld des Täters feststeht, wird aus einer rechtswidrigen Tat eine schuldhaft begangene Tat und aus einem Unrechtstatbestand schließlich ein Straftatbestand. Die Definition einer Straftat beruht demnach auf folgender Struktur: (1) Nur eine tatbestandsmäßige Handlung kann (muss aber nicht) rechtswidrig sein. (2) Nur eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung kann (muss aber nicht) strafrechtlich schuldhaft sein.

66 Wessels/ Beulke / Satzger

2013, RN 82, S. 37.  Vgl. Hassemer 1990, S. 203: „Das Straftatsystem bindet den Strafrichter an eine Ordnung der Schritte, die er zu gehen hat, wenn er die Strafbarkeit eines menschlichen Verhaltens prüft.“ 68 Neben dem dreistufigen Verbrechensaufbau gibt es auch eine Theorie des zweistufigen Verbrechensaufbaus, der die Tatbestandsmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit zu der Stufe des „Gesamt-Unrechtstatbestandes“ zusammenfasst. Der bedeutende Unterschied ist, dass nach dem zweistufigen Verbrechensaufbau ein gerechtfertigtes Verhalten, z. B. Notwehr (mit der Folge der Körperverletzung) nicht als verboten und damit auch nicht als tatbestandsmäßig gewertet wird (vgl. Wessels / Beulke / Satzger 2013, RN 123 ff., S. 51 ff.). 69 Roxin 2006, RN 3, S. 2 oder Stratenwerth 2011, RN 19, S. 67. 67

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

(3)  Nur eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung stellt eine Straftat dar.70 Da nur das Vorliegen von Schuld aus einem Unrechtstatbestand eine Straftat macht, hat das Schuldmoment eine ganz bedeutende Position und Funktion im Strafrecht. Erst das Vorliegen von Schuld legitimiert eine strafrechtliche Sanktion. Gerade diese Funktion ist jedoch ein zentraler Punkt in der Diskussion um die Straftheorien. Denn Strafsanktionen sind nicht die einzige Möglichkeit von Sanktionen, die im Rahmen des Strafgesetzes zur Verfügung stehen. Seit 1933 ist das deutsche Strafgesetz zweispurig71: Auch ohne das Merkmal der Schuld können bei einer tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Handlung Sanktionen in Form der Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61–72 StGB72) verhängt werden. Die Ergänzung des Strafrechts durch die Maßregeln der Besserung und Sicherung wird mit deren kriminalpolitischer Notwendigkeit begründet. Das Schuldstrafrecht sei zwar in der Regel in der Lage, den Schutzbedürfnissen der Allgemeinheit Rechnung zu tragen. Anerkannt ist aber, dass sich Schuld und „Gefährlichkeit“ eines Täters nicht ohne weiteres entsprechen.73

Aufgrund kriminalpräventiver Erfordernisse wurden den strafrechtlichen Sanktionen durch die Maßregelspur weitere Sanktionsmöglichkeiten beigestellt. Der wesentliche Unterschied ist, dass Strafsanktionen durch die Schuld des Täters legitimiert werden, die Maßregeln hingegen durch die Sozialgefährlichkeit des Täters. Dabei sind generell zwei Anwendungsbereiche zu unterscheiden, in denen die Strafmaßnahmen aus kriminalpräventiver Sicht entweder nicht greifen oder aber nicht ausreichend sind: (1) Wenn der Täter aus bestimmten Gründen nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, greift § 20 (bzw. § 21) StGB und der Täter gilt als schuldunfähig (bzw. vermindert schuldfähig). In diesem Fall können keine (bzw. nur vermindert) Strafsanktionen verhängt werden, obwohl der Täter eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt.

70 Vgl.

bspw. Wessels / Beulke / Satzger 2013, RN 81 f., S. 36 f.  Am 24. November 1933 wurde das Gewohnheitsverbrechergesetz („Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“, RGBl. I S. 995) in das Strafgesetzbuch eingeführt. Umstritten ist daher die Rolle des Nationalsozialismus. Zwar gründet die Forderung nach einer Einführung von Maßregeln in das Strafrecht auf Reformbestrebungen der Jahrzehnte vor dem Nationalsozialismus (vgl. Roxin 2006, RN 4, S. 3), dennoch wurde gerade die Sicherungsverwahrung „von den Nationalsozialisten ausgesprochen extensiv und rücksichtslos angewandt“ (vgl. Mushoff 2008, S. 22). 72  Bei den Maßregeln werden folgende Sanktionsformen unterschieden: „1. die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, 2. die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, 3. die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, 4. die Führungsaufsicht, 5. die Entziehung der Fahrerlaubnis, 6. das Berufsverbot“ (§ 61 StGB). 73 Mushoff 2008, S. 9. 71

2.2 Die Rolle des Schuldprinzips und der Konflikt mit dem Präventionsgedanken

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Aufgrund dieser Sozialgefährlichkeit wird bei Tätern, die aus psychologischen oder psychopathologischen Gründen die Tat begingen, gemäß § 63 StGB die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an[geordnet], wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.

Vergleichbar regelt § 64 StGB die Unterbringung in einer Erziehungsanstalt, wenn der Täter aufgrund von Alkohol‑ oder Drogenmissbrauch schuldunfähig ist und wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.

(2) Maßregeln werden aber auch in Form der Sicherungsverwahrung bei einem vollschuldfähigen Täter verhängt, wenn die begründete Annahme besteht, dass der Täter auch nach Vollzug der Strafe erneut eine erhebliche Straftat begehen wird (§ 66 StGB). Da das Strafrecht nur auf eine begangene Normverletzung hin reagieren kann, hat es keine Handhabe, weiteren „irreparablen Rechtsgutsverletzungen“74 eines Täters vorzugreifen, der zwar seine Strafe verbüßt hat, aber noch immer als stark sozialgefährlich eingestuft wird. Weil also das Schuldstrafrecht zum Zweck des Rechtsgüterschutzes zu spät greift, weil es bei der Bemessung der Dauer der Freiheitsstrafe nicht über das Maß der Schuld hinausgehen darf und weil es gegenüber Schuldunfähigen „versagt“, müsse das Strafrecht durch Maßregeln ergänzt werden, welche die präventiven Schutzbedürfnisse mittels der Maßregel befriedigen sollen. Die Ergänzung des Strafrechts durch präventive Maßregeln soll demnach erreichen, was nach dem Schuldprinzip ausgeschlossen ist. Die Maßregeln haben einen präventiven Auffangcharakter, der bei vollverantwortlichen Wiederholungstätern durch die Sicherungsverwahrung erfüllt werden soll.75

Die Maßregeln sind somit indifferent gegenüber der Frage nach der Schuld des Täters. Sie werden sowohl bei schuldunfähigen, bei vermindert schuldfähigen wie auch bei vollschuldfähigen Tätern verhängt, da sie durch die Gefährlichkeit des Täters bzw. das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt werden. Dabei wird die Frage nach der Sozialgefährlichkeit des Täters zunehmend in den Vordergrund gestellt, während die Frage nach der Schuld, der Verantwortlichkeit des Täters, in den Hintergrund rückt. Besonders die aktuelle Debatte um die nachträgliche Sicherungsverwahrung76 zeigt, wie stark das Sicherheits74

 Mushoff 2008, S. 10. 2008, S. 10. 76  1998 wurde in der Bundesrepublik Deutschland die Zehnjahresfrist für die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung aufgehoben. Dies hatte zur Folge, dass Personen, die verurteilt worden waren, als die Höchstgrenze von 10 Jahren noch in Geltung war, daraufhin auf un75 Mushoff

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

bedürfnis der Allgemeinheit ist und welche Folgen die Abschaffung des Schuldprinzips für die Institution Strafe hätte: Wenn man sagt, ich verurteile einen Täter und sehe, wie er sich im Strafvollzug verhält, und wenn er dort „auffällt“, sich nicht in die Anstaltsordnung fügt, verlängere ich einfach seine „Strafe“, dann hat Strafe ihre Legitimation verloren. Dann ist nicht mehr die Schuld für begangenes Unrecht die Begründung, sondern unsere Angst, dass es in naher oder ferner Zukunft zu weiteren Straftaten kommen könnte. Dann sperren wir ein, weil wir nicht ausschließen können und bisweilen einfach nur nicht ausschließen wollen, dass es tagtäglich Gefahren gibt.77

Das Maßregelrecht ist Prognoserecht78, es verfolgt den Zweck, Verbrechen vorzugreifen. Für seine Anwendung ist der Schuldgedanke unerheblich, von Interesse ist allein die Prognose über das zukünftige Verhalten. Ein Strafrecht, das nur durch den Gedanken der Prävention legitimiert wird und dessen Sanktionen nicht mehr an die Tatschuld geknüpft werden, verliert daher seine Legitimation als Strafrecht. In der gegensätzlichen Legitimationsgrundlage von Strafsanktionen und Maßregeln  – Schuld versus Gefährlichkeit  – liegt daher der Kern der Debatte. Hier wird die Diskussion um die Legitimation der verschiedenen Strafprinzipien wieder ganz aktuell. Denn auch wenn die Zweispurigkeit des Strafrechts seit über einem Jahrhundert intensiv diskutiert und seit acht Jahrzehnten praktiziert wird, scheint das Verhältnis der strafrechtlichen Spuren nicht klar zu sein.79 Wie stehen Schuldausgleich und Präventionsgedanke zueinander? Haben sich strafrechtliche Sanktionen in die Zukunft (Prognose) zu richten oder an die Vergangenheit (Schuld) anzuknüpfen? Ist das Schuldstrafrecht aufgrund seiner unzureichenden Schutzfunktion zu einem Maßregelrecht umzugestalten? Oder ist ein Maßregelrecht überhaupt noch strafrechtlicher und nicht viel mehr polizeirechtlicher Natur?80 Wo verläuft die Grenze zwischen Strafrecht und Maßregelrecht? Die Debatte um die Legitimation der Institution Strafe und damit um Vergeltungsdenken, Schuldprinzip und Präventionstheorien hält bis heute an. Im Verlauf der Diskussion haben sich nicht nur unterschiedliche Konzeptionen innerhalb der beiden sich gegenüberstehenden Lager herausgebildet, sondern auch Vereinigungstheorien, die versuchen, die beiden Ansätze in ein gemeinbestimmte Zeit weiter festgehalten wurden. Im Dezember 2009 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Praxis als Verstoß gegen Artikel 7 Keine Strafe ohne Gesetz (EMRK). 2011 erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch die 2004 eingeführte nachträgliche Sicherungsverwahrung als Verstoß gegen Artikel 5 Recht auf Freiheit und Sicherheit (EMRK). 77  Michalke 2003, S. 2 (Hervorhebungen im Original). 78  Dreher 1987, S. 19. 79 Mushoff 2008, S. 3. 80  Mushoff 2008, S. 6; vgl. auch Walter 2006, S. 131: „die Vorschriften zu Maßregeln gegen den Täter sind nur formell (und kompetenziell) Strafrecht, in der Sache jedoch Polizeirecht, da auf Gefahrenabwehr gerichtet“.

2.2 Die Rolle des Schuldprinzips und der Konflikt mit dem Präventionsgedanken

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sames Konzept zur Begründung von Strafe einzupassen. Auch die deutsche Strafrechtspraxis hat sich nicht auf eine der Straftheorien als Grundlage für die Rechtsanwendung festgelegt, sondern erkennt alle Strafzwecke als mögliche Grundlagen für ihre Entscheidungen an. Wegweisend dafür ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1977: Das Bundesverfassungsgericht hat sich wiederholt mit Sinn und Zweck des staatlichen Strafens befasst, ohne zu den in der Wissenschaft vertretenen Straftheorien grundsätzlich Stellung zu nehmen […]. Das geltende Strafrecht und die Rechtsprechung der deutschen Gerichte folgen weitgehend der sogenannten Vereinigungstheorie, die  – allerdings mit verschieden gesetzten Schwerpunkten – versucht, sämtliche Strafzwecke in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen. Dies hält sich im Rahmen der dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen zukommenden Gestaltungsfreiheit, einzelne Strafzwecke anzuerkennen, sie gegeneinander abzuwägen und miteinander abzustimmen. Demgemäß hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung nicht nur den Schuldgrundsatz betont, sondern auch die anderen Strafzwecke anerkannt. Es hat als allgemeine Aufgabe des Strafrechts bezeichnet, die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen. Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht werden als Aspekte einer angemessenen Strafsanktion bezeichnet.81

In der Strafrechtspraxis kann demnach auf alle Straftheorien bzw. alle Strafzwecke zur Legitimation einer strafrechtlichen Sanktion zurückgegriffen werden. Doch diese fehlende Festlegung und die Vermischung verschiedener Straftheorien sind problematisch und halten die Diskussion um die Legitimation der Institution Strafe mit am Leben. Denn aufgrund der konzeptionellen Unterschiede, die den beiden Straftheorien zugrunde liegen – Schuld oder Gefährlichkeit – sind die verschiedenen Modelle nicht nur in der Theorie schwer vereinbar, sondern die Problematik liegt letztlich darin, dass die unterschiedlichen Straftheorien zu einer unterschiedlichen Bemessung der strafrechtlichen Sanktionen in der Rechtspraxis führen.82 Hier zeigt sich, dass die Diskussion um die Schuldidee direkte Implikationen für die Rechtsanwendung hat. Das Schuldprinzip tritt bei der Bemessung der strafrechtlichen Sanktionen sowohl mit der Spezial‑ als auch der Generalprävention in Konflikt, denn es fordert eine Verhältnismäßigkeit von Schuld und Sanktion. Die relativen Theorien hingegen legen nicht die begangene Tat und die Schuld des Täters, sondern präventive, auf die Verhinderung zukünftigen Verbrechens gerichtete Zweckmäßigkeiten ihren Überlegungen zur Bemessung der Sanktion zu Grunde. Daher können präventiv bemessene Sanktionen in bestimmten Fällen in der Strafhöhe sowohl nach unten als auch nach oben von einem auf dem Schuldprinzip be81

 BVerfGE 1978, Bd. 45, S. 253 f.; Buchała spricht diesbezüglich von den verschiedenen Strafzwecken als „magisches Dreieck […], das nur schwer zu lösen [ist]“ (1996, S. 568). 82 Diese Folge hat bereits von Liszt gesehen (1905 (c), S. 91): „Nirgends wird ‚der Einfluß der (kriminal-anthropologischen und) kriminal-soziologischen Untersuchungen auf die Grundbegriffe des Strafrechts‘ größer und bleibender sein als auf dem Gebiete der Strafzumessung“ (Hervorhebung im Original).

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

ruhenden Urteil abweichen. Am Beispiel der Spezialprävention zeigt sich dies besonders drastisch: Schwere Delikte müssten deshalb straflos bleiben, sofern die Gefahr eines Rückfalls, wie etwa bei einer vorsätzlichen Tötung in einer besonderen Konfliktslage [sic], praktisch nicht besteht, schwere Strafen dagegen auch solche Täter treffen, die zwar, weil psychisch gestört, ohne Schuld handeln, aber doch gefährlich sind. Ebenso unerträgliche Konsequenzen ergäben sich beim chronischen Rechtsbrecher, dessen Schuld oder dessen Delinquenz nicht sehr schwer wiegt, etwa beim Kleptomanen, den keine andere Maßnahme als die „Einsperrung auf Lebenszeit“ verlässlich an weiteren Straftaten hindern könnte, eine Strafe, deren Berechtigung selbst bei schwerster Schuld zunehmend in Frage gestellt wird.83

Insbesondere hinsichtlich der Sozialgefährlichkeit und der Rückfallverhütung werden aus spezialpräventiver Sicht das Strafmaß überschreitende Sanktionen gefordert. Zur Resozialisierung eines Täters, dessen Sozialgefährlichkeit und Rückfallwahrscheinlichkeit gering eingeschätzt wird, können jedoch auch das Strafmaß unterschreitende Sanktionen gerechtfertigt werden. Gemäß dem Schuldprinzip ist für die Bemessung der Strafe jedoch in erster Linie die Schwere der Schuld relevant, daher kollidiert dieses mit einer spezialpräventiv geforderten Über‑ oder Unterschreitung des Strafmaßes. Auch aus generalpräventiver Sicht sind höhere Strafen zur Verstärkung der Abschreckungswirkung oder der Normstabilisierung erforderlich, was ebenfalls einer am Schuldprinzip orientierten Zumessung der Strafhöhe widerspricht. Somit wird deutlich, dass „das Schuldverständnis durch die jeweils zugrundeliegende Straftheorie beeinflusst wird“.84 Daneben geraten jedoch auch die negative Generalprävention und die Spezialprävention miteinander in Konflikt, wenn es um die Bemessung der strafrechtlichen Sanktionen geht: Penalties which we believe are required as a threat to maintain conformity to law at its maximum may convert the offender to whom they are applied into a hardened enemy of society; while the use of measures of Reform may lower the efficacy and example of punishment on others.85

Es wird argumentiert, dass einerseits die Abschreckungswirkung auf potentielle andere Täter (und natürlich auch auf Wiederholungstäter) durch harte Strafen erhöht wird86, andererseits zeigt sich, dass strenge Sanktionen die Resozialisierung des Täters, seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft, eher erschweren. Daher steht der lange Freiheitsentzug zur Rückfallverhütung aufgrund der hohen Rückfallquote87 und der Stigmatisierung des Täters88 massiv in der Kritik. 83

 Stratenwerth 2011, RN 19, S. 9; vgl. auch Mushoff 2008, S. 155; Pawlik 2004 (a), S. 34 f. 2008, S. 101. 85  Hart 2008, S. 27. 86  Ostendorf 2000, S. 15. 87 Vgl. z. B. Koller 1979, S. 67; Stratenwerth 2011, RN 20 f., S. 9 f. 88  Vgl. Buchała 1996, S. 567 f. oder Mushoff 2008, S. 157. Hier dargestellt ist nur die generelle konzeptuelle Gegenläufigkeit der verschiedenen Strafzwecke, weiter ausgeführt werden die verschiedenen Prinzipien in den Kapiteln 2.4.3.1 bis 2.4.3.3. 84 Mushoff

2.3 Die Kritik an der Vergeltungstheorie und am Schuldprinzip

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Die Problematik der Diskussion um die Straftheorien lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Einerseits haben alle Straftheorien berechtigte Forderungen an den Zweck der Institution Strafe und sind daher auch in der Praxis vom Bundesverfassungsgericht anerkannt. Andererseits müssen sich alle Straftheorien mit Einwänden an ihren zugrundeliegenden Prinzipien und Strafzwecken auseinandersetzen. Im Folgenden werde ich die verschiedenen Prinzipien darstellen, ihre Bedeutung für die Institution Strafe analysieren und die Einwände einer Prüfung unterziehen.

2.3 Die Kritik an der Vergeltungstheorie und am Schuldprinzip Obwohl die Formulierung Platons zeigt, dass die Kerngedanken beider Straftheorien schon in der griechischen Antike nebeneinander bestanden haben, wird das Präventionsstrafrecht oft als fortschrittlichere Straftheorie gegenüber dem revisionsbedürftigen Schuldstrafrecht dargestellt  – bis hin zur Forderung der generellen Abschaffung des Schuldprinzips.89 Von der umfangreichen Kritik werden im Folgenden zentrale Aspekte dargestellt. Dabei geht es um Kritik, die sich nicht nur auf das Vergeltungsdenken bezieht, sondern sich insbesondere auf das Schuldprinzip auswirkt. Die Kritik trifft dabei sowohl die Tragfähigkeit einer Straftheorie, die auf dem Vergeltungs‑ bzw. Schuldgedanken basiert, als auch das zugrundeliegende Konzept des Vergeltungs‑ bzw. Schuldprinzips. Des Weiteren unterscheiden sich Ansätze, die aufgrund der Kritik am Schuldprinzip die Ausgestaltung eines rein präventiven Maßregelrechts fordern, von Argumentationen, die zwar den Schuldvorwurf ablehnen, ohne zugleich eine notwendige Abschaffung des aktuellen Strafrechts zu beinhalten. Zunächst werden Vergeltung und Schuldausgleich als irrationale Prinzipien kritisiert90, die nicht glaubwürdig argumentieren könnten. Von der Vergeltungstheorie wird der Strafe bzw. dem Ausgleich durch die Strafe ein immanenter Wert zugesprochen. Der Akt der Bestrafung legitimiert an sich als Ausgleich des Normbruchs die Strafsanktion. Den deontologischen Kern des Vergeltungs‑ und Schuldstrafrechts werten die Kritiker als zweckfreies Fundament, das für die Legitimation der Institution Strafe unzureichend und vor allem nicht tragfähig sei: Die Vergeltungstheorie kann uns nicht helfen, weil sie die Voraussetzungen der Strafbarkeit ungeklärt läßt, in ihren Grundlagen ungesichert und als irrationales und zudem anfechtbares Glaubensbekenntnis unverbindlich ist.91

89

 Vgl. bspw. Kargl 1982; Merkel 2006; Plack 1974. bspw. Ebert 1988, S. 42; Hart 2008, S. 10; Roxin 1966, S. 378; auch Pawlik fasst die Kritik an dem vergeltungstheoretischen Begründungsmodell unter dem Aspekt der Irrationalität zusammen (2004 (b), S. 227). 91 Roxin 1966, S. 378. 90 Vgl.

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

Der Vergeltungsgedanke des Ausgleichs basiere letztlich, so die Kritik, auf metaphysischen Konzepten oder Ideen: Gerechtigkeit, Versöhnung, Wiederherstellung etc. Diese zu realisieren könne jedoch nicht Aufgabe von staatlicher Strafe sein, sie könne als gesellschaftliche Institution auch nur gesellschaftliche Zwecke verfolgen: Die metaphysische Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen, ist der Staat als eine menschliche Einrichtung weder fähig noch berechtigt. Der Wille der Bürger verpflichtet ihn zur Sicherung menschlichen Zusammenlebens in Frieden und Freiheit; auf diese Schutzaufgabe ist er beschränkt.92

Gegenüber dem irrationalen Gedanken des Ausgleichs sei Strafe vielmehr „eine bittere Notwendigkeit in einer Gemeinschaft unvollkommener Wesen, wie sie die Menschen nun einmal sind“.93 Als Legitimationsgrundlage für die Institution Strafe könne daher, so die Kritik, nur ein auf die gesellschaftlichen Zwecke ausgerichtetes und daher rationales und empirisch nachweisbares Konzept dienen, das irrationale Vergeltungsdenken biete keine angemessene Grundlage. Es wird der Standpunkt vertreten, dass das Vergeltungsprinzip nicht als Straftheorie tragbar sei, weil es „sich als objektives Prinzip ethisch-rechtsphilosophisch nicht begründen läßt“.94 Parallel dazu wird auch das Schuldprinzip als irrationales Prinzip95 betrachtet. Seine Kritiker betrachten es als unglaubwürdig und ineffektiv für das Strafrecht. Zur Eingrenzung der staatlichen Reaktion auf Normbrüche bedarf es also einerseits keiner Schuldidee; andererseits erscheint diese hierzu nicht etwa mehr, sondern eher weniger tauglich als andere Gerechtigkeitsprinzipien, die mit unserer Verfassung in Einklang stehen.96

Der konkrete Vorschlag von Ellscheid und Hassemer ist beispielsweise, das Schuldprinzip durch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit97 zu ersetzen. Des Weiteren seien Schuld und Schuldhöhe empirisch nicht feststellbar98, da sie sich wissenschaftlicher Objektivität entzögen: Ein abschließendes Urteil darüber, ob der Täter bei der Tat fähig oder unfähig war, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, ist mit wissenschaftlichen Mitteln nicht möglich. Die individuelle Schuld und ihr Maß sind dem verläßlichen Urteil im Gerichtsverfahren jedenfalls nicht zugänglich.99

92

 Roxin 2006, RN 8, S. 73. u. a. 1966, S. 29. 94  Ebert 1988, S. 56. 95  Bierbrauer / Haffke 1978, S. 162. 96 Merkel 2006, S. 345 f. 97  Ellscheid /Hassemer 1970, S. 41 ff. 98  Bierbrauer / Haffke 1978, S. 162; vgl. auch Roxin 1987, S. 356. 99 Schreiber 1980, S. 285. 93 Baumann

2.3 Die Kritik an der Vergeltungstheorie und am Schuldprinzip

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Aufgrund von Irrationalität, Zweckfreiheit und fehlender wissenschaftlicher Feststellbarkeit betrachten Kritiker das Vergeltungs‑ und das Schuldprinzip als unbrauchbar und irreführend für die Legitimation der Institution Strafe. Des Weiteren zielt die Kritik darauf, den eigentlichen Anspruch des Vergeltungsdenkens als falsch zu erweisen: Das Vergeltungsdenken begründe seine Rechtfertigung der Institution Strafe damit, dass sie einen Ausgleich für das begangene Verbrechen darstelle, doch dies beruhe, so die Kritik, auf dem „irrigen Glauben, daß Strafe als Vergeltung gerecht sei“.100 Der Vergeltungsgedanke beinhalte, „man könne ein Übel (die Straftat) durch Hinzufügung eines weiteren Übels (des Strafleidens) ausgleichen oder aufheben“.101 Dabei werde das erste Übel als moralisch schlecht, das zweite hingegen als moralisch gerechtfertigt betrachtet. Das Vergeltungsprinzip legitimiere damit die Institution Strafe als moralisch gerechtfertigte Reaktion auf Verbrechen. Doch Kritiker betrachten den Vergeltungsgedanken als “a mysterious piece of moral alchemy in which the combination of the two evils of moral wickedness and suffering are transmuted into good”.102 Die Zufügung von Übel, so die Kritik, bleibe Unrecht, sie sei nicht moralisch zu rechtfertigen und könne damit auch nicht als Rechtfertigung der Institution Strafe genügen. Die Zufügung von Leid durch Strafe könne nur gerechtfertigt werden, wenn sie auf positive Folgen ziele, die das Leid überwögen. Nur das Argument, die Bestrafung erfolge zum Schutz der Gesellschaft vor neuen Verbrechen, böte eine Basis, auf der die Zufügung von Strafe zwar nicht gerechtfertigt, aber in Kauf genommen werden könne, da die überwiegenden positiven Folgen für die Gesellschaft die erforderliche Legitimation leisteten. Analog zu der Kritik am Vergeltungsdenken wird auch das Schuldprinzip selbst als ungerechtfertigt betrachtet. Denn was bestraft werden soll, ist ein Wille, der ohne Schuld, und ein Handeln, das ohne Initiation des Willens entstanden ist. Der Mensch wird in seiner Eigenschaft als geistiges Wesen gezwungen, für etwas einzustehen, was er mit seinem Geist objektiv nicht verhindern konnte. […] Deshalb darf der Mensch vor dem Richter auch nicht mehr so behandelt werden, „als ob“ er frei wäre.103

In Anbetracht der ungelösten Debatte um die Freiheit des menschlichen Willens sei es sinnlos, nach der Schuld eines Täters zu fragen und diesen aufgrund seiner Schuld zur Verantwortung zu ziehen. Solange ein Anders-handeln-Können nicht erwiesen und die Entscheidung zu einer Handlung möglicherweise nicht selbstbestimmt, sondern determiniert sei, müsse – insbesondere unter Wahrung des Rechtsprinzips in dubio pro reo – das Konzept des Schuldprinzips in wesentlichen Aspekten überdacht oder sogar abgeschafft werden. Besonders in der 100 Ebert

1988, S. 51.  Roxin 2006, RN 8, S. 73. 102  Hart 2008, S. 234 f. 103 Merkel 2006, S. 344, 346. 101

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

aktuellen Diskussion der deutschsprachigen Literatur um die Willensfreiheit104 steht das Schuldprinzip gezielt in der Kritik. Diese Argumentation fließt daher auch vermehrt in die strafrechtswissenschaftliche Debatte um die Legitimation der Institution Strafe als wesentlicher Aspekt mit ein. Einige Kritiker betrachten nun nicht nur das Vergeltungsdenken und das Schuldprinzip als unglaubwürdig und wenig tragfähig zur Legitimation der Institution Strafe, sondern fordern darüber hinaus die Umgestaltung des Schuldstrafrechts in ein präventives Maßregelrecht, da das Schuldprinzip verantwortlich sei für die offenkundigen Mängel des gegenwärtigen Strafrechtssystems und Strafvollzuges. Bereits in den 70ern argumentiert Stratenwerth, dass sich für die Strafrechtspraxis das Problem ergebe, dass eine Entwicklung von fortschrittlicheren und angemesseneren „Formen der Verarbeitung von Normverletzungen“ behindert werde, solange das Schuldmoment seine Funktion im Strafrecht beibehalte: Am schwersten dürfte insoweit die Befürchtung wiegen, daß mit dem Schuldprinzip der Gedanke an Sühne und Vergeltung zu eng verknüpft ist, als daß man es ganz auf den nüchtern rationalen Zweck der Verbrechensverhütung hin interpretieren könnte. Solange überhaupt noch von Schuld die Rede ist, bleibt, mit anderen Worten, die Gefahr, daß Vergeltungsbedürfnisse unvermittelt in Strafe umgesetzt werden, ohne zuvor unter dem Gesichtswinkel präventiver Notwendigkeiten kritisch auf ihre Relevanz befragt worden zu sein. […] die Zurechnung zu individueller Schuld [behindert] ganz allgemein die Einsicht in die sozialen Entstehungsgründe des Verbrechens […] und sie zwingt auch nicht dazu, an der Stelle der Bestrafung andere Formen der Verarbeitung des sozialen Konfliktes zu entwickeln, den eine Normverletzung darstellt.105

Die Frage nach der persönlichen Schuld verstelle, so Stratenwerth, den Blick auf die Ursachen, die auch im sozialen Umfeld des Täters zu suchen seien. Dies behindere wiederum die Entwicklung von effektiven Maßnahmen der Sanktionierung und des Strafvollzuges für die Resozialisierung des Täters. Noch kritischer hat aktuell Grischa Merkel diesen Gedanken in ihrer Betrachtung des Schuldprinzips im Rekurs auf Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften ausformuliert: Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften weisen den Weg in einen therapeutischen Maßnahmevollzug. Weil der Mensch Zeit seines Lebens in der Lage ist zu lernen, darf der Blick der Gesellschaft nicht nur auf der Erziehung der Kinder ruhen; es müssen vielmehr auch Therapiekonzepte für kriminelle Erwachsene entwickelt werden, die es den Delinquenten ermöglichen, wirklich zu lernen.106

104  Vgl. exemplarisch aus der Reihe der philosophischen und strafrechtswissenschaftlichen bzw. interdisziplinären Arbeiten: Geyer 2004; Lampe /Pauen/Roth 2008; Merkel 2008; Pauen/ Roth 2008; Pauen 2004. 105  Stratenwerth 1977, S. 26 f. 106 Merkel 2006, S. 346 (Hervorhebung im Original).

2.3 Die Kritik an der Vergeltungstheorie und am Schuldprinzip

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Merkel kritisiert am aktuellen Strafvollzug massiv den Missstand, dass nicht zuerst „die erforderlichen therapeutischen Möglichkeiten […] [ausgelotet werden], bevor eine dauerhafte Verwahrung droht“.107 Würde an dieser Stelle der Vollzug reformiert, so Merkel, könnten „in einigen Fällen vielleicht auch Wiederholungstaten von vorneherein verhindert werden“.108 Den aktuellen Missstand führt sie wiederum auf die Strafrechtspraxis des Schuldvorwurfes zurück. Ein humaneres und effektiveres Vorgehen gegen Normbrecher sieht sie nur dann realisierbar, wenn das bestehende Schuldstrafrecht zu einem (einspurigen) Maßregelrecht umgestaltet würde. Ähnlich argumentiert auch Singer, dass eine stärkere Beachtung neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse in dieser Debatte „zu einer humaneren, weniger diskriminierenden Beurteilung von Mitmenschen führen“ würde und zu einer angemesseneren Reaktion auf abweichendes Verhalten, nämlich „durch Erziehung, Belohnung und Sanktionen Entscheidungsprozesse so zu beeinflussen, daß unerwünschte Entscheidungen unwahrscheinlicher“ würden.109 Neben der Kritik am Schuldprinzip, die mit der Forderung nach einer radikalen Umgestaltung des Strafrechts einhergeht, gibt es aber auch Stimmen, die für die Abschaffung des klassischen Schuldvorwurfs plädieren, ohne jedoch ein präventiv begründetes Maßregelrecht anstelle des aktuellen Strafrechts zu fordern.110 Tatjana Hörnle bspw. argumentiert: „Wir sollten uns konzeptuell wie begrifflich von der Vorstellung eines Schuldvorwurfs verabschieden.“111 Sie ist der Ansicht, dass die aktuelle Strafrechtspraxis allein an einem „personalisierten Unrechtsvorwurf“112 anknüpfbar sei, ohne dass es zur Begründung der Strafsanktion des Verweises auf die Schuld des Täters bedürfe. Ein Verzicht auf den Schuldbegriff mache, so Hörnle, „transparenter“, was dem Täter vorgeworfen werde, nämlich „Unrecht begangen zu haben“.113 Denn die Schwierigkeit liege darin, so Hörnle weiter, dass der Schuldbegriff „in heterogener Weise eingesetzt“ werde.114 Sie kritisiert sowohl die fehlende Definition dessen, was Schuld bedeute bzw. „was dem Täter eigentlich vorgeworfen“115 werde, als auch die teilweise problematischen Konzepte und Forderungen, die mit der Mehrdeutigkeit des Schuldbegriffes einhergingen. Hier nennt sie bspw. die noch immer 107

 Merkel 2012, S. 95.  Merkel 2012, S. 95. 109 Singer 2004, S. 63 f. 110  Vgl. bspw. Hörnle 2013, S. 49, mit direktem Verweis auf diese Forderung durch Grischa Merkel. Die Position Hörnles unterscheidet sich auch insofern, als dass sie eine retributiv verankerte Straftheorie konzipiert, vgl. Kapitel 2 Die Legitimation der Institution Strafe, S. 19 ff. 111  Hörnle 2013, S. 49. 112  Hörnle 2013, S. 50. 113 Hörnle 2013, S. 50. 114  Hörnle 2013, S. 57; vgl. die Stellungnahme zur Kritik Hörnles in Kapitel 3.7 Die Kritik (2): Verantwortung ohne persönliche Schuld, S. 160 f. 115 Hörnle 2013, S. 57. 108

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

mitschwingenden „geistesgeschichtlichen Wurzeln“ des Schuldbegriffes, die „im christlichen Denken“ lägen116, oder das Konzept der „Letztverantwortung“117, welche mitunter dem Täter mit Verweis auf den Schuldbegriff zugeschrieben werde und sich u. a. der Diskussion um das Anders-handeln-Können (Hörnle spricht von „Anders-Entscheiden-Können“118) zu stellen habe. Mit Blick auf die Diskussion um die Straftheorien und die Begründung von Strafe sind nun zunächst zwei Fragestellungen zu unterscheiden, die im Folgenden die Untersuchung strukturieren: (1) Zum einen scheint das Schuldprinzip aufgrund seiner Positionierung gegenüber den anderen Prinzipien – Vergeltung und Prävention – in seiner Funktion festgelegt zu sein. So scheint zwischen Vergeltungsprinzip und Schuldprinzip ein unauflöslicher Zusammenhang zu bestehen. Besonders in der deutschsprachigen strafrechtswissenschaftlichen Diskussion steht das Schuldprinzip als das Prinzip des Vergeltungsdenkens in der Kritik. Die Forderung nach einem Ausgleich der Schuld des Täters durch die Sanktion wird als atavistisches Vergeltungsdenken interpretiert. Daneben kollidiert das Schuldprinzip mit den kriminalpräventiven Interessen. Aufgrund von Sicherheitsbedürfnissen der Gesellschaft erscheint es sinnvoll, das Schuldprinzip durch das Präventionsprinzip zu ersetzen bzw. zumindest aufzuweichen. Fraglich ist jedoch, welche Bedeutung dies für die Institution Strafe hätte. Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und den Präventionsprinzipien zu analysieren und dabei die zentralen Aspekte des Schuldprinzips herauszuarbeiten, ist ein Ziel dieses Kapitels. (2)  Zum anderen ist auffällig, dass sich die konzeptionellen Unterschiede der Straftheorien im Laufe der Diskussion zu gegenläufigen Denkschemata verfestigt haben: einerseits vergangenheitsbezogen, tat‑ und schuldorientiert, deontologisch, transzendental – andererseits zukunftsbezogen, folgenorientiert, konsequentialistisch, empirisch („weltlich“). Diese Kategorienbildung119 prägt bis heute die Debatte. Doch die Rechtsanwendung zeigt, dass für die Strafrechtspraxis sowohl Aspekte der Prävention als auch der Schuldausgleich relevant sind.120 Daher werden in einem zweiten Schritt Vereinigungstheorien analysiert, welche die gegenläufigen Denkschemata aufbrechen und präventive und retributive Theorieansätze zusammenbringen  – und damit sowohl in der Theorie überzeugender sind als auch in der tatsächlichen Rechtspraxis. Michael Pawlik121 sieht in den neueren Versuchen, die den „retributiven Überlegungen eine zentrale 116 Hörnle

2013, S. 59.  Hörnle 2013, S. 62. 118  Hörnle 2013, S. 62. 119 Hörnle 2011 (b), S. 11 mit weiteren Literaturnachweisen. 120  Vgl. Kapitel 2.2  Die Rolle des Schuldprinzips und der Konflikt mit dem Präventionsgedanken, S. 29. 121 Vgl. im Folgenden: Pawlik 2004 (b), S. 228 ff. 117

2.4 Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie

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Rolle im Rahmen der Strafbegründung einräumen“ bereits Anzeichen, dass sich die „traditionelle Frontstellung ‚absolute versus relative Straftheorien‘“ auflöse: Die „neuen“ Vergeltungstheorien legitimieren sich nicht weniger weltimmanent als die Präventionslehren. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Theoriegruppen liegt in der Weise, wie sie jene „weltlichen“, d. h. gesellschaftlichen Belange thematisieren.122

Diese weltimmanente Bedeutung ist im Rahmen dieses Kapitels, insbesondere hinsichtlich des Schuldprinzips, zu überprüfen. Wenn das Denkschema von transzendental versus weltimmanent aufgebrochen werden kann, ist eine neue Diskussionsbasis geschaffen. Auf dieser muss auch die Kritik am Schuldprinzip neu bewertet werden. Im Folgenden liegt der Fokus der Analyse zunächst auf den Inhalten und der Bedeutung der verschiedenen Prinzipien (Kapitel 2.4), im Anschluss daran wird die Legitimation der Institution Strafe thematisiert (Kapitel 2.5). Der Diskussion um die Relevanz der Willensfreiheitsproblematik und um die Feststellbarkeit der strafrechtlichen Schuld widmen sich die Kapitel 3 und 4.

2.4 Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie Um die Bedeutung des Schuldprinzips erfassen zu können, ist zunächst das Verhältnis von Vergeltungsdenken und Schuldprinzip genauer herauszuarbeiten. Im Rahmen dieser Studie kann keine umfassende rechtshistorische Darstellung der Entwicklung des Vergeltungsstrafrechts geleistet werden, doch ist für eine systematische Untersuchung des Schuldprinzips die zentrale Bedeutung herauszustellen, die das Schuldprinzip in der Entwicklung des Strafrechts spielt. Daran schließt sich die Analyse der unterschiedlichen Präventionsprinzipien an. Schließlich ist die vielzitierte These von Günter Ellscheid und Winfried Hassemer zu prüfen, dass das Schuldprinzip durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit123 ersetzbar sei.

2.4.1 Die rechtshistorische Bedeutung des Schuldprinzips Das Vergeltungsprinzip scheint, so die überwiegende Darstellung in der Literatur, ein „schwer zu durchdringendes Amalgam aus Rache, Talion und eben Vergeltung“124 zu sein. Als früheste Form des Vergeltungsdenkens gilt das ius

122

 Pawlik 2004 (b), S. 229 (Hervorhebung im Original).  Ellscheid /Hassemer 1970. 124 Koriath 1995, S. 634. 123

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

talionis, das Talionsprinzip.125 Seine wohl bekannteste Formulierung ist durch Die Bibel überliefert: Ist weiterer Schaden entstanden, dann mußt du geben: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme. (Ex. 21, 23–25)

Das Talionsprinzip erscheint roh und brutal und im Grunde auf Rachebedürfnissen zu beruhen. Die für uns heute hart wirkenden Strafen des ius talionis werden oft angeführt, um zu verdeutlichen, dass das Prinzip der Vergeltung keine Legitimationsgrundlage für ein modernes Strafrecht sein kann: [D]ie Vergeltungsfunktion [ist] die älteste und in früheren Zeiten allein ins Auge gefaßte. Im Verhältnis zur ursprünglichen Friedlosigkeit des Verbrechers, der vogelfrei wurde, war freilich schon die Beschränkung der Rechtsfolge auf bloße dem Verbrechen äquivalente Vergeltung ein nicht zu unterschätzender Fortschritt. Der Vergeltungsgedanke, in seiner Frühform als ius talionis, fordert, Gleiches mit Gleichem zu vergelten […]: „Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß“, etc. Die mittelalterlichen, oft spiegelnden Körperstrafen (etwa Herausschneiden der Zunge beim Meineid, Abhauen der Schwurhand) sind ein entsetzliches Beispiel für rohe Vergeltung. Hier wird Brutalität mit Brutalität vergolten, und das Ergebnis konnte nur allgemeine Verrohung sein. Daß diese stumpfe und stumpfsinnige, primitive Vergeltung keinen Wert, weder für den Einzelmenschen noch für die Rechtsgemeinschaft hat, ist leicht einzusehen.126

Zunächst ist zu betonen, dass der Errungenschaft des Talionsprinzips in der zitierten Darstellung Webers zu wenig Bedeutung geschenkt wird. So erkennt zwar Weber dieses als Fortschritt an, hebt jedoch in erster Linie auf die Kritik am Talionsprinzip als brutale und primitive Vergeltung ab. Doch trotz der durch die Historie belegten harten Strafen enthält das Talionsprinzip zugleich einen bemerkenswerten Gedanken: Es bringt einen Maßstab für die Bemessung der Sanktion in das Strafrecht ein. Die Bemessung der Strafe orientiert sich am begangenen Verbrechen. Die Härte der Sanktion hat der Schwere der Tat angemessen zu sein. Es ist eine wesentliche Leistung des Talionsprinzips, zur Eindämmung von maßlosen Strafen ein „Postulat der Restriktion und Proportion“127 in das strafrechtliche Denken eingebracht zu haben. Die Forderung nach einer „Gleichheits‑ oder Ähnlichkeitsbeziehung“128 zwischen dem begangenen Verbrechen und der Strafsanktion, die das ius talionis formuliert, führt ein festes Maßprinzip in die Institution Strafe ein. Unabhängig davon, ob das Vergeltungs125

 Vgl. z. B. Roxin 2006, RN 2, S. 70.  Baumann/ Weber / Mitsch 2003, RN 52, S. 25. 127 Heinz Koriath (1995, S. 634) bezeichnet das Talionsprinzip als „restriktives Prinzip“ und betont ebenfalls die Errungenschaft der Begrenzung. Des Weiteren betonen u. a. auch Hassemer, Kaufmann und Wolf die Errungenschaft des Talionsprinzips als „Aufforderung, doch bitte Maß zu halten“ (Hassemer 2009, S. 57), als „Anerkennung des Grundsatzes der Proportion zwischen Tat und Sühne“ (Kaufmann 1976 (b), S. 33) und als einen Fortschritt „gegenüber den Exzessen der Blutrache im Kontext des damaligen Rechtsdenkens“ (Wolf 1992, S. 47). 128 Nass 1963, S. 28. 126

2.4 Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie

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denken von einem Racheverlangen mitgetragen wird, ist bemerkenswert, dass mit dem Talionsprinzip das Vergeltungsdenken somit definitiv ein rationales Element beinhaltet. Des Weiteren hat sich der Vergeltungsgedanke im Laufe der Entwicklungsgeschichte des Strafrechts stark gewandelt, so dass ein Verweis auf seinen Ursprung im Talionsprinzip als Kritik nicht ausreichend ist. Ein bedeutender Entwicklungsschritt erfolgt durch die „Entdeckung“ strafrechtlicher Schuld. Die individuelle Schuld führt in das Rechtsdenken ein weiteres „Postulat der Restriktion und Proportion“ ein, das einen wesentlichen Neuansatz gegenüber dem Talionsprinzip markiert. Auch Weber erkennt diesen Schritt als Fortschritt gegenüber dem Vergeltungsdenken des ius talionis an: Die nackte Vergeltungstheorie berücksichtigte nicht das Menschsein des Verbrechers, fragte nicht nach seiner persönlichen Verantwortlichkeit, nach seiner Schuld. […] Der Schuldgedanke brach sich erst im Laufe einer langen historischen Entwicklung Bahn. […] Damit wird das eigenverantwortlich herbeigeführte Unrecht zum Wesensmerkmal des Verbrechens, und mit der Strafe wird dieses schuldhaft begangene Unrecht ausgeglichen. Handeln ohne Schuld kann nicht bestraft werden.129

Die Entwicklung des Strafsystems lässt sich beschreiben als Entwicklung von einem Tatstrafrecht zu einem Täterstrafrecht bzw. von der Erfolgshaftung zur Schuldhaftung.130 Dieser Entwicklungsprozess verdeutlicht die Errungenschaft des Schuldprinzips für das strafrechtliche Denken. In der Frühzeit der Strafverfolgung (nach germanischem Rechtsdenken131) wird nur die objektive, äußerliche Seite der Tat und des Tatherganges betrachtet: Es zählt der Erfolg der Tat, der entstandene Schaden, man spricht von einer reinen Erfolgshaftung. Zwar werden bereits die gewollte und die ungewollte Tat unterschieden132, doch dazu wird nicht nach der inneren Einstellung des Täters gefragt, sondern das Urteil darüber wird allein aus festgelegten äußerlichen Tatmerkmalen abgeleitet. Anschaulich belegt dies bspw. das Groninger Stadtbuch von 1425: Überfährt jemand einen anderen, während er auf dem Wagenpferde sitzt oder an der Seite des Wagens schreitet, dann gilt seine Tat als Ungefährwerk [ungewollte Tat, J. E.-S.]; sitzt oder steht er jedoch auf dem Wagen, so wird gewollte Tat angenommen.133

Bei dieser Beurteilung interessiert nur das begangene Verbrechen, der eingetretene Erfolg – die Motive des Täters, seine Absicht, werden nicht beachtet. Es wird nicht nach der inneren Einstellung des Täters gefragt und auch nicht nach seiner Schuldfähigkeit. Die Strafen, die verhängt werden, orientieren sich demnach sowohl in ihrem Anknüpfungspunkt als auch in ihrer Ausgestaltung allein 129

 Baumann/ Weber/ Mitsch 2003, RN 54, S. 25 (Hervorhebung im Original). 1964, S. 61–79. 131  Vgl. die Epocheneinteilung bei Schmidt 1995, S. 17. 132  Vgl. dazu Schmidt 1995, S. 71. 133 Schmidt 1995, S. 71 (Hervorhebungen im Original). 130 Bader

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

an den äußerlichen Merkmalen der Tat. Auch das Talionsprinzip basiert auf einer reinen Erfolgshaftung: Die Härte der Strafe hat der Schwere des Verbrechens angemessen zu sein. Daher erscheint diese Form der Bestrafung extrem: Denn was dabei ohne Beachtung bleibt, ist die subjektive Seite der Tat – „Wissen und Willen“134 des Täters und damit seine eigentliche Verantwortung. Im Hoch‑ und Spätmittelalter135 setzt hier jedoch ein Wandel ein: Es wird auch nach den Motiven des Täters gefragt und nach seiner Schuldfähigkeit. Im Spätmittelalter, in Ansätzen sogar schon früher, wurde ein neues Strafrecht entwickelt. Dieses war ein reines Schuldstrafrecht, und zwar vornehmlich ein solches für vorsätzlich begangene Taten, während in der fränkischen Zeit weitgehend Erfolgshaftung (Haftung für den äußeren und sei es auch unverschuldeten Erfolg einer Handlung) gegolten hatte […].136

Damit werden die Motive des Täters und seine Lebensumstände bei der Bestrafung berücksichtigt und die „Schuld […] tritt als wesentlich neues, wenn auch noch längst nicht beherrschendes Tatmoment in den Umkreis strafrechtlicher Bemühungen ein“.137 In einem langen Entwicklungsprozess wandelt sich die Erfolgshaftung allmählich zur Schuldhaftung. Es entstehen Straf‑ und Prozessgesetze, als bekannteste die Constitutio Criminalis Carolina, die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. von 1532. Man beginnt, die Strafen zu differenzieren, zu systematisieren und zu humanisieren.138 Die „Carolina“ ist nach äußerem Umfang und innerem Gehalt das bedeutendste Reichsgesetz, das im alten Reich jemals zustande gekommen ist. […] Ihre Ausdrucksweise, z. B. die Art, in der sie die einzelnen Verbrechenstatbestände beschreibt, ist präziser als diejenige der mittelalterlichen Gesetze, obwohl sie insoweit heutigen Anforderungen an die Gesetzgebung nicht genügen würde. […] Bemerkenswert ist auch ihr hoher sittlicher Gehalt, der sich besonders im offensichtlichen Bestreben des Gesetzgebers zeigt, zwar die schuldigen Verbrecher einer gerechten Strafe zuzuführen, aber die noch nicht schuldig befundenen Angeschuldigten vor unnützen Quälereien, vor dauernder Schädigung und besonders vor ungerechter Verurteilung zu bewahren.139

Das Schuldprinzip ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Entwicklungsprozesses. Dies ist natürlich kein geradliniger Entwicklungsprozess und die Schuldhaftung hat die Erfolgshaftung nicht komplett verdrängt, wie auch die bis heute anhaltende, intensive Diskussion um das Schuldprinzip zeigt.140 Unbestritten ist 134

 Bader 1964, S. 65.  Vgl. Bader 1964, S. 72 oder Gmür / Roth 2011, RN 214, S. 92. 136 Gmür / Roth 2011, RN 214, S. 92 (Hervorhebung im Original). 137  Bader 1964, S. 73 (Hervorhebung im Original). 138  Bader 1964, S. 74 f. 139 Gmür / Roth 2011, RN 328, S. 140 (Hervorhebung im Original). 140  Grundsätzlich gilt sowohl im deutschen Strafrecht als auch im Zivil‑ und Verwaltungsrecht die Schuldhaftung (Verschuldenshaftung). Aber es gibt z. B. im Zivil‑ und im Verwaltungsrecht Fälle, in denen der Verursacher auch bei schuldlos verursachten Rechtsgutsverletzungen 135

2.4 Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie

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jedoch, dass die Frage nach der Schuld als ein Merkmal der Entwicklung hin zu einem differenzierteren Strafsystem gilt, das sich der Frage nach der subjektiven Seite der Tat hin überhaupt erst öffnet. Mit der Frage nach der Schuld wird ein neuer Anknüpfungspunkt für die Institution Strafe geltend: die persönliche Vorwerfbarkeit. Nicht mehr nur der Erfolg, nur die Schwere der begangenen Tat (wie im ius talionis), sondern die Schwere der strafrechtlichen Schuld wird zum Maßstab für die Härte der Sanktion. Da auch das Schuldprinzip aber einen Ausgleich durch die Strafsanktion anstrebt und als Bezugspunkt des Ausgleichs das in der Vergangenheit liegende Verbrechen betrachtet, wird es in der Literatur meist als Element der Vergeltungslehre gewertet und das Schuldstrafrecht als absolute Straftheorie dem Vergeltungsdenken zugeordnet.141 Vergleicht man jedoch das Schuldprinzip mit dem Talionsprinzip, so muss die bemerkenswerte Neuorientierung des Maßprinzips hervorgehoben werden. Betrachtet man das Postulat der Restriktion und Proportion, welches das Schuldprinzip in das Strafrecht einbringt, bzw. nach einer längeren Entwicklungsgeschichte des Schuldbegriffes eingebracht hat, so zeigt sich, dass gerade mit dem Schuldprinzip ein rational begründetes, objektives Prinzip142 vorliegt, das ein Fundament für den Gedanken einer gerechten Strafe bildet. Der Blick auf die rechtshistorische Bedeutung des Schuldprinzips macht deutlich, dass dieses nicht auf metaphysisches oder religiöses Denken reduzierbar ist, sondern eindeutig eine sozial-rechtliche143 Bedeutung hat: Erst das Schuldprinzip macht die Unterscheidung von schuldhaft begangenem Unrecht und schuldlos begangenem Unrecht im strafrechtlichen Denken möglich und macht diesen Unterschied zur zentralen Grundlage der Bemessung der strafrechtlichen Sanktionen. Damit zeigt sich ebenfalls, dass die Kritik an der deontologischen Rechtfertigung des Schuldstrafrechts, mit dem Argument „Die Strafe dient also zu nichts, sondern trägt ihren Zweck in sich selbst“144, nicht greift. Zwar erfolgt die Legitimation anhand des immanenten Ausgleichgedankens und stellt im Ver-

haftbar ist (Erfolgshaftung bzw. Gefährdungshaftung), wie z. B. bei der Tierhalterhaftung. Auch bezüglich ihrer Bedeutung für das Strafrecht werden Schuld‑ und Erfolgshaftung noch diskutiert und das Englische Strafrecht bspw. wendet die Erfolgshaftung auch innerhalb des Strafrechts an (vgl. Kapitel 2.4.2 Die Kritik am Schuldprinzip: das strikte Präventionsmodell Barbara Woottons). 141  So ordnet auch Weber, obwohl er diesen wesentlichen Unterschied zwischen Vergeltungs‑ und Schuldprinzip hervorstellt, letztlich dennoch beide den absoluten Theorien zu (Baumann/ Weber /Mitsch 2003, RN 50 ff., S. 24 ff.). Vereinzelt wird das Schuldstrafrecht in der strafrechtswissenschaftlichen Literatur aber auch als eigenständige Theorie gegenüber dem Erfolgs‑ und Vergeltungsstrafrecht hervorgehoben (vgl. bspw. Kaufmann 1976 (b), S. 33). 142 Vgl. die Kritik Eberts, Kapitel 2.3 Die Kritik an der Vergeltungstheorie und am Schuldprinzip, S. 32. 143  Vgl. dazu Baumann 1969, S. 116. 144 Roxin 1966, S. 377.

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

gleich zu den Präventionstheorien eine empiriefreie Begründung145 dar. Dennoch verfolgt die Institution Strafe auch nach dieser Theorie ein gesellschaftsrelevantes Ziel und die Sanktion „dient“ einem klar definierten Zweck: Die Täterin oder der Täter werden, der persönlichen Schuld entsprechend, mit Strafe belegt, um den Normbruch angemessen zu begleichen. Der Unterschied zu den präventiven Zwecken liegt vielmehr darin, dass nach diesen Theorien mit der Strafe noch ein weiterer, über die Bestrafung hinausreichender Zweck angestrebt wird. Das Dargestellte macht deutlich: Obwohl das Schuldprinzip auf einem vergeltungstheoretischen Fundament basiert und den Gedanken des Ausgleichs verkörpert, sind Schuld‑ und Vergeltungsstrafrecht nicht gleichzusetzen. Gerade mit dem Schuldprinzip liegt ein sozial-rechtliches Prinzip mit einem klaren Strafzweck vor: die Bemessung der Sanktion gemäß der Schuld des Täters. Das Schuldprinzip stellt daher mit seiner Forderung nach Restriktion und Proportion, nach einer Verhältnismäßigkeit von Schuld und Strafe, ein bis heute gültiges und unhintergehbares Maßprinzip der Institution Strafe dar.

2.4.2 Die Kritik am Schuldprinzip: das strikte Präventionsmodell Barbara Woottons Die Gegenposition zum Schuldprinzip bildet die verschuldensunabhängige Haftung. Das strikte Präventionsmodell Barbara Woottons ist ein insbesondere in der angloamerikanischen Literatur vieldiskutiertes Konzept146 für die Forderung nach einer generellen Ersetzung des Schuldprinzips durch die verschuldensunabhängige Haftung (strict liability). Im englischen Strafrecht wird die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortlichkeit durch die Formel „actus non facit reum, nisi mens sit rea“ bezeichnet (“The act itself does not constitute guilt unless done with a guilty mind”).147 Bei bestimmten Delikten (strict liability offences) wendet das englische Strafrecht jedoch eine verschuldensunabhängige Haftung an, wobei „kein vollständiger Nachweis von Absicht (intention), Wissen (knowledge), Rücksichtslosigkeit (recklessness) oder einfacher Fahrlässigkeit (negligence) hinsichtlich sämtlicher Elemente des actus reus [der Straftat, J. E.-S.] erforderlich ist“.148 Die Diskussion um die mens rea (mens lat. für „Verstand“, rea lat. für „angeklagt“) wird dabei seit Jahrhunderten ähnlich kontrovers geführt wie um den Schuldbegriff im deutschen Strafrecht.149 Ein Anknüpfungspunkt für die Kritik von Barbara Wootton ist die oben beschriebene Entwicklung vom Erfolgsstrafrecht hin zum Schuldstrafrecht: 145

 Vgl. Pawlik 2004 (a), S. 47.  Herbert Hart schreibt über Barbara Wootton, sie sei “[by] far the best informed, most trenchant and influential advocate of these new ideas” (Hart 2008, S. 193). 147  Hörster 2009, S. 5 f. 148  Hörster 2009, S. 16 (Hervorhebung im Original). 149 Hörster 2009, S. 8. 146

2.4 Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie

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To punish people merely for what they have done, it is argued, would be unjust, for the forbidden act might have been an accident for which the person who did it cannot be held to blame. Hence the requirement, to which traditionally the law attaches so much importance, that a crime is not, so to speak, a crime in the absence of mens rea. […] A new dichotomy is thus created, and one which in this instance exists not merely in the minds of the judges but is actually enshrined in the law itself – that is to say, the dichotomy between those offences in which the guilty mind is, and those in which it is not, an essential ingredient.150

Das Merkmal mens rea (guilty mind) beinhaltet die Frage nach der persönlichen Vorwerfbarkeit und ist damit im Prinzip mit der Diskussion um das Schuldprinzip des deutschen Strafrechts vergleichbar. Das Konzept des guilty mind sei jedoch, so die Kritik von Wootton, revisionsbedürftig: [The] material consequences of an action, and the reasons for prohibiting it, are the same whether it is the result of sinister malicious plotting, of negligence or of sheer accident. A man is equally dead and his relatives equally bereaved whether he was stabbed or run over by a drunken motorist or by an incompetent one […].151

Das Urteil darüber, so Wootton, ob eine Tat mit mens rea, also schuldhaft, oder ohne mens rea, also ohne Schuld, verübt wurde, sei letztlich irrelevant hinsichtlich eines wesentlichen Aspektes: des Schadens, den diese Tat verursacht habe. Bei der Beurteilung einer Tat sollte jedoch gerade der gesellschaftliche Schaden (social damage), der aus dieser Tat resultiere, von zentralem Interesse sein, so ihr Ansatz.152 In ihrem Modell müsse z. B. die Verursachung eines Verkehrsunfalles mit Todesfolge gleich beurteilt werden, unabhängig davon, ob der Verkehrsunfall beabsichtigter Mord war oder aber aus Fahrlässigkeit geschah, denn in beiden Fällen sei der gleiche Schaden entstanden. Ob eine Tat mit Vorsatz, aus Fahrlässigkeit oder aus purem Zufall geschah, wäre damit, so Wootton, irrelevant. Denn mit Blick auf den entstandenen Schaden würde bei der Beurteilung der Tat die Frage nach der mens rea überflüssig. Die Verhängung von Sanktionen müsste sich vielmehr, so ihre Forderung, auf ein umfassendes Konzept einer verschuldensunabhängigen Haftung (strict liablility), also einer reinen Erfolgshaftung stützen: Aufgrund des gesellschaftlichen Schadens, den eine Tat nach sich ziehe, seien entsprechende Sanktionen zu verhängen. Die Frage nach der persönlichen Vorwerfbarkeit sei dabei irrelevant, denn das Erfordernis der Haftung des Täters bzw. der Verhängung von Sanktionen sei allein durch den eingetretenen Erfolg (den Schaden) gerechtfertigt. Wootton betrachtet den Sinn und Zweck der Institution Strafe ausschließlich und vollständig durch präventive Maßnahmen erfüllt. Sinn und Zweck der Institution Strafe lägen in dem auf die Zukunft gerichteten Ziel des Schutzes der All150

 Wootton 1981, S. 43 (Hervorhebung im Original).  Wootton 1981, S. 46. 152 Wootton 1981, S. 47. 151

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

gemeinheit (forward-looking aims of social protection) und dieses Ziel habe “absolutely no connection with punishment”.153 Wootton fordert das Umdenken, dass die Bedeutung der Institution Strafe nicht mehr länger in ihrem strafenden (punitive), sondern vielmehr in ihrem präventiven Charakter (preventive)154 zu sehen sei. Damit ist ihre Position konsequenter und radikaler als die anderer Vertreter eines Präventionsstrafrechts: Eine konsequente Prävention sei, so Wootton, kein Strafrecht mehr im eigentlichen Sinn. Ihr striktes Präventionsmodell zielt im Wesentlichen auf eine Spezialprävention zur Unschädlichmachung und Behandlung des Täters und ist mit dem Begriff der Sozialhygiene (social hygiene) treffend bezeichnet.155 Mit der Forderung Woottons, den traditionellen strafenden Ansatz zu überwinden und durch Prävention zu ersetzen, würde die Beachtung der Schuldfähigkeit (der mens rea) überflüssig und das Konzept der strict liabilty, also einer reinen Erfolgshaftung, unbedenklich: “If that function [der strict liability, J. E.-S.] is conceived less in terms of punishment than as a mechanism of prevention, these fears [bzgl. der strict liability, J. E.-S.] become irrelevant.”156 Wootton bemerkt, dass diese Modifikation nicht sofort und umfassend, sondern nur Schritt für Schritt erfolgen könne, aber die von ihr geforderten Änderungen seien für eine angemessene, moderne Reaktion auf Normverletzungen unumgänglich: I am not, of course, arguing that all crimes should immediately be transferred into the strict liability category. […] But I do suggest that the contemporary extension of strict liability is not the nightmare that it is often made out to be, that it does not promise the decline and fall of the criminal law, and that it is, on the contrary, a sensible and indeed inevitable measure of adaptation to the requirements of the modern world […].157

Hervorzuheben ist, dass der Ansatz von Wootton zunächst zu trennen ist von einer Argumentation, die die Anerkennung von strafrechtlicher Schuld ablehnt, da diese nicht eindeutig feststellbar sei. Diese Argumentation hängt mit der Diskussion um die Freiheit des Willens zusammen und kritisiert das Konzept der strafrechtlichen Schuld mangels exakter Feststellbarkeit.158 Die Argumentation Woottons hingegen erfolgt im Kontext der Diskussion um die Straftheorien. 153

 Wootton 1981, S. 46.  Wootton 1981, S. 51. 155 Vgl. Hart 2008, S. 193. 156  Wootton 1981, S. 45. 157  Wootton 1981, S. 51. 158 Diese Kritikpunkte sind Gegenstand der Kapitel  3 und 4. An einer späteren Stelle in ihrer Argumentation stützt sich Wootton zusätzlich auf die Problematik der Feststellbarkeit (1981, S. 90): “At a more fundamental level, acceptance of mental disorder as diminishing or eliminating criminal responsibility demands an ability to get inside someone else’s mind so completely as to be certain whether he has acted wilfully or knowingly, and also to experience the strength of the temptations to which he is exposed. This, I submit, is beyond the competence of even the most highly qualified expert.” 154

2.4 Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie

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Wootton fordert, dass das Konzept strafrechtlicher Schuld deshalb durch ein Präventionsmodell mit einer verschuldensunabhängigen Haftung zu ersetzen sei, da es ein retributives, auf moralischem Urteilen basierendes Strafrecht befördere. Auffallend an der Konzeption Woottons ist aber, dass sie zwar das Konzept des guilty mind kritisiert, aber nicht generell über Bord wirft. Sie unterscheidet in ihrer Konzeption zwei Ebenen: die Verurteilung (conviction) und die Behandlung (treatment), also den Vollzug der Sanktion. Für die beiden Ebenen sei das Konzept des guilty mind von je unterschiedlicher Bedeutung: The conclusion to which this argument leads is, I think, not that the presence or absence of the guilty mind is unimportant, but that mens rea has, so to speak – and this is the crux of the matter – got into the wrong place. […] If the object of the criminal law is to prevent the occurrence of socially damaging actions, it would be absurd to turn a blind eye to those which were due to carelessness, negligence or even accident. The question of motivation is in the first instance irrelevant. But only in the first instance. At a later stage, that is to say, after what is now known as a conviction, the presence or absence of guilty intention is all-important for its effect on the appropriate measures to be taken to prevent a recurrence of the forbidden act. […] The results of the actions of the careless, the mistaken, the wicked and the merely unfortunate may be indistinguishable from one another, but each case calls for a different treatment.159

Bei der Verurteilung sei, so die Unterscheidung von Wootton, das Konzept des guilty mind am falschen Platz. Ein Konzept strafrechtlicher Schuld, das auf der Ebene der Verurteilung angewendet würde, betrachtet Wootton als moralische Wertung: Schuld würde als Schlechtigkeit verstanden werden (wickedness) und damit ein moralisches „Qualitätsurteil“ darstellen. Daher dürfe, so die Argumentation, auf dieser Ebene nicht die Schuld, sondern nur der durch die Tat verursachte Schaden den Anknüpfungspunkt für die Verurteilung darstellen. Jedoch auf der Ebene des Strafvollzugs, der Behandlung, wird für Wootton das Konzept der persönlichen Vorwerfbarkeit wieder relevant (all-important). Hier müsse durchaus nach der schuldhaften Absicht (guilty intention) gefragt werden. Für die Entscheidung, welche Behandlung erfolgreich sein werde, stelle das Merkmal der mens rea daher eine wichtige Referenz dar – denn der individuelle Fall erfordere eine entsprechende individuelle Behandlung. Wootton trifft ihre Unterscheidung gemäß der Dichotomie von Verurteilung und Vollzug. Für die Ebene der Verurteilung sei das Konzept strafrechtlicher Schuld irrelevant, für die des Strafvollzugs jedoch von Relevanz. Doch gerade diese Trennung zeigt, dass ihre Kritik am strafrechtlichen Schuldprinzip nicht konsistent ist. Ihr Konzept eines spezialpräventiven Modells zeigt vielmehr, dass auch dieses an dem Konzept des guilty mind festhalten muss. Denn, so die Argumentation Woottons, die spezialpräventive Ausgestaltung des Vollzugs müsse, um ein angemessenes Behandlungskonzept darzustellen, die Absicht 159 Wootton

1981, S. 47 f. (Hervorhebung im Original).

