Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit: Das schwere Erbe von Unrechts-Staaten 2793771202, 9783767571327

Nach dem Ende von Diktaturen stellen sich immer wieder die gleichen Fragen: Müssen, sollen die Verantwortlichen bestraft

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Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit: Das schwere Erbe von Unrechts-Staaten
 2793771202, 9783767571327

Table of contents :
Geleitwort
Inhaltsverzeichnis
Einführung
Kapitel 1 Über die Wurzeln in Amerika
Kapitel 2 Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche
Kapitel 3 Nicht nur reden – auch handeln: Die Mission der Bethanien-Diakonissen
Kapitel 4 Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft
Kapitel 5 Noch einmal: Reden und handeln – Die Mission der Ebenezer-Diakonissen
Kapitel 6 Ganzheitlich Kirche sein
Anhang Die erste methodistische Mission in Hamburg
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Register
Bildquellen

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Veröffentlichungen der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland

Karl Heinz Voigt Methodistische Mission in Hamburg (1850–1900) Transatlantische Einwirkungen

Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.

Mit 23 Abbildungen. Für die Umschlagabbildung wurde eine Postkarte der Landungsbrücken von St. Pauli (ca. 1890–1900) verwendet – LOT 13411, no. 0418 im Bestand der Library of Congress in Washington/U.S.A.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Eine eBook-Ausgabe ist erhältlich unter DOI 10.2364/2793771202. © Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2010 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehrund Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Satz: Karl Heinz Voigt Layout: mm interaktiv, Dortmund Umschlaggestaltung: klartext GmbH, Göttingen Druck: buch bücher dd ag, Birkach ISBN: 978-3-7675-7132-7

Geleitwort Die kirchengeschichtliche Erforschung des 19. Jahrhunderts hat insbesondere auch unter der Perspektive der Frömmigkeits- und Sozialgeschichte in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Gleichwohl gibt es nach wie vor blinde Flecken, die trotz umfangreicher Veröffentlichungen nicht befriedigend ausgeleuchtet worden sind. Dazu gehört immer noch die Überwindung konfessioneller Perspektiven, die nach wie vor zu gewissen Ausblendungen führen. Mit dem Namen des Autors Karl Heinz Voigt ist das beharrliche Einbringen eines freikirchlichen Hintergrunds verbunden. Der Experte für Vergangenheit und Gegenwart der methodistischen Kirche wendet mit dieser Studie seinen Blick einer Großstadt des 19. Jahrhunderts zu, die exemplarisch für die Probleme von Metropolen steht. Hamburg war durch seinen Hafen und den weltweiten Handel auf der einen Seite offen für Neues und Neulinge; auf der anderen Seite bestimmte die lutherische Tradition seit der Reformationszeit das kirchliche und öffentliche Leben. Ungeachtet aller Säkularisierungstendenzen hielten die Vertreter der lutherischen Kirche an ihrer Vormachtstellung fest, Mitglieder anderer christlichen Konfessionen mussten sich das Recht auf freie Religionsausübung mühsam erkämpfen. Freikirchliche Gruppen mit englischem oder amerikanischem Hintergrund wie die Methodisten stießen auf ein gewisses Interesse bei Hamburgern und Hamburgerinnen, die in Distanz zu den traditionellen Kirchen lebten. Oft waren eine soziale Randexistenz und Entfremdung von der christlichen Überlieferung miteinander verbunden; hier öffnete sich für die Methodisten ein Betätigungsfeld, in dem sie mit missionarischen und sozialen Angeboten Akzeptanz fanden. Ihren Platz im konfessionellen Gefüge errangen sie jedoch erst nach zahlreichen Niederlagen. Dieses Buch führt anhand der Betrachtung geschichtlicher Erfahrungen des 19. Jahrhunderts vor Augen, dass vor allem innovative Formen der Sozialarbeit in der Großstadt auf Zuspruch stießen. Die Arbeit methodistischer Frauen, die als Diakonissen nach Hamburg kamen, bildete einen ganz entscheidenden Beitrag für die Integration dieses in Hamburg neuen Modells christlichen Glaubens. Für die noch zu schreibende Kirchengeschichte Hamburgs im 19. Jahrhundert liegt mit dieser Studie ein wichtiger Baustein vor, der das konfessionelle Spektrum der Hansestadt deutlich vor Augen führt. Als eine der Aufgaben für die weitere Erforschung dieser Epoche der Vergangenheit Hamburgs

6

Geleitwort

stellt sich die Notwendigkeit, die Verbindung der christlichen Gruppen untereinander stärker zu berücksichtigen. Ruth Albrecht, Professorin für Kirchengeschichte an der Universität Hamburg

Inhaltsverzeichnis Geleitwort

....................................................................................................................5

Einführung

................................................................................................................. 13

Kapitel 1

Über die Wurzeln in Amerika ..........................................16

1.

Der Blick in die Neue Welt ........................................................................... 17

2.

Erfahrungen in den Einwandererkirchen ................................................. 20

2.1

Die ungewohnte Freiheit ............................................................................... 20

2.2

Die Ausbildung eigener Kirchenstrukturen ............................................. 21

2.3

Amerikanische Arbeitsweise in Deutschland? ......................................... 27

3.

Gemeinsame Wurzeln – gemeinsame Ziele ............................................. 33

4.

Voraussetzungen für die Mission in der Heimat .................................... 35

Kapitel 2

Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche..................................37

1.

Zur Lage in Hamburg .................................................................................... 38

1.1

Rahmenbedingungen in Gesellschaft und Politik .................................. 38

1.2

Zum kirchlichen Umfeld ............................................................................... 41

1.3

Eine Nische für die Methodisten? ............................................................... 45

2.

Schwierige Hamburger Anfänge ................................................................. 47

2.1

Ein Vorbote der Methodisten in der Hansestadt.................................... 47

2.2

Der erste Prediger in Hamburg – ein Missionar..................................... 48

2.3

Wer war Carl H. Doering? ............................................................................ 49

2.4

Predigtsäle ......................................................................................................... 50

2.5

Hamburg als Vorfeld für Amerika.............................................................. 51

2.6

Kolporteure und Laienprediger................................................................... 51

8

Inhaltsverzeichnis

2.7

Sonntagsschule ................................................................................................. 54

2.8

Klassversammlungen...................................................................................... 55

2.9

Der schwere Start............................................................................................. 58

3.

Jahre der Enttäuschung (1850–1875) ......................................................... 59

3.1

Ein überregionaler Vergleich ....................................................................... 59

3.2

Kein passendes Lokal ..................................................................................... 64

3.3

Das Gemeindeleben........................................................................................ 66

3.4

Aufbrüche zu neuen Ufern............................................................................ 68

3.5

Aus dem Zentrum nach Wandsbek ............................................................ 70

4.

Erfolge unter veränderten Bedingungen ................................................... 70

4.1

Ein Anfang: Kleiner Kirchenweg Nr. 10 ................................................... 70

4.2

Eine schöne Kapelle und größere Versammlungen ............................... 81

4.3

Hafenarbeiter- und Seemännerstreik im Winter 1896/97 .................... 88

4.4

Kaum zwischenkirchliche Konflikte........................................................... 93

4.5

Eppendorf – und andere selbständige Tochtergemeinden ................ 101

4.6

Weder Gemeinde ohne Mission noch Mission ohne Gemeinde....... 104

4.7

Versuch einer Zwischenbilanz ................................................................... 106

Kapitel 3

Nicht nur reden – auch handeln: Die Mission der Bethanien-Diakonissen .........................110

1.

Bethanien-Diakonissen in Hamburg ........................................................ 111

2.

Die Diakonissen: ihre soziale Lage und ihr Dienst............................... 113

3.

Die Diakonissen und die Armen ............................................................... 118

4.

„Fabrikdiakonissen“: Fürsorgerisches Wirken....................................... 121

5.

Veränderungen durch die Sozialgesetzgebung...................................... 123

6.

Typhus und Cholera in der Stadt.............................................................. 125

Inhaltsverzeichnis

9

7.

Die Diakonissen und die Reichen ............................................................. 127

8.

Basare zu Bethaniens Wohl......................................................................... 129

9.

Die Schwestern in der Stadt und in der Kirche..................................... 135

Kapitel 4

Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft .....................................140

1.

Der Weg nach Hamburg.............................................................................. 141

2.

Trennung vom Verein „Hoffnung“ .......................................................... 147

3.

Ungewöhnliche Gemeindebildung............................................................ 148

4.

Die Großstadt als neue Herausforderung ............................................... 151

4.1

Eine neue Welt: die Großstadt ................................................................... 152

4.2

Raumprobleme............................................................................................... 157

5.

Das Verhältnis zur Gesellschaft und zu den Kirchen .......................... 164

5.1

Politische Orientierungen ........................................................................... 165

5.2

Vorökumenische Erfahrungen................................................................... 170

6.

Struktur und Entwicklung der Gemeinde............................................... 178

6.1

Statistische Übersicht.................................................................................... 179

6.2

Aufnahmen in die Kirche............................................................................ 180

6.3

Zu- und Wegzüge........................................................................................... 181

6.4

Zeitschriften .................................................................................................... 182

6.5

Frauenarbeit in Schwesternvereinen ........................................................ 183

6.6

Sonntagsschulen............................................................................................. 184

6.7

Die Bildung von Chören.............................................................................. 186

7.

Gemeinde und Kirche – die methodistische Connexio....................... 187

10

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 5

Noch einmal: Reden und handeln – Die Mission der Ebenezer-Diakonissen ..........................190

1.

Entstehung und Besetzung der Station Hamburg ................................ 190

2.

Das soziale Umfeld........................................................................................ 193

3.

Antwort auf Großstadtprobleme. .............................................................. 197

4.

Im Cholera-Jahr 1892 ................................................................................... 199

5.

Die Lebensbedingungen – Orte und Umstände.................................... 210

6.

Wandel und Anpassung............................................................................... 212 Exkurs Missionarisch bestimmtes Rollenverständnis bei Predigern und Diakonissen ..................................................................................................... 213

Kapitel 6

Ganzheitlich Kirche sein ................................................219

1.

Methodistische Kirchen- und Gemeindebildung in Hamburg.......... 219

2.

Gemeindebildendes „missionarisches Quadrat“................................... 222

2.1

Verkündigung durch die Predigt............................................................... 222

2.2

Verkündigung durch die diakonische Tat .............................................. 223

2.3

Verkündigung durch die gelebte Gemeinschaft des Glaubens ......... 224

2.4

Der Missionar als gestaltende Persönlichkeit......................................... 225

3.

Vorökumenische Perspektiven................................................................... 226

4.

Gemeindeaufbau einer missionarischen Kirche.................................... 228

4.1

Missionarisch Kirche-Sein........................................................................... 228

4.2

Die Missionsgemeinschaft........................................................................... 230

4.3

Das ekklesiologische Verbundsystem des Connexionalismus........... 235

4.4

Zur Missionspraxis........................................................................................ 236

5.

Unübersehbare Probleme in der missionarischen Arbeit................... 240

5.1

Wie die Bevölkerung ihre Landeskirchen sah ....................................... 240

Inhaltsverzeichnis

11

5.2

Die Taufpraxis: falsche Vergewisserung ................................................. 241

5.3

Sonntagsschule und Konfirmationsunterricht....................................... 242

5.4

Methodistische Evangelisation und fremde Taufpraxis...................... 243

6.

Kirche mit anderen ....................................................................................... 243

6.1

Die Evangelischen Allianz........................................................................... 244

6.2

Unter freikirchlichen Minderheiten ......................................................... 245

6.3

Die ökumenische Grundhaltung ............................................................... 246

7.

Von Generation zu Generation – Weitergeben, aber wie? ................. 247

7.1

Die Weitergabe erwecklicher Frömmigkeit ............................................ 247

7.2

Frömmigkeit als Last .................................................................................... 250

7.3

Von der integrierten zur Spartengemeinde ............................................ 252

7.4

Der Einfluss der Gemeinschaftsbewegung ............................................. 254

8.

Schlussbemerkung......................................................................................... 257

Anhang

.......................................................................................259

Die erste methodistische Mission in Hamburg................................................... 259 1.

Engländer bevorzugt vor allen anderen .................................................. 259

2.

Der Laienprediger John Henry David Tyson ........................................ 261 Exkurs Die Kontinentalsperre konkret: George Bekenn von Liverpool........ 263

3.

Methodisten in Hamburg: Ohne Haus und ohne Hirten (1826–1832) ............................................. 265

4.

Erste diakonische Organisation: „Port of Hamburg Sailor’s Society” .......................................................... 268

5.

Die zweite sozial-diakonische Initiative: Eine Sonntagsschule in St. Pauli ............................................................... 270

6.

Englische Methodisten und die sozialen Probleme.............................. 273

12

Inhaltsverzeichnis

7.