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des individuellen Täters hinterfragen und damit das Vorliegen von mens rea, von persönlicher Vorwerfbarkeit, beurteilen. Gerade in einem spezialpräventiv ausgerichteten Modell müsse dem Täter, der aus Absicht gehandelt habe, anders begegnet werden als dem, der fahrlässig gehandelt habe. Wenn die Schuld jedoch auf der Ebene des Vollzugs eine Rolle spielt, muss diese auch auf der Ebene der Verhängung des Urteils hinterfragt werden. Denn wie kann es gerechtfertigt werden, dass ein Element, das auf der Ebene der Beurteilung nicht erwogen wird, auf der Ebene des Strafvollzugs plötzlich eine ausschlaggebende Bedeutung erhält? Dieser auffällige Bruch in der Argumentation Woottons spricht jedoch noch nicht dagegen, dass ein stringentes Konzept der verschuldensunabhängigen Haftung nicht konzipierbar wäre. Die Kritik an einer strikt präventiven Straftheorie hat vielmehr an der generellen Perspektive der präventiven Zweckrationalität anzusetzen. Erfolgt die Legitimation der Institution Strafe allein durch präventive Gesichtspunkte, also durch den Verweis auf das Interesse an der Sicherheit der Allgemeinheit, so werden dabei automatisch die Interessen des Verurteilten untergeordnet. Dies ist die zentrale Kritik an den Präventionstheorien, sie soll im Folgenden näher dargestellt werden.

2.4.3 Die Kritik an den Präventionstheorien Die Kritik an einer Instrumentalisierung des Einzelnen für die kriminalpräventiven Interessen der Allgemeinheit lässt sich letztlich bis auf Kant zurückführen. Wie bereits skizziert, argumentiert Kant, dass Strafe, die nicht die vergeltende Gerechtigkeit der Tat zum Zweck habe, sondern einen anderen Nutzen im Blick habe, den Täter damit „bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen“ benutze.160 Dieser Einwand richtet sich gegen eine Verhängung von Sanktionen aus rein kriminalpräventiven Interessen und ist bis heute die zentrale Kritik an den Präventionstheorien. Im Fall der Spezialprävention würde der Täter zum Behandlungsobjekt161, im Fall der Generalprävention zum Demonstrationsobjekt162. Dabei treten die konkrete Tat und der individuelle Täter in den Hintergrund, diese sind nicht Zweck, sondern nur Anlass für Maßnahmen, deren Zweck letztlich die präventiven Interessen der Allgemeinheit sind. 2.4.3.1 Die negative Generalprävention Die stärkste Kritik richtet sich gegen die negative Generalprävention. Das ist in dem der negativen Generalprävention zugrundeliegenden Menschenbild begründet: Diese betrachtet den Adressaten als „kühl seinen Vorteil kalkulierenden 160 Vgl. die Darstellung der straftheoretischen Argumentation von Kant in Kapitel 2  Die Legitimation der Institution Strafe, S. 16. 161  Mushoff 2008, S. 153, m. weiteren Nachweisen. 162 Mushoff 2008, S. 118, m. weiteren Nachweisen.

2.4 Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie

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homo oeconomicus“163 und „die Gesellschaftsmitglieder als Individuen, die zuallererst an ihrem eigenen Nutzen interessiert sind und diesen in rationaler Weise zu verfolgen wissen“.164 Sie fasst die Beziehung der Adressaten zu den Rechtsnormen somit als eine rein instrumentelle auf: Die Entscheidung zu einer Befolgung oder aber einem Bruch von Normen beruht auf einer reinen KostenNutzen-Kalkulation. Dem wird nun durch den Gedanken der Abschreckung Rechnung getragen. Mit der Sanktionierung der Tat soll potentiellen anderen Tätern demonstriert werden, dass sich Kriminalität nicht lohnt, und soll einer weiteren Verletzung der Rechtsnormen präventiv begegnet werden. Dieser Zweck wird somit zum Maßstab für die Festsetzung der Strafe und die Ausgestaltung der Strafsanktion. „Diese Entscheidungen würden“, so Tatjana Hörnle, „von einer Maximierung der präventiven Wirkung in Relation zu den beschränkten Ressourcen, die für die Strafverfolgung zur Verfügung stehen, abhängig gemacht“.165 Folglich ist der konkrete Täter so zu bestrafen, dass die Strafsanktion auf die Allgemeinheit maximal abschreckend wirkt. Damit ist der Täter jedoch nicht mehr Zweck der Sanktionsmaßnahmen, sondern er wird zum Demonstrationsobjekt. Er ist „Mittel zum Zweck“ der Abschreckung anderer potentieller Täter. Es wird also nicht mehr (auch) mit dem Verurteilten gesprochen, sondern nur noch vermittels seiner. […] Dies aber bedeutet, daß der Täter nur mehr „in der rechtlichen Form, nicht aber nach dem Inhalt der Regelung“ als gleichberechtigtes Mitglied der Rechtsgemeinschaft behandelt wird.166

Die auf Kant zurückgehende Kritik kommt demnach gegenüber der negativen Generalprävention voll zum Tragen: Der Täter wird in der Straftheorie der negativen Generalprävention zum „Mittel zu den Absichten eines anderen Zwecks“ benutzt – und zwar um die allgemeinen Interessen der Kriminalprävention möglichst optimal zu erreichen. Seine Interessen – ein seinem schuldhaft begangenen Unrecht angemessenes Strafurteil und ein Strafvollzug, der ihm möglichst große Chancen auf eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft eröffnet,  – werden gegenüber dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit zurückgestellt. Um die Interessen der Kriminalprävention durchzusetzen, findet bei der negativen Generalprävention eine wesentliche Änderung in der Straflogik statt: Während sich das Schuldprinzip an der Schuld des Täters und dem Unrecht der Tat orientiert, orientiert sich die negative Generalprävention an „der Berechnung von Abschreckungswahrscheinlichkeiten“.167 Somit wird die vom Schuldprinzip geforderte Proportionalität zwischen der Schwere der Schuld und der Höhe 163

 Pawlik 2004 (a), S. 22 (Hervorhebung im Original). 2004 (a), S. 23. 165  Hörnle 2011 (b), S. 13. 166  Pawlik 2004 (a), S. 25 (Hervorhebungen im Original). 167 Hörnle 2011 (b), S. 14. 164 Pawlik

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

der Sanktion aufgehoben und die Dringlichkeit der Abschreckung anderer zur Bemessungsgrundlage genommen. Denn der Zweck ist nicht der Ausgleich der Tat, sondern eine Optimierung der Abschreckungswirkung. Da diese durch eine Anhebung der Strafhöhe vermutet wird, richtet sich die Bemessung der Sanktion danach, wie stark das Abschreckungsbedürfnis bei dieser Tat ist. Für diese Überlegung zählen damit nicht die Schuld des Täters, sondern letztlich die Vorteile, die die Tat für potentielle andere Täter haben könnte und die deshalb eine vergleichbare Tat durch andere Täter wahrscheinlich machen. Damit müsste konsequenterweise, so Tobias Mushoff in seiner Untersuchung zu Strafe – Maßregel – Sicherungsverwahrung, eine neue Ausrichtung der einzelnen Tatbestände nach dem jeweiligen Tatanreiz stattfinden: hohe Strafen müssten dort angedroht und verhängt werden, wo die Neigungen in der Allgemeinheit solche Delikte zu begehen – beispielsweise wegen hoher Gewinnchancen  – besonders groß sind, niedrige Strafe für Straftaten, in denen der Tatanreiz geringer ist. Würde man eine solche Änderung des StGB vornehmen, wäre es denkbar, für einen nur wenig Nutzen bringenden Mord eine geringere Strafe zu verhängen als für einen gewinnbringenden Diebstahl.168

Diese Überlegung verdeutlicht das zugrundeliegende Muster: Wenn die Proportionalität zwischen Schuld und Strafe aufgelöst wird zugunsten einer Proportionalität von Strafe und Abschreckungsbedürfnis, dann ist eine Grundlage geschaffen, auf der Strafen, die nicht zur Tatschuld proportional sind, möglich werden. Damit öffnet sich die Strafzumessung im Vergleich zu der bestehenden Rechtspraxis der Möglichkeit von exzessiven Strafen und Rechtswillkür.169 Doch nicht nur die sich aus dem Konzept der negativen Generalprävention ergebende Straflogik steht in der Kritik, sondern auch das diesem zugrundeliegende Modell des Menschen als allein Kosten und Nutzen abwägender Homo Oeconomicus. Der Homo Oeconomicus ist ein Modell der Rechtsökonomik, die das Verhalten des Menschen  – bspw. im Kontext der Wirkung strafrechtlicher Sanktionen  – im Rahmen einer ökonomischen Analyse untersucht und beschreibt. Doch dieses Modell wurde bereits durch die Entwicklung einer verhaltenswissenschaftlich orientierten Rechtsökonomik der Revision unterzogen. Diese ist auf der Basis sowohl von theoretischer als auch empirischer Forschung zu Modellen aus der Spieltheorie zu dem Ergebnis gekommen, dass Menschen in ihrem Handeln auch durch Fairness-Aspekte motiviert sind. So gelangt Stefan Magen bei seiner Untersuchung über Fairness, Eigennutz und die Rolle des Rechts zu dem Fazit, dass man

168 Mushoff 2008, S. 118 f; vgl. hierzu z. B. auch Eduard Dreher 1992, S. 20: „Die Tatbestände unseres geltenden Strafrechts sind für eine Gefährlichkeitsprognose untauglich. Ein Maßregelrecht kann mit solchen Tatbeständen nichts anfangen.“ 169 Mushoff 2008, S. 119.

2.4 Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie

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Fairness und Gerechtigkeit deshalb nicht nur als hehre Ideale sehen [sollte], die über dem Recht schweben und dort nicht weiter stören. Sie sind reale Erwartungen, auf die zu verzichten nicht ratsam wäre.170

Die Darstellung von Magen zeigt, dass die Präferenz für Fairness durchaus auch durch eigennützige Motive beeinflusst wird und dass diese nicht einer von der Rechtsphilosophie betrachteten (absoluten) Gerechtigkeit entspricht.171 Doch die verhaltenswissenschaftlich fundierte Rechtsökonomik zeigt auf, dass eine Präferenz für Fairness sehr wohl empirisch belegbar ist.172 2.4.3.2 Die positive Generalprävention Bei der positiven Generalprävention fällt eine wesentliche Änderung im Vergleich zur negativen Generalprävention auf. Hier wird die Beziehung der Adressaten zu der Rechtsordnung als nicht-instrumentelle charakterisiert.173 Das dieser Straftheorie zugrunde liegende Menschenbild ist nicht mehr das des lediglich Nützlichkeitsaspekte abwägenden Homo Oeconomicus. Die positive Generalprävention geht vielmehr davon aus, dass Adressaten, die die Rechtsnormen in ihre Handlungsmotivation aufnehmen, also rechtskonform handeln, dies aus einer „moralisch fundierten Zustimmung“ heraus tun und nicht lediglich aufgrund einer Kosten-Nutzen-Kalkulation.174 Die positive Generalprävention basiert auf der Überzeugung, dass bei den Adressaten eine Änderung in der Disposition175 gegenüber den Rechtsnormen möglich ist. Diese Disposition, bei der die Einhaltung der Rechtsnormen handlungsleitend ist, zu erzielen und zu bestätigen, ist der Kern dieser Straftheorie. Auch wenn das Menschenbild, das hinter dieser Straftheorie steht, positiver gestimmt ist und von einem gewissen Vertrauen in die Einstellung der Adressaten gegenüber den Rechtsnormen zeugt, so bleiben dennoch die zentralen Kritikpunkte wie bei der negativen Generalprävention bestehen. Zwar wird die Beziehung der Adressaten zu den Rechtsnormen als nichtinstrumentelle charakterisiert, der zu Bestrafende selbst jedoch wird auch in der Theorie der positiven Generalprävention zum Zweck der Prävention in170 Magen

2005, S. 71.  Magen 2005, S. 5. 172  „Allerdings scheint der Homo Sapiens durchaus über so etwas wie einen natürlichen Sinn für Fairness zu verfügen“ (Magen 2005, S. 32). 173  Pawlik 2004 (a), S. 36. 174  Wie bei den anderen Straftheorien, so gibt es auch bei der positiven Generalprävention verschiedene Konzeptionen und Ausdifferenzierungen. Pawlik unterscheidet z. B. die positive Generalprävention im weiteren Sinne von der positiven Generalprävention im engeren Sinne. Erst die im engeren Sinne stelle, so Pawlik, eine tatsächliche Gegenposition zur negativen Generalprävention dar, da sie auf einer normativen Überzeugung der Adressaten beruhe (vgl. Pawlik 2004 (a), S. 36 f.). Im Folgenden wird daher nur auf die positive Generalprävention im engeren Sinne eingegangen. 175 Pawlik 2004 (a), S. 36. 171

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

strumentalisiert. Auch bei der positiven Generalprävention „wird der Täter nicht wegen seiner Tat bestraft, sondern um anlässlich der Tat präventive Gesellschaftsbedürfnisse zu befriedigen“.176 Damit ist auch bei der positiven Generalprävention der Täter Demonstrationsobjekt – zum Zweck der Normstabilisierung. In dieser Theorie ist die Bestrafung einer Tat notwendig, um der Allgemeinheit zu zeigen, dass die Normen durchgesetzt werden. Die positive Generalprävention argumentiert, dass die Normtreuen bei einem Bruch der Normen eine entsprechende Sanktionierung gegenüber dem Rechtsbrecher erwarten würden, bliebe diese aus, würde die Normtreue destabilisiert. Aber auch nach dieser Straftheorie ist damit nicht mehr die Schuld des Täters Legitimationsgrundlage der Sanktion und somit verliert auch hier „der enge Sinnzusammenhang von Unrecht, Schuld und Strafe […] seine Bedeutung, wenn die Strafe zum bloßen Instrument der Demonstration von Normgeltung degeneriert“.177 Wenn die Straflogik des Schuldprinzips aufgegeben wird, lösen sich die Sanktionen vom eigentlichen „Begriff der Strafe“.178 Deshalb gilt sowohl für den generalpräventiven Gedanken der Abschreckung als auch für den der Normstabilisierung, dass die strafrechtlichen Sanktionen zu einem Steuerungsinstrument der Sozialkontrolle werden. Während das Schuldprinzip den Maßstab für die Bemessung der Strafsanktion in der Schuld des Täters sieht, fehlt präventiv bemessenen Sanktionen ein an die Tat gebundener Maßstab. Die Ausgestaltung der Sanktionen erfolgt gemäß der Anforderung, eine Prävention von weiteren Verbrechen zu erwirken. Wenn aber die Sanktionen auf die Verhinderung zukünftiger Verbrechen  – entweder durch Abschreckung oder durch Normstabilisierung  – zielen und eine Optimierung dieses Zwecks die Grundlage der Bemessung von Sanktionen ist, dann bergen beide Theorien die Gefahr, die Bemessung der Sanktion  – im Vergleich zu einem an die Schuld gebundenen Strafmaß – einer willkürlichen Ausgestaltung zu öffnen. Generalpräventiv intendierte Strafe ist daher nicht mehr Reaktion auf das Verbrechen, sondern „Präventionsinstrument“.179 Die positive Generalprävention hat sich einem zusätzlichen Problem zu stellen: Bei dieser Straftheorie besteht nicht unbedingt eine Übereinstimmung zwischen der Theorie über den Zweck von Strafe (Prävention durch Normstabilisierung) und der Vorstellung der Adressaten von diesem Zweck. Tatsächlich besteht eine breite Übereinstimmung diesbezüglich, dass die Normstabilisierung bei den Adressaten, die sich ja durch eine Normanerkennung von der Nützlichkeitsabwägung der Adressaten im Rahmen der negativen Ge176 Mushoff

2008, S. 132.  Mushoff 2008, S. 137. 178  Mushoff 2008, S. 137. 179 Pawlik 2004 (a), S. 21. 177

2.4 Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie

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neralprävention unterscheidet, wesentlich dann zustande kommt, wenn die Institution Strafe von der Allgemeinheit „als gerecht anerkannt“ wird180, bzw. ihre Normen „glaubwürdig“181 sind. Denn die Gesellschaft hat weitgehend an das strafrechtliche Urteil die Erwartung, dass dieses angemessen und fair ausfällt.182 Wie oben dargestellt, vertritt auch die verhaltenswissenschaftlich orientierte Rechtsökonomik die Auffassung, dass der Mensch eine Präferenz für Fairness und Gerechtigkeit hat.183 Die von der positiven Generalprävention angestrebte Normstabilisierung kann demnach nur dann funktionieren, wenn die Ausgestaltung der Sanktionen von den Adressaten generell als „gerecht“ empfunden wird. Damit muss „auf der Ebene der Mittelauswahl“184 zur Zweckerreichung dieser Präferenz aber auch dieser Erwartung der Adressaten Rechnung getragen werden. Die Straftheorie der positiven Generalprävention befindet sich dadurch in einer Art performativem Widerspruch: Sie sieht als Legitimationsgrundlage der Institution Strafe die generalpräventive Zweckverfolgung, tatsächlich erreicht sie diese aber dadurch, dass sie bei der Ausgestaltung ihrer Sanktionen die Verfolgung vergeltungstheoretischer Absichten behauptet.185 Die Vertreter der positiven Generalprävention müssen demnach „mit gespaltener Zunge sprechen“: Um dem eigentlichen Interesse der Bevölkerung, der Befestigung des sozialen Friedens, zu dienen, sollten sie so tun, als teilten sie deren – wie ihnen bewußt sei: in Wahrheit unvernünftiges – Interesse an Vergeltung.186

Die positive Generalprävention muss sich demnach in der Praxis am Vergeltungsgedanken und dessen Prinzip des gerechten Ausgleichs orientieren und handelt auf diese Weise wider ihre eigene Theorie.

180

 Pawlik 2004 (a), S. 38.  Bock 1991, S. 652. 182 Vgl. exemplarisch Kunz 1986, S. 832; Mushoff 2008, S. 134; Tiemeyer 1988, S. 565: „Der Normstabilisierungseffekt tritt nur ein, sofern die Maßnahmen des Staates als gerecht empfunden werden. […] Daher tragen Zurechnungsprinzipien, die nicht als Regeln gerechter Zurechnung anerkannt werden, insgesamt eher zur Destabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung bei.“ 183  Vgl. Kapitel 2.4.3.1 Die negative Generalprävention, S. 48 f. 184  Pawlik 2004 (a), S. 41 (Hervorhebung im Original). 185 Pawlik 2004  (a), S. 41; vgl. dazu auch Bock 1991, S. 652 (Hervorhebung im Original): „Und hierbei könnte es sich durchaus herausstellen, daß eine Strafe, der man es anmerkt, daß sie nur zur Einübung der Normanerkennung verhängt wird, ihren Zweck gerade deshalb verfehlt, weil sie in der Rechtsauffassung derjenigen, an die sie appelliert, keinen passenden Resonanzboden findet und daher nichts als Irritation und Feindseligkeit hervorruft.“ 186  Pawlik 2004 (a), S. 42; Roxin 1984, S. 647 bezeichnet dies als eine „Rückkehr zum Schuldprinzip in präventiver Verkleidung“ und kritisiert: „Wenn nur die Ergebnisse, zu denen das Schuldprinzip führt, geeignet sind, den Täter und die Bevölkerung zu rechtstreuem Verhalten zu motivieren, wird der Schuldgedanke nicht aufgegeben, sondern vorausgesetzt und mit einer zusätzlichen präventiven Legitimation versehen.“ 181

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

2.4.3.3 Die Spezialprävention Die zentrale Kritik der Instrumentalisierung wird aber nicht nur bei der Generalprävention, sondern auch bei der Spezialprävention geltend gemacht. Die Spezialprävention betrachtet als Zweck der Maßnahmen nicht die potentiellen anderen Täter bzw. die Allgemeinheit, sondern sie zielt auf den konkreten Täter und betrachtet entweder die Unschädlichmachung oder die Behandlung des Täters als Legitimationsgrundlage der Institution Strafe. Befürworterin des Behandlungsgedankens der Spezialprävention ist bspw. Grischa Merkel, die in der Abschaffung des Schuldprinzips und der umfassenden Ausgestaltung eines therapeutischen Maßregelrechts den Weg in ein humaneres Strafrecht sieht.187 Doch auch dieser Ansatz wird kontrovers diskutiert: Gegner des Behandlungsvollzugs bemängeln die sog. Behandlungsideologie des Resozialisierungskonzeptes, da dieses die Tat des Täters lediglich als Symptom einer vermeintlich sozialen Inkompetenz versteht. […] Erwachsene Menschen zwangserziehen zu wollen nimmt diese nicht als autonome, sich selbstbestimmende Mitmenschen wahr, sondern reduziert diese zum bloßen Behandlungsobjekt. Dies ist mit der Menschenwürde des Einzelnen nicht zu vereinbaren.188

Der Resozialisierungsgedanke stellt generell ein wichtiges Element des Strafvollzugs dar. Doch ist zu hinterfragen, ob staatlich verordnete therapeutische Maßnahmen tatsächlich in erster Linie die Interessen des Täters im Blick haben. Denn auch bei dieser Straftheorie besteht die Kritik, dass die Rechte des Einzelnen den präventiven Interessen der Allgemeinheit untergeordnet werden. Der Resozialisierungsgedanke der Spezialprävention hat ebenfalls insbesondere das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit im Blick. Die Behandlung erfolgt durch Zwang und damit weitestgehend entsprechend der gesellschaftlichen Interessen und nur untergeordnet als „helfende Maßnahme“189 für den individuellen Täter. Problematisch ist die Unterstellung, dass Therapie ein grundsätzlich benevolentes Unternehmen sei und deshalb nicht den Rechtfertigungslasten unterliege, die für die Verhängung von Kriminalstrafe bestehen. Dies ist für Therapien, die von Staats wegen angeordnet werden, keine überzeugende Annahme.190

Die spezialpräventive Ausgestaltung von Sanktionen müsste sehr viel stärker, so die Forderung von Kritikern, mit Blick auf den Betroffenen, also den individuellen Täter, definiert werden und nachrangig mit Blick auf das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit. Dementsprechend steht der bestehende Straf‑ und Maßregelvollzug weitgehend in der Kritik. Es werden eine „intensivere Betreuung“191 187

 Vgl. bspw. Merkel 2012, S. 95 und die Darstellung in Kapitel 2.3 Die Kritik an der Vergeltungstheorie und am Schuldprinzip, S. 34 f. 188 Mushoff 2008, S. 151, 153. 189  Ostendorf 2000, S. 19. 190  Hörnle 2011 (b), S. 15. 191 Ostendorf 2000, S. 129 ff.

2.4 Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie

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und bessere „therapeutische Unterstützung“192 gefordert, um die Defizite des Vollzugs zu beheben und diesen insbesondere für den Bestraften effektiver zu gestalten. Dem ist hinzuzufügen, dass es zudem weitgehend praktische Gründe hat und nicht dem Schuldprinzip anzulasten ist, dass umfassende Therapiemaßnahmen bislang nur unzureichend angeboten werden können. So sind bspw. die Kosten eines therapeutischen Maßregelvollzugs wesentlich höher als die des normalen Strafvollzugs. Ein Inhaftierter im Strafvollzug kostete z. B. im Jahr 2013 in Nordrhein-Westfalen 96,77 Euro pro Tag.193 Im Maßregelvollzug hingegen fallen Kosten von ca. 230 Euro pro Tag für einen Inhaftierten an.194 Zudem wird der Bau einer neuen psychiatrischen Klinik mit 150  Plätzen für den Maßregelvollzug auf ca. 45  Millionen Euro geschätzt. Das Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen sieht jedoch die Notwendigkeit, dass bis zum Jahr 2020 fünf neue Kliniken mit insgesamt 750 Plätzen (nur in Nordrhein-Westfalen) errichtet werden. Dieser finanzielle Aspekt und die Tatsache, dass die Lobby für Inhaftierte des Straf‑ und Maßregelvollzuges nicht besonders groß ist, spielen die wesentliche Rolle dabei, dass Therapie‑ und Resozialisierungsprogramme bislang nur in einem geringeren Rahmen durchgeführt werden. Vor allem ist aber die Kritik an Missständen im Straf‑ und Maßregelvollzug ein vieldiskutiertes grundlegendes Thema. Die Humanisierung und Verbesserung des Umgangs mit Verbrechern fordern Strafrechtler und Kriminalpolitiker unabhängig von der Diskussion um die Legitimation der Institution Strafe. Des Weiteren zeigt sich bei einer spezialpräventiv motivierten Strafzumessung ebenfalls das Problem, dass die Proportionalität von Schuld und Strafe aufgelöst wird. Die Sozialgefährlichkeit des Täters wird insbesondere unter dem Aspekt der Unschädlichmachung in den Vordergrund gerückt. Wie bei der Generalprävention interessiert der Täter nicht als Urheber einer Tat, sondern als Symptom195, als Anlass für präventive Maßnahmen. Damit macht sich eine spezialpräventive Rechtsanwendung im Vergleich zu einer Rechtsanwendung gemäß dem Schuldprinzip ebenfalls der Strafungleichheit verdächtig. Es ergeben sich bspw. ohne das Schuldprinzip Begründungsprobleme […] bei der Gruppe der Tötungsdelikte, denn von der überwiegenden Zahl der Täter geht keine erneute Gefahr aus. Ein ausschließlich auf Spezialprävention ausgerichtetes Strafrecht müsste gegenüber den genannten Tätergruppen auf Strafe verzichten – ein unvorstellbarer Gedanke. Andere Personen, die lediglich Delikte leichterer Kategorie begangen haben, bei denen sich jedoch erhebliche „Sozialisations-Defizite“ 192

 Mushoff 2008, S. 499 ff. Nordrhein-Westfalen 2014. 194  Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes NordrheinWestfalen 2014. 195 Pawlik 2004 (a), S. 32. 193 Justizministerium

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

zeigen, müssten härter, im Einzelfall sogar lebenslang, bestraft werden. Zusammenfassend ist damit festzustellen, dass ein rein spezialpräventives Strafrecht zu nicht hinnehmbaren Ungleichbehandlungen führt.196

Die Spezialprävention richtet die Bemessung der Sanktion nicht an der Schuld des Täters und dem Unrecht der Tat aus, sondern an dem Ziel, den Täter möglichst effektiv an einer Wiederholungstat zu hindern. Daher steht auch die Spezialprävention im Widerspruch zu der Straflogik des Schuldprinzips und birgt die Gefahr, zum Ziele einer effektiven Kriminalprävention die Höhe der Strafsanktion von dem Maßstab der Schuld des Täters zu lösen. Wie groß dieser Widerspruch sein kann, zeigen die Extrembeispiele bspw. eines Beziehungsmordes, bei dem die Rückfallgefahr des Täters relativ gering ist und damit eine milde Strafe ausreichend wäre, wohingegen bspw. die Sachbeschädigung durch einen überzeugten Sprayer nur dadurch effektiv unterbunden werden könnte, indem dieser mit Freiheitsstrafe an seinen Aktivitäten gehindert würde. Die Kritik an allen Präventionstheorien lässt sich somit aus der Perspektive der Straflogik des Schuldprinzips generell unter die Gefahr der Strafwillkür und der Ungleichbehandlung subsumieren. Das Schuldprinzip hingegen beruht auf einem festen Maßstab für die Bemessung von Sanktionen, der auf der Verbindung von Schuld und Strafe beruht: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“ (§ 46 StGB). Zwar folgt auch ein reines Präventionsstrafrecht einem Maßstab: der Gefährlichkeit des Täters. Doch welche Konsequenzen hätte eine Bemessung allein nach Gefährlichkeitsgesichtspunkten für den Täter? Das Präventionsstrafrecht versteht sich selbst als Prognosestrafrecht: Die Sanktion ist so zu gestalten, dass die Gefährlichkeit des Täters behandelt und dieser „für die Zukunft“ unschädlich gemacht wird. Aber auch unter der Annahme, dass die Behandlung generell gelingt, sprich mit der Hoffnung, dass der Täter wieder dazu fähig sein wird, als ungefährliches Mitglied in die Gesellschaft zurückzukehren, ist schwer abzuschätzen, welche Behandlungsart und vor allem Behandlungsdauer dieses Ziel in einem konkreten Fall erreichen werden. Zu viele Faktoren spielen dabei eine Rolle: zunächst die Erlebnisse während des Freiheitsentzuges, dann das persönliche Umfeld, welches der Täter bei seiner Rückkehr in die Freiheit vorfindet. Da aber bereits die Entwicklung des Täters während des Strafvollzugs nur schwer vorhersehbar ist, müsste konsequenterweise die Strafbemessung dem Rechnung tragen und nur unbestimmt definiert werden: „Der Täter wird zu einer Freiheitsstrafe von 2–4 Jahren verurteilt – je nachdem, wie er sich im Strafvollzug verhält und entwickelt“.197 Diese Praxis wird im deutschen Recht bei der Sicherungsverwahrung angewendet und war auch im Jugendstrafrecht möglich, stand aber im Zentrum der Diskussionen um das erste 196

 Mushoff 2008, S. 155.  Eine unbestimmte Freiheitsstrafe bei psychologischer Begutachtung der Inhaftierten fordert aktuell bspw. Jean-Christophe Merle 2007. 197

2.4 Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie

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Änderungsgesetz des Jugendstrafrechts und wurde 1990 abgeschafft.198 Würde diese Praxis nun aber nicht nur als Ultima Ratio in der Sicherungsverwahrung des Maßregelrechts angewendet, sondern zur gängigen Strafbemessung werden, wäre dies, so Dreher, „abgesehen davon, daß es den Verurteilten psychisch stärker belastet als eine Strafe von bestimmter Dauer, doch nur ein Experiment, das gut gehen kann oder auch nicht.“199 Strafe als Experiment ist innerhalb eines Rechtsstaates aber nicht denkbar. Otfried Höffe bezeichnet dementsprechend das Vergeltungsprinzip als „Gleichheitsgebot“ und betrachtet dieses als „unstrittiges Prinzip“, das die Institution Strafe legitimiere: Insofern der Staat überhaupt Verbrecher bestraft, darf er aus Gleichheitsgründen weder die einen bestrafen und die anderen frei laufen lassen, noch die einen drakonisch, andere aber mild und nachsichtig bestrafen. Im Gegensatz zu einem willkürlichen Strafen dürfen sich Unterschiede der Strafe bloß aus dem Verbrechen selbst ergeben […].200

Die strafrechtliche Gleichheit ist dadurch gewährleistet, dass nur die Tatschuld der Täterin oder des Täters die Strafsanktion begründet und entsprechend bemisst. Diese Verhältnismäßigkeit allein kann eine strafrechtliche Sanktion legitimieren. 2.4.3.4 Die Bewertung der Präventionstheorien nach ihrer empirisch nachweisbaren Wirksamkeit Die Kritik an den Präventionstheorien ist aber nicht nur normativer, sondern auch empirischer Art. Studien haben insbesondere die Wirksamkeit der Spezialprävention massiv in Frage gestellt: Die Ergebnisse empirischer Untersuchungen über erneute schwere Rückfälle zeigen allerdings, dass in vielen Fällen fast die Hälfte der ehemaligen Strafgefangenen während eines Kontrollzeitraums von fünf Jahren erneut zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung verurteilt werden.201

Die von der negativen Spezialprävention behauptete Abschreckungswirkung der Strafe auf den Täter steht somit in deutlichem Widerspruch zur Kriminalstatistik. Daneben ist auch die Wirksamkeit des Resozialisierungsgedankens der positiven Spezialprävention kritisch zu hinterfragen. Kriminologische Studien zeigen ein deutliches Muster auf: Der Strafvollzug gefährdet den Arbeitsplatz und belastet die sozialen Bindungen. Er gewöhnt an einen reglementierten Tagesablauf in Unselbständigkeit und eröffnet schädliche Kontakte zur Gefängnissubkultur. Die „totale Institution“ der Strafanstalt löst Hospitalisierungs‑ und Desintegrationseffekte aus. Darüber hinaus zieht der Strafvollzug eine die 198 1.

JGGÄndG vom 30. 08. 1990, BGBl. I 1853; vgl. Brunner/ Dölling 2002, S. 43.  Dreher 1987, S. 20. 200  Höffe 2000, S. 318 f. 201 Mushoff 2008, S. 157, mit weiteren Nachweisen. 199

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

Inhaftierung überdauernde soziale Brandmarkung nach sich. All dies erschwert nicht nur die Eingliederung in objektiver Hinsicht, sondern begünstigt auch – im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung  – das Einfügen in die scheinbare Unausweichlichkeit einer weiteren kriminellen Karriere. Damit wird die negative Legalbewährungsprognose, deren Korrektur durch den Strafvollzug erstrebt wird, durch das Hafterlebnis gerade noch verstärkt.202

Insofern ist die empirische Bewertung des spezialpräventiven Gedankens sehr ernüchternd: Besserungschancen werden sehr niedrig eingestuft, das Vertrauen in den Resozialisierungsgedanken ist gebrochen. Zudem wird die desozialisierende Wirkung insbesondere der längeren Freiheitsstrafen sehr hoch eingeschätzt, was auch gegenüber dem Gedanken der Unschädlichmachung zu massiver Kritik führt.203 Eine konsequent durchgeführte Spezialprävention würde vielmehr in eine „Spiralwirkung von zunehmend härterer Sanktionierung und zunehmend sich verschlechternden Legalbewährungschancen“ münden.204 Immerhin ist die Wirksamkeit der Spezialprävention empirisch untersuchbar, auch wenn die Ergebnisse zeigen, dass die behaupteten Folgen nicht eintreten und die Ausgestaltung des Straf‑ und Maßregelvollzugs gerade mit Blick auf präventive Erfordernisse dringend zu verbessern ist. Die Generalprävention hingegen wird, sowohl in ihrer negativen als auch ihrer positiven Ausprägung, also hinsichtlich der Abschreckung und der Normstabilisierung, als eine „der Empirie nicht zugängliche empirisch begründete Straftheorie“205 beschrieben. Es ist spekulativ, eine nicht begangene Straftat auf die Wirksamkeit der Generalprävention zurückzuführen.206 Vielmehr ist anzunehmen, dass (individuell) verschiedene Faktoren zusammenwirken, wenn ein Normbruch begangen wird. Die generalpräventive Wirkung des Strafrechts ist dabei wahrscheinlich „nur ein Faktor unter vielen“.207 Weitere Faktoren sind bspw. die persönliche normative Ansprechbarkeit, die individuelle Fähigkeit der Affektsteuerung und das jeweils angenommene Entdeckungsrisiko.208 Kriminologische Studien haben des Weiteren aufgezeigt, dass es keine empirischen Belege dafür gibt, dass von einer Verschärfung der Sanktionspraxis eine größere und von einer Absenkung des Sanktionsniveaus eine geringere generalpräventive Wirkung zu erwarten ist. Die Höhe der gesetzlich angedrohten Strafe und der von Gerichten verhängten Strafe beeinflussen im Allgemeinen weder die Hemmschwelle für Folgetaten im Sinne der Abschreckung potentiell Tatgeneigter noch das Ausmaß der Normakzeptanz im Sinne der positiven Ge202

 Kunz 2011, S. 304. auch z. B. Mushoff 2008, S. 156 ff. Mushoff hat daher insbesondere die Sicherungsverwahrung einer intensiven Analyse und Kritik unterzogen. 204  Kunz 2011, S. 304. 205 Mushoff 2008, S. 136. 206  Mushoff 2008, S. 136. 207  Mushoff 2008, S. 136. 208 Vgl. dazu Kunz 2011, S. 286 f. 203 Vgl.

2.4 Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie

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neralprävention. Bei Freiheitsstrafen ab fünf Jahren lässt sich die Abschreckungswirkung durch noch höhere, auch lebenslängliche, Strafen praktisch nicht mehr steigern.209

Dies widerspricht sowohl der von der negativen als auch von der positiven Generalprävention behaupteten Steuerungsfunktion von weiteren Straftaten durch eine entsprechende Ausgestaltung der strafrechtlichen Sanktionen. Hinsichtlich der negativen Generalprävention ist zu ergänzen, dass eine Abschreckungsfunktion sicher besteht, doch ist diese nicht bei allen Delikten wirksam und nur schwer zu steuern. Bei nüchtern geplanten Taten, wie bspw. Banküberfall oder Steuerhinterziehung, können entsprechende Strafandrohungen und ‑verfolgungen wirksam sein, bei einem emotionalen Beziehungsmord hingegen wird die möglicherweise zu erwartende Strafe selten einkalkuliert. „Nur mit dem Verweis auf Generalprävention ist deshalb ein Strafensystem schlecht zu begründen“.210 Empirisch nachweisbar ist die Erwartung der Allgemeinheit, dass ein Normbruch generell zu sanktionieren ist. Dies wird als Indiz dafür gesehen, dass dem Bedürfnis der Normstabilisierung durch strafrechtliche Sanktionen und damit dem Gedanken der positiven Generalprävention „eine gewisse empirisch nachweisbare Bedeutung zukommt“.211 Diese empirisch nachweisbare Erwartungshaltung kann jedoch auch durch eine allgemeine Präferenz für Fairness und Gerechtigkeit212 erklärt werden und spricht somit ebenso für eine Legitimation des Schuldausgleichs wie für die der positiven Generalprävention. Als Ergebnis zeigt sich, dass die empirischen Beobachtungen über die Wirkung von Strafsanktionen und Strafvollzug die Präventionstheorien nicht plausibler machen als das Schuldstrafrecht. Belegbar sind lediglich die Mängel des bestehenden Strafvollzugs, dessen Verbesserung unabhängig von der zugrundeliegenden Straftheorie zu fordern ist.

2.4.4 Die unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik213 Neben der fehlenden empirischen Belegbarkeit wurden wesentliche normative Mängel der Präventionstheorien markiert. Pawlik hat die Kritik der Instrumentalisierung unter dem Aspekt der kommunikativen Gleichheit neu formuliert: Die Bestrafung des Täters interessentheoretisch zu begründen läuft aus diesem Grunde darauf hinaus, dem Täter die kommunikative Gleichheit mit seinen Rechtsgenossen abzusprechen: Sie werden mit ihren Interessen gehört, er mit den seinigen hingegen nicht.214

209

 Kunz 2011, S. 288.  Hörnle 2011 (a), S. 25. 211 Kunz 2011, S. 289; vgl. auch Hörnle 2011 (a), S. 26. 212  Vgl. Kapitel 2.4.3.1 Die negative Generalprävention, S. 48 f. 213  Von Liszt 1905 (c), S. 80. 214 Pawlik 2004 (a), S. 34 (Hervorhebungen im Original). 210

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

Die Kritik an der Präventionstheorie bzw. an einem reinen Präventionsmodell ist dabei auf zwei verschiedenen Ebenen wirksam. Es ist dabei zunächst der generelle Ansatz problematisch, dass der Täter zum Mittel für präventive Zwecke wird. Stehen Nützlichkeitserwägungen im Vordergrund, treten der individuelle Täter und sein Verbrechen in den Hintergrund. Nicht die – auch im Sinne des Täters – angemessene Reaktion auf das spezielle Verbrechen ist in erster Linie von Interesse, sondern die geeignete Maßnahme zur Optimierung der allgemeinen Sicherheit. Die allein um ihrer präventiven Wirkung verhängte Strafe verletzt nach verbreiteter Einschätzung die Autonomie des bestraften Subjekts, insofern dieses als bloßes Mittel zur Wiederherstellung sozialer Ordnung belangt wird. Der Verzicht auf die Erhebung eines eigenständigen Schuldvorwurfs läßt demzufolge die Strafe zum technokratischen Instrument verkümmern, mit dem man den Täter im Interesse des Kollektivs nach Belieben zurechtbiegt und, wenn dies nicht mehr möglich ist, unschädlich macht.215

Die Frage nach der persönlichen Schuld wiederum schützt den zu Bestrafenden davor, allein als Stellschraube betrachtet zu werden, mit der eine Verbesserung der Kriminalstatistik erzielt werden soll. Der Täter, der aufgrund seiner strafrechtlichen Schuld mit Strafe belegt wird, ist nicht technokratisches Instrument (Mittel) zur reinen Präventionsverhütung, sondern wird aufgrund und entsprechend seiner Verantwortung zur Rechenschaft gezogen. Hier liegt die Bedeutung des Ausgleichgedankens des Schuldprinzips (Strafe gleicht die Schuld des Täters aus). Dieses impliziert nicht nur eine Aufforderung an den Täter (strafrechtliche Schuld fordert eine Strafsanktion), sondern auch an das Strafrecht (die Strafsanktion erfordert eine Begrenzung gemäß der Schuld). Wir müssen versuchen zu durchschauen, was eigentlich geschieht, wenn wir einen Menschen als Rechtsbrecher behandeln. Und dies nicht in erster Linie aus einem abstrakten Erkenntnisinteresse oder eben um der Perfektion sozialer Steuerungsprozesse willen: sondern deshalb, weil wir dem von einer strafrechtlichen Sanktion Betroffenen gegenüber verantworten müssen, was wir ihm zufügen. Es gibt, so meine ich, der radikal gestellten Frage nach der Schuld ihr eigentliches Gewicht, daß sie uns diese Verantwortung präsent hält.216

Indem der Täter als Verantwortlicher betrachtet und seine Schuld als Anknüpfungspunkt der Strafverhängung und Strafzumessung gewertet wird, stellt dies an die Institution Strafe die Forderung, den Täter als Subjekt und Zweck der Strafsanktion zu betrachten. An diese Kritik anknüpfend ist des Weiteren problematisch, dass im Rahmen des Präventionsdenkens Verschärfungen denkbar sind, welche die individuelle Freiheit massiv verletzen und einschränken könnten.

215

 Kunz 1986, S. 827. 1977, S. 49.

216 Stratenwerth

2.4 Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie

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Um Kriminalität besonders nachhaltig zu verhüten, empfiehlt es sich zudem, erst gar nicht auf das Geschehen einer Straftat zu warten, sondern gefährliche Individuen bereits im Vorfeld den geeigneten Maßnahmen zu unterziehen. […] In der Tat würde ein strikt präventiv konzipiertes Strafrecht die Handlungsfreiheit des einzelnen Bürgers in einer kaum mehr kalkulierbaren Weise bedrohen. […] Für Individuen, die neben dem Bedürfnis nach Sicherung durch das Recht auch das Bedürfnis nach Sicherheit vor dem Recht haben, ist deshalb ein spezialpräventiv ausgerichtetes Strafrecht von vorneherein allenfalls dann akzeptabel, wenn dieses Strafrecht als auslösendes Moment der staatlichen Reaktion eine schuldhafte Tat voraussetzt.217

Um die Verhinderung von Verbrechen zu optimieren, würde die generelle Abschaffung des Schuldprinzips eine denkbare und durchaus zweckdienliche Maßnahme darstellen. Dabei ist nicht nur problematisch, dass eine Feststellung, ob ein Mensch potentiell gefährlich ist, „auf einer stark lückenhaften Tatsachengrundlage ergehen“ müsste und „entsprechend schlecht prognostizierbar“218 wäre. Denn es ist möglich, dass eine umfassende Prognose in Zukunft, z. B. mit neurowissenschaftlichen Methoden, durchführbar ist. Dann würde ein strikt spezialpräventives Vorgehen der Unschädlichmachung auf der Grundlage solcher wissenschaftlich nachweisbaren Prognosen eine massive Bedrohung der Freiheit des Einzelnen bedeuten.219 Das klassische Beispiel ist der Sexualstraftäter, der – aus der Haft entlassen – ein gewisses Potential für eine neue Straftat haben könnte. Aus Sicherheitsgründen würde es deshalb die Mehrheit begrüßen, wenn hier Sanktionen greifen, bevor dieser eine neue Tat begeht. Noch brisanter ist die Frage, zu welchem Vorgehen wissenschaftlich nachweisbare Prognosen im Rahmen eines reinen Präventionsstrafrechts führen könnten, die kriminelle Veranlagungen, wie bspw. von Sexualstraftätern, schon nachweisen, bevor der potentielle Täter überhaupt straffällig würde. Solche Fragen werden bereits seit einigen Jahren diskutiert.220 Die Anknüpfung der Strafsanktion an die schuldhaft begangene Tat und ihre Bemessung im Verhältnis zu dieser Schuld gewährt im Vergleich dazu dem zu Bestrafenden Schutz vor einem „Prognosestrafrecht“, das bereits ohne Tat, nur aufgrund einer Prognose über seine Gefährlichkeit, greifen könnte. Das kennzeichnet die elementare Bedeutung des Schuldstrafrechts, aber auch die Grenze seiner Effektivität. Das Strafrecht kann nicht umhin, dem Einzelnen

217

 Pawlik 2004 (b), S. 220 f. (Hervorhebungen im Original).  Pawlik 2004 (b), S. 221. 219 Vgl. dazu auch Frisch 2002, S. 674: „Würde man schon bei dieser Sachlage die Freiheit entziehen, so wäre das zwar außerordentlich zweckmäßig, um möglichst alle Risiken auszuschließen. Aber es würde zugleich dazu führen, daß auch viele Täter die Freiheit verlieren, die tatsächlich keine Straftaten mehr begehen. Denn wir wissen aus kriminologischen Untersuchungen, daß viele Personen, deren Prognose (nur) unsicher ist, letztlich nicht mehr, jedenfalls nicht mehr gravierend, straffällig werden.“ 220 Vgl. bspw. Fink / Rosenzweig 2012. 218

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

einen Vertrauensvorschuss [zu geben] und […] [kann] erst ein[greifen], wenn es zur Straftat gekommen ist. Eine Straftheorie, die von der Notwendigkeit der beständigen Einschüchterung der Bürger ausgeht, die jeden Bürger als potentiellen Täter betrachtet, dem mit Misstrauen zu begegnen ist, steht im Widerspruch zum Menschenbild des liberalen Rechtsstaats.221

Bevor ein Mensch nicht strafrechtlich schuldig wird, kann das Schuldstrafrecht nicht eingreifen. Dieses Prinzip schränkt auf der einen Seite den Wirkungsbereich des Strafrechts ein, sichert aber auf der anderen Seite die Grenzen seiner Eingriffsbefugnis und schützt seine Adressaten vor einem Missbrauch der Strafgewalt. Man könne nicht, so die Folgerung von Wolfgang Frisch, für sich die Freiheit von Kontrollen und Überwachungen der unterschiedlichsten Art beanspruchen, von Gleichheit aller reden und zugleich erwarten, daß Verhaltensweisen, die sich mit Hilfe des Strafrechts allenfalls durch flächendeckende Überwachung eindämmen lassen, gleichwohl unterbleiben. Wer Freiheit will, muß auch bereit sein, den damit verbundenen Preis eines nur begrenzt effizienten Strafrechts zu zahlen. […] Sicherheit durch Strafrecht ist in einer auf Freiheit bedachten Gesellschaft, die nicht nur aus guten Menschen besteht, unrealistisches Wunschdenken.222

Eine Begrenzung der staatlichen Eingriffsbefugnis erfordert demnach, dass die Maßregeln der Besserung und Sicherung, die ergänzend zur Gefahrenabwehr einschreiten (ohne nach der Schuld des Täters zu fragen), im Rahmen des Schuldstrafrechts nur als Ultima Ratio eingesetzt werden. Interessanterweise hat Franz von Liszt, der als bedeutender Wegbereiter der Kriminalpolitik und insbesondere der Spezialprävention gilt, bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Instrumentalisierung des Täters aus kriminalpräventiven Interessen einen wesentlichen Einschnitt in das Recht des Einzelnen gesehen und trotz seiner kriminalpolitischen Forderungen dennoch den Schutz der Interessen des Täters als die wesentliche und vor allem unantastbare Funktion des Strafrechts hervorgehoben: Nach meiner Meinung ist, so paradox es klingen mag, das Strafgesetzbuch die magna charta des Verbrechers. Es schützt nicht die Rechtsordnung, nicht die Gesamtheit, sondern den gegen diese sich auflehnenden Einzelnen. Es verbrieft ihm das Recht, nur unter den gesetzlichen Voraussetzungen und nur innerhalb der gesetzlichen Grenzen bestraft zu werden. […] Im Strafrecht verteidigen wir die individuelle Freiheit gegenüber den Interessen der Gesamtheit. Nicht wer „gemeingefährlich“ ist, sondern nur, wer ganz bestimmte, im Gesetze genau bezeichnete gemeingefährliche Handlungen begangen hat, verfällt der Staatsgewalt. Das ist der Sinn des Satzes: nullum crimen sine lege. Und wer aus diesem Grunde der Staatsgewalt verfällt, der ist nicht vogelfrei, nicht recht‑ und schutzlos; sondern auch das Uebel, das ihn treffen kann, ist gesetzlich ein für allemal bestimmt. Das

221

 Mushoff 2008, S. 120. 2002, S. 686.

222 Frisch

2.4 Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie

61

ist der Sinn des Satzes: nulla poena sine lege. So bleiben auch für den Kriminalpolitiker der Zukunft die Begriffe: Verbrechen und Strafe unantastbar bestehen.223

Franz von Liszt plädiert trotz seiner Kritik am Schuldgedanken und seiner Forderung „nach einer schärferen Betonung des Zweckgedankens in der Strafe“224 dafür, dass das Strafrecht als eigenständige zweite Spur bestehen bleibe. Denn es habe eine ganz wesentliche Funktion: die individuelle Freiheit gegenüber den Interessen der Gesamtheit zu verteidigen. Das Strafrecht habe die Rechte des Täters zu respektieren und sei wesentlich zum Schutz dieser Rechte da. Daher benennt von Liszt klar die Forderung, die auch für den „Kriminalpolitiker der Zukunft“ gelte: die Verbindung von Verbrechen und Strafe. Die Reaktion auf Verbrechen habe, so von Liszt, Strafe zu sein. Die Verhängung von Sanktionen müsse dementsprechend an das begangene Verbrechen anknüpfen und bleibe im Kern Strafe. Damit ist gemäß von Liszt „das Strafrecht […] die unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik“.225 Diesen Aspekt stellt auch Mushoff in seiner aktuellen Untersuchung des Verhältnisses von Schuld und Prävention heraus: Wenn Strafe nicht mehr in erster Linie als Reaktion auf die Tat ziele, sondern rein präventive Ziele verfolge, würde sich die Zweispurigkeit des Strafrechts auflösen. Dies bedeute, so Mushoff weiter, dass die Funktion des Schuldprinzips erhalten werden müsse: Denn die „tatbezogene Schuldstrafe ist also allein in der Lage, Strafrecht und Maßregelrecht und sonstige Maßnahmen des Polizeirechts scharf voneinander unterscheiden zu können“.226 Mushoff fordert entsprechend, dass Maßregeln […] daher nur im Ausnahmefall als ultima ratio auf einer nach dem Stand der Wissenschaft entsprechend hinreichend breiten Prognosebasis angeordnet werden. […] Weitere Voraussetzung ist aber, dass der Maßregelvollzug – soweit dies überhaupt möglich ist – von sämtlichen strafähnlichen Wirkungen befreit wird, konsequent auf therapeutische Hilfe ausgerichtet ist und sobald dies im Einzelfall vertretbar ist, durch ambulante Maßnahmen ersetzt wird.227

Die Gegenüberstellung von präventiven Interessen einerseits und dem Schuldgedanken andererseits zeigt, dass der Aspekt des Schutzes des Einzelnen vor den kriminalpräventiven Interessen der Allgemeinheit zentral ist für die Diskussion um die Institution Strafe. Das Schuldprinzip hat dabei eine elementare Funktion: Es markiert die strafrechtlichen Sanktionen gegenüber den präventiven Maßnahmen. Damit kommt ihm die wesentliche Rolle der Eingriffsbegrenzung von ungerechtfertigten und unproportionalen präventiven Maßnahmen zu.

223

 Von Liszt 1905 (c), S. 80 f. (Hervorhebungen im Original). Liszt 1905 (c), S. 83 (Hervorhebung im Original). 225  Von Liszt 1905 (c), S. 80. 226  Mushoff 2008, S. 200. 227 Mushoff 2008, S. 258; vgl. dazu auch Frisch 2002, S. 673 f. 224 Von

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

2.4.5 Ein anderes maß-gebendes Prinzip strafrechtlicher Haftung228 Die Strafrechtswissenschaftler Ellscheid und Hassemer haben 1970 einen vielrezipierten Aufsatz vorgelegt, in dem sie den Präventionsgedanken gegen die Kritik der fehlenden Eingriffsbegrenzung verteidigen. Sie argumentieren dabei, dass die durchaus notwendige Eingriffsbegrenzung nicht zwangsläufig durch das Schuldprinzip gewährleistet werden müsse und konzipieren ein alternatives „maß-gebendes Prinzip strafrechtlicher Haftung“.229 Dieses komme, so die Autoren, ohne den Rekurs auf das Merkmal der strafrechtlichen Schuld aus. Bringt man das Schuldprinzip auf den Boden der sozialen Welt, so erweist es sich durch den Gedanken der sinnvollen Begrenzung staatlicher Eingriffe mit dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit als so stark verwandt, daß die Vermutung naheliegt, es sei selbst nichts anderes als eine besondere Ausprägung dieses Grundsatzes.230

Die dem Schuldprinzip zugewiesene Funktion, die Angemessenheit der Strafe zu gewährleisten, basiere auf dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, welcher, so die Autoren, auch ohne den Gedanken der strafrechtlichen Schuld als Rechtsprinzip konzipierbar sei. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist dabei kein Konzept, das Ellscheid und Hassemer neu in das Strafgesetz einbringen. Er wird im Strafrecht bereits angewendet, allerdings nur im Rahmen der Maßregeln der Besserung und Sicherung. § 62 des StGB besagt: Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht.

Der Vorschlag von Ellscheid und Hassemer ist, diese Regelung der Bemessung von Sanktionen generell zugrunde zu legen. Um das Schuldprinzip zu ersetzen sei dabei zu beachten, so die Autoren, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz „die auch die gesamtgesellschaftlichen Interessen übergreifende Idee der Gerechtigkeit“231 wahre. Dies würde erzielt, indem die konkurrierenden Interessen – der Schutz der allgemeinen Rechtsgüter auf der einen und die Grundrechte des Täters auf der anderen Seite – als gleichrangige Rechtsgüter begriffen würden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz habe dementsprechend zu klären, wie die Sanktion zu bemessen sei, so dass „die kollidierenden Güter sich wechselseitig so beschränken […], daß sie alle zu ihrer jeweils noch möglichen Verwirklichung kommen können (Grundsatz der Optimierung)“.232 Auf diese Weise entspreche der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, so die Autoren, dem Wertepluralismus und den Gerechtigkeitsvorstellungen unserer Gesellschaft. 228

 Ellscheid /Hassemer 1970, S. 42. 1970, S. 42. 230  Ellscheid /Hassemer 1970, S. 43 (Hervorhebung im Original). 231  Ellscheid /Hassemer 1970, S. 42. 232 Ellscheid /Hassemer 1970, S. 45. 229 Ellscheid /Hassemer

2.4 Das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie

63

Doch die zentrale Frage ist, ob das Prinzip der Verhältnismäßigkeit tatsächlich die Funktion des Schuldprinzips ersetzen kann. Meiner Ansicht nach ist der dargestellte Ansatz nicht überzeugend.233 Zum Vergleich der beiden Prinzipien ein Beispiel: Angenommen, in Berlin häufen sich erneut Brandanschläge auf am Straßenrand parkende Autos. Jede Nacht sind zunehmend mehr Fälle zu registrieren, doch können nur wenige Täterinnen und Täter gefasst werden. Einem Täter kann schließlich Brandstiftung in 25 Fällen nachgewiesen werden. Bei dem Strafprozess stellt sich dann die Frage nach der angemessenen Sanktion. Das Strafgesetz sieht für Brandstiftung eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vor (§ 306 StGB). In Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips könnte nun folgendermaßen argumentiert werden: Die Rechtsgüter, die hier kollidieren, sind die Verletzung des Rechts auf Eigentum in 25 Fällen und die Gefahr von Nachahmungstaten und damit einer zunehmenden Eskalation der aktuellen Situation auf der einen und die möglicherweise entstehenden Schwierigkeiten für den Täter bei seiner Wiedereingliederung in die Gesellschaft nach einem längeren Freiheitsentzug auf der anderen Seite. Der Richter könnte aufgrund dieser Abwägung die Sanktion mit fünf Jahren bemessen und damit das vom Strafrecht festgesetzte Strafmaß im mittleren Bereich anwenden. Eine gegenüber vergleichbaren Delikten deutlich höher ausfallende Strafe könnte argumentativ dadurch gerechtfertigt werden, dass nicht nur bereits größerer Schaden entstanden, sondern insbesondere ein zukünftiger Schutzaspekt im Sinne der Allgemeinheit zu bedenken sei (Abschreckungsgedanke). Die Interessen des Täters würden bei diesem Strafmaß, so könnte argumentiert werden, insofern berücksichtigt („verwirklicht“), als das Höchstmaß für Brandstiftung nicht ausgeschöpft werde. Gemäß dem Schuldprinzip würden sich aber bei dieser Strafzumessung bestimmte Fragen aufdrängen: Ist das Strafmaß von fünf Jahren verhältnismäßig im Vergleich zu anderen möglichen Fällen von Brandstiftung? Wie viel wiegt bspw. die Schuld bei vorsätzlicher Autobrandstiftung in 25  Fällen im Vergleich zu der vorsätzlichen Brandstiftung eines Hauses? Oder wie ist diese (vorsätzliche) Schuld einzuschätzen gegenüber der fahrlässigen Brandstiftung eines Waldes?234 Betrachtet man die zwei Prinzipien, fällt auf, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip eine Einzelentscheidung durch den Vergleich der dabei kollidierenden Interessen bzw. Rechtsgüter trifft. Das Schuldprinzip fragt auch nach einer Verhältnismäßigkeit, bringt aber eine feste (zusätzliche) Größe in die Bemessung mit ein: die persönliche Schuld. Der Vergleich macht deutlich, dass das Verhält233

 Vgl. dazu Kaufmann 1976 (b); auch Kaufmann meldet „ernste Bedenken gegen den Vorschlag von Ellscheid und Hassemer an[…]“ (S. 33, Hervorhebungen im Original). 234 § 306 StGB zur Brandstiftung unterscheidet: „1. Gebäude oder Hütten, 2. Betriebsstätten oder technische Einrichtungen, namentlich Maschinen, 3. Warenlager oder ‑vorräte, 4. Kraftfahrzeuge, Schienen-, Luft‑ oder Wasserfahrzeuge, 5. Wälder, Heiden oder Moore oder 6. land-, ernährungs‑ oder forstwirtschaftliche Anlagen oder Erzeugnisse“.

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

nismäßigkeitsprinzip dazu geeignet ist, die konkurrierenden Interessen bzw. Rechtsgüter eines einzelnen Falles abzuwägen, während das Schuldprinzip zusätzlich ein generelles Regulativ in die Einzelentscheidung miteinbringt.235 Als fester, nicht nur den Einzelfall betrachtender Maßstab gewährleistet es dadurch eine Verhältnismäßigkeit, die das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht herstellen kann. Die Verhältnismäßigkeit des konkreten Unrechts im Vergleich zu anderen Fällen kann bei einer Bemessung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip durchaus der Verhältnismäßigkeit des konkreten Unrechts im Vergleich zu dem entstandenen Schaden untergeordnet werden. Diese Überlegung zeigt, dass das von Ellscheid und Hassemer vorgeschlagene Prinzip gegenüber der oben beschriebenen Problematik der Strafungleichheit gerade nicht abgesichert werden kann. Des Weiteren fällt auf, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip in der von Ellscheid und Hassemer beschriebenen Konzeption eine andere elementare Funktion des Schuldprinzips nicht zu ersetzen vermag. Wie oben bei der Analyse des Schuldprinzips in rechtshistorischer Sicht dargestellt236, markiert das Schuldprinzip eine wesentliche Erkenntnis innerhalb der strafrechtlichen Entwicklung: Bei der Verurteilung einer Tat interessiert nicht nur der Erfolg einer Handlung (der entstandene Schaden), sondern es ist auch die Absicht der Täterin oder des Täters zu hinterfragen. Demnach zieht nicht bereits die Verursachung eines Schadens eine Strafsanktion nach sich, sondern es ist immer auch die Frage des Dafür-Könnens zu klären.237 Das Schuldprinzip stellt somit nicht nur einen Maßstab für die Sanktionierung dar, sondern es klärt als Verbrechensmerkmal einen wichtigen Aspekt bei der Beurteilung von Verbrechen und bildet daher den wesentlichen Anknüpfungspunkt für die Strafsanktion. Bei der Ersetzung des Schuldprinzips durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip müsste die Frage nach der persönlichen Schuld, nach dem Dafür-Können der Täterin oder des Täters an anderer Stelle bzw. in einer anderen Form in die Bewertung der Tat und einer dieser angemessenen Sanktion miteinfließen. Insofern greift der Vorschlag von Ellscheid und Hassemer zu kurz und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann die Funktion des Schuldprinzips nicht umfassend ausfüllen. Die Bedeutung des Schuldprinzips liegt gerade darin, dass es die Funktion von Strafbegründung und Strafzumessung verknüpft. Die Schuld des Täters ist der Anknüpfungspunkt für die Strafe und der Maßstab für die Höhe der Strafsanktion. In einem Präventionsstrafrecht könnte der Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit238 zur Strafzumessungsgrundlage als ausreichend betrachtet werden, doch birgt dies eben die Gefahren von Ungleichbehandlung und Strafwillkür. 235

 Dieser Unterschied erinnert an die Unterscheidung durch John Rawls von “justification of a rule or practice” und “justification of a particular action” (Rawls 1955, S. 4). 236 S. Kapitel 2.4.1 Die rechtshistorische Bedeutung des Schuldprinzips. 237  Dies wird näher ausgeführt in den Kapiteln 3.4 Die Dimensionen des Schuldprinzips und 3.5 Das positive Schuldmerkmal. 238 Ellscheid /Hassemer 1970, S. 43.

2.5 Vereinigungstheorien zur Legitimation von Strafe

65

2.4.6 Resümee (1) Im Rückblick auf die Frage nach dem Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie zeigt die Analyse des strafrechtlichen Schuldbegriffs, dass das Schuldprinzip zwar einerseits ein Element der Vergeltungslehre ist und den Gedanken des Ausgleichs verkörpert, andererseits aber eine eigenständige Gültigkeit für das strafrechtliche Denken hat. Es stellt ein rationales Prinzip dar, welches bei der Bemessung von Strafe eine Verhältnismäßigkeit von begangenem Unrecht und Strafe gewährleistet. Dabei bringt es die strafrechtlich relevante Frage nach der Absicht des Täters, nach seinem Dafür-Können mit in die Beurteilung ein. Damit belege ich die These, dass das Schuldprinzip eine Grundnorm der Institution Strafe ist und die oben aufgeführte Kritik der Irrationalität und Zwecklosigkeit nicht greift.239 Zwar kollidiert dieses Prinzip mit den Erfordernissen der Kriminalprävention, was besonders deutlich wird gegenüber den Forderungen nach einem strikt spezialpräventiven Modell, wie es bspw. von Barbara Wootton skizziert wird. Wenn aber die Institution Strafe nicht zu einer Sozialkontrolle im Rahmen eines Prognosestrafrechts werden soll240, dann muss das Schuldprinzip Grundpfeiler der Institution Strafe bleiben. Obwohl präventive Aspekte bei der Bestrafung eine wichtige Rolle spielen, so sichert nur das Schuldmerkmal die Strafzumessung gegenüber Instrumentalisierung, Rechtsungleichheit und Strafwillkür ab.241 Das belegt meine These, dass die Funktion des Schuldprinzips mit seiner Frage nach der persönlichen Verantwortung des Täters und seiner Definition von Strafe als Ausgleich der Schuld des Täters zu verteidigen ist. Bisher habe ich das Verhältnis von Schuldprinzip, Vergeltungsdenken und Präventionstheorie betrachtet und die Funktion des Schuldprinzips analysiert. Daran schließt sich die Diskussion um die Legitimation der Institution Strafe und die Begründung des Schuldprinzips im Rahmen einer Straftheorie an.242

2.5 Vereinigungstheorien zur Legitimation von Strafe Da im bislang Dargestellten ein reines Präventionsstrafrecht abgelehnt wurde, werden im Folgenden die Möglichkeiten einer Kombination von Vergeltungs‑ und Präventionstheorie geprüft. Dazu werden zwei Konzeptionen verglichen, 239

 Vgl. Kapitel 2.3 Die Kritik an der Vergeltungstheorie und am Schuldprinzip. auch Stratenwerth 1977, S. 49: „Nicht gemeint sein kann die möglichst effiziente Bekämpfung abweichenden Verhaltens im Sinne eines ‚social engineering‘, dessen einziges Ziel es wäre, soziale Reibungsverluste zu minimalisieren.“ 241 Vgl. Kunz 1986, S. 828: Auch eine „rein utilitaristische Strafbegründung [bedarf] einer Begrenzung nach non-utilitaristischen Maßstäben“. 242  Vgl. die Strukturierung der Argumentation in Kapitel 2.3 Die Kritik an der Vergeltungstheorie und am Schuldprinzip, S. 36 f. 240 Vgl.

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

die den Gedanken des Schutzes der individuellen Freiheit gegenüber den Interessen der Allgemeinheit als zentralen Aspekt bei der Frage nach der Legitimation der Institution Strafe behandeln: Der vieldiskutierte Aufsatz Prolegomenon to the Principles of Punishment von Herbert L. A. Hart wird der Straftheorie von Claus Roxin gegenübergestellt. Beide Ansätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Vereinigungstheorie zur Rechtfertigung staatlichen Strafens konzipieren.

2.5.1 Die Konzeption Herbert L. A. Harts In seinem Aufsatz von 1959 hat Hart den Schutzgedanken als wesentlichen Aspekt der Institution Strafe herausgestellt und bezeichnet diesen als “requirement of fairness or of justice to individuals independent of whatever the General Aim of punishment is”.243 Dieses Prinzip der Fairness oder der Gerechtigkeit wiederum führt Hart auf das Vergeltungsdenken zurück. Zwar konzipiert er im Endeffekt eine Vereinigungstheorie: Er unterscheidet die allgemeine Rechtfertigung (General Justifying Aim) von der Rechtfertigung der Strafzuerkennung (Distribution). Die allgemeine Rechtfertigung von Strafe sei, so Hart, nur konsequentialistisch, also im Rekurs auf den Präventionsgedanken möglich. Doch für die Ebene der Strafzuerkennung sei das Vergeltungsdenken unabdingbar. Das Vergeltungsdenken erfüllt seine Legitimationskraft gemäß Harts Konzeption nicht auf der Ebene der allgemeinen Rechtfertigung der Institution Strafe, es leistet aber die Rechtfertigung der Strafzuerkennung und ‑bemessung. Das generelle Prinzip des Vergeltungsdenkens wird von Hart somit modifiziert zum Prinzip der Vergeltung bei der Strafzuerkennung (retribution in Distribution)244. Dieses erweise sich als ein restriktives Prinzip (restrictive principle)245, da es dem generellen Strafzweck begrenzend gegenübertrete. Es kläre die Frage, wer bestraft werden dürfe (“To whom may punishment be applied?”)246 und ziele demnach auf die Frage nach der Zurechnung. Aus dem restriktiven Prinzip ergebe sich folgende Forderung: Strafe ist nur zu verhängen, wenn ein Täter eine Straftat begangen hat (“Only to an offender for an offence”).247 Diese Antwort folgt aus dem retributiven Gedanken des Ausgleichs. Der Gedanke des Ausgleichs bezieht sich jedoch nicht auf die generelle Frage, „zu welchem Zweck“ gestraft werden soll, und gibt nicht die klassische retributive Antwort: „um des Ausgleichs willen“. In Harts Konzeption bezieht sich der Gedanke des Ausgleichs auf die klar umgrenzte Frage der Zurechnung: Wenn (aus utilitaristisch bzw. präventiv zu rechtfertigenden Gründen) Strafe zu verhängen sei,

243

 Hart 2008, S. 14. 2008, S. 9. 245  Hart 2008, S. 13. 246  Hart 2008, S. 9. 247 Hart 2008, S. 9. 244 Hart

2.5 Vereinigungstheorien zur Legitimation von Strafe

67

dann würden diesem Vorgang jedoch Grenzen gesetzt durch den Vergeltungsgedanken bei der Strafzuerkennung.248 Hart beschreibt zwei Anwendungsfälle, um die Bedeutung des Prinzips der Vergeltung bei der Strafzuerkennung herauszustellen. Der eine bezieht sich auf die Stellvertreterstrafe (vicarious punishment), ein insbesondere im angloamerikanischen Raum vieldiskutiertes Thema. Der andere bezieht sich auf die Entschuldigungsgründe (Excuse/ Mitigation). Die beiden Fälle werden in der Literatur auch als die zwei Regeln der Vergeltung bei der Strafzuerkennung beschrieben: als die wrong-person rule und die blameless-doer rule.249 Die Stellvertreterstrafe ist das klassische Beispiel, das gegen das Präventionsprinzip bzw. gegen utilitaristische Straftheorien vorgebracht wird: The standard example used by philosophers to bring out the importance of retribution in Distribution is that of a wholly innocent person who has not even unintentionally done anything which the law punishes if done intentionally. It is supposed that in order to avert some social catastrophe officials of the system fabricate evidence on which he is charged, tried, convicted, and sent to prison or death. Or it is supposed that without resort to any fraud more persons may be deterred from crime if wives and children of offenders were punished vicariously for their crimes.250

Da bei präventiven bzw. utilitaristischen Straftheorien, so das Argument, die letztlich überwiegenden guten Konsequenzen ausschlaggebend seien, könnten sie die Bestrafung eines Unschuldigen (Sündenbocks/Stellvertreters) legitimieren, wenn diese als eine Zufügung von Übel der einzige Ausweg sei, um größeres Übel zu verhindern. Wenn dies auch nicht als gängige Rechtspraxis denkbar sei, so doch aus handlungsutilitaristischer Sicht in bestimmten Situationen, um massive Verbrechen zu verhindern.251 Die Forderung, dass Unschuldige in einem konkreten Fall keinen strafrechtlichen Sanktionen unterworfen werden dürften, könne demnach nicht aus dem Präventionsprinzip gefolgert werden, sondern müsse mit einem anderen Prinzip begründet werden. Und zwar, so Hart, durch das Vergeltungsprinzip, das die Forderung aufstelle: “punishment be applied only to an offender for an offence”. Dieses lege hier ein klares Veto zum Schutz von unschuldig Angeklagten ein. Strafrechtliche Sanktionen seien, das beinhalte

248

 Im englischen Strafrecht wird die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortlichkeit durch das Element der mens rea (guilty mind) gekennzeichnet und – wie das Schuldprinzip im deutschen Strafrecht – intensiv diskutiert. Vgl. Kapitel 2.4.2 Die Kritik am Schuldprinzip: das strikte Präventionsmodell Barbara Woottons. 249 Walker 1991, S. 88. 250  Hart 2008, S. 11; vgl. auch Ezorsky 1972, S. xv f. oder Walker 1991, S. 90. 251  Vgl. den Lösungsversuch durch John Rawls (1955, S. 4), der die Unterscheidung von Regel‑ und Handlungsutilitarismus vornimmt (justification of a rule or practice, justification of a particular action falling under it). Rawls argumentiert, dass die Bestrafung eines Unschuldigen zwar als einzelne Handlung, jedoch nicht als grundsätzliche Regel utilitaristisch zu rechtfertigen sei. Das Problem stellt sich jedoch, so Hart, gerade als Verletzung in einem konkreten Fall.

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

das Vergeltungsprinzip, immer nur dann zu verhängen, wenn auch tatsächlich eine Straftat vorliege. Auch die Entschuldigung ist ein Beispiel, das oft vorgebracht wird, um die Defizite des Präventionsprinzips bzw. der utilitaristischen Straftheorien zu verdeutlichen. Sie sei, so auch Hart, ein anderer Anwendungsfall, der sich nur aus dem Prinzip der Vergeltung bei der Strafzuerkennung ableiten lasse.252 Bei Fällen, in denen die Schuld an einer Tat dem Täter nicht oder nur vermindert persönlich zugerechnet werden könne, folgen aufgrund der Anerkennung von Entschuldigungsgründen keine (Excuse) oder nur verminderte (Mitigation) strafrechtliche Sanktionen. Denn die Anerkennung von Entschuldigungsgründen, so das Argument, würde im Rahmen der Präventionstheorie andere Konsequenzen nach sich ziehen, als es in der Rechtspraxis der Fall sei: […] we may note that the guilt of an offender is usually held to decrease with extenuating circumstances, e. g., that the crime was committed in a state of passion. But […] where the temptation to commit an offense is greater, the threat of more severe punishment is required to overcome the temptation. Thus to secure effective deterrence, crimes committed in extenuating circumstances should be punished more severely. However, these are precisely the circumstances where the offender, being less responsible, deserves a lighter penalty.253

Gerade bei Fällen, wo die Hemmung herabgesetzt und es für den Täter schwerer gewesen sei, der Versuchung zur Tat zu widerstehen, dürfte im Sinne der Präventionstheorie nicht nur keine Ausnahme in der Verhängung von strafrechtlichen Sanktionen erlaubt, sondern die Strafe müsste sogar noch verstärkt werden, um der geringeren Hemmschwelle mit einer größeren Abschreckungswirkung zu begegnen. Die Abschreckungswirkung durch die Androhung von Strafe ziele dabei nicht auf den Täter, der unter einer herabgesetzten Hemmung eine Tat begehe und daher von der Abschreckung kaum beeinflussbar wäre. Die größere Abschreckungswirkung würde vielmehr auf mögliche Täter zielen, denen die Schuld an der Tat zugerechnet werden könne, die jedoch versuchen könnten, eine der Bedingungen, die eine Strafmilderung aufgrund von Entschuldigungsgründen nach sich ziehen würde, vorzutäuschen, um mildere Sanktionen zu erwirken. Die Aussicht auf Erfolg sei dabei, so Hart, gar nicht so gering.254 In der deutschen Strafrechtswissenschaft wurde dieser Aspekt unter dem Begriff der Dammbruchgefahr ebenfalls intensiv diskutiert.255 Die tatsächliche Rechtspraxis, bei der die Anerkennung von Entschuldigungsgründen Strafmilderung nach sich zöge, folge demnach einem anderen als dem Präventionsprinzip. Der Schutz des vermindert schuldfähigen bzw. schuldunfähigen Angeklagten durch 252 Hart

2008, S. 13.  Ezorsky 1972, S. xv; vgl. auch Hart 2008, S. 19. 254  Hart 2008, S. 19. 255 Vgl. bspw. die Darstellung von Stratenwerth 1977, S. 14. 253

2.5 Vereinigungstheorien zur Legitimation von Strafe

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die Anerkennung von Entschuldigungsgründen sei, so Hart, ebenfalls nur durch das Vergeltungsdenken bei der Strafzumessung erklärbar. Für Vertreter des klassischen Retributivismus dienen diese beiden Anwendungsbeispiele als Argumente dafür, dass eine Straftheorie nur auf dem Gedanken des Ausgleichs und nicht auf präventiven Überlegungen aufbauen könne. Bei Hart erhält die Argumentation jedoch eine andere Funktion. Hart betont, dass im Rahmen jeder Straftheorie denkbar sei, dass in bestimmten Situationen keine andere Option bleiben könne, als sowohl eine Bestrafung von Unschuldigen als auch eine verschuldensunabhängige Haftung zu billigen. Diese Beispiele der Rechtspraxis, so Hart, widerlegten nicht die Präventionstheorie, sie zeigten jedoch, dass retributive Forderungen rechtspraktische Relevanz hätten: In extreme cases many might still think it right to resort to these expedients but we should do so with the sense of sacrificing an important principle. We should be conscious of choosing the lesser of two evils, and this would be inexplicable if the principle sacrificed to utility were itself only a requirement of utility.256

Sei zu entscheiden, so Hart, dass in einer bestimmten Situation keine andere Wahl bleibe, als Unschuldige zu bestrafen oder eine verschuldensunabhängige Haftung zu verhängen, so bestehe dabei jedoch ein wesentlicher Unterschied zwischen einer Rechtfertigung im Rahmen einer rein utilitaristischen Straftheorie und einer Rechtfertigung im Rahmen einer Vereinigungstheorie nach seiner Konzeption. Im Rahmen einer rein utilitaristischen Rechtfertigung erfolge die Abwägung nach dem einen Prinzip, auf dem die Straftheorie beruhe: Es werde die Sanktion gewählt, die weitere Verbrechen für die Zukunft verhindere. Im Rahmen der Konzeption Harts erfolgt die Abwägung letztlich auch zu dem Zweck, die besten Konsequenzen für die Zukunft zu erzielen, also das geringere von zwei Übeln zu wählen. Dies bedeute jedoch auch, so Hart, dass dabei anerkannt werden müsse, dass ein wichtiges Prinzip preisgegeben werde. Denn es sei zu beachten, dass die Forderungen hinsichtlich der Stellvertreterstrafe und der Entschuldigungsgründe selbst keine Prinzipien des Präventionsdenkens seien, sondern des Vergeltungsdenkens. Wenn man sich in einer Situation (aus präventiven Gründen) dazu entscheide, eine Stellvertreterstrafe zuzulassen oder Entschuldigungsgründe außer Acht zu lassen, würden retributive Prinzipien dem Präventionsdenken preisgegeben. Die Diskussion um Präventionsprinzip und Vergeltungsprinzip ist damit nicht beigelegt, sie ist jedoch auf einer anderen Ebene angesiedelt und spitzt sich auf eine andere Frage zu: Zur Diskussion stehe nicht mehr, ob das Vergeltungs‑ oder das Präventionsdenken die generelle Legitimation der Institution Strafe leisten könne. Stattdessen sei zu klären, mit welcher Argumentation das Vergeltungsdenken (Retributivism) zu legitimieren vermöge, dass es die Institution Strafe in der Verfolgung ihrer Ziele durch seine Prinzipien (der Strafzuerkennung) be256 Hart

2008, S. 12.

70

Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

schränken könne. Gerade in dieser Frage liege jedoch, so Hart, die wesentliche Prüfung, der sich die Institution Strafe zu unterziehen habe: The most general lesson to be learnt from this […] is, that in relation to any social institution, after stating what general aim or value its maintenance fosters we should enquire whether there are any and if so what principles limiting the unqualified pursuit of that aim or value.257

Hart zeigt mit seiner Konzeption, dass – unabhängig von der generellen Rechtfertigung der Institution Strafe – der Vergeltungsgedanke eine wesentliche Funktion in der Straftheorie innehat. Der Gedanke der ‘retribution in Distribution’ ist das wesentliche Korrektiv zum utilitaristischen Strafgedanken. Diese Funktion ist gegenüber der präventiven Legitimation der Institution Strafe von elementarer Bedeutung, denn sie zeigt die Grenzen der Strafbarkeit auf, indem sie den Schutz des Einzelnen gegenüber den Interessen der Allgemeinheit fordert: This is a requirement of fairness or of justice to individuals independent of whatever the General Aim of punishment is […]. It is clear that like all principles of Justice it is concerned with the adjustment of claims between a multiplicity of persons. It incorporates the idea that each individual person is to be protected against the claim of the rest for the highest possible measure of security, happiness or welfare which could be got at his expense by condemning him for a breach of the rules and punishing him.258

Aufgrund dieser Funktion bezeichnet Hart das Vergeltungsprinzip als Prinzip der Gerechtigkeit (principle of Justice).

2.5.2 Die Konzeption Claus Roxins Wie Hart, so stellt auch Claus Roxin die Bedeutung einer Eingriffsbegrenzung259 hervor, um „die Belange der Gesamtheit gegenüber der individuellen Freiheit in Schranken zu halten“.260 Diese Aufgabe sei, so Roxin, die genuine Funktion des Schuldprinzips. Er zählt jedoch das Konzept Harts zu den vergeltenden additiven Vereinigungstheorien261, die er ebenso wie reine Vergeltungstheorien verwirft. Er sieht deren Defizit darin, dass diese „Schuldausgleich, Spezial‑ und Generalprävention als Zwecke der Strafe einfach nebeneinander […] stellen“ und damit zu „einem standpunktlosen Hin‑ und Herschwanken zwischen verschiedenen Strafzielen“ führten, was „eine einheitliche Konzeption der Strafe als eines Mittels sozialer Befriedigung unmöglich macht“.262 Roxin stellt dagegen 257

 Hart 2008, S. 10. 2008, S. 14, 21 f. 259  Roxin 2006, RN 51–58, S. 91–95. 260  Roxin 1966, S. 384. 261 Roxin 2006, RN 33, S. 83 und RN 35, S. 84. Roxin bezieht sich dabei auf einen Aufsatz von Heinz Koriath, der verschiedene Vereinigungstheorien vergleicht und diskutiert, darunter auch die von Hart (Koriath 1995). 262 Roxin 2006, RN 35, S. 84 f. 258 Hart

2.5 Vereinigungstheorien zur Legitimation von Strafe

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sein Konzept einer präventiven dialektischen Vereinigungstheorie263 und fordert einen „Verzicht auf jede Vergeltung“264. Da, so Roxin, die Strafnormen lediglich gerechtfertigt sind, wenn sie auf den Schutz der individuellen Freiheit und einer ihr dienenden Gesellschaftsordnung abzielen […], kann auch die konkrete Strafe nur diesen, d. h. einen dem Verbrechen vorbeugenden Zweck, verfolgen.265

Seine präventive dialektische Vereinigungstheorie hat Roxin nicht nur in seinem Kommentar zum Strafrecht von 2006 dargestellt266, sondern bereits 1966 in dem Aufsatz Sinn und Grenze staatlicher Strafe267. Interessanterweise hat sich seine Konzeption jedoch in einem wesentlichen Aspekt geändert. In dem Aufsatz von 1966 beschreibt Roxin als Ausgangspunkt seines Konzeptes, „daß das Strafrecht dem einzelnen in dreifacher Weise entgegentritt: Strafen androhend, verhängend und vollziehend, und daß diese drei Bereiche staatlicher Tätigkeit jeweils gesonderter Rechtfertigung bedürfen“.268 Dem Bereich der Strafandrohung ordnet Roxin eine Rechtfertigung durch die Generalprävention zu, da der Zweck auf dieser Ebene nur die „Rechtsgüter‑ und Leistungssicherung“ aller sein könne.269 Im Bereich der Strafverhängung erfolge die Rechtfertigung durch eine Verbindung von zwei Prinzipien: Der generalpräventive Aspekt der Strafandrohung müsse sich fortsetzen (ist „bis in die richterliche Tätigkeit hinein weiterzuführen“270), er bedürfe jedoch der Regulation durch das Schuldprinzip: Der generalpräventive Zweck der Bestrafung darf nur im Rahmen der individuellen Schuld verfolgt werden. Geht man darüber hinaus, läßt man also den Handelnden für die vermuteten kriminellen Neigungen anderer büßen, so ist das in der Tat ein Verstoß gegen die Menschenwürde.271

Roxin verbindet in dem Bereich der Strafverhängung den generalpräventiven Aspekt des Schutzes der Gemeinschaft mit dem Schuldprinzip und dessen Forderung nach dem Schutz der „Persönlichkeitsautonomie des Delinquenten“.272 Den dritten Bereich des Strafvollzuges rechtfertigt Roxin durch die Spezialprävention, hier müsse die „Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft“273 das Ziel sein. Die Bedeutung der von ihm vorgestellten dialektischen Vereinigungstheorie liege darin, so Roxin, dass sie „die verschiedenen Straf263

 Roxin 2006, RN 36, S. 85. 2006, RN 44, S. 88. 265  Roxin 2006, RN 37, S. 85. 266  Roxin 2006, RN 37–43, S. 85–88. 267 Roxin 1966, S. 377–387. 268  Roxin 1966, S. 381. 269  Roxin 1966, S. 382. 270 Roxin 1966, S. 383. 271  Roxin 1966, S. 385. 272  Roxin 1966, S. 384. 273 Roxin 1966, S. 386. 264 Roxin

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

zwecke aus der einlinigen Übersteigerung dadurch in sozialkonstruktive Bahnen lenken [will], daß sie die einzelnen Ansätze durch ein Verfahren gegenseitiger Beschränkung ins Gleichgewicht bringt“.274 Diese Konzeption hat Roxin in ihrem Grundriss beibehalten, jedoch in einem wesentlichen Aspekt in seiner Darstellung von 2006 revidiert: Der Zweck der Strafdrohung ist zunächst rein generalpräventiv. Bei der Strafverhängung im Urteil dagegen sind spezial‑ und generalpräventive Bedürfnisse […] gleichermaßen zu berücksichtigen. Im Strafvollzug schließlich tritt die Spezialprävention ganz in den Vordergrund […].275

Roxin erwähnt in seinem überarbeiteten Modell nur noch die General‑ und die Spezialprävention als Legitimationsgrundlage für die drei Ebenen der Strafdrohung, der Strafverhängung und des Strafvollzugs. Er fordert nun einen „Verzicht auf jede Vergeltung“.276 Diese könne, so Roxin, „in einer recht verstandenen Vereinigungstheorie auch als ein neben der Prävention zu berücksichtigender Strafzweck nicht in Betracht kommen“.277 Dementsprechend haben retributive Elemente in seiner Straftheorie keinen Platz mehr. Das Schuldprinzip ist als Regulativ der Generalprävention im Bereich der Strafverhängung verschwunden. Umso überraschender ist, dass er zwei Kapitel später „das Schuldprinzip als Mittel der Eingriffsbegrenzung“278 in einer vergleichbaren Bedeutung, die es auch in der Konzeption von 1966 hatte, hervorhebt: Gleichwohl muss ungeachtet des Verzichtes auf alle Vergeltung ein entscheidendes Element der Vergeltungslehre auch in die präventive Vereinigungstheorie eingehen: das Schuldprinzip als Mittel zur Begrenzung der Strafe.279

Wie diese Funktion der Vergeltungslehre mit seiner Forderung nach einem Verzicht auf Vergeltung kohärent zusammengebracht werden soll, belässt Roxin der Interpretation des Lesers. Einen Erklärungsansatz liefert wiederum der Aufsatz von 1966. In diesem nimmt Roxin eine ähnliche Trennung der Wirkungsebenen vor wie Hart. Auch er unterscheidet die Ebene der generellen Legitimierung des strafrechtlichen Eingriffs (Recht zur Vergeltung) und die regulative Ebene, auf der er den Wirkungsbereich des Schuldprinzips ansiedelt (die Belange der Gesamtheit gegenüber der individuellen Freiheit in Schranken zu halten): Ob die Schuld dem Staat ein Recht zur Vergeltung gibt, oder ob sie das Mittel ist, die Belange der Gesamtheit gegenüber der individuellen Freiheit in Schranken zu halten, das scheint mir für das Strafrecht eine wichtigere Frage als die nach dem Bestehen von Schuld überhaupt. Die Antwort kann nur im Sinne der zweiten Alternative lauten; nicht allein 274

 Roxin 1966, S. 387.  Roxin 2006, RN 42, S. 87. 276 Roxin 2006, RN 44, S. 88. 277  Roxin 2006, RN 44, S. 88. 278  Roxin 2006, RN 51–58, S. 91–95. 279 Roxin 2006, RN 51, S. 91. 275

2.5 Vereinigungstheorien zur Legitimation von Strafe

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wegen der geschilderten Fragwürdigkeit des Vergeltungsgedankens, sondern vor allem auch deswegen, weil die im Grundgesetz proklamierte Menschenwürde ein Schutzrecht gegenüber dem Staat ist und nicht in eine Eingriffsbefugnis verkehrt werden darf. […] Das Schuldprinzip ist also, wenn man es von der Vergeltungstheorie trennt, mit der es meist irrigerweise als unlöslich dargestellt wird, ein rechtsstaatlich unentbehrliches Mittel zur Begrenzung der staatlichen Strafgewalt.280

Wie Hart, der das retributive Denken für die generelle Rechtfertigung der Institution Strafe zurückweist, jedoch die Strafzuerkennung als retributives Element ausweist, so sieht demnach auch Roxin die Bedeutung des Schuldprinzips in der Begrenzung der staatlichen Strafgewalt, während er generell das Vergeltungsdenken (Recht zur Vergeltung) als Straftheorie ablehnt. Und beide betonen dieselbe wesentliche Funktion: Den Schutz des Einzelnen vor der Verletzung seiner Interessen durch die Interessen der Allgemeinheit (“each individual person is to be protected against the claim of the rest”281). Doch hat Hart neben dieser Unterscheidung von generell legitimierender und regulativer Funktion noch einen anderen, grundlegenden Aspekt herausgestellt: Die regulative Funktion könne nur dadurch als Korrektiv auftreten, so Hart, dass sie ein retributives Prinzip sei. Er erkennt die Funktion der Eingriffsbegrenzung als wesentlich retributives Element an, das dem utilitaristischen bzw. präventiven Denken begrenzend gegenübertritt. Diese Bedeutung eines Korrektivs gegenüber präventiven Modellen wird auch in der Diskussion der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft als die Funktion des Schuldprinzips betont: Wenn dem Schuldgrundsatz selbständige Bedeutung mindestens noch als Korrektiv gegenüber präventiven Bedürfnissen zukommen soll, so darf er gerade nicht auf Bedürfnisse der Prävention zurückgeführt […] werden.282

Da Hart sowohl die präventive Funktion der Institution Strafe anerkennt als auch das Vergeltungsdenken als Korrektiv der präventiven Bedürfnisse, sucht er den Weg einer Vereinigungstheorie, in der präventives und retributives Denken zusammengebracht werden. Darin hat das Vergeltungsdenken eine eigenständige legitimatorische Funktion: Es begründet das Erfordernis eines Korrektivs präventiv definierter Strafbarkeit. Auch für Roxin ist eine Eingriffsbegrenzung des Strafrechts von zentraler Bedeutung, er hat jedoch Schwierigkeiten, diese als Element in seine präventive Vereinigungstheorie einzubinden. Da er das Vergeltungsdenken nicht anerkennen kann, fehlt dem Schuldprinzip, dessen bedeutende Funktion er zwar anerkennt, jegliches Fundament im Rahmen seiner präventiven dialektischen Vereinigungstheorie. Hinsichtlich einer konsistenten Straftheorie stellen sich aber eben die zwei Fragen: Wie kann die Strafgewalt zum Schutz des Bestraften begrenzt werden und wie kann der retributive Aspekt der 280

 Roxin 1966, S. 384 f.  Hart 2008, S. 21 f. 282 Stratenwerth 1977, S. 31. 281

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

Eingriffsbegrenzung mit den präventiven Aspekten in eine konsistente Straftheorie integriert werden? Insofern ist der Ansatz Harts überzeugender, da er die Begrenzungsfunktion als Errungenschaft und Funktion des Vergeltungsdenkens hervorhebt und ein Konzept erarbeitet, das Vergeltung und Prävention als notwendigerweise aufeinander bezogene Ansätze zusammenbringt. Ein wesentlicher Kritikpunkt trifft jedoch beide Ansätze gleichermaßen. Beide sehen den Sinn des Schuldprinzips bzw. des retributiven Gedankens darin, die aus anderen (und zwar präventiven) Aspekten gerechtfertigte Strafe auf ein gerechtes Maß zu begrenzen. Gibt aber, so der meiner Ansicht nach zentrale Einwand, „die Schuld die Grenze der Strafe an, so muss sie zugleich zu ihren Voraussetzungen gehören“.283 Das bestätigen auch die Formulierungen der Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 1952 bezüglich des „unantastbaren Grundsatzes allen Strafens, daß Strafe Schuld voraussetzt“ und die des Bundesverfassungsgerichts von 1966: „Der Grundsatz ‚nulla poena sine culpa‘ hat den Rang eines Verfassungsrechtssatzes.“284 Die Schuld des Täters dient nicht nur der Bemessung der Strafe, sondern sie ist zunächst ihr wesentlicher Anknüpfungspunkt: Der Täter wird bestraft, weil er schuldig ist. Eine das Schuldprinzip legitimierende Straftheorie muss somit leisten, nicht nur den Gedanken der schuldangemessenen Begrenzung und Bemessung von Strafe zu fundieren, sondern auch den Gedanken des Schuldausgleichs als Auslöser von strafrechtlichen Sanktionen unangreifbar zu verankern. Gegen die Kritik, er würde das Schuldprinzip nur als Eingriffsbegrenzung formulieren, entgegnet Roxin, er würde nicht bestreiten, dass Schuld eine konstituierende Voraussetzung der Strafe ist. Bestritten wird nur, dass sie eine Vergeltung legitimiert, und bestritten wird auch, dass die Schuld allein die Strafe begründet: Sie ist notwendige, nicht hinreichende Bedingung der Strafe. Diese beiden Thesen müsste widerlegen, wer erfolgreich eine Gegenposition einnehmen will.285

Eine das Schuldprinzip mit den Forderungen der Prävention widerspruchslos vereinigende Straftheorie muss demnach die strafrechtliche Schuld als notwendige und hinreichende Bedingung von Strafe begründen und eine mit dem Präventionsgedanken vereinbare Konzeption vorlegen.

2.5.3 Resümee (2) Die Vereinigungstheorien von Hart und von Roxin integrieren das Schuldprinzip als wesentliches Instrument zur Eingriffsbegrenzung in die Konzeption zur Legitimation der Institution Strafe. Die insbesondere in der angloamerikanischen Literatur diskutierten Aspekte der Stellvertreterstrafe und der Entschuldigungs‑ 283

 Lenckner / Eisele 2010, RN 109 a, S. 182.  BGHSt 1952, Bd. 2, S. 202; BVerfGE 1967, Bd. 20, S. 323. 285 Roxin 2006, RN 9, S. 855 (Hervorhebungen im Original). 284

2.5 Vereinigungstheorien zur Legitimation von Strafe

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und Schuldausschlussgründe (wrong-person rule/ blameless-doer rule286) stellen auch für die Diskussion um das deutsche Schuldstrafrecht Beispiele dar287, die verdeutlichen, dass das strafrechtliche Schuldmerkmal als wichtiges Instrument für die Eingriffsbegrenzung im Rahmen einer Straftheorie erforderlich ist. Doch sprechen beide Autoren dem Vergeltungsdenken und damit dem Schuldprinzip eine generelle Legitimationskraft für die Institution Strafe ab. Die Legitimation von Strafe, so beide Autoren, sei letztlich nur durch den Rekurs auf präventive Zwecke zu erreichen. In diesen Argumentationsmodellen fehlt dem Schuldprinzip demnach die grundlegende Verankerung seiner Gültigkeit (nulla poena sine culpa). Es hat eine bedeutende Funktion bei der Bemessung der Strafsanktion, wird aber nicht als Anknüpfungspunkt für ihre Begründung betrachtet. Wenn das Schuldprinzip nicht auf den Aspekt der Eingriffsbegrenzung reduziert werden, sondern auch seine legitimatorische Funktion für die Institution Strafe aufgezeigt werden soll, bleibt zu prüfen, wie eine konsistente Straftheorie entworfen werden kann, die ein widerspruchsfreies Fundament für das Schuldstrafrecht bildet.

2.5.4 Die freiheitstheoretische Vergeltungstheorie Michael Pawliks Aufgefallen ist, dass sich die konzeptionellen Unterschiede des Vergeltungsprinzips und der Präventionstheorien im Laufe der Diskussion zu gegenläufigen Denkschemata verfestigt haben: einerseits vergangenheitsbezogen, tat‑ und schuldorientiert, deontologisch, transzendental – andererseits zukunftsbezogen, folgenorientiert, konsequentialistisch, empirisch.288 Michael Pawlik hingegen sieht eine Entwicklung in der Diskussion um die Straftheorien dahingehend, dass sich die „traditionelle Frontstellung ‚absolute versus relative Straftheorien‘“289 auflöst. Gegenüber Hart290 und Roxin hält er jedoch an einer Vergeltungstheorie fest und zeigt in seiner Konzeption auf, dass das Vergeltungsdenken eine eindeutige gesellschaftsbezogene Funktion hat. Deshalb sei dieses, so sein Fazit, sowohl zur generellen Legitimation der Institution Strafe erforderlich, als auch widerspruchsfrei mit präventiven Aspekten kombinierbar. Seine Theorie könnte damit den Hauptkritikpunkt am Schuldprinzip aushebeln, der dieses aufgrund der Unzulänglichkeit einer retributiven Straftheorie verwirft, und zudem einen 286

 Walker 1991, S. 88.  Vgl. z. B. Mushoff 2008, S. 119. 288 Vgl. S. 41 f. 289  Pawlik 2004  (b), S. 228 f. Auch Karl-Ludwig Kunz teilt die Auffassung, dass „beide Positionen darin überein[stimmen], dass Strafe wegen ihrer gesellschaftlichen Funktionalität notwendig sei“ (Kunz 2004, S. 73). 290  Pawlik hat sich intensiv mit dem Denken Harts auseinandergesetzt, vgl. seine Dissertation: Die Reine Rechtslehre und die Rechtstheorie H. L. A. Harts. Ein kritischer Vergleich. Berlin: Duncker & Humblot GmbH 1992. 287

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

Lösungsansatz bieten, der sowohl in der Theorie überzeugen würde als auch mit Blick auf die tatsächliche Rechtspraxis. Pawlik hat 2004 mit seiner Konzeption Person, Subjekt, Bürger – Zur Legitimation von Strafe eine sich an Georg W. F. Hegel orientierende Straftheorie vorgelegt.291 Für ein konsistentes vergeltungstheoretisches Rechtfertigungsmodell ist nach Pawlik eine bedeutende Änderung erforderlich und zwar der Wechsel von einer gerechtigkeitstheoretischen hin zu einer freiheitstheoretisch fundierten Legitimation der Institution Strafe: Was die einzelne Strafe betrifft, so mag in der Tat gefordert werden, sie solle gerecht sein in dem Sinne, dass sie dem Maß des schuldhaft verwirklichten Unrechts entspricht. Dass Strafe überhaupt sein soll, lässt sich hingegen auf einer rein gerechtigkeitstheoretischen Basis nicht begründen. Dem Staat als dem Inhaber der Strafgewalt kommt nämlich keineswegs die Rolle eines Wahrers der Gerechtigkeit schlechthin zu […]. Der Maßstab, anhand dessen die Strafe als staatliche Veranstaltung sich bewähren muss, ist vielmehr derselbe, der das Urteil über die Legitimität des Staates insgesamt trägt. Dabei handelt es sich um den Maßstab der Freiheit.292

Pawlik trägt damit dem oben dargestellten Hauptkritikpunkt am Vergeltungsdenken Rechnung, die Institution Strafe könne als gesellschaftliche Institution nur gesellschaftliche Zwecke verfolgen. Als den wesentlichen Zweck der Institution Strafe für die Gesellschaft betrachtet Pawlik die Aufrechterhaltung einer Daseinsordnung von Freiheit durch die Wahrung der Rechtsordnung. Der Ansatz Pawliks ist überzeugend: In einer Gesellschaftsordnung, die dem Einzelnen möglichst viele Freiräume belassen soll, müssen auch die Grenzen dieser Freiräume klar definiert werden. Die Freiheit, Eigentum besitzen zu können, ist nur unter der Bedingung möglich, nicht das Eigentum eines anderen nehmen zu dürfen. Das Recht auf Freizügigkeit erfordert das Verbot, einen anderen in seiner Freizügigkeit einzuschränken. Aus den Freiräumen und den dafür notwendigen Begrenzungen der Freiräume ergeben sich Rechte und Pflichten für den Einzelnen. Die Grenzen einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung zu definieren und zu sichern ist die Aufgabe der Institution Strafe. Die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft genießen die eröffneten Freiräume (Rechte), haben damit aber auch die Mitverantwortung, die gebotenen Grenzen einzuhalten (Pflichten). Die wesentliche Bedeutung einer freiheitstheoretischen Straftheorie liegt darin, so die Argumentation Pawliks, dass der Einzelne nicht nur Adressat (Destinatär), sondern auch Mitträger dieser Daseinsordnung ist. Der Bürger steht deshalb in einer doppelten Beziehung zu „seiner“ Rechtsordnung: Er weiß sich sowohl als deren Destinatär wie auch als deren Mitträger. Destinatär der Rechtsordnung ist er, sofern man diese Ordnung in gewissermaßen statischer Manier in den Blick nimmt, sie also als institutionell verselbständigten und dementsprechend stabilen Rahmen 291

 Pawlik 2004 (a). 2004 (b), S. 229 (Hervorhebungen im Original).

292 Pawlik

2.5 Vereinigungstheorien zur Legitimation von Strafe

77

individueller Aktivitäten begreift. Unter diesem Gesichtspunkt schuldet der Bürger jedem von seinem Verhalten betroffenen Mitbürger als solchem die Erfüllung seiner Pflichten. Als Mitträger der Rechtsordnung aber begreift sich der Bürger, indem er von dieser statischen zu einer dynamischen Perspektive übergeht und erkennt, daß eine Daseinsordnung von Freiheit ohne die Mitwirkung der Rechtsgenossen keinen Bestand haben kann.293

Nur durch die Mitwirkung, also die Normerfüllung durch den Einzelnen, könne ein „Zustand allgemein gesicherter Rechtlichkeit“294 verwirklicht werden. Eine Daseinsordnung von Freiheit könne damit, so Pawlik, nur durch einen dynamischen Prozess des „wechselseitigen Respekts“295 erreicht werden: Nur indem jeder Einzelne die Rechtsnormen mittrage, könnten gesicherte Freiräume für alle realisiert und aufrechterhalten werden. Diese basierten damit auf der „Loyalität der Bürger gegenüber der Rechtsordnung“.296 Es wird von einem Bürger erwartet, die eigenen Mitbürger so zu behandeln, daß darin zugleich seine Loyalität gegenüber einer Daseinsordnung rechtlicher Freiheit zum Ausdruck kommt. Dahinter steht die Einsicht, daß die Aufrechterhaltung einer solchen Freiheitsordnung  – insbesondere ihrer conditio sine qua non, des Friedens  – der gemeinsamen Anstrengung aller Bürger bedarf. Loyalität ist insofern gleichsam der Preis für den Genuß von Frieden und Freiheit. Der Unrecht begehende Bürger kündigt für seinen Teil diese Konnexität auf; er suggeriert, es sei möglich, die Vorteile einer der Idee des „Friedens durch Recht“ verpflichteten Ordnung zu genießen, ohne sich die Selbstdisziplin aufzuerlegen, deren es zur verläßlichen Erfüllung der Loyalitätspflicht bedarf.297

Die angestrebte freiheitliche Gesellschaftsordnung basiert nach Pawliks Ansicht auf der Mitwirkung des Einzelnen, da diese aber nicht erzwungen werden könne, werde diese Loyalität im Rahmen eines Obliegenheitsmodells298 gewährleistet. Im Rahmen des Obliegenheitsmodells würden „an ein Verhalten, das den Eindruck der Illoyalität erweckt, Rechtsnachteile für den betreffenden Bürger [geknüpft]“.299 Auch dieser Gedanke überzeugt: Eine freiheitliche Gesellschaftsordnung bietet dem Einzelnen die Teilhabe an den von ihr gesicherten Freiräumen. Sie schützt bspw. sein Recht auf Eigentum und Freizügigkeit und versucht, bei einer Verletzung dieser Rechte durch andere dem Verletzten zu einer Verteidigung seiner Rechte zu verhelfen. In seinem eigenen Interesse wird dem Einzelnen die Teilhabe an einer freiheitlichen Gesellschafsordnung geboten. Die Realisierung dieser Ordnung fordert jedoch zugleich die Befolgung der entsprechenden Pflichten. Dem Einzelnen „obliegt“ es, beim Genuss seiner Rechte seine Pflichten zu erfüllen. Er steht damit in einem Schuldverhältnis zu der freiheitlichen 293 Pawlik

2004 (a), S. 82 f. (Hervorhebungen im Original).  Pawlik 2004 (a), S. 83. 295  Pawlik 2004 (b), S. 230. 296 Pawlik 2004 (a), S. 83. 297  Pawlik 2004 (a), S. 90 (Hervorhebung im Original). 298  Pawlik 2004 (a), S. 90. 299 Pawlik 2004 (a), S. 84. 294

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

Gesellschaftsordnung. Wenn aber ein Teilhabender an dieser Ordnung nun seine Schuld nicht erbringt, also zwar seine Rechte und Freiräume genießt, aber seine Pflichten nicht erfüllt und die Grenzen der Rechte und Freiräume anderer verletzt, dann ist das System gestört – die freiheitliche Gesellschaftsordnung kann nicht funktionieren. Daher hat bei einer Störung der Ordnung durch einen Normbruch eine Reaktion zu erfolgen. Die Frage, die sich dann stellt, ist, welche Reaktion zu erfolgen hat, wenn ein Mitglied der Gesellschaftsordnung seine Pflichten nicht erfüllt und einen Normbruch begeht. Nur Strafe sei, so die Argumentation Pawliks, angemessen, „das spezifische Unrecht des Bürgers auszugleichen“.300 Das Strafrecht habe die Funktion, „dem normativ gebotenen Zustand wechselseitigen Respekts zwischen den Rechtsgenossen die nötige äußere Stabilität zu verleihen“.301 Denn das Unrecht des Bürgers stelle ganz wesentlich eine Verletzung auf zwei Ebenen dar: unmittelbar auf der Ebene der Opfer, die geschädigt würden, und zugleich mittelbar auf der Ebene der Loyalitätspflicht, die verletzt würde. Es werden lediglich die Konsequenzen aus der Einsicht gezogen, daß Verletzungen fremder Individualbelange unter dem Gesichtspunkt des Rechts niemals nur eine Angelegenheit der unmittelbar Beteiligten darstellen, sondern stets auch Aufkündigungen der bürgerlichen Loyalitätspflicht sind.302

Entsprechend zu diesen zwei Ebenen, auf denen die Verletzung des Rechts erfolgt, unterscheidet Pawlik nun verschiedene Sanktionen. So diene bspw. der Täter-Opfer-Ausgleich (der als neue Sanktionsspur neben der Strafe und den Maßregeln der Besserung und Sicherung diskutiert wird) zwar „dem Ausgleichsinteresse des konkreten Opfers“, nicht jedoch auch der gegenüber der Rechtsgemeinschaft erfolgten Loyalitätspflichtverletzung.303 Die Strafe wiederum diene dem Ausgleich der Verletzung der Loyalitätspflicht, aber nicht der des Opfers. Strafe habe gegenüber der Wiedergutmachung überindividuellen Charakter.304 Insofern sei nur die Strafe die angemessene Reaktion auf einen Normbruch, denn sie bestätige, so Pawlik, „[a]uf Kosten des Täters […] die Unauflöslichkeit des Zusammenhanges von Freiheitsgenuß und Loyalitätspflichterfüllung“.305 Strafe als Ausgleich einer Verletzung der freiheitlichen Gesellschaftsordnung zu fordern, bedeute nicht, so Pawlik, die Interessen des Opfers hintanzustellen. Die Verletzung des Opfers sei jedoch nur die eine Seite des Rechtsbruches. Auf der anderen Seite stelle der Rechtsbruch wesentlich eine Verletzung der freiheitlichen Gesellschaftsordnung dar – denn diese funktioniere nur dann, wenn die Grenzen der Freiheitsräume gewahrt und die daran geknüpften Pflichten 300

 Pawlik 2004 (a), S. 89.  Pawlik 2004 (b), S. 230. 302 Pawlik 2004 (a), S. 87 (Hervorhebungen im Original). 303  Pawlik 2004 (a), S. 88. 304  Pawlik 2004 (a), S. 90. 305 Pawlik 2004 (a), S. 76. 301

2.5 Vereinigungstheorien zur Legitimation von Strafe

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erfüllt würden. Eine Teilhabe ohne Gegenleistung stelle einerseits eine konkrete Verletzung eines Opfers dar, andererseits aber ebenso eine überindividuelle Verletzung der Vereinbarung der Teilhabe. Die überindividuelle Verletzung der freiheitlichen Gesellschaftsordnung erfordere ebenso einen Ausgleich bzw. eine Reaktion wie die konkrete Verletzung eines Opfers. Diesen Ausgleich leiste die Institution Strafe. Im Rahmen dieses Modells hat auch das Schuldprinzip seine Funktion. Die strafrechtliche Schuld fragt danach, ob der Bürger, der die Rechtsnorm gebrochen hat, für sein Verhalten verantwortlich ist: Der strafrechtliche Schuldvorwurf besagt, daß der Täter nicht das geleistet hat, was man von ihm als verantwortlichem Staatsbürger in der betreffenden Situation verlangen konnte – daß er […] ein Unrecht des Bürgers verwirklicht hat.306

Im Rahmen der freiheitlichen Gesellschaftsordnung werde dem Einzelnen, so Pawlik, die Verantwortung übertragen, die gebotenen Grenzen der eröffneten Freiräume zu wahren. Komme der Einzelne seiner Verantwortung nicht nach und verletze diese Grenzen, dann mache er sich strafrechtlich schuldig. Pawliks freiheitstheoretisches Legitimationsmodell ist damit wesentlich retributiv, es basiert auf dem Gedanken des Ausgleichs. Strafe sanktioniere die nicht eingehaltene Mitverantwortung und damit die persönliche Schuld desjenigen, der einen Rechtsbruch begangen und die Gesellschaftsordnung gestört habe: „Den Täter trifft in seiner Rolle als Bürger eine rechtliche Mitverantwortung für das Allgemeine. An dieser Mitverantwortung wird er in der Strafe festgehalten.“307 Gemäß Pawliks freiheitstheoretischer Vergeltungstheorie ist nicht nur die Begründung von Strafe, sondern auch ihre Bemessung retributiv legitimiert. Wird die Verhängung der Strafe demnach legitimiert durch eine dem Täter als Unrecht des Bürgers zurechenbare Verletzung der Daseinsordnung von Freiheit, dann muß sich die Strafhöhe konsequenterweise nach dem Ausmaß dieses Unrechts richten.308

Da eine Sanktion erforderlich sei, wenn die Gesellschaftsordnung durch die Nichterfüllung einer ihrer Normen verletzt werde, sei die Sanktion auch in ihrer Bemessung an der Verletzung zu orientieren. In dem Maß, in dem der Einzelne seine Pflicht nicht erfülle und die Grenzen der Freiheitsräume anderer verletze, in dem Maß würden zum Ausgleich seine Rechte beschnitten. Diese Reaktion sei erforderlich, da ohne die Mitwirkung des Einzelnen die freiheitliche Gesellschaftsordnung nicht bestehen könne. Aus der notwendigen Pflicht zur Mitverantwortung des Einzelnen folge einerseits die Reaktion der Institution Strafe bei Nichterfüllung der Pflicht und andererseits aber auch die Ausrichtung der Strafe an der Pflichtverletzung, also der konkreten Tatschuld. 306

 Pawlik 2004 (a), S. 87.  Pawlik 2004 (a), S. 97. 308 Pawlik 2004 (a), S. 91 (Hervorhebungen im Original). 307

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

Der von Pawlik aufgezeigte Zusammenhang zwischen Gesellschaftsordnung und Straftheorie überzeugt: Die Notwendigkeit und die Legitimation des Schuldprinzips liegt in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung begründet. Da die Aufrechterhaltung einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung von der Mitverantwortung des Einzelnen abhängt und da sie zu ihrer Sicherung eines Ausgleichsgebotes bedarf (wenn du gesicherte Freiräume genießen willst, dann musst du die Grenzen dieser Freiräume beachten), hat sich auch die Reaktion auf eine Verletzung an dem Ausgleichsgebot zu orientieren. Diesen Ausgleich formuliert das Schuldprinzip in § 45 des Strafgesetzbuches: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe.“ Die Institution Strafe kann somit im Rahmen einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung nur retributiv, also vergeltungstheoretisch legitimiert werden. Schließlich ist aber von Bedeutung, dass Pawlik trotz des vergeltungstheoretischen Fundaments seiner Theorie ebenso präventive Aspekte beachtet. Er macht sowohl general‑ als auch spezialpräventive Erfordernisse gerade im Rahmen seines freiheitstheoretischen Modells erklärbar und mit dem retributiven Gedanken des Ausgleichs kombinierbar. So ist die Generalprävention sogar elementar für die Erreichung des Zwecks von Pawliks freiheitstheoretischem Modell: Wie bereits erwähnt, wird der soziale Bedeutungsgehalt einer Tat mitbestimmt durch den Zustand der Rechtsordnung in dem Zeitpunkt, in welchem der Delinquent das Recht durch seine Tat verletzt. Dieser Zustand ist bedeutsam nicht nur für das allgemeine Niveau der von einer Rechtsgemeinschaft verhängten Strafen; er beeinflußt auch die Bewertung des konkret in Rede stehenden Normbruchs. Ein Täter, der eine in ihrer Geltung bereits geschwächte Norm noch ein weiteres Mal bricht, verletzt seine Loyalitätspflicht in gravierenderer Weise als ein Täter, der von einer weitestgehend befolgten Norm abweicht; dies rechtfertigt eine (maßvolle) Schärfung der Strafe […].309

Da die Verletzung einer Norm der freiheitlichen Gesellschaftsordnung nicht nur die Verletzung eines konkreten Opfers, so Pawlik, sondern der Gesellschaftsordnung überhaupt bedeute, sei für die Ausgestaltung der Strafe auch die Bedeutung der Norm ausschlaggebend. Die Verletzung einer Norm, deren Schutz von besonderem Interesse für die Allgemeinheit sei, rechtfertige und erfordere eine maßvolle Schärfung. Diese sei gerechtfertigt, da die Verletzung einer für die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung bedeutenden oder einer bereits geschwächten Norm eine massivere Beeinträchtigung darstelle. Eine maßvolle Schärfung sei erforderlich, da sich die Sanktion in ihrer Ausgestaltung an der Verletzung zu orientieren habe: Eine massivere Beeinträchtigung erfordere einen nachdrücklicheren Ausgleich. Werde eine generalpräventive Anhebung der Strafhöhe für die Aufrechterhaltung einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung maßvoll eingesetzt, ohne den zu Bestrafenden zum reinen Demonstrationsobjekt zu machen, sei diese gerechtfertigt. 309 Pawlik

2004 (a), S. 94 (Hervorhebungen im Original).

2.5 Vereinigungstheorien zur Legitimation von Strafe

81

Nicht nur der generalpräventive Gedanke, auch die Resozialisierung des Täters, also die positive Spezialprävention sei, so Pawlik, mit seinem freiheitstheoretischen Modell nicht nur kompatibel, sondern sogar ein wesentlicher Baustein darin: Eine Rechtsgemeinschaft, die den Täter im Akt der Bestrafung in seiner Bürgerrolle anspricht, muß auch den Vollzug dieser Strafe in Respekt vor dem Bürgerstatus des Täters ausgestalten. Gerade weil der Täter Bürger ist und bleibt, hat er deshalb einen Anspruch darauf, daß ihm – soweit erforderlich – dazu verholfen wird, seine Primärpflicht zu aktiver Loyalität in Zukunft ordnungsgemäß erfüllen zu können; deshalb muß der Strafvollzug auch eine „chanceneröffnend-,soziale‘ Seite“ aufweisen, dem Täter also nach Möglichkeit mehr Handlungskompetenz und soziale Teilhabe vermitteln.310

Pawlik appelliert dafür, die Kriminalprävention nicht nur von den Strafbedürfnissen der Allgemeinheit her zu betrachten, sondern viel stärker die Interessen des Täters mit einzubeziehen, also Spezialprävention im positiven „bessernden“ Sinne zu betreiben. Denn für eine tragfähige Legitimation der Institution Strafe sei, so Pawlik, sowohl der Gedanke des strafrechtlichen Ausgleichs im Falle einer Normverletzung zentral als auch die Verantwortung gegenüber dem Täter zu einem rehabilitierenden Vollzug der Sanktion. Auch hier schlägt das von Pawlik geforderte Ausgleichsgebot durch: Da eine freiheitliche Gesellschaftsordnung zu ihrer Aufrechterhaltung der Verantwortung des Einzelnen gegenüber dieser Ordnung bedarf, so hat auch die Gesellschaft bei der Verhängung von strafrechtlichen Sanktionen bei Normbrüchen ihre Verantwortung gegenüber dem Normbrecher. Nur wenn die Mitwirkung und die Handlungskompetenz des Normbrechers auch im Strafvollzug gewährleistet werden, dann besteht die Möglichkeit, dass dieser nach dem Strafvollzug wieder ein Mitglied der freiheitlichen Gesellschaftsordnung wird. Pawlik zeigt, dass Spezialprävention dann gerechtfertigt ist, wenn diese die Belange des Täters in den Blick nimmt und seine Rehabilitation zum Ziel hat. In diesem Fall wird der Täter nicht instrumentalisiert, sondern ist Subjekt und Ziel der Behandlung. Pawlik fordert, Vergeltungsdenken, Schuldprinzip und Präventionstheorien auf einen gemeinsamen Zweck auszurichten  – nämlich an der Ermöglichung der Teilhabe aller an einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung  – und bei der Erreichung dieses Zwecks sowohl die Allgemeinheit als auch den einzelnen Täter als gleichberechtigte Adressaten zu behandeln. Diese gemeinsame, gesellschafts310  Pawlik 2004 (a), S. 94 f. (Hervorhebungen im Original). Damit kommt Pawlik zu dem gleichen Ergebnis wie Mushoff, der ebenfalls die Bedeutung der Spezialprävention hervorhebt, hier aber auch die Interessen des Täters in den Vordergrund stellt: „Strafrecht im sozialen Rechtsstaat muss darauf hinarbeiten, dass es für den Straftäter nach dem Vollzug der Strafe eine Zukunft gibt. Das bedeutet, dass sich der Strafvollzug bemühen muss, desozialisierende Wirkungen möglichst gering zu halten und Resozialisierungsangebote zu machen, die Strafgefangene, die therapeutischer Hilfe bedürfen, zu einem selbständigen Leben befähigen“ (Mushoff 2008, S. 162 f.).

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

bezogene Zielrichtung der strafrechtlichen Sanktionen zeigt einen Weg, wie sich die Frontstellung von Vergeltung und Prävention auflösen lässt. Die Straftheorie Pawliks ist damit eine Vereinigungstheorie. Diese versteht Strafe zwar vergeltungstheoretisch, da Strafe als Ausgleich der Loyalitätspflichtverletzung legitimiert ist. Doch da der individuelle Täter und die Allgemeinheit als gleichberechtigte Adressaten betrachtet werden, ist Pawliks Theorie auch mit präventiv erforderlichen Aspekten kombinierbar – solange der Täter bei der Prävention nicht nur als Mittel zum Zweck behandelt wird. Zudem ist in diesem Rahmen auch eine Weiterentwicklung und Milderung strafrechtlicher Sanktionen möglich – und sogar gefordert. Pawlik hebt insbesondere hervor, dass nicht ein jedes Unrecht des Bürgers mit einer Strafe beantwortet werden müsse. Eine gefestigte Gesellschaft wird nicht nur […] zu einer erheblichen Milderung der Strafen tendieren. Sie kann es sich auch leisten, die Reaktionsform der Strafe schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Daseinsbedingungen von Freiheit vorzubehalten, weniger gewichtige Unrechtstaten hingegen auf andere Weise  – etwa durch die Verpflichtung des Täters zur Wiedergutmachung – zu beantworten.311

Damit trägt Pawlik dem oben dargestellten dritten Kritikpunkt von Stratenwerth und Merkel Rechnung, dass eine retributiv legitimierte Straftheorie die Entwicklung fortschrittlicherer Formen der „Verarbeitung des sozialen Konfliktes“ nicht zulassen würde und ein humaner Umgang mit Normbrechern nur durch die Ersetzung des Schuldstrafrechtes durch ein therapeutisches Maßregelrecht realisierbar wäre.312 Ein vergeltungstheoretisch legitimiertes Strafrecht könne, so Pawlik, sehr wohl auf veränderte „Strafbedürfnisse“ der Gesellschaft reagieren und dementsprechend andere Sanktionsspuren zulassen. Es realisiere nicht nur zugleich präventive Ziele, sondern es lasse zudem Raum für die Entwicklung milderer oder effektiverer Reaktionsformen wie bspw. den Täter-Opfer-Ausgleich. Der Zweck der Institution Strafe sei, so Pawlik, die Aufrechterhaltung einer stabilen, freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Die Maßnahmen seien demnach so zu gestalten, dass sie diesen Zweck erreichten. Schwerwiegende Straftaten erforderten die Verhängung von angemessenen Sanktionen, doch bei weniger schwerwiegenden Taten sei eine Entwicklung hin zu weniger repressiven Sanktionsformen nicht nur möglich, sondern gemäß der Perspektive Pawliks sogar gefordert: Belasse man dem Einzelnen bei der Bewältigung des Konfliktes eigene Handlungskompetenz – wie bei dem Täter-Opfer-Ausgleich, wo der Bestrafte mit dem Opfer in Kontakt tritt –, werde dies ein zukünftiges normkonformes Verhalten eher bestärken als beeinträchtigen. Dieser Ansatz basiert wesentlich darauf, dass dem Täter seine persönliche Schuld an der Tat und die darauf aufbauende eigene Verantwortung kommuniziert wird. Aus dem Präventionsgedanken ist die Forderung nach einer eigenen Handlungskompetenz des Täters nicht 311

 Pawlik 2004 (a), S. 96 f. (Hervorhebungen im Original). Kapitel 2.3 Die Kritik an der Vergeltungstheorie und am Schuldprinzip, S. 34 f.

312 Vgl.

2.5 Vereinigungstheorien zur Legitimation von Strafe

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ableitbar. Diese Bedeutung der Mitverantwortung wird von den Befürwortern eines reinen Maßregelrechts komplett außer Acht gelassen. Mit Blick auf die zuvor dargestellten Vereinigungstheorien sind abschließend die Aspekte hervorzuheben, mit denen sich Pawliks Position von der von L. A. Hart und Roxin unterscheidet. Hart sieht zwar in der Strafzumessung ein retributives Element (Vergeltung bei der Strafzuerkennung, retribution in Distribution), die generelle Rechtfertigung von Strafe verortet er aber in ihrer präventiven Funktion. Roxin hingegen fordert sogar einen Verzicht auf jede Vergeltung im Rahmen einer Straftheorie.313 Auch wenn Pawlik letztlich auf eine Vereinigung von präventivem und retributivem Denken abzielt, so ist seine Konzeption zur Legitimation der Institution Strafe vergeltungstheoretisch fundiert und stellt den Gedanken des Ausgleichs und der Wiederherstellung als zentralen Aspekt hervor. Somit erfüllt Pawliks Straftheorie die Forderung Roxins bezüglich einer Gegenposition zu seiner Konzeption314: Pawliks Straftheorie rehabilitiert das Vergeltungsdenken zur Legitimation der Institution Strafe und zeigt auf, wie der strafrechtliche Grundgedanke nulla poena sine culpa (keine Strafe ohne Schuld) richtig zu verstehen ist. Eine freiheitliche Gesellschaftsordnung bietet dem Einzelnen ein Recht auf bestimmte Freiräume. Die Freiräume können aber nur aufrechterhalten werden, wenn sie durch bestimmte Normen geschützt sind. Die Einhaltung dieser Normen wird vom Einzelnen wiederum eingefordert. Es wird somit jedem Einzelnen die Verantwortung übertragen, die gebotenen Grenzen der eröffneten Freiräume zu wahren, um so die freiheitliche Gesellschaftsordnung für alle realisieren zu können. Kommt der Einzelne seiner Verantwortung nicht nach und verletzt diese Grenzen, dann wird er strafrechtlich schuldig. Die persönliche Schuld des Einzelnen ist somit notwendige und hinreichende Bedingung für die erforderlichen strafrechtlichen Sanktionen. Roxins Folgerung, Schuld zwar als notwendige, aber nicht als hinreichende Bedingung strafrechtlicher Sanktionen zu betrachten, hat ihren Ursprung in der Voreingenommenheit, das Vergeltungsdenken als rückschrittliche und atavistische Straftheorie abzulehnen. Doch auf der Grundlage von Pawliks Verständnis von Vergeltung wird offensichtlich, dass der Gedanke des vergeltenden Ausgleichs ein für die Gesellschaftsordnung konstitutiver, ein gegenüber präventiver Erfordernisse offener und ein strafrechtliche Wandlungsprozesse befördernder Ansatz ist. Dementsprechend ist auch das Schuldprinzip als elementare Grundnorm des Strafrechts formulierbar: Wenn ein Mitglied der Gesellschaft seine Mitverantwortung für die freiheitliche Ordnung nicht einbringt, sondern diese stört, macht es sich strafrechtlich schuldig. Diese Schuld ist damit notwendig und hinreichend für strafrechtliche Sanktionen. Das heißt aber nicht, dass präventive Erfordernisse durch diese Straftheorie behindert werden. Denn Pawliks gesell313

 Roxin 2006, RN 44, S. 88. Kapitel 2.5.2 Die Konzeption Claus Roxins, S. 74.

314 Vgl.

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

schaftsbezogene und weltimmanente Straftheorie verknüpft Kriminalprävention und Vergeltungstheorie und benennt den wesentlichen Gedanken für ein gemeinsames theoretisches Fundament: Die Institution Strafe muss dem Gedanken des Ausgleichs Rechnung tragen – sowohl die Interessen der Rechtsgemeinschaft, als auch die des Täters müssen gehört werden.315 Ein Ausgleich dieser Interessen bei einer Normverletzung ist dementsprechend im Rahmen der Schranken möglich, die vom Schuldprinzip her gegeben sind.

2.5.5 Resümee (3) Aufgrund der bisherigen Analyse des Schuldprinzips sind folgende Ergebnisse für die Diskussion um das deutsche Schuldstrafrecht festzuhalten: (1) Zunächst ist eine klare Trennung der zwei Spuren der Institution Strafe erforderlich – Strafe als Ausgleich des Verbrechens und Maßregel als Gefahrenabwehr. Der wesentliche Unterschied der beiden wird in erster Linie in ihrer differierenden Zweckbestimmung betrachtet. Doch erst der Blick auf die jeweilige Legitimationsgrundlage zeigt den fundamentalen Unterschied der zwei Spuren auf: Die strafrechtliche Sanktion wird durch das begangene Unrecht und die Schuld des Täters gerechtfertigt, die präventive Maßnahme hingegen durch die Sozialgefährlichkeit des Täters und das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit. Damit ist das Maßregelrecht im Unterschied zum Strafrecht ein „Instrument der Sozialkontrolle“316, das massiv in die Rechte dessen eingreift, gegen den es sich richtet. Das Maßregelrecht ist daher nur bei erheblicher Sozialgefährlichkeit legitim, wenn die Strafsanktionen zur Gefahrenabwehr nicht ausreichend sind, bspw. bei Tätern, bei denen auch nach dem Strafvollzug davon auszugehen ist, dass sie erneut erhebliche Straftaten begehen werden. Daher bin ich der Überzeugung, dass das Maßregelrecht auf die Fälle begrenzt bleiben muss, bei denen eine massive Bedrohung der allgemeinen Sicherheit angenommen wird. Anders gesagt: Das Maßregelrecht ist die Ultima Ratio des Strafrechts. Daran knüpft sich die Forderung, dass das Strafrecht und das Maßregelrecht in ihren individuellen Zielrichtungen unterschieden und ihre Maßnahmen entsprechend gestaltet werden, bspw. durch angemessene Therapieangebote im Maßregelvollzug und effektive Wiedereingliederungsmaßnahmen im Strafvollzug. (2) Für die Diskussion um die Rechtfertigung der Institution Strafe bedeutet dies, dass der Zweck der strafrechtlichen Sanktionen bleibt, die Schuld auszugleichen und den Täter zur Verantwortung für seinen Normbruch zu ziehen. Wenn aber präventive Erfordernisse mit den Interessen des Bestraften in Übereinstimmung gebracht werden, dann sind diese auch im Rahmen strafrechtlicher

315

 Pawlik 2004 (a), S. 34. 2008, S. 202.

316 Mushoff

2.5 Vereinigungstheorien zur Legitimation von Strafe

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Sanktionen berechtigt und erforderlich, z. B. im Sinne eines resozialisierenden317 Strafvollzugs. Man könnte dies auch als Forderung an das Schuldprinzip formulieren: Innerhalb der Grenzen der schuldangemessenen Strafe sind strafrechtliche Sanktionen zum Nutzen für die Gesellschaft und den Bestraften auszugestalten. Genau dies ist im deutschen Schuldstrafrecht im Rahmen des Schuldprinzips insbesondere hinsichtlich der Spezialprävention verankert: § 46 StGB formuliert nicht nur das Schuldprinzip („Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“), sondern stellt an das Schuldstrafrecht genau diese Anforderung: „Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.“ (3) Des Weiteren wurde dargestellt, dass das Schuldprinzip nicht einer Weiterentwicklung oder Humanisierung der strafrechtlichen Sanktionen widerspricht, wie z. B. der Wiedergutmachung (Täter-Opfer-Ausgleich) bei weniger schwerwiegenden Taten. Dies ist ein ganz wesentlicher Aspekt. Ein Strafrecht muss in der Lage sein, auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse reagieren zu können und diesen Veränderungen sowohl in seinen Normen und Handlungsvorschriften als auch im Strafvollzug gerecht zu werden. Dies ist die zweite Forderung, die an das Schuldprinzip zu stellen ist: Das Ausgleichsgebot muss auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse reagieren und entsprechende Änderungen der Strafsanktionen zulassen. Diese Wandlungsfähigkeit wird dem Schuldstrafrecht aber von vielen Kritikern abgesprochen. Im Rekurs auf ein vielzitiertes Argument Kants bspw. wird das Schuldprinzip als Element des Vergeltungsdenkens, als starres Einfordern von Strafe bis hin zur Absurdität dargestellt. In der Metaphysik der Sitten führt Kant aus: Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinander zu gehen, und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann. (A 199/B 229)

Das Kantische Beispiel ist jedoch als Kritik nicht auf das Schuldprinzip und seine Funktion im heutigen Strafrecht übertragbar: Zum einen stellt die darin beschriebene Auflösung eines Volkes einen Extremfall dar und zum anderen wird in Europa (mit der Ausnahme Weißrusslands) keine Todesstrafe mehr vollstreckt – diese Form des Ausgleichs wird somit vom Schuldprinzip nicht gefordert. Es stellt sich auch die Frage, ob ein Maßregelrecht anders reagieren würde. Auf die heutige Zeit und einen Staat übertragen, in der auf Mord nicht die Todesstrafe steht, würde gerade aus präventiven Interessen ein Mörder, bspw. bei der Auf317  Zuzustimmen ist dem Vorschlag Hörnles, „bescheidener“ von „Vermeidung weiterer Entsozialisierung“ zu sprechen (2011 (b), S. 19).