Mission in Zeiten des Umbruchs – Theologische Erwägungen ........ 278

Abkürzungsverzeichnis ............................................................................................. 283 Literaturverzeichnis ................................................................................................... 284 Register

............................................................................................................... 287

Bildquellen

............................................................................................................... 296

Einführung Der vorliegende Beitrag über die „Methodistische Mission in Hamburg“ im 19. Jahrhundert bietet mehr als die stadtgeschichtliche Studie einer kirchlichen Minderheit. Er zeigt am Beispiel von zwei früher autonomen Zweigen der ursprünglich in Amerika wirkenden methodistischen Kirchenfamilie, nämlich der Bischöflichen Methodistenkirche und der Evangelischen Gemeinschaft, Probleme und Erfahrungen von Großstadtmission und Gemeindeaufbau in einer Zeit, als dieser Aspekt kirchlichen Wirkens in Deutschland noch fremdartig wirkte. Die Erfahrungen dieser beiden Freikirchen in der Großstadt Hamburg berühren Themen, die heute für das Leben aller missionierenden Kirchen von Interesse sein können. Zur Vielschichtigkeit dieser Studie gehören der recht frühe, durchgehend erkennbare missionstheologische Ansatz, der Prozess der Umstellung der kirchlichen Arbeit vom agrarbestimmten Milieu zur säkularen Stadt, die strukturelle Gestaltung des „in Mission-Seins“ als Kirche, das Leben und Erleben der Trägerinnen und Träger dieser Mission. Als neue theologische und praktische Beobachtung fließt daher für den Kenner der gegenwärtigen missionarischen Aufbauprogramme ein Beispiel dafür ein, wie neben den kongregationalistisch bestimmten Vorstellungen ein nicht von der Ortsgemeinde dominiertes, sondern gesamtkirchliches Konzept verfolgt wurde, das sich vom theologischen Selbstverständnis der Kirche her als zwingend erwies. Diese Fragen sind nicht systematisch vorgestellt, sondern am „Fallbeispiel“ der Großstadt Hamburg in die historische Untersuchung hineinverwoben. Es werden begleitend stadtgeschichtliche, insbesondere die Vielfalt der kirchlichen Minderheiten betreffende Informationen und Einblicke in Themen methodistischer Theologie, des kirchlichen Selbstverständnisses und seiner strukturellen Ausgestaltung mit der typischen connexionalen Weise des methodistischen Kirche-Seins verflochten. Die Leserinnen und Leser werden bald merken, dass es hier und da zu gedanklichen Wiederholungen kommt. Das ist unvermeidbar, wenn man zwei – bezieht man den Anhang mit ein – sogar drei eigenständigen kirchlichen Traditionen der methodistischen Kirchenfamilie gerecht werden will. Auf diese Weise kann jedes Kapitel eine in sich geschlossene Einheit darstellen, aus der sich das Gesamtbild gegenseitig verstärkt und erhärtet. Ein Beitrag mit der historischen Linie von Großbritannien nach Hamburg ist dem Buch lediglich als Anhang beigegeben, weil London und Liverpool bereits von der Verstädterung und den Folgen der sogenannten Ersten industrielen Revolution erfasst waren, während in der Untersuchung insbeson-

14

Einführung

dere der Prozess aus dem agrarbezogenen Milieu zur Großstadtarbeit ein zentraler Aspekt der Gedankenführung ist. Außerdem wird dadurch die weit verbreitete Vorstellung korrigiert, der von John Wesley geprägte Methodismus sei ausschließlich von England nach Deutschland gekommen. Die Darstellung folgt der tatsächlichen Entwicklung, weil der britische Methodismus in Amerika, besonders der deutsche Zweig, einem folgenreichen Wandel unterworfen war, bevor er von dort in den deutschsprachigen Teil Europas zurückwirkte. Durch diesen Tatbestand wird der methodistische Weg der Mission in Deutschland ein Beispiel für „Transatlantische Rückwirkungen“ als Folge der deutschen Auswanderung im 19. Jahrhundert. Gerade diese Auswirkungen sind in Hamburg spürbar geworden. Aber auch die Beziehungen zwischen Hamburg und der britischen Insel sind stadtgeschichtlich nicht ohne Interesse. Darum wurde das Buch um den Anhang erweitert, der zusätzlich einige der theologischen Linien bestätigt. Ein Vergleich mit einigen Programmen und Konzepten für die heute praktizierte missionarische Arbeit ist durchaus angebracht. Geschieht nämlich Mission zum Zwecke des Gemeindeaufbaus, dann wird sie sich um dieses Zieles willen fragen lassen müssen, ob nicht solcherlei „Mission“ als eine Art Werbung oder Propaganda in einer ihr eigentlich fremden Art instrumentalisiert wird. Wirkliche Mission interessiert sich zuerst leidenschaftlich für den Mitmenschen, dessen Verhältnis zu Gott gebrochen ist. Methodistisch gesprochen geht es ihr nicht um Gemeindeerneuerung, sondern um Welterneuerung. Die Sammlung einer Gemeinde kann und wird folgen. Das muss aber in einem Land, in dem es viele Gemeinden gibt, nicht zwangsläufig der Fall sein. Der Vergleich führt zu einem weiteren Aspekt. Mission ist die Berufung der gesamten Kirche. In der Praxis sieht der Beobachter in unserer Zeit der Individualisierung die Bildung von personenbezogenen, manchmal personenabhängigen Gemeinden. In ein Kapitel dieses Buches sind erste vorsichtige Überlegungen eingeflossen, wie und unter welchen Bedingungen eine kirchliche Körperschaft, in diesem Fall die international organisierte methodistische Kirche, an der Mission teilhaben kann, ohne dem Modell independenter Gemeindeorganisation zu folgen, das heute – verbunden mit dem überwiegend aus Amerika herüberschwappenden Namen einer Stadt oder eines Gemeindegründers – hoch im Schwange ist. Es wäre wünschenswert, wenn die Studie zu weiterführenden Überlegungen des missionarischen Kirche-Seins anregt.

Einführung

15

Für diese Arbeit habe ich viel Unterstützung erfahren. Im Zentralarchiv der Evangelisch-methodistischen Kirche war Frau Ulrike Knöller jederzeit eine Ansprechpartnerin. Drei Kollegen haben das Manuskript im Hinblick auf die Darstellung evangelisch-methodistischer Geschichte und insbesondere ihrer Theologie gegengelesen. Ich danke Dr. Siegfried Lodewigs, der in den letzten Tagen vor seinem Tod noch hilfreiche Notizen auf den Rand des Manuskripts schrieb, Professor Helmut Nausner und Pastor Helmut Robbe. Die Hamburger Kirchenhistorikerin Dr. Ruth Albrecht hat die Entstehung der Arbeit interessiert begleitet, diese und jene Anregung gegeben und das Geleitwort beigesteuert. Ihnen allen, wie allen anderen Förderern dieser Arbeit danke ich herzlich. Karl Heinz Voigt Bremen, im Sommer 2009

Kapitel 1 Über die Wurzeln in Amerika Die theologischen Grundlagen für die deutschsprachigen methodistischen Kirchen liegen im englischen, von John Wesley (1703–1791) geprägten Zweig des Methodismus. Von daher hat er auch nachhaltige Impulse für das geistliche Leben, seine Spiritualität, empfangen. Der Pietismusforscher und WesleyKenner Martin Schmidt (1909–1982) hat über die frühe methodistische Bewegung in England geschrieben: Sie „ruhte nicht auf einem mittelalterlichen Pfründensystem, sie kannte keine Privilegien, sie war nicht an Orte, ja nicht einmal an gottesdienstliche Stätten gebunden, sie wanderte ebenso wie der moderne Industriearbeiter, sie konnte mit einem Existenzminimum auskommen wie dieser, sie musste sich ebenso von der herrschenden Klasse ausgestoßen fühlen, sie wusste die Verantwortung für die amorphe Masse im Ganzen mit dem persönlichen Zuspruch an den einzelnen zu vereinigen, weil sie ihn nicht mehr auf seine Zugehörigkeit zu festen Bindungen von Heimat, Tradition und Sitte anredete. Sie trug mit ihrer ganzen Methodik, die teils bewußt, teils instinktiv gefunden wurde, die Zukunft in sich. John Wesley ist der erste gewesen, der klar erkannt hat, daß die Aufgabe des Christentums in der modernen Welt Mission heißt.“1

Der zentrale theologische Akzent war das missionarische Kirche-Sein. Den verband Schmidt im Methodismus ganz eng mit der entstehenden industriellen Gesellschaft, in welcher der englische Methodismus seine damals moderne Gestalt fand. Als der renommierte Kirchengeschichtler über „Kirche und industrielle Gesellschaft“ sprach, war der Methodismus sein Beispiel. Bis auf einen wesleyanischen Zweig in Württemberg kamen drei methodistische Kirchen nicht unmittelbar aus England nach Deutschland, sondern über einen Umweg von Amerika aus. Die dortigen kirchlichen und gesellschaftlichen Umstände veränderten das Erscheinungsbild des Methodismus. Aus der Bewegung, die sich in England immer noch als Teil der Anglikanischen Kirche sah, wurde in Amerika eine autonome Kirche. Das war selbst bei einer wenig ausgebildeten Ekklesiologie ein Gewinn. Dagegen war die Wanderungsbewegung in den USA mit der Neubesiedlung des weiten Kontinents einerseits mit einem Rückschritt in eine vorindustrielle Gesellschaft verbunden, andererseits war sie von Anfang an Teil der kommenden weltwei1

Martin Schmidt, Kirche und industrielle Gesellschaft in England. In: Berliner Stadtmission (Hg.), Evangelischer Glaube und soziale Verantwortung, Berlin 1957, S. 31–47 (40).

Der Blick in die Neue Welt

17

ten Migrationsbewegungen. Beiden Ländern war gemeinsam, dass sie gesellschaftspolitisch die Ideen der Aufklärung bzw. des Deismus aufgenommen hatten. Auf diesem Hintergrund ist die Frage nach den soziokulturellen Wurzeln zu stellen, durch welche die deutschsprachigen methodistischen Kirchen beeinflusst wurden.

1.

Der Blick in die Neue Welt

Die Geschichte der deutschsprachigen methodistischen Kirchen in den damaligen Kleinstaaten Deutschlands, in der Schweiz und in Teilen des heutigen Frankreich beginnt in Amerika. Unter deutschen Einwanderern entstanden nacheinander die Evangelische Gemeinschaft, die Kirche der Vereinigten Brüder und ein eigenständiger deutscher Zweig innerhalb der Methodist Episcopal Church. Alle waren Kirchen des methodistischen Typs. Aus diesen deutschamerikanischen Auswandererkirchen wurden nach der 1848er Revolution Missionare zuerst nach Deutschland gesandt. Voraussetzungen dafür waren (1) politisch: die in der Frankfurter Verfassung verankerte Religionsfreiheit; (2) kulturell: das Interesse an dem Ergehen der Ausgewanderten in der Neuen Welt; (3) geistlich: das missionarische Interesse, die in der Heimat zurückgebliebenen Angehörigen für den Glauben und die Nachfolge Christi zu gewinnen; (4) kirchenpolitisch: in Deutschland unter den kommenden Auswanderern die Vorurteile gegenüber dem Methodismus auszuräumen; schließlich (5) missionarisch: in Dankbarkeit für das empfangene reformatorische Erbe die Erweckungsbewegungen in Deutschland im Kampf gegen den Rationalismus zu stärken, so dass sie in der Lage sein sollten, durch eine zweite, von Deutschland ausgehende Reformation die Welt erneut zu verändern. Aber bevor diese Mission in Deutschland begann, hatten in Amerika die deutschsprachigen Kirchen ihre Gestalt gefunden. Mit diesen Erfahrungen persönlicher Veränderungen und neuer Eindrücke kamen die Missionare nach 1848 nach Deutschland zurück. Daher stellt sich unter dem speziellen Gesichtspunkt der Großstadtmission die Frage: Was hat sie geprägt und ihr Leben geformt? 2

3

2 3

Im Laufe der Geschichte vereinigten sich diese drei früher auch in Deutschland wirkenden Kirchen zur Evangelisch-methodistischen Kirche. Karl Heinz Voigt, Warum kamen die Methodisten nach Deutschland? Eine Untersuchung über die Motive für ihre Mission in Deutschland, BGEmK 4, Stuttgart 1975, 19844.

18

Über die Wurzeln in Amerika

Die meisten in den amerikanischen Kirchenzweigen hauptamtlich als Prediger tätigen Deutschen, Schweizer und Elsässer waren in ihrer ersten Lebenshälfte nach Amerika eingewandert. Fragt man nach ihrem kirchlichen Hintergrund, dann waren es Lutheraner aus dem Königreich Hannover oder aus Württemberg, Reformierte aus Westfalen, Ostfriesland und der Schweiz oder auch Katholiken aus Bayern. Die Ströme der Massenauswanderung im 19. Jahrhundert verlagerten sich, zunächst kamen sie aus dem süddeutschen Raum, später aus Mecklenburg, Pommern und Ostpreußen. Entsprechend kamen auch in Amerika diejenigen, die sich einer methodistischen Kirche anschlossen, zeitversetzt aus den jeweiligen Gebieten. Über ihre berufliche Qualifikation kann man mit Thomas Nipperdey feststellen: 4

„Die Berufsherkunft der Auswanderer und ihrer Angehörigen zeigen einen Übergang von Bauern, Bauernsöhnen und Handwerkern über die ländliche Unterschicht zu den industriellen [und landwirtschaftlichen] Arbeitern.“5

Die Lebenserwartungen der Landarbeiter waren in der Heimat gering. „Auswandern war ein Weg aus dem sozialen Abstieg.“ Außerdem schien sich den Landarbeitern eine Möglichkeit zu eröffnen, ihre agrarbezogene Existenz in dem weiten zu erobernden Land mit der bisherigen Qualifikation fortzusetzen. Die Bauernsöhne und -töchter, die Handwerker aus den Dörfern mit ihren weithin auf die Landwirtschaft bezogenen Berufen, auch die Landarbeiter hatten bis dahin einen engen Lebenshorizont. Mit der Entscheidung zur Auswanderung in eine fremde, unbekannte Welt, die sie oft nur aus Briefen anderer Auswanderer kannten, deuten sie ihre verzweifelte Lage an oder zeigen, dass sie mutig und couragiert waren. Unter den Auswanderern finden sich nur vereinzelt solche, die aus Großstädten, aus akademischen Berufen oder dem Bürgertum kamen. Bauern, Handwerker und kaum qualifizierte Männer oder Frauen strebten in Amerika bald wieder in ländliche Regionen, manchmal nach einem Zwischenstopp zum Gelderwerb in einer Stadt. Vielfach folgten sie den Trecks, die in uner6

4

5 6

Es liegen bisher keine Einzelforschungen vor. Lediglich die Auswanderer aus den hessischen Ländern für zwei der hier erwähnten Kirchen sind mit Namen, Lebensdaten und Geburtsort (mit jetziger Postleitzahl) erfasst und veröffentlicht. In: Karl Heinz Voigt, Amerika hin und zurück. Erfahrungen von hessischen Rückwanderern im 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung (JHKGV), Bd. 52 (2001), Darmstadt/Kassel 2001, 108 f. und ders., Methodisten in der Hugenottenstadt Friedrichsdorf. Lokale und weltweite Ausstrahlung. In: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung Bd. 54 (2003), Darmstadt/Kassel 2003, S. 165 f. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, Arbeitswelt und Bürgergeist, München 19933, S. 31. Ebd.

Der Blick in die Neue Welt

19

schlossene und unwirtliche Gebiete aufbrachen, um an die nach Westen vordrängende Besiedlungsgrenze vorzustoßen. Manche blieben in Dörfern oder Niederlassungen, in denen vor ihnen angekommene Deutsche aus der heimatlichen Region bereits erste Schritte der Kultivierung von Acker und Wald abgeschlossen hatten. Andere folgten früher Ausgewanderten nach, die aus der näheren oder weiteren Verwandtschaft schon vor ihnen aufgebrochen waren. Nur wenige suchten einen Arbeitsplatz in der noch im Aufbau befindlichen Industrie oder in der Großstadt. Ihre religiösen Erfahrungen, die sie bei ihrer Auswanderung mitnahmen, waren von der dörflichen Lebenswelt des 19. Jahrhunderts geprägt. In einer ganzen Anzahl von autobiographischen Berichten werden Anmerkungen gemacht über den Einfluss des Dorfpfarrers. Es wird eine eigene innere Anteilnahme bei der Konfirmation erwähnt. Die Frömmigkeit der Mutter mit ihrer erbaulichen Lektüre und ihre mit Gebeten verbundenen Abschiedswünsche für die Zukunft waren unvergessen. Es gibt auch kritische Anmerkungen über den überalterten heimatlichen Pastor, über dessen Wirtshausbesuch und seine Teilnahme am dörflichen Tanzvergnügen, über Alkoholgenuss und andere Schwächen. Diese Erinnerungen können freilich auf dem Hintergrund der nunmehr in Amerika gewonnenen puritanischen Lebenswirklichkeit eine neue Akzentuierung bekommen haben. Ein kleiner Anteil der methodistischen Prediger kam, entsprechend dem geringeren Anteil der Einwanderer, aus der römisch-katholischen Kirche. Sie sehen ihre kirchliche Vergangenheit eher kritisch und sprechen Erfahrungen im Beichtstuhl mit Priestern, deren wenig sensibles Verhalten bei familiären Todesfällen und Enttäuschungen über den Lebenswandel einzelner Priester an. Es ist weniger Kritik an der Kirche als an den sie repräsentierenden Geistlichen. Bei den protestantisch geprägten Einwanderern gab es eine weite Spanne der Frömmigkeit. Es gab schwäbische Pietisten, ostfriesisch nüchterne Reformierte, traditionell Kirchliche aus dem Königreich Hannover, Liberale aus Mecklenburg und Oldenburg. Viel hing davon ab, welcher theologischen Richtung der heimatliche Pastor zugetan war und wie die Eltern darauf reagierten. Als Einwanderer, die vor ihrer Auswanderung einer europäischen Staatskirche angehört hatten, trafen sie eine völlig ungewohnte Lage an. In den europäischen Territorialkirchen wurde die Kirchengliedschaft gleichsam passiv durch den Akt der Taufe vermittelt, indem die Eltern für das unmündige Kind an dessen Stelle eine Willenserklärung abgaben, manchmal auch 7

7

Davis W. Clark, Experience of the German Methodist Preachers. Collected and arranged by Rev. Adam Miller, Cincinnati 1859. Der Band enthält 57 autobiographische Berichte.

20

Über die Wurzeln in Amerika

ein Bekenntnis ablegten. Damit war die Kirchengliedschaft begründet, die in der Konfirmation nach einem entsprechenden Unterricht bestätigt wurde. Sie galt, solange das Kirchenglied sich im Territorium der jeweiligen Staatskirche befand. Überschritt es die Staatsgrenze in einen anderen der deutschen Kleinstaaten, so fand damit ein Kirchenwechsel statt. Handelte es sich um einen Umzug von einem Staat mit einer lutherischen Kirche in einen Staat mit einer reformierten oder unierten Kirche, war in der Regel auch ein oft unbemerkt vollzogener Konfessionswechsel damit verbunden. Überschritt man aber die Landesgrenze, um nach Amerika auszuwandern, dann war damit die Kirchengliedschaft beendet. Die auswandernde Person blieb normalerweise zwar wie bisher Lutheraner oder Reformierter, sie gehörte aber keiner Kirche mehr an. Vielleicht ist dieser schleichende, nun auch passiv vollzogene Kirchenaustritt ein Grund dafür, dass die Millionen deutscher Auswanderer nicht nur im 19. Jahrhundert bei den heimatlichen Kirchen in Deutschland aus dem Blickfeld gerieten, sondern dass selbst die heutige Kirchengeschichtschreibung diesem Phänomen nur wenig Beachtung schenkt. 8

2. 2.1

Erfahrungen in den Einwandererkirchen Die ungewohnte Freiheit

In der Heimat waren die europäischen Protestanten als Glieder der Orts- und Landeskirche von der Wiege bis zur Bahre eine zur Zivilisation gehörende Rund-um-Versorgung gewohnt. Es gehörte zum guten Ton und zur Tradition, dass die Kirche in verschiedener Hinsicht das dörfliche Leben bestimmte. Der Pfarrer war eine respektierte Persönlichkeit, akademisch gebildet, der mit den Honoratioren des Ortes in gutem Ansehen stand. Um die Kirche musste man sich keine Sorgen machen und die Kirche sorgte sich auch nicht immer 8

Zum Beispiel Martin H. Jung, Der Protestantismus in Deutschland von 1815 bis 1870. Ders, Der Protestantismus in Deutschland von 1870 bis 1945, beide KGE, Leipzig, 2000 u. 2002. Auch: Bde 3 und 4 der Geschichte des Pietismus, hg. v. Ulrich Gäbler u. a., Göttingen 2000 u. Hartmut Lehmann, Göttingen 2004. Selbst die mit der Auswanderung durch den Hafen verbundene Bremische Kirchengeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Andreas Röpke u.a., Bremen 1994, schenkt diesen Fragen nur eine geringe Beachtung. Auch die deutlich angestiegene Erforschung des komplexen Phänomens der Auswanderung mit reichlich erschienenen Publikationen hat die speziellen kirchlichen Aspekte bisher wenig beachtet.

Erfahrungen in den Einwandererkirchen

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um das Heil ihrer Schäfchen. Wenn man die Kirche brauchte, war sie da; für Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten und Beerdigungen. Der Pfarrer wohnte am Ort oder wenigstens in der Nähe, und bei entsprechenden familiären Anlässen läuteten selbstverständlich die Glocken. Das war in Amerika anders. Die Ausgewanderten fanden sich in einer ungewohnten Situation vor. Der von irgendwoher bezahlte Pfarrer war nicht da. Es war auch nicht notwendig, denn die Ortsbewohner hatten, weil sie kirchenlos waren, keine Ansprüche an einen Pfarrer. Aber wer taufte nun die Kinder? Wer erteilte ihnen Schul- und Konfirmanden-Unterricht? Wer hielt die Predigt bei der Trauung und segnete das Paar am Anfang des gemeinsamen Weges? Dass ein lutherischer oder ein reformierter Pfarrer unter den Neusiedlern auftauchte, war eher die Ausnahme. Vielleicht kam ein Sendling aus dem Rauhen Haus in Hamburg, den Johann Hinrich Wichern (1808– 1881) nach Amerika gesandt hatte, oder ein Prediger eines reformierten Auswanderervereines aus Langenberg. Johannes Evangelista Goßner (1773–1858) bildete keinen eigenen Verein für seine nicht indien-tauglichen Missionare. Er sandte sie nach Amerika und überließ sie einer der dort wirkenden Kirchen, wie zum Beispiel der methodistisch orientierten Kirche der Vereinigten Brüder. Konfessionelle Lutheraner wie z. B. Friedrich Wyneken (1810–1876) oder Wilhelm Löhe (1808–1872) hatten dagegen große Probleme, dass sich ausgewanderte Glieder ihrer Konfession anderen Denominationen anschließen könnten und führten darum eine heftige Auseinandersetzung mit diesen in Europa wenig bekannten Kirchen, die sie kurzerhand als Sekten bezeichneten. 9

2.2

Die Ausbildung eigener Kirchenstrukturen

Es reichte hinten und vorne nicht, was die „Sendboten“ der heimatlichen Auswanderervereine bewirkten. Angesichts der Weite des Landes, der unglaublichen menschlichen Herausforderungen und der eingeschränkten kirchlichen Vollmachten, – manche der Sendboten hatten keine Ordination empfangen –, konnten die wenigen aus der Heimat gesandten Pastoren das entstandene kirchliche Vakuum nicht ausfüllen. Aber Nordamerika wurde nicht nur vom europäischen Kontinent aus besiedelt. Briten und Iren strömten ebenfalls ins Land, nachdem es seinen kolonialen Charakter durch die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 9

Gottfried Mai, Die Bemühungen der Evangelischen Kirche um die deutschen Auswanderer nach Nordamerika (1815–1914), vervielfältige Dissertation, Bremen 1972.

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verloren hatte. Die englischen Methodisten hatten schon seit dem 18. Jahrhundert mit der Mission unter ihren amerikanischen Landsleuten begonnen. Sie waren erfüllt von einem kaum vorstellbaren Elan, den Menschen nachzugehen. Auf den Rücken der Pferde durchstreiften sie das weite Land und bildeten Gemeinden. Dabei trafen sie auch auf deutsche Neusiedler. Die wurden auf diese dynamischen methodistischen Christen aufmerksam. Manche suchten den Kontakt zu ihnen. Hier und da wandten sich deutsche Ankömmlinge direkt an die Methodist Missionary Society in London und baten um die Sendung eigener Missionare. Daraus entstand kein eigener deutscher Kirchenzweig. Aber hier und da waren unter den englischen Reiter-Missionaren einige, die in deutscher Sprache predigten und deutsche Zuhörer mit ihrer „vital religion“ anzogen. So kam es auf ganz unterschiedlichen Wegen ungeplant zur Bildung autonomer deutschsprachiger Kirchen. Zuerst bildete sich um 1800 durch den Ziegelbrenner und bald auch Laienprediger Jacob Albrecht (1759-1808) die Evangelische Gemeinschaft, die sich ursprünglich Neuformierte Methodistenkonferenz nannte. Nur wenige Jahre später organisierte sich die Kirche der Vereinigten Brüder, die insbesondere durch den deutschen reformierten Theologen Philipp W. Otterbein (1726–1813) inspiriert war. Später weitete sich die Arbeit unter deutschen Einwanderern aus. Die Methodist Episcopal Church stellte 1835 als ersten deutschen Circuit Rider Wilhelm Nast (1807–1899) an, der von Cincinnati aus in Ohio gemeindebildend unter den Deutschen wirkte. Der sensible Nast bezeichnete sich selber als den unbeholfensten Reiter, den es gab. Aber er war einer von denen, die von der Kraft des Evangeliums erfasst und geprägt wurden. Darum war er bereit, alle Lasten auf sich zu nehmen, um seine Landsleute mit der befreienden Botschaft dieses Evangeliums zu erreichen. Es ging ihm und anderen wie einst Petrus, der bekannt hatte: „Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben.“ Immer mehr deutsche Einwanderer, die durch das Wirken der Methodisten erweckt waren, übernahmen den Stil der englischen methodistischen Missionare. Sie ritten den ankommenden Einwanderer-Trecks aus den ver10

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Karl Heinz Voigt, Jacob Albrecht. Ein Ziegelbrenner wird Bischof. Stuttgart 1997. Es hat sich in Deutschland auch die Schreibweise Jakob Albrecht eingebürgert. Ich habe mich für Jacob entschieden, weil ein Faksimile von ihm selber den Namenszug so ausweist. Zu Philipp W. Otterbein: Karl Heinz Voigt, BBKL Bd. 6 (1993), Sp. 1345–1348. Der Circuit Rider ist in der frühen Geschichte des Methodismus eine wichtige, fast symbolhafte Institution. Circuit Rider waren Reiter-Missionare, die den ankommenden Einwanderern nachritten und sie geistlich zu gewinnen suchten. Apostelgeschichte 4,20.