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Kapitel 2: Die Legitimation der Institution Strafe

lösung dieses Staates oder dem Zusammenschluss mit einem anderen Staat, nicht freigelassen werden, wenn er aufgrund der Schwere seiner Tat und seiner Gefahr für die Allgemeinheit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt war. Dennoch hält sich die Kritik, das Schuldstrafrecht behindere die Entwicklung eines humaneren und effektiveren Umgangs mit Verbrechen. Doch das deutsche Schuldstrafrecht hat immer wieder gezeigt, dass es auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse reagiert. Prominente Beispiele für massive strafrechtliche Änderungen sind bspw. die Abschaffung der Todesstrafe 1949 und die Abschaffung der Strafbarkeit von homosexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen 1973. Die Anforderung, dass die Auffassung davon, was strafrechtliche Schuld ist, wandelbar ist, bedeutet aber nicht, dass der zugrundeliegende Ausgleichsgedanke nulla poena sine culpa verworfen wird. Im Gegenzug verhindert der Ausgleichsgedanke nicht, dass sich die Auffassung von strafrechtlicher Schuld an geänderte Vorstellungen von Moral und Recht anpasst. Das Schuldprinzip stellt eine Grundnorm der Institution Strafe dar, doch was als strafrechtliche Schuld betrachtet wird und wie schwer die Schuld eingestuft wird, ist wandelbar. (4) Legitimiert man Strafe als Schuldausgleich, bedeutet das schließlich, dass dem Strafrecht Grenzen gesetzt sind: Grenzen der Effektivität und damit der Sicherheit der Rechtsgemeinschaft. Daher steht das strafrechtliche Schuldprinzip insbesondere bei der Diskussion von schweren Sexual‑ und Gewaltstraftaten immer wieder in der Kritik. Denn eine Rechtsordnung, die die Freiheit und Mitbestimmung seiner Mitglieder gewährleistet, gelangt eher an seine Grenzen als eine Rechtsordnung, die Effektivität und Sicherheit durch Einschnitte in Freiheit und Mitbestimmung durchsetzt. Wenn sich die Freiräume in einer Gesellschaftsordnung aber mit den Begrenzungen der Freiräume die Waage halten sollen, sind die Möglichkeiten präventiver Maßnahmen eingeschränkt. Da das Schuldstrafrecht in der Ausgestaltung seiner Sanktionen an die Schuld der Täterin oder des Täters gebunden ist, gelangt es an die Grenzen seiner Möglichkeiten. Eine Person, die wegen schwerer Körperverletzung zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, hat nach dem Vollzug der Strafe das Recht, sich wieder als freies Mitglied in der Gesellschaft zu bewegen  – obwohl die Möglichkeit besteht, dass diese Person erneut tätlich wird. Sie kann nicht nach dem Vollzug der festgesetzten Strafe zur Sicherheit für andere – prophylaktisch – auf unbegrenzte Zeit in Haft genommen werden. In diesem Sinne begrenzt das Strafrecht die Möglichkeiten der Kriminalpolitik, wie es bereits von Liszt beschrieben hat.318 (5) Bedeutend ist aber nicht nur die Überlegung, welches Menschenbild und welcher Umgang mit dem Menschen dem Strafrecht zugrunde gelegt werden soll. Gerade die empirisch nicht nachweisbare Effektivität präventiver Maßnahmen319 318

 Von Liszt 1905 (c), S. 80.  Vgl. Kapitel 2.4.3.4 Die Bewertung der Präventionstheorien nach ihrer empirisch nachweisbaren Wirksamkeit. 319

2.5 Vereinigungstheorien zur Legitimation von Strafe

87

zeigt, dass Sicherheit nicht einfach präventiv produzierbar320 ist. Diese hängt vielmehr, wie Pawlik herausstellt, von der Mitverantwortung des Einzelnen ab. Die Sicherheit der Allgemeinheit gründet in dem verantwortlichen Handeln des Einzelnen, auf seiner Loyalität gegenüber den Freiräumen des anderen und den Rechtsnormen, die die Freiräume definieren und schützen. Bei einem Verstoß muss im Gegenzug jedoch auch nach der Verantwortung des Täters gefragt und die Sanktion gemäß dieser Verantwortung ausgestaltet werden. Diesen, der Institution Strafe zugrundeliegenden, Mechanismus definiert das Schuldprinzip. Den Einzelnen als Mitträger einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung zu betrachten und an seine Verantwortung und Loyalität zu appellieren, entspricht nicht nur den Grundsätzen eines Rechtsstaates, sondern scheint auch hinsichtlich der Bekämpfung von Verbrechen nachhaltiger zu sein, als Normbrecher zur Stellschraube der Kriminalstatistik zu funktionalisieren. Mit den Ergebnissen aus Kapitel  2 ist eine wesentliche Beschreibung des Schuldprinzips auf der materiellen Ebene der Schuldidee gegeben321: Das Schuldprinzip leistet die Legitimation der Institution Strafe im Rahmen eines Obliegenheitsmodells zur Widerherstellung der garantierten Rechte.322 Verletzt eine Person A die Rechte und Freiräume einer Person B, so erfordert dies im Ausgleich die Beschneidung der Rechte und Freiräume der Person  A. Damit weist die Schuldidee eine deutliche gesamtgesellschaftliche Relevanz auf – ihre Zwecksetzung ist nicht weniger gesellschaftsbezogen als die des Präventionsgedankens. Damit leitet das Ergebnis dieses Kapitels aber direkt zu der Fragestellung des nächsten über: Wenn das Strafrecht an die Verantwortung des Einzelnen appelliert, wenn die Handlungsautonomie des Einzelnen grundlegend für die Einhaltung der Rechtsnormen ist, welche Rolle spielt dann die Diskussion um die Willensfreiheit für das deutsche Schuldstrafrecht? Führt die als zentral herausgearbeitete Rolle des Schuldprinzips damit nicht geradewegs zu seiner Aushebelung im Rahmen des anderen, im Kontext der Schuldidee problematischen Diskurses: Wenn ein Anders-handeln-Können nicht möglich ist, wenn die Entscheidung zu einer Handlung determiniert ist, ist es dann nicht ungerechtfertigt und auch einfach sinnlos, einen Täter als schuldig zu beurteilen und aufgrund dieser Schuld mit strafrechtlichen Sanktionen zu belegen? Müsste nicht vielmehr, solange die Freiheit des Willens nicht bewiesen ist, das Rechtsprinzip in dubio pro reo wahrend, das Konzept des Schuldprinzips in wesentlichen Aspekten überdacht oder sogar abgeschafft werden? Die Diskussion des Zwecks von Strafe und der Legitimation des Schuldstrafrechts führt somit direkt zu der Frage nach der Relevanz der Willensfreiheitsdebatte für das Schuldprinzip. 320

 Frisch 2002, S. 670. die Beschreibung der begrifflichen Trennung von Schuldidee und Rechtsanwendungsschuld in Kapitel 1.2 Der strafrechtliche Schuldbegriff, S. 6 ff. 322  Vgl. bspw. auch Kunz 1986, S. 828: „Strafe kann nur durch den Wert der Ordnung legitimiert werden, für deren Erhalt gestraft wird.“ 321 Vgl.

Kapitel 3

Schuldstrafrecht und Willensfreiheit Die Debatte um die Willensfreiheit und die Bedeutung dieser Debatte für das Strafrecht hat schon lange einen festen Platz in der Strafrechtswissenschaft. Da sich die Diskussion um die Legitimation der Institution Strafe zwischen den beiden klassischen Lagern des Vergeltungsdenkens und des Präventionsdenkens abspielt, und da das Konzept des Vergeltungsstrafrechts nach der Schuld des Täters an seiner Tat fragt, spielt die Diskussion um die Freiheit des Willens auch für die Legitimation der Institution Strafe eine fundamentale Rolle. Die beiden innerhalb der Strafrechtswissenschaft geführten Debatten um die Willensfreiheit und um die Legitimation der Institution Strafe sind quasi über den strafrechtlichen Schuldbegriff eng miteinander verknüpft. Beide Aspekte spielen eine bedeutende Rolle bei der Diskussion um die Schuldidee, also der Frage danach, was den strafrechtlichen Schuldbegriff inhaltlich ausmacht und was sich hinter dem Schuldvorwurf verbirgt. Noch im 18. Jahrhundert, so die Darstellung in der Literatur, liegt der Frage nach der Zurechnung von Strafe eine weitgehend indeterministisch verstandene Auffassung von Willensfreiheit zugrunde, „ohne daß dem eine Diskussion des Freiheitsproblems vorausgegangen wäre“.1 Als Grundlage der Zurechnung wird die freie Handlung des Täters betrachtet.2 Darin liegt die Verbindung von Freiheitsbegriff und Straftheorie. Ein Zusammenhang zwischen dem Freiheitsproblem und der Straftheorie ist […] bereits allgemein darin gesehen worden, daß eine absolut begründete, als Sühne oder Vergeltung verstandene Strafe Willensfreiheit voraussetze.3

Die Vergeltungstheorie geht davon aus, dass der Täter die Übelzufügung der Strafe „verdient“, da er sich aus freier Selbstbestimmung zu der Tat entschieden hat. Doch weder der zugrundeliegende Freiheitsbegriff noch die Frage nach der Willensfreiheit werden weiter problematisiert. 1  Holzhauer 1970, S. 23; ebd. S. 25: „Verglichen mit den Mühen der Philosophen, die Willensfreiheit zu begründen, trugen die Strafrechtswissenschaftler ihren Indeterminismus naiv vor, ohne seine Problematik zu berühren.“ 2  Vgl. auch die Darstellung bei Jescheck / Weigend 1996, S. 419: „Zurechenbarkeit bedeutet, daß die freie Handlung als dem Täter zugehörig (‚ad ipsum proprie pertinens‘) und darum auch als Grundlage (‚causa moralis‘) für seine Verantwortlichkeit angesehen wird.“ 3  Holzhauer 1970, S. 24.

90

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

Am Ende des 19.  Jahrhunderts entfacht sich innerhalb der Strafrechtswissenschaft der Schulenstreit, der eine intensive Debatte um die „richtige“ Straftheorie auslöst und dabei wesentlich auch die Bedeutung der Diskussion um Determinismus und Indeterminismus für das Strafrecht herausstellt. Franz von Liszt, der Begründer der modernen, ein Präventionsstrafrecht fordernden Schule vertritt bereits 1893 die These: „Für das Strafrecht gibt es keine andere Grundlage als den Determinismus.“4 Er argumentiert: „Der überlieferte Schuldbegriff ist unhaltbar. Er schließt […] notwendig neben dem Werturteil das weitere Urteil in sich: du hättest anders handeln können.“5 Aus der Kritik an der Willensfreiheit wiederum folgert von Liszt: „Ohne Wahlfreiheit weder Schuld noch Vergeltung. Für den folgerichtigen Determinismus bleibt einzig und allein die Zweckstrafe übrig.“6 Er schließt bei seiner Kritik am Vergeltungsstrafrecht aus der Diskussion um Determinismus und Indeterminismus, dass das Schuldprinzip auf dem Anders-handeln-Können des Täters aufbaue und damit zwangsläufig den Indeterminismus voraussetze. Gehe man jedoch davon aus, dass die Welt und die Ereignisse in ihr nicht indeterministisch verfasst, sondern naturgesetzlich determiniert seien, so seien das Vergeltungsdenken und das Schuldprinzip zu verwerfen und das Strafrecht nur als Präventionsstrafrecht zu legitimieren, das allein auf den Zweck gerichtet sei, zukünftige Verbrechen zu verhindern, und nicht darauf, das schuldhaft begangene Verbrechen zu vergelten. Fast über ein Jahrhundert später argumentiert Michael Baurmann, ebenfalls Befürworter des Präventionsgedankens, ganz ähnlich: Legitimierende Kraft kann das Vergeltungsprinzip aber nur in Verbindung mit der Vorstellung entfalten, daß eine Person aufgrund ihrer Handlungsweise eine Strafe ‚verdient‘ hat. Diese Vorstellung ist wiederum abhängig von einer indeterministischen Konzeption der Willensfreiheit, denn ‚verdient‘ haben in diesem Sinn kann eine Person eine Strafe nur dann, wenn ihre rechtswidrigen Handlungen das Resultat einer ‚freien Entscheidung für das Unrecht‘ waren und nicht das Resultat kausaler Determination, die eine ‚Schuld‘ als Rechtfertigung für strafrechtliche Sanktionen ausschließt. Solange also das Schuldvergeltungsprinzip eine legitimierende Funktion übernehmen solle, solange werde es mit einem indeterministischen Menschenbild verbunden sein müssen.7

Auch Baurmann knüpft die Frage um die Theorie zur Legitimation staatlicher Strafe an die Diskussion um die deterministische oder indeterministische Verfasstheit der Welt und sieht nur eine mögliche Schlussfolgerung für die Diskussion um die Straftheorien: Das Schuldstrafrecht setze Indeterminismus voraus, somit führe der Determinismus zwangsläufig zum Präventionsstrafrecht. Denn die Zuschreibung von strafrechtlicher Schuld sei nur dann legitim, so Baurmann, wenn davon ausgegangen werde, dass sich der Schuldige zu seiner Handlung frei 4 Von

Liszt 1905 (a), S. 39.  Von Liszt 1905 (a), S. 47 (Hervorhebungen im Original). 6  Von Liszt 1905 (a), S. 48 (Hervorhebung im Original). 7 Baurmann 1987, S. 9. 5

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

91

entschieden habe, was wiederum voraussetze, dass diesem – indeterministisch verstanden  – eine Handlungsalternative gegeben gewesen sei. Ließen sich die Vorgänge in der Welt und damit auch das Handeln des Menschen jedoch nur kausal determiniert erklären, so verliere das Schuldprinzip zwangsläufig seine Gültigkeit. Die Diskussion um Determinismus und Indeterminismus stellt damit einen wesentlichen Baustein der Debatte um eine tragfähige Straftheorie dar. Die aktuelle Debatte greift dabei auf eine vielzitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofes zurück, die weitgehend so interpretiert wird, dass dem Strafrecht eine indeterministische Auffassung zugrunde liege. In diesem Urteil von 1952 hat der Bundesgerichtshof folgendes ausgeführt: Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfes liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden […].8

In dieser Ausführung ist der Anknüpfungspunkt des Schuldvorwurfes benannt, der bis heute für Diskussion sorgt: Der Schuldvorwurf sei durch die freie Selbstbestimmung des Täters zur Tat begründet. Die Kritik an der Praxis des Schuldvorwurfes stellt sich entsprechend dar: Was ist, wenn die Freiheit des Willens aber nicht gegeben ist, wenn dem Täter damit nicht möglich war, sich selbstbestimmt, also frei, für das Unrecht und gegen das Recht zu entscheiden? Wenn also ein Anders-handeln-Können nicht möglich und die Entscheidung zu einer unrechtmäßigen Handlung determiniert ist, dann stellt sich die Frage, wie der Schuldvorwurf legitimiert werden kann. Hier zeigt sich die wesentliche Problematik der Diskussion: Dem Schuldprinzip wird von seinen Kritikern weitgehend abgesprochen, dass es außerhalb einer indeterministischen Konzeption denkbar sei. Daher sehen diese in der Unbeweisbarkeit der Willensfreiheit das schlagende Argument gegen das Schuldprinzip. Meine These ist jedoch, dass die Schuldidee keine Willensfreiheit voraussetzt und daher unabhängig von Determinismus und Indeterminismus für das Strafrecht gültig ist. Bei meiner Argumentation werde ich in zwei Schritten vorgehen. Im ersten Teil dieses Kapitels werde ich mich der Diskussion der strafrechtlichen Willensfreiheitsproblematik zuwenden und verschiedene Konzepte zu deren Lösung diskutieren (Kapitel 3.1 bis 3.2.5). Im zweiten Teil werde ich die Auslegung des Schuldprinzips in der Strafrechtsdogmatik und die Normen des Strafgesetzes heranziehen und auf die Relevanz der Willensfreiheitsdiskussion hin untersuchen, um der spezifisch strafrechtlichen Problematik gerecht zu werden (Kapitel 3.4 bis 3.6.3). 8 BGHSt

1952, Bd. 2, S. 200.

92

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

3.1 Die Diskussion um Determinismus und Indeterminismus In der Philosophie wird die Diskussion um die Willensfreiheit ebenfalls getragen von der Unterscheidung zwischen deterministischen und indeterministischen Erklärungsmodellen. Dahinter verbirgt sich die Frage, ob unser Vermögen, Entscheidungen zu treffen, naturgesetzlich determiniert sei oder aber nicht. Daraus ergeben sich die zwei klassischen Argumentationsmöglichkeiten, dass (1) die Vorgänge in der Welt und damit auch unsere Entscheidung zum Handeln naturgesetzlich determiniert seien, woraus folgt, dass wir in unserem Wollen nicht frei wären, oder aber, dass (2) die Vorgänge in der Welt und unsere Entscheidung zum Handeln naturgesetzlich (generell oder an einem bestimmten Punkt) indeterminiert seien, so dass wir in unserem Wollen frei wären. Gemäß dieser Argumentation kommt man zum Ergebnis, dass Determinismus und Willensfreiheit generell inkompatibel seien. Die klassische Dichotomie lässt sich auf die Formulierung verkürzen: „Freiheit oder Determinismus?“9 Für die zwei Erklärungsmodelle des Determinismus und des Indeterminismus ergeben sich somit zwei Optionen: Der harte Determinismus (Inkompatibilismus I) folgert, dass aus der naturgesetzlichen Determiniertheit die Unfreiheit des Willens folge. Wenn alle Vorgänge in der Welt und damit auch unsere Entscheidung zum Handeln (naturgesetzlich) determiniert seien, gebe es keine Möglichkeit, von einer Freiheit des Willens zu sprechen. Der Libertarismus (Inkompatibilismus II) folgert, dass aus dem Indeterminismus die Freiheit des Willens folge. Es gebe eine Möglichkeit, in den Vorgängen der Welt oder bei unserer Entscheidung zum Handeln einen „Raum“ zu definieren, der indeterminiert ist, dort entspringe die Freiheit unseres Willens. Beiden Modellen liegt die Dichotomie – entweder Freiheit oder Determinismus  – zugrunde. Die Freiheit des Willens ließe sich dabei nur durch ein indeterministisches Erklärungsmodell verteidigen. Von den Libertariern ist aber eine andere Gruppe von Vertretern des Indeterminismus zu unterscheiden, die zwar die Welt als indeterminiert verfasst begreifen, aber dennoch keine Möglichkeit von Willensfreiheit sehen. Diese freiheitsskeptische Position wird  – quasi als Gegenposition zum freiheitsskeptischen harten Determinismus – als harter Inkompatibilismus bezeichnet. Daneben hat sich schließlich noch ein viertes Argumentationsmuster herausgebildet, das als (deterministischer) Kompatibilismus bzw. weicher Determinismus bezeichnet wird. Kompatibilistische Erklärungsmodelle vertreten die These, dass der menschliche Wille trotz einer determinierten Verfasstheit der Welt frei sei. Bei Argumentationen dieser Art wird die klassische Dichotomie von frei oder determiniert aufgehoben und ein Konzept der Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus entworfen.

9 Vgl.

im Folgenden die einführende Darstellung bei Keil 2013, S. 7 ff.

3.1 Die Diskussion um Determinismus und Indeterminismus

93

In der philosophischen Debatte ist dabei der Begriff des Anders-handelnKönnens ein zentraler Anknüpfungspunkt der Diskussion um die Willensfreiheit und die Entwicklung eines kompatibilistischen Erklärungsmodelles. Freiheit bedeutet, dass sich eine Person P statt für die Ausführung der Handlung H 1 auch für die Ausführung der Handlung H 2 hätte entscheiden können. Folgerichtig vertritt der Determinismus die These, dass in einer determinierten Welt dieses Prinzip der alternativen Möglichkeiten10 nicht gegeben sei: Die Person P sei in ihrer Entscheidung festgelegt gewesen, sie habe nicht anders handeln können. Einige klassische Texte der Willensfreiheitsdiskussion setzen an einer Interpretation des Prinzips der alternativen Möglichkeiten zur Lösung der Problematik an.11 Die Diskussion innerhalb der Strafrechtswissenschaft knüpft ebenfalls an diesem Punkt an. Das oben zitierte Urteil des Bundesgerichtshofes von 1952 interpretieren viele Kritiker dahingehend, dass das deutsche Schuldstrafrecht auf der Annahme des Anders-handeln-Könnens und damit auch auf der des Indeterminismus basiere: Der innere Grund des Schuldvorwurfes liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden […].12

An der in diesem Urteil vorausgesetzten Fähigkeit der freien Selbstbestimmung zu Recht oder Unrecht, also der Möglichkeit der freien Entscheidung zum Sooder-auch-anders-handeln-Können als Grundlage des Schuldvorwurfs entzündet sich die Frage nach der Freiheit des Willens und damit zugleich nach der Legitimationsgrundlage des Schuldstrafrechts in der Strafrechtswissenschaft. Kritiker übertragen die klassische Dichotomie „Freiheit oder Determinismus“ auf die spezifisch strafrechtliche Problematik „Schuld oder Determinismus“. So sieht sich das deutsche Schuldstrafrecht noch immer heftiger Kritik ausgesetzt. Seit dem zunehmenden Interesse der Neurowissenschaften an der Diskussion um die Willensfreiheit wird diese Kritik vermehrt auch durch den Rekurs auf Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften untermauert.13

10

 In der Philosophie hat sich für die Diskussion um das Anders-handeln-Können nach Harry G. Frankfurt die Bezeichnung “principle of alternative possibilities” (PAP) gebildet. Vgl. einleitend in diese Debatte z. B. Keil 2013, S. 73 ff. 11  Vgl. bspw. die Argumentationen von George Edward Moore, John L. Austin (beide wiederabgedruckt in Pothast 1978, S. 142–156 und S. 169–200) oder Harry G. Frankfurt (1998, S. 1–10). 12  BGHSt 1952, Bd. 2, S. 200. 13 Hervorzuheben ist, dass die prominent dargestellte Behauptung, es gäbe keine Willensfreiheit, nur die Meinung einzelner Neurowissenschaftler darstellt. Es gibt ebenso Vertreter dieser Disziplin, die diese Meinung nicht teilen bzw. aus den neurowissenschaftlichen Forschungsergebnissen ableiten, vgl. bspw. Schleim 2011 oder Birbaumer 2009.

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus Wolf Singer folgert aus dem aktuellen Forschungsstand der Neurowissenschaften, dass sich die Annahme der Freiheit des Willens als falsch erweise, da sämtliche Vorgänge in unserem Gehirn, um die Entscheidung zu einer Handlung zu treffen, nach festgelegten und zum großen Teil unbewussten Prozessen abliefen. Diese determiniert ablaufenden Verschaltungen machten die Annahme eines freien Willens unhaltbar. Die in der lebensweltlichen Praxis gängige Unterscheidung von gänzlich unfreien, etwas freieren und ganz freien Entscheidungen erscheint in Kenntnis der zugrundeliegenden neuronalen Prozesse problematisch. Unterschiedlich sind lediglich die Herkunft der Variablen und die Art ihrer Verhandlung: Genetische Faktoren, frühere Prägungen, soziale Lernvorgänge und aktuelle Auslöser, zu denen auch Befehle, Wünsche und Argumente anderer zählen, wirken stets untrennbar zusammen und legen das Ergebnis fest, gleich, ob sich Entscheidungen mehr unbewußten oder bewußten Motiven verdanken. Sie bestimmen gemeinsam die dynamischen Zustände der „entscheidenden“ Nervennetze.14

Die komplexe Architektur des Gehirns biete eine unglaubliche Vielzahl von Verknüpfungen und damit von Entscheidungsmöglichkeiten, doch das Zustandekommen der Entscheidung laufe letztendlich nach determinierten Prozessen ab. Das Empfinden eines freien Entscheidungsprozesses stelle nur einen Bruchteil des gesamten Prozesses dar, so Singer, der zum großen Teil durch unbewusst ablaufende Verschaltungen bestimmt sei. Beim Entscheidungsprozess würden Erfahrungen, Emotionen, Erlerntes, Instinkte, genetische Anlagen, Erinnerungen etc. aktiviert, ohne dass uns dies bewusst sei. Die dabei ablaufenden Verschaltungen und Aktivierungen von Nervenzellen legten die Entscheidung fest. Ein Teil davon laufe bewusst ab und stelle sich dem Handelnden daher als seine freie Entscheidung dar. Doch der im Gehirn ablaufende Gesamtprozess lässt für Singer nur eine Schlussfolgerung zu: „Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen“.15 Diese Argumentation gegen die Freiheit des menschlichen Willens habe, so Singer, folgende Implikationen für das auf Verantwortung und auf Schuld basierende deutsche Strafrecht: Ein Beispiel: Eine Person begeht eine Tat, offenbar bei klarem Bewußtsein, und wird für voll verantwortlich erklärt. Zufällig entdeckt man aber einen Tumor in Strukturen des Frontalhirns, die benötigt werden, um erlernte soziale Regeln abzurufen und für Entscheidungsprozesse verfügbar zu machen. Der Person würde Nachsicht zuteil. Der gleiche „Defekt“ kann aber auch unsichtbare neuronale Ursachen haben. Genetische Dispositionen können Verschaltungen hervorgebracht haben, die das Speichern oder Abrufen sozialer Regeln erschweren, oder die sozialen Regeln wurden nicht rechtzeitig und tief genug eingeprägt, oder es wurden von der Norm abweichende Regeln erlernt, oder die Fähigkeit zur rationalen Abwägung wurde wegen fehlgeleiteter Prägung ungenügend 14

 Singer 2004, S. 62 f. 2004, S. 30.

15 Singer

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

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ausdifferenziert. Diese Liste ließe sich nahezu beliebig verlängern. Keiner kann anders als er ist.16

Singer unterscheidet bei seinem Beispiel zwischen einem Täter, dessen Handeln durch einen nachweisbaren organischen Defekt in Form eines Tumors beeinflusst ist, und einem Täter, bei dem dies „unsichtbare neuronale Ursachen“ hat, also eine bestimmte Verfasstheit der neuronalen Strukturen, die jedoch nicht als „Defekt“ betrachtet werden oder bekannt sind. Es sei beiden Tätern gemeinsam, so Singer, dass die je individuelle Architektur des Gehirns die Verschaltungen vorgenommen habe, die zu der Tat geführt hätten. Da in beiden Fällen die neuronalen Verschaltungen determiniert abliefen, könne, so Singer, der Unterschied zwischen einer bekannten krankhaften neuronalen Struktur und einer unbekannten neuronalen Struktur kein Argument für die Zusprechung von Schuld und Verantwortung liefern. Wenn die bekannte krankhafte neuronale Struktur Schuldunfähigkeit attestiere, da angenommen werde, dass der Täter nicht zur freien Selbstbestimmung fähig gewesen sei, dann müsse dies auch eine unbekannte neuronale Struktur attestieren, denn auch diese lege den Täter darauf fest, wie er handle. Aufgrund dieser Überlegungen fordert Singer hinsichtlich des Strafrechts „die geltende Praxis im Lichte der Erkenntnisse der Hirnforschung einer Überprüfung auf Kohärenz zu unterziehen“.17 Vergleichbare Folgerungen zieht auch Hans J. Markowitsch aus den Befunden der Hirnforschung für die Strafrechtspraxis: Die Unterscheidung zwischen ‚Handeln im Affekt‘ und ‚Handeln mit Bedacht‘ ist folglich eine Scheinunterscheidung: beide sind determiniert, nur bei der ersten stehen andere Determinanten im Vordergrund als bei der letzten.18

Auch seiner Ansicht nach ist es nicht möglich, zwischen „krank“ und „gesund“ zu unterscheiden und vor allem auf dieser Basis frei gewollte Handlungen zu- bzw. abzusprechen. Markowitsch ist der Auffassung, dass sich vielmehr alle Menschen in „Grenz‑ oder Grauzonen bewegen“, in „einem Kontinuum zwischen, wenn man so will, mehr oder weniger krank / gesund“.19 Dementsprechend folgert Markowitsch für die strafrechtliche Verantwortung: [S]o wie wir weder einen geisteskranken Verbrecher noch einen Löwen für ihr Töten anderer Individuen verantwortlich machen würden, können wir angesichts der uns innewohnenden Determiniertheit auch alle anderen Individuen nicht für ihr Tun verantwortlich machen, da sie keine Wahlfreiheit hatten […].20

16

 Singer 2004, S. 63. 2004, S. 64. 18  Markowitsch 2004, S. 164. 19  Markowitsch 2004, S. 164. 20 Markowitsch 2004, S. 167. 17 Singer

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

Eine ähnliche Position findet sich auch bei Gerhard Roth, der sich ebenfalls intensiv in diese Debatte einbringt. Er argumentiert, dass Menschen „im Sinne eines persönlichen Verschuldens nichts für das [können], was sie wollen und wie sie sich entscheiden“.21 Seine Kritik daran, von einem freien Willen und freier Selbstbestimmung zu sprechen, bezieht sich dabei noch dezidierter auf den Schuldbegriff des deutschen Strafrechts. Der Schuldbegriff des Strafrechts ist nach herrschender Meinung und laut Urteilen des Bundesgerichtshofs unabdingbar an die Annahme einer Willensfreiheit im Sinne des „Unter-denselben-physiologischen-Bedingungen-willentlich-andershandeln-Könnens“ ge­bunden. In dem Maße, in dem sich die empirischen Evidenzen der Hirnforschung und der Psychologie gegen die Existenz eines solchen „Alternativismus“ verstärken, sind Strafrechtler gezwungen, über diesen Widerspruch nachzudenken und ihn aufzulösen zu versuchen.22

Die Strafrechtswissenschaft setzt sich vermehrt mit der spezifischen Kritik der neurowissenschaftlichen Forschung auseinander. So ist bspw. das Fazit von Anja Schiemann: „Willensfreiheit, so wie die Rechtsprechung sie versteht, gibt es nicht“, und die von ihr geforderte Konsequenz ist die Forderung, „die strafrechtliche Schuldzuschreibung und Verantwortlichmachung zu überdenken“.23 Roth hat eine klare Vorstellung, welche Möglichkeit dem Strafrecht beim Verzicht auf das Schuldprinzip und damit auf das Konzept der persönlichen Verantwortung bleibt: Ein Verzicht auf den Begriff der persönlichen Schuld bedeutet keineswegs ein Verzicht auf Bestrafung einer Tat als Verletzung gesellschaftlicher Normen. Dies ist bereits in der Idee der General‑ und Spezialprävention enthalten. Täter werden danach nicht deshalb bestraft, weil sie „mutwillig“ schuldig geworden sind, sondern weil sie gebessert werden sollen, falls dies möglich ist; andernfalls muss die Gesellschaft vor ihnen geschützt werden. Hieran knüpfen bereits im geltenden Strafrecht die „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ an, bei denen nicht die Schuld, sondern die Sozialgefährlichkeit des Täters ausschlaggebend ist.24

Roth fordert, bei einer Normverletzung als Anknüpfungspunkt für die Sanktion die Sozialgefährlichkeit des Täters zu betrachten und nicht dessen Schuld. Dieses Vorgehen wird bereits bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung auf die Fälle angewendet, bei denen aus kriminalpräventiver Sicht die Strafsanktionen zu kurz greifen, bspw. bei einem Sexualstraftäter, der bereits wiederholt straffällig wurde, aber seine Strafe abgesessen hat. Doch Roths Forderung führt in letzter Konsequenz dazu, die Maßregeln der Besserung und Sicherung als alleinige Spur des Strafrechts zu belassen und die andere Spur der schuldangemessenen Strafe abzuschaffen. Dabei würde die bisher gültige Straflogik aufgehoben: Nicht mehr 21 Roth

2003, S. 541.  Roth 2004, S. 222. 23  Schiemann 2004, S. 2059. 24 Roth 2003 S. 541 f. (Hervorhebung im Original). 22

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

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der Unrechtsgehalt der Tat und die Schuld des Täters wären der Maßstab für die Bemessung der Sanktion, sondern die Prognose über die zukünftige Gefährlichkeit des Täters. Mit dieser Sicht sind einige Probleme verbunden, die ich im vorigen Kapitel detailliert ausgeführt habe.25 Der Täter würde zum Behandlungsobjekt und das Strafrecht zu einem Instrument, um mit einer entsprechenden Durchsetzung der Maßnahmen die gewünschte Sicherheit zu erzielen. Im Zweifel überwiegen dabei die Interessen der Gesellschaft, nicht die des Täters. Daher verteidige ich die These, dass das Schuldprinzip als notwendiges Korrektiv der Kriminalprävention unerlässlich ist. Denn der Maßstab des Schuldprinzips bietet Schutz vor Strafungerechtigkeit und Rechtswillkür. Dennoch ist einzuräumen, dass das Argument des Neurodeterminismus die Anwendbarkeit des Schuldprinzips in der Tat fragwürdig macht. Wenn die Verschaltungen im Gehirn, die zu einer Entscheidung führen, determiniert sind, wie soll dann freie Selbstbestimmung möglich sein? Und wie soll, ohne die Grundlage der freien Selbstbestimmung, ein Zusprechen von persönlicher Schuld begründet werden? Die Argumentation, die aktuell auf Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften zurückgreift, unterscheidet sich dabei im Kern nicht von der Argumentation, die bspw. schon von Liszt in seinem Rückgriff auf den Determinismus vorgebracht hat. Wenn der Determinismus keinen Raum für einen freien Willen und freies Entscheiden bietet, dann gibt es keine Möglichkeit, schuldig zu werden. Daran anknüpfend verdeutlicht aber der neuronale Determinismus die klassische Problematik an einer ganz entscheidenden Stelle, wie das oben zitierte Beispiel von Singer zeigt: Eine bekannte krankhafte neuronale Struktur attestiere dem Täter Schuldunfähigkeit, wenn nachweisbar sei, dass die Störung den Täter zur Tat determiniert habe. Da aber die neuronale Struktur immer die Handlung determiniere, sei das bisher bestehende System von Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit ad absurdum geführt. Die Kategorie der Schuld greife nicht. Die strafrechtliche Problematik – keine Schuld ohne Freiheit  – ist damit insofern verschärft, als die Kritik des neuronalen Determinismus an einem ganz bestimmten systematischen Punkt des Strafgesetzes das Schuldprinzip auszuhebeln versucht: an dem negativen Schuldmerkmal der Schuldunfähigkeit. Wenn nun die Zuschreibung von Verantwortung und Schuld und damit die Verhängung von strafrechtlichen Sanktionen auf einem Konzept von indeterministisch verstandener Entscheidungsfreiheit basieren würde, und wenn aber der Mensch in seinem Entscheiden nicht frei sei, da seine Entscheidungen in einem neurophysiologisch-deterministisch geschlossenen System immer schon durch den unmittelbar vorangehenden Zustand des Gehirns determiniert seien, dann ist die Forderung nachvollziehbar, dass „die strafrechtliche Schuldzuschreibung

25 Vgl.

Kapitel 2.4.3.1 bis 2.4.3.3.

98

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

und Verantwortlichmachung zu überdenken“26 seien. Diese Problematik beschäftigt die Strafrechtswissenschaft und die Philosophie gleichermaßen. In der Strafrechtswissenschaft haben sich dabei zwei übergeordnete Positionen gegenüber der Frage nach der Willensfreiheit und ihrer Bedeutung für die Institution Strafe herausgebildet: (1) die der Agnostiker, die die Meinung vertreten, die Frage nach der Freiheit des Willens könne und müsse für die Belange des Strafrechts nicht behandelt und geklärt werden, und (2) die der Gnostiker, die die Meinung vertreten, die Frage nach Willensfreiheit könne und müsse in strafrechtlicher Hinsicht diskutiert und beantwortet werden.27 Die strafrechtswissenschaftliche Literatur greift dabei auch auf die Debatten des philosophischen Diskurses zurück.28 Dennoch erfolgt die strafrechtswissenschaftliche Debatte zumeist in einem weitgehend eigenständigen Kontext, da letztlich insbesondere die konkrete Strafrechtspraxis im Fokus der Diskussion steht. Im Folgenden wird ein Überblick über vieldiskutierte Ansätze in der jüngeren strafrechtswissenschaftlichen Debatte gegeben. Dabei werde ich aus der Vielzahl der Beiträge drei Argumentationsmodelle herausfiltern. Eine agnostische Erklärungsstrategie besteht darin, die Willensfreiheit des Menschen als Faktum zu postulieren, welches den Ausgangspunkt des Strafrechts darstellt (3.2.1). Andere sowohl gnostische als auch agnostische Teilnehmer der strafrechtswissenschaftlichen Debatte konzipieren einen realen Freiheitsspielraum des Menschen und legen diesen dem strafrechtlichen Wirkungsbereich zugrunde (3.2.2). Ein drittes Erklärungsmodell betrachtet als Lösungsweg für die strafrechtliche Perspektive die Interpretation von Willensfreiheit als Freiheitsbewusstsein (3.2.3). Diesen strafrechtswissenschaftlichen Argumentationsmodellen wird schließlich aus der philosophischen Diskussion der kompatibilistische Ansatz von Peter Strawson gegenübergestellt.

3.2.1 Willensfreiheit als normatives Postulat Eine vieldiskutierte agnostische Position bezieht Claus Roxin. Er argumentiert, dass die Frage nach der Willensfreiheit nicht beantwortet werden könne, aber auch nicht beantwortet werden müsse: „Die unlösbare Frage der Willensfreiheit nämlich, deren bejahende Beantwortung in den meisten Schuldlehren den Dreh‑ und Angelpunkt der Konzeption bildet, läßt sich vom hier vertretenen Standpunkt aus getrost ausklammern.“29 Neben die generell unentschiedene Frage nach der Willensfreiheit trete dabei, so Roxin, zusätzlich das Problem, im konkreten Fall die Willensfreiheit des individuellen Täters festzustellen. 26

 Vgl. Schiemann 2004, S. 2059. guten Überblick über den Forschungsstand geben z. B. Lenckner / Eisele 2010, S.  179 f. 28  Vgl. exemplarisch Merkel 2008, aber auch schon Dreher 1987 oder Burkhardt 1998. 29 Roxin 1974, S. 185. 27 Einen

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

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Es besteht, soweit ich sehe, in Deutschland völlige Einigkeit darüber, daß kein psychologischer oder psychiatrischer Sachverständiger die Fähigkeit des konkreten Täters, im Tatzeitpunkt anders zu handeln, als er es getan hat, mit empirischen Mitteln nachweisen kann. Wenn aber zur Annahme von Schuld ein empirischer Befund vorausgesetzt wird, der sich prinzipiell nicht feststellen läßt, so müßte das nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ zum Freispruch führen.30

Wenn, so das Argument Roxins, das Strafrecht der Legitimation seiner Sanktionen eine indeterministisch verstandene Willensfreiheit zugrunde lege, müsste dies im konkreten Fall immer zum Freispruch führen. Die Schwierigkeit, einen Beweis zu erbringen, dass dem individuellen Täter in der Tatsituation die Möglichkeit gegeben gewesen sei, auch anders zu handeln, sich gegen die unrechte Handlung zu entscheiden, sei offensichtlich. Wenn das Urteil auf einem indeterministisch verstandenen Freiheitsbegriff beruhen würde, müsste es, so Roxin, im Zweifel für den Angeklagten ausfallen und aufgrund der nicht nachweisbaren Freiheit seiner Entscheidung zur Tat zum Freispruch von der Schuld und damit von strafrechtlichen Sanktionen führen. Die Problematik der generellen und konkreten Beweisbarkeit der Willensfreiheit müsse jedoch, so Roxin, für die Diskussion der Legitimation der Institution Strafe nicht beantwortet werden. Denn die freie Selbstbestimmung, welche die Zuschreibung von Schuld und Verantwortung begründe, sei, so sein Ansatz, kein reales Faktum, sondern eine normative Setzung.31 Roxins normative Freiheitsauffassung32 besagt: „Ihr sollt den Bürger als freien, verantwortungsfähigen Menschen behandeln! Es geht also bei der Annahme menschlicher Entscheidungsfreiheit nicht um eine Seinsaussage, sondern um ein rechtliches Regelungsprinzip.“33 Roxin erläutert seine Argumentation anhand des Begriffes der rechtlichen Gleichheit. Auch diese impliziere nicht die empirisch unrichtige Feststellung, „daß die Menschen tatsächlich alle gleich seien“, sondern hinter der Konzeption der Gleichheit stehe die Norm, „daß die Menschen vor dem Gesetz eine gleiche Behandlung erfahren sollen“.34 Entsprechend gelte für den Freiheitsbegriff, dass die Menschen vor dem Gesetz als zu freier Selbstbestimmung fähig zu behandeln seien. Dementsprechend zieht Roxin folgendes Fazit für die Diskussion um die Bedeutung der Willensfreiheit für das Strafrecht: 30

 Roxin 1984, S. 643. 1984, S. 650. Roxin mischt in seiner Argumentation die Begriffe Willensfreiheit und Handlungsfreiheit, die in der philosophischen Diskussion strikt unterschieden werden, da sie sich auf wesentlich verschiedene Aspekte von Freiheit beziehen. Da sich auch insbesondere die aktuelle strafrechtswissenschaftliche Diskussion auf die Frage nach der Willensfreiheit konzentriert und Roxin Willensfreiheit und Handlungsfreiheit weder in ihrer unterschiedlichen Bedeutung definiert, noch im Rahmen seiner Argumentation differenziert verwendet, wird hier die Argumentation von Roxin durchgehend auf das Problem der Willensfreiheit bezogen. 32  Roxin 1984, S. 651. 33  Roxin 1984, S. 650. 34 Roxin 1984, S. 651. 31 Roxin

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

Die normative Ansprechbarkeit, die ich zum Kriterium der Schuldunfähigkeit mache, ist unabhängig vom Bestehen menschlicher Willensfreiheit oder davon, ob in der konkreten Entscheidungslage der Täter sich tatsächlich hätte anders motivieren können; sie ist das einzige, was in diesem Bereich überhaupt mit den Mitteln der Psychologie und der Psychiatrie empirisch festgestellt werden kann.35

Für die Beantwortung der Frage nach der Schuld sei insofern, so das Fazit von Roxin, nicht eine empirisch gegebene, sondern eine lediglich normativ gesetzte Freiheit ausreichend. Das Strafrecht, so seine Interpretation, setze bei dem Einzelnen eine normative Ansprechbarkeit voraus, d. h. es gehe davon aus, dass der Mensch generell dazu in der Lage sei, sein Handeln gemäß den Vorgaben der strafrechtlichen Normen zu bestimmen. Die Frage danach, ob diese freie Selbstbestimmung im konkreten Fall empirisch gegeben gewesen sei, sei dabei irrelevant. Ein vergleichbarer Ansatz findet sich bei Hans Ludwig Schreiber. Auch er sucht einen Lösungsweg, um die Schuldfähigkeit, die die Strafrechtspraxis annimmt, trotz nicht beweisbarer Willensfreiheit legitimieren zu können. Wie Roxin nimmt er die agnostische Position ein, dass die Frage nach der Willensfreiheit weder generell noch im Einzelfall beantwortet werden könne: Schon die abstrakte Frage nach der Willensfreiheit des Menschen ist wissenschaftlich unbeantwortbar. Entscheidend kommt aber hinzu, daß die allgemein theoretisch schon unlösbare Freiheitsfrage jedenfalls im Hinblick auf den konkreten einzelnen Täter und seine Situation bei der Tat rückblickend nicht verläßlich beantwortet werden kann.36

Um die unlösbare Frage nach der Willensfreiheit umgehen zu können, interpretiert Schreiber die Zuschreibung von Schuld als „empirisch-generalisierend gefasstes Prinzip von Verantwortlichkeit“. Mehr kann  – will man nicht zu weitgehend fiktiven Zuschreibungen kommen  – nicht gemeint sein, als die normale Motivierbarkeit durch soziale Normen, die auf die „psychophysische Leistungsfähigkeit des Durchschnittsbürgers“ abstellt, wie wir sie bei jedem im Regelfall voraussetzen. Schuld ist in generalisierenden Kategorien dann nur das Zurückbleiben hinter dem Maß an Verhalten, das vom durchschnittlichen Staatsbürger bei normalen Bedingungen erwartet werden kann.37

Die Möglichkeit einer „normalen Motivierbarkeit durch soziale Normen“, also die Fähigkeit zu einem normgemäßen Handeln, würde vom Strafrecht, so Schreiber, postuliert. Der empirische Nachweis einer tatsächlich freien Selbstbestimmung des Täters zur Tat sei hingegen im Einzelfall, so argumentiert auch Schreiber, nicht möglich, aber auch nicht erforderlich. Denn das Strafrecht orientiere sich daran, was vom Durchschnittsbürger erwartet werden könne.38 Da 35 Roxin

1984, S. 653.  Schreiber 1980, S. 285. 37  Schreiber 1980, S. 289. 38 Günter Blau spricht vergleichbar von der „Rechtsfigur“ des „Normaltäter[s]“, einem 36

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

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die Zuschreibung von Schuld, so Schreiber, auf dem Vergleich mit dem durchschnittlichen Verhalten und nicht auf dem Nachweis der im individuellen Fall gegebenen Möglichkeit beruhe, sei der strafrechtliche Schuldvorwurf als „vorläufig pragmatisches“ Schuldurteil zu betrachten.39 Die Interpretation Schreibers kann mit unserer Alltagserfahrung untermauert werden. Wenn wir einer befreundeten Kollegin von einem Gespräch mit dem Vorgesetzten berichten, da diese verspricht, die Information vertraulich zu behandeln, dann gehen wir davon aus, dass sich die Kollegin an ihr Versprechen auch halten wird. Wenn diese Kollegin die Information nun aber an andere weitergibt, werfen wir ihr einen Bruch dieses Versprechens vor und betrachten sie für diesen Bruch als verantwortlich, da wir voraussetzen, dass es ihr frei stand, das Versprechen zu halten oder zu brechen. Unserem Urteil über den Vertrauensbruch liegt die Erfahrung zugrunde, dass Menschen ein gegebenes Versprechen in der Regel einhalten – und dies somit generell auch können. Der generalisierende Erfahrungswert wird auf die Beurteilung des individuellen Falles übertragen. Dabei wird vorausgesetzt, dass sich der Einzelne wie der Durchschnitt verhalten kann, ohne dass diese Annahme im Einzelfall hinterfragt wird.40 Die Institution Strafe, so die Interpretation der hier dargestellten Ansätze, basiere auf diesem Vorgehen, insofern sei die Diskussion um die Willensfreiheit nicht weiter von Relevanz. Die Fähigkeit zur Normbefolgung werde, so die Terminologie Roxins, normativ gesetzt bzw. aufgrund einer generell beobachteten Fähigkeit angenommen, so Schreiber. Die Beurteilung des konkreten Falles erfolge dann vor dem strafrechtlichen Postulat, dass der Mensch zur Normbefolgung fähig sei und sich bei einem Normbruch dementsprechend strafrechtlich schuldig mache. Auch Günther Jakobs argumentiert in eine vergleichbare Richtung, allerdings mit einer eindeutigen Absage an das Schuldprinzip. Er tritt als Gnostiker auf, der den Menschen als physisch und psychisch naturgesetzlich determiniert begreift. Da auf dieser Grundlage eine Zurechnung von Schuld nicht möglich ist, definiert er die vom Strafrecht gebotenen Vorschriften ebenfalls als normative Erwartung, die an die Person gestellt wird. Da ein rein physisch-kausal oder auch psychisch-kausal determiniertes Individuum sich nicht falsch verhalten, also auch keine Schuld haben kann – dieses Individuum ist, wie es ist, insoweit wird den Hirnforschern nicht widersprochen –, kann es sich bei dem Täter „Homunculus nach dem Modell eines ‚maßgerechten Menschen‘“, der zur „generalisierende[n] Annahme normaler Zurechnungsfähigkeit“ postuliert werden muss (Blau 1982, S. 395). 39 Schreiber 1980, S. 290; vgl. bspw. auch die Darstellung bei Jescheck/Weigend 1996, S. 428. 40  Die Diskussion bezieht sich dabei immer auf die Möglichkeit zur Willensfreiheit, nicht nur zu einer Handlungsfreiheit. Es steht damit nicht zur Frage, ob der Einzelne durch äußere Beeinflussung in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt war (also z. B. zum Bruch des Versprechens durch einen Dritten genötigt wurde), sondern ob er generell die Möglichkeit hatte, seine Entscheidung zu einer Handlung frei zu bestimmen (d. h. ob er die Möglichkeit hatte, sich frei für oder gegen die Einhaltung des Versprechens zu entscheiden).

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

nicht um dieses Individuum handeln, vielmehr muss die Adresse des Schuldvorwurfs anders bestimmt werden, nämlich nicht als Sammelpunkt kognitiver Prognosen, sondern als Person, als ein Träger von Pflichten und Rechten, eben als Adressat normativer Erwartungen […].41

Der Adressat des Strafrechts sei, so Jakobs, nicht der Mensch bzw. das Individuum, sondern die Person: „Personen sind die kommunikativ konstruierten Adressen von Rechten und Pflichten.“42 Zur Aufrechterhaltung der Gesellschaft schaffe das Strafrecht ein Konstrukt, bestehend aus Normen und deren Adressaten (den Personen), die den Normen Folge zu leisten hätten. Dieses Konstrukt erhalte dadurch eine Berechtigung, dass es der Aufrechterhaltung der Gesellschaft diene (ein durch handlungsleitende Normen ungestörtes Zusammenleben definiere). Indem das Strafrecht damit ein weitgehend störungsfreies Funktionieren der Gesellschaft leiste, sei das Konstrukt „gesellschaftlich wirklich“.43 Doch auch wenn der Adressat der Rechtsordnung das Konstrukt der Person und nicht der individuelle Mensch ist, stellt sich die Frage, wie Jakobs erklärt, dass der Person die Erfüllung der normativen Erwartung möglich ist. Dieser argumentiert: Beruft sich die (formelle) Person nach einem Delikt auf ihre individuelle Hirnanatomie, blockt die normativ verfasste Gesellschaft dies in der Regel […] unter Hinweis auf die Zuständigkeit der Person ab, mit anderen Worten, durch Hinweis auf deren freien Willen.44

Damit ist Jakobs auch auf der Ebene der Person wieder bei der Voraussetzung der Willensfreiheit angekommen, welche auf der Ebene des Individuums von ihm ausgeschlossen wird. Dies sei jedoch möglich und mit den Forschungsergebnissen der Neurowissenschaft problemlos kombinierbar, da der Forschungsgegenstand der Neurowissenschaften der individuelle Mensch sei (der naturgesetzlich determiniert ist), aber nicht die gesellschaftlich konstruierte Person. Diese erhielte, so Jakobs, „Selbstverwaltungsfreiheit im Sinne einer Freiheit zum ungestörten Umgang mit den eigenen Rechten“.45 Die drei dargestellten Positionen von Roxin, Schreiber und Jakobs unterscheiden sich in wesentlichen Aspekten. Während Schreiber die Generalisierung des Strafrechts noch auf einem empirisch belegbaren Durchschnittswert begründet, beschreibt Roxin diese als normative Forderung, unabhängig von jeder empirischen Nachweisbarkeit. Jakobs geht in seiner Konzeption noch weiter, indem er den Wirkungsbereich des Strafrechts als eine Art eigene gesellschaftliche Wirklichkeit der naturwissenschaftlichen Realität gegenüberstellt. Trotz dieser deutlichen Unterschiede werden die drei Konzeptionen hier zusammen41

 Jakobs 2005, S. 257 (Hervorhebung im Original). 2005, S. 266. 43  Jakobs 2005, S. 266. 44  Jakobs 2005, S. 258. 45 Jakobs 2005, S. 266. 42 Jakobs

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

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gefasst, da sie in einer wesentlichen Argumentationslinie übereinstimmen: Das Strafrecht postuliere die Fähigkeit zur Normbefolgung als Faktum, unabhängig von der naturwissenschaftlich nicht belegbaren Willensfreiheit des Menschen – als generalisierter Erfahrungswert, als normative Setzung oder als Fähigkeit der Person. Die Richtung des hier dargestellten Ansatzes zum Umgang mit der bislang unbewiesenen Freiheit des Willens findet auch in einschlägigen Kommentaren zum Strafrecht als Lösungsweg Anklang. So argumentiert bspw. der einflussreiche Kommentar zum Strafgesetzbuch von Adolf Schönke und Horst Schröder:46 Denn von welchem Menschenbild eine Rechtsordnung ausgeht […] ist primär eine normative Frage, bei der es eine Beweislast vernünftigerweise nicht geben kann […]. Die These, dass alle rechtlichen Grundlagenentscheidungen seinswissenschaftlich verifizierbar sein müssten und dass die Gründung des Strafrechts auf einer „metaphysischen“ Stellungnahme nicht zulässig sei […], verkennt, dass das Recht gar nicht umhin kann, eine Gemeinschaftsordnung auch nach solchen Maximen, Zielvorstellungen und Wertentscheidungen zu gestalten, für deren Richtigkeit es keinen Beweis im strengen Sinn gibt […].47

Auch bei dieser Darstellung werden die Grundlagen des Strafrechts als normative Maximen betrachtet, die in streng (natur‑)wissenschaftlichem Sinn nicht beweisbar seien. Jedoch der Vorgang, der dieser Argumentation zugrunde liegt, ist bei genauem Hinsehen paradox: Zunächst wird – aufgrund der Unentscheidbarkeit der Frage nach der Willensfreiheit – die Schuldfähigkeit bzw. die strafrechtliche Zurechnung (Jakobs lehnt es ab, von Schuld zu sprechen) normativ gefordert, also generell gesetzt. Auf der Grundlage der normativen Setzung wird dann aber – trotz der Unentscheidbarkeit der Willensfreiheitsfrage – dem Einzelnen im Urteil seine individuelle, konkrete Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit attestiert.48 Auch in Jakobs Konzeption hat die Konsequenzen des Urteils nicht die Person als gesellschaftliches Konstrukt, sondern das Individuum mit den physisch und psychisch realen Folgen zu tragen. Das Argument einer generalisierenden oder normativen Setzung ist mit dem strafrechtlich praktizierten Schuldvorwurf, der nach der persönlichen Schuld fragt, offensichtlich nicht vereinbar. Neben der Widersprüchlichkeit der Argumentation ist zudem die Ungerechtigkeit dieses Prozedere offensichtlich: Wie kann das Strafrecht die Fähigkeit zur Normbefolgung aufgrund der Unbeweisbarkeit der Willensfreiheit als normative Forderung definieren (oder als durch einen Durchschnittswert belegt, wie in der Darstellung Schreibers), um dann aber die Strafe an die persönliche Schuld des Einzelnen zu knüpfen? Dieses Vorgehen wäre ungerecht und kaum zu legitimieren. Konsequent zu Ende gedacht, könnte das Konzept der Ersetzung der konkreten Schuldfähigkeit durch ein Postulat nur dann überzeugen, 46 Schönke / Schröder

2010.  Lenckner/Eisele 2010, RN 110, S. 183 (Hervorhebungen im Original), mit weiteren Nachweisen. 48 Vgl. Willaschek 2011, S. 1191. 47

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wenn das Schuldprinzip zur Strafbegründung abgeschafft würde. Eine Sanktionierung bei Nichterfüllung der Norm könnte dann lediglich als Maßnahme zur Normstabilisierung begriffen werden, wie es bspw. Jakobs im Rahmen seiner generalpräventiven Interpretation konzipiert49, aber nicht an eine Aussage über die reale Schuldfähigkeit des Einzelnen gekoppelt werden. Die Sanktion wäre dann nicht länger Strafe, sondern Maßregel. Das Dargestellte zeigt, dass die Antwort auf die Frage nach der Freiheit des Willens und deren Relevanz für das Schuldprinzip nicht einfach unbeantwortet bleiben bzw. offen gelassen werden kann.50 Auch der Versuch, Willensfreiheit als Fähigkeit zur Normbefolgung durch die Beschreibung als strafrechtliches Postulat aus der Schusslinie zu bekommen, zeigt, dass das grundlegende Problem bestehen bleibt: Der Vorwurf der persönlichen Schuld, den das deutsche Schuldstrafrecht als Anknüpfungspunkt der Strafsanktion betrachtet, bedarf einer realen Schuldfähigkeit des individuellen Täters. Die „inzwischen vorherrschende“ Betrachtung der Fähigkeit zur Normbefolgung als „normative Setzung“ formuliert damit, so Merkel, vielmehr „das Problem, nicht seine Lösung“.51 Insofern bleibt die Herausforderung, eine Lösung für die Problematik der Willensfreiheitsdiskussion zu finden, von Relevanz für das deutsche Schuldstrafrecht.

3.2.2 Willensfreiheit als realer Freiheitsspielraum Einer der wenigen gnostischen Strafrechtswissenschaftler, der nicht nur der Auffassung ist, dass für strafrechtliche Belange beantwortet werden müsse und könne, ob der Mensch einen freien Willen habe, sondern der darüber hinaus die Praxis des Schuldvorwurfs aufgrund einer Konzeption von indeterministisch verstandener Willensfreiheit bestätigt, ist Eduard Dreher. In seinem Buch Die Willensfreiheit. Ein zentrales Problem mit vielen Seiten von 1987 analysiert Dreher zunächst verschiedene Formen des Determinismus: den philosophischnaturwissenschaftlichen, den theologischen, den genetischen und den psychologischen Determinismus. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass in allen Bereichen sowohl indeterministische als auch deterministische Erklärungsansätze nur mehr oder weniger plausibel sind: Es bliebe, so Dreher, „ein Raum des Zweifels“.52 In seinen Folgerungen für das Strafrecht stellt Dreher zunächst heraus, dass bereits die einer naturwissenschaftlichen Beschreibung zugängliche Wirklichkeit für die Wahrnehmung des Menschen dadurch festgelegt sei, wie sein (evolutionär 49

 Jakobs 1976.  Der Lösungsvorschlag Jakobs, der die Freiheit des Willens als gesellschaftliche Realität begreift, bei naturwissenschaftlich determinierter Wirklichkeit, belässt die Frage letztlich ebenfalls ungeklärt. 51  Merkel 2008, S. 118. 52 Dreher 1987, S. 379. 50

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

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entwickelter) Erkenntnisapparat beschaffen sei. Am Beispiel der akustischen Wahrnehmung erläutert Dreher, dass der Mensch nur die Geräusche innerhalb eines bestimmten Frequenzbereichs wahrnehmen könne, während z. B. Hunde auch noch Geräusche von einer wesentlich höheren Frequenz hörten. (Es könnte ergänzt werden, dass der Mensch sogar mithilfe der Technik „gelernt“ hat, Geräusche höherer Frequenz anzuzeigen, aber dadurch sind diese nicht zu einem von ihm tatsächlich wahrnehmbaren Phänomen geworden.) Aus dieser Überlegung folgert Dreher, dass „jedes Wesen in einer intersubjektiven Welt“ lebe, „die aus seiner spezifischen Art, sich die objektive Welt erkennend anzueignen“ entstanden sei.53 Die Inhalte der menschlichen Wahrnehmung, so Dreher, die mit naturwissenschaftlichen Methoden beschreibbar und damit einem empirischen Beweis zugänglich seien, seien unser intersubjektiver Zuschnitt der objektiv gegebenen Welt. Daneben gebe es Inhalte der menschlichen Wahrnehmung, die einer naturwissenschaftlichen Beschreibung nicht zugänglich seien, wie bspw. Liebe, Bewusstsein und eben Willensfreiheit. Doch auch diese seien, so Drehers These, ein Teil der menschlichen Lebenswirklichkeit: Wille und Willensfreiheit sind zwar keine Dinge um uns. Aber sie sind ein Teil der von uns allen erlebten Wirklichkeit. Deshalb bedarf die Willensfreiheit keines Beweises, weil mit unserem Freiheitserlebnis die Vorstellung ihrer Existenz uns innewohnt und geradezu auferlegt ist, nicht anders etwa als die Kategorien von gut und böse, schön und häßlich, die in uns lebendig sind und ebenfalls jenseits des Bereiches liegen, der Beweisen zugänglich ist.54

Phänomene der menschlichen Wahrnehmung wie bspw. Willensfreiheit seien, so Dreher, für den Menschen nicht weniger wirklich als die Wahrnehmung von bspw. Geräuschen, also Phänomenen, die empirisch nachweisbar seien. Die Willensfreiheit sei damit ebenfalls ein Inhalt unseres subjektiven Zuschnitts der Wirklichkeit. Sie sei sogar ein elementarer Bestandteil der menschlichen Wirklichkeit: Unser gesamtes mitmenschliches Leben steht ständig unter der Devise: Du bist für deine Taten verantwortlich. Du hättest anders handeln können und du kannst auch künftig anders handeln, als es dir vielleicht vorschwebt. […] Es ist die von uns permanent erlebte und geforderte Wirklichkeit.55

Dreher betrachtet die Willensfreiheit damit zwar nicht als in naturwissenschaftlichem Sinne beweisbar, aber durch unser Erleben aufzeigbar. Wir „praktizieren also“, so Dreher, „weitestgehend unreflektiert, den Indeterminismus“56 – insofern sei die Lebenswirklichkeit des Menschen indeterministisch verfasst.