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schiedenen deutschen Kleinstaaten und den Schweizer Kantonen ins unwegsame, kaum besiedelte Land hinein nach. Wenn die Neuankömmlinge gerade begonnen hatten, den Wald zu roden und Bäume für die Errichtung einer Blockhütte zu schlagen, dann kreuzten diese Reiter-Missionare (Circuit Rider) auf. Sie hielten Andachten, ermahnten zum Festbleiben im Glauben und beteten mit ihren Landsleuten. Bewährte deutsche Reiter-Missionare wurden von den englischen Methodisten fest angestellt. Grundvoraussetzung für eine solche Tätigkeit war die eigene Gottesbegegnung und das Erfülltsein von der Aufgabe der Mission. Theologisch musste zuerst reichen, was sie aus dem heimatlichen Konfirmanden-Unterricht ihrer lutherischen oder reformierten Gemeinden und aus der häuslichen Frömmigkeit aus Deutschland mitgebracht hatten. In der mobilen Gesellschaft mussten sie selber mobil sein. In einem Land, das noch nicht erschlossen war, gab es mehr Trampelpfade durch die Wildnis als Straßen, es waren kaum Brücken vorhanden, keine Hotels standen zur Verfügung und in den Wäldern kreuzten gelegentlich wilde Tiere den Weg. Da musste man reiten können und wissen, welche Pflege ein Pferd braucht. Immerhin war man bei Wind und Wetter mit ihm unterwegs, nächtigte gelegentlich im Wald an seiner Seite, durchschwamm kleine Flüsse und musste es von Zeit zu Zeit führen, anstatt selber darauf voranzukommen. Unter diesen Bedingungen entwickelte sich der Bezirk (Circuit). Er umfasste oft eine Reiseroute von knapp 30 Tagen, an denen der Circuit Rider von Station zu Station ritt, um überall an einem Tag im Monat zu predigen. Es entstanden kleine Gruppen, die wurden wie in England Klassen genannt. Sie bildeten die Keimzellen der späteren Gemeinden. Die Klassmitglieder kamen wöchentlich zusammen, um über ihre Glaubens-Erfahrungen miteinander zu sprechen, um zu singen, zu beten und sich gegenseitig zu ermuntern und zu ermahnen. Wenn nach einem Monat der Missions-Reiter wieder vorbei kam, war oft einiges passiert. Im Laufe der Zeit stellte sich heraus, wer die entstandene Gruppe organisieren und leiten konnte, wer ein herzandringlicher Beter war und wer ein seelsorgerliches Wort für Angefochtene hatte. Die verschiedenen Charismen kamen auf natürliche Weise zur Entfaltung. Es dauerte nicht lange, dann wagte es einer aus der Klasse, eine Andacht über einen Bibeltext zu halten. Nach und nach wuchs die schlichte Andacht zur Predigt aus und die Gemeinschaft aus früheren Lutheranern, Reformierten und manchen Katholiken bildete eine Ortsgemeinde methodistischen Typs, ganz einfach, weil es keine anderen gab. Der Bedarf an Missions-Reitern stieg mit jedem neuen Einwanderer. Hier und da hatte sich in den neuen Ansiedlungen ein

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Klassführer so weiterentwickelt, dass er der Gemeinschaft der Hauptamtlichen, damals schon Konferenz genannt, zur Anstellung vorgeschlagen wurde. Die Klasse gab, so war die Ordnung der Kirche, eine Empfehlung an die anstellende und finanzierende Konferenz. Kurze Zeit später saß der lutherisch oder reformiert Getaufte und Konfirmierte im Sattel eines Pferdes und suchte neue Ansiedlungen seiner Landsleute auf, um methodistische Gemeinden zu gründen. Seine theologischen Grundkenntnisse hatte er aus dem heimatlichen Konfirmanden-Unterricht mitgebracht.

Die Camp Meeting Bewegung begann um 1800 und breitete sich unter den Neusiedlern schnell aus.

Damals waren die deutschen Methodisten in den USA fast eine Laienbewegung. Die Evangelische Gemeinschaft und die Kirche der Vereinigten Brüder entwickelten sich zuerst zu deutschsprachigen autonomen Kirchen. Die methodistischen Gemeinden formierten eigene Konferenzen, die organisatorisch einen innerkirchlichen deutschsprachigen Zweig in der amerikanischen Mutterkirche bildeten. Man hatte zunächst noch keine Kirchengebäude. Im günstigsten Fall wurde für die Versammlungen eine Blockhütte errichtet. Ein Talar wäre eher hinderlich gewesen, ein liturgischer Gottesdienst wäre wohl als fremdartig empfunden worden. Der Reiter-Missionar hatte in seiner Satteltasche ein paar Bibeln, eine Menge Traktate und die seit 1839 in Cincinnati gedruckte deutsche Kirchenzeitung Der Christliche Apologete. Sie enthielt auch Neuigkeiten aus Kirche, Politik und Kultur in der Heimat. Eine andere gerne genutzte Gelegenheit des Austauschs in der Wildnis waren die Camp Meetings. Zu diesen Lagerversammlungen kamen die Neusiedler mit ihren Planwagen für mehrere Tage in einem verabredeten Waldgrund in großer Zahl zusammen. 14

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Ich habe mich entschieden, anstatt der traditionellen Formulierung „Reiseprediger“ sachgemäß lieber den Begriff „Reiter-Missionar“ zu verwenden.

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Es wurde gesungen, gepredigt, miteinander in den Zelten gebetet und evangelisiert. Diese Lagerversammlungen wurden die Vorläufer der späteren Evangelisationen. In dieser missionarischen Situation wurde in Anknüpfung an Vorbilder, die bis auf die jährlichen evangelistischen Touren John Wesleys (1703–1791) in Großbritannien zurückgehen, das Wesen des methodistischen Predigtamtes entwickelt. Seine Grundstruktur war von Anfang an missionarisch ausgerichtet. Es war an den Menschen ohne Kirche und oft auch ohne Glauben orientiert, durch die heimatlichen Erfahrungen und Bindungen ökumenisch gefasst, durch die Weite des Landes in einer Migrationsgesellschaft von Reiter-Missionaren mobil ausgeformt und ohne Scheu vor dem kirchlich wohlorganisierten und unverzichtbaren Einsatz von Laien für geistliche Aufgaben praktiziert. Weil sich diese Mission zunächst in einem weitgehend unerschlossenen Land vollzog und danach in einer vorindustriellen Zeit dörflichen und kleinstädtischen Aufbaus mit Menschen, die ebenfalls aus dörflichen und kleinstädtischen Verhältnissen in Europa kamen, empfingen sowohl die Lebensstruktur als auch die an den Zuhörern orientierten Verkündigungsinhalte von dorther ihre nachhaltige Prägung. Die Satteltasche des Reiter-Missionars wurde nicht nur der spätere Büchertisch, der – wie bei den Missionaren Amerikas – durch das eigene Verlagshaus bestückt wurde, sondern auch die Begriffe Mission, Konferenz, Bezirk, Station, Empfehlung zur Anstellung, um nur einige Beispiele aufzuzeigen, finden sich bis heute in der gültigen Lehre, Verfassung und Ordnung der Evangelischmethodistischen Kirche. Von der Büchertasche bis zum diakonischen Akzent der Tätigkeit ist es nicht weit. Eine der wenig beachteten Auswirkungen der reitenden Missionsprediger war ihre beratende Arbeit. Sie waren in der Lage, den Neusiedlern in den unerschlossenen Gebieten und auf den im Aufbau befindlichen Farmen zu sagen, wo sie den nächsten Arzt erreichen konnten. Sie kannten den kürzesten Weg durch den unwegsamen Wald und die seichteste Stelle, um über oder besser durch den Fluss ans andere Ufer zu kommen. In manchen Gebieten konnten sie die Deutschen vor den Gefahren warnen, die ihnen durch die ihr Land verteidigenden Indianer drohten. Aber sie wussten auch, wo es Werkzeuge für den Aufbau der Blockhütten gab, welcher Nachbar ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen konnte und wo später auch Ziegelsteine für den Aufbau des Hauses günstig zu beziehen waren. Zur Einrichtung von ersten kleinen Schulen und bescheidenen Polykliniken haben sie Impulse gegeben. Wann die Mississippi-Dampfer mit den nächsten Einwanderern

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ankamen, das konnten sie auch sagen. Die Kirchenzeitung in ihren Satteltaschen war mehr als ein frommes, erbauliches Blättchen. Der seit 1839 in Cincinnati in deutscher Sprache gedruckte Christliche Apologete war eine großformatige Zeitung von bis zu 36 Seiten. Er enthielt neben theologischen Artikeln viele Informationen über das kirchliche Leben, aber nicht nur in Amerika, sondern auch in Deutschland. Da waren immer wieder Briefe aus der Mission in Deutschland abgedruckt, aber man konnte auch über kirchliche Entwicklungen in der Heimat lesen, z. B. über die Kirchentage seit 1848 und über die Kongresse der Inneren Mission, über die Wirkungen der Erweckungsbewegungen in den verschiedenen Landesteilen, über den Katholizismus und über rationalistische Prediger und Theologen. Auch die Berichte über Österreich und die ganze Donaumonarchie fanden interessierte Leser. Durch sehr viele Todesanzeigen erfuhr man hin und wieder etwas über alte Freunde oder über frühere Nachbarn, die man in dem weiten Land aus den Augen verloren hatte. Man kann sich in einem Zeitalter schneller Kommunikation kaum noch vorstellen, was es damals bedeutete, in einer abgelegenen Hütte ohne Zeitung, ohne Telefon, ohne Radio und Fernseher ein Kirchenblatt mit vielseitigen Informationen zu bekommen. Es ist keine Frage, die Reiseprediger waren mehr als predigende Evangelisten, sie waren zugleich Diakone mit fachlicher Beratungskompetenz und sie waren Kommunikationsfachleute, die eine unübersehbare Hilfe zu sozialen Kontakten, zur Sesshaftwerdung und zur Integration in eine fremde Gesellschaft geleistet haben. Mission in einem von Migration geprägten Umfeld war mehr als Predigt mit Trost und Stärkung, verbunden mit der Einladung zu einem geistlich neuen Lebensabschnitt. Sie war auch situationsbedingte Diakonie und half Brücken der Gemeinschaft durch hochmotivierte Missionare zu bauen. Das ist eine Linie von kirchlichem Handeln, wie es unter ungewöhnlichen Bedingungen in einer Agrargesellschaft notwendig war. Aber es wird sich zeigen, wie die gleichen Kombinationen christlichen Zeugnisses sich unter anderen Bedingungen und mit anderen Inhalten auch in der Großstadtmission als unverzichtbar erwiesen. Als die drei methodistischen Kirchenzweige ihre Missionsarbeit in Deutschland aufnahmen, wurden solche Familien hierher gesandt, die sich im amerikanischen Frontier-Leben bewährt hatten und die entsprechenden Erfahrungen mitbrachten. Daher stellt sich die Frage: Was bedeuteten die typisch methodistische Frömmigkeit und die Arbeitsformen für das Leben als methodistische Missionare in der Heimat und wie wirkten sich ihre AmerikaErfahrungen in Deutschland und der Schweiz aus?

Erfahrungen in den Einwandererkirchen

2.3

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Amerikanische Arbeitsweise in Deutschland?

Im Rückblick schrieb Heinrich Nuelsen (1826-1911), der 1851 als zweiter Missionar nach Deutschland zurückgekehrt war: „Wie wir den deutschen Methodismus in Amerika verlassen hatten, so setzten wir ihn in Deutschland in seinen Gemeinde-Einrichtungen fort.“ Eben dieser Nuelsen gedachte in seinen Erinnerungen auch des in Amerika verstorbenen Bischofs Elijah Hedding (1780–1852) und zeigte damit das Urbild des methodistischen Predigers auf. Er schrieb über den bischöflichen Einsatz: 15

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„Achtundzwanzig Jahre hatte er das bischöfliche Amt verwaltet. Tausende von Meilen ist er in den Urwäldern der Vereinigten Staaten gereist; im kalten Winter und unter glühender Sonnenhitze hat er wochenlang im Sattel gesessen, um den Sitz einer Konferenz, bei der er präsidieren sollte, zu erreichen. Oftmals hatte er mit Beeren des Waldes seinen Hunger gestillt und mit warmem Flusswasser die lechzende Zunge benetzt. Auch wies ihm sein Beruf des öfteren ein Nachtlager im ,Hotel zur freien Natur’ an, wo im hochgewölbten Schlafzimmer die Erde seine Bettstelle und eine Pferdedecke seine Bedeckung war, während Mond und Sterne wohlwollend durch die Blätterbedachung auf das Antlitz des Schläfers herab blickten. Der Herr, dem er diente, war alsdann eine feurige Mauer um ihn her17, und er gebot den nächtlichen Raubtieren, daß sie seinen Heiligen nicht antasten.“ 18

Nuelsen fügte dieser Erinnerung hinzu: „Jetzt reisen und logieren wir besser.“ Das konnte man gewiss für die Mission in Deutschland sagen. Es gab ein passables Straßennetz, es gab erste Eisenbahnlinien und regelmäßige Post-, sogar Eilkutschen, es gab Tageszeitungen, die mehrmals am Tage erschienen, es gab täglich dreimal die Zustellung der Post, es gab Buchhandlungen, Ärzte und Schulen für die Kinder und die historischen Kirchen standen mitten in den Städten, Kleinstädten und vielen Dörfern. Aber es gab auch ein kirchliches Bewusstsein, das die Mission unter Getauften noch ablehnte und es gab genügend kirchliche Mitarbeiter, die noch einen ziemlich geruhsamen Arbeitsplan hatten. Als mit Ludwig Sigismund Jacoby (1813-1874) im Jahr 1849 der erste methodistische Missionar aus Amerika in Bremen ankam, hatte er alle Hände voll zu tun. Er forderte schon nach kurzer Zeit bei seinem Bischof Hilfe an. 15 16 17 18

Es gab zwei Schreibweisen: Nülsen und in Amerika Nuelsen. Ich entscheide mich außer in Zitaten durchgehend für Nuelsen. Heinrich Nülsen, Erinnerungen aus den Fünfziger Jahren. In: CA 61. Jg. (1899), S. 163. Im Propheten Sacharja Kap. 2, Vers 9 heißt es: Gott spricht: „Ich will eine feurige Mauer um sie her sein.“ Heinrich Nülsen, Erinnerungen aus den Fünfziger Jahren. In: CA 61. Jg. (1899), S. 131.

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Tatsächlich kam 1851 der eben erwähnte Heinrich Nuelsen und der ursprünglich aus dem Königreich Hannover ausgewanderte Carl Heinrich Doering (1811–1897). Sie entfalteten von Bremen aus eine missionarische Arbeit, die nach dem amerikanischen Muster gestaltet war. Rings um die Hansestadt herum und in den Vorstädten waren sie wie die Circuit Rider unterwegs, jedoch ohne Pferde, sondern meistens auf Schusters Rappen. Wenn sie die Landesgrenzen des Bremer Stadtstaates überschritten, waren sie im Königreich Hannover, bald auch in der braunschweigischen Enklave Thedinghausen oder an der westlichen Seite im Großherzogtum Oldenburg. Überall gab es eine andere Gesetzgebung. Das war für mobile Missionare aus dem Land der Religionsfreiheit sehr ernüchternd. In Oldenburg gab es Religionsfreiheit. In Hannover und Braunschweig stand sie zwar im Gesetz, wurde aber durch die örtlichen Behörden restriktiv und verweigernd ausgelegt. Dagegen standen in Bremen die Amerikaner sogar unter einem besonderen Schutz. Es waren in einem weit ausgespannten Arbeitsfeld keine leichten Reise- und Missionsbedingungen. Die lange Reihe der Ansiedlungen und Dörfer liegt um den alten Stadtkern von Bremen herum wie ein Kranz mit den verschiedenen besuchten Vororten. Diese vielen kleinen Ortschaften lassen auf das 19

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Für die ersten Jahre werden folgende Stadtteile von Bremen und Dörfer aus dem Umland als Versammlungsorte und Versammlungsstätten erwähnt: in Bremen (1) als Zentrum das heutige Gewerbehaus (damals ‚Krameramtshaus‘ mit dem kleinen, bald darauf großen Saal), (2) in der Neustadt (links der Weser): ein Tanzsaal im „Weißen Ross“ (Buntentor); (3) vor dem Doventor und (4) vor dem Stephanitor – ab 1853 die erste eigene Kapelle am Steffensweg, (5) in Walle (in einem Privathaus), (6) am Gröpelinger Deich (auf der Diele eines großen Hauses), (7) in Tennever (in einem Haus), (8) in Huchting (auf der Diele eines Privathauses), (9) in Lankenau (in einem Tanzsaal), (10) in Rablinghausen (in einem Tanzsaal), (11) in Oberneuland (im Haus eines Korbmachers). (12) Wenn hochrangige amerikanische Gäste kamen, stand auch das Haus des amerikanischen Konsuls offen. Alle diese Bereiche gehören heute zur Stadt Bremen. Dazu kam (13) im Norden Bremen-Vegesack (in Hartmanns Tanzsaal). Weiter wurde gepredigt in (14) Bremerhaven (in einem Tanzsaal vor Auswanderern, Tagelöhnern, Schiffszimmermännern und einigen Matrosen), (15) Bremerhaven-Lehe, (16) Weserdeich. Im Königreich Hannover lagen bald hinter der Staatsgrenze von Bremen (17) Hastedt (in einer Gastwirtschaft), (18) Brinkum, (19) Embsen (20) Achim, das mit der Eisenbahn erreicht werden konnte (in einem Privathaus), (21) Baden (im Schulhaus), (22) Bassen. Diese Dörfer grenzten an das braunschweigische Staatsgebiet mit (23) Witzew, (24) Morsum, (25) Thedinghausen (im Saal eines Schankwirts). Nordöstlich von Bremen wurden (26) Fischerhude, (27) Surheide, auf einem längeren Weg (28) Tarmstedt und (29) Hebstedt (in Witwe Cordes Haus) erreicht mit Ausstrahlungen nach (30) Zeven, auch (31) Osterholz-Scharmbeck, (32) Schantzendorf und (33) Adolfsdorf werden genannt. Westlich von Bremen wurden im Großherzogtum Oldenburg besucht: (34) Hasbergen (wo ein kranker Pastor wirkte, den die methodistischen Prediger auch besuchten), (35) Iprump, (36) Deichhorst, wo 1861 die erste Kapelle für Delmenhorst eingerichtet wurde, (37) Barkendamm, (38) Varrelgraben, (39) Gruppenbühren (heute

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amerikanische System der Reiter-Missionare schließen. Allerdings stießen die missionarischen Prediger hier auf andere Voraussetzungen. Die Menschen lebten in einer seit der Reformationszeit entstandenen kirchlichen Verwurzelung. Wenn sie trotzdem zu den methodistischen Versammlungen kamen, hatten sie ganz unterschiedliche Motive. (1) Herausragend war die Situation, dass Menschen pietistischer Frömmigkeit sich nicht mit den Predigten eines rationalistischen Pastors abfinden wollten, dafür aber die biblische Botschaft von den schlichten Methodisten gerne hörten. (2) Wieder anders war es, wenn das Dorf zu einem Kirchspiel gehörte, dessen Kirche kilometerweit entfernt lag. (3) Manche Glieder einer Gemeinde fühlten sich nicht versorgt, weil der Pastor erkrankt war und seinen Dienst nur mühsam ausrichten konnte, die kirchlichen Behörden sich aber nicht des Problems annahmen. In all diesen Situationen konnten die Missionare an eine vorhandene Volksfrömmigkeit, die sich auch in den Bibelworten an den Frontseiten der niedersächsischen Bauernhöfe bis heute ablesen lässt, anknüpfen. Hier kam der Begriff der „Erweckung“ zu einer adäquaten Anwendung: Was an Frömmigkeit in Köpfen und Herzen noch vorhanden war und brach lag, wurde erweckt und verwandelte nicht selten das ruhende Kapital in eine vitale, gelebte und selbst verantwortete Nachfolge Christi. Es war eine Art der Frömmigkeit, die sich aus dem sakralen Raum löste und mitten im Leben der Menschen ihren Ort fand: In Tanzsälen, gelegentlich in Schulen, meistens in privaten Häusern oder auf großen Dielen der norddeutschen Bauernhöfe, wo sich die spontane Gemeinde im Winter zwischen den seitlich überwinternden Kühen und Pferden versammelte. Bezeichnenderweise ist in der Liste der Besuchsorte der reisenden Missionare zunächst die nahe bei Bremen gelegene Stadt Delmenhorst, die sich bald zu einem industriellen Zentrum mit Zuwanderern aus ostdeutschen Gebieten entwickelte, nicht erwähnt. Auch die Landeshauptstadt des Großherzogtum Oldenburg gehörte zunächst nicht zu den Stationen des Bremen-Bezirks. Es liegt die Frage nahe, wie es zu den Kontakten in diesen Dörfern kam. Sechs Linien lassen sich Linien erkennen. (1) Angehörige aus einzelnen Fami20

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Bookholzberg), (40) Hohenböken (bei Böning oder bei Bunjes), (41) Tweelbäke, (42) Nuttel (auf einem Bauernhof), (43) Dingstede, (44) Neerstedt (seit ca. 1855 in einer Werkstatt, 1859 wurde eine Kapelle erbaut, die heute noch von der Gemeinde benutzt wird). Dazu kamen (45) Brettorf, (46) Sandhatten und (47) Wildeshausen (ohne Erfolg). Weserabwärts wurden auch (48) Warfleth, (49) Brake, (50) Elsfleth sowie die Dörfer (51) Ruschfeld, (52) Großenmeer und (53) Menzhausen erwähnt. Trotz der vielen Namen ist diese Liste unvollständig. Friedrich Wunderlich – ein Brückenbauer Gottes, Frankfurt 1963, S. 87.

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lien, die in Amerika Kontakt zu einer methodistischen Gemeinde gefunden hatten, haben durch Briefe in die Heimat von dem Beginn einer Mission in Bremen berichtet und die Zurückgebliebenen zu einem Kontakt mit den Missionaren ermuntert. (2) Von Bremen aus wurde die Zeitschrift Der Evangelist, die seit dem 21. Mai 1850 in der Hansestadt gedruckt wurde, nachdem Angehörige oder Freunde in Amerika sie bezahlt und eine Versandadresse vermittelt hatten, in ganz Deutschland verschickt. Dadurch entstanden Anknüpfungspunkte. (3) Mitglieder von Schiffsbesatzungen aus dem Bremer Umland waren in amerikanischen Häfen mit den missionierenden Methodisten in Berührung gekommen. Nun luden sie die Missionare in der Heimat zu Versammlungen in ihre Häuser oder Dörfer ein. (4) Ausgewanderte baten um Besuche bei ihren Angehörigen. Das waren Ansatzpunkte für eine Mission, weil die Besuchten nicht selten ihre Nachbarn eingeladen haben, um gemeinsam aus erster Hand über Amerika und über die Kirche, der sich ein Familienmitglied – nicht selten zum Entsetzen der Angehörigen in der Heimat – zugewandt hatte, zu informieren. (5) Menschen aus Nachbardörfern, die zufällig oder neugierig eine Hausversammlung besucht hatten, luden die Missionare ein, auch in ihr Haus zu kommen. (6) Die Hauptvorarbeit leisteten bereits nach kurzer Zeit die Zeitschriften- und Bücherverkäufer, damals Kolporteure genannt, die das Land durchstreiften und ihre „Ware“ von Haus zu Haus anpriesen. Sie boten nicht nur Bibeln und Bücher feil, sondern versuchten auch geistliche Gespräche zu führen und, wenn es sich anbot, mit den Besuchten zu beten. Daraus ergaben sich natürlich Einladungen, oder, wie man damals sagte, Bestellungen. Die Bremer Struktur war keine Ausnahme. Als es nach anfänglicher Zurückhaltung im nahegelegenen Oldenburg zur Gemeindebildung kam, waren es wieder die Menschen aus den Bauernschaften und Dörfern um die damalige Landeshauptstadt herum, die von den Missionaren erreicht wurden. Wie in Bremen kamen sie an den Sonntagen dann zunehmend in die Stadt, wo sie eine Art Mittelpunktgemeinde bildeten. Besonders, wenn das Abendmahl gefeiert wurde, waren die zentralen Gemeinden der Treffpunkt von vereinzelt wohnenden Anhängern der Methodisten. Wie in Amerika wurden die soge21

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1855 waren in Norddeutschland vier Kolporteure angestellt, von denen Berichte vorliegen. Georg Stets, der in und um Bremen reiste, hat 1855 insgesamt 220 Bibeln, 234 Neue Testamente, 489 Bücher und 395 Broschüren verkauft und ca. 8.000 Traktate verteilt. „Er hielt 109 religiöse Privatversammlungen, besuchte dazu 5.441 Familien, sprach mit 2.198 über Gottseligkeit und hatte Gelegenheit mit 221 derselben sich im Gebet vor dem Throne Gottes zu vereinen.“ Bericht anlässlich der Jahresfeier der Tractat-Gesellschaft in Bremen. In: Ev. 7. Jg. (1856), S. 1199.

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nannten Vierteljahrssonntage mit typischen Gemeinschaftsversammlungen, wie z.B. Gebetsversammlungen, Zeugnisgottesdiensten, Klassversammlungen, und auch den Liebesfesten in Anknüpfung an altkirchliche Agapen zu geistlich erlebnisreichen Gemeinschaftstagen. Nicht selten wurden auch Taufen in diesen Gemeindefesten vollzogen. Dabei ist zu bemerken, dass nur eine überschaubare Anzahl derer, die in den Dörfern und Vororten der Verkündigung beiwohnten, auch die Nähe und Verbindlichkeit der methodistischen Gemeinden suchten. Die Treue zur Kirche der Väter und Mütter war selbstverständlich, und die soziale Eingebundenheit in eine dörfliche Gemeinschaft brachte auch soziale Bindungen mit sich, denn wer sich aus der Gemeinschaft, in der die politische und die kirchliche Gemeinde noch deckungsgleich war, ausschloss, der begab sich auch an den Rand seines gesellschaftlich akzeptierten Umfeldes. Er musste z. B. in Kauf nehmen, dass zu seiner Beerdigung die Glocken nicht mehr läuteten. Aus solchen Gründen hat die methodistische Mission im 19. Jahrhundert viel mehr Menschen unter ihrem Einfluss gehabt, als es die Statistiken ihrer Kirchenglieder ausweisen. Ohne Frage hätten die vom amerikanischen Pioniergeist und damit zum Erfolg angehaltenen Methodisten gerne mehr Gemeinden gegründet. Aber, und das gab ihnen neben aller Hoffnung auch genügend Zufriedenheit, ihr Hauptanliegen war nicht die Gründung „richtiger“, heute würde man sagen „bibeltreuer“ Gemeinden, sondern die Einladung zu einem befreiten und aktiven Glauben, den man gerne auch anderen mitteilte, von dem man freudig Zeugnis ablegte. Die große Mehrheit derer, die durch die methodistischen Missionare erreicht wurden, bereicherte langfristig die traditionellen Ortsgemeinden, es sei denn, sie wurden ausgeschlossen. Missionarische Gemeinde drängt zur Ausbreitung, um ihre Mission erfüllen zu können. Beobachtet man die frühe Geschichte über Bremen hinaus, dann sind einige Aspekte von Interesse. Nach Bremen wurde Frankfurt am Main besetzt. In den Berichten taucht immer der Hinweis auf die alte Reichsstadt auf. Tatsächlich gab es auch hier einen Ring um Frankfurt herum: Offenbach, Oberrad, Homburg, Brombach, Wehrheim, Neuenhain, Vilbel, Gelnhausen, Roth, Niedermittlau, Mandel und vor allem Friedrichsdorf. Nicht Frankfurt, sondern die Hugenottenstadt Friedrichsdorf war eigentlich das frühe Zentrum des Bezirks. Friedrichsdorf war eine Stadt im sozialen und kulturellen Umbruch mit einer guten Frömmigkeitstradition. Die Me22

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Karl Heinz Voigt, Methodisten in der Hugenottenstadt Friedrichsdorf. In: JHKGV, Bd. 54 (2003), S. 133–166. Ders., Die Anfänge der Evangelisch-methodistischen Kirche in Hessen. BGEmK Bd. 12, Stuttgart 1982.