53 Dreher

1987, S. 382.  Dreher 1987, S. 383. 55  Dreher 1987, S. 385. 56 Dreher 1987, S. 2. 54

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

Daher ist auch der Determinismus, der gedanklich und empirisch unbewiesen bleibt, als mögliches Denkmodell und nicht mehr, keine echte Alternative zum Indeterminismus als dem unverzichtbaren Element des Menschseins.57

Dreher bezeichnet diesen Indeterminismus, den er in der erlebten Wirklichkeit des Menschen, insbesondere in dessen Freiheitsbewusstsein, gegeben sieht, jedoch als „realistischen oder relativen Indeterminismus“ und unterscheidet diesen von einem „idealistischen oder puristischen Indeterminismus“.58 Denn die Lebenswirklichkeit zeige auch, dass der menschliche Wille den verschiedensten „Beeinflussungsfaktoren“59 ausgesetzt und daher nicht „absolut“ frei sei. Der von ihm beschriebene relative Indeterminismus liege, so sein Fazit, der Lebenswirklichkeit des Menschen zugrunde. In diesem Sinne könne das Strafrecht von Selbstbestimmung, Anders-handeln-Können und Schuld sprechen und deshalb seien die Grundlagen des Schuldstrafrechtes – wie die Lebenswirklichkeit des Menschen – nur innerhalb eines indeterministischen Erklärungskonzeptes fassbar. Die Konzeption Drehers hat sowohl Zuspruch als auch Kritik gefunden. So hat sich bspw. Jörg Tiemeyer in einem Aufsatz kritisch mit der Argumentation Drehers auseinandergesetzt, was ich im Folgenden darstellen werde.60 Darauf hat wiederum Dreher reagiert und seine These, „daß unser geltendes Strafrecht nur indeterministisch verstanden werden könne“61, bekräftigt und versucht, die Kritik Tiemeyers außer Kraft zu setzen. Als zentraler Punkt ihrer Diskussion erweist sich die Definition von absolutem Indeterminismus bzw. absoluter Freiheit und relativem Indeterminismus bzw. relativer Freiheit. Tiemeyer wendet sich in seinem Aufsatz zunächst generell der für das Strafrecht problematischen „ungelöste[n] Freiheitsproblematik“62 zu, ohne sich konkret mit Dreher auseinanderzusetzen. Nach der Darstellung der Diskussion und einiger Interpretationsansätze, die er verwirft, stellt er die Differenzierung von absoluter und relativer Freiheit in den Fokus seines Aufsatzes. Absolut könnte eine Freiheit genannt werden, die auch dann noch Bestand hätte, wenn jedes bekannte oder unbekannte Geschehen als determinierender Faktor in Betracht gezogen wird. Im Gegensatz hierzu könnte eine Freiheit, deren Bestand sich danach richtet, ob ein zwingender Zusammenhang mit diesem oder jenem ganz bestimmten Ereignis oder Sachverhalt gegeben ist, „relativ“ genannt werden.63

Die relative Freiheit stelle nicht, so Tiemeyer, „das Wesen der Freiheit an sich dar“, sondern die konkrete Freiheit des Menschen in den „Spielräume[n] der 57 Dreher

1987, S. 396.  Dreher 1987, S. 4. 59  Dreher 1987, S. 4. 60 Tiemeyer 1988. 61  Dreher 1992, S. 13 62  Tiemeyer 1988, S. 529. 63 Tiemeyer 1988, S. 537. 58

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

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sozialen Wirklichkeit“ und sei daher „die für das Strafrecht maßgebende Freiheit“.64 Im Rahmen eines deterministischen Erklärungsmodelles könne, so Tiemeyer, absolute Freiheit nicht gegeben sein, diese bedürfe der Grundlage des Indeterminismus  – relative Freiheit hingegen sei mit dem Determinismus vereinbar. Tiemeyer begründet dies damit, dass die Entscheidung darüber, ob relative Freiheit vorliege oder nicht, zum einen durch einen bestimmten Kontext, zum anderen durch die Sicht des Betrachters bedingt sei. Innerhalb eines anderen Kontextes oder aus einer anderen Perspektive könne sich die betrachtete relative Freiheit durchaus als determiniert darstellen. Ein Beispiel zur Erläuterung für die begrenzte Geltung eines bestimmten Bezugssystems könnte ein Regelverstoß im Fußball sein. Wenn ein Spieler  A einen Spieler B foult, dann wird das Foulspiel nach genau definierten Spielregeln geahndet: Der Spieler B erhält einen Freistoß auf der Position, auf der er gefoult wurde. Findet das Foulspiel aber im Strafraum statt, dann erhält die Mannschaft des Spielers B einen 11-Meter. Zusätzlich kann der Spieler A mit einer gelben, gelb-roten oder roten Karte abgemahnt werden, je nachdem, wie massiv das Foulspiel war. Diese Regeln gelten im Bezugssystem, das (in höchster Instanz) der Internationale Fußballverband FIFA für das Fußballspiel als gültig erklärt hat. Außerhalb dieses Bezugssystems sind diese Regeln nicht verständlich und nicht gültig. Analog zu dem Bezugssystem in diesem Beispiel betrachtet Tiemeyer das Strafrecht als ein Bezugssystem, das über die innerhalb seines Rahmens gültige Freiheit des Täters urteilt. Die Strafrechtsordnung ist Beispiel für einen besonders gut geeigneten, präzise abgesteckten Bezugsrahmen. In ihr sind Sachverhalte normiert, die bei einem Täter auf Einbußen an Freiheit schließen lassen und deshalb zu Entschuldigung oder Schuldausschluß führen können.65

Das von ihm umrissene Konzept der relativen Freiheit, die das Strafrecht innerhalb eines definierten Bezugssystems und im Rahmen eines bestimmten Sachverhalts dem Täter zu‑ oder abspricht, stellt Tiemeyer dann sowohl dem Konzept einer normativen Setzung der Fähigkeit zur Normbefolgung (ohne Stellungnahme zur Problematik der Willensfreiheit) gegenüber als auch der Bejahung der Freiheit des Willens auf Grundlage einer indeterministischen Konzeption. An dieser Stelle widerspricht Tiemeyer konkret den von Roxin und Dreher vorgelegten Interpretationen. Die „klassische Vorstellung von der Willensfreiheit“ bedürfe zu ihrer Fundierung, so seine Kritik, einer „metaphysische[n] Hilfestellung“ oder einer „normativ-agnostische[n] Setzung“.66 Doch seine Forderung an die strafrechtswissenschaftliche Diskussion ist, „einen Freiheitsbegriff zu 64

 Tiemeyer 1988, S. 543.  Tiemeyer 1988, S. 545. 66 Tiemeyer 1988, S. 546 f. 65

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

verwenden […], der mit Hilfe von deskriptiven Kriterien prinzipiell erfahrbar ist“.67 Das strafrechtliche Bezugssystem vermöge, so Tiemeyer, genau dies zu leisten: Es könne innerhalb bestimmter Kriterien eine Aussage darüber treffen, ob der Täter bei seiner Tat auch die Möglichkeit gehabt habe, normkonform zu handeln und daher strafrechtlich schuldig sei. Diese Aussage bedürfe keiner Diskussion um die Willensfreiheit: Die Konnotationen des „Andershandelnkönnens“, des „Dafürkönnens“, der „freien Willensentscheidung“ bewirken zwar beim ersten Verstehen eine große sprachliche Unsicherheit, führen aber bei sachgerechter Spezifizierung nicht zwangsläufig die semantische Unbestimmtheit des Schuldbegriffs herbei. Es besteht durchaus die Möglichkeit, empirisch gehaltvolle Kriterien für eine Unterscheidung von „freien“ und „unfreien“ Handlungen aufzuweisen.68

Die strafrechtliche Unterscheidung von frei und unfrei – im Rahmen eines abgesteckten Bezugssystems – sei unproblematisch, da sie eben nur relativ sei, gesehen zur klassischen Diskussion um die (absolute) Freiheit des Willens. Hervorzuheben sei jedoch, so Tiemeyer, dass das Schuldmerkmal in der Tat auch eine normative Ebene habe, denn das Schuldurteil enthalte sowohl eine deskriptive als auch eine wertende Bedeutungskomponente – nur beide Komponenten zusammen könnten eine Aussage über die Schuld des Täters leisten.69 Beispielsweise beruhe das Urteil über die Schuldunfähigkeit des Täters (§ 20 StGB) letztlich „auf normativen Entscheidungen des Gesetzgebers“.70 Doch diese Beurteilung nehme nicht nur die strafrechtswissenschaftlich definierten Merkmale in den Blick, sondern beruhe auch auf einer „erfahrungswissenschaftlich fundierten Erfassung“71 des Sachverhaltes, indem bspw. psychologisch-psychiatrische (forensische) Gutachten über den Täter für die Urteilsfindung eingeholt würden. Das normative Element des Schuldbegriffes liege in dem spezifisch wertenden Charakter des Schuldurteils, so die Interpretation Tiemeyers. Es bedürfe dabei jedoch keines Postulats von (absoluter) Willensfreiheit, denn innerhalb des strafrechtlichen Bezugssystems werde das Schuldurteil in Bezug auf die relative Freiheit des Täters gefällt, die einer empirischen Beschreibung zugänglich sei. Auf diese Ausführungen Tiemeyers hin hat Dreher wiederum mit einem Aufsatz reagiert. Dreher verweist zunächst darauf, dass Tiemeyer offensichtlich die von ihm getroffene Unterscheidung von relativem Indeterminismus, unter den er seine Konzeption subsumiere, und idealistischem (absolutem) Idealismus ignoriere, wenn dieser seinen Ansatz ohne weitere Differenzierung als inde67

 Tiemeyer 1988, S. 547. 1988, S. 559 f. 69  Tiemeyer 1988, S. 549. 70  Tiemeyer 1988, S. 552. 71 Tiemeyer 1988, S. 553. 68 Tiemeyer

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

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terministischen verwerfe. Darüber hinaus sieht er deutliche Parallelen der Konzeption Tiemeyers zu seiner eigenen: Sollte relative Willensfreiheit, wie ich sie verstehe, etwas anderes sein als relative Freiheit im Sinne von Tiemeyer? Es scheint nicht so, wenn er relative Freiheit mit Andershandelnkönnen in eins setzt. Das deckt sich mit meiner Freiheitsdefinition.72

Schließlich konstatiert er, auch Tiemeyers Konzept der relativen Freiheit sei „nichts als Indeterminismus“.73 So zöge es Tiemeyer vor, von Schuld nicht als Vorwerfbarkeit, sondern als Vermeidbarkeit74 zu sprechen  – aber gerade der Begriff der Vermeidbarkeit erfordere eine Klärung der Frage nach dem Andershandeln-Können. Und, wie zu Beginn des 3.  Kapitels beschrieben, führt der Begriff des Anders-handeln-Könnens wiederum direkt zur Diskussion um die Freiheit des Willens in klassischem Sinne. Die Debatte zwischen Dreher und Tiemeyer ist paradigmatisch für die Schwierigkeiten der Diskussion um die Willensfreiheit. Beide sprechen teilweise in einer deckungsgleichen Begrifflichkeit: Sie definieren die menschliche Freiheit, wie sie in der Lebenswirklichkeit gegeben und aufzeigbar ist, als relative Freiheit. Beide Autoren sehen gewisse Spielräume im menschlichen Handeln, die einen Schuldvorwurf legitimieren, aber zugleich erkennen sie an, dass die menschliche Freiheit durch verschiedene Einflussfaktoren begrenzt wird und daher nicht von einer absoluten Freiheit gesprochen werden kann. Beide versuchen für den menschlichen Willen einen realen Freiheitsspielraum zu definieren, einen Freiheitsspielraum, der weder dem (maximalen bzw. absoluten) Freiheitsgrad des Indeterminismus bzw. Libertarismus entspricht, noch als Illusion von Freiheit durch Vertreter des harten Determinismus kritisierbar ist. Sie erarbeiten ein Konzept, das mit der Kritik des Determinismus kompatibel ist und dem Menschen dennoch einen Raum für eine reale Freiheit des Willens belässt. Dennoch gelingt es ihnen nicht, eine Basis für einen zumindest teilweisen Konsens zu finden. Tiemeyer kritisiert Drehers Konzeption als Versuch, Willensfreiheit in metaphysischem Sinne zu fundieren, obwohl diese deutlich kompatibilistische Züge aufweist. Dreher hingegen argumentiert, dass Tiemeyers Konzeption in der Absicht, das klassische Problem der Willensfreiheit zu umgehen, die Problematik teilweise ungeklärt belasse. Tatsächlich unterscheiden sich sowohl der Ausgangspunkt als auch die Zielsetzung der beiden Interpretationen. Drehers Intention ist eine klare Positionierung – sowohl in der Diskussion um die Willensfreiheit als auch um Determinismus und Indeterminismus – als Grundlage für das deutsche Schuldstrafrecht. In dieser klassischen Debatte sei, so Dreher, nur eine Position möglich: Die Willensfreiheit sei eine wesentliche Grundlage für das Schuldstrafrecht und müsse als 72

 Dreher 1992, S. 18 (Hervorhebung im Original).  Dreher 1992, S. 18. 74 Vgl. Tiemeyer 1988, S. 561. 73

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

solche auch benannt werden. Damit könne das Strafrecht nur in einen indeterministischen Erklärungszusammenhang gesetzt werden – auch wenn dieser als relativer Indeterminismus betrachtet werden müsse. Insofern bleibt Dreher aber insbesondere gegenüber der Kritik von Vertretern deterministischer oder agnostischer Erklärungsmodelle angreifbar. Tiemeyer hingegen stellt sein Konzept von relativer Freiheit vor und interpretiert das Schuldprinzip als einen Komplex aus deskriptiven und normativen Merkmalen. Er äußert sich jedoch nicht eindeutig dazu, wie er seine Konzeption innerhalb der klassischen Debatte um die Willensfreiheit und um Determinismus und Indeterminismus hinsichtlich der strafrechtlichen Grundlagen positioniert. Insofern fehlen seinem Freiheitsbegriff im Kontext der klassischen Debatte um die Willensfreiheit klare Konturen. Diese Auseinandersetzung ist paradigmatisch für die enorme Schwierigkeit, zwischen den klassischen Polen  – dem harten Determinismus auf der einen und dem Libertarismus auf der anderen Seite – einen plausiblen und tragfähigen Freiheitsspielraum zu konzipieren und die Diskussion um die Willensfreiheit stimmig aufzulösen. Auch die Debatte zwischen Dreher und Tiemeyer verdeutlicht eher die Problematik, als dass sie einen überzeugenden Lösungsweg aufzeigt.

3.2.3 Willensfreiheit als Freiheitsbewusstsein Ein weiteres Argumentationsmuster beruht auf der Interpretation von Willensfreiheit als Freiheitsbewusstsein. Hierfür wird die Unterscheidung von objektiver und subjektiver Freiheit eingeführt. Diese Position stellt quasi eine systematische Ergänzung dar zu den zuvor vorgestellten Positionen, (1) Willensfreiheit als strafrechtspraktisches Postulat zu begreifen oder aber (2)  als realen (wenn auch nicht absoluten) Freiheitsspielraum. Die Unterscheidung von objektiver und subjektiver Freiheit findet sich bspw. schon bei Siegfried Haddenbrock, der 1972 in einem Standardwerk der Strafrechtswissenschaft, dem Handbuch der forensischen Psychiatrie75, die Frage nach der Beantwortbarkeit der Schuldfähigkeit aus psychiatrischer Sicht bearbeitet und in diesem Kontext die Debatte um die Freiheit des Willens thematisiert. Es seien, so Haddenbrock, „zwei polare Aspekte der Freiheitsfrage zu differenzieren“, und zwar „der intersubjektive und retrospektive Aspekt der Freiheitsfrage einerseits (I) und der subjektive und prospektive Aspekt dieser Frage andererseits (II)“.76 Der intersubjektiv-retrospektive Blickwinkel betrachte die zur Frage stehende Freiheit eines Täters – er stelle somit die Außenperspektive dar. Aus dieser Perspektive ergebe sich die Diskussion um die Willensfreiheit. Einerseits lege der naturgesetzliche Determinismus die Auffassung nahe, dass ein Anders-handeln75

 Göppinger / Witter 1972, S. 863–946. 1972, S. 881.

76 Haddenbrock

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

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Können des Täters nicht angenommen werden könne, und entziehe damit dem Schuldvorwurf die Legitimationsgrundlage: ohne Freiheit keine Schuld. „Das erste Fazit ist also“, so Haddenbrock: Je mehr ich von einer konkreten individuellen Determinationsstruktur erforsche […] umsomehr sieht es seinswissenschaftlich so aus, als ob jedes menschliche Verhalten […] unausweichlich so erfolgen mußte, wie es faktisch abgelaufen ist. Der Raum möglicher Freiheit bzw. eines oberflächlich gesehen relativ groß erscheinenden Freiheitsgrades […] engt sich bei subtiler vergleichender Analyse konkreter Persönlichkeitsstrukturen und Situationsdynamismen von Tätern und Nichttätern immer mehr ein.77

Andererseits sei die Diskussion um die Willensfreiheit nicht entschieden. Auch wenn bislang noch kein tragfähiges Erklärungsmodell die Freiheit des Willens erwiesen habe, so seien aber auch die Unfreiheit des Willens und die durchgängige Determiniertheit der menschlichen Entscheidungsfreiheit bislang nicht nachweisbar. Daher sei, so Haddenbrock, die zweite Feststellung des retrospektiven-objektivierenden Aspektes […] aber diese: Auch eine noch so weit vorgetriebene Täter‑ und Tatanalyse erlaubt nicht, die Möglichkeit eines Andershandeln-Gekonnthabens, einen zur Verbrechensunterlassung hinreichenden Freiheitsspielraum empirisch auszuschließen.78

Die Diskussion bleibe offen. Die Auffassung des Anders-handeln-Könnens und damit der Schuldvorwurf bzw. die Aussage über die Schuldfähigkeit des Täters stünden zwar in der Kritik, sie seien bislang aber auch nicht zweifelsfrei widerlegt. Dem intersubjektiv-retrospektiven Blickwinkel stellt Haddenbrock den subjektiv-prospektiven gegenüber. Es sei, so seine Argumentation, dennoch ein unleugbares empirisch-anthropologisches Phänomen, daß der Mensch als solcher, d. h. im Zustand des nur ihm möglichen Selbstbewußtseins zugleich im Bewußtsein der Freiheit seines Handelns lebt. […] Es [das Freiheitsbewusstsein, J. E.-S.] hat einen vom je-aktuellen Lebenszeitpunkt aus immer prospektiven, in das noch Offene der unmittelbaren und weiteren Zukunft hinaussehenden Charakter.79

Gegenüber der Außenperspektive, aus der die Frage nach der Freiheit des Willens nicht zu beantworten sei, bringe ein anderer Blickwinkel einen unmittelbaren Zugang zu dieser Diskussion: In der Innenperspektive, Haddenbrock spricht vom subjektiv-prospektiven Blickwinkel, erlebe der Einzelne seinen freien Willen. Auch dieser Erklärungsansatz ist wiederum mit der Alltagserfahrung deckungsgleich: Die Entscheidung, ob ich morgens Kaffee oder Tee trinke oder nach der Arbeit mit Freundinnen ins Kino oder doch zum Sport gehe, treffe ich mit dem Bewusstsein, dass meine Entscheidung und damit mein Wollen frei sind. Dieses Bewusstsein der Freiheit sei mit dem Handeln unmittelbar gegeben und generiere die Überzeugung, so Haddenbrock, 77

 Haddenbrock 1972, S. 884 (Hervorhebung im Original).  Haddenbrock 1972, S. 885 (Hervorhebung aus dem Original nicht übernommen). 79 Haddenbrock 1972, S. 886, 887 (Hervorhebungen im Original). 78

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

daß die Verantwortlichkeit des Menschen, so wie sie sich von ihr selbst her zeigt […] nicht von einer Stellungnahme zur Freiheitsfrage im Sinne des Indeterminismus, relativem Indeterminismus und Determinismus abhängt.80

Der Mensch führe bei seinem alltäglichen Handeln seine Entscheidung zu einer Handlung auf seinen freien Willen zurück und betrachte sich für seine Entscheidung und damit für sein Handeln selbst verantwortlich – ohne dabei den zugrundeliegenden Freiheitsbegriff weiter zu problematisieren. Diese Argumentation erinnert an den Ausgangspunkt von Drehers Konzeption, der aus dem alltäglichen Handeln des Menschen einen zumindest relativen Freiheitsspielraum folgert, weshalb er die menschliche Lebenswirklichkeit – und damit auch das Strafrecht – nur im Kontext des relativen Indeterminismus erklärbar sieht. Haddenbrock hingegen verwirft sowohl deterministische als auch indeterministische Interpretationsansätze, weil nämlich nicht beachtet wird, daß der retrospektiv-objektivierende Aspekt menschlicher Unfreiheit nicht gegen den prospektiv-existentiellen und phänomenologischen Aspekt menschlicher Freiheit ausgespielt werden darf (das ist der Fehler des Determinismus); und daß menschliche Freiheit andererseits nicht zum Gegenstand objektivierender Erforschung gemacht werden kann, – dies ist der Fehler der relativ-indeterministischen „Gnostiker“.81

Das Fazit aber, das Haddenbrock schließlich aus seiner Analyse zieht, überrascht: Die Freiheitsfrage führe offensichtlich in die Irre. Aufgrund der zwei unvereinbaren Aspekte der menschlichen Freiheit, der intersubjektiven (auch objektiven) und der subjektiven Freiheit, sei kein Konsens in der Frage nach der Freiheit des Willens möglich, man könne nur von einer „Unbestimmtheitsrelation von Freiheit und Unfreiheit“82 sprechen. Diese Erkenntnis könne demnach, so Haddenbrock, nur zu einem Ergebnis führen: Die „Freiheitsfiktion [ist] als praktikable[…] Beurteilungsgrundlage strafrechtlicher Schuldfähigkeit“ nicht geeignet.83 Die Beurteilung der Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit des Täters müsse demnach in einem anderen Kontext erfolgen als der Frage danach, ob sich der Täter auch zum Unterlassen der Tat hätte motivieren können, ob er anders hätte handeln können. Haddenbrock legt schließlich eine Konzeption vor, nach der über Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit nur nach general‑ und spezialpräventiven Kriterien zu entscheiden sei. Er interpretiert das Schuldprinzip demnach, wie bspw. auch Jakobs, in kriminalpräventiver Hinsicht84 und spricht ihm eine eigenständige Funktion und Legitimation ab.

80

 Haddenbrock 1972, S. 889. 1972, S. 891. 82  Haddenbrock 1972, S. 890. 83  Haddenbrock 1972, S. 900. 84 Jakobs 1976. 81 Haddenbrock

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

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Doch die Unterscheidung von objektiver und subjektiver Freiheit hat auch Interpretationsansätze hervorgebracht, die darin die Legitimationsgrundlage des Schuldprinzips sehen und in diesem Kontext einen Lösungsweg aus der Diskussion um die Willensfreiheit und deren Relevanz für das Schuldstrafrecht entwerfen. So sieht bspw. Hans Joachim Hirsch über zwei Jahrzehnte später in dem Freiheitsbewusstsein des Menschen das Fundament für die Legitimation des Schuldprinzips: Da der Mensch sich aber als grundsätzlich frei empfindet, hat dieses Phänomen [das Freiheitsbewusstsein, J. E.-S.] den Anknüpfungspunkt zu bilden. Das vernachlässigt nicht, daß der Mensch sich auch Zwängen und Einflüssen ausgesetzt sehen kann. […] Aber die Erfahrung zeigt, daß er auch immer wieder starkem äußerem Druck widerstehen kann. Dem entspricht eine allgemeine Vorstellung, daß dem Menschen grundsätzlich ein freier Gestaltungsspielraum verbleibe. Der Mensch definiert sich selbst deshalb geradezu als freies und verantwortliches Wesen.85

Hirsch beschreibt das Freiheitsbewusstsein, die subjektive Freiheit des Menschen, in derselben Weise wie Haddenbrock: Der Mensch habe ein unmittelbares Bewusstsein seiner Freiheit, er erlebe sich selbst, wie er die freie Entscheidung zu einer Handlung treffe. Insofern betrachte er sich als für seine Entscheidung und sein Handeln verantwortlich. Doch Hirsch zieht ein ganz anderes Fazit aus dieser Analyse als Haddenbrock. Gerade das unmittelbare Bewusstsein der eigenen Freiheit und Verantwortung bilde die sichere Grundlage für den strafrechtlichen Schuldvorwurf und für die Beurteilung der Schuldfähigkeit eines Täters. Denn, so Hirsch, das vom Menschen gesetzte Recht kann sich nicht zu dem gelebten allgemeinen Selbstverständnis seiner Adressaten in Widerspruch setzen. Ihm verbleibt nur, sich an deren Weltbild zu orientieren und damit die Vorstellung der Willensfreiheit, nicht diese selbst, als allgemein akzeptierte Grundlage menschlichen Selbstverständnisses zu akzeptieren.86

Björn Burkhardt hat diesen Aspekt weiter ausgebaut und die These formuliert, dass der Mensch strafrechtlich verantwortlich sei, weil er „darauf angelegt ist, im Bewußtsein der Freiheit zu handeln“.87 Auch er betrachtet als den wesentlichen Aspekt des Freiheitsbewusstseins, dass sich der Einzelne aufgrund dieser unmittelbaren Erfahrung als für sein Handeln verantwortlich begreife. Genau dieses Selbstverständnis sei, so Burkhardt, der Anknüpfungspunkt des strafrechtlichen Schuldvorwurfs. Da sich der Mensch in der Regel als frei und für seine Handlungen verantwortlich betrachte, könne auch das strafrechtliche Urteil keine andere Perspektive einnehmen.

85

 Hirsch 1994, S. 763 (Hervorhebung im Original).  Hirsch 1994, S. 763 (Hervorhebung im Original). 87 Burkhardt 1998, S. 6 f. (Hervorhebung im Original). 86

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

Wenn es sich um die Begründung des Vorwurfs gegen einen Täter handelt, dann sind wir von Rechts wegen gezwungen, den „inneren Standpunkt“ zum Gegenstand der Bewertung zu machen, d. h. den Standpunkt des handelnden Subjekts. Das heißt weiter: Ich als Richter muß fragen, wie der Täter bei Begehung der Tat die Welt gesehen hat. Und ich werde im Normalfall, wenn keine gegenteiligen Anhaltspunkte vorliegen, davon ausgehen dürfen, daß es dem Täter aus seiner Sicht (nach seiner eigenen Überzeugung) möglich war, sich für oder gegen das Recht zu entscheiden.88

Das Schuldstrafrecht könne in seinem Urteil dem Täter vorwerfen, nicht anders gehandelt zu haben, da er sich selbst, so Burkhardt, in der Regel als aus freier Überzeugung Handelnden begreife. Das Recht könne keine andere Grundlage für seine Bewertung annehmen als der Handelnde selbst bei der Ausführung seiner Handlung. Die Diskussion um das Freiheitsbewusstsein und um die Innen‑ und Außenperspektive ist nicht nur innerhalb der Strafrechtswissenschaft mehrfach geführt worden89, aktuell hat sich auch Roth aus Sicht der Neurowissenschaften explizit auf die Ausführung Burkhardts bezogen. Er lehnt die Interpretation Burkhardts ab, denn dies hieße nämlich nichts anderes, als dass die Person, die sich hinsichtlich einer bestimmten Tat unschuldig fühlt, weil sie sich nicht frei fühlt, auch nicht bestraft werden kann, obwohl sie die Tat nachweislich begangen hat. Die Person muss nur glaubhaft erklären, dies oder jenes habe sie zur Tat getrieben, die sie nicht frei gewollt habe. Umgekehrt muss eine Person bestraft werden, die sich als schuldig bekennt, obwohl sie die Tat überhaupt nicht getan hat (bekanntlich gibt es so etwas).90

Müsste sich das Strafrecht in seinem Urteil an der Überzeugung des Handelnden orientieren, so wäre konsequenterweise der Täter  A schuldig, der sich als frei Entscheidender betrachte, aber auch der Täter B unschuldig, der davon überzeugt sei, dass er nicht hätte anders handeln können. Dies wäre bspw. nicht nur der Fall, wenn ein Täter seine Partnerin, die er mit einem anderen Mann im Bett erwischt hat, im Affekt aufgrund einer Bewusstseinsstörung tötet. Ein Täter könnte auch bspw. kulturbedingt davon überzeugt sein, dass das Eheversprechen ihn dazu berechtigt  – und ihm auch gar keine andere Wahl lässt  – als die Partnerin, die ihm eröffnet, ihn wegen ihres Geliebten zu verlassen, zu töten. Der Täter muss dabei nicht zwangsläufig in medizinischem Sinn psychisch krank sein. Das eigene Urteil darüber, so das Argument Roths, ob eine Handlung in freiem Willen oder nicht ausgeführt worden sei, bilde keine sichere Grundlage für das strafrechtliche Urteil, da die Selbstbetrachtung ganz individuell gefärbt sei. Das Vorhanden‑ oder Nichtvorhandensein des Gefühls eines freien Willens und eines sich eventuell daraus ergebenden Schuldgefühls [ist] eine verzwickte Angelegenheit und teils eine Sache des Charakters, teils eine der Umstände. Manche Menschen begehen die – in den Augen anderer  – größten Verbrechen gleichmütig oder sogar mit hohem Rechts88

 Burkhardt 1998, S. 21 (Hervorhebung im Original).  Vgl. bspw. Engisch 1963. 90 Roth 2003, S. 540. 89

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

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bewusstsein, während andere sich für Taten schuldig fühlen, die sie nicht absichtlich oder überhaupt nicht getan haben.91

Aber nicht nur das Problem der Individualität und damit der Relativität des Freiheitsbewusstseins stellt die Argumentation von Burkhardt und Hirsch in Frage, ganz wesentlich ist ein anderer Kritikpunkt, der sich bereits aus der zugrundeliegenden Unterscheidung von Innen‑ und Außenperspektive bzw. subjektiver und objektiver Freiheit ergibt. Die Unmittelbarkeit des eigenen Freiheitsbewusstseins lässt sich nur aus der Differenzierung von subjektiver und objektiver Freiheit erklären, indem die Innenperspektive von der Außenperspektive getrennt wird. Überträgt man dieses Erklärungsmodell nun auf die spezifisch strafrechtliche Problematik, so nimmt das Strafrecht gegenüber der Innenperspektive des Täters zwangsläufig die Außenperspektive ein. Wie könnte das Strafrecht von dieser Außenperspektive aus in die Innenperspektive wechseln? Mit der Differenzierung von Innen‑ und Außenperspektive ist zugleich die Unzugänglichkeit dieser Perspektive für alle Urteilenden, die nicht „Ich“ sind, gegeben. Den Betrachtenden bzw. Urteilenden verbleibt automatisch nur die Außenperspektive. Das Strafrecht kann nicht in der von Burkhardt und Hirsch geforderten Form „den Standpunkt des handelnden Subjekts“92 einnehmen. Dieses Argument ist in der Diskussion um das Freiheitsbewusstsein schon vorgebracht worden, Burkhardt verweist auch darauf, dass diese Kritik an seinem Erklärungsmodell besteht.93 Doch er ist der Ansicht, dass es keinen „tieferen Grund für einen Vorwurf“ gebe „als den, daß der Täter für sich selbst von einem Anders-Können ausgegangen ist?“94 Doch diese Antwort überzeugt nicht. Das Erklärungsmodell, das sich zur Legitimation des Schuldvorwurfes auf das Freiheitsbewusstsein des Einzelnen gründet, bietet einen intuitiven Zugang. Doch eine Intuition trägt kein Legitimationsmodell für den strafrechtlichen Schuldvorwurf. Denn dem aus der Außenperspektive über die Schuldfähigkeit des Täters urteilenden Strafrecht ist der intuitive Zugang der Innenperspektive verschlossen. Zu klären bleibt gerade, wie der Schuldvorwurf für die Außenperspektive zu legitimieren ist. Nur ein Erklärungsmodell, das dieser Aufgabe gerecht wird, kann der wesentlichen Kritik am Schuldprinzip begegnen.

3.2.4 Das Erklärungsmodell von Peter F. Strawson Ein bekanntes philosophisches Erklärungsmodell für die Berechtigung u. a. des strafrechtlichen Schuldvorwurfs, das an einigen Stellen Parallelen zu den dargestellten Argumentationsstrategien aufweist, hat Peter F. Strawson erarbeitet. 91 Roth

2003, S. 540 (Hervorhebung im Original).  Vgl. Burkhardt 1998, S. 21. 93  Vgl. Engisch 1963, S. 3 f. 94 Burkhardt 1998, S. 21. 92

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

Strawson hat in seinem Aufsatz Freedom and Resentment von 196295 aufgezeigt, dass, wenn wir von Konzepten wie Verdienst, Verantwortung, Schuld, Verurteilung und Gerechtigkeit sprechen (“desert, responsibility, guilt, condemnation, and justice”96), keine Entscheidung diesbezüglich erforderlich sei, ob die Verfasstheit der Welt und unsere Entscheidung zum Handeln deterministisch oder indeterministisch seien. Strawson legt eine Analyse vor, die sowohl die alltägliche Praxis der Beurteilung von Handlungen, als auch die spezifischere Praxis des strafrechtlichen Zusprechens von Schuld und Verantwortung umfasst. Er entwickelt dafür ein kompatibilistisches Argumentationsmodell “without recourse to the obscure and panicky metaphysics of libertarianism”97, aber auch ohne die These des Determinismus als Voraussetzung anzunehmen. Für die Debatte um die Relevanz der Willensfreiheitsdiskussion für das deutsche Strafrecht ist dieser Ansatz sehr interessant. Denn für die Zurechnungspraxis von strafrechtlicher Schuld ist ein Lösungsweg hilfreich, der nicht mehr länger problematisiert, ob das Strafrecht auf einem deterministischen oder aber indeterministischen Erklärungsmodell basiert. Ein Konzept der strafrechtlichen Zuschreibung von Schuld, das auch ohne eine Festlegung hinsichtlich der Determiniertheit oder Indeterminiertheit der Vorgänge in der Welt überzeugt, würde den wesentlichen Kritikpunkt am Schuldprinzip aushebeln. Strawsons Argumentation erfolgt im Wesentlichen in zwei Schritten. Bevor Strawson sich dem Bereich von strafrechtlichem Urteilen (punishing / blaming), welches im Zentrum dieser Studie steht, zuwendet, analysiert er zunächst den vorgelagerten Bereich der alltäglichen Praxis der Beurteilung von Handlungen: “the non-detached attitudes and reactions of people directly involved in transactions with each other”.98 Strawson betrachtet den Menschen und seine unmittelbare Reaktion auf das Handeln anderer ihm gegenüber. Er argumentiert, dass es für unsere Haltung anderen gegenüber wesentlich sei, “whether the actions of other people […] reflect attitudes towards us of goodwill, affection, or esteem on the one hand or contempt, indifference, or malevolence on the other”.99 Er verdeutlicht dies an einem einfachen Beispiel: Tritt eine Person A einer Person B auf die Hand, so wird B der Person A diese Handlung übelnehmen, wenn A dies getan hat, um B zu verletzen. Ist A jedoch gestürzt und unabsichtlich B auf die Hand getreten, so wird B die Handlung von A entschuldigen. Die grundlegende Differenzierung einer Person bei der Reaktion gegenüber Handlungen anderer, die eine Haltung ihr gegenüber ausdrücken, ließe sich durch beliebig viele Beispiele verdeutlichen. Diese unterschiedliche Bewertung von Handlungen zeige, so Strawson, “the very great importance that we attach to the attitudes and 95

 Strawson 1962, wiederabgedruckt 1974. 1974, S. 23. 97  Strawson 1974, S. 25. 98  Strawson 1974, S. 4. 99 Strawson 1974, S. 5. 96 Strawson

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

117

intentions towards us of other human beings, and the great extent to which our personal feelings and reactions depend upon, or involve, our beliefs about these attitudes and intentions”.100 Strawson bezeichnet unsere Reaktion auf Handlungen, die eine bestimmte Haltung uns gegenüber ausdrücken, als reaktive Haltungen (reactive attitudes) bzw. nicht-distanzierte Haltungen (non-detached attitudes). Der Mensch reagiere auf die Haltung, die ein anderer ihm gegenüber zum Ausdruck bringe, unterschiedlich: auf eine wohlwollende Haltung in der Regel positiv, auf eine übelwollende Haltung in der Regel negativ. Wesentliches Kriterium für die Reaktion sei dabei die Absicht des anderen. Um aber die Haltung des anderen einschätzen zu können, müsse dessen Absicht hinterfragt werden: War der Tritt auf die Hand beabsichtigt oder nicht? Dass Menschen der Haltung der anderen, bzw. ihrer Absicht bei einer Handlung, eine große Bedeutung zumessen würden, liege ganz einfach, so Strawson, in der Tatsache begründet, dass die Menschen miteinander in Beziehungen stünden. Menschen zeigten aber auch, so Strawson, gegenüber anderen Menschen eine Haltung, die sich wesentlich von der reaktiven unterscheide. Die reaktive Haltung bspw. gegenüber einer Kränkung könne nur missbilligend sein. Wir könnten aber auch eine objektive Haltung einnehmen, die distanziert und nicht emotional gefärbt sei. Um auf eine Kränkung nicht missbilligend zu reagieren, sondern diese objektiv betrachten zu können, gebe es, so Strawson, zwei Möglichkeiten. Eine Möglichkeit ergebe sich in Situationen, in der die Kränkung unter bestimmten Umständen erfolge, die dazu führten, “to see the injury as one for which he [der Verursacher der Kränkung, J. E.-S.] was not fully, or at all, responsible”.101 Als Verdeutlichung lässt sich hier noch einmal das Beispiel mit dem Tritt auf die Hand anführen. Tritt eine Person A einer Person B unabsichtlich auf die Hand, weil sie gestürzt ist und nicht, weil sie B wirklich verletzten wollte, so wird B die Handlung des A entschuldigen, denn A wollte nicht auf die Hand des B treten, sondern konnte im Sturz nicht anders reagieren. Strawson nennt eine ganze Reihe von Beispielen, die eine objektive und damit eine die Kränkung entschuldigende Haltung auslösten: To the first group belong all those which might give occasion for the employment of such expressions as ‘He didn’t mean to’, ‘He hadn’t realized’, ‘He didn’t know’; and also all those which might give occasion for the use of the phrase ‘He couldn’t help it’, when this is supported by such phrases as ‘He was pushed’, ‘He had to do it’, ‘It was the only way’, ‘They left him no alternative’, etc.102

Alle diese Beispiele gäben eine Erklärung dafür ab, warum Menschen im Umgang miteinander eine Kränkung auch objektiv betrachten und entschuldigen 100

 Strawson 1974, S. 5.  Strawson 1974, S. 7 (Hervorhebung im Original). 102 Strawson 1974, S. 7. 101

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

könnten, nämlich dann, wenn diese entweder nicht mit Absicht oder im Irrtum oder in einer Situation geschehen seien, in der keine andere Handlungsalternative geblieben sei. Im Rahmen der gewöhnlichen Beziehungen zwischen Menschen sei die Möglichkeit, so Strawson, auf diese Situationen so zu reagieren, von elementarer Bedeutung: “Since things go wrong and situations are complicated, it is an essential and integral element in the transactions which are the life of these relationships.”103 Mit der Fähigkeit, gegenüber Handlungen auch distanziert zu reagieren, stellten sich Menschen auf bestimmte Situationen ein, in denen Haltungen ihnen gegenüber entweder ohne Absicht oder im Irrtum oder in einer Situation erfolgt seien, in der keine Handlungsalternative gegeben gewesen sei. Allen diesen Fällen sei gemeinsam, dass die Kränkung aufgrund der besonderen Umstände eigentlich nicht als Kränkung betrachtet werden könne. Die andere Möglichkeit, so Strawson, weshalb auf eine Kränkung nicht missbilligend reagiert, sondern diese objektiv betrachtet werde, entstehe bei einer anderen Kategorie von Situationen. In diesen Situationen beziehe sich die Besonderheit der Betrachtungsweise nicht auf die besonderen Umstände, die die Kränkung bedingt hätten (der Tritt auf die Hand war die Folge eines Sturzes), sondern auf den Handelnden selbst. In diesen Fällen erfordere die Situation, so Strawson, “to view the agent himself in a different light from the light in which we should normally view one who has acted as he has acted”.104 Strawson betrachtet hier im Wesentlichen Fälle, in denen der Handelnde als “psychologically abnormal – or as morally undeveloped”105 betrachtet wird. In diesen Fällen seien es nicht die Umstände, die eine reaktive Haltung zu einer objektiven verändern könne, sondern es sei die Konstitution des Handelnden selbst, die die Haltung ihm gegenüber ändere. Als Beispiele für diese Betrachtungsweise nennt Strawson folgende: “The agent was himself; but he is warped or deranged, neurotic or just a child. When we see someone in such a light as this, all our reactive attitudes tend to be profoundly modified.”106 Das Beispiel des Kindes ist sicher in unseren alltäglichen Beziehungen das gängigste, das belegt, dass Menschen, wie von Strawson beschrieben, zu objektiven Haltungen fähig sind. Wenn ein Kind im Spiel ein anderes schlägt oder mit einer Schere verletzt, so wird ihm die mangelnde Vorsicht nicht in demselben Maß vorgeworfen, wie sie einem erwachsenen Menschen vorgeworfen würde. Denn sein Verhalten wird auf die noch fehlende Erziehung oder sogar auf die Nachlässigkeit der Eltern zurückgeführt. Auf die Nachlässigkeit eines Kindes kann man distanzierter reagieren als auf die Nachlässigkeit eines Erwachsenen, von dem ein bestimmtes Maß an Rücksichtnahme erwartet wird. Aber auch der von Strawson genannte Fall des psychologisch abnormal Handelnden ist, wenn auch 103 Strawson

1974, S. 8.  Strawson 1974, S. 8. 105  Strawson 1974, S. 8. 106 Strawson 1974, S. 8. 104

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

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nicht so alltäglich, dennoch einfach nachvollziehbar. Wenn uns auf offener Straße ein Mensch begegnet, der uns aggressiv oder sogar obszön beschimpft, würden wir empört reagieren und, je nach Naturell, eine Entschuldigung einfordern. Wüssten wir jedoch, dass dieser Mensch an dem Tourette-Syndrom erkrankt ist, würden wir seine Beleidigung ohne jede weitere Erklärung und ohne emotionale Empfindung entschuldigen. Diese Beispiele belegen, dass Menschen soziale Taktiken (social policy107) entwickelt haben, um in bestimmten Situationen auf andere Menschen zu reagieren, die aus erklärlichen Ursachen in einer Weise handeln, die wir ihnen eigentlich übelnehmen würden. Diese Ursachen können beispielsweise die fehlende Entwicklung des Kindes oder die psychische Krankheit eines Erwachsenen sein. Diese Fähigkeit der objektiven Haltung, im Gegensatz zur nicht-distanzierten Haltung, die für gewöhnlich die Beziehungen der Menschen prägt, beschreibt Strawson auf die folgende Weise: To adopt the objective attitude to another human being is to see him, perhaps, as an object of social policy; as a subject for what, in a wide range of sense, might be called treatment; as something certainly to be taken account, perhaps precautionary account, of; to be managed or handled or cured or trained; perhaps simply to be avoided, though this gerundive is not peculiar to cases of objectivity of attitude. The objective attitude may be emotionally toned in many ways, but not in all ways: it may include repulsion or fear, it may include pity or even love, though not all kinds of love. But it cannot include the range of reactive feelings and attitudes which belong to involvement or participation with others in interpersonal human relationships […].108

Die objektive Haltung lasse sich klar, so die Beschreibung Strawsons, von der nicht-distanzierten bzw. reaktiven Haltung abgrenzen, die in der Regel die Wechselbeziehungen der Menschen präge. Auf eine wohlwollende Haltung reagiere der Mensch in der Regel positiv, auf eine übelwollende Haltung in der Regel negativ. Doch der Mensch vermöge diese nicht-distanzierte und daher wesentlich spontane und emotional gefärbte Reaktion in bestimmten Fällen außer Kraft zu setzen: zum Beispiel im Falle einer entschuldigenden Situation, gegenüber dem Kind oder einer psychisch kranken Person. Die distanzierte Haltung, die in diesen Fällen eingenommen werden könne, lasse sich weniger als Haltung gegenüber dem anderen beschreiben, denn als eine reflektierte Form der Behandlung. In diesen Fällen reagiere der Mensch nicht unmittelbar, sondern wähle eine bestimmte Form der sozialen Taktik: die Entschuldigung im Fall der besonderen Situation oder die Erziehung im Falle des Kindes oder die Behandlung im Falle des psychisch Kranken. Auf der Grundlage dieser wesentlichen Unterscheidung von reaktiver Haltung und objektiver Haltung als den zwei Möglichkeiten der Wechselbeziehung 107

 Strawson 1974, S. 9. 1974, S. 9 (Hervorhebung im Original).

108 Strawson

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der Menschen im Rahmen des alltäglichen Umgangs stellt Strawson die zentrale Frage nach der Grundlage der determinierten oder indeterminierten Verfasstheit der Welt und damit auch der Handlungen der Menschen: What effect would, or should, the acceptance of the truth of a general thesis of determinism have upon these reactive attitudes? More specifically, would, or should, the acceptance of the truth of the thesis lead to the decay or the repudiation of all such attitudes?109

Die zentrale Kritik an einem persönlichen Vorwurf von fehlgegangenem Handeln stellt die These auf, dass eine deterministische Verfasstheit der Welt die Möglichkeit eines Anders-handeln-Könnens und damit auch die Verantwortung am Handeln aushebeln würde. Indem Strawson die Fähigkeit des Menschen zu einer objektiven Haltung herausgestellt hat, stellt sich die Frage, ob dieser distanzierte, nicht-reaktive Umgang mit dem anderen nicht generell der angemessene sei. Denn wenn die Behauptung des Determinismus richtig wäre und dem Menschen keine Verantwortung für die unfreie Entscheidung zur Handlung zugeschrieben werden könnte, dann wäre nur eine objektive, distanzierte Haltung gegenüber der fehlgegangenen Handlung eines anderen legitimierbar. Die reaktive, Verantwortung zuschreibende Haltung wäre sinn‑ und wirkungslos. Demnach präzisiert Strawson die zentrale Überlegung: could, or should, the acceptance of the determinist thesis lead us always to look on every­ one exclusively in this way? For this is the only condition worth considering under which the acceptance of determinism could lead to the decay or repudiation of participant reactive attitudes.110

Strawson beantwortet diese Frage in zwei Schritten. Zunächst seien die reaktiven und nicht-reaktiven Haltungen, also die soziale Praxis, die Strawson in den interpersonalen Beziehungen der Menschen aufgezeigt hat, genauer zu betrachten. Er argumentiert: The human commitment to participation in ordinary inter-personal relationships is, I think, too thoroughgoing and deeply rooted for us to take seriously the thought that a general theoretical conviction might so change our world that, in it, there were no longer any such things as inter-personal relationships as we normally understand them […].111

Die Diskussion um Determinismus und Indeterminismus bzw. die Kritik an einem persönlichen Vorwurf von fehlgegangenem Handeln erfordere eine plausible Legitimation (rational justification112) der sozialen Praxis. Doch die Analyse der interpersonalen Beziehungen erfolge auf einer anderen Ebene. Nicht die theoretische Überlegung, sondern die praktische soziale Technik zeige, dass der Mensch meist eine reaktive, in bestimmten Fällen aber auch eine objektive, nicht109 Strawson

1974, S. 10.  Strawson 1974, S. 11. 111  Strawson 1974, S. 11. 112 Strawson 1974, S. 13. 110

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

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distanzierte Haltung dem anderen gegenüber einnehme. Diese alltägliche soziale Praxis bedinge den Rahmen der Möglichkeiten eines Menschen – sie stellt damit den zentralen Aspekt der Argumentation Strawsons dar. Gegen eine Beeinflussung unserer alltäglichen sozialen Praxis durch die These des allgemeinen Determinismus spreche, so Strawson, ganz einfach the fact of our natural human commitment to ordinary inter-personal attitudes. This commitment is part of the general framework of human life, not something that can come up for review as particular cases can come up for review within this general framework.113

Die Analyse der Wechselbeziehungen des Menschen in der Form der Gegensätzlichkeit von reaktiven und distanzierten Haltungen stelle die Möglichkeiten der alltäglichen sozialen Praxis dar. Im Rahmen dieser Praxis könnten bestimmte Formen der interpersonalen Beziehungen unterschieden und herausgearbeitet werden, wie Strawson es an den Beispielfällen der besonderen Situation, der Unreife des Kindes oder einer psychischen Krankheit im Gegensatz zu einer „normalen“ Situation und einer erwachsenen und „normalen“ psychischen Konstitution vorgenommen hat. Diese unterschiedlichen Ausgangssituationen erforderten und erklärten die Differenz in der Haltung. Verschiedene Formen der interpersonalen Beziehungen und sozialen Taktiken seien nichts, was der Mensch ändern oder ablegen könne, auch nicht, so Strawson, “if some general truth were a theoretical ground for it”.114 Diese Argumentation vertieft Strawson in einer zweiten Überlegung, in der er den Unterschied zwischen der generellen These des Determinismus und der sozialen Praxis verdeutlicht. Die zentrale Aussage des Determinismus beinhalte, dass, wenn man von dieser These ausgehe, “all behaviour might be determined in this sense”.115 Genau darin zeige sich der wesentliche Unterschied zu der von Strawson vorgenommenen Analyse der menschlichen Beziehungen zueinander. Wenn der Mensch in einem bestimmten Fall eine objektive Haltung gegenüber dem anderen einnehme, sei dies, so seine Argumentation, not the consequence of a theoretical conviction which might be expressed as ‘Determinism in this case’, but is a consequence of our abandoning, for different reasons in different cases, the ordinary interpersonal attitudes.116

Die Gründe, die den Ausschlag dazu gäben, die normale reaktive Haltung außer Kraft zu setzen, seien weniger grundlegend – bzw. auf einer anderen Ebene angesiedelt – als der Aspekt der generellen Determiniertheit. Es seien die alltäglich erfahrenen Ausnahmen einer besonderen Situation oder einer besonderen Verfasstheit des Handelnden, wie z. B. die Unreife des Kindes. Gemäß der These des 113 Strawson

1974, S. 13.  Strawson 1974, S. 11 f. 115  Strawson 1974, S. 12. 116 Strawson 1974, S. 13. 114

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

Determinismus müsste alles Handeln entschuldigt werden, aber dies zeigten die analysierten Wechselbeziehungen der Menschen nicht auf. Diese zeigten nur die Möglichkeit einer Ausnahme von der emotionalen, nicht-distanzierten Haltung, aber keine Möglichkeit, diese objektive Haltung generell, also ausschließlich, anzunehmen. “Being human”, so Strawson, “we cannot, in the normal case, do this for long, or altogether”.117 Die generelle Annahme des Determinismus, also die Annahme, dass alle Handlungen unfrei und damit nicht persönlich vorwerfbar seien, würde eine ganz andere Form der objektiven, nicht-distanzierten Haltung erfordern als die von Strawson beschriebenen, eine besondere soziale Taktik fordernden Ausnahmefälle. Auf der Ebene der gewöhnlichen Beziehungen komme daher die Unterscheidung, die der Determinismus vornimmt, sozusagen noch gar nicht zum Tragen. Nachdem Strawson in einem ersten Schritt die Bedeutung der Diskussion um Determinismus und Indeterminismus für den vorgelagerten Bereich der alltäglichen Praxis – der persönlichen reaktiven Haltungen – analysiert hat, folgt in einem zweiten Schritt die speziellere Betrachtung ihrer „stellvertretenden“ oder „unpersönlichen Analoga“ (vicarious / impersonal analogues).118 Missbilligung und Verurteilung von Handlungen erfolgen nicht nur im direkten interpersonalen Bereich, indem die Person A der Person B eine Verletzung vorwirft („persönlich“), sondern auch institutionell („stellvertretend“ bzw. „unpersönlich“), wie im Bereich des Strafens (punishing) – was in der Form des Schuldvorwurfs im Fokus dieser Studie steht. Hier werden die im Bereich der interpersonalen Beziehungen beschriebenen persönlichen reaktiven Haltungen stellvertretend empfunden:119 Der Richter als Organ des Strafrechts reagiert bspw. auf einen massiven Normbruch stellvertretend für das Opfer mit Verurteilung. Doch von der Struktur her seien, so Strawson, die stellvertretenden reaktiven Haltungen gleich den persönlichen reaktiven Haltungen: Auf Wohlwollen folge in der Regel eine positive Haltung, auf Übelwollen eine negative. The generalized or vicarious analogues of the personal reactive attitudes rest on, and reflect, exactly the same expectation or demand in a generalized form; they rest on, or reflect, that is, the demand for the manifestation of a reasonable degree of goodwill or regard, on the part of others, not simply towards oneself, but towards all those on whose behalf moral indignation may be felt, i. e., as we now think, towards all men.120

Diese reaktive Haltung, die Menschen in der Regel in der alltäglichen sozialen Praxis einnähmen, stelle, so Strawson, auch im Bereich der unpersönlichen Missbilligung bzw. Verurteilung die normale Haltung dar. Jedoch sei hier ebenfalls 117

 Strawson 1974, S. 10.  Strawson 1974, S. 14. 119 Vgl. dazu die Konzeption Pawliks (2004 (a), S. 90), der Strafe einen „überindividuellen Charakter“ zuschreibt; Kapitel 2.5.4  Die freiheitstheoretische Vergeltungstheorie Michael Pawliks, S. 78 f. 120 Strawson 1974, S. 14 f. 118

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

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die zuvor beschriebene andere Strategie möglich: Nicht nur die reaktive Haltung sei im Bereich der stellvertretenden Verurteilung analog der alltäglichen interpersonalen Beziehungen gegeben, sondern auch die objektive Haltung. Die Ursachen, die eine objektive Haltung auslösen könnten, überträgt Strawson ebenfalls aus dem Bereich der alltäglichen sozialen Praxis: Es könnten entweder 1) die besondere Situation oder 2) die besondere Konstitution des Handelnden dazu führen, dass die reaktiven Haltungen außer Kraft gesetzt und statt dessen eine objektive Sicht – entweder aufgrund der Situation oder der Konstitution des Handelnden – eingenommen würde. Die moralische Missbilligung und Verurteilung würde unter diesen Umständen aufgehoben und durch eine objektive Ansicht ersetzt. Im Bereich der alltäglichen interpersonalen Beziehungen wurde als Beispiel angeführt, dass eine Person A […], weil sie stürzt, einer Person B unabsichtlich auf die Hand tritt. In diesem Fall würde in der Regel jeder den Tritt des A entschuldigen, denn A wollte nicht dem B auf die Hand treten, sondern konnte im Sturz nicht anders reagieren. Als schwerwiegenderes Beispiel in einem strafrechtlich relevanten Bereich lässt sich als besondere, entschuldigende Situation die folgende denken: Eine Person  A wird Opfer eines Überfalles mehrerer Täter, bei dem die Person B Zeuge ist und die Täter erkennt. Am Abend vor der Gerichtsverhandlung fangen Freunde den Täter B vor seiner Wohnung ab und drohen, dass ihm das Gleiche passieren würde wie A, wenn er als Zeuge vor Gericht aussagen würde. Daraufhin sagt B als Zeuge vor Gericht aus, er hätte nicht erkennen können, wer A überfallen habe, und beschwört seine bewusst wahrheitswidrige Aussage. Obwohl Meineid in der Regel strafbar ist, führt in diesem Fall die besondere Situation der Person B dazu, dass ihr Handeln entschuldigt wird. “The offering and acceptance of such exculpatory pleas”, so Strawson, “as are here in question in no way detracts in our eyes from the agent’s status as a term of moral relationships. On the contrary, since things go wrong and situations are complicated, it is an essential part of the life of such relationships.”121 Wie im Bereich der alltäglichen interpersonalen Beziehungen seien auch im Bereich des stellvertretenden Urteilens bestimmte soziale Taktiken des Umgangs mit besonderen Situationen wirksam. Bestimmte Situationen könnten eine fehlgegangene Handlung entschuldigen und die Missbilligung in diesem Fall außer Kraft setzen. Der andere Umstand, unter dem eine Missbilligung oder Verurteilung aufgehoben und durch eine objektive Ansicht ersetzt werde, trete wiederum ebenfalls dann ein, wenn die Konstitution des Handelnden eine besondere sei: to the extent to which the agent is seen in this light, he is not seen as one on whom demands and expectations lie in that particular way in which we think of them as lying when we

121 Strawson

1974, S. 16.

124

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

speak of moral obligation; he is not, to that extent, seen as a morally responsible agent, as a term of moral relationships, as a member of the moral community.122

Für den Bereich der alltäglichen interpersonalen Beziehungen nannte Strawson als Möglichkeiten einer besonderen Konstitution des Handelnden die Unreife des Kindes oder einen psychischen Defekt. Zur Verdeutlichung habe ich das Beispiel einer Beleidigung durch eine an dem Tourette-Syndrom erkrankte Person beschrieben. Stellt man sich vor, dass der Kranke nicht nur eine andere Person beleidigen, sondern zudem angreifen und verletzen würde, so würde auch in diesem Fall die besondere Konstitution des Handelnden seinen Angriff in einem anderen Licht erscheinen lassen. Da dieser Mensch an dem Tourette-Syndrom leidet, wird sein Verhalten nicht mehr als zu verurteilende Tat betrachtet werden, sondern als ein Problem bspw. von Behandlung und Kontrolle (treatment / control).123 Nachdem Strawson die Fähigkeit des Menschen zu einer objektiven Haltung vom Bereich der persönlichen reaktiven Haltungen auf den der stellvertretenden übertragen hat, wirft er erneut die Frage auf, ob diese objektive Haltung dem anderen gegenüber nun nicht generell, insbesondere im Bereich von Verurteilung und Bestrafung, gefordert werden müsste. An dieser Stelle nimmt Strawson das Thema dieser Studie in den Fokus. Denn wenn die These des Determinismus richtig wäre und sich der Täter somit nicht (in indeterministischem Sinne) aus freier Selbstbestimmung zu seiner Tat entschieden hätte, wie könnte diesem Täter dann die Schuld und die Verantwortung für seine Tat zugesprochen werden? So fordern Kritiker wie Roth oder Singer, die davon überzeugt sind, dass unser Wille determiniert ist, dass gegenüber jedem Täter eine objektive, entschuldigende Haltung eingenommen werde.124 Strawsons Antwort erfolgt analog der Argumentation bezüglich der persönlichen reaktiven Haltungen in zwei Schritten, aber in umgekehrter Reihenfolge. Zunächst argumentiert Strawson, “no such sense of ‘determined’ as would be required for a general thesis of determinism is ever relevant to our actual suspensions of moral reactive attitudes”.125 Auch für die stellvertretenden reaktiven Haltungen gelte, dass nur aufgrund von besonderen Umständen oder einer besonderen Konstitution des Handelnden bei einer üblicherweise zu missbilligenden und zu verurteilenden Handlung dennoch eine objektive Haltung gegenüber dem Handelnden eingenommen werde. Diese soziale Taktik des Ausbildens einer objektiven Haltung sei jedoch nicht gleichzusetzen mit der These, dass die Wahrheit – oder auch nur die bislang unbeweisbare Möglichkeit – des Determinismus eine objektive Haltung gegenüber fehlgegangenen Handlungen erfordere. Die 122 Strawson

1974, S. 17.  Strawson 1974, S. 17. 124  Vgl. Kapitel 3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus. 125 Strawson 1974, S. 18. 123

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

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Nachsicht gegenüber einem Täter und die Entschuldigung seiner Tat erfolgten deshalb, weil entweder die Situation der Handlung oder der Handelnde selbst im Kontext der interpersonalen Beziehungen als schuld‑ und verantwortungsunfähig betrachtet werde. Die Forderung, das Zusprechen von Schuld aufgrund der generellen Determiniertheit zu unterlassen, liege jedoch außerhalb dieses Kontextes und habe für interpersonale Beziehungen keine Relevanz. Dies führt zu Strawsons zweitem Argumentationsschritt. Beharre der Determinist auf seiner Forderung, reaktive Haltungen zu unterlassen und auch im stellvertretenden, also bspw. strafrechtlichen Bereich eine durchgängige objektive Haltung einzunehmen, so sei dieser schließlich auf seine Fehleinschätzung des menschlichen Verhaltens zu verweisen: “it is useless to ask whether it would not be rational for us to do what it is not in our nature to (be able to) do”.126 Die Gegebenheit dieser alltäglichen sozialen Praxis zu hinterfragen sei zwecklos und auch überflüssig. Die Analyse der interpersonalen Beziehungen liefere wiederum keinen Erklärungsrahmen dafür, weshalb diese interpersonalen Beziehungen in dieser Form bestünden. Die soziale Praxis sei gegeben – sie spreche für sich. Das theoretische Fragen widerlege nicht die soziale Praxis. The existence of the general framework of attitudes itself is something we are given with the fact of human society. As a whole, it neither calls for, nor permits, an external ‘rational’ justification.127

Damit zeigt Strawson, dass die Kritik an der Willensfreiheit in Bezug auf den Determinismus im Kontext interpersonaler Beziehungen und damit auch im Rahmen der stellvertretenden Institutionen wie bspw. dem Strafrecht nicht greift.

3.2.5 Die Rezeption von Strawsons Ansatz Das Argumentationsmodell von Strawson ist als einer der klassischen kompatibilistischen Lösungsversuche in die Debatte um die Freiheit des Willens eingegangen. Seine These ist aufgegriffen und weiterentwickelt worden, aber nicht, ohne dass auch verschiedenste Kritikpunkte an seiner Konzeption diskutiert worden wären. Da Strawsons Argumentation eine zentrale Referenz meiner Argumentation darstellt, sind zumindest exkursorisch auch wesentliche Kritikpunkte an Strawsons Darstellung in den Blick zu nehmen. Einige zentrale Kritikpunkte lassen sich anhand von drei Einwänden darstellen: die Einwände gegen (1) seine Irrelevanz-These, gegen (2) seinen IntuitionsAnsatz und schließlich generell gegen (3) seine Alles-oder-Nichts-Strategie.128 Gegen die Irrelevanz-These haben bspw. Ted Honderich und Ulrich Pothast 126 Strawson

1974, S. 18 (Hervorhebung im Original).  Strawson 1974, S. 23. 128  Die Termini „Irrelevanz-These“ und „Alles-oder-Nichts-Strategie“ stammen von Pothast (1987, S. 164 und S. 170). 127

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Einwände erhoben. Bei der Untersuchung der stellvertretenden reaktiven Haltungen und der zentralen Frage danach, ob es nicht vernünftig wäre, unter der Annahme des Determinismus reaktive Haltungen generell außer Kraft zu setzen, führt Strawson zwei Argumentationsschritte aus. Er folgert zunächst aus seiner Untersuchung der objektiven und nicht-objektiven stellvertretenden Haltungen, dass nicht durch eine generelle Determiniertheit erklärbar sei, dass in einem bestimmten Fall eine objektive Haltung eingenommen werde: “In fact no such sense of ‘determined’ as would be required for a general thesis of determinism is ever relevant to our actual suspensions of moral reactive attitudes.”129 Daran anknüpfend nimmt er nicht nur das Verhalten in einem bestimmten Fall, sondern die soziale Praxis der reaktiven Haltungen insgesamt in den Blick und stellt die Frage, welche Konsequenz die These der allgemeinen Determiniertheit hätte, wenn es uns möglich wäre, uns generell für oder gegen die soziale Praxis der reaktiven Haltungen zu entscheiden: if there were, say, for a moment open to us the possibility of such a godlike choice, the rationality of making or refusing it would be determined by quite other considerations than the truth or falsity of the general theoretical doctrine in question. The latter would be simply irrelevant […].130

Als irrelevant bezeichnet Strawson also die Annahme des Determinismus für eine vernünftige Entscheidung darüber, die stellvertretenden reaktiven Haltungen (Strafe, Verurteilung etc.) aufzugeben oder beizubehalten. Ted Honderich sieht in Strawsons Argumentationsmodell zwar generell einen wichtigen Beitrag zu der Willensfreiheitsdiskussion, insofern er aufgezeigt habe, dass eine Bedeutungsebene von Willensfreiheit sei, dass das Zusprechen von Handlungen derart zu begründen sei, dass reaktive Haltungen angebracht seien. Doch das Ziel von Strawsons Ansatz, nämlich aufzuzeigen, dass die These des Determinismus für den von ihm dargestellten interpersonalen Bereich menschlichen Handelns irrelevant sei, werde, so Honderich, nicht erreicht. Es sei vielmehr so, “that it is mistaken to think that if determinism is true there are no logical consequences in terms of reactive attitudes. There is the consequence that they are out of place”.131 Denn die Differenzierung von krankhaftem Verhalten (als Auslöser für das Inkrafttreten von objektiven Haltungen) und determiniertem Verhalten (welches dafür nicht relevant sei), die Strawson vornehme, sei nicht korrekt: We do not seem to have anything that suggests a distinction between our response to the given abnormal behaviour and what would be our response to behaviour believed to be determined. […] What can reasonably be maintained is that a shift [der Haltung, J. E.-S.]