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thodisten predigten in dieser französischen „Kolonie“ als erste in deutscher Sprache und leisteten damit auch einen Beitrag zur Integration. In Württemberg lag der Anfang der Arbeit der bischöflichen Methodisten nicht etwa in der Metropol-Stadt Stuttgart. Schwerpunkte der Arbeit waren Heilbronn, von einem weiten Landgebiet pietistischer Frömmigkeit umgeben, und die Residenzstadt Ludwigsburg. Gerade dort spielten die jungen Soldaten, die teilweise als Mitarbeiter und später als Prediger gewonnen wurden, eine bisher kaum beachtete Rolle. Die jungen Rekruten kamen in die Residenzstadt Ludwigsburg und lebten erstmals an der Grenze zwischen vertrauter heimatlicher Geborgenheit und den neuen Herausforderungen eines gewandelten Alltags. Das war eine Lage, in der sie auch für neue Einflüsse offen waren. Der andere methodistische Zweig, die Evangelische Gemeinschaft Jacob Albrechts, nahm 1850 seine Deutschland-Mission auf. Die ersten Rückkehrer waren ausgewanderte Hessen. Sie machten nach der Ausweisung aus dem heimatlichen Hessen Württemberg zum Zentrum ihrer Wirksamkeit. Dem anfänglichen Versuch, von Stuttgart aus die Aktivitäten zu entfalten, stellten sich ungeahnte Probleme entgegen. Daraufhin wurden Plochingen, Esslingen und eine Reihe naheliegender Dörfer Zentren, von denen aus in Württemberg und im angrenzenden Baden missioniert wurde. Fast fünfundzwanzig Jahre blieb die Arbeit auf diese Länder begrenzt. Es war eine ausgesprochen kleinstädtisch-dörfliche Arbeit in Regionen mit vorindustriellen kleinen Wirtschaftsbetrieben und Landwirtschaft. Sie war durch den speziellen württembergischen Pietismus geprägt. Erst 1875 wurde sie auf das industriell geprägte Gebiet an Rhein und Ruhr mit Essen als Schwerpunkt ausgedehnt. Die ersten Prediger wunderten sich über die Krupp’schen Kanonenschläge und die schlechten Umweltbedingungen. Sie empfanden die mindere Lebensqualität einer Industrieregion. Aber die dort angesiedelte Bevölkerung kam, teilweise mit festen ostpreußischen Frömmigkeitsbildern des heimatlichen Gebetsvereins, aus östlichen Landregionen, in denen es keine berufliche Perspektive für sie gegeben hatte. Insofern begann die Mission hier in einem Gebiet, in dem sich soziale Vernetzung, kirchliche Beheimatung und noch nicht gewonnene heimatliche Bindung im Übergang befanden. Damit waren zwar Phänomene berührt, die eine Nähe zur Situation in der Großstadt auswiesen, aber der Prozess des Wandels von der landwirtschaftlich orientierten Heimaterfahrung 23

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Helmut Mohr, Die Ausbreitung der Evangelischen Gemeinschaft in Nordhessen. BGEmK Bd. 5, Stuttgart 1975, S. 38 f. Ulrich Ziegler, Mission – Anpassung – Veränderung. Die Geschichte der Evangelischen Gemeinschaft in Esslingen a. N. 1852–1945. BGEmK Bd. 28, Stuttgart 1987.

Gemeinsame Wurzeln – gemeinsame Ziele

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zur Verstädterung mit einer von der Industrie geprägten Lebensweise war noch in vollem Gange. Die Wesleyanische Methodistengemeinschaft , die von England aus in Württemberg tätig war, wurde von dem früheren wesleyanischen Prediger Johann J. Sommer (1850–1925) sachgerecht als „Mission von Bauern an Bauern“ bezeichnet. Ähnlich muss man auch den vierten Zweig methodistischer Arbeit in Deutschland, die Kirche der Vereinigten Brüder, als eine Arbeit in traditionellen Landgebieten und Dörfern einordnen. Der Missionar Georg Christian Bischoff (1829–1885) kam 1869 aus den USA zurück, um vom oberfränkischen Naila aus zunächst in fränkischen und thüringischen Gebieten zu wirken. Es waren Dörfer und Kleinstädte, in denen er Anhänger sammeln konnte. 25

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3.

Gemeinsame Wurzeln – gemeinsame Ziele

Alle vier methodistischen Kirchen, die im Laufe der Zeit zur Evangelischmethodistischen Kirche zusammengewachsen sind, kamen aus Amerika oder aus Großbritannien. Ihr geistliches Ziel war die Gewinnung von Menschen ohne Glauben für ein Leben aus dem Glauben. Eine soziologische Voraussetzung ihrer Mission war die Mobilität in einer zunehmend von Wanderung bestimmten Gesellschaft, die sich auf dem Weg beginnender Internationalisierung und des Wandels von der Agrar- zur Industriegesellschaft befand. Die Hörer der Botschaft waren überwiegend Menschen, die selber noch von ihrer familiären religiösen Sozialisation geprägt waren. In Amerika und in 25

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Ich bleibe bei der Selbstbezeichnung „Wesleyanische Methodistengemeinschaft“ gegen die nicht begründete Bemühung von Friedemann Burckhardt, diese historisch adäquate Formulierung in „Wesleyanischen Gemeinschaftsbund“ zu verändern. Friedemann Burkhardt, Christoph Gottlob Müller und die Anfänge des [wesleyanischen] Methodismus in Deutschland. AGP, Bd. 43, Göttingen 2003, ab S. 12 durchgehend ungezählte Male. F. Burkhardt erweckt den Eindruck, die Charakterisierungen als „pietistische Gemeinschaften mit methodistischem Anstrich“ und die Bezeichnung „Mission von Bauern für Bauern“ seien neueren Datums. Burkhardt, Müller, u.a. S. 12 f. Tatsächlich sind es Formulierungen wesleyanischer Prediger der Frühzeit. Prediger Christian Dieterle (1843–1911) nahm eine Formulierung von 1878 auf, die der erste englische Superintendent in Württemberg verwendete, um 1883 in einem Überblick zum „fünfzigjährigen Jubiläum“ die Frühgeschichte der Wesleyaner zu beschreiben (Der Methodisten-Herold, 11. Jg. (1883), S. 86). Über die „Mission von Bauern für Bauern“ schrieb aus eigenen Erfahrungen in der früheren Mitarbeit Prediger Johann Jakob Sommer in seinen „Erinnerungen“ (Johann J. Sommer, Aus der Morgendämmerung des Methodismus, Bremen o. J. (1924), S. 16). Zu Georg Christian Bischoff: Karl Heinz Voigt, BBKL Bd. 15 (1999), Sp. 159–196.

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Über die Wurzeln in Amerika

Deutschland war die methodistische Mission zunächst eine ausgesprochene Predigt-Bewegung. Dies bedeutete, dass der Verkündiger als Missionar und teilweise zugleich Gemeindegründer in eine zentrale Rolle rückte. Das ist ein markanter Unterschied zu anderen Freikirchen. Verkörperten die Methodisten eine ökumenisch ausgerichtete Missionsbewegung, so bezeichnen sich andere Freikirchen ausdrücklich als Gemeindebewegungen mit dem von ihnen ausgegebenen Ziel, „Gemeinden nach dem [Modell des] Neuen Testaments“ zu bilden. Im Mittelpunkt methodistischer Verkündigung stand die traditionelle reformatorische Rechtfertigungsbotschaft, die intuitiv an vorhandenes Grundwissen der Hörer anknüpfen konnte, dies aber nachdrücklich mit der Hinführung zu einem persönlichen Glaubenserlebnis, oft Bekehrung genannt, verband. Dazu kamen Anweisungen zu einem geheiligten Leben aus diesem Glauben. Der durch den bewussten Glauben Gerechtfertigte konnte sich seines gewissen Heils freuen und wollte das erfahrene Glück mit anderen teilen. Das löste dessen eigene Missionsbereitschaft aus. Diese nach außen gewandte Frömmigkeit war notwendigerweise mit einer nach innen gerichteten verbunden, die sich in unterschiedlichen christlichen Gesellungsformen wie Klassstunden, Betstunden, Erfahrungsstunden, Liebesfesten und natürlich Gottesdiensten ausdrückte. Ziel dieses Kapitels war nachzuweisen, dass die missionarische Wirksamkeit in einem gesellschaftlichen Umfeld erfolgte, das traditionell kirchlich geprägt war, sich in Denk- und Lebensstrukturen ländlicher Gewohnheiten bewegte und in jeder Hinsicht vorindustriell war. Die traditionelle kirchliche Rund-um-Versorgung, für die in Amerika die Voraussetzungen fehlten, konnte unter anderen Bedingungen und Lebensformen durch die Betreuung von Reiter-Missionaren aufgefangen werden. Sie war durch die Klassen mit einer teilweisen Hinführung in die mündige Selbständigkeit verbunden. Das war im Umbruch der neuen Lebenswirklichkeit der Ausgewanderten, die an der Grenze menschlicher Belastbarkeit standen, in verschiedener Hinsicht hilfreich. Damit ist die Frage aufgeworfen, wie sich dieser zunächst in den USA und dann in dem überschaubaren Bremen und seinem Umland erprobte Ansatz missionarischen Verkündigens und Lebens in der gewachsenen Großstadt Hamburg entwickelte. Dabei soll herausgearbeitet werden, welchem Wandel sich die Mission des kirchlichen Methodismus aussetzen musste, um den Auftrag unter entwurzelten, sozial benachteiligten, kirchen-kritischen Menschen, die sich teilweise verbittert zu Gott und der Kirche stellten, angemessen weiter ausführen zu können.

Voraussetzungen für die Mission in der Heimat

4.

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Voraussetzungen für die Mission in der Heimat

Wer sich gerade nach der Neuorientierung seines Lebens als Einwanderer auf den Weg macht, um ein entsagungsvolles Missionsreiter-Leben zu führen, wer dazu seinen Beruf aufgibt und Fragen des persönlichen Lebensentwurfs zurückstellt, der muss dazu von einer hohen Motivation erfasst sein. Wer sich als freier Mensch im freien Land Amerika, das seine Lebenshoffnungen nachhaltig bestimmt hat, wieder auf den Weg macht, ins alte monarchisch bestimmte Europa zurückzukehren, der muss gewaltig von einem inneren Auftrag angetrieben und bewegt sein. Die neue Lebenseinstellung haben alle Missions-Reiter in den USA und die nach Deutschland und die Schweiz zurückgekehrten Missionare durch eine persönliche Gotteserfahrung, die ihnen als Berufung widerfuhr, gewonnen. Im 19. Jahrhundert sprachen sie von der Bekehrung. Innerhalb der methodistischen Erweckungsbewegung bedeutete die individuelle Erfahrung einer Bekehrung das Überwältigwerden von der Liebe Gottes durch die gnadenvolle Annahme, die durch Jesus Christus möglich wurde. Sie war verbunden mit der göttlich gewirkten Wiedergeburt, d. h. auch mit der Erfüllung durch den Heiligen Geist. Dieses trinitarische Handeln Gottes löste eine Freude des Heils aus, die nicht nur als augenblickliche glückliche Heiligkeit (Holiness is happiness) erfahren wurde, sondern die für ein Leben in Dankbarkeit gestaltende Kraft erlangte. Das Glück des empfangenen Heils musste der Empfänger mit anderen teilen. Die Freude über die Befreiung von Schuld und die Gewissheit des Heils setzten ungeahnte, menschlich nicht verfügbare Kräfte frei. Missionarische, auf noch Ungläubige hin ausgerichtete Aktivität war die natürliche Folge. Wer sich in seiner örtlichen Gemeinde als missionarischer Zeuge bewährt hatte, der wurde von seinen Mitgläubigen empfohlen, damit die Konferenz ihn als Laien hauptamtlich anstelle und der Bischof ihn temporär dahin sende, wo sein Zeugnis und sein Zeuge-Sein, sicher anders als die traditionelle Predigt, für das kommende Reich Gottes wirksam werden sollte. Die alte Heimat schien nicht gerade der begehrteste geographische Raum für die Annahme der Sendung. Es gab eine Anzahl Missionare, die sich dieser Herausforderung stellten. Das geschah nicht aus deutsch-nationalen Gefühlen, sondern im Bewusstsein der Teilhabe an dem weltweiten Missionsauftrag der einen Kirche Christi. „To reform the Continent“, das war von Anfang an das Ziel einer Handvoll methodistischer Missionare in Amerika. Der zu reformierende Kontinent, nicht das Bild einer babylonischen Kirche lag in ihrem Blickfeld. Einer der ersten Missionare hat es am Anfang anlässlich

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Über die Wurzeln in Amerika

seiner selbstformulierten Ziele für die Mission in Amerika in sein Tagebuch geschrieben, „dass die methodistische Gemeinschaft nie die Absicht einer Separation von der Kirche von England hatte oder sich selbst als eine Kirche ansehen würde.“ Von diesem Ansatz her ist es nicht weit, den Gedanken des Vorrangs der Mission vor der Konfession, der Glaubensgründung vor der Gemeindebildung zum Prinzip zu machen. Davon waren auch die ReiterMissionare erfüllt, die nach Deutschland kamen. Der optimistische und dringliche Geist einer solchen Praxis findet sich noch bei dem großen methodistischen Ökumene-Strategen John Mott (1865–1955). Seine Losung für die weltweite christliche Studentenbewegung lautete: „Die Evangelisation der Welt in dieser Generation“ . Mit dieser Glaubenserfahrung und dieser theologischen Positionierung, in der die Soteriologie den absoluten Vorrang vor der Ekklesiologie hat, d. h. die Bekehrung des von Gott abgewendeten Zeitgenossen vor der Kirchen- und Gemeindebildung rangiert, kamen die methodistischen Missionare nach Deutschland. Sie dachten in der alten Heimat oft an die politische und religiöse Freiheit, die sie im fernen Amerika erlebt hatten und die – auch ohne Privilegien – eine hilfreiche Voraussetzung für die Ausbreitung des Evangeliums ist. 28

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Joseph Pilmore, The Journal of Joseph Pilmore, ed. Frederick E. Maser, Philadelphia 1969. zit. n. Frederick A. Norwood, The Story of American Methodism, Nashville 1974, 71. (That the Methodist Society was never designed to make a Separation from the Church of England or be looked upon as a church.) Karl Heinz Voigt, Warum kamen die Methodisten nach Deutschland? Eine Untersuchung über die Motive für ihre Mission in Deutschland. Auf den Widerspruch gegen die darin dargelegte Position geht der Autor kurz ein in seinem Beitrag: Methodistische Sichten auf Staaten und Landeskirchen im Deutschen Kaiserreich. In: Freikirchen als Außenseiter. Ihr Verhältnis zu Staaten und Kirchen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Freikirchenforschung Jg. 17 (2008), S. 53–76 [73]. John Mott, Evangelisation im weiteren Sinne. Stuttgart 1947, S. 111–140.