129

 Strawson 1974, S. 18.  Strawson 1974, S. 18 f. 131 Honderich 1969, S. 123 (Hervorhebungen im Original). 130

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

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would take place as certainly if behaviour came to be regarded as determined as it would if the agent came to be regarded as incapacitated in one of the given ways.132

Wäre die Richtigkeit der These des Determinismus gegeben, würde dies, so Honderich, sehr wohl in gleichem Maße wie krankhaftes Verhalten zu einer Entschuldigung des Handelnden führen. Und dies wiederum würde nicht, wie Strawson behauptet, zum Ende der zwischenmenschlichen Beziehungen führen, aber eben zu deren radikalen Veränderung.133 Pothast, der in seiner Rezension von Strawsons Ansatz auf Honderich verweist, kritisiert ebenfalls die Schlussfolgerung von Strawson, der Determinismus sei irrelevant im Rahmen unserer interpersonalen Beziehungen. Denn die Fälle reaktiver Haltungen, die Strawson betrachte, seien, so Pothast, „Fälle typischen Außerkraftsetzens“.134 „Untypisch“, so Pothast, „aber möglich und gelegentlich auch real ist das Außerkraftsetzen reaktiver Haltungen mit der Begründung, daß alles Verhalten durch vorausliegende Bedingungen determiniert sei“.135 Pothast widerspricht demnach der These von Strawsons erstem Argumentationsschritt, dass die These des allgemeinen Determinismus für die Änderung einer reaktiven Haltung in eine nicht-reaktive irrelevant sei. Gerade die These des Determinismus, so Pothast, sei ein – wenn auch untypischer – Grund, der die von Strawson beschriebenen Bedingungen des real praktizierten Außerkraftsetzens von reaktiven Haltungen wesentlich ergänze. Der Hinweis auf die Fälle typischen Außerkraftsetzens sagt aber nichts über die Möglichkeit untypischen Außerkraftsetzens. Auf das letztere käme es einem Deterministen, der sich selbst richtig verstünde, gerade an.136

Das von Strawson beschriebene zeitweise Annehmen objektiver Haltungen würde nicht nur, so Pothast, durch typische Bedingungen  – eine entschuldigende Situation oder eine entschuldigende Konstitution des Handelnden – verursacht, sondern gerade auch durch die untypische Bedingung der Überzeugung von der Wahrheit oder auch nur der Möglichkeit eines allgemeinen Determinismus. Aus diesem Einwand folgert Pothast in einem zweiten Argumentationsschritt, dass auch die Irrelevanz-These mit Blick auf die Gesamtheit der sozialen Praxis, also das von Strawson definierte Bezugssystem, nicht haltbar sei. Der überzeugte Determinist nehme die objektive Haltung, so das Gegenargument von Pothast, aus demselben Grund ein, wie Strawson diesen für seine Fälle beschreibe: Auch „der Determinist [stellt] seine Frage nach der Rechtfertigung unserer Reaktion

132

 Honderich 1969, S. 119 f.  “This would not be the end of inter-personal relationships but their radical alteration.” (Honderich 1969, S. 120, Hervorhebung im Original.) 134  Pothast 1987, S. 165. 135  Pothast 1987, S. 165 f. (Hervorhebung im Original). 136 Pothast 1987, S. 165 (Hervorhebung im Original). 133

128

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

[…]. Die Frage nach dem, was einer verdient oder nicht verdient […].“137 Der Determinismus gebe also ebenso eine Erklärung für den Wechsel von der reaktiven zur nicht-reaktiven Haltung wie die von Strawson benannten typischen Bedingungen. Doch damit erweise sich gerade, so Pothast, Strawsons Trennung des Bezugssystems der sozialen Praxis von der Diskussion um die These des Determinismus als undurchführbar und falsch. Die Frage nach der Bedeutung des Determinismus stelle sich gerade als wesentlicher Teil des zur Betrachtung stehenden Bezugssystems dar. Die Diskussion um die Bedeutung der Determinismusdebatte für Bereiche wie Verurteilung und Strafe zeige damit, dass die Wahrheit oder Möglichkeit des Determinismus von Relevanz für das Bezugssystem sei, wie es Strawson konzipiere. Die Determinismusthese verdeutlicht, so Pothast, „daß das System in sich nicht stimmig ist“.138 Der Einwand von Honderich und Pothast klingt zunächst plausibel. Vertreter des Determinismus argumentieren, dass reaktive Haltungen, wie bspw. der persönliche Schuldvorwurf, nicht haltbar seien – vergleichbar der unstrittigen Folgerung, dass gegenüber einer psychisch massiv gestörten Täterin kein persönlicher Schuldvorwurf erhoben werden könne. Doch bei genauerer Betrachtung fällt eine von Pothast selbst markierte Unterscheidung ins Auge: Die von Strawson untersuchten Ausschlussgründe hebt Pothast als „typische“ gegenüber dem „untypischen“139 Determinismus-Argument hervor, davon abgesehen parallelisiert er die beiden Argumentationsmuster. Damit erkennt Pothast, meiner Ansicht nach, einen wesentlichen Aspekt, den auch Strawson als zentralen hervorstellt, ohne jedoch die Konsequenz für die Willensfreiheitsdebatte zu bemerken. Die von Strawson beschriebenen Ausnahmefälle, die reaktive Haltungen außer Kraft setzen, sind „typisch“, da sie die „klassische[n] Entschuldigungsgründe“140 darstellen, die allgemeine These des Determinismus hingegen nicht. Dabei ist Strawsons Leistung, dass er den zugrundeliegenden Unterschied deutlich macht. Seiner Auffassung nach gibt es zwischen der Determinismusthese und den klassischen Entschuldigungsgründen einen wesentlichen, qualitativen Unterschied: Würde die Determinismusthese zu einer Entschuldigung der Schuld herangezogen, so könnte diese nur einen für alle Handelnden gültigen Entschuldigungsgrund liefern, denn die Determiniertheit des Handlungsplanungs‑ und Entscheidungsprozesses gelte für alle Menschen gleichermaßen. Darauf basiert schließlich auch die in dieser Studie diskutierte Forderung, den Schuldvorwurf generell abzuschaffen. Die anderen Handlungsdispositionen, die als Entschuldigungsgründe gelten, wie bspw. eine krankhafte Disposition oder eine unbeabsichtigte und fehlgegangene Handlung, entschuldigen jeweils nur die Handlungen, die unter einen der Entschuldigungsgründe subsummiert werden 137 Pothast

1987, S. 166.  Pothast 1987, S. 167. 139  Pothast 1987, S. 165. 140 Pothast 1987, S. 165. 138

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

129

können. Strawson unterscheidet hier im Wesentlichen eine besondere Situation der Handlung oder eine besondere Konstitution des Handelnden. Das Strafrecht differenziert parallel zu dieser grundlegenden Unterscheidung bspw. zwischen dem Verbotsirrtum (§ 17) und dem entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) als besonderer entschuldigender Situation oder der Unreife des Kindes (§ 19 StGB) und seelischen Störungen (§ 20 bzw. § 21 StGB) als schuldausschließender Konstitution des Handelnden. Dieser qualitative Unterschied macht deutlich, weshalb die klassischen Entschuldigungsgründe in der sozialen Praxis Verwendung finden, die allgemeine These des Determinismus hingegen nicht: Im allgemeinen interpersonalen Bereich und im speziellen Bereich des Strafrechts sind wir mit dem Großteil der Handlungen einverstanden und zwar, wenn diese unsere Interessen bzw. die strafrechtlichen Vorgaben nicht verletzen. Einen kleineren Prozentsatz der alltäglichen Handlungen hingegen missbilligen wir und zwar solche Handlungen, die unsere Interessen verletzen oder den rechtlichen Normen zuwiderlaufen. Diesen Handlungen begegnen wir generell mit zwei Haltungen: Entweder mit einer reaktiven Haltung des Vorwurfes im interpersonellen und der Bestrafung im stellvertretenden (strafrechtlichen) Bereich oder aber mit einer nicht-reaktiven Haltung, wenn es bestimmte Entschuldigungsgründe für die verletzenden Handlungen gibt. Für den Teil relativ genau definierter Handlungen im strafrechtlichen Bereich (Missbrauch der Rechte auf körperliche Unversehrtheit, Freizügigkeit und Eigentum etc.) sind die Gründe präzise definiert, die eine solche Handlung entsprechend hinreichend entschuldigen. Jedoch ein allgemeiner Entschuldigungsgrund wie die Determinismus-These, die nicht nur für bestimmte zu entschuldigende Handlungen, sondern generell für alles Handeln die Verantwortung ausschließen würde, bietet in diesen Fällen keine hinreichende Erklärung. Denn dieser Grund kann nicht erklären, weshalb bspw. ein geistig behinderter Mann, der einen anderen tötet, anders zu beurteilen (und folgerichtig dann im Strafvollzug auch anders zu behandeln) ist als ein Mann ohne diese Beeinträchtigung, der einen anderen tötet. Darüber hinaus fragt das Determinismus-Argument nicht nach konkreten Ursachen, sondern gibt eine Erklärung für alles Handeln. In strafrechtlicher Perspektive sind gerade aber die konkreten Umstände eines Falles von Interesse und wesentliche Grundlage für das Urteil. Daher ist die These des allgemeinen Determinismus weder im alltäglichen interpersonalen Bereich noch im speziellen Bereich des Strafrechts als Entschuldigungsgrund anerkannt. Aus dem qualitativen Unterschied dieser zwei verschiedenen Argumentationsmuster zieht Strawson seine Schlüsse für die Frage der Relevanz der Diskussion um Determinismus und Indeterminismus für die Willensfreiheitsdebatte: Die These des allgemeinen Determinismus sei kein Entschuldigungs‑ oder Schuldausschlussgrund im Rahmen der alltäglichen sozialen Praxis und auch nicht in der Strafrechtspraxis. Insofern sei die These des allgemeinen Determinismus

130

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

irrelevant im Bezugsrahmen der sozialen Praxis und eben nicht, wie bspw. Honderich und Pothast argumentieren, „Teil dieses Systems“. Damit sagt Strawson aber nichts darüber aus, ob es eine Argumentationsebene gebe, auf der die These des Determinismus im Kontext der Willensfreiheitsdiskussion von Relevanz sei. Daher ist die Kritik von Honderich und Pothast an der Irrelevanz-These von Strawson nicht tragfähig. Honderich sieht bei der Konzeption von Strawson aber noch ein weiteres Problem, das sich nicht auf die Schlussfolgerung seines Modells bezieht, sondern auf dessen Ansatz. Denn die von Strawson beschriebenen reaktiven Haltungen, so Honderich, setzten bereits indeterministische Annahmen voraus: That these considerations are in the forefront of our experience, however, is so for the reason that we generally assume that something else is true. We assume that human choices and actions are not causally necessary, that individuals can choose and act in ways other than they do. If we believed otherwise of someone, this would as surely give rise to a departure from reactive attitudes.141

Reaktive Haltungen wie Lob, Tadel und eben auch Verurteilung und Bestrafung beruhten auf der Annahme, dass der Handelnde „auch hätte anders handeln können“ und somit in seiner Entscheidung zu der Tat frei gewesen sei. Diesen Aspekt stellt auch Galen Strawson in seiner Kritik an Peter F. Strawson heraus: What is more, the roots of the incompatibilist intuition lie deep in the very reactive attitudes that are invoked in order to undercut it. The reactive attitudes enshrine the incompatibilist intuition.142

Galen Strawson entwickelt zudem aus diesem Aspekt seinen zentralen Kritikpunkt an dem Ansatz von Peter F. Strawsons Argumentationsmodell: Dieser bediene sich einer intuitiven Überzeugung, die jedoch mit einer anderen, ebenso intuitiv überzeugenden Annahme kollidiere. Die Beschreibung der interpersonalen reaktiven Haltung des Menschen, auf eine wohlwollende Handlung eines anderen in der Regel positiv, auf eine übelwollende Handlung in der Regel negativ zu reagieren, sei intuitiv überzeugend, d. h. diese zu praktizieren sei auch unter der These des Determinismus „richtig“, da jeder in seinem eigenen alltäglichen Handlungsbereich reaktive Haltungen unhinterfragt realisiere. Doch die Problematik, dass – wenn der Handelnde für seine Tat verantwortlich und die Handlung als beabsichtigt betrachtet werde – dies die Möglichkeit des Anders-handeln-Könnens erfordere und damit Freiheit in indeterministischem Sinne voraussetze bzw. mit dem Determinismus kollidiere, sei dafür theoretisch ebenfalls intuitiv überzeugend. Although our thoughts about determinism appear in actual fact quite impotent to disturb our natural and unconsidered reactive attitudes and feelings (this reveals one commit141

 Honderich 1969, S. 119. (Galen) 1986, S. 88.

142 Strawson

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

131

ment), it also seems very difficult for us not to acknowledge that the truth of determinism or of non-self-determinability brings the propriety of the reactive attitudes seriously into doubt (this reveals the other commitment).143

Das von Peter F. Strawson beschriebene Modell verbinde daher, so Galen Strawson, zwei in unserer Vorstellung von Verantwortung und Freiheit verwurzelte Überzeugungen und verdeutliche eher die Problematik um Determinismus und Indeterminismus, als dass es einen Lösungsweg aufzeige. Während beide Positionen sich dadurch glichen, dass sie intuitiv überzeugend seien, habe Peter F. Strawson aber übersehen, so die Kritik von Galen Strawson, dass diese sich auch in einem wesentlichen Aspekt unterschieden (“there is a respect in which they are different in nature”144): Da die Überzeugung der Richtigkeit der reaktiven Haltungen auf der Alltagspraxis interpersonaler Beziehungen basiere, könne diese weder als falsch noch als wahr bewiesen werden. Was Galen Strawson damit genau meint, wird erst bei seiner Einschätzung der damit kollidierenden Auffassung klar: Demgegenüber sei die Überzeugung, dass das Konzept der reaktiven Haltungen (und damit von Verantwortung und Strafe im weiteren Sinne) Indeterminismus voraussetze und mit der These des Determinismus kollidiere “of an essentially more theoretical character, it appears to represent the simple truth”.145 Galen Strawson stellt damit der praktischen Überzeugung  – die theoretisch nicht zu rechtfertigen und damit weder zu verifizieren noch zu falsifizieren sei – die in theoretischer Hinsicht wahre These des Determinismus gegenüber. Zunächst zu dem Ansatzpunkt der Kritik: Die Konzeption von Peter F. Strawson setze bereits indeterministische Annahmen voraus. Das bedeutet: Wenn Strawsons Argumentation tatsächlich die Annahme des Indeterminismus voraussetzt, führt dies seine kompatibilistische Schlussfolgerung, welche die Willensfreiheitsdiskussion im interpersonalen Bereich von der Debatte um Indeterminismus und Determinismus abkoppelt, ad absurdum. Honderich und Galen Strawson sehen für Lob, Tadel und Schuldzusprechung etc. Willensfreiheit – in indeterministischem Sinn – erforderlich, da nur ein Wesen gelobt, getadelt und diesem Schuld zugesprochen werden könne, das sich aus freiem Willen zu seiner Handlung entschieden hätte. Als Kritiker einer kompatibilistischen Lösung der Willensfreiheitsproblematik erkennen sie die Möglichkeit einer Vereinbarkeit von Willensfreiheit und Determinismus nicht an. Doch Peter F. Strawson sieht als Kompatibilist hier gerade keinen Konflikt vorliegen. Aufgrund seiner Beobachtung der interpersonalen Beziehungen gelangt er zu der Schlussfolgerung, dass die soziale Praxis des Menschen keine Willensfreiheit voraussetze. Mit ihrer Kritik definieren Honderich und Galen Strawson somit ihre eigene Position 143

 Strawson (Galen) 1986, S. 89.  Strawson (Galen) 1986, S. 90. 145 Strawson (Galen) 1986, S. 89 (Hervorhebung im Original). 144

132

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

als Ausgangspunkt der Strawson’schen Argumentation und verdrehen Schlussfolgerung und Ausgangspunkt der Argumentation bzw. setzen diese in eins. Dieser Einwand greift nicht. Galen Strawson führt diesen Aspekt weiter zu seinem zentralen Kritikpunkt an der Argumentation von Peter F. Strawson aus. Er verweist auf die seiner Ansicht nach in Strawsons Konzeption präsenten und kollidierenden Annahmen: (1) Der Mensch zeige in seiner alltäglichen Praxis reaktive Haltungen, er lobe und bestrafe andere – unabhängig von der These des Determinismus. (2) Wäre der Determinismus wahr, seien die Konzepte „Verantwortung“, „Schuld“ und „Bestrafung“ zu hinterfragen. Während beide Annahmen uns intuitiv überzeugten, unterschieden sich diese aber, so Galen Strawson, in einem wesentlichen Aspekt: Die aus der Praxis abgeleitete Annahme könne nicht als in theoretischem Sinne wahre Aussage bewiesen werden, während die theoretische Annahme eine wahre Aussage darstelle. Doch dieser Kritikpunkt ist nicht nur schwach, da Galen Strawson keine weiteren Schritte unternimmt, um seine Aussage über die Wahrheit der theoretischen Annahme argumentativ zu belegen, sondern er bezieht zudem die Stärke seines Argumentes aus einem Argumentationsmuster, welches er selbst als unklug (unwise) bezeichnet und Peter F. Strawson zuschreibt146: Galen Strawson konfrontiert hier zwei Annahmen, die aus zwei ganz unterschiedlichen Kontexten stammen: eine Beschreibung der praktischen Erfahrung und ein theoretisches Denkmodell. Diese beiden bringt er in einen Argumentationszusammenhang. Peter F. Strawson hingegen bleibt bei seiner Untersuchung allein im Kontext der sozialen Praxis und bezieht seine These auch nur auf diesen Bereich  – ohne zusätzlich etwas über einen Vorzug von Determinismus oder Indeterminismus auf der Ebene der theoretischen Debatte um die Freiheit des Willens auszusagen. Insofern greift die Kritik von Galen Strawson nicht, die Darstellung von Peter F. Strawson ist überzeugender. Schließlich ist ein dritter Einwand von Interesse, der sich auf die zugrundeliegende Strategie von Peter F. Strawsons Argumentation bezieht. „Strawson liefert zwar viele Hinweise dafür“, so Pothast, daß die von ihm in Anspruch genommenen Haltungen existieren und faktisch das Zusammenleben von Personen zu einem hohen Grad bestimmen. Aber daß es sich um etwas handelt, das für unser Menschsein überhaupt konstitutiv ist, so daß wir als Menschen hinsichtlich seiner keine Wahl haben, ist eine bloße Behauptung.147

Auch wenn Strawsons Analyse der reaktiven und nicht-reaktiven Haltungen im interpersonalen Bereich korrekt sei, so Pothast, sei die Folgerung, dass die Menschen diese soziale Praxis beibehielten, da sie in ihrer Natur liege bzw. keine rationale Alternative dazu bestehe, falsch. Pothast kritisiert, dass Strawson seine 146

 Strawson (Galen) 1986, S. 89. 1987, S. 168 (Hervorhebung im Original).

147 Pothast

3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus

133

Argumentation mit einer „Alles-oder-Nichts-Strategie“148 zu erkämpfen suche, indem er als Alternative zu dem von ihm beschriebenen interpersonalen Bezugsrahmen nur „den Verfall aller dieser Haltungen“149 sehe. Ähnlich wie Pothast sieht auch Galen Strawson sehr wohl eine Möglichkeit, dass die Wahrheit der Determinismusthese von einer teilweisen bis hin zu einer radikalen Änderung unserer Haltungen gegenüber dem anderen und der Beurteilung von Verantwortung und Schuld führen könnte: It is true that belief in determinism cannot by itself make it rational to adopt the objective attitude. […] For it depends on what the chooser wants or thinks best, and there is a crucial sense in which desires and values are simply not comparable in respect of rationality.150

Ähnlich wie bei den vorhergehenden Einwänden wird auch hier der Argumentationsgang von Strawson nicht korrekt dargestellt. Anhand der Analyse der reaktiven und nicht-reaktiven Haltungen macht Strawson die Beobachtung, dass der Determinismus für den interpersonalen und den stellvertretenden (strafrechtlichen) Bereich nicht von Relevanz sei, da die Menschen andere loben, tadeln, verurteilen und bestrafen ohne zu hinterfragen, ob diese in indeterministischem Sinn frei seien. An diese Ausführung schließt Strawson seine zentrale These an, dass seiner Meinung nach diese soziale Praxis so fest in der menschlichen Natur verwurzelt sei, dass (auch bei einem möglicherweise in der Zukunft gelingenden Beweises der Unfreiheit des menschlichen Willens) nicht die Option bestünde, dass der Mensch aus Überzeugung oder anderen Gründen diese Praxis aufgeben und bspw. durchgängig nicht-reaktive Haltungen dem anderen gegenüber annehmen könne. Während die Beobachtung von Strawson als wahr oder falsch beurteilt werden kann, kann seine These über die zukünftige Entwicklung auch nur durch die Entwicklung in der Zukunft verifiziert oder falsifiziert werden. Natürlich sind auf der Grundlage der Darstellung von Strawson auch andere Thesen möglich, wie z. B. die Ansicht, dass die beobachtete soziale Praxis nicht so tief in uns verwurzelt sei, als dass der Beweis der Wahrheit des Determinismus nicht einen grundlegenden Wandlungsprozess auslösen könnte. Doch die Folgerung einer anderen These widerlegt nicht Strawsons Beobachtung der aktuellen sozialen Praxis, die, so das Beweisziel, unabhängig von der Diskussion um die Freiheit des Willens funktioniert. Damit kann auch der dritte Einwand nicht überzeugen.151

148 Pothast

1987, S. 170.  Pothast 1987, S. 170 (Hervorhebung im Original). 150  Strawson (Galen) 1986, S. 91 (Hervorhebung im Original). 151 Strawsons Argumentationsmodell ist aber nicht nur kritisch diskutiert, sondern auch als Fundament anderer Konzeptionen verwendet worden. R. Jay Wallace entwickelt bspw. in seinem Werk Responsibility and the Moral Sentiments von 1994 den Ansatz von Strawson für die philosophische Debatte um Willensfreiheit und moralische Verantwortung weiter. 149

134

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

3.3 Resümee (1) Das Erklärungsmodell Strawsons zeigt sowohl in seinem Ausgangspunkt als auch in seiner Intention Parallelen auf zu den zuvor dargestellten strafrechtswissenschaftlichen Ansätzen in der Debatte um die Willensfreiheit und deren Relevanz für das deutsche Schuldstrafrecht. Auch Strawson geht, wie bspw. Dreher, von der Alltagserfahrung aus und analysiert die Strukturen, die er darin vorfindet. Dabei zielt er ebenfalls darauf, einen Anknüpfungspunkt für die Legitimation von strafrechtlicher Schuldzuschreibung zu finden, der sowohl der Kritik des harten Determinismus als auch des Libertarismus standhält. Doch weist seine Konzeption zwei überzeugende Argumente auf, die verschiedene Erklärungslücken schließen, welche andere Modelle ungeklärt belassen. Zum einen liegt, so die Analyse Strawsons, die Annahme der Verantwortung des Handelnden für seine Tat in der Betrachtung des anderen. Den Einzelnen in der Regel als verantwortlich Handelnden zu begreifen, liegt in der Haltung des Gegenübers begründet und ist damit ganz wesentlich in der Außenperspektive gegeben. Diese reaktiven Haltungen zeigen die soziale Praxis des Menschen: Dem interpersonalen Beziehungsgefüge zuträgliche Handlungen werden mit Wohlwollen bzw. strafrechtlicher Integrität sanktioniert, den interpersonalen Bereich störende und verletzende Handlungen mit Übelnehmen bzw. strafrechtlicher Verurteilung. Nur in bestimmten Ausnahmefällen, die Strawson in seiner Analyse herausfiltert und systematisiert, wird abweichendes Handeln entschuldigt und von der üblichen sozialen Praxis abgesehen. In der Regel wird der Handelnde aber als verantwortlich betrachtet. Ob auch der Handelnde selbst von seiner Verantwortung überzeugt sei, wird von Strawson nicht weiter thematisiert. Dieser Aspekt ist für die hier betrachtete Thematik aber auch nicht von Relevanz, denn er bietet, wie die Darstellungen von Burkhardt und von Hirsch zeigen, keinen Anknüpfungspunkt für die strafrechtliche Beurteilung. Diese ist als stellvertretendes Analogon der Reaktion des Einzelnen im interpersonalen Bereich, so der Ansatz Strawsons, entsprechend der gegebenen sozialen Praxis verfasst. Zum anderen, so der Ansatz Strawsons, wird bei der Analyse der alltäglichen sozialen Praxis deutlich, dass die Frage nach der Willensfreiheit in klassischem Sinne in diesem Kontext nicht von Relevanz ist. Diese Argumentation ist meiner Auffassung nach überzeugend: Der Mensch unterscheidet in seiner Reaktion auf das Handeln anderer eine sozial-konforme Handlung von einer davon abweichenden Handlung (einem Regelbruch). Auf eine sozial-konforme Handlung wird mit Wohlwollen reagiert, auf einen Regelbruch mit Übelnehmen bzw. Bestrafung. Gegenüber dieser urteilenden und zuschreibenden Haltung ist der Mensch aber auch dazu in der Lage, eine objektive Haltung gegenüber einer Handlung des anderen einzunehmen und dementsprechend nicht mit Missbilligung und Schuldzuweisung zu reagieren. Es handelt sich hierbei jedoch um eine Ausnahme, die entweder aufgrund einer besonderen (entschuldigenden)

3.4 Die Dimensionen des Schuldprinzips

135

Situation erfolgt oder bei einer besonderen (entschuldigenden) Konstitution des Handelnden, wie bspw. der Unreife des Kindes oder einer psychischen Krankheit. Diese soziale Praxis unterscheidet sich aber wesentlich von einer generellen Sinnlosigkeit der Schuldzuweisung, die auf die These des Determinismus und die daraus folgende Unmöglichkeit des Anders-handeln-Könnens zurückgeführt wird. Für diese soziale Praxis ist daher die Willensfreiheitsproblematik irrelevant. Die Argumentation Strawsons ist für mich wesentlich vielversprechender als die anderen betrachteten Ansätze zur Lösung der Willensfreiheitsproblematik. Aber kann seine Analyse der interpersonalen Beziehungen ein Lösungsmodell für die komplexe strafrechtliche Problemlage darstellen? Um dies beurteilen zu können, ist zunächst das strafrechtliche Schuldprinzip selbst noch detaillierter zu analysieren.

3.4 Die Dimensionen des Schuldprinzips Die Funktion des Schuldprinzips für das Strafgesetz ist bereits genannt worden. Es liefert die Grundlage für die Begründung und die Bemessung der Strafsanktion. Das Schuldprinzip fordert die Verhältnismäßigkeit von Strafe und Schuld und stellt daher ein unhintergehbares Maßprinzip der Institution Strafe dar. Doch was beinhaltet das strafrechtliche Schuldmerkmal? Wann liegt strafrechtliche Schuld vor? Neben der generellen Verankerung des Schuldprinzips im § 46 werden im Strafgesetzbuch des Weiteren Schuldausschließungs‑ und Entschuldigungsgründe aufgeführt und damit definiert, in welchen Fällen ein Schuldvorwurf strafrechtlich nicht legitimiert ist bzw. das Handeln des Täters entschuldigt wird, wie z. B. bei „Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen“ (§ 20 StGB). Dem Strafgesetzbuch liegt somit zugrunde, dass generell Schuld zugeschrieben werden kann. Es ist dort jedoch keine positive Definition von Schuld zu finden (schuldig ist, wer …), sondern das Strafgesetz geht „negativ vor. Es nennt Situationen und Zustände, bei denen es an Schuld fehlen soll, sagt aber nicht positiv, was es unter Schuld und Schuldfähigkeit verstehen will“.152 Damit ist der strafrechtliche Schuldbegriff nicht explizit im Strafgesetzbuch definiert. Diese fehlende positive Bestimmung von Schuld ist eine der Ursachen für die anhaltende Diskussion um den strafrechtlichen Schuldbegriff. Die aktuelle Diskussion blickt dabei auf eine lange Auseinandersetzung zurück. Um beurteilen zu können, inwieweit das strafrechtliche Schuldelement von der Diskussion um die Willensfreiheit abhängig ist, ist daher zunächst herauszuarbeiten, was sich hinter dem strafrechtlichen Schuldmerkmal verbirgt. Bei der Prüfung des Schuldmerkmals wird die Frage gestellt, 152 Schreiber / Rosenau

2009, S. 79.

136

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

ob das geprüfte Verhalten einem bestimmten Menschen „zugerechnet“ werden kann, ob ein bestimmter Mensch für dieses Verhalten „verantwortlich“ zu machen ist. [Es wird] […] die „subjektive Zurechnung“ des Unrechts gegenüber einem bestimmten Menschen diskutiert und entschieden.153

Die strafrechtliche Schuld wird übereinstimmend als subjektive Zurechnung bzw. als persönliche Vorwerfbarkeit154 definiert.155 Das Strafrecht fragt damit nach der konkreten Verantwortung des Einzelnen für das eigene Handeln. Doch wann wird der Einzelne als verantwortlich und damit als schuldig betrachtet? Wo setzt der Vorwurf der Schuld, wo die Zurechnung von Verantwortung an? Im Rahmen dieser Arbeit kann keine Ausdifferenzierung der einzelnen historisch-dogmatischen Positionen in der Diskussion um den strafrechtlichen Schuldbegriff erfolgen. Ziel ist, systematisch herauszuarbeiten, was der Schuldbegriff für das strafrechtliche Denken leistet. Wilfried Hassemer156 hat das Schuldprinzip einer stufenweisen Analyse unterzogen und dabei vier Dimensionen des Schuldprinzips markiert. Die vier Dimensionen, die nach Hassemer die Bedeutung des Schuldprinzips greifbar machen, sind: (1) Die Ermöglichung subjektiver Zurechnung, (2) der Ausschluss der Erfolgshaftung, (3) die Unterscheidung von Stufen innerer Beteiligung am äußeren Geschehen und (4) die Verhältnismäßigkeit von Strafrechtsfolgen. Zunächst beinhalte das Prinzip der Zurechnung von Schuld, so Hassemer, dass eine Straftat als Handlung eines Menschen betrachtet werde. Ein Verbrechen

153 Hassemer

1990, S. 213 (Hervorhebung im Original).  Vgl. Wessels / Beulke / Satzger 2013, RN 394, S. 154. 155  Die Bezeichnung „subjektive Zurechnung“ ist differenziert zu betrachten. Zunächst ist die subjektive Zurechnung zu unterscheiden von der objektiven Zurechnung. Wie in Kapitel 2.2 Die Rolle des Schuldprinzips und der Konflikt mit dem Präventionsgedanken (S. 24 ff.) beschrieben, liegt eine Straftat nur vor, wenn sich die Tat als tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft erweist. Der Tatbestand umfasst diejenigen Merkmale, „die dem jeweiligen Delikt das individuelle Gepräge geben und seinen typischen Unrechtsgehalt charakterisieren“ (Wessels/ Beulke /Satzger 2013, RN 118, S. 51, Hervorhebung im Original). In diesem Zusammenhang wird u. a. nach den objektiven (äußeren) Tatbestandsmerkmalen gefragt. „Objektiv zurechenbar ist ein Erfolg dann, wenn durch menschliches Verhalten eine rechtlich relevante Gefahr geschaffen wurde, die sich im tatbestandsmäßigen Erfolg realisiert hat“ (Wessels/Beulke/Satzger 2013, RN 179, S. 69). Im Rahmen der Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit sind jedoch auch subjektive (innere) Tatbestandsmerkmale zu beachten. In der Strafrechtswissenschaft wird darüber diskutiert, ob diese subjektiven Merkmale zum Tatbestand und nicht vielmehr zum Schuldgehalt zu zählen sind und wie diese genau gegeneinander abzugrenzen sind. 156 Hassemer 1983. Es ist hervorzuheben, dass diese Dimensionen historische Entwicklungsstufen des Strafrechts wiederspiegeln. Aber auch wenn diese Dimensionen historisch gewachsen sind, so beschreiben sie die elementaren Mechanismen des Schuldprinzips, also die Mechanismen, die hinter der Frage nach der subjektiven Zurechnung liegen. 154

3.4 Die Dimensionen des Schuldprinzips

137

werde nicht auf „außer‑ oder übermenschliche Kräfte“157 zurückgeführt, z. B. auf die Strafe Gottes oder die Launen der Natur. Die gegenwärtige Rechtsgemeinschaft stellt zwar nicht mehr die Frage nach einer übermenschlichen Verursachung, aber insbesondere die Kritiker des Schuldstrafrechts heben die gesellschaftliche Mitverursachung von Kriminalität als zentralen Aspekt hervor.158 Doch ist ein Verbrechen zunächst die „Tat eines Täters“.159 Auch wenn „Mitverursachung und Mitverantwortung der Gesellschaft“160 bei der Entstehung von Verbrechen eine zentrale Rolle spielten, so Hassemer, und daher die Forderung nach gesellschaftlichen Veränderungen als Reaktion auf Kriminalität nicht ausbleiben könne, so sei dennoch ein Verbrechen zunächst die Tat einer handelnden Person. Würde man diese aus der Betrachtung streichen, bedeute das, so Hassemer, „den Verzicht auf die Kategorien von Kausalsteuerung und Urheberschaft“.161 Die Frage nach dem Verursacher sei, so Hassemer, die erste Dimension des Schuldprinzips: In dieser Dimension des Schuldprinzips wird ein fundamentales Schema unserer Kultur und Rechtskultur sichtbar: die Annahme, daß Personen Erfolge in der Außenwelt bewirken und steuern können, daß gegenüber einer Verletzung menschlicher Interessen die Frage nach einem menschlichen Urheber dieser Verletzung erlaubt und diskutabel ist.162

Das Schuldprinzip beinhaltet zunächst die grundlegende Feststellung, dass ein Tatbestand durch eine Person verursacht wurde – dieser wird daher der Person zugerechnet. Diese erste Dimension entspricht der Erfolgshaftung, welche die Person, die den Erfolg (den Schaden eines Tatbestandes) verursacht hat, haftbar macht. Das Schuldprinzip beinhaltet aber nicht nur die Zurechnung eines Erfolges zu der Person, die diesen verursacht hat, sondern es nimmt zusätzlich eine wesent­ liche Unterscheidung vor: Es grenzt die Urheberschaft mit Verantwortung ab von 157

 Hassemer 1983, S. 95. z. B. Sack 1975, S. 363. 159 Hassemer 1983, S. 93. 160  Hassemer 1983, S. 93. 161 Hassemer 1983, S. 94. Der Bezug Hassemers auf die Kategorien Kausalsteuerung und Urheberschaft erinnert stark an den Begriff des Akteurskausalismus, der in der philosophischen Debatte um die Willensfreiheit eingebracht wurde. Vertreter der Akteurskausalität betrachten den Handelnden als Ersten Beweger. Das Handeln selbst wird dabei als unverursacht betrachtet, d. h. Handelnde werden als Akteure beschrieben, „die Kausalketten in Gang setzen“ (vgl. z. B. einführend Keil 2013, S. 97 ff.). Vertreter des Akteurskausalismus betrachten Determinismus und Willensfreiheit als inkompatibel. Darin, dass sie den Handelnden als „unbewegten Beweger“ auffassen, sehen sie aber das Argument für eine inkompatibilistisch verstandene Willensfreiheit. Die Erklärung Hassemers ist jedoch nicht im Kontext der Diskussion um Determinismus und Indeterminismus zu bewerten. Mit seinem Bezug auf Kausalsteuerung und Urheberschaft sagt Hassemer zunächst nur aus, dass eine Tat als Handlung einer Person betrachtet wird; er trifft damit noch keine Aussage darüber, ob diese Handlung aus freiem Willen erfolgte oder ob dieser determiniert war. 162 Hassemer 1983, S. 94. 158 Vgl.

138

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

der Urheberschaft ohne Verantwortung. Diese zweite Dimension kennzeichnet die Überwindung einer reinen Erfolgshaftung aufgrund der Überlegung, ob der Verursacher überhaupt haftbar gemacht werden kann. Denn die Erfolgshaftung fragt nur danach, ob eine Person eine Tat verursacht hat oder nicht: Der tödlich fallende Baum brachte den germanischen Holzfäller in strafrechtliche Haftung, auch wenn er für dieses Unglück aufgrund besonderer Umstände gar nichts konnte. (Er war freilich konsequenterweise auch von Haftung frei, wenn er – umgekehrt – das absichtsvoll angezielte Opfer verfehlte: Erst mit der Kategorie der Verantwortlichkeit wird es sinnvoll, den Versuch, den bösen Willen, abzustrafen.)163

Die zweite Dimension des Schuldprinzips vervollständige, so Hassemer, die erste der subjektiven Zurechnung. Diese sei die Dimension des „Dafür-Könnens“, sie sei eine notwendige Präzisierung der Frage nach der Urheberschaft.164 Denn diese allein könne die Handlung nicht ausreichend beschreiben und die Zurechnung von Verantwortung und damit von Strafe nicht begründen. Neben der kausalen Verursachung müsse ein weiteres Kriterium bei der Bewertung der Handlung miteinfließen: die Bewertung der „Disposition“ des Täters gegenüber seiner Tat. Hier wird mehr behauptet und vorausgesetzt als auf der ersten Ebene subjektiver Zurechnung, hier wird die Kategorie der Verantwortlichkeit entwickelt, hier werden Modi von Urheberschaft unterscheidbar. Hier wird behauptet, daß schuldig für eine Verletzung nur sein kann, wer die verletzenden Abläufe zumindest hätte steuern können.165

Die Frage nach dem Dafür-Können der handelnden Person zeige, dass verschiedene Arten von Urheberschaft, Hassemer spricht von Modi, zu unterscheiden seien. Die zweite Dimension nehme zunächst die Unterscheidung von zwei Modi vor: Dafür-Können und Nicht-dafür-Können. Um bei dem Holzfällerbeispiel zu bleiben: Der Holzfäller kann beim Fällen eines Baumes durch ein gezieltes Vorgehen beabsichtigen, dass eine bestimmte Person zu Schaden kommt. Der Erfolg der Handlung (das Zu-Tode-Kommen eines anderen) setzt sich somit zusammen aus kausaler Verursachung und Absicht. Wenn jedoch beim Fällen des Baumes ein zufällig Vorbeikommender ungewollt tödlich getroffen wird, so ist zwar auch die Handlung des Holzfällers (das Fällen des Baumes) kausal verursacht und beabsichtigt. Auch der Erfolg (das Zu-TodeKommen eines anderen) ist kausal durch die Handlung verursacht, aber nicht beabsichtigt. Die Holzfällerbeispiele Hassemers zeigen, dass erst die ergänzende Frage nach der Disposition, nach der inneren Beteiligung des Handelnden, eine Tat ausreichend erklären kann. Nur wenn der Erfolg der Tat verursacht und beabsichtigt ist, kann man von Dafür-Können sprechen. Diese Unterscheidung gelangt erst mit dem Schuldbegriff in das strafrechtliche Denken. Nur die Ergänzung der Frage nach der Urheberschaft durch die Frage nach dem Dafür-Können 163

 Hassemer 1983, S. 95.  Hassemer 1983, S. 95. 165 Hassemer 1983, S. 95. 164

3.4 Die Dimensionen des Schuldprinzips

139

und damit nach der Schuld des Täters bildet das Fundament für ein plausibles Konzept von Verantwortung. Eine reine Erfolgshaftung, die das germanische Strafrecht prägt166 und auch heute noch diskutiert wird167, beachtet diese zweite Dimension nicht. Bei der Erfolgshaftung erfolgt eine Differenzierung nur auf der Seite der kausalen Verursachung, die Frage nach der Absicht und damit nach dem Dafür-Können wird nicht gestellt. Nach der Urheberschaft und dem Dafür-Können nennt Hassemer die „Unterscheidung von Stufen innerer Beteiligung am äußeren Geschehen“ als dritte Dimension des Schuldprinzips. Auch in der dritten Dimension des Schuldprinzips ereignet sich eine Verfeinerung und Vervollständigung der Errungenschaften der vorausgegangenen Dimension. Hier werden Kriterien der Verantwortlichkeit, des Dafür-Könnens erarbeitet. Mit ihrer Hilfe können Stufen der Verantwortlichkeit unterschieden und bewertet werden. Diese Unterschiede nenne ich „Stufen innerer Beteiligung am äußeren Geschehen“. Für Strafjuristen ist dies die Skala von unbewußter über bewußte Fahrlässigkeit, Leichtfertigkeit, Vorsatz und Absicht.168

Die Stufen der inneren Beteiligung differenzieren verschiedene Modi der Urheberschaft, die Hassemer bereits in der zweiten Dimension angelegt sieht; sie explizieren verschiedene Grade der Absicht, die mit einer kausalen Verursachung einhergehen. Die zweite Dimension unterscheidet als Modi nur die beabsichtigte Verursachung und die unbeabsichtigte Verursachung und befindet den Urheber damit für verantwortlich bzw. für nicht verantwortlich für die Tat. Aber erst mit der Differenzierung verschiedener Grade der Absicht oder der motivationalen Beteiligung an der Tat können auch verschiedene „Grade von Verantwortlichkeit“ zugesprochen werden. Das Strafrecht unterscheidet zunächst Vorsatz und Fahrlässigkeit und ordnet diesen die Schuldformen der Vorsatzschuld und der Fahrlässigkeitsschuld zu.169 Vorsatz und Fahrlässigkeit lassen sich jeweils in weitere „Dispositions166 Der Schritt von der Erfolgshaftung zur Schuldhaftung wird im Spätmittelalter verortet, vgl. z. B. Gmür/Roth 2011, RN 214, S. 92; s. auch Kapitel 2.4.1 Die rechtshistorische Bedeutung des Schuldprinzips. 167 Vgl. z. B. Wootton 1981, S. 46; s. auch Kapitel 2.4.2  Die Kritik am Schuldprinzip: das strikte Präventionsmodell Barbara Woottons. 168  Hassemer 1983, S. 96. 169 Vgl. Wessels / Beulke /Satzger 2013, RN 143, S. 56. Die Systemkategorie Schuld stammt historisch aus der Unterscheidung von Vorsatz und Fahrlässigkeit. Im römischen Recht wurde zwischen dolus (List, Täuschung) und culpa (Schuld) unterschieden, um die zwei Arten der Zurechnung zu bezeichnen. Dolus ist der Vorsatz und culpa die Verschuldung, für die sich später der Begriff der Fahrlässigkeit durchsetzt (vgl. Achenbach 1974, S. 20). Vorsatz und Fahrlässigkeit haben sich weiterentwickelt zu Verhaltensformen und stellen im aktuellen deutschen Strafrecht Tatbestandsmerkmale dar – im Unterschied zu den Schuldmerkmalen. Tatbestandsmerkmale beschreiben, inwieweit eine Tat „objektiv strafwürdiges Unrecht ist, was ‚an sich‘ bei Strafe nicht geschehen soll“ (vgl. Naucke 2002, S. 252, Hervorhebung nicht übernommen). Schuldmerkmale hingegen zeigen an, ob das objektiv festgestellte Unrecht dem Täter auch

140

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

begriffe“170 als Zwischenstufen ausdifferenzieren: Beim Vorsatz wird die Absicht, der unmittelbare Vorsatz (dolus directus) und der mittelbare Vorsatz (dolus eventualis) unterschieden, bei der Fahrlässigkeit die unbewusste Fahrlässigkeit und die bewusste Fahrlässigkeit. Anhand des Holzfällerbeispiels lassen sich die verschiedenen Stufen explizieren und verdeutlichen:171 (1) Hat der Holzfäller H den zielgerichteten Erfolgswillen, dass eine bestimmte Person P beim Fällen des Baumes zu Schaden kommt, und hält H den Erfolg seines Planes für sicher oder möglich, so spricht das Strafrecht von Absicht bzw. von dolus directus 1. Grades. (2)  Weiß H oder ist er sich sicher, dass P durch sein Handeln zu Schaden kommen wird, obwohl H den Erfolg, also den Eintritt des Schadens, zwar nicht zwangsläufig beabsichtigt, aber als notwendige und sichere Folge in Kauf nimmt, so spricht das Strafrecht von einem direkten (unmittelbaren) Vorsatz bzw. von dolus directus 2. Grades. (3) Hält H es für ernstlich möglich, dass P durch sein Handeln zu Schaden kommen kann (Erfolg ist aber nicht beabsichtigt), und findet er sich damit ab, d. h. nimmt er den für möglich gehaltenen Erfolg billigend in Kauf, so spricht das Strafrecht von Eventualvorsatz (mittelbarem Vorsatz) bzw. von dolus eventualis. (4) Ist sich H nicht bewusst, dass P durch sein Handeln zu Schaden kommen kann (und beabsichtigt den Erfolg nicht), verwirklicht aber den Erfolg, ohne dies zu erkennen, da er die gebotene Sorgfalt außer Acht lässt, so spricht das Strafrecht von unbewusster Fahrlässigkeit. (5) Hält H es für möglich, dass P durch sein Handeln zu Schaden kommen kann (und beabsichtigt den Erfolg nicht), aber vertraut pflichtwidrig darauf, dass er den Erfolg nicht verwirklichen wird, so spricht das Strafrecht von bewusster Fahrlässigkeit, wenn der Erfolg eintritt. Obwohl der Erfolg der Tat immer derselbe ist (Person P kommt zu Schaden), zeigen die verschiedenen Fälle, dass die Frage nach der kausalen Verursachung, nach dem objektiven Erfolg, nicht ausreichend ist. Zu klären ist immer auch die innere Beteiligung an der Tat, die Frage nach der Absicht bzw. dem Vorsatz des subjektiv zugerechnet werden kann. Bis heute diskutiert die Strafrechtsdogmatik, ob Vorsatz und Fahrlässigkeit Verhaltens‑ oder Schuldformen darstellen. Weitgehend übereinstimmend wird diesen eine Doppelfunktion zugewiesen: „[M]it den Begriffen ‚Vorsatz‘ und ‚Fahrlässigkeit‘ [werden] im Gesetz nicht nur zwei unterschiedliche Verhaltensformen, sondern zugleich zwei verschiedene Schuldformen bezeichnet […], von denen ‚Vorsätzlichkeit‘ iSv Vorsatzschuld die höhere und ‚Fahrlässigkeit‘ iSv Fahrlässigkeitsschuld die geringere Schuldstufe darstellt“ (Wessels / Beulke/ Satzger 2013, RN 143, S. 56 f., Hervorhebungen im Original). Für die Diskussion um das bislang Dargestellte zeigt auch der Blick in diese Auseinandersetzung, dass die Feststellung eines objektiv erkennbaren Unrechts (kausale Verursachung) zwangsläufig um die Frage nach der subjektiven Zurechnung (Dafür-Können) zu ergänzen ist. Die Diskussion zeigt auch, wie eng diese zusammenhängen. 170  Hassemer 1990, S. 219. 171  Vgl. im Folgenden Wessels / Beulke/ Satzger 2013, RN  210–237, S. 87–95 und RN  661, S. 272.

3.4 Die Dimensionen des Schuldprinzips

141

Täters. Diese Betrachtungsweise gelange erst mit dem Schuldmerkmal in das Strafrecht und es gebe zu ihr, so das Fazit Hassemers, keine Alternative: Eine andere Betrachtungsweise würde „weit hinter den Differenzierungen zurückbleiben, die schon unsere Alltagskultur in den Mechanismen von Beschuldigung und Entschuldigung entwickelt hat“.172 Denn streicht man den Aspekt des „DafürKönnens“ aus der strafrechtlichen Beurteilung, bleibt nur die Feststellung der Urheberschaft. Dem entspricht die strafrechtliche Beurteilung der Erfolgshaftung, bei der sich der Verursacher strafbar macht, unabhängig von seiner Absicht.173 Die Stufen innerer Beteiligung am äußeren Geschehen seien, so Hassemer, sowohl phänomenologischer wie normativer Art.174 Eine Tat, die gezielt ausgeführt worden sei, unterscheide sich materiell von einer Tat, die ungewollt (wenngleich fahrlässig) begangen worden sei – auch wenn das, was verursacht worden sei, der Erfolg, identisch sei. Dieser materielle Unterschied bedinge wesentlich eine qualitative und damit normative Differenzierung, bzw. die normative Differenzierung spiegle den materiellen Unterschied wider. Erst die Differenzierung der motivationalen Beteiligung an der Tat  – die Unterscheidung von Vorsatz und Fahrlässigkeit und deren Zwischenstufen – ermöglichten daher die Bestimmung der subjektiven Schuld und die Bemessung der entsprechenden strafrechtlichen Sanktion: Vorsatz und Fahrlässigkeit entscheiden positiv über die Möglichkeit subjektiver Zurechnung. Nur wenn eine dieser Voraussetzungen vorliegt, kann ein objektives Geschehen (wie der Tod eines Menschen) für eine Person eine Strafrechtsfolge begründen (wie Freiheitsstrafe wegen Totschlags).175

Die Stufen der inneren Beteiligung stellten damit, so Hassemer, das positive Merkmal des Schuldprinzips dar, das im Strafgesetzbuch nicht explizit genannt sei: Schuldig sei, wer „wußte und auch wollte, was er da tat (Vorsatz), oder […] die von ihm verwirklichten Ereignisse, wenn er sie schon nicht übersah und nicht wollte, wenigstens hätte voraussehen und vermeiden können (Fahrlässigkeit)“.176 Aufgrund der Prüfung, ob Vorsatz oder Fahrlässigkeit vorlägen und ob sowohl das Wissen als auch das Wollen des Täters in Bezug auf seine Tat zu bejahen seien, könne, so Hassemer, die Frage entschieden werden, ob dem Täter die Schuld an der Tat persönlich zugerechnet werden könne. Die vierte und letzte Dimension des Schuldprinzips, die Verhältnismäßigkeit von Strafrechtsfolgen, so Hassemer, „ziehe […] die Konsequenzen aus der

172 Hassemer 1983, S. 97; vgl. die Argumentation Strawsons (Kapitel 3.2.4 Das Erklärungsmodell von Peter F. Strawson). 173  Vgl. die Darstellung in Kapitel 2.4.2 Die Kritik am Schuldprinzip: das strikte Präventionsmodell Barbara Woottons. 174  Hassemer 1983, S. 97. 175  Hassemer 1990, S. 214. 176 Hassemer 1990, S. 214 (Hervorhebungen im Original).

142

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

Unterscheidung von Stufen innerer Beteiligung“.177 Diese Dimension liefere damit keine Beschreibung mehr dafür, was unter subjektiver Zurechnung zu verstehen sei, sondern treffe eine Aussage darüber, wie die Strafrechtsfolge zu bemessen sei. Folglich weist Hassemer diese Dimension bereits der Ebene der Strafbemessung178 zu: „Wer sich zu einer Unterscheidung von Stufen innerer Beteiligung entschließt, hat die Strafrechtsfolgen zu diesen Unterschiedlichkeiten in ein Verhältnis zu bringen.“179 Wenn Vorsatzschuld und Fahrlässigkeitsschuld und entsprechende Zwischenstufen unterschieden würden, sei diese Differenzierung auch in der Bemessung der Strafhöhe zu berücksichtigen. Die Sanktion sei in einem angemessenen Verhältnis zu der subjektiven Zurechnung zu bemessen. Genau dies besagt § 46 StGB: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe.“ Die Analyse Hassemers zeigt, dass das Schuldprinzip zwei Annahmen voraussetzt: Strafrechtlich schuldig ist, wer eine rechtswidrige Tat 1) kausal verursacht hat und 2) dem auch eine innere Beteiligung an der Tat zugeschrieben werden kann. Der Aspekt der kausalen Verursachung wird als unstrittig betrachtet und daher in der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion nicht weiter problematisiert.180 Der Aspekt des Dafür-Könnens hingegen steht in der Diskussion um die Freiheit des Willens und um die Relevanz dieser Debatte für das deutsche Schuldstrafrecht im Fokus und wird dabei generell in Frage gestellt. Ein aktueller Angriffspunkt der Kritiker ist des Weiteren die Schuldunfähigkeit (§§ 19, 20, 21 StGB).181 Die Regelungen bezüglich einer möglichen Schuldunfähigkeit gehören zu den im Strafgesetzbuch genannten Schuldausschließungs‑ und Entschuldigungsgründen. Die Prüfung der strafrechtlichen Schuld erfordert die Prüfung der negativen, also schuldausschließenden Merkmale. Diese klären, ob Gründe bei der Tat vorgelegen haben, die entweder dazu führen, dass kein Schuldvorwurf erhoben werden kann, oder dass der Täter zu entschuldigen ist. Erst das Zusammenspiel des implizit vorhandenen positiven Schuldmerkmals und der im Strafgesetzbuch explizit genannten schuldausschließenden oder entschuldigenden 177

 Hassemer 1983, S. 99. 1983, S. 99. 179 Hassemer 1983, S. 99 f. 180  Zwar gibt es ebenfalls eine intensive strafrechtswissenschaftliche Auseinandersetzung darüber, wie der Kausalzusammenhang zwischen der Handlung und dem Erfolg zu definieren und abzugrenzen ist, was wiederum für die Erfolgszurechnung und damit für die strafrechtliche Haftung von grundlegender Bedeutung ist. Während jedoch der Aspekt des Dafür-Könnens bei der Diskussion um die Freiheit des Willens generell in Zweifel gezogen wird, so ist hingegen der Aspekt der Kausalität bzw. der Kausalverursachung an sich unumstritten. „Der Erfolg sollte einem Menschen immer dann, aber auch nur dann (objektiv) zugerechnet werden können, wenn man sagen konnte, dass er ihn verursacht habe. Damit hing alles weitere [die Erfolgszurechnung, J. E.-S.] davon ab, wie man die Kausalität ihrerseits definiert.“ Stratenwerth 2011, RN 16 ff., S. 77 ff. (Hervorhebung im Original); vgl. einführend auch Wessels/Beulke/Satzger 2013, RN 156 ff., S. 61 ff. 181 Vgl. Kapitel 3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus. 178 Hassemer

143

3.5 Das positive Schuldmerkmal

Merkmale bilden zusammen die Grundlage für die subjektive Zurechnung der strafrechtlichen Schuld. Für die Frage nach der Relevanz der Willensfreiheitsdiskussion für das Schuldstrafrecht ist daher sowohl eine genaue Analyse des positiven Schuldmerkmals als auch der negativen Schuldmerkmale erforderlich.

3.5 Das positive Schuldmerkmal Das Strafrecht zieht nicht nur die zwei Möglichkeiten – „beabsichtigt“ und damit verantwortlich oder „unbeabsichtigt“ und damit nicht verantwortlich – in Betracht, sondern unterscheidet verschiedene Dispositionen des Täters gegenüber seiner Tat. Zunächst unterscheidet das Strafgesetz die Modi „Vorsatz“ und „Fahrlässigkeit“. § 15 des Strafgesetzbuchs definiert: „Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht.“ Diese Norm verweist implizit auf das positive Merkmal des Schuldprinzips. Schuld kann somit positiv festgestellt werden bei vorsätzlichem Handeln und in definierten Fällen von fahrlässigem Handeln.182 Die zwei Modi „vorsätzliches Handeln“ und „fahrlässiges Handeln“ sind zudem in weitere Stufen aufgegliedert, die oben anhand des Holzfällerbeispiels expliziert wurden. Dabei sind zwei Aspekte ausschlaggebend: Das Wollen und das Wissen des Handelnden H hinsichtlich des Erfolges E seiner Handlung.183 Aus dem Verhältnis von Wollen und Wissen zum Zeitpunkt der Tat ergeben sich die verschiedenen Erscheinungsformen der Disposition des Täters zu seiner Tat: Erscheinungsform

Willenselement

Wissenselement

Absicht

H beabsichtigt E

H weiß, dass E (wahr­ scheinlich) eintreten wird

Unmittelbarer Vorsatz

H nimmt E in Kauf

H weiß, dass E (wahr­ scheinlich) eintreten wird

Mittelbarer Vorsatz

H nimmt E in Kauf

H hält es für möglich, dass E eintreten kann

Unbewusste Fahrlässigkeit H beabsichtigt E nicht, aber handelt leichtfertig (ohne die gebotene Sorgfalt)

H weiß nicht, dass E eintreten wird

Bewusste Fahrlässigkeit

H hält es für möglich, dass E eintreten kann

182

H beabsichtigt E nicht und vertraut auf das Ausbleiben von E

 Zum Beispiel definiert § 229 des StGB die fahrlässige Körperverletzung als strafrechtlich schuldhafte Handlung, die mit Sanktionen belegt wird: „Wer durch Fahrlässigkeit die Körperverletzung einer anderen Person verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ 183  Die Rechtsprechung unterscheidet „ein Willens‑ und ein Wissenselement“, vgl. Wessels/ Beulke/Satzger 2013, RN 203, S. 85, Hervorhebungen im Original.

144

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

Eine Handlung, die das Strafrecht als Absicht wertet, muss somit zwei Aspekte aufweisen: Sie muss beabsichtigt gewesen und im Wissen über den Eintritt des Erfolges vollzogen worden sein. Der Täter wollte und wusste, was er tat. Der Täter ist damit für diese Handlung voll verantwortlich, seine Schuld an der Tat steht fest (wenn keine Schuldausschließungs‑ oder Entschuldigungsgründe greifen). Bei den anderen Stufen werden dann sowohl Abschwächungen auf der Seite des Wollens als auch auf der des Wissens verzeichnet und auf diese Weise verschiedene Grade von Schuld unterschieden. Die Disposition des Täters gegenüber seiner Tat wird somit in kognitiver bzw. intellektueller und in voluntativer Hinsicht untersucht.184 Hinsichtlich der Frage nach der Definition von strafrechtlicher Schuld lässt sich also auf die Vorsatzschuld185 als (implizit zugrundeliegende positive) Aussage übertragen: Strafrechtlich schuldig ist, wer den Erfolg wollte und wusste, dass dieser eintreten würde.186 Entsprechend dieser Annahme ist der Täter nach § 20 schuldunfähig, wenn seine Einsichtsfähigkeit (kognitive Disposition) oder seine Steuerungsfähigkeit (voluntative Disposition) zum Tatzeitpunkt beeinträchtigt war.187 Für die Zurechnung von Schuld gilt damit, dass eine bestimmte Disposition des Täters gegenüber seiner Handlung bestehen muss. Das Schuldmerkmal fragt danach, ob der Täter zum Zeitpunkt der Tat wollte und wusste, was er tat. Diese Voraussetzung ist, auch wenn sie nicht als positive Definition im Strafgesetzbuch benannt wird, die Grundlage der strafrechtlichen Schuldzuschreibung.188 Die Bedeutung von Hassemers Analyse der Dimensionen des Schuldprinzips ist, dass diese die wesentliche Leistung dieses Prinzips deutlich macht: (1) Grundlegende strafrechtliche Differenzierungen gelangen erst mit dem Schuldmerkmal in das Strafrecht, (2) diese Differenzierungen bauen auf Differenzierungen unserer sozialen Praxis des Beurteilens von Handlungen auf und (3) Schuld und Verantwortung sind direkt aufeinander bezogen, denn erst die Unterscheidung verschiedener Modi der inneren Beteiligung189 des Täters an der Tat, also das je unterschiedliche Zusammenspiel von Willens‑ und Wissenselement, machen es möglich, Grade von Verantwortung zu differenzieren und entsprechend die Schwere der Schuld zu beurteilen. Zwei Beispiele können dies verständlich machen. Fall A: Ein Autofahrer fährt mit 30 km/h durch eine Spielzone, in der Tempo 30 gilt. Ein Kind rennt plötzlich vor das Auto und wird verletzt. Weitgehend übereinstimmend würden wir in Fall A dem Fahrer keine Schuld zusprechen, obwohl er die Verletzung des Kin184

 Vgl. bspw. Hirsch 1994, S. 747. Fußnote 169 zur Betrachtung von Vorsatz und Fahrlässigkeit als Verhaltensform und Schuldform, S. 139 f. 186  Vgl. das Urteil des Bundesgerichtshofes (BGHSt 1964, Bd. 19, S. 298): „Vorsatz ist Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner Tatumstände.“ 187  Vgl. Kapitel 3.6.3 Die Schuldunfähigkeit. 188  Vgl. Hassemer 1990, S. 214. 189 Ausdruck nach Hassemer 1983, S. 96. 185 Vgl.

3.5 Das positive Schuldmerkmal

145

des mit seinem Auto verursacht hat. Fall B: Ein Autofahrer fährt mit 60 km / h durch eine Spielzone, in der Tempo 30 gilt. Ein Kind rennt plötzlich vor das Auto und wird verletzt. Auch in Fall B würden wir dem Fahrer zwar keine Absicht, aber zumindest Fahrlässigkeit vorwerfen, da er sich nicht an die vorgegebene Geschwindigkeitsbegrenzung gehalten hat, und ihm einen bestimmten Grad von Verantwortung und damit von Schuld zusprechen. Eine weitere grundlegende Unterscheidung für unser Urteil würde sich aus der Frage ergeben, ob der Fahrer das Temposchild übersehen (Verletzung der Sorgfaltspflicht) oder aber gesehen und somit bewusst missachtet hat. Die Analyse und die Bewertung des Strafrechts fallen analog zu diesen Überlegungen aus (unbewusste Fahrlässigkeit/ bewusste Fahrlässigkeit). Auch Strawson zeigt in seinem Argumentationsmodell auf, dass strafrechtliches (stellvertretendes) Urteilen auf der alltäglichen sozialen Praxis aufbaut. Und auch in seiner Analyse spielt die „Absicht“ eine zentrale Rolle, auch wenn Strawson dieses Moment nicht explizit benennt. Denn die Haltung (reaktiv / nicht-reaktiv) gegenüber einer Handlung hängt wesentlich von der Absicht des Handelnden ab. War die verletzende Handlung einer Person tatsächlich beabsichtigt, so fällt die Reaktion missbilligend aus und zieht im stellvertretenden Bereich des Strafrechts Sanktionen nach sich. War die verletzende Handlung jedoch nicht beabsichtigt, sondern erfolgte aus einem Versehen, aus einem Irrtum oder aufgrund einer krankhaften Verfassung des Handelnden, ist die Reaktion nicht missbilligend und die Tat wird mit Nachsicht beurteilt. Hier zeigt sich die Parallele von Strawsons Darstellung zu der Differenzierung des Schuldprinzips, die Hassemer analysiert hat: Die Kenntnis von der Verursachung einer Handlung sagt noch nichts über die tatsächliche Absicht des Handelnden aus. Erst auch die Frage nach der Absicht macht die Beurteilung einer Handlung möglich. Das Strafrecht hinterfragt die Absicht aufgrund der Unterscheidung des Wissens‑ und des Willenselementes (kognitive und voluntative Fähigkeit) und einer entsprechenden Differenzierung verschiedener Kombinationen dieser Elemente. In der Debatte um die Frage nach der Freiheit des Willens und ihrer Relevanz für das Schuldstrafrecht steht aber gerade die Annahme der voluntativen – also der den Willen betreffenden  – Fähigkeit des Menschen zur Diskussion. Aufgrund der Problematik der Willensfreiheitsdebatte, so die Schlussfolgerung, sei die Möglichkeit des Zusprechens von Verantwortung und Schuld zu hinterfragen bzw. zu überdenken. Betrachtet man jedoch die verschiedenen Modi, die das Strafrecht differenziert, genauer, so wird deutlich, dass das Strafrecht nicht die voluntative Fähigkeit im Sinne einer Freiheit von den unseren Willen in naturgesetzlicher bzw. neurobiologischer Hinsicht determinierenden Faktoren meint. Zur Verdeutlichung kann eine konkrete Handlung (eine Person A verletzt eine Person B mit einem Stein) entsprechend der strafrechtlichen Differenzierungen des Willens‑ und Wissenselementes modifiziert werden:

146

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

Erscheinungsform

Willens‑ und Wissenselement

Absicht

Beispiel: A wirft B aus einem Hinterhalt gezielt einen Stein an den Kopf, um diesen zu verletzen. Er trifft und verletzt ihn. Formel: A beabsichtigt den Erfolg (B wird verletzt) und weiß, dass der Erfolg (wahrscheinlich) eintreten wird. Bedeutung: A beabsichtigte B zu verletzen (Wille war vorhanden) und der Stein war so beschaffen, dass A wusste, er würde B damit auch verletzen können (Wissen war vorhanden).

Unmittelbarer Vorsatz

Beispiel: A und B streiten sich. A nimmt schließlich einen Stein, um B zu treffen und dadurch zu vertreiben. A trifft B am Kopf und verletzt ihn. Formel: A weiß, dass der Erfolg (wahrscheinlich) eintreten wird und nimmt den Erfolg in Kauf. Bedeutung: Der Stein war so beschaffen, dass A wusste, er würde B damit verletzen können (Wissen war vorhanden); doch er nahm dieses Risiko in Kauf, da er beabsichtigte, mit einem gezielten Wurf B zu vertreiben (Wille war nur unmittelbar vorhanden, da er B nicht verletzen, sondern vertreiben wollte).

Mittelbarer Vorsatz Beispiel: A und B streiten sich. A nimmt schließlich einen Stein, um B mit einem Wurf, nahe an seinem Kopf vorbei, zu vertreiben. Doch A trifft B versehentlich am Kopf und verletzt ihn. Formel: A hält es für möglich, dass der Erfolg eintreten kann, und nimmt den Erfolg in Kauf. Interpretation: A wusste, dass ein gezielter Wurf mit einem Stein nahe an einer Person vorbei diese möglicherweise auch treffen und verletzen könnte (Wissen war vorhanden); doch er nahm dieses Risiko in Kauf, da er beabsichtigte, B dadurch zu vertreiben (Wille war nur mittelbar vorhanden, da A nicht B treffen und verletzen wollte). Unbewusste Fahrlässigkeit

Beispiel: A und B bewerfen sich im Spiel mit kleinen Steinen. A weiß nicht, dass B Bluter ist. B wird durch einen Wurf von A verletzt, fängt heftig zu bluten an und muss in ein Krankenhaus gebracht werden. Formel: A beabsichtigt den Erfolg nicht und weiß nicht, dass der Erfolg eintreten kann, aber handelt ohne die gebotene Sorgfalt. Interpretation: A beabsichtigte nicht, B zu verletzen, und er wusste auch nicht, dass dieser Bluter ist und daher schneller gefährlich verletzt werden kann als andere Personen (Wille und für den Erfolg relevantes Wissen waren nicht vorhanden); aber A wusste, dass man andere generell nicht mit Steinen  – auch wenn diese klein sind  – bewerfen sollte, da man sie damit verletzten könnte (Sorgfaltspflicht wurde verletzt).

3.5 Das positive Schuldmerkmal

147

Erscheinungsform

Willens‑ und Wissenselement

Bewusste Fahrlässigkeit

Beispiel: A und B bewerfen sich im Spiel mit kleinen Steinen. A weiß, dass B Bluter ist, betrachtet die kleinen Steine aber als ungefährlich. B wird durch einen Wurf von A verletzt, fängt heftig zu bluten an und muss in ein Krankenhaus gebracht werden. Formel: A beabsichtigt den Erfolg nicht, hält es jedoch für möglich, dass dieser eintreten kann, vertraut aber auf das Ausbleiben des Erfolges. Interpretation: A beabsichtigte nicht, B zu verletzen, aber er wusste, dass dieser Bluter ist und daher schneller gefährlich verletzt werden kann als andere Personen, und er wusste, dass man andere generell nicht mit Steinen bewerfen sollte, da man sie verletzten könnte (Wille war nicht vorhanden, aber Wissen); doch A vertraute darauf, dass nichts passieren würde.

Die verschiedenen Beispielfälle der Handlung „A verletzt B mit einem Stein“ verdeutlichen, welchen Aspekt das Strafrecht im Rahmen des Willenselementes untersucht und bewertet. Es hinterfragt, wie die Absicht beschaffen sein muss, damit eine Handlung strafrechtlich relevant ist. Dafür definiert das Strafrecht „Variationen von Absicht“, die von der vollen Absicht über den unmittelbaren, den mittelbaren Vorsatz und die unbeabsichtigte, aber unbewusste Fahrlässigkeit bis hin zur unbeabsichtigten, aber bewussten Fahrlässigkeit reichen. Die konkrete Tat wird einer dieser Kategorien (Kombination von Willens-und Wissenselement) zugeordnet. Keine Rolle spielt bei dieser Analyse aber die Frage, ob der Handelnde in seiner Entscheidung zur Tat frei war, bzw. ob er auch hätte anders handeln können. Eine ergänzende Aussage über die Freiheit des Willens gäbe der strafrechtlichen Frage nach der Beschaffenheit der Motivation (absichtlich, in-Kauf-genommen, bewusst fahrlässig etc.) keine zusätzliche Auskunft. Eine absichtlich begangene Straftat, deren Absicht gemäß der neurobiologisch determinierten Abläufe im Gehirn zustande kam, stellt keine alternative Kategorie dar zu einer absichtlichen Straftat, deren Absicht aus freiem Willen, also frei von neurobiologischen Gesetzmäßigkeiten, geschah. Man kann unterschiedliche Stufen der Disposition eines Handelnden zu seiner Handlung unterscheiden, unabhängig davon, wie diese Dispositionen zustande gekommen sind (ob über durchgängig determinierte Prozesse oder als zumindest an einem Punkt freie Entscheidung). Daher ist es für das Strafrecht und sein Beurteilungssystem irrelevant, ob die Freiheit des Willens oder eine durchgängige Determiniertheit einmal empirisch bewiesen werden kann. Anders gesagt: Ein vorsätzlich ausgeführtes Unrecht stellt einen massiveren Straftatbestand dar als ein fahrlässig verursachtes Unrecht, da die innere Be-

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

teiligung des Handelnden190 bei einer vorsätzlichen Tat eine qualitative Veränderung gegenüber der inneren Beteiligung bei einer fahrlässig begangenen darstellt. Das Strafrecht betrachtet diesen Unterschied und bewertet entsprechend die Schwere der Schuld des Täters. Auch in dem Fall, dass die Disposition des Handelnden zu seiner Tat (seine innere Beteiligung) neurobiologisch und psychologisch vollständig determiniert zustande kommt, stellt das vorsätzliche Handeln gegenüber dem fahrlässigen Handeln einen qualitativen Unterschied dar. Somit beeinflusst die Überlegung, ob dafür dem Handelnden ein generelles Anders-handeln-Können möglich gewesen sein muss, die vom Strafrecht definierten Erscheinungsformen der Disposition des Handelnden zu seiner Tat nicht. Auch Tatjana Hörnle betrachtet diese strafrechtliche Unterscheidung als „soziale Bedeutung“, die nicht von der Diskussion um die Willensfreiheit tangiert werde: „Diese Bedeutung liegt bei absichtlichem Verhalten in der gezielten Infragestellung der Freiheitssphäre des anderen, während bei nur fahrlässigem Handeln diese Dimension fehlt.“191 Angenommen ein Strafrichter unserer Welt W 1 entdeckt, dass in der Welt W 2 dasselbe strafrechtliche Beurteilungssystem mit den identischen Dispositionsbegriffen verwendet wird, um Recht zu sprechen, wie er es von W  1 kennt. Zudem bemerkt er, dass in W 2 der empirische Nachweis gelungen ist, dass der Mensch keinen freien Willen hat, da alle seine Entscheidungen nach durchgängig determinierten Abläufen zustande kommen. In W  1 ist die Willensfreiheitsproblematik noch ungelöst und die Diskussion darüber beschäftigt auch das Strafrecht, denn Kritiker werfen seinem Beurteilungssystem vor, dass es den Indeterminismus voraussetze. Aufgrund seiner Erfahrungen in W  2 fällt dem Strafrichter nun auf, dass die Willensfreiheitsproblematik gar nicht von Relevanz für das Strafrecht ist. Denn die Dispositionsbegriffe (Absicht, unmittelbarer Vorsatz, unbewusste Fahrlässigkeit etc.) nehmen in W 1 und in W 2 dieselbe, für das Strafrecht sinnvolle und notwendige Unterscheidung vor, um die Tat einer Täterin oder eines Täters differenziert bewerten zu können. Die Zuordnung zu den strafrechtlich relevanten Stufen der inneren Beteiligung192 an der Tat, so die Erkenntnis des Strafrichters, ist unabhängig davon möglich und gültig, ob die Freiheit des Willens empirisch beweisbar ist oder nicht. Die strafrechtliche Frage nach der Disposition des Handelnden, nach seiner inneren Beteiligung an der Tat, erfolgt in einem grundsätzlich anderen Kontext als die generelle Frage nach der Willensfreiheit. Das Strafrecht nimmt eine Binnendifferenzierung der Disposition des Handelnden vor. Den differenzierten Kategorien ordnet es dann verschiedene Grade von Schuld und Strafe zu. Die Frage nach der Freiheit des Willens ist im Rahmen dieser Binnendifferenzierung 190

 Formulierung Hassemers 1983, S. 96.  Hörnle 2013, S. 56. 192 Ausdruck nach Hassemer 1983, S. 96. 191

3.6 Die negativen Schuldmerkmale

149

sinnlos und daher irrelevant. Vergleichbar dazu zieht auch Strawson in seiner Darstellung das Fazit, dass ein In-Frage-Stellen der interpersonalen und strafrechtlichen (stellvertretenden) Praxis aufgrund der These des Determinismus keinen Angriffspunkt finden kann. Auch er betrachtet den interpersonalen Bereich als ein Bezugssystem (framework)193, in dem die Willensfreiheitsdiskussion bzw. konkret die These des Determinismus irrelevant ist (useless/not rational)194.

3.6 Die negativen Schuldmerkmale Neben dem positiven Schuldmerkmal sind im Strafgesetzbuch negative Schuldmerkmale benannt. Diese definieren, wann einer Täterin oder einem Täter keine Schuld zugesprochen werden kann, und werden im Folgenden dargestellt. Erst die Darstellung der positiven und negativen Schuldmerkmale macht die Zusprechung von Schuld in strafrechtlicher Hinsicht vollständig deutlich. Im Wesentlichen sind drei negative Schuldmerkmale zu unterscheiden195: (1) Der Verbotsirrtum (§ 17 StGB), (2) die Abnormalität der Handlungssituation (§ 33 StGB Überschreitung der Notwehr und § 35 Entschuldigender Notstand) und (3)  die Schuld(un)fähigkeit (§ 19 StGB Schuldunfähigkeit des Kindes, § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen und § 21 Verminderte Schuldfähigkeit). Daneben gibt es auch „im Besonderen Teil [des Strafgesetzes, J. E.-S.], im Nebenstrafrecht und im übergesetzlichen Bereich Fälle ausgeschlossener Verantwortlichkeit“.196 Exemplarisch für die Frage nach der Zuschreibung von Schuld werden im Folgenden die drei wesentlichen Schuldausschließungsgründe betrachtet, die im Strafgesetzbuch mit § 17 Verbotsirrtum, § 35 Entschuldigender Notstand und § 20 Schuldunfähigkeit geregelt werden. In der strafrechtswissenschaftlichen Literatur werden teilweise Schuldausschließungs‑ und Entschuldigungsgründe differenziert.197 Zu den Schuldausschließungsgründen zählen a)  die Schuldunfähigkeit (§§ 19, 20, 21 StGB) und b)  der unvermeidbare Verbotsirrtum (§ 17 StGB). Hier fehlt ein schuldbegründendes Merkmal198, daher kann keine Schuld zugesprochen werden. Als Entschuldigungsgründe gelten c) Gründe, die aufgrund einer Abnormalität der Handlungssituation (§§ 33, 35 StGB) den Schuldgehalt der Tat so stark vermin193 Strawson

1974, S. 23.  Strawson 1974, S. 18. 195  Vgl. z. B. die Darstellung von Roxin 2006, RN 1 ff., S. 851 ff. 196 Roxin 2006, RN 1, S. 851. 197  Vgl. exemplarisch die Darstellung bei Lenckner/Sternberg-Lieben 2010, RN 108, S. 607 f. Vgl. auch Wessels / Beulke/Satzger 2013, RN 432, S. 168. 198 Wessels/ Beulke /Satzger 2013, RN 432, S. 168. 194

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

dern, dass „auf die Erhebung eines Schuldvorwurfs verzichtet“199 wird. Das Strafgesetz unterscheidet somit Handlungen, die zwar ein Unrecht, aber keine Schuld darstellen, von Handlungen, die eine schuldhaft begangene Tat darstellen, bei denen aber aufgrund von besonderen Umständen anerkannt wird, dass „die Befolgung der Sollensnormen der Rechtsordnung unmöglich […] oder sehr erschwert“ war.200 Sowohl bei einem als schuldunfähig betrachteten Täter „ist ein Schuldvorwurf von vornherein nicht möglich“, so die Darstellung bei Lenckner und SternbergLieben, als auch bei einem Täter, der sich iS [im Sinne, J. E.-S.] einer rein theoretischen Möglichkeit durch Ausschöpfung aller erdenklichen Erkenntnis‑ und Auskunftsmittel das erforderliche Wissen hätte verschaffen können, von ihm aber billigerweise nicht mehr, als er tatsächlich getan hat, erwartet werden konnte.201

Somit werden sowohl ein Täter, bei dem § 20 Schuldunfähigkeit greift, als auch ein Täter, der im Irrtum gehandelt hat (§ 17 Verbotsirrtum), nicht als schuldig betrachtet, ihnen wird keine Schuld zugesprochen. Davon wird der entschuldigende Notstand unterschieden, der eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung darstellt, jedoch unter bestimmten Umständen Nachsicht findet, was sich wiederum auf die Zumessung der strafrechtlichen Sanktionen auswirkt. Es handelt sich hier um „Situationen, in denen der Täter wegen einer außergewöhnlichen Konflikts‑ und Motivationslage die ‚Nachsicht der Rechtsordnung‘ findet“.202 Der Täter wird somit nicht als unschuldig betrachtet (die Tat wird ihm persönlich zugerechnet), aber aufgrund von ungewöhnlichen Umständen „entschuldigt“. Diese Unterscheidung findet auch Kritiker.203 Im Rahmen einer Analyse der strafrechtlichen Schuldidee ist diese Differenzierung jedoch sinnvoll, da ein Ausschluss der Schuld sich qualitativ von der Nachsicht gegenüber der Schuld (einer Entschuldigung) unterscheidet.

3.6.1 Der entschuldigende Notstand § 35 besagt zum entschuldigenden Notstand: Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld. Dies gilt nicht, soweit dem Täter nach den Umständen, namentlich weil er die Gefahr selbst verursacht hat oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen […]. 199

 Vgl. Wessels / Beulke / Satzger 2013, RN 432, S. 168. Wessels / Beulke / Satzger 2013, RN 433, S. 168. 201  Vgl. exemplarisch die Darstellung bei Lenckner / Sternberg-Lieben 2010, RN 108, S. 608. 202  Lenckner / Sternberg-Lieben 2010, RN 108, S. 608. 203 Vgl. exemplarisch Roxin 2006, RN 56 f., S. 877 f. 200 Vgl.

3.6 Die negativen Schuldmerkmale

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Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Eine Gruppe von drei Personen überfällt die Person A und fügt ihr schwere Körperverletzungen zu. Eine weitere Person B ist Zeuge dieser Tat und erkennt die Schläger. B wird vorgeladen, bei Gericht gegen die Täter auszusagen. Am Abend vor dem Gerichtsverfahren fangen ein paar Personen B vor seiner Wohnung ab und drohen, dass ihm das Gleiche passieren würde wie A, wenn er tatsächlich vor Gericht aussagen würde. Am nächsten Tag sagt B als Zeuge aus, er hätte nicht erkennen können, wer A überfallen habe, und beschwört seine bewusst wahrheitswidrige Aussage. Meineid wiederum gilt als Verbrechen und wird mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr geahndet.204 In der besonderen Situation des B, der aufgrund der Drohung keinen anderen Ausweg als den Meineid sah, greift aber § 35 StGB und seine Falschaussage wird als entschuldigender Notstand beurteilt.205 Die Gefahr, die die Drohung unmittelbar für das Leben und die Gesundheit des B bedeutet, gilt als Entschuldigungsgrund. Im Gegensatz zu einem Schuldausschließungsgrund ist hier von Bedeutung, dass der Täter sehr wohl als schuldfähig betrachtet wird, ihm wird die Schuld und damit die Verantwortung für seine Tat zugerechnet, sein Handeln wird jedoch aufgrund von besonderen Umständen entschuldigt. Der sich des Meineids schuldig machende B befindet sich in einer Konfliktlage, die unmittelbar seine eigene Gesundheit, im schlimmsten Fall sogar sein Leben betrifft. Er sieht aufgrund der Drohung keinen anderen Ausweg, als unter Eid falsch auszusagen. Diese besonderen Umstände finden die Nachsicht des Strafrechts. Die besonderen Umstände einer Situation sind auch in der Darstellung Strawsons die naheliegendsten Entschuldigungsgründe einer fehlgegangenen Handlung. Eine Tat, die normalerweise die Missbilligung und Verurteilung des Handelnden nach sich zöge, führe zu einer objektiven und entschuldigenden Reaktion der anderen, wenn besondere Umstände erklärten, weshalb die Handlung unvermeidlich gewesen sei. The offering of such pleas by the agent and their acceptance by the sufferer is something in no way opposed to, or outside the context of, ordinary inter-personal relationships and the manifestation of ordinary reactive attitudes. Since things go wrong and situations are complicated, it is an essential and integral element in the transactions which are the life of these relationships.206

Diese Reaktion sei, so Strawson, ein ganz normaler Mechanismus der interpersonalen Beziehungen. Dieser fände sowohl im alltäglichen Umgang als auch im 204 § 154 des StGB besagt zum Meineid: „(1) Wer vor Gericht oder vor einer anderen zur Abnahme von Eiden zuständigen Stelle falsch schwört, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.“ 205  Das Beispiel ist in abgewandelter Form entnommen aus Wessel/ Beulke/ Satzger 2013, RN 393, S. 154 und RN 444, S. 172. 206 Strawson 1974, S. 8.

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strafrechtlichen Beurteilen von Handlungen statt. Der Fall des entschuldigenden Notstands entspricht der Analyse, die Strawson in seiner Darstellung vornimmt. Diese Regelung verdeutlicht, dass die strafrechtliche Beurteilung von Schuld unserer alltäglichen sozialen Praxis entspricht und – im Kontext interpersonaler Beziehungen – auf plausiblen und erforderlichen Kriterien der Beurteilung basiert. Der Fall des entschuldigenden Notstands wird jedoch in der Debatte um die Relevanz der Willensfreiheit für das Strafrecht nicht problematisiert207 und daher auch an dieser Stelle nicht weiter vertieft.

3.6.2 Der Verbotsirrtum § 17 besagt zum Verbotsirrtum: Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Ein Beispiel zur Erläuterung208: Eine Frau, deren Mann sterbenskranker Patient in einem Pflegeheim ist, bespricht sich mit dem zuständigen Arzt und der betreuenden Pflegerin, wie es möglich sei, sein Leiden zu verkürzen. Der Gesundheitszustand des Mannes ist sehr schlecht, er wird mittels einer Magensonde künstlich ernährt, ist nicht mehr ansprechbar und reagiert kaum noch auf äußere Reize. Da aus medizinischer Sicht keine Besserung mehr in Sicht ist, schlägt der Arzt vor, die Ernährung einzustellen und den Patienten nur noch mit Flüssigkeit zu versorgen, was innerhalb von zwei Wochen zu einem schmerzlosen Tod führe. Auf die Nachfrage der Frau hin erklären der Arzt und die Pflegerin, dieses Vorgehen sei rechtlich abgesichert. Die Frau vertraut auf deren Aussage, stimmt dem Vorgehen zu und unterschreibt eine entsprechende Erklärung. Ihr Mann verstirbt zwei Wochen später. Sowohl die Frau, als auch die Pflegerin und der Arzt gingen davon aus, dass es sich bei ihrem Vorgehen um nicht strafbare passive Sterbehilfe handele.209 Der Tod des Mannes wird jedoch untersucht und der Tatbestand Tötung durch Unterlassen (§§ 212, 13 StGB) festgestellt. Im Fall der Ehefrau jedoch finden die besonderen Umstände die Nachsicht des Strafrechts. Es greift § 17 StGB Verbotsirrtum, denn sie hat sich bei dem Arzt und der Pflegerin informiert und war davon überzeugt, dass sie mit ihrem Handeln kein Unrecht begehe. Aber im Unterschied zum entschuldigenden Notstand stellt der Verbotsirrtum nicht einen Entschuldigungsgrund, sondern einen Schuldausschlussgrund 207

 Vgl. Kapitel 3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus. Beispiel ist in abgewandelter Form einem Universitäts-Repetitorium der HumboldtUniversität zu Berlin entnommen. 209  Die Rechtslage ist in Deutschland so geregelt, dass passive Sterbehilfe erlaubt, aber aktive Sterbehilfe strafbar ist. 208 Das

3.6 Die negativen Schuldmerkmale

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dar. Das heißt, das Strafrecht geht davon aus, dass dem Täter aufgrund seines Irrtums keine Schuld zugesprochen werden kann. Elementar für die Beurteilung des Verbotsirrtums ist, dass sich der Täter „durch Ausschöpfung aller erdenklichen Erkenntnis‑ und Auskunftsmittel das erforderliche Wissen hätte verschaffen können, von ihm aber billigerweise nicht mehr, als er tatsächlich getan hat, erwartet werden konnte“.210 Von einem Verbotsirrtum kann man demnach nur sprechen, wenn die Rechtsauskunft von einer verlässlichen Person eingeholt wurde. In dem konkreten Fall gelten der Arzt und die Pflegerin, da beide in diesem Bereich erfahren sind, als verlässliche Personen für die Auskunft. Die Frau vertraute auf deren fachliche Kompetenz und wusste nicht, dass sie einer aktiven Sterbehilfe (in Form von Tötung durch Unterlassen) zustimmte. Daher greift in ihrem Fall der Schuldausschlussgrund des Verbotsirrtums. „Er wusste nicht“ (“He didn’t know”211) zählt auch zu den Begründungen, die nach Strawson generell zur Nachsicht gegenüber dem Handelnden führen. Auch das Nichtwissen des Handelnden stellt eine besondere Situation dar, die uns anstelle von Missbilligung und Verurteilung eine objektive Haltung einnehmen und uns den Handelnden als unschuldig beurteilen lässt. Doch der Schuldausschlussgrund des Verbotsirrtums wird im Rahmen der Diskussion um die Freiheit des Willens und der Relevanz dieser Debatte für das Strafrecht ebenfalls nicht weiter problematisiert212, denn auch dieser Fall tangiert – wie der entschuldigende Notstand – nicht die Frage nach der Willensfreiheit des Handelnden. Zwar ist in diesem Fall eine der Bedingungen strafrechtlicher Schuld nicht gegeben: Der Verursacher wusste nicht, dass ein strafrechtlicher Erfolg eintreten würde bzw. der Erfolg von strafrechtlicher Bedeutung wäre. Doch dies betrifft das kognitive Element der strafrechtlichen Schuld, nicht das voluntative.

3.6.3 Die Schuldunfähigkeit Das Strafgesetz geht davon aus, dass der erwachsene Mensch, also der Mensch ab seinem 18. Lebensjahr, im Normalfall schuldfähig ist. Die Schuld des Kindes wird unter Angabe der Altersgrenze generell ausgeschlossen, seine Schuldunfähigkeit wird „unwiderleglich vermutet“.213 Die Schuldunfähigkeit des Kindes ist in § 19 StGB definiert: „Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist.“ Das Verhalten des Kindes wird von Strawson als ein weiterer plausibler Fall in den alltäglichen Beziehungen beschrieben, bei dem Menschen oft objektive Haltungen anstelle von reaktiven einnähmen. Als Beispiel wurde bereits ein Kind genannt, das beim Spielen ein anderes mit einer 210 Lenckner / Sternberg-Lieben

2010, RN 108, S. 608.  Strawson 1974, S. 7. 212  Vgl. Kapitel 3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus. 213 Perron 2010, RN 1, S. 367. 211

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

Schere verletzt. Dessen mangelhafte Rücksichtnahme würde nicht in demselben Maß missbilligt, wie dies bei einem erwachsenen Menschen der Fall wäre. Denn sein Verhalten wird entweder auf die noch fehlende Erziehung oder sogar auf eine Nachlässigkeit der anwesenden Erwachsenen zurückgeführt. Die Nachlässigkeit eines Kindes wird daher entschuldigt. Bei einem Jugendlichen hingegen ist es schwieriger, zu beurteilen, in welchem Maß Rücksichtnahme und Verantwortungsbewusstsein erwartet werden können. Auch kann sich die Reife eines Jugendlichen in dieser Hinsicht von der eines anderen gleichen Alters stark unterscheiden. Daher ist im Jugendgerichtsgesetz § 3 Verantwortlichkeit geregelt, dass die Schuld eines Menschen zwischen 14 und 18 Jahren im Einzelfall zu prüfen und festzustellen ist.214 Ab dem 18.  Lebensjahr nimmt das Strafgesetz jedoch generell an, dass der Mensch schuldfähig ist. § 20 und § 21 regeln, wann die Schuldfähigkeit des Erwachsenen in Frage steht und ggf. ausgeschlossen werden muss. § 20 StGB besagt zur Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen: Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

§ 21 des StGB besagt zur verminderten Schuldfähigkeit: Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

§ 20 und § 21, die nach der Schuldfähigkeit des Täters fragen, stehen im Gegensatz zu den Ausschlussgründen des entschuldigenden Notstands (§ 35 StGB) und des Verbotsirrtums (§ 17 StGB) im Fokus der Diskussion um die Willensfreiheit und der Relevanz dieser Debatte für das Strafrecht. Denn hier werden das kognitive (Einsichtsfähigkeit) und das voluntative Element (Steuerungsfähigkeit) der strafrechtlichen Schuld geprüft. Hinter diesen Regelungen steht der grundlegende Gedanke: „Vorwerfbar ist nur das, wofür der Täter willentlich etwas kann, nicht dagegen das, was er von Natur aus ist.“215 Doch nicht nur eine krankhafte neuronale Struktur, sondern generell die Architektur des Gehirns determinieren das Handeln des Menschen, so einige Forschungsergebnisse der Neurowissenschaft. „Keiner kann anders als er ist“, ist

214

 JGG § 3 besagt: „Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Zur Erziehung eines Jugendlichen, der mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist, kann der Richter dieselben Maßnahmen anordnen wie das Familiengericht.“ 215 Wessels/ Beulke / Satzger 2013, RN 401, S. 157.

3.6 Die negativen Schuldmerkmale

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daher bspw. die Folgerung des Neurowissenschaftlers Wolf Singer.216 Kritiker des Schuldprinzips stellen daran anknüpfend zur Diskussion, ob die Zurechnung von Schuld nicht generell zu überdenken sei. Daher ist im Folgenden zu analysieren, was § 20 (und § 21) StGB genau besagt. Die Prüfung der Schuldunfähigkeit erfolgt in zwei Schritten. Zunächst benennt § 20 als Eingangsmerkmale die Defektzustände (biologische Voraussetzungen), bei deren Vorliegen die Schuldunfähigkeit (oder entsprechend § 21 eine verminderte Schuldfähigkeit) zu prüfen ist. Dabei beschreiben die Eingangsmerkmale sowohl Merkmale, die durch eine körperlich-organische (somatische) Ursache hervorgerufen werden (krankhafte seelische Störung), als auch Merkmale, die keine erkennbare körperlich-organische Ursache haben (tiefgreifende Bewusstseinsstörung, schwere andere seelische Abartigkeit).217 Auf der Grundlage der Eingangsmerkmale ist in einem zweiten Schritt die Auswirkung des vorliegenden Defektes auf die Tat zu beurteilen. Hier wird nach (1)  der Einsichtsfähigkeit und (2)  der Steuerungsfähigkeit des Täters gefragt. Wenn es dem Täter aufgrund der Störung nicht möglich war, (1) das Unrecht der Tat einzusehen oder (2) nach dieser Einsicht zu handeln, dann muss dem Täter Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit zugesprochen werden. Demnach wird kein (oder nur ein verminderter) Schuldvorwurf erhoben, wenn entweder festgestellt wird, dass es dem Täter in der Tatsituation nicht möglich war, zu erkennen, dass die Tat gemäß den strafrechtlichen Normen als Unrecht qualifiziert ist oder, wenn es dem Täter in der Tatsituation nicht möglich war, gemäß dieser Normen zu handeln bzw. die Norm bei seinem Handeln umzusetzen. Wie bei dem positiven Schuldmerkmal fragt das Strafgesetz somit auch bei dem negativen (ausschließenden) Merkmal der Schuldunfähigkeit nach dem Wissen und dem Wollen des Täters und unterscheidet hinsichtlich der kognitiven und der voluntativen Fähigkeit des Handelnden. Als positives Schuldmerkmal gilt: Strafrechtlich schuldig ist, wer den Erfolg wollte und wusste, dass dieser eintreten würde.218 Entsprechend schließt § 20 bei den negativen Merkmalen der fehlenden Einsichtsfähigkeit (kognitive Fähigkeit) und/ oder der fehlenden Steuerungsfähigkeit (voluntative Fähigkeit) die Schuldfähigkeit des Täters aus. Schuldunfähig ist der Täter demnach, wenn ihm zum Zeitpunkt der Tat entweder die kognitive Fähigkeit fehlte (die Norm als solche oder ihrem Inhalt nach wurde nicht verstanden) oder die voluntative Fähigkeit nicht bestand (das Wollen, der Norm gemäß zu handeln, konnte nicht ausgebildet werden). Diese mangelnde innere Beteiligung (der Täter wusste nicht, was er tat oder konnte das Wollen, der Norm gemäß zu handeln, nicht ausbilden) muss wiederum, damit § 20 und § 21 greifen, auf die eingangs genannten biologischen Voraussetzungen 216

 Singer 2004, S. 63; vgl. Kapitel 3.2 Die Kritik (1): Neuro-Determinismus.  Vgl. exemplarisch Roxin 2006, RN 1 f., S. 886. 218 Vgl. Kapitel 3.5 Das positive Schuldmerkmal, S. 144. 217

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

zurückzuführen sein. Wenn eine der genannten biologischen Voraussetzungen die Ursache dafür ist, dass dem Täter die Einsichtsfähigkeit oder die Steuerungsfähigkeit fehlte, dann greift § 20 (oder § 21) und der Täter wird als schuldunfähig (oder vermindert schuldfähig) betrachtet. Die Ausnahmefälle, auf die sich § 20 und § 21 beziehen, entsprechen der zweiten Gruppe von Fällen, die nach Strawson dazu führen, dass Menschen im Umgang miteinander von ihren normalerweise reaktiven Haltungen dem anderen gegenüber zu einer objektiven Haltung wechselten. In diesen Fällen seien es nicht die Umstände, die eine reaktive Haltung zu einer nicht-reaktiven veränderten, sondern es ist die Konstitution des Handelnden, die die Haltung ihm gegenüber beeinflusse. Würden wir erkennen, dass die Konstitution des Handelnden moralisch unentwickelt oder psychisch gestört (morally undeveloped / psychologically abnormal219) sei, dann würden wir Taten entschuldigen, die wir normalerweise missbilligen und verurteilen würden. Dieser Mechanismus wirke sowohl in den alltäglichen interpersonalen Beziehungen als auch in den stellvertretenden Beziehungen, also dem Bereich der strafrechtlichen Beurteilung. Als Beispiel wurde bereits eine am Tourette-Syndrom erkrankte Person A genannt, die gegenüber einer anderen Person B aggressiv und handgreiflich wird. Auch wenn Person A Person B verletzen würde und damit der Tatbestand der Körperverletzung (§ 223 StGB) vorläge, so wäre der Täter  A aufgrund seiner Erkrankung schuldunfähig und fände die Nachsicht des Strafrechts. Je nachdem, wie groß die Gefahr wäre, die von der Erkrankung des A für andere ausginge, könnte der Täter im Rahmen der Maßregeln der Besserung und Sicherung220 in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden.221 Doch A wäre nicht strafrechtlich schuldig, seine Tat würde ihm nicht persönlich zugerechnet werden. Dieses Beispiel verdeutlicht den oben beschriebenen Ansatz der Kritiker des Schuldprinzips, die dieses insbesondere auf der Grundlage des neuronalen Determinismus als haltlos beschreiben. Die am Tourette-Syndrom erkrankte Person  A konnte nicht anders handeln, die Aggression war durch die bestimmte neuronale Architektur ihres Gehirns determiniert. Doch jede Handlung sei, so bspw. die Argumentation Gerhard Roths, durch die physiologischen Bedingungen des Handelnden determiniert. 219

 Strawson 1974, S. 8. StGB definiert als Maßregeln der Besserung und Sicherung: „1. die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, 2. die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, 3. die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, 4. die Führungsaufsicht, 5. die Entziehung der Fahrerlaubnis, 6. das Berufsverbot“. 221  § 63 besagt zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: „Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.“ 220 § 61

3.6 Die negativen Schuldmerkmale

157

In dem Maße, in dem sich die empirischen Evidenzen der Hirnforschung und der Psychologie gegen die Existenz eines solchen „Alternativismus“ verstärken, sind Strafrechtler gezwungen, über diesen Widerspruch nachzudenken und ihn aufzulösen zu versuchen.222

Die Alternative zum Schuldprinzip, für die Roth votiert, ist die Umformung des Strafrechts zu einem reinen Maßregelrecht, wie es im Falle der Person A greift, wenn diese eine bleibende Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Täter werden danach nicht deshalb bestraft, weil sie „mutwillig“ schuldig geworden sind, sondern weil sie gebessert werden sollen, falls dies möglich ist; andernfalls muss die Gesellschaft vor ihnen geschützt werden.223

Doch Strawsons Analyse der interpersonalen Beziehungen zeigt auf, dass hier ein wesentlicher Aspekt zu bedenken ist: Nicht die theoretische Möglichkeit – oder Wahrheit  – des Determinismus führe dazu, dass das Strafrecht in Ausnahmefällen von einem Schuldvorwurf Abstand nehme und den Handelnden als schuldunfähig betrachte oder sein Handeln entschuldige. Diese objektive Haltung werde nur eingenommen, wenn die Handlung durch bestimmte, außergewöhnliche Umstände zustande gekommen sei (wie eine besondere Situation der Handlung oder Konstitution des Handelnden). Ausnahmefälle des Handelns seien, so Strawson, insbesondere dann gegeben, wenn die Handelnden moralisch unentwickelt oder psychisch krank seien. Am Beispiel des Kindes zeigt Strawson auf, dass sich das Kind von einem Mitglied der interpersonalen Beziehungen, dem gegenüber nicht-reaktive Haltungen eingenommen würden, solange es für sein Handeln nicht verantwortlich gemacht werden könne, hin zu einem Mitglied entwickele, von dem verantwortliches Handeln erwartet werde. Diese Veränderung der Erwartung könne aber nicht damit begründet werden, dass das Kind auf der einen Entwicklungsstufe determiniert, auf einer späteren nicht mehr bzw. weniger determiniert handele. Would it not be grotesque to think of the development of the child as a progressive or patchy emergence from an area in which its behavior is in this sense determined into an area in which it isn’t?224

Ebenfalls grotesk wäre es, den Erwachsenen in gleichem Maße als für sein Handeln nicht verantwortlich zu betrachten, wie er als Kind für sein Handeln als nicht verantwortlich betrachtet wurde. Strawson bezieht sich in seiner Argumentation des Weiteren auf den Ausnahmefall des psychisch Kranken. Ein Psychologe, der versuche, das Verhalten eines psychisch Kranken dahingehend zu behandeln, dass dieser fähig werde, die Erwartungen, die die Gesellschaft an einen verantwortlich Handelnden stelle, zu erfüllen, und sein Handeln an bestimmten Regeln und Normen auszurichten – 222

 Roth 2004, S. 222; vergleichbar Singer 2004, S. 63 und Markowitsch 2004, S. 164.  Roth 2003 S. 541 f. 224 Strawson 1974, S. 19. 223

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

dieser Psychologe betrachte das durch die Krankheit beeinflusste Handeln nicht als determiniert in dem gleichen Sinn wie Kritiker der Willensfreiheit von einem generellen Determinismus sprächen. His objectivity of attitude [des Psychologen, J. E.-S.], his suspension of ordinary moral reactive attitudes, is profoundly modified by the fact that the aim of the enterprise is to make such suspension unnecessary or less necessary. Here we may and do naturally speak of restoring the agent’s freedom. […] And in this we see once again the irrelevance of that concept of ‘being determined’ which must be the central concept of determinism.225

Auch die in einer Therapie gelungene (teilweise) Behebung einer psychischen Störung kann in der Haltung gegenüber dem Patienten nicht einfach ignoriert werden. Erreicht ein Kind eine bestimmte Reife oder gelingt die Behandlung eines psychisch Kranken, so dass diese im Rahmen interpersonaler Beziehungen verantwortlich handeln können, dann liegt diese Veränderung nicht darin, dass ihr Handeln von einem determinierten Zustand in einen indeterminierten übergegangen ist. Die Veränderung liegt darin, dass sie aufgrund der erlangten Reife oder einer erfolgreichen Behandlung in die Lage kommen, die Erwartungen zu erfüllen, die Menschen generell in interpersonalen Beziehungen an das Handeln der anderen haben. Diese Entwicklung führt zwangsläufig zu einer entsprechenden Änderung in der Haltung der anderen ihnen gegenüber. Die von Strawson beschriebene Analyse der sozialen Praxis der Menschen ist meiner Ansicht nach zutreffend: Es ist eine alltägliche Erfahrung, dass andere nicht immer regelkonform handeln. Dieses Handeln wird missbilligt und verurteilt. Ebenfalls alltäglich ist die Erfahrung, dass es Ausnahmefälle gibt, wie die Unreife des Kindes, eine bestimmte entschuldigende Situation oder eine das Handeln beeinflussende psychische Erkrankung. Gibt es aber keine entschuldigenden Umstände dieser Art, dann wird der Handelnde sowohl im interpersonalen Bereich als auch in strafrechtlicher Hinsicht des Regelbruchs für schuldig erklärt. Denn Menschen betrachten sich in interpersonalen Beziehungen unter bestimmten Rahmenbedingungen als für ihr Handeln verantwortliche Adressaten. Wird diese Erwartung von einem Handelnden, der als verantwortliches Mitglied der interpersonalen Beziehungen betrachtet wird, nicht erfüllt, wird ihm die Schuld an seinem Handeln vorgeworfen.

3.7 Die Kritik (2): Verantwortung ohne persönliche Schuld Die Analyse der positiven und negativen Schuldmerkmale hat gezeigt, dass das strafrechtliche Schuldprinzip nicht durch den Verweis auf die Willensfreiheitsproblematik angreifbar ist. Unabhängig davon ist abschließend jedoch noch 225 Strawson

1974, S. 20 (Hervorhebungen im Original).

3.7 Die Kritik (2): Verantwortung ohne persönliche Schuld

159

einmal der Blick darauf zu richten, wie eine Alternative zum Schuldvorwurf aussehen könnte und ob diese tragfähig wäre. Gerhard Roth verwirft den Schuldvorwurf als Grundlage einer strafrechtlichen Verurteilung und argumentiert bspw. für ein strafrechtliches Konzept der „Verantwortung ohne Schuld“: Zu konstatieren bleibt der paradoxe Zustand, dass wir das Prinzip der persönlichen Verantwortung und der persönlichen Schuld und ihrer Begründung durch eine freie Willensentscheidung als wissenschaftlich nicht gerechtfertigt ablehnen müssen, dass aber gleichzeitig die Gesellschaft sehr wohl in der Lage sein muss, durch geeignete Erziehungsmaßnahmen ihren Mitgliedern das Gefühl der Verantwortung für das eigene Tun einzupflanzen, und zwar nicht aufgrund freier Willensentscheidung, sondern aus der durch Versuch und Irrtum herbeigeführten Einsicht heraus, dass ohne ein solches Gefühl der Verantwortung das gesellschaftliche Zusammenleben nachhaltig gestört ist. Die Erzeugung dieses Gefühls der Verantwortung ist demnach eine Aufgabe, die jeder von uns – auch unfreiwillig – zu übernehmen hat. In diesem Sinne kann es Verantwortung ohne persönliche Schuld geben.226

Damit löst Roth die Verbindung von Schuld und Verantwortung, die sich bei der Ausdifferenzierung des Schuldprinzips in strafrechtlicher Hinsicht als grundlegend erwiesen hat.227 Die Stellungnahme zeigt aber auch, dass Roth auf die Verantwortung des Einzelnen als wesentliche Grundlage des Zusammenlebens nicht verzichten kann. Er ist der Ansicht, das Funktionieren der Gesellschaft beruhe darauf, dass Normen das Zusammenleben regelten und die Gesellschaft davon ausgehen könne, dass die einzelnen Mitglieder dazu fähig seien, diese Normen zu verstehen und in ihrem Handeln umzusetzen. Um diese Ansicht wiederum mit seiner Kritik an der Annahme von Willensfreiheit vereinbar zu machen, konstatiert Roth eine Verantwortung ohne persönliche Schuld. Doch wie ist das Konzept „Verantwortung“ denkbar ohne das der „Schuld“? Roth geht davon aus, dass es Aufgabe des Strafrechts sei, durch „geeignete Erziehungsmaßnahmen“ das Verhalten der Täter so zu konditionieren, dass es in Zukunft nicht mehr gegen die Norm, sondern normgemäß erfolge. Entsprechend deterministischer Gesetzlichkeiten sollte das normgemäße Verhalten und ein „Gefühl der Verantwortung“ anerzogen werden. Diese Argumentation zeigt das Modell eines Strafrechts ohne Schuldbegriff auf: das eines Präventionsstrafrechts. Sie zeigt jedoch auch einen falsch verstandenen Begriff von Verantwortung auf: Verantwortung zu haben impliziert, zur Verantwortung gezogen zu werden. Hält sich der Einzelne nicht an die gesetzte Norm, so zieht ihn die Gesellschaft zur Verantwortung. Er wird als für die Tat verantwortlich und damit des Verantwortungsmissbrauchs schuldig betrachtet. Das Konzept „Verantwortung“ (Verantwortung zu haben) ist nicht denkbar ohne die Forderung an den Einzelnen, diese auch in seinem Handeln zu realisieren. Die Nichterfüllung der Verantwortung fordert wiederum eine entsprechende Reaktion. Denn bliebe diese Re226

 Roth 2003, S. 544 (Hervorhebung im Original). Kapitel 3.4 Die Dimensionen des Schuldprinzips, S. 137 ff.

227 Vgl.

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

aktion aus, wäre das Konzept der Verantwortung unvollständig. Dem Einzelnen würde Verantwortung zugesprochen, er würde aber nicht zur Verantwortung gezogen. Erst die Zurechnung von Schuld als Reaktion auf den Missbrauch von Verantwortung macht das Konzept „Verantwortung“ vollständig. Zudem folgen aus dem Verantwortungsbegriff bestimmte Anforderungen an die strafrechtliche Reaktion: Da eine freiheitliche Gesellschaftsordnung wesentlich auf der Mitverantwortung des Einzelnen basiert, hat die Gesellschaft wiederum eine Verantwortung gegenüber einem Normbrecher bei der Ausgestaltung der Strafsanktion. Das bedeutet einerseits, dass dem Straftäter seine Mitverantwortung weiter kommuniziert und möglich gemacht werden sollte.228 Dies ist bspw. im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs möglich. Andererseits impliziert dieser Zusammenhang auch eine entsprechende Aufforderung an das Strafrecht, die Strafsanktion schuldangemessen zu gestalten.229 Diese Aspekte der Mitverantwortung des Täters sind zentrale Inhalte des Schuldprinzips, sie sind weder im Präventionsgedanken präsent noch aus diesem ableitbar. Sprichwörtlich sind Schuld und Verantwortung zwei Seiten einer Medaille. Verantwortung wird erst real durch das Konzept der „persönlichen Schuld“. Ihr Zusammenwirken ist dem Schuldprinzip inhärent, wie die Analyse seiner Dimensionen gezeigt hat. Eduard Dreher formuliert dieses Verhältnis dementsprechend: „Schuld ist das Belastetsein mit der Verantwortung für eine rechtswidrige Tat.“230 Auch Tatjana Hörnle verwirft den klassischen Schuldvorwurf und argumentiert, dass die aktuelle Strafrechtspraxis allein an einem „personalisierten Unrechtsvorwurf“ anknüpfbar sei, ohne dass zur Begründung der Strafsanktion auf die Schuld des Täters verwiesen werden müsse.231 Die Aussage des Vorwurfes beinhalte vielmehr, so Hörnle, „dass der Täter für die Rechtsverletzung verantwortlich ist“.232 Zwar unterscheidet sich die Position Hörnles wesentlich dadurch, dass sie die Strafbegründung retributiv verankert und nicht für die Umgestaltung des Strafrechts zu einem präventiv ausgerichteten Maßregelrecht argumentiert. Aber auch sie ist der Ansicht, dass „Verantwortlichmachen“ ohne Schuldvorwurf möglich ist.233 Die Zuschreibung von Verantwortung hat notwendigerweise, so Hörnle weiter, den von ihr konzipierten personalisierten Unrechtsvorwurf zu ergänzen.234 228 Vgl. dazu die Straftheorie von Pawlik 2004 (a), S. 88 ff.; dargestellt in Kapitel 2.5.4 Die freiheitstheoretische Vergeltungstheorie Michael Pawliks, S. 75 ff. 229  Vgl. Stratenwerth 1977, S. 49 und Kapitel 2.4.4 Die unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik, S. 58. 230  Dreher 1992, S. 19. 231  Hörnle 2013, S. 50; vgl. die Darstellung der Kritik Hörnles am Schuldprinzip in Kapitel 2.3 Die Kritik an der Vergeltungstheorie und am Schuldprinzip, S. 35 f. 232  Hörnle 2013, S. 49. 233  Hörnle 2013, S. 49. 234 Hörnle 2013, S. 55.

3.7 Die Kritik (2): Verantwortung ohne persönliche Schuld

161

Als wesentliche Funktion der Verantwortungszuschreibung beschreibt Hörnle wiederum genau die Dimension, die erst mit dem Schuldbegriff in das Strafrecht gelangt: Die Unterscheidung von einer Urheberschaft mit Verantwortung und einer Urheberschaft ohne Verantwortung.235 Sie argumentiert: Es bedarf deshalb natürlich auch für den Unrechtsvorwurf einer Verantwortungszuschreibung. Durch diese Verantwortungszuschreibung ist klarzustellen, dass die Verletzung nicht ausschließlich auf natürliche Einflüsse zurückzuführen war oder die Verantwortung für das Geschehen beim Opfer selbst oder Dritten lag. Hieraus ergeben sich Prüfungselemente, auf die hier nicht näher eingegangen werden muss.236

Die strafrechtliche Unterscheidung zwischen Unrecht und tatsächlichem Dafür-Können  – also Schuld  – und eine entsprechende strafrechtliche Prüfung betrachtet Hörnle somit als unumgänglich. Des Weiteren verweist sie ebenfalls auf die Argumentation Strawsons und betrachtet es als „erforderlich, dass strafrechtliche Wertungen mit fundamentalen moralischen Prinzipien ebenso wie mit dem Konzept der Rechtsperson als Verantwortung tragende Person kompatibel sind“.237 Doch Strawson erkennt in diesem Kontext gerade auch die Schuldzuschreibung als grundlegenden sozialen Mechanismus an. Schließlich betrachtet Hörnle auch die Debatte um die Willensfreiheitsproblematik als lösbar und sieht von dieser Seite keinen Einwand gegen eine Zuschreibung von persönlicher Verantwortung.238 Insofern ist ihre Argumentation, dass die strafrechtliche Schuldzuschreibung durch Verantwortungszuschreibung zu ersetzen sei, ebenfalls nicht überzeugend. Es bleibt die Kritik Hörnles zu prüfen, dass der Schuldbegriff heterogen ist und offen für problematische Interpretationen und Ableitungen.239 Doch darauf ist zu entgegnen, dass das Konzept Verantwortung nicht weniger schillernd ist und zu vergleichbaren Diskussionen führt  – das zeigt bereits das von Hörnle auch diskutierte Konzept der Letztverantwortung.240 Zudem ist das Schuldprinzip nicht das einzige strafrechtliche Konzept, das im Rahmen der Strafrechtswissenschaft zu anhaltenden Debatten führt, so wird bspw. der ebenfalls für die Verbrechenslehre relevante Begriff der Handlung immer wieder problematisiert.241

235 Vgl.

Kapitel 3.4 Die Dimensionen des Schuldprinzips, S. 137 ff.  Hörnle 2013, S. 55. 237  Hörnle 2013, S. 33. 238 Vgl. Hörnle 2013, S. 50 ff. und Kapitel 3.5 Das positive Schuldmerkmal, S. 148. 239  Vgl. Kapitel 2.3 Die Kritik an der Vergeltungstheorie und am Schuldprinzip, S. 35 f. 240  Hörnle 2013, S. 62 ff. Vgl. für eine Überblick über die Diskussion um den Verantwortungsbegriff bspw. den Artikel Verantwortung im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Band 11. 241  Vgl. bspw. die Darstellung der Debatte um den Handlungsbegriff bei Lenckner/ Eisele 2010, RN 23 ff., S. 143 ff. 236

162

Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

3.8 Resümee (2) Hinsichtlich der Frage nach der Relevanz der Diskussion um die Willensfreiheit für das Strafrecht ergeben sich für mich aus dem Dargestellten folgende Ergebnisse: (1) Die unlösbare Verbindung von Schuld und Verantwortung, die dem Schuldprinzip zugrunde liegt, widerlegt die Ansicht, dass die bislang nicht empirisch nachweisbare Freiheit des Willens konsequenterweise die Eliminierung des Schuldprinzips aus dem deutschen Strafrecht nach sich zu ziehen habe. Denn „Schuld“ erweist sich als notwendiges Pendant von „Verantwortung“ im Rahmen einer Gesellschaftsordnung, die Normen setzt, deren Einhaltung sie von ihren Mitgliedern fordert. Anhand der Analyse der positiven und negativen Schuldmerkmale im Rekurs auf Strawsons Argumentationsmodell habe ich gezeigt, dass das Schuldprinzip von der Diskussion um die Freiheit des Willens nicht infrage gestellt wird und dass es in strafrechtlicher Hinsicht tragfähig und relevant ist. (2)  Das implizit zugrundeliegende positive Kriterium von strafrechtlicher Schuld ist meiner Ansicht nach: Strafrechtlich schuldig ist, wer den Erfolg wollte und wusste, dass dieser eintreten würde.242 Die Frage nach der kognitiven und der voluntativen Fähigkeit zeigt den Rahmen auf, in welchem strafrechtliche Schuld generell zugesprochen werden kann. Das Strafrecht hinterfragt dazu das Dafür-Können, die Disposition des Handelnden, und unterscheidet diesbezüglich verschiedene Kategorien der inneren Beteiligung243 des Handelnden bei seiner Tat. Den verschiedenen Kategorien entsprechen wiederum verschiedene Grade von Schuld und Strafe. Diese Differenzierung des Dafür-Könnens wird jedoch von der Willensfreiheitsdiskussion nicht tangiert, da das strafrechtliche Bezugssystem gegenüber der generellen Frage nach der Freiheit des Willens eine Binnendifferenzierung darstellt. (3) Das positive Schuldmerkmal wird durch die Schuldausschließungs‑ und Entschuldigungsgründe vervollständigt. Diese zeigen auf, in welchem Rahmen ein Fehlen der kognitiven und voluntativen Fähigkeiten entschuldbar ist, also wann strafrechtliche Schuld und die Verantwortung für eine Tat einem Täter nicht zugesprochen werden können. Auch hinsichtlich der negativen Schuldmerkmale hat sich gezeigt, dass die Willensfreiheitsdebatte in diesem Kontext irrelevant ist. Das Strafrecht beurteilt – und dies weitestgehend mit gesellschaftlicher Übereinstimmung – einen Mörder, bei dem eine krankhafte Veränderung der Gehirnstruktur festgestellt wurde, anders als einen Täter ohne feststellbare Defekte. Die Aufgabe der Schuldausschließungs‑ und Entschuldigungsgründe ist, strafrechtlich zu regeln, in welchen Fällen nicht von Schuld gesprochen 242

 Vgl. Kapitel 3.5 Das positive Schuldmerkmal, S. 144. nach Hassemer 1983, S. 96.

243 Ausdruck

3.8 Resümee (2)

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werden kann, bzw. wann eine Tat zu entschuldigen ist. Da ein Schuldausschluss mit der Begründung der naturgesetzlichen und (oder) neurobiologischen Determiniertheit des Täters kein Merkmal einer bestimmten Konstitution des Handelnden beinhaltet und zudem das Instrument des Schuldausschlusses (bei bestimmten Voraussetzungen) generell aufheben würde, ist dieser Aspekt in strafrechtlicher Hinsicht sinnlos. Die Binnendifferenzierung der strafrechtlichen Praxis ist unabhängig von der Pauschalthese des Determinismus gültig. (4)  Die Positionen von Roth und Hörnle haben zudem gezeigt, dass auch Kritiker der Willensfreiheit und des Schuldprinzips nicht auf das Konzept „Verantwortung“ verzichten können, da es von grundlegender Bedeutung für unsere alltägliche Praxis und damit für das gesellschaftliche Zusammenleben ist. Das Strafrecht baut als gesellschaftliche Instanz auf den Mechanismen unserer sozialen Praxis auf – und damit auf Konzepten wie „Verantwortung“, „Schuld“, „Selbstbestimmung“ sowie „Anders-handeln-Können“. Doch Strawson hat zudem dargestellt, dass diese Konzepte nicht auf eine Metaphysik der Willensfreiheit verweisen, sondern schlichtweg die Realität unserer sozialen Praxis darstellen. Verantwortung und Schuld zuzusprechen – und in Ausnahmefällen auszuschließen – sind alltäglich praktizierte, verständliche und für das Reagieren auf das Handeln anderer tragfähige Mechanismen. Als solche bilden sie auch eine elementare Grundlage des Strafrechts. Der Determinist müsste, um seine Kritik aufrecht zu erhalten, die Gegebenheit der alltäglichen sozialen Praxis selbst hinterfragen. Doch diese Kritik führt ins Leere. Denn dieser Mechanismus ist unsere alltägliche Praxis. Das theoretische Fragen widerlegt nicht die soziale Praxis. (5)  Schließlich macht das Strafrecht damit keine Aussage hinsichtlich der generellen Beweisbarkeit der Willensfreiheit. Die Diskussion um die Willensfreiheit ist also nicht beigelegt oder entschieden, aber sie führt über die Binnendifferenzierungen hinaus, die der Mensch im alltäglichen interpersonalen Bereich und im stellvertretenden Bereich, also in der strafrechtlichen Beurteilung von Handlungen, vornimmt. Insofern bin ich der Ansicht, dass die Diskussion um die Willensfreiheit für das deutsche Schuldstrafrecht nicht von Relevanz ist. Das Schuldprinzip ist nicht durch die Willensfreiheitsproblematik angreifbar. Doch stellt sich für diese Studie noch eine weitere Herausforderung: der Blick in die Strafrechtspraxis. Das Schuldstrafrecht steht nicht nur im Kontext der Legitimation der Institution Strafe und der Debatte um die Willensfreiheit in der Diskussion, sondern zu klären ist auch, wie das Schuldprinzip im konkreten Urteil zum Tragen kommt. So stellt bspw. Barbara Wootton, die für ein rein spezialpräventives Strafrecht plädiert, die Schwierigkeiten der konkreten Feststellung von Schuldunfähigkeit (zum Schuldausschluss) als einen wesentlichen Kritikpunkt an einem auf dem Schuldprinzip basierenden Strafrecht heraus: At a more fundamental level, acceptance of mental disorder as diminishing or eliminating criminal responsibility demands an ability to get inside someone else’s mind so completely as to be certain whether he has acted wilfully or knowingly, and also to experience the

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Kapitel 3: Schuldstrafrecht und Willensfreiheit

strength of the temptations to which he is exposed. This, I submit, is beyond the competence of even the most highly qualified expert.244

Auch in der deutschen Strafrechtswissenschaft wird die Prüfung der Schuldunfähigkeit in der Rechtsanwendung intensiv diskutiert. An dieser Stelle kommt die in der Einleitung beschriebene Differenzierung von Schuldidee und Rechtsanwendungsschuld zu tragen.245 Bislang habe ich auf der Ebene der Schuldidee diskutiert und herausgearbeitet, was sich hinter dem Schuldvorwurf verbirgt und was das strafrechtliche Schuldprinzip inhaltlich bedeutet. Doch das Schuldprinzip hat sich auch der Herausforderung der Strafrechtspraxis zu stellen: Wie kann, so eine zentrale Frage von Kritikern, im strafrechtlichen Urteil eindeutig geklärt werden, dass der Täter schuldfähig war oder aber, dass er nicht die kognitive Fähigkeit hatte, das Unrecht seiner Handlung einzusehen oder nicht die voluntative Fähigkeit, sein Handeln entsprechend zu steuern? Problematisch ist, dass sich die Auffassung davon, wann Schuldunfähigkeit vorliegt, mehrfach gewandelt hat. Das wird von Kritikern als weiteres Indiz dafür gewertet, dass das Schuldprinzip insgesamt fragwürdig ist.

244

 Wootton 1981, S. 90. Kapitel 1.2 Der strafrechtliche Schuldbegriff, S. 6 ff.

245 Vgl.

Kapitel 4

Das Schuldprinzip in der Strafrechtspraxis Im Kontext der Rechtsanwendungsschuld unterscheidet die Strafrechtswissenschaft Aspekte der Strafverhängung (Strafbegründungsschuld) und der Strafzumessung (Strafmaßschuld).1 Die Strafmaßschuld betrifft die richterliche Bemessung der Strafhöhe und ist in § 46 StGB verankert: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe.“ Die Strafbegründungsschuld bezieht sich auf die Grundlagen der Strafverhängung. Denn die strafrechtliche Norm nulla poena sine culpa setzt für die Verhängung von Sanktionen als elementaren Prüfstein die Schuld des Täters voraus. Das Strafgesetz definiert hierfür, wie bereits dargestellt, ein ausschließendes Prozedere in Form der Prüfung möglicher Entschuldigungs‑ und Schuldausschlussgründe. Ein zentrales Problem hierbei ist jedoch, dass sich die Auffassung davon, was einen Schuldausschluss begründet bzw. wie dieser definiert wird, mehrfach geändert hat. Kritiker betrachten dies als Indiz dafür, dass das Schuldprinzip in der Rechtspraxis nicht realisierbar sei. Daher ist abschließend auch der Blick in die Debatte um die Rechtsanwendungsschuld erforderlich, um die Tragfähigkeit des Schuldprinzips umfassend beurteilen zu können. Ich werde dafür exemplarisch ein vieldiskutiertes und auch für die Willensfreiheitsproblematik zentrales Thema fokussieren: die Anwendung des § 20 StGB bei einer Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen (bzw. § 21 bei einer verminderten Schuldfähigkeit). Ich werde in diesem Kapitel die Schwierigkeiten der Strafbegründungsschuld in der Strafrechtspraxis darstellen und daran anschließend aufzeigen, weshalb die Rechtsanwendung von § 20 (bzw. § 21) dennoch überzeugend ist und der Schuldidee nicht ihre Legitimation und Tragfähigkeit nimmt. Dafür ist nicht nur die sich in der Literatur darstellende Debatte von Interesse, sondern insbesondere auch ein Blick in die tatsächliche Rechtsprechung erforderlich. Anhand von drei Urteilen aus den Jahren 1955, 1983 und 2008 werde ich untersuchen, wie die Schuldfeststellung im konkreten Urteil erfolgt. Die Diskussion um die strafrechtliche Praxis der Schuldunfähigkeitsbeurteilung tritt bemerkenswerterweise immer wieder auch in das öffentliche Interesse bei Taten von auffallender Brutalität, wie zum Beispiel bei der Debatte um die Bestrafung der „Schläger von Solln“.2 Ob der 17‑ und der 18-Jährige, die 1 2

 Vgl. Kapitel 1.2 Der strafrechtliche Schuldbegriff.  Schulte von Drach 17. Mai 2010, Süddeutsche Zeitung.

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Kapitel 4: Das Schuldprinzip in der Strafrechtspraxis

im September 2009 zunächst vier andere Jugendliche bedroht und angegriffen hatten und dann den daraufhin eingreifenden 50-jährigen Dominik Brunner am Münchener S-Bahnhof Solln niederschlugen und tödlich verletzten, für ihre Tat verantwortlich gemacht werden können, wurde intensiv in der Öffentlichkeit diskutiert. Sind die Täter des Mordes bzw. der Körperverletzung mit Todesfolge schuldig – oder waren sie aufgrund ihrer „problematischen Sozialisation“ und ihrer „antisozialen Persönlichkeitsstörung“3 schuldunfähig? Dürfen „Erziehungsfehler“ als Schuldunfähigkeit gewertet werden wie eine nachweisbare „manifeste Hirnschädigung“?4 Sind nur „Straftäter, die nicht krank sind, für ihr Handeln verantwortlich und deshalb schuldig“?5 Zurechnungsvoraussetzungen regeln, wann – in strafrechtlichem Sinn – Schuld persönlich vorgeworfen werden kann und wann der Täter schuldunfähig ist bzw. entschuldigt werden muss. Bekannte Fälle der letzten Jahre sind auch der des norwegischen Attentäters Anders Behring Breivik, dem Gutachter zunächst Schuldunfähigkeit attestierten, der aber selbst forderte, als geistig gesund und damit schuldfähig beurteilt zu werden, was die Richter schließlich auch taten. Auch der Fall des Gustl Mollath, der bei einem Prozess 2006 für schuldunfähig befunden wurde und daraufhin aufgrund seiner Einstufung als gemeingefährlich in der Psychiatrie inhaftiert war, bis 2013 in den Medien Widersprüche und Unstimmigkeiten in seinem Fall diskutiert wurden, woraufhin Mollath schließlich die Einrichtung verlassen konnte, bewegt Kritiker dazu, die Strafrechtspraxis hinsichtlich § 20 infrage zu stellen. Zunächst ist an dieser Stelle der Blick in die Geschichte der Strafrechtsdogmatik erforderlich, da das negative Schuldmerkmal der Schuldunfähigkeit mehrfach im Zentrum von Reformbestrebungen stand. Im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 ist die Schuldunfähigkeit im § 51 RStGB folgendermaßen definiert: Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.

Dabei löste die Formulierung der „krankhaften Störung“ eine Diskussion aus, die das negative Schuldmerkmal der Schuldunfähigkeit einem tiefgreifenden Wandlungsprozess unterzog. Es geht wesentlich auf Kurt Schneider6 zurück, dass den „krankhaften Störungen“ zunächst fast ausschließlich exogene und endogene Psychosen zugeordnet werden, also Störungen, die entweder bekannte körperliche Ursachen haben oder bei denen körperliche Ursachen vermutet werden. Störungen, bei denen keine körperlichen Ursachen vorzuliegen scheinen, wie bspw. Neurosen oder 3 Ebd. 4

 Ebd.  Ebd. 6 Schneider 1948. 5

Kapitel 4: Das Schuldprinzip in der Strafrechtspraxis

167

Triebstörungen, können damit keine Schuldunfähigkeit begründen. Dieses Verständnis der Schuldunfähigkeit basiert auf einem „psychiatrischen Krankheitsbegriff“.7 Ein maßgebliches Urteil des Bundesgerichtshofes von 1959 führt aber dazu, dass dieser Krankheitsbegriff erweitert wird und in der Frage nach der Schuldfähigkeit eine grundlegende Neuorientierung einsetzt. Entscheidend für die Frage der Schuldfähigkeit ist allein, ob eine Wesensveränderung gegeben ist, die auf die Einsichtsfähigkeit oder das Hemmungsvermögen des Angeklagten – erheblich – einwirkt, gleichviel ob sie von einer Veränderung gewisser körperlicher Merkmale begleitet ist oder nicht.8

Diese Entscheidung kündigt einen Paradigmenwechsel an, der von fundamentaler Bedeutung ist: Nicht das Krankhafte stellt den Maßstab für die Frage nach der Schuldfähigkeit dar, sondern eine „Wesensveränderung“, deren Ursache nicht unbedingt organischer Art sein muss. Nicht der organische Befund gibt somit den Ausschlag für die Beurteilung, sondern das Verhalten des Täters zur Tatzeit. Als Gegenstand der Beurteilung und Anknüpfungspunkt für den Schuldausschluss wird demnach die Wirkung der Störung in ihrer spezifischen Art und Weise und vor allem ihrer Intensität betrachtet, nicht die Ursache (krankhafter oder bspw. auch seelischer Defekt). Ist das Verhalten (später definiert als Einsichts‑ und die Steuerungsfähigkeit, § 20 StGB) des Täters zur Tatzeit erheblich gestört, ist er schuldunfähig – unabhängig davon, ob sein Verhalten durch einen körperlichen Defekt verursacht wurde oder durch einen nicht körperlichen. Mit Bezugnahme auf dieses Urteil können von da an auch „alle Störungen der Verstandestätigkeit sowie des Willens-, Gefühls‑ oder Trieblebens“ zum Schuldausschluss führen.9 Der bislang vorherrschende psychiatrische Krankheitsbegriff wird durch den weiter gefassten juristischen abgelöst. Doch der Streit um den Krankheitsbegriff hält weiter an und ist ein zentraler Aspekt der Strafrechtsreform im Jahr 1975. Ein Ziel der Reform ist, sich über einen einheitlichen Krankheitsbegriff zu verständigen und diesen zu formulieren. Als Ergebnis dieser Reform wird die Schuldunfähigkeit in § 20 StGB neu definiert und erweitert: Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Eine wesentliche Neuerung dieser Definition ist die Beschreibung von zwei verschiedenen „Stockwerken“ zur Prüfung der Schuldunfähigkeit: Die Aufgabe des ersten ist die Prüfung der Eingangsmerkmale, also der beim Tatzeitpunkt 7

 Schreiber 2003, S. 8.  BGHSt 1960, Bd. 14, S. 33 f. 9 BGHSt 1960, Bd. 14, S. 30. 8

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Kapitel 4: Das Schuldprinzip in der Strafrechtspraxis

bestehenden Störungen des Täters, und die des zweiten ist die Bewertung ihrer Auswirkung auf die Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit des Täters. Eine zweite Neuheit ist die Ergänzung der Merkmale des „Schwachsinns“ und der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ und die Präzisierung der Bewusstseinsstörung als „tiefgreifende“. Das Merkmal der „krankhaften seelischen Störung“ entspricht dem alten psychiatrischen Krankheitsbegriff und umfasst die Störungen, die auf eine (krankhafte) körperliche Ursache zurückzuführen sind.10 Das neu eingeführte Merkmal der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ bezieht genau den Bereich der nicht organisch nachweisbaren Störungen mit ein, die in dem psychiatrischen Krankheitsbegriff ausgeschlossen sind. Das Merkmal des „Schwachsinns“ umfasst Intelligenzschwächen ohne nachweisbare körperliche Ursachen und hat sich als eigenes Merkmal „eigentlich erübrigt“, so die Kritik einiger, da es ebenfalls unter die „schwere andere seelische Abartigkeit“ subsumiert werden könne.11 Die tiefgreifende Bewusstseinsstörung bezieht sich schließlich auf Affekttaten und umfasst „nur nichtkrankhafte, sog. normalpsychologische Störungen des Wachheits-, Überlegungs‑ und Gefühlsgrades“.12 Der Gesetzgeber hat sich damit über die Kritiker des juristischen Krankheitsbegriffes hinweggesetzt und die Rechtsprechung im Sinne des Urteils von 1959 fortgeführt: Bei Störungen, die so massiv sind, dass sie die Einsichtsfähigkeit oder Steuerungsfähigkeit einer Person außer Kraft setzen, ist eine Schuldunfähigkeit zu prüfen – unabhängig davon, ob diese Störungen organischer Art sind oder nicht organischer, wie bspw. seelischer Art. Doch da die Diagnose von Defektzuständen ohne feststellbare körperliche (somatische) Ursachen unsicher und schwierig ist, fordern noch immer Kritiker eine „Rückkehr“ zu einem engeren (psychiatrischen bzw. somatischen) Krankheitsbegriff.13

4.1 Drei Urteile zum § 20 aus den Jahren 1955–2008 Im Folgenden wird anhand von drei Urteilen aus den Jahren 1955, 1983 und 2008 ein genauerer Blick auf die Rechtsprechung im Falle des § 20 (bzw. § 21) geworfen. Die Betrachtung dieser Urteile macht nachvollziehbar, wie das Schuldprinzip im Urteil zum Tragen kommt und worauf sich die anhaltende Diskussion um die strafrechtspraktische Umsetzung des persönlichen Schuldvorwurfes bezieht. Entsprechend der zwei Stockwerke des § 20 setzt sich die Prüfung der Schuldunfähigkeit aus einer psychologisch-psychiatrischen und einer juristischen Beurteilung zusammen. Die Urteilsfindung wird daher als Dialog zwischen Richter 10 Schreiber

2003, S. 10.  Vgl.bspw. Schreiber 1981, S. 47. 12  Schreiber 1981, S. 47. 13 Vgl. bspw. Streng 1983, S. 407 f. 11

4.1 Drei Urteile zum § 20 aus den Jahren 1955–2008

169

und Sachverständigem beschrieben.14 In einem ersten Schritt (bezeichnet als erstes Stockwerk) prüfen psychologisch-psychiatrische (forensische) Sachverständige die Eingangsmerkmale, also mögliche Defekte und Störungen, die den Täter zum Zeitpunkt der Tat beeinflusst haben. Bis heute wird hier von biologischen Voraussetzungen gesprochen, was auf die oben beschriebene Problematik verweist. Denn die Aufgabe der Gutachter ist es, nicht nur somatische Defekte, sondern auch seelische Störungen zu untersuchen und in ihrem Gutachten zu erörtern. Auf diese Gutachten stützt sich dann das Gericht bei der Urteilsfindung. In einem zweiten Schritt (bezeichnet als zweites Stockwerk) liegt es dann am Richter, auf der Grundlage des Gutachters die Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit des Täters zu bewerten und dementsprechend Schuldunfähigkeit, verminderte Schuldfähigkeit oder volle Schuldfähigkeit im Urteil auszusprechen. Die Anwendung des § 20 (bzw. § 21) wird daher als „psychisch-normative“ bzw. „psychologisch-normative Methode“15 beschrieben, da medizinische Beschreibung durch forensische Sachverständige und normative Bewertung durch den Strafrichter gemeinsam die Urteilsfindung ermöglichen. Die im Folgenden betrachteten und analysierten Urteile zeigen jedoch, dass die Prüfung des Schuldmomentes schwierig und kritikanfällig ist. Anhand der Urteile werden die Probleme bei der Schuldunfähigkeitsbeurteilung verdeutlicht.