Kapitel 2 Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche Hamburg lag von Anfang an im Blickfeld des Missionsstrategen und Superintendenten Ludwig S. Jacoby. „Was soll ich über Hamburg sagen?“ schrieb er im September 1850 an seinen väterlichen Freund Wilhelm Nast nach Amerika. Er fügte der Frage die Bemerkung hinzu: „Wer weiß nicht, daß es ein wahres Sodom ist! Alles wird gethan für die Sünde, und sehr wenig im Verhältniß fürs Reich Gottes. Sind unsere Missionäre irgendwo nothwendig, so ist es in Hamburg.“ Jacoby kannte Hamburg. Er hatte dort vor seiner Auswanderung in den zwanziger und dreißiger Jahren einen kaufmännischen Beruf erlernt und ein kleines Unternehmen geleitet. Bei seinem ersten Besuch nach seiner Rückkehr erinnerte er sich an diese Zeit und schrieb: 1

„Mächtige Gefühle des Dankes und Preises wurden in meiner Brust erweckt, da ich von Harburg nach Hamburg [die Elbe] überfuhr. Vor ungefähr 19 Jahren machte ich dieselbe Fahrt. Doch welch ein Unterschied! Damals ein wilder, ausgelassener junger Mann, der nur die Welt und ihre Vergnügen suchte, ohne Gott und Heiland lebte, jetzt ein Erlöster des Herrn, mit Gott versöhnt durch das Blut Christi, und fröhlich in der Welt einhergehend, in der gewissen und lebendigen Hoffnung des ewigen Lebens. Mein Lebenslauf ging an meinen Augen vorüber, ich sah den Abgrund, an welchem ich gestanden; ich sahe aber auch die Hand, die mich zurückgezogen, ich machte von Neuem das Gelöbniß, meinem Erretter mein ganzes Leben zu weihen. Was hat der Herr für mich gethan! Lobet mit mir den Herrn, meine Brüder, und betet recht ernstlich für mich, daß ich nicht undankbar werde, sondern getreu bleibe bis ans Ende, damit ich die Krone des ewigen Lebens erlange.“2

Nun lag Hamburg unter anderen Hoffnungen in seinem Blick. Seit Carl Heinrich Doering als weiterer Missionar in Bremen ankam, war es der Plan des Superintendenten, ihn nach Hamburg zu senden. Doering machte bald nach seiner Ankunft aus Amerika einen ersten Besuch in Hamburg. Danach 3

1 2 3

Brief Ludwig S. Jacoby an Wilhelm Nast v. 13. Sept. 1850. In: CA 12. Jg. (1850), S. 167. Ebd. Ich entscheide mich durchgehend – außer in Zitaten – für die mit der Einbürgerung in den USA angenommene Schreibweise Doering.

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

schrieb er einen Bericht an die deutsche Kirchenpresse in Amerika über seinen Eindruck. „Ist es nothwendig für uns, an irgendeinem Platz zu arbeiten, so ist es sicherlich hier.“ Sein früheres missionarisches Wirken unter deutschen Einwanderern in New York hat eine Liebe zur Großstadt in ihm geweckt. Aber waren Hamburg und New York vergleichbar? Und vor allem: Waren die Menschen in diesen Megastädten von den gleichen Gedanken bewegt? Doering, der noch 1851 als erster Missionar der Bischöflichen Methodistenkirche die Arbeit in der Großstadt Hamburg aufnahm, sah in der internationalen Hafenstadt ein riesiges Missionsfeld: Auswanderer und Einheimische lagen gleicherweise in seinem Blickfeld. Aber wie gestaltete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine missionarische Arbeit in der Weltstadt? Nach seiner Rückkehr aus Amerika hat Doering zunächst einige Monate in Bremen gearbeitet. Er schilderte seine überraschenden Eindrücke und schrieb: 4

„Nach dem, was ich hier mit meinen eigenen Augen gesehen und mit meinen Ohren gehört, kann ich sagen, daß unsere Aussichten glänzend über meine Erwartungen ausgefallen sind. Ich hatte nie daran gezweifelt, daß es noch Tausende von redlichen Seelen in Deutschland gebe, die da hungern und dürsten nach der Gnade Gottes, aber solch’ einen Hunger hatte ich nicht erwartet. Unsere Versammlungen werden sehr besucht und ich habe selten irgendwo eine solche Ruhe, Stille und Aufmerksamkeit gefunden, wie bei unseren hiesigen Versammlungen. Vom Lande allenthalben kommen die Landleute und bitten uns dringend, für sie zu predigen.“5

Die Bremer Erfahrungen machten Mut für den Start in Hamburg. Aber waren die norddeutschen Schwesterstädte wirklich miteinander zu vergleichen?

1. 1.1

Zur Lage in Hamburg Rahmenbedingungen in Gesellschaft und Politik

Drei Voraussetzungen unterschieden Hamburg von anderen deutschen Staaten: (1) Die Herrschaft durch ein Königs- oder Fürstenhaus hatte in der Freien Hansestadt keine Tradition. Das war gerade für das Leben einer staatsfreien Kirche nicht ohne Bedeutung. (2) Der selbständige Stadtstaat war ein 4 5

Carl H. Doering, Ein Bericht aus Hamburg (22. April 1852). In: CA 14. Jg. (1852), S. 86. Brief Carl H. Doering an W. Nast v. 9. Juli 1850. In: CA 12. Jg. (1850), S. 133.

Zur Lage in Hamburg

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durch seine engen Grenzen überschaubares politisches Gebilde. Das bedeutete: Minderheiten waren nicht so leicht der Willkür untergeordneter örtlicher Personen oder Dienststellen ausgeliefert, wie das für Flächenstaaten, zum Beispiel im Königreich Hannover, der Fall war. (3) Durch den Hafen und den weltweiten Handel war die Hansestadt auf gute internationale Beziehungen angewiesen. Das half ihr aus freikirchlicher Sicht zu einer mehr unauffälligen, aber in der geschichtlichen Rückschau deutlich erkennbaren Toleranz und Weite. Hinzu kamen die tiefen Einschnitte in das Leben der Menschen durch ganz unterschiedliche, teilweise dramatische Ereignisse im Laufe des 19. Jahrhunderts, die nicht ohne Auswirkung auf die städtische Kultur und ihr soziales Gefüge geblieben sind. Es sind nur kurz zu nennen: (1) Der Große Brand von 1842 mit seinen Langzeitfolgen, (2) die 1848er Revolution mit ihren politischen Hoffnungen und Befürchtungen, (3) der Anschluss an den Norddeutschen Bund mit den damit verbundenen Zollvorschriften, die, nach dem (4) Beitritt Hamburgs zum Zollverein 1888, wiederum zum Bau der Speicherstadt führten. Die neuen Hafengebiete erforderten immerhin die Umsiedlung von 20.000 Menschen. Das brachte in die Vorstädte nach der (5) Aufhebung der Torsperre am 1. Januar 1861 noch einmal einen neuen Schub an Bevölkerungszuwachs. Andererseits schuf das wachsende Handelsvolumen, die damit verbundene zunehmende Verwaltung und die Ansiedlung neuer Industrien Arbeitsplätze und erforderte Zuwanderungen. (6) Die Typhus- und dann die schreckliche (7) Cholera-Epidemie, aber auch die heftigen Arbeitskämpfe mit dem (8) Hafenarbeiterstreik von 1896/97 waren für die Kirchen und die Christen ungeheure Herausforderungen. Die Existenzbedrohungen und die Hoffnungen riefen Ängste und neue Perspektiven hervor, die nicht nur Begleitung bedurften, sondern auch das Gottesbild und entsprechend das Selbstbild der Menschen veränderten. Das alles musste im Leben der Kirchen und ihrer Gemeinden, in der Predigt und im Stil der Gemeindearbeit zu Veränderungen führen, die im Vergleich zu dem früheren städtischen und noch mehr mit dem dörflichen Leben enorme geistige und geistliche Anforderungen an die Einzelnen und an die Kirchen stellten. Nachdem auch in Hamburg die Forderung nach einer Trennung von Staat und Kirche aufgekommen war, sah die neue Verfassung von 1860 die Gewährung von Religionsfreiheit vor. Das führte unter völlig anderen Voraussetzungen zu Veränderungen im Selbstverständnis der Evangelisch-lutherischen Kirche im Staate Hamburg. Sie gab sich eine Verfassung, deren Verabschiedung sich zehn Jahre hinzog. Sie ist ein Ausdruck davon, wie schwer eine

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse im 19. Jahrhundert zu gestalten war. Auch nach der neuen Verfassung blieb die Oberaufsicht des Staates über die Landeskirche bestehen. Das war auch für die freikirchliche Arbeit nicht ohne Folgen. 6

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Ein Beispiel seltener Schutzgarantien für amerikanische Bürger in Deutschland im 19. Jahrhundert.

Wichtiger für die methodistischen Kirchen war der 1827 gemeinsam mit den Bremern und den Lübeckern mit den USA geschlossene Freundschafts-, Handels und Schifffahrtsvertrag. Er stellte die amerikanischen Rückwanderer, die in Hamburg die amerikanische methodistische Mission begannen, in der Stadt unter einen besonderen Schutz und gewährte Rechte, die ihnen in anderen 8

6 7 8

Hans Georg Bergemann, Staat und Kirche in Hamburg während des 19. Jahrhunderts, Hamburg 1958, S. 61–74. Joachim Mehlhausen, Vestigia Verbi. Aufsätze zur Geschichte der evangelischen Theologie, Berlin 1999, S. 177. Franz Josef Pitsch, Die wirtschaftlichen Beziehungen Bremens zu den Vereinigten Staaten von Amerika bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen, Bd. 42, Bremen 1974, S. 56–73.

Zur Lage in Hamburg

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Staaten verwehrt wurden. Was ursprünglich aus ökonomischen Interessen vereinbart wurde, eröffnete ungeplant auch den ökumenischen Entwicklungen eine Tür. 9

1.2

Zum kirchlichen Umfeld

Die Kirche in Hamburg durchlebte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Situation, die mit anderen Großstädten vergleichbar ist. Es gab einen innerkirchlichen Machtkampf zwischen Erweckung und Rationalismus. Die Hansestadt war außerdem geprägt durch das konfessionelle Element des Luthertums, das hier staatstragend und strukturprägend war. Neben der lutherischen Kirche waren alle anderen kirchlichen Bemühungen statistisch fast bedeutungslos. Dagegen wuchs die Hamburgische Kirche durch Zuwanderungen in rasantem Tempo. Gleichzeitig nahm die Kirchlichkeit rapide ab. Normalerweise hätte man erwarten können, dass die Neuhamburger, die weitgehend aus ländlichen Gebieten in die Stadt strömten, aus einer „heilen Welt“ auch kirchliche Impulse mitgebracht hätten. Vermutlich war ihre Frömmigkeit nicht stark genug ausgebildet, um ein tragendes Element bei der Bewältigung der Probleme zur Zeit ihrer Einstädterung zu sein. Friedemann Green hat statistisch nachgewiesen, dass die Abendmahlsteilnahme, die Taufhandlungen und die kirchlichen Bestattungen mit zunehmendem Bevölkerungswachstum proportional zurückgingen. Peter Stolt widmete dem Phänomen des Liberalismus eine umfassende Untersuchung und kam zu dem Schluss, dass die dogmatischen Differenzen innerhalb des Hamburger Luthertums und die verschiedenen Frömmigkeitsmilieus in ihren Unterschieden schwer zu versöhnen gewesen seien. Er schrieb: „In dem einen herrschten konservatives Ordnungsverständnis und überlieferte Gläubigkeit, in den anderen liberale Fortschrittlichkeit und freisinnige Frömmigkeit“, um dann fortzufahren: „Eigentlich ging es beiden Richtungen um das Gleiche: wie denn dem sich fortsetzenden Prozess der 10

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Karl Heinz Voigt, Ein amerikanisch-hanseatischer Vertrag in seiner Bedeutung für die methodistische Kirche. In: Mitteilungen der Studiengemeinschaft für Geschichte der Ev.methodistischen Kirche, 7. Jg. (1986), S. 40–51. Ingrid Lahrsen, Zwischen Erweckung und Rationalismus. Hudtwalker und sein Kreis. Hamburg 1959. Peter Stolt, Liberaler Protestantismus in Hamburg 1870–1970 im Spiegel der Hauptkirche St. Katharinen, Hamburg 2006. Otto Wenig, Rationalismus und Erweckungsbewegung in Bremen (1830–1852), Bonn 1966. Friedemann Green, Kirche in der werdenden Großstadt. Landeskirche und Stadtmission in Hamburg zwischen 1848 und 1914. Herzberg 1994, S. 48, 55 u. 58.