4.1.1 Erstes Beispiel: ein Urteil von 1955 – das „Ungewöhnliche“ und das „Krankhafte“ In diesem Fall wurde die Angeklagte wegen „Brandstiftung in Tateinheit mit fortgesetztem Betrug“ verurteilt und vom Gericht für voll zurechnungsfähig erklärt. Zur Begründung wurde ausgeführt: Die Angekl. habe […] eine „ganz klare und feste Struktur, obwohl sie ein psychisch ungewöhnlich gebauter Mensch sei. Sie stelle lediglich eine Extrem-Variante in der großen Spielbreite und Buntheit psychischer Erscheinungen dar. Das Ungewöhnliche schließe jedoch nicht ohne weiteres das Krankhafte ein. […]“ Das LG [Landgericht, J. E.-S.] bemerkt sodann, daß die Gutachter C. und D. dem Sachverständigen B. in vollem Umfange beigetreten seien, und kommt abschließend in Übereinstimmung mit den genannten drei Sachverständigen zu dem Ergebnis, daß bei der Angekl. weder vor noch während noch nach der Tat eine Geistesschwäche, eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit oder eine Bewußtseinsstörung im klinisch-psychiatrischen Sinne und damit i. S. des § 51 StGB16 14  Vgl. bspw. Streng 1995, S. 164: „Der Richter hat als ‚Übersetzer‘ die […] psychiatrisch/ psychologischen Befunde ins Recht zu transformieren und letztlich in die Sprache des Gesetzes zu übertragen. Diese Übersetzung läßt sich idealtypisch als Ergebnis eines Dialogs beschreiben, in welchem der Richter dem Sachverständigen die Begriffe des Gesetzes und der Gutachter seine fachlichen Aussagen dem Richter verständlich macht.“ 15  Vgl. bspw. Roxin 2006, RN 2, S. 886; Perron 2010, RN 1, S. 367. 16  Vor dem 2. Strafrechtsreformgesetz von 1975 regelte der § 51 die Schuldunfähigkeit und die verminderte Schuldfähigkeit, vgl. S. 166.

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Kapitel 4: Das Schuldprinzip in der Strafrechtspraxis

vorgelegen habe. […] es sei nicht von der Hand zu weisen, daß […] „triebdynamische Hintergründe bei der Tatmotivierung mitgespielt haben können“; solche charakterneurotischen Zustände fielen aber nicht unter § 51 StGB; es gebe kaum eine schwere Straftat, ja letzten Endes überhaupt keine menschliche Handlung, bei der nicht auch solche „aus dem Unterbewußtsein kommenden, triebdynamischen Kräfte“ mit im Spiel seien. Die Grenze zwischen zuzurechnendem und nicht zurechenbarem Handeln liege bei den eigentlichen Psychosen und den „klinisch ausgeformten“ Zuständen von Geistes‑ und Bewußtseinsstörungen. Andernfalls würde das geltende Schuldstrafrecht seine entscheidende Grundlage, seinen festen Boden verlieren, und man komme zu „rein quantitativen mehr oder weniger willkürlichen Abgrenzungen.“ […] Das Gesetz verlangt eben zum Nutzen des Rechtsfriedens, daß ein Mensch in der Regel auch solche gefährlichen Neigungen unterdrückt, die in einem Willens-, Gefühls‑ oder Triebdefekt ihren Ursprung haben. Entscheidend ist daher, ob eine so geartete Persönlichkeit nach Lage der Sache die zur Tat treibenden Kräfte gleichwohl hätte überwinden können.17

Zusammenfassend erging das Urteil: Der Kreis der unter § 51 StGB fallenden Abartigkeiten ist umfassender als der der klinisch-psychiatrisch anerkannten Zustände. Jedoch scheiden Willensschwäche und sonstige Charaktermängel als solche aus.18

Bei der Begründung des Urteils fällt zuerst die Unterscheidung von „ungewöhnlich“ und „krankhaft“ ins Auge. Alle drei Gutachter des Verfahrens sehen keine Defekte in „klinisch-psychiatrischem Sinne“ vorliegen, also Defekte, die auf eine organische Ursache zurückgeführt werden könnten. Zwar wird die psychische Konstitution der Täterin als „ungewöhnlich“ und „extrem“ beschrieben, aber diese Konstitution wird nicht als schuldausschließend gewertet. Sie wird als „in der großen Spielbreite und Buntheit psychischer Erscheinungen“ gegeben betrachtet. Auch wenn das Handeln der Täterin triebdynamisch extrem war, so wertet das Urteil dies letztlich als „Willensschwäche“ und „Charaktermangel“ – aber nicht als Schuldausschlussgrund. Zwar verweist das Urteil in der Zusammenfassung darauf, dass der Katalog der Merkmale, die zu einem Schuldausschluss führen könnten, „umfassender [sei] als der der klinisch-psychiatrisch anerkannten Zustände“, was bereits die sich anbahnende Diskussion um den Krankheitsbegriff markiert. Doch es ist offensichtlich, dass das Urteil den zu dieser Zeit vorherrschenden psychiatrischen (somatischen) Krankheitsbegriff teilt, nach dem nur eine krankhafte Störung Schuldunfähigkeit attestieren kann. Die Störung der Täterin müsste, so die Begründung, einem „klinisch ausgeformten“ Zustand entsprechen, um schuldausschließend zu sein. Für die Beurteilung stellt das „Klinische“ die „Grenze zwischen zuzurechnendem und nicht zurechenbarem Handeln“ dar. Nur das „Krankhafte“ biete einen sicheren Maßstab, um die Frage nach der Schuldunfähigkeit beurteilen zu können. Die Anerkennung anderer Merkmale als Schuld17

 NJW 1955, S. 1726 f. (Hervorhebung im Original). 1955, S. 1726.

18 NJW

4.1 Drei Urteile zum § 20 aus den Jahren 1955–2008

171

ausschlussgrund, wie eine extreme triebdynamische Verfasstheit, stelle, so die Begründung des Urteils, die Gefahr einer „rein quantitativen mehr oder weniger willkürlichen Abgrenzung“ dar. Entsprechend unterscheidet der psychiatrische (somatische) Krankheitsbegriff zwischen der krankhaften und der seelischen Störung. Schreiber stellt diese Betrachtungsweise wie folgt dar: Krankhafte Störungen der Geistestätigkeit seien qualitativ abnorm. Bei solchen Kranken fehle die Sinnkontinuität des Erlebens. Dieses erreiche nicht mehr die Voraussetzungen für die geistige Teilhabe an der sozialen Welt, die Grundlage der Schuldfähigkeit sei. Körperlich bedingte Störungen seien uneinfühlbar und unableitbar. Seelische Störungen ohne körperliche Ursachen lägen nur in einer quantitativen Abweichung von einer Durchschnittsnorm, blieben aber im Rahmen sinnvoller Erlebniszusammenhänge, das heißt zugänglich und verstehbar.19

Der psychiatrische (somatische) Krankheitsbegriff, der historisch bedingt von der Erklärungshoheit der Psychiatrie beeinflusst ist20, wertet die krankhafte Störung als eine Zersetzung der „Sinnkontinuität des Erlebens“. Die (massive) Krankheit zerstöre die „freie Willensbestimmung“21 des Handelnden und verursache ein abweichendes Verhalten. Das Erleben des Handelnden entspreche in diesem Fall qualitativ ganz anderen Konstanten als das Erleben des Gesunden, dessen Handeln seinem freien Willen zugerechnet werden könne. Insofern seien bei einer krankhaften Störung Kategorien wie „Schuld“ und „Verantwortung“ nicht mehr anwendbar. Nur der unter einem (massiven) krankhaften Defekt Handelnde werde als schuldunfähig betrachtet. Eine bspw. seelische Störung, die nicht auf körperliche Defekte zurückgeführt werden kann, wird jedoch in diesem Schema nicht unter diese Fälle subsumiert. Die seelische Störung wird quasi nicht als Defekt verstanden. Sie wird, wie die Begründung des Urteils es ebenfalls ausführt, lediglich als „Variante in der großen Spielbreite und Buntheit psychischer Erscheinungen“ betrachtet. Auch wenn die psychische Konstitution eines Menschen extrem sei, so bliebe sie generell verständlich und innerhalb der üblichen Konstanten erklärbar. Sie unterscheide sich nur quantitativ, aber nicht qualitativ von der verständlichen Sinnkontinuität (der Handelnde würde bspw. als sehr viel mehr wutgeladen betrachtet, aber nicht qualitativ von dieser Emotion unterschieden und bspw. als triebgestört betrachtet). Diese Einschätzung, die Schreiber analysiert22, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Doch sie macht die Begründung dieses Urteils verständlich. Sie erklärt

19

 Schreiber 2003, S. 8 f. dazu vgl. Kapitel 4.2 Die Kontroversen um die Beurteilung der Schuldunfähigkeit, S. 176 f. 21  § 51 RStGB, vgl. S. 166. 22 Schreiber 2003, S. 8 f. 20 Näheres

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Kapitel 4: Das Schuldprinzip in der Strafrechtspraxis

die Beurteilung der psychischen Konstitution der Täterin als „ganz klare und feste Struktur“, obwohl diese auch als extrem, ungewöhnlich und triebdynamisch motiviert beschrieben wird. Ein seelischer Defekt wird nur als quantitativ von den Konstanten der Handlung abweichend betrachtet, erst das Krankhafte erklärt einen qualitativen Unterschied, da diesem eine Zersetzung der verständlichen Handlungskonstanten zugeschrieben wird. Nur in so einem Fall ist die strafrechtliche Kategorie „Schuld“ nicht mehr anwendbar.

4.1.2 Zweites Beispiel: ein Urteil von 1983 – „seelische Abartigkeit“ oder „bloßer Charaktermangel“ In diesem Fall wurde der Angeklagte wegen „schwerer räuberischer Erpressung“ verurteilt, ihm wurde aber verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 StGB zugesprochen. Das Urteil wurde jedoch in einer zweiten Instanz überprüft. Die Revision hatte Erfolg, da im ersten Urteil eine erhebliche Minderung der Schuldfähigkeit „nicht hinreichend begründet“ wurde.23 Zur Begründung wurde ausgeführt: Die Schilderung des psychischen Zustandes des Angekl. läßt nicht klar erkennen, ob die Abweichungen von der Norm so deutlich ausgeprägt sind, daß sie Krankheitswert besitzen. Insbesondere ist der rein deskriptiven Aufzählung der Besonderheiten nicht zu entnehmen, inwieweit sie auf die (leichte) Enzephalopathie24 zurückzuführen sind und in welchem Umfang es sich um bloße anlagebedingte Charaktermängel handelt. Selbst wenn man sie in ihrer Gesamtheit als Folgen der Enzephalopathie ansehen wollte, hätte die Annahme der „biologischen“ Voraussetzungen des § 20 StGB näherer Begründung bedurft. […] Die positive Feststellung einer seelischen Abartigkeit mit Krankheitswert reicht für sich allein zur Bejahung der Voraussetzungen des § 21 StGB nicht aus. Erforderlich ist vielmehr weiterhin, daß diese Abartigkeit die Einsichts‑ bzw. Steuerungsfähigkeit in Bezug auf die konkrete Tat beeinträchtigt hat […] und die Reduzierung dieser Fähigkeit erheblich war. Dazu wäre im vorliegenden Fall schon deshalb eine eingehende Darlegung erforderlich gewesen, weil die Mehrzahl der festgestellten Besonderheiten des Angekl., insbesondere seine Realitätsferne, die pseudologischen Tendenzen „in Richtung des zu bemitleidenden Menschen“ und sein sehr geringes Durchhaltevermögen nicht ohne weiteres geeignet sind, die Hemmschwelle gegenüber einem Gewaltdelikt wie der schweren räuberischen Erpressung wesentlich herabzusetzen, und sich deshalb die Annahme, der Angekl. habe dem Anreiz zu dieser Tat erheblich weniger Widerstand entgegensetzen können als der Durchschnittsmensch, keineswegs von selbst versteht. Es wäre ebenso gut möglich, daß seine besondere psychische Situation ihn immer wieder in finanzielle Schwierigkeiten führt, aus denen er sich dann, ohne daß seine Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt wäre, durch Straftaten zu befreien versucht.25

23 NJW

1983, S. 350.  Eine Enzephalopathie ist eine „Sammelbez[eichnung] für nichtentzündl[iche] Erkrankungen od[er] Schädigungen des Gehirns unterschiedlicher Ätiol[ogie]“, s. Pschyrembel, S. 437. 25 NJW 1983, S. 350 (Hervorhebungen im Original). 24

4.1 Drei Urteile zum § 20 aus den Jahren 1955–2008

173

Zusammenfassend erging das Urteil: Die positive Feststellung einer seelischen Abartigkeit mit Krankheitswert reicht für sich allein zur Bejahung der Voraussetzungen des § 21 StGB nicht aus. Die Abartigkeit muß vielmehr die Einsichts‑ und Steuerungsfähigkeit in bezug auf die konkrete Tat beeinträchtigen.26

Auffallend ist zunächst im ersten Teil des Urteils, dass auch bei dieser Analyse der psychischen Konstitution des Täters noch der „Krankheitswert“ einer Störung als Reverenz aufgeführt ist. Das Urteil wurde fünf Jahre nach der Strafrechtsreform von 1975 getroffen, welche den juristischen Krankheitsbegriff als Richtlinie gesetzt hat. Seit dieser Reform gelten nicht mehr nur krankhafte, also somatische Defekte als Schuldausschlussgrund, sondern auch Defekte, die nicht auf krankhafte Veränderungen zurückgeführt werden können. Das Urteil illustriert die Schwierigkeiten der Praxis, auf den Maßstab des Krankheitswertes – auf die Plausibilität der Krankheit zur Erklärung – zu verzichten. Es zeigt, dass die Kontroverse um den Krankheitsbegriff auch nach der Reform noch anhält. Im zweiten Teil kritisiert das Urteil einen Verfahrensfehler: Um einen Täter nach § 20 zu entschuldigen, sei es nicht ausreichend, Defektzustände als Merkmale festzustellen, sondern darüber hinaus sei darzustellen, inwiefern diese Defekte die Einsichts‑ und die Steuerungsfähigkeit des Täters beeinträchtigt und damit die Tat beeinflusst hätten. Die Eingangsmerkmale, in diesem Fall der psychische Zustand des Täters, der durch Realitätsferne und eine herabgesetzte Hemmschwelle beschrieben wird, diese Merkmale seien, so die Forderung des Urteils, in direkten Bezug zu setzen mit der zu beurteilenden Einsichts‑ und Steuerungsfähigkeit des Täters. Waren die festgestellten Störungen des Täters so massiv, dass seine Einsichts‑ oder seine Steuerungsfähigkeit herabgesetzt bzw. nicht mehr gegeben war? Erst das Zusammenwirken der beiden Stufen des § 20 (bzw. § 21) bildet die Grundlage für ein mögliches Urteil der Schuldunfähigkeit. Insbesondere zeigt das zweite Urteil die Schwierigkeiten, festgestellte Störungen bei einem Täter in ihrer Auswirkung auf seine Schuldunfähigkeit zu beurteilen. Wann sind psychische Störungen „bloße Charaktermängel“ und wann sind psychische Defekte so stark, dass sie den „schweren seelischen Abartigkeiten“ zugeordnet werden können? Ein Experte, der auch nach der Strafrechtsreform von 1975 zu den Verfechtern eines engeren medizinischen Krankheitsbegriffes zählt, ist Paul Bresser. Er bemängelt bei dem Merkmal der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ fehlende vergleichbare diagnostische Kriterien.27 In Bezug auf das Merkmal des Affektes führt er aus: Ob es schließlich für seltene  – wie die Rechtsprechung immer noch mit gutem Grund betont – Ausnahmefälle hinreichend definierbare Unterscheidungs‑ oder Abgrenzungskriterien zwischen dem zurechenbaren und dem nicht zurechenbaren Affekt gibt, muß 26

 NJW 1983, S. 350. 1978, S. 1191 und 1983, S. 435.

27 Bresser

174

Kapitel 4: Das Schuldprinzip in der Strafrechtspraxis

dem in der Gerichts‑ und Begutachtungspraxis stehenden Kenner mehr als zweifelhaft erscheinen.28

Das Urteil verdeutlicht die von Bresser beschriebenen Schwierigkeiten der Grenzziehung zwischen der Zurechnung von Schuld und dem Schuldausschluss. In diesem Kontext ist erklärbar, weshalb im ersten Verfahren dem Täter verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) zugesprochen wurde und in der Revision, anhand eines neuen Gutachtens, die zunächst angenommene verminderte Schuldunfähigkeit nicht bestätigt und ein neues Urteil formuliert wurde, bei dem der Täter als voll steuerungsfähig und damit für schuldfähig betrachtet wurde.

4.1.3 Drittes Beispiel: ein Urteil von 2008 – die „Spielarten des menschlichen Wesens“ In diesem Fall wurde der Angeklagte wegen „schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in kinderpornographischer Absicht und wegen vorsätzlicher Körperverletzung“ verurteilt. Zudem wurde angenommen, die Steuerungsfähigkeit des Angekl. sei bei den abgeurteilten Taten auf Grund einer dissozialen Persönlichkeitsstörung – einer schweren anderen seelischen Abartigkeit i. S. der §§ 20, 21 StGB – erheblich vermindert gewesen.29

Im Urteil wurde als Begründung dazu ausgeführt: Sämtliche „Kriterien der Weltgesundheitsorganisation ICD 10“ für eine dissoziale Persönlichkeitsstörung seien beim Angekl. als erfüllt anzusehen […]. Man könne bei ihm „quasi von einer ‚moralischen Sehbehinderung‘“ sprechen. Gewissen und Mitgefühl seien bei ihm nur so rudimentär ausgebildet, dass ihm dadurch allenfalls eine schemenhafte Orientierung möglich sei.30

Die Revision hatte jedoch in Bezug auf die Annahme der verminderten Steuerungsfähigkeit Erfolg. Das Urteil der (verminderten) Schuldunfähigkeit wurde zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt: Allein die Diagnose „dissoziale Persönlichkeitsstörung“ lässt für sich genommen eine Aussage über die Frage der Schuldfähigkeit eines Täters nicht zu […]. Selbst die Diagnose einer schweren Persönlichkeitsstörung ist nicht gleichbedeutend mit derjenigen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit i. S. der §§ 20, 21 StGB. Eine solche Störung kann immer auch als  – möglicherweise extreme  – Spielart menschlichen Wesens einzuordnen sein, die sich noch innerhalb der Bandbreite des Verhaltens voll schuldfähiger Menschen bewegt […]. Nach den bisher getroffenen Feststellungen ist nicht erkennbar, dass die psychischen Auffälligkeiten des Angekl. dem Schweregrad einer schweren anderen seelischen

28

 Bresser 1983, S. 435 (Hervorhebungen im Original).  NStZ-RR 2008, S. 70 (Hervorhebung im Original). 30 NStZ-RR 2008, S. 71. 29

4.1 Drei Urteile zum § 20 aus den Jahren 1955–2008

175

Abartigkeit entsprechen […] und es sich nicht nur um Eigenschaften und Verhaltensweisen handelt, die übliche Ursachen für strafbares Verhalten darstellen.31

Zusammenfassend erging in zweiter Instanz das Urteil: Selbst die Diagnose einer schweren Persönlichkeitsstörung ist nicht gleichbedeutend mit derjenigen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB. Eine solche Störung kann immer auch als – möglicherweise extreme – Spielart menschlichen Wesens einzuordnen sein, die sich noch innerhalb der Bandbreite des Verhaltens voll schuldfähiger Menschen bewegt.32

Auch dieses Urteil stellt die Revision eines ersten Verfahrens dar und zeigt damit deutlich die auch aktuell bestehenden Schwierigkeiten der Beurteilung von Schuldunfähigkeit. Aber bei diesem Urteil ist eine Diskussion um den Krankheitsbegriff nicht mehr erkennbar. Die zur Diskussion stehende Diagnose des Täters bei der Tatbegehung benennt eine dissoziale Persönlichkeitsstörung, also einen seelischen Defekt ohne körperliche Ursachen, der damit ausschließlich dem Merkmal der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ zugeordnet werden könnte. Doch kommen die Gutachter aufgrund der Diagnose der dissozialen Persönlichkeitsstörung zu unterschiedlichen Beurteilungen hinsichtlich der Anerkennung der Diagnose als Eingangsmerkmal für den § 20. Das erste Verfahren wertet den psychischen Zustand des Täters während der Tat als „schwere andere seelische Abartigkeit“ und urteilt, dass dieser Zustand – „quasi“ wie eine „moralische Sehbehinderung“ – die Steuerungsfähigkeit des Täters „erheblich vermindert“ habe. Die Revision hingegen kommt zu einer grundlegend anderen Beurteilung des Falles: Die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung könne nicht dem Merkmal der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ zugeordnet werden. Diese sei vielmehr als „möglicherweise extreme Spielart des menschlichen Wesens“ zu bewerten, was aber nicht schuldausschließend sei, da sie sich „noch innerhalb der Bandbreite des Verhaltens voll schuldfähiger Menschen bewege“. Diese Formulierung erinnert stark an das zuerst betrachtete Urteil aus dem Jahre 1955, bei dem von einer „Extrem-Variante in der großen Spielbreite und Buntheit psychischer Erscheinungen“ gesprochen wurde.33 Dennoch hat sich der Kontext der Diskussion hier grundlegend geändert. Das Urteil von 1955 betrachtet die erkannte psychische Störung der Angeklagten generell nicht als Schuldausschlussgrund, da diese nicht auf einen somatischen Defekt zurückzuführen ist. Das Urteil von 2008 (in der Revision) aber wertet die psychische Störung des Täters nicht als Schuldausschlussgrund, da der „Schweregrad“ des Defektes nicht so hoch beurteilt wird, dass das Merkmal der „anderen seelischen Abartigkeit“ in diesem Fall als gegeben betrachtet werden könne. Auch dieses dritte Urteil 31

 NStZ-RR 2008, S. 71 (Hervorhebungen im Original).  NStZ-RR 2008, S. 70. 33 Vgl. S. 169. 32

176

Kapitel 4: Das Schuldprinzip in der Strafrechtspraxis

verdeutlicht insgesamt die anhaltenden Schwierigkeiten bei der Beurteilung der Schuldunfähigkeit.

4.2 Die Kontroversen um die Beurteilung der Schuldunfähigkeit Bereits der Blick auf diese drei Urteile verdeutlicht, dass anhaltende Kontroversen das Merkmal der Schuldunfähigkeit in der Strafrechtspraxis begleiten. Die Hintergründe dieser Schwierigkeiten sind mehrschichtig: Ausschlaggebend ist zunächst die Befürchtung, dass die Ausformulierung und Aufnahme weiterer Merkmale für einen Schuldausschluss zu einer rapiden Zunahme von Exkulpierungen (Schuldausschluss nach § 20) oder Dekulpierungen (Schuldminderung nach § 21) führen könnte und damit letztlich das Schuldprinzip als Strafbegründung und als Maßstab einer entsprechenden Sanktionierung nach und nach aufgelöst würde.34 Das Urteil aus dem Jahr 1955 formuliert diese Befürchtung, dass „das geltende Schuldstrafrecht seine entscheidende Grundlage, seinen festen Boden verlieren“ würde, wenn nicht mehr nur das „Krankhafte“ bzw. der „klinisch ausgeformte“ Defekt als Maßstab für den Schuldausschluss gelten würde.35 Insbesondere die Befürworter eines engeren Krankheitsbegriffes befürchten durch die Aufnahme der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ einen Dammbruch bei der Exkulpation, dem Schuldausschluss mit Bezugnahme auf den § 20. Dieser Aspekt wurde insbesondere im Kontext der Reform des Krankheitsbegriffes intensiv diskutiert. Doch zeigen die Statistiken, dass die Befürchtung eines Dammbruchs unbegründet war. Schreiber zieht in einer Untersuchung aus dem Jahr 1981 das Fazit: „Ein ‚Dammbruch‘ hat nicht stattgefunden, kriminalpolitisch bedrohliche Tendenzen zeichnen sich für die Zukunft nicht ab.“36 Eine weitere Problematik stellen die Sachverständigengutachten dar. Historisch bedingt hat die Psychiatrie ein „Erklärungsmonopol“ als Gutachter in der Frage nach der Schuldunfähigkeit.37 Im 18. Jahrhundert werden Menschen, die sich nicht entsprechend der Normen der Gesellschaft verhalten, in Zucht‑ und Tollhäuser gesperrt. Dabei wird noch nicht zwischen krankheitsbedingt abweichendem und kriminell bedingt abweichendem Verhalten unterschieden. Erst die Entwicklung und Institutionalisierung der Psychiatrie leitet ein Umdenken ein und die Untersuchung von organischen Ursachen, die abweichendes Verhalten auslösen. Aber die Vielzahl nicht-organischer Ursachen, die massive Verhaltensstörungen auslösen können, im Strafgesetz formuliert als die „schweren anderen seelischen Abartigkeiten“, zeigt, dass der Psychiater nicht für alle Fälle 34 Vgl.

Schreiber 2003, S. 9 f.  Vgl. Urteil von 1955, S. 169 f. 36  Schreiber 1981, S. 51. 37 Vgl. im folgenden Bauer / Thoss 1983, S. 306 f. 35

4.2 Die Kontroversen um die Beurteilung der Schuldunfähigkeit

177

der angemessene Gutachter ist. Dennoch haben es, so die Einschätzung von Bauer und Thoss, „bis heute konkurrierende Erklärungsansätze aus Psychologie und Psychoanalyse schwer, sich im Wissenschaftsbetrieb zu behaupten und eine angemessene Rolle bei der Beratung der Strafjustiz zu erlangen“.38 Diese historisch bedingte Debatte wirkt lange in der Diskussion um die Schuldunfähigkeitsbeurteilung nach. Die Kritiker des juristischen Krankheitsbegriffes stützen ihre Argumentation gegen die Aufnahme von seelischen Störungen und Defekten als Eingangsmerkmale für eine Schuldunfähigkeit auf die Befürchtung zunehmender Exkulpierungen oder Dekulpierungen und die kriminalpolitischen Auswirkungen.39 Problematisch bei der Schuldunfähigkeitsbeurteilung nach § 20 StGB ist generell, dass andere Disziplinen mit neuen Erkenntnissen über die Bedingungen menschlichen Handelns die Strafrechtspraxis beeinflussen. In diesem Sinne führt bspw. Blau aus, dass neue Erkenntnisse der Psycho-Wissenschaften z. B. zu Verlaufsformen von Geisteskrankheiten oder normal-psychologischen seelischen Ausnahmezuständen den Gesetzgeber oder – im Rahmen der Interpretationsbandbreite der Norm – den Richter nötigen [können], Ex‑ und Deculpationsgründe zu erweitern oder zu beschränken.40

An dieser Stelle ist auch die Rolle der Neurowissenschaften noch einmal zu erwähnen. Gerade von dieser Seite aus erfolgt aktuell zunehmend mehr Interesse an strafrechtlichen Themen und Einflussnahme auf die strafrechtswissenschaftliche Diskussion um die Schuldunfähigkeitsbeurteilung. Hans J. Markowitsch und Angelica Staniloiu bspw. zeigen umweltbedingte, epigenetische, genetische und insbesondere hirnphysiologische Ursachen auf, welche die Gewaltbereitschaft determinieren würden, und nennen Beispielfälle, in denen vor Gericht neurowissenschaftliche Diagnoseverfahren die Urteilsfindung unterstützt hätten.41 Die Autoren entwerfen entsprechend ein „Menschenbild vom Straftäter“ als „determinierte[r] Täter“42 und schließen die Möglichkeit eines freien Willens aus.43 Doch sehen viele Neurowissenschaftler ihre Rolle nicht im Bereich normativer Aussagen, wie der Diskussion der Willensfreiheitsproblematik, sondern allein im Rahmen der neurowissenschaftlichen Begutachtung oder einer therapeutischen Unterstützung im Strafvollzug. So arbeitet etwa Niels Birbaumer, Verhaltens Vgl. im folgenden Bauer/ Thoss 1983, S. 306. Eine interessante Einführung in die forensische Psychologie hat Hermann Wegener 1981 vorgelegt. Diese Darstellung zeigt, wie die junge Disziplin einerseits unter dem Druck der Erwartungen der Praxis steht, sich aber andererseits aufgrund des „geringen Umfang[es] an gesicherten theoretischen Erkenntnissen“ noch immer der Kritik der „mangelnde[n] Kompetenz des Faches“ zu stellen hat (Wegener 1981, S. 1). 39  Vgl. die Darstellung der Auseinandersetzung um den Krankheitsbegriff in Kapitel 4 Das Schuldprinzip in der Strafrechtspraxis. 40 Blau 1982, S. 394. 41  Markowitsch / Staniloiu 2012. 42  Markowitsch / Staniloiu 2012, S. 37. 43 Markowitsch / Staniloiu 2012, S. 60. 38

178

Kapitel 4: Das Schuldprinzip in der Strafrechtspraxis

neurobiologe und medizinischer Psychologe, an durch neurobiologische Befunde gestützten Therapien für Sexualverbrecher. Bei diesen sei, so Birbaumer, ein für die Verhaltenssteuerung wichtiger Bereich des Gehirns inaktiv, das antizipatorische Angstsystem, welches die emotionalen Konsequenzen des Handelns bewusst mache. Diese Leute können auf kognitiver Ebene vorhersagen, welche Konsequenzen ihr Verbrechen haben wird. Sie wissen es, aber es hat keine emotionalen Begleiterscheinungen. Und deswegen begehen sie die Verbrechen auch immer wieder, weil die begleitende Emotion des Erlebens, des Aversiven, der Angst, der Panik des Anderen, in ihrem Gehirn nicht aktiviert werden kann, da diese Hirnteile „still“ sind.44

Birbaumer forscht an Therapien, bei denen die Patienten wieder lernen, diesen Bereich des Gehirns zu aktivieren. Denn, so Birbaumer, [d]as Gehirn dieser Leute weist dennoch eine Flexibilität und Plastizität auf, die es ermöglicht, jene Hirnregionen zu regulieren, die für empathisches und ängstliches Verhalten notwendig sind.45

Damit zeigt Birbaumer auf, dass die Neurowissenschaften im strafrechtlichen Bereich eine wichtige Rolle spielen, aber er spricht sich eindeutig dagegen aus, neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse in die Debatte um die Freiheit des Willens mit einzubringen. Die Neurowissenschaft sei, so Birbaumer, kein „universelles Erklärungsmodell“, sondern „wie jede andere Wissenschaft eine Spezialwissenschaft, die gute und schlechte Daten produziert“.46 Als solche hätte sie sich auf ihre genuinen Forschungsfragen zu konzentrieren. Der Beitrag Birbaumers ist ein Beispiel dafür, dass Forschungsergebnisse anderer Disziplinen zwar die formelle Ausgestaltung des Schuldprinzips in der Strafrechtspraxis mitgestalten und verändern, bspw. anhand von neuen Diagnoseverfahren für die Schuldunfähigkeitsbeurteilung oder neuen Therapieansätzen für den Strafvollzug, ohne aber dadurch die zugrundeliegende Schuldidee zu beeinflussen. Schließlich problematisiert ein letzter Kompetenzkonflikt die Schuldfeststellung: Neben einer Diskussion um die Erklärungshoheit, die zwischen den Sachverständigen, meist der Psychiatrie und der Psychologie, geführt wird, gibt es auch einen Kompetenzkonflikt um die Urteilshoheit  – und zwar zwischen dem Sachverständigen und dem Richter. Auch auf dieser Ebene gibt es Verständigungsprobleme und Kompetenzdiskussionen.47 Das Zusammenwirken von Richtern und Sachverständigen bei der Urteilsfindung wird als Dialog beschrieben  – „in welchem der Richter dem Sachverständigen die Begriffe des Gesetzes und der Gutachter seine fachlichen Aussagen dem Richter verständlich 44

 Birbaumer 2009, S. 14. 2009, S. 15. 46  Birbaumer 2009, S. 1 f. 47  Die Kommunikationsprobleme zwischen Richter und psychologischem Sachverständigen benennt bspw. Wegener (1981, S. 22). 45 Birbaumer

4.2 Die Kontroversen um die Beurteilung der Schuldunfähigkeit

179

macht“48 –, doch dieser Dialog wird durch verschiedenste Defizite bei beiden Kommunikationspartnern erschwert. Gegenüber den Gutachtern bemängeln Kritiker „fehlende Allgemeinverständlichkeit der Gutachten“, „mangelnde fachliche Qualifikation“, „methodische[…] Mängel[…] und unabgesicherte[…] subjektive[…] Stellungnahmen“.49 Auf die Probleme bei der Erhebung und der Verwendung empirischer Daten verweisen viele Wissenschaftler selbst. So mahnt Birbaumer zur Vorsicht bei der Interpretation der Daten und auch Roth verweist auf die Schwierigkeiten bei der strafrechtlichen Begutachtung: Zweifellos wird sich das zurzeit praktizierte psychiatrische Begutachtungswesen durch Hinzunahme neurowissenschaftlicher Diagnoseverfahren verbessern lassen, doch völlig sicher wird die Diagnose wohl nie werden.50

Besonders problematisch bei der Diagnose und der Bewertung des Gutachters seien zudem, so Ulrich Venzlaff, „Fehlbewertungen oder diagnostische[…] Fehleinschätzungen durch Akzentverschiebungen zugunsten oder ungunsten des Probanden“51 aufgrund der intensiven Auseinandersetzung mit dem Angeklagten und des Weiteren eine „Tendenz zur absoluten Aussage“, wenn Gutachter versuchten, „dem Gericht mit einer absoluten und unumstößlichen Diagnose aufzuwarten“.52 Sowohl eine Parteinahme für oder gegen den Angeklagten als auch eine Einflussnahme auf die Beurteilung durch die Formulierung der Diagnose könnte der Urteilshoheit der Justiz vorgreifen. Auf der Seite der Justiz werden als Defizite fehlende „psychologische und psychopathologische Kenntnisse“53 genannt. Der zentrale Kritikpunkt sei jedoch, so Franz Streng, „die naive Vorstellung, der Gutachter könne alles liefern, was man für die Ausfüllung der Merkmale des § 20 braucht“.54 Auch Bresser sieht eine Entwicklung dahingehend, „dass essentielle Schuldfragen mehr und mehr auf die Ebene der Schuldfähigkeit projiziert worden sind“.55 Die (teilweise aufgrund der Ausdifferenzierung der Merkmale) zunehmenden Schwierigkeiten auf der Seite der richterlichen Schuldbeurteilung würden, so Bresser, zu steigenden Erwartungen und einer Ausweitung der Zuständigkeiten auf der Seite der Sachverständigen führen. Er sieht eine Tendenz dahingehend, dass dem psychologischen oder dem psychiatrischen Sachverständigen eine dem Menschen mit seinen Schwächen eher gerecht werdende Urteilsbildung zugetraut [wird]. Diese „Schwächen“ jedoch mit einer vorwerfbaren Tat in das rechte Verhältnis zu stellen, bleibt 48

 Streng 1995, S. 164, vgl. bspw. auch Blau 1982, S. 404. 1995, S. 12 f. 50  Roth 2003, S. 544. 51  Venzlaff 1983, S. 202. 52 Venzlaff 1983, S. 201. 53  Streng 1995, S. 13. 54  Streng 1995, S. 16. 55 Bresser 1978, S. 1190. 49 Streng

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Kapitel 4: Das Schuldprinzip in der Strafrechtspraxis

die essentielle Aufgabe der richterlichen Urteilsfindung. Wenn in erster Linie wegen der problematischen Zuständigkeitsausweitung immer häufiger von der Krise des Sachverständigenbeweises gesprochen wird, dann ist es sicher berechtigt, […] auch von einer Krise der richterlichen Urteilsbildung zu sprechen.56

Insbesondere diese Entwicklung gefährde die richterliche Urteilshoheit. Bresser erinnert daher an die Einhaltung der geforderten Trennung von empirisch begründbarer Schuldfähigkeitsbeurteilung und wertender Schuldbeurteilung57, also von Gutachten und Urteil. Aufgabe des Gutachters ist es, die (somatische, psychologische, neurologische etc.) Konstitution des Angeklagten zum Zeitpunkt der Tat zu untersuchen und auszudifferenzieren, um dem Richter eine Schuldbeurteilung möglich zu machen. Die Aufgabe des Richters ist es, die Einschätzung der Konstitution des Angeklagten zur Kenntnis zu nehmen und darauf aufbauend schließlich ein Urteil über die strafrechtliche Schuld zu fällen (Ist dem Täter die Schuld an seiner Tat vorzuwerfen oder nicht?). Bresser fordert entsprechend von dem Sachverständigen, nicht gegen das „für jeden Sachverständigen absolut verpflichtende Gebot der ‚normativen Abstinenz‘ […] [zu] verstoßen.“58 Zusammenfassend zeigen die Kontroversen um die Beurteilung der Schuldunfähigkeit: Das Strafgesetz fordert, im Rahmen der negativen Schuldmerkmale einen möglichen Schuldausschluss oder eine verminderte Schuldfähigkeit des Täters zu prüfen. Dies ist eine elementare Voraussetzung des Strafrechts – denn: keine Strafe ohne Schuld. Erst das Schuldmerkmal begründet die Strafsanktion. Doch der Blick in die Rechtspraxis zeigt, dass das Merkmal der Schuldunfähigkeit an den verschiedensten Punkten problembehaftet ist: (1)  Die Definition seiner Voraussetzungen und Anwendungsbereiche wird diskutiert und in Frage gestellt. (2) Die Gutachten der Sachverständigen aus verschiedenen Disziplinen geraten teilweise miteinander in Konkurrenz und sowohl die Qualität als auch die Methode ihres Vorgehens sind nicht immer überzeugend. (3)  Die Kompetenzkonflikte reichen bis zur richterlichen Urteilshoheit. Es besteht die Gefahr, dass die Ebenen der empirischen Begutachtung und der normativen Beurteilung verschwimmen. So überrascht es nicht, dass die Revision eines Urteiles oft zu einem, vom ersten wesentlich abweichenden, Urteil führt. Nicht nur der Blick in strafrechtliche Urteile, sondern auch in die strafrechtswissenschaftliche und kriminalpolitische Debatte hat gezeigt, wie problematisch und kontrovers die Feststellung von Schuldfähigkeit und ‑unfähigkeit in der Strafrechtspraxis ist. Es hat sich aber auch herausgestellt, dass die Problematik in der Schuldunfähigkeitsbeurteilung 56

 Bresser 1978, S. 1192.  Bresser 1983, S. 429. 58 Bresser 1983, S. 440. 57

4.3 Resümee

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der verschiedenen, teilweise miteinander konkurrierenden, Methoden der Sachverständigen besteht. Die Auswertung und die Interpretation empirischer Daten können sowohl fehlerbehaftet sein, als auch revidiert werden. Dementsprechend ist auch die auf diesen aufbauende Schuldbeurteilung des Strafrichters nicht immer einfach.

4.3 Resümee Die Analyse der Debatte um die Straftheorie (Kapitel  2) hat gezeigt, dass die Anschauung davon, was strafrechtliche Schuld ist, wandelbar ist und sein muss, um sich bspw. geänderten Vorstellungen von Moral und Recht anpassen zu können. Davon bleibt aber der Grundgedanke nulla poena sine culpa unberührt. Auch wenn das, was als strafrechtliche Schuld betrachtet wird, und wie schwer die Schuld einer bestimmten Tat eingestuft wird, einem Wandel unterworfen ist, so hebelt dies nicht das Schuldprinzip aus. Analog argumentiere ich auch hinsichtlich der Rechtsanwendung, dass die Schwierigkeiten der Schuldunfähigkeitsbeurteilung nicht das Schuldprinzip an sich aushebeln. Sie zeigen aber eine wesentliche Forderung auf, die an das Schuldprinzip in rechtspraktischer Hinsicht zu stellen ist: Das deutsche Schuldstrafrecht muss bei der Schuldunfähigkeitsfeststellung einem Wandel der Methoden und Maßstäbe gegenüber offen sein. Insofern wird die Diskussion um die Umsetzung der schuldbezogenen Strafbegründung in der Rechtspraxis (Strafbegründungsschuld) weiter anhalten. Hier lässt sich zur Verdeutlichung und im Rückblick auf Strawson wieder ein Beispiel aus der alltäglichen sozialen Praxis anführen. Gegenüber einem Kind wird generell mit mehr Nachsicht reagiert als gegenüber einem Erwachsenen. Dennoch ist es für Eltern nicht immer einfach, einzuschätzen, welches Verhalten und welches Maß an Verantwortung sie von ihrem Kind in einer Situation erwarten können und welche Reaktion ihrerseits bei einer Enttäuschung ihrer Erwartung angemessen ist. Fälscht bspw. ein neunjähriges Kind die Unterschrift seiner Mutter, da es den Brief von der Schule mit der Beschwerde über sein Verhalten im Unterricht nicht zu Hause vorlegen möchte, so wird es Eltern nicht leicht fallen, dieses Verhalten einzuschätzen und die angemessene Reaktion zu wählen. Doch wird heute eine Mutter in der Regel anders auf das Verhalten ihres Kindes reagieren, als es noch ihre Mutter oder Großmutter tat. Eine Mutter wird heute das Verhalten des Kindes eher entschuldigen und versuchen, dem Kind zu erklären, was sein Verhalten bedeutet und weshalb es nicht richtig war. Vor zwei Generationen wurden an ein Kind aber noch andere Erwartungen gestellt. Eltern hätten ihrem neunjährigen Kind bei der Fälschung ihrer Unterschrift kaum Nachsicht entgegengebracht und dieses wahrscheinlich härter bestraft. Doch auch wenn die Auffassung darüber einem Wandel unterworfen ist, welche Erwartungen an ein Kind von neun Jahren gestellt werden können, was

182

Kapitel 4: Das Schuldprinzip in der Strafrechtspraxis

wiederum die Methoden der Erziehung beeinflusst, so wird doch weitestgehend die Vorstellung konstant bleiben, dass das Fehlverhalten eines Kindes gegenüber dem eines Erwachsenen weniger schwerwiegend einzuschätzen ist. Entsprechendes gilt für die Institution Strafe. Neue Forschungsergebnisse werden die Auffassung davon verändern, wann Schuldunfähigkeit zugesprochen werden muss bzw. nicht zugesprochen werden kann. Hier spielen bspw. die Forschungsansätze der Neurowissenschaften eine wichtige Rolle. Fortschrittlichere Methoden zur Erfassung und Interpretation empirischer Daten werden eine angemessenere normative Beurteilung der Strafrichter ermöglichen oder aber zu weiteren Reformbestrebungen hinsichtlich der positiv-rechtlichen Ausgestaltung des Schuldprinzips führen. Dieser Herausforderung hat sich das deutsche Schuldstrafrecht zu stellen. Aber davon bleiben der Grundgedanke des Schuldprinzips und seine elementare Funktion im Strafrecht unberührt. Denn die Aufgabe der Strafjustiz ist, auf einen Bruch strafrechtlicher Normen hin zu reagieren und diesen zu sanktionieren. Obwohl ihre Bewertung die Prüfung der empirischen Fakten des konkreten Falles erfordert, ist ihre Beurteilung normativer Art.59 Denn die Faktenlage allein entscheidet nicht über Schuld und Unschuld des Täters, diese Entscheidung erfolgt gemäß dem „angemessenen Rechtsverständnis“.60 Das Urteil des Richters ist ein wertendes Urteil, das entsprechend der strafrechtlichen Normen gefällt wird, aber zur Einschätzung ein beschreibendes (empirisches) Gutachten heranzieht. Einerseits ist die Erhebung und die Interpretation der empirischen Daten mitunter fehlerbehaftet und von der Qualität der Methoden und dem Forschungsstand der beteiligten Disziplinen abhängig. Daher ist die Feststellung der Schuldunfähigkeit nicht immer einfach und die Definition ihrer Voraussetzungen bzw. Anerkennung ihrer Ursachen einem Wandel unterworfen. Andererseits können verbesserte empirische Methoden auch dazu führen, dass das Schuldprinzip in der Praxis angemessener umgesetzt wird und auf dieser Basis „gerechtere“ Urteile möglich sind. Aber weder bestehende Defizite noch zukünftige Fortschritte der empirischen Methoden widersprechen dem der strafrechtlichen Beurteilung zugrundeliegenden Grundsatz „keine Strafe ohne Schuld“ (nulla poena sine culpa). Daher ist das Schuldprinzip auch innerhalb der Strafrechtspraxis tragfähig und legitim. Die Schuldidee lässt sich in der Rechtsanwendung realisieren.

59  Vgl. die Forderung Bressers (1983, S. 429), Kapitel 4.2 Die Kontroversen um die Beurteilung der Schuldunfähigkeit, S. 180. 60 Bresser 1983, S. 438.

Kapitel 5

Das strafrechtliche Schuldprinzip als Grundnorm der Institution Strafe Ich habe in dieser Studie gezeigt, dass sowohl die Schuldidee (das Konzept strafrechtlicher Schuld) als auch die Rechtsanwendungsschuld (die Umsetzung des Schuldprinzips in der Rechtspraxis) überzeugend und tragfähig ist. Die Kritik am Schuldprinzip hat sich als unzutreffend erwiesen. Weder ist das Schuldprinzip ein irrationales, sich einer Weiterentwicklung verweigerndes (atavistisches) Element des Strafrechts, noch ein metaphysisch-religiöses ohne Bedeutung für gesellschaftliche Belange. Vielmehr stellt es meiner Ansicht nach durch seine Forderung der Verhältnismäßigkeit von Schuld und Strafe die Basis der Institution Strafe dar. Die Straflogik des Schuldprinzips besteht aus drei wesentlichen Momenten: (1)  Sie fragt nach der individuellen Schuld des Täters. (2)  Sie begründet die Strafsanktion als Ausgleich der Schuld. (3)  Sie bemisst die Höhe der Sanktion gemäß der Schwere der Schuld. Ein reines Präventionsstrafrecht hingegen hebt diese Straflogik auf: (1') Es fragt nicht nach der Schuld des Täters, sondern nach seiner (möglichen) zukünftigen Gefährlichkeit. (2')  Es fordert nicht den Ausgleich der Schuld, sondern in erster Linie die Erfüllung des Sicherheitsbedürfnisses der Gesellschaft. (3')  Es bemisst die Sanktion entsprechend dem Präventionszweck bzw. der (möglichen) Gefährlichkeit des Täters. Das Präventionsstrafrecht löst damit eine Verhältnismäßigkeit von Tatschuld und Strafsanktion auf. Vielleicht wirkt die präventionstheoretische Hervorhebung von Strafzwecken wie Resozialisierung, Abschreckung und Normstabilisierung auf den ersten Blick überzeugender und effektiver als der Ausgleichsgedanke des Schuldprinzips. Aber diese Studie hat gezeigt, dass sowohl normative als auch empirische Aspekte gegen ein reines Präventionsstrafrecht sprechen. Empirische Erhebungen belegen, dass die Strafzwecke der Präventionstheorien in der Realität kaum erzielt werden. Darüber hinaus leistet nur das Schuldprinzip den Schutz des zu Bestrafenden vor Instrumentalisierung, Strafungerechtigkeit und Rechtswillkür. Das bedeutet natürlich, dass dem Strafrecht Grenzen gesetzt sind: Grenzen der Effektivität und damit der Sicherheit der Allgemeinheit. Aber wenn sich in einer Gesellschaftsordnung die Freiräume mit den Begrenzungen der Freiräume die Waage halten sollen, müssen präventiven Maßnahmen klare Grenzen gesetzt werden.

184 Kapitel 5: Das strafrechtliche Schuldprinzip als Grundnorm der Institution Strafe Zudem kann eine freiheitliche Gesellschaftsordnung nur dann realisiert werden, wenn jedem Einzelnen die Verantwortung übertragen wird, die gesetzten Grenzen der eröffneten Freiräume nicht zu übertreten. Die angemessene Legitimation der Institution Strafe kann in diesem Modell nur der Ausgleichsgedanke liefern: Wer diese Grenzen verletzt, macht sich strafrechtlich schuldig. Daher bin ich der Ansicht, dass die Schuld des Einzelnen notwendige und hinreichende Bedingung für strafrechtliche Sanktionen ist. Doch bleibt im Rahmen dieses Begründungsansatzes das Schuldstrafrecht auch offen für die Umsetzung präventiver Aspekte und die Entwicklung fortschrittlicherer und humanerer Strafsanktionen, wie bspw. des Täter-Opfer-Ausgleichs. Denn belässt man dem Einzelnen bei der Bewältigung des Konfliktes eigene Handlungskompetenz, indem der Bestrafte bspw. aktiv an einer Wiedergutmachung beteiligt wird, wird dies sein zukünftiges normkonformes Verhalten kaum behindern, aber möglicherweise unterstützen. Zu beachten ist ebenfalls, dass die Kritik an den bislang mangelhaft umgesetzten präventiven Maßnahmen innerhalb des Strafvollzugs, wie bspw. eingeschränkte Therapieangebote und unzureichende Wiedereingliederungsmaßnahmen, nicht dem Schuldprinzip anzulasten sind. Die Mängel des bestehenden Strafvollzugs kritisieren sowohl Strafrechtler als auch Kriminalpolitiker unabhängig von einer Diskussion der Strafzwecke. Des Weiteren hat sich gezeigt, dass der Streit um ein deterministisches oder indeterministisches Erklärungsmodell für das Schuldprinzip des Strafrechts nicht von Relevanz ist. Das Strafrecht basiert auf Mechanismen, die in ihren Grundzügen die alltägliche soziale Praxis der Menschen widerspiegeln. Gegenüber Erwachsenen gehen wir generell davon aus, dass jeder für sein Handeln verantwortlich ist und eine von uns als falsch empfundene Handlung auch hätte unterlassen können. Bittet bspw. Anna ihre Freundin Nana um Hilfe und sagt Nana ihre Unterstützung zu, kommt aber dann zum vereinbarten Zeitpunkt nicht, um zu helfen, so ist die natürliche Reaktion von Anna, das Verhalten von Nana zu missbilligen. Unter bestimmten Umständen wird Anna das Verhalten von Nana entschuldigen, wenn bspw. Nana krank wurde und nicht Bescheid sagen konnte. Doch die Aussage Nanas, sie sei spontan von einem Freund zum Essen eingeladen worden und sie habe nicht anders gekonnt, als der Einladung zu folgen, würde für Anna wahrscheinlich keinen angemessenen Entschuldigungsgrund darstellen. Sie wird voraussetzen, dass sich Nana aus freiem Willen dazu entschieden habe, der Einladung zum Essen zu folgen, anstatt ihr – wie versprochen – zu helfen. Dieses Beispiel zeigt, dass die Menschen im interpersonalen Bereich eine nachvollziehbare und anwendungsorientierte soziale Praxis teilen. Die sozial-konforme Handlung wird anerkannt und die das Zusammenleben störende missbilligt und entsprechend verurteilt und gegebenenfalls sanktioniert. Von dieser Praxis sind aber bestimmte Fälle ausgenommen, die entweder von einer besonderen (entschuldigenden) Situation beeinflusst wurden oder einer

Kapitel 5: Das strafrechtliche Schuldprinzip als Grundnorm der Institution Strafe

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besonderen (entschuldigenden) Konstitution des Handelnden, wie bspw. der Unreife des Kindes oder einer psychischen Krankheit. Die Anerkennung von Ausnahmefällen im Rahmen dieser sozialen Praxis unterscheidet sich jedoch eindeutig von der Behauptung einer generellen Sinnlosigkeit der Zuweisung von Schuld und Verantwortung aufgrund bspw. des neuronalen Determinismus und einer daraus folgenden Unmöglichkeit des Anders-handeln-Könnens. Denn die Diskussion um die Willensfreiheit führt über die Binnendifferenzierungen hinaus, die der Mensch im alltäglichen interpersonalen Bereich und im stellvertretenden Bereich, also im strafrechtlichen Beurteilen von Handlungen, vornimmt. Meine Ansicht ist daher, dass eine zunehmend empirische Beweisbarkeit von naturgesetzlich determinierten Vorgängen in und um uns nicht zum Verschwinden dieser sozialen Praxis führen wird. Denn den anderen als schuldfähig und für sein Handeln verantwortlich anzuerkennen, ist eine elementare Grundlage des menschlichen Zusammenlebens. Das Strafrecht spiegelt die beschriebene alltägliche soziale Praxis der Menschen wider. Abgesehen von bestimmten Schuldausschließungs‑ und Entschul­ digungsgründen und der generellen Schuldunfähigkeit des Kindes bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr geht das Strafrecht generell davon aus, dass der Mensch schuldfähig ist, und zieht ihn bei den im Strafgesetz definierten, das Zusammenleben störenden Handlungen persönlich zur Verantwortung. Auch wenn das Strafgesetz die strafrechtliche Schuld nicht positiv definiert, so liegt diesem meiner Auffassung nach dennoch implizit die folgende Annahme zugrunde: Strafrechtlich schuldig ist, wer den Erfolg wollte und wusste, dass dieser eintreten würde. Die Absicht und damit das Dafür-Können des anderen zu hinterfragen und diesen entsprechend als schuldfähiges Gegenüber zu betrachten, hat sich sowohl im alltäglichen Handeln als auch im deutschen Strafrecht bislang durchgesetzt. Schließlich stellen auch die Schwierigkeiten bei der Feststellung von Schuldfähigkeit und ‑unfähigkeit das Schuldprinzip nicht generell in Frage. Sie verdeutlichen nur die Herausforderungen, denen sich das Schuldprinzip in der Strafrechtspraxis zu stellen hat: Was Schuldunfähigkeit begründet und wie Schuldunfähigkeit definiert und festgestellt wird, darf sich meiner Ansicht nach gegenüber neuen Erkenntnissen über die Verursachung und Beeinflussung menschlichen Handelns und neuen Methoden der Diagnostik nicht verschließen. Dabei bleibt aber die Strafrechtspraxis konstant, abgesehen von bestimmten Ausnahmefällen, Schuld zuzusprechen und diese mit entsprechenden Sanktionen zu belegen (Rechtsanwendungsschuld). Ebenso konstant bleibt die dieser Praxis zugrundeliegende Auffassung von Schuld, dass der Mensch in strafrechtlichem Sinne schuldig werden kann, und dass nur diese Schuld einen legitimen Anknüpfungspunkt für Strafsanktionen darstellt (Schuldidee). Doch auch die Schuldidee hat sich der Herausforderung zu stellen, gesellschaftlichen Wandlungsprozessen gegenüber offen zu sein. Die

186 Kapitel 5: Das strafrechtliche Schuldprinzip als Grundnorm der Institution Strafe Schuldidee ist insofern flexibel, als sich ändert, was konkret als strafrechtliche Schuld betrachtet und wie schwer diese Schuld eingestuft wird. Davon unberührt bleibt aber die generelle Gültigkeit der Schuldidee: nulla poena sine culpa. Das deutsche Schuldstrafrecht wendet sich damit an den Menschen als einen verantwortlichen Mitträger der Gesellschaftsordnung, so wie sich Menschen in ihren alltäglichen interpersonalen Beziehungen als verantwortlich Handelnde betrachten. Diese Verbindung von alltäglicher und strafrechtlicher Praxis ist elementar. Wenn wir im zwischenmenschlichen Bereich von den anderen verantwortungsvolles Handeln erwarten, so muss auch die Sanktionierung von fehlgegangenen Handlungen im strafrechtlichen Bereich so ausgestaltet sein, dass der Mensch als verantwortlich handelndes Wesen betrachtet und behandelt wird. Natürlich basiert meine Studie auf dem gegenwärtigen Verständnis, das wir vom Menschen als handelnde Person haben. Es ist denkbar, dass sich diese Vorstellung wesentlich ändert, so dass der Mensch sich und die anderen nicht mehr als für das eigene Handeln verantwortlich betrachtet. Doch meine These ist, dass es grundlegend für unser zwischenmenschliches Interagieren ist, den anderen als für sein Handeln verantwortlich zu betrachten, sodass sich dieses Verständnis nicht ändern wird. Deshalb bin ich der Auffassung, dass auch der Schuldgedanke für das Strafrecht Legitimationsgrundlage bleiben wird.

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Personenregister Birbaumer, Niels  177–179 Bresser, Paul  173, 174, 179, 180 Burkhardt, Björn  113–115, 134

Pawlik, Michael  36, 57, 75–83, 87 Platon  11, 12, 31 Pothast, Ulrich  125, 127, 128, 130, 132, 133

Dreher, Eduard  55, 104–110, 112, 134, 160 Ellscheid, Günter  32, 37, 62, 64

Roth, Gerhard  96, 114, 124, 156, 157, 159, 163, 179 Roxin, Claus  66, 70–75, 83, 98–102, 107

Haddenbrock, Siegfried  110–113 Hart, Herbert L. A.  66–70, 72–75, 83 Hassemer, Winfried  32, 37, 62, 64, 136–139, 141, 142, 144, 145 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  14–19, 76 Hirsch, Hans Joachim  113, 115, 134 Hörnle, Tatjana  19–21, 35, 36, 47, 148, 160, 161, 163 Honderich, Ted  125–128, 130, 131

Schreiber, Hans-Ludwig  100–103, 171, 176 Singer, Wolf  35, 94, 95, 97, 124, 155 Stratenwerth, Günter  22, 34, 82 Strawson, Galen  130–133 Strawson, Peter Frederick  98, 115–135, 145, 149, 151–153, 156–158, 161–163, 181

Jakobs, Günther  101–104, 112

Tiemeyer, Jörg  106–110

Kant, Immanuel  14–16, 18, 19, 46, 47, 85

Von Feuerbach, Paul Johann Anselm  13, 14, 18 Von Liszt, Franz  21, 22, 60, 61, 86, 90, 97

Magen, Stefan  48, 49 Markowitsch, Hans J.  95, 177 Merkel, Grischa  35, 52, 82 Mushoff, Tobias  48, 61

Wootton, Barbara  42–46, 65, 163

Sachregister Abschreckung /Abschreckungswirkung ​ 12, 13, 18, 30, 47, 48, 50, 55–57, 63, 68, 183 Absicht ​42, 45, 46, 64, 65, 117, 118, 138–141, 143–148, 185 Agnostiker/ agnostisch ​98, 100, 107, 110 Anders-handeln-Können ​9, 33, 36, 87, 90, 91, 93, 106, 109, 110, 111, 120, 130, 135, 148, 163, 185 Bundesgerichtshof in Strafsachen ​74, 91, 93, 96, 167 Bundesverfassungsgericht ​1, 29, 31, 74 Dafür-Können ​64, 65, 138–142, 161, 162, 185 Dekulpierung (s. Entschuldigung) Determinismus/ determiniert ​1, 4, 7, 33, 87, 90–95, 97, 101, 102, 104, 106, 107, 109–112, 116, 120–122, 124–135, 145, 147–149, 154, 156–159, 163, 177, 184, 185

Fairness ​48, 49, 51, 57, 66, 70 Freiheitsbewusstsein ​98, 106, 110, 111, 113–115 Freiheitsspielraum ​98, 104, 109, 110–112 Gnostiker /gnostisch ​98, 101, 104, 112 Indeterminismus / indeterminiert ​2, 7, 9, 89, 90–93, 97, 99, 104–110, 112, 116, 120, 122, 124, 129–133, 148, 158, 184 In dubio pro reo ​33, 87, 99 Kompatibilismus / kompatibilistisch ​92, 93, 98, 109, 116, 125, 131 Krankheitsbegriff ​167, 168, 170, 171, 173, 175–177 –– juristischer ​168, 173, 177 –– psychiatrischer ​(somatischer / medizinischer) ​167, 168, 170, 171, 173 –– Kriminalpolitik ​21, 53, 57, 60, 61, 86, 184 Libertarismus ​92, 109, 110, 134

Eingangsmerkmale (biologische) ​155, 167, 169, 173, 175, 177 Einsichtsfähigkeit ​144, 154–156, 167–169 Entschuldigender Notstand (§ 35 StGB) ​ 129, 149–154 Entschuldigung /Entschuldigungsgründe ​ 4, 25, 67–69, 74, 107, 119, 125, 127–129, 135, 141, 142, 144, 149, 150–152, 162, 165, 176, 177, 184, 185 Erfolgshaftung ​3, 39, 40, 42–46, 69, 136–139, 141 Exkulpierung (s. Schuldausschluss) Fahrlässigkeit / fahrlässig ​42, 43, 46, 63, 139–148 Fahrlässigkeitsschuld ​139, 140, 142

Maßregeln der Besserung und Sicherung ​ 1, 26, 60, 62, 78, 96, 156 Maßregelrecht / Maßregelvollzug ​2, 3, 24, 28, 31, 34, 35, 52, 53, 55, 56, 61, 82–85, 157, 160 Mens rea ​42–46 Neurodeterminismus / neuronaler Determinismus ​4, 5, 94, 97, 145, 147, 148, 155, 156, 163, 185 Neurowissenschaften ​1, 3, 4, 6, 7, 34, 35, 59, 93–97, 102, 114, 154, 155, 177–179, 182 Nulla poena sine culpa ​1, 24, 74, 75, 83, 86, 165, 181, 182, 186

Sachregister

Prävention (s. Straftheorie, relative) –– Angstprävention ​23 –– Generalprävention ​2, 12, 13, 20, 29, 30, 46–53, 56, 57, 70–72, 80, 96, 104, 112 –– Spezialprävention ​12, 30, 44, 46, 52–56, 60, 71, 72, 80, 81, 85, 96, 112, 163 Resozialisierung (Wiedereingliederung) ​1, 29, 30, 34, 47, 52, 53, 55, 56, 63, 71, 84, 81, 183, 184 Schuld –– Rechtsanwendungsschuld ​6–8, 164, 165, 183, 185 –– Schuldidee ​6–8, 29, 32, 87, 89, 91, 150, 164, 165, 178, 182, 183, 185, 186 –– Strafbegründungsschuld ​6–8, 165, 181 –– Strafmaßschuld ​6, 7, 165 –– Schuldausschluss / Schuldausschlussgründe ​75, 129, 152, 153, 163, 165, 167, 170, 173–176, 180 –– Schuldhaftung ​39, 40 –– Schuldmerkmal / Schuldprinzip ​24–42, 58–61, 65, 70–75, 84–87, 183–186 –– negative Schuldmerkmale ​97, 142, 143, 149–158, 162, 166, 180 –– positives Schuldmerkmal ​141–149, 155, 158, 162 –– Schuldunfähigkeit (§§ 20, 21 StGB) ​ 25–27, 95, 97, 100, 103, 108, 112, 135, 142, 144, 149, 150, 153–157, 163–182, 185 –– verschuldensunabhängige Haftung (s. Erfolgshaftung) Schulenstreit ​21, 90 Sicherungsverwahrung ​2, 27, 54, 55 Sozialgefährlichkeit/ Gefährlichkeit ​18, 24, 26, 27, 29, 30, 53, 84, 96 Stellvertreterstrafe ​67, 69, 74 Steuerungsfähigkeit ​144, 154–156, 167–169, 172–175 Strafrechtsreform ​22, 167, 173

201

Straftheorie –– absolute / vergeltende /retributive ​1–4, 11, 14–24, 29, 31–42, 65–75, 79, 81–84, 89, 90 –– expressive ​19–21 –– relative / präventive/ utilitaristische ​1–4, 11–14, 16, 18–24, 26–31, 36, 37, 42–61, 65, 67–75, 80–84, 89, 90, 159, 160, 183, 184 –– Sühnetheorie ​14, 29 –– Vereinigungstheorie ​3, 28, 29, 36, 65–84 Strict liability (s. Erfolgshaftung) Täter-Opfer-Ausgleich ​78, 82, 85, 160, 184 Talion/Talionsrecht ​15, 16, 18, 19, 37–41 Todesstrafe ​16, 17, 85, 86 Unrechtsvorwurf ​35, 160, 161 Urheberschaft ​137–142, 145, 161 Utilitarismus /utilitaristisch ​12, 66–70 Verantwortung ​2, 5, 9, 24, 33, 36, 40, 58, 65, 79–84, 87, 94–97, 99, 113, 116, 120, 124, 125, 129, 131–134, 136–139, 144, 145, 158–163, 171, 181, 184–186 Verbotsirrtum (§ 17 StGB) ​129, 149, 150, 152–154 Vergeltung (s. Straftheorie, absolute) Verhältnismäßigkeit/ Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ​29, 32, 37, 42, 55, 62–65, 135, 136, 141, 183 Verursachung (s. Urheberschaft) Vorsatz/vorsätzlich ​25, 30, 40, 43, 63, 139–148, 174 Vorsatzschuld ​139, 140, 142, 144 Wiedergutmachung (s. Täter-Opfer-­ Ausgleich) Willensfreiheit ​1, 3–10, 34, 37, 87, 89–93, 96, 98–116, 125, 126, 128, 129–131, 134, 135, 143, 145, 148, 149, 152–154, 158–163, 165, 177, 185