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

Säkularisierung mit seiner Distanzierung von Kirchlichkeit wirksam zu begegnen sei.“ Unabhängig von der Frage, ob sich die verschiedenen Frömmigkeitsströmungen in diesem Gegensatz von „Positiven“ und „Liberalen“ zusammenfassen lassen, ist auch theologisch zu erwägen, ob es den Positiven oder Erweckten, auch den Freikirchen, wirklich um die Wiederherstellung oder auch Bewahrung der „Kirchlichkeit“ ging. Sah ihr theologisches Konzept nicht vielmehr vor, durch die Einladung zu einem Leben in der Nachfolge Christi auf der Grundlage des Glaubens, der die Quelle eines von Gott gerechtfertigten Lebens ist, das gesamte Leben in eigener Mitverantwortung in der Gemeinschaft des Glaubens zu gestalten? Wenn es der einen Gruppe um „Kirchlichkeit“, der anderen um ein Leben aus der Kraft des Glaubens mit der christlichen Gemeinde ging, dann waren ihre Ziele unterschiedlich und entsprechend ihre Verkündigung. Trotz liberaler Gesinnung und der gesellschaftlich wachsenden Bereitschaft zur Toleranz blieben gerade die Kirchen lutherischen Bekenntnisses gegenüber denen, die sich betont als Freikirchen verstanden und auch andere Impulse der Moderne aufgenommen hatten, alten Denkmodellen verhaftet. Es wurde „seit der Auseinandersetzung mit den ,Schwärmern‘ in der Reformationszeit eine grundsätzliche Prävalenz des Vorgegebenen gegenüber dem Neuen tradiert.“ Für diesen politisch gesicherten Vorrang gibt es in der Hansestadt konkrete Beispiele. Bekannt ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Sonntagsschulgründung in der Vorstadt St. Georg. Dieser neu ins Blickfeld tretende Arbeitszweig der Kirche wurde 1825 unter dem Patronat und Engagement des lutherischen Pastors Johann Wilhelm Rautenberg (1791–1865) organisiert. Der spätere Baptist Johann Gerhard Oncken (18001884), der den Impuls zur Einführung der Sonntagsschule aus London mitgebracht hatte, durfte, weil er kein Lutheraner war, den Kindern keinen Unterricht erteilen. Die zunächst als Judenmission der irischen Presbyterianer in Verbindung mit dem rührigen Reverend James Craig (1818-1899) begonnene Arbeit störte in dem Augenblick, als sie ihre Aktivitäten auch auf Hamburger Bürger ausweitete, die der dortigen Staatskirche angehörten. Craigs umfangreiche Aktivitäten verunsicherten insbesondere die Entwicklung der Inneren Mission in Schleswig-Holstein solange, bis Jasper von Oertzen (1833-1893) die Leitung 12

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Peter Stolt, Liberaler Protestantismus in Hamburg zwischen 1870 und 1970 im Spiegel der Hauptkirche St. Katharinen. Hamburg 2006, S. 373. Reiner Anselm, Revolution. In: Ev. Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgart 2001, Sp. 1343.

Zur Lage in Hamburg

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in die Hand nahm und die Arbeit in die traditionellen Bahnen zurücklenkte. Craigs Aktivitäten waren von einer pulsierenden Dynamik erfüllt. Sie hatten in und um Hamburg einen bisher wenig beachteten Einfluss. Ein geringes überregionales vorökumenisches Interesse der Hamburger Pastorenschaft zeigte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts an der um 1853 in Hamburg entstehenden Evangelischen Allianz. Sie war als transkonfessionelle Gemeinschaft 1846 in London gegründet, um die zwischenkirchlichen Beziehungen zu verbessern, die internationale Durchsetzung der Religionsfreiheit zu verfolgen und den Unglauben der Rationalisten wie den Aberglauben der Katholiken, wie man damals formulierte, zu bekämpfen. Während sich die Hamburger Freikirchler in der überkonfessionellen Allianz engagierten, zeigten nur wenige Hamburger Pastoren Interesse an einer Mitarbeit. Die in Hamburg seit 1834 existierende Baptistengemeinde hat sich durch die aus lutherischer Sicht praktizierte Wiedertaufe nicht nur als „Gemeinde gläubig getaufter Christen“ einen eigenen Platz innerhalb der Kirche Christi gesucht, sondern sich durch den Taufakt auch vom Strom der Erweckungsbewegung gelöst, wie die Baptistin Astrid Giebel es formulierte. Die Mennoniten hatten ihr Hauptdomizil im damals schleswig-holsteinischen Altona. Sie waren durch eine lange Geschichte und durch einflussreiche Persönlichkeiten in einer andern Position als die aus den angelsächsischen Ländern neu in die Stadt kommenden nachaufklärerischen Freikirchen mit einem anderen Frömmigkeitsprofil. Die Bischöfliche Methodistenkirche kam 1851 und suchte, wie weiter zu entfalten sein wird, ihren Platz in der Stadt. Sie löste die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Hamburg gekommenen englischen Methodisten ab und führte teilweise ihre Arbeit weiter. Seit 1887 kamen auch die Prediger der Evangelischen Gemeinschaft nach Hamburg, um ganz im Sinne des Methodismus zu wirken. 14

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The Gospel on the Continent. Incidents in the Life of James Craig, edited by his Daughter, London 1895. Astrid Giebel, Glaube, der in der Liebe tätig ist. Diakonie im deutschen Baptismus von den Anfängen bis 1957. Baptismus-Studien 1, Kassel o. J. (2000). Hier das Kapitel: Loslösung von der Erweckungsbewegung durch Gründung von ‚Gemeinden gläubig getaufter Christen‘. S. 30–36. 1968 vereinigten sich die Methodistenkirche und die Evangelische Gemeinschaft weltweit zur heutigen Evangelisch-methodistischen Kirche.

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

Zwischen 1889 und 1891 organisierten die heute als Freikirche anerkannten Siebenten-Tags-Adventisten von Hamburg aus ihre europaweite Wirksamkeit. In Verbindung mit dem Mosaik der Hamburger nicht-lutherischen christlichen Kirchen müssen auch die innerlandeskirchlichen, aber auf Unabhängigkeit bedachten Aktivitäten erwähnt werden, weil sie auf unterschiedliche Weise Anliegen aufgriffen, die auch in den methodistischen Kirchen beheimatet waren. Zuerst ist Johann Hinrich Wichern mit seiner Inneren Mission und seinem weiten Horizont zu nennen. Man kann seine internationalen Beziehungen geradezu ökumenisch nennen. Aber von den Aktivitäten der Freikirchen in der eigenen Stadt grenzte er sich ab. Für ihn waren „Baptisten, Methodisten, Irvingianer, Plymouthbrüder, Darbisten, die Brüdervereine [im Wuppertal] ,Sekten’.“ Der Vater der Inneren Mission musste sich abgrenzen, denn man warf ihm vor, durch die von ihm initiierte Vereinsarbeit entstehe Separatismus und Sektiererei oder beides werde mindestens gefördert. Dazu kamen Wicherns Erfahrungen mit der englischen Evangelical Alliance, die – ganz im Gegensatz zum deutschen Kirchentag und der Inneren Mission – für Religionsfreiheit eintrat. Das alles beunruhigte ihn und führte zur Zurückhaltung gegenüber den Freikirchen. Er trat eine Zeitlang wohl ein für die Volksmission, lehnte aber die Evangelisation, wie sie auch durch die innerlandeskirchliche Gemeinschaftsbewegung praktiziert wurde, entschieden ab. Es liegt auf der Hand, dass die methodistische Arbeit in Hamburg durch Wichern keine Unterstützung erwarten durfte. Auch die vereinschristlichen Aktivitäten in Hamburg hatten eher ein Interesse an der Überwindung freikirchlicher Arbeit, wie sie besonders energisch bei Carl Ninck (1834–1887), dem Pastor der Anschargemeinde, in dessen Aktivitäten und Äußerungen in seinem Verteilblatt „Der Nachbar“ erkennbar sind. Es gab einen tiefen Graben zwischen seiner bodenständigen, lutherisch ge17

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Johannes Hartlapp, Die Blütezeit der Adventmission in Deutschland 1889–1933. In: Baldur Ed. Pfeiffer u.a. (Hg.), Die Adventisten in Hamburg, Frankfurt/M. 1992, S. 70–87. Johannes Hartlapp, Siebenten-Tags-Adventisten im Nationalsozialismus (und davor). KKR Bd. 53, Göttingen 2008. Johann Hinrich Wichern, SW, hg. v. Peter Meinhold, Bd. VII, Hamburg 1975, S. 326 f. Karl Heinz Voigt, Menschenrecht Religionsfreiheit: Thema der Internationalen Evangelischen Allianz und des Deutschen Kirchentags in der Mitte des 19. Jahrhunderts. In: ders. u.a. (Hg.), Menschenrechte für Minderheiten in Deutschland, Studien zur Religionsfreiheit Bd. 5, Wetzlar 2004, 37–73. Auch: Karl Heinz Voigt, Die ‚Homburg Conference‘ für Religionsfreiheit von 1853. Eine frühe Menschenrechtsinitiative. In: Lena Lybaek, Konrad Raiser u.a. (Hg.), Gemeinschaft der Kirchen und gesellschaftliche Verantwortung. FS für Erich Geldbach, Münster 2004, S. 492–503.

Zur Lage in Hamburg

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prägten Arbeit und den staatsunabhängigen, freien kirchlichen Gemeinden. Das verstärkte sich zunehmend, als innerhalb des erwecklichen landeskirchlichen Protestantismus eine zunehmende Konfessionalisierung eintrat, die mit einer Steigerung des Nationalbewusstseins Hand in Hand ging. Auch die im Bereich der Diakonie herausragende Hamburgerin Elise Averdieck (1808– 1907) und später der Altonaer Theodor Schäfer (1846–1914) stehen für diese Entwicklung. Eine traditionell weitherzige Position nahmen die Herrnhuter mit ihrer biblisch fundierten Verkündigung und ihrem Erfahrungsschatz durch die weltweite Mission ihrer Gemeinschaft ein. In dem überschaubaren Stadtstaat Hamburg konnte man auf engstem Raum die Vielfalt des Protestantismus bereits im 19. Jahrhundert erleben. Zwar wurde die Hansestadt durch den grundlegenden Einfluss des Reformators Johannes Bugenhagen (1485–1558) das „lutherische Zion des Nordens“ genannt. Aber daraus darf nicht geschlossen werden, es hätte dort nicht auch andere Konfessionen und Denominationen gegeben. Trotzdem ist das vielfältige Leben evangelischer Minderheiten und landeskirchlicher Randgruppen in Hamburg für die dortige Kirchengeschichte nur eine Marginalie. Erst seit 1964 ist durch die Bildung der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Hamburg für die Minderheiten eine neue Wertschätzung entstanden, die zu gegenseitiger Befruchtung führen kann. 20

1.3

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Eine Nische für die Methodisten?

Angesichts des nur knapp skizzierten Hintergrundes stellt sich die Frage: Was wollten die Methodisten nun auch noch? Sie hatten keine konfessionsspezifischen Lehren, wie etwa die Baptisten und die Mennoniten als Täufer oder die Adventisten mit ihrer Endzeiterwartung und der Sabbatfeier. Solche Differenzierungen waren geeignet, sich als Gegenüber zur Landeskirche zu verstehen und sich von ihr abzusetzen. Die Methodisten hatten nicht die Lehren anderer Kirchen im Blick, sondern die Menschen ohne Gott. Mit der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden durch den Glauben im Zentrum, ergänzt durch die Frage 20 21

Inke Wegener, Zwischen Mut und Demut. Die weibliche Diakonie am Beispiel Elise Averdiecks, Göttingen 2004. Ulrike Jenett, Nüchterne Liebe. Theodor Schäfer, ein lutherischer Diakoniker im Deutschen Kaiserreich, Hannover 2001, S. 337-345.

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

nach einem geheiligten Leben mit sozialen Auswirkungen und vor allem einer missionarischen Zielrichtung stellten sie sich mit einer reichen Frömmigkeitspraxis und einem vielfältigen Gemeindeleben nicht gegen, sondern neben die Landeskirchen, soweit deren Gemeinden nicht dem Rationalismus verfallen waren oder an der spröden Orthodoxie genug hatten. Die Landeskirchen waren zu jener Zeit weitgehend noch einseitig durch Gottesdienste mit Predigt und Sakramentsempfang geprägt. Daneben war das Gemeindeleben in den methodistischen Gemeinden reich und vielfältig. Im Grunde brauchten Methodisten in Hamburg keine Nische zwischen den Kirchen, weil sie sich vor einem riesigen Erntefeld sahen, auf dem sie sich in Wort und Tat engagierten. Dabei wollten sie Kirche der Verbindlichkeit in der Nachfolge mit der Gestaltung des Gemeinsamen Lebens sein, um es mit Bonhoeffers Formulierungen zu sagen. Solches Leben wollten sie auf dem Boden der alt-reformatorischen Lehre vom Priestertum aller Glaubenden unter sich gestalten. Das hieß: Glaubende, Suchende und Zweifelnde sollten dort ihren Platz finden, ihren Glauben stärken, die Botschaft des Heils hören und in der Anfechtung und Not Hilfe empfangen. Ordinierte Prediger und auch beauftragte Laien sollten geistliche Dienste bis hin zur Predigt wahrnehmen. Männer und Frauen sollten in den Gemeinden ihre Gaben entfalten. Die Gebetsstunden waren bewegende Gemeinschaftserfahrungen, in denen Teilnehmer beiderlei Geschlechts unabhängig von Alter und sozialem Stand ihre Hoffnungen und Ängste vor Gott brachten. Dazu kam die gegenseitige Bezeugung von Glaubenserfahrungen aus dem Alltag in den traditionellen Klassen, bei Gemeindefeiern und anlässlich nicht-liturgisch bestimmter Feste, die in Anknüpfung an die urchristlichen Agapen das Gemeinschaftsleben bereicherten. Am Sonntag ging es nicht um den Gottesdienstbesuch, sondern um die Gottesdienstteilnahme, um Begegnung mit Gott in seinem Wort mitten in einer tragfähigen Gemeinschaft von Glaubenden und Suchenden. Als Aufgabenstellung für den Missionar oder Prediger ergab sich, dieses kirchlich-missionarische Selbst- und Sendungsbewusstsein, das einmal in einer agrargeprägten, vorindustriell-dörflichen und kleinstädtischen Kultur entwickelt und erprobt worden war , im Kontext der im Umbruch befindlichen zweitgrößten Stadt Deutschlands in seiner Aus- und Umgestaltung mit den sich darstellenden Problemen zu bewältigen. Die Ausführungen werden 22

22

Die Wurzeln des methodistischen Gottesdienstes liegen nicht in der Tradition der lateinischen Messe, sondern in den Erfahrungen der wesleyanischen Reiseprediger in England und der Circuit Rider aus der Zeit der Besiedlung Nordamerikas.

Schwierige Hamburger Anfänge

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zeigen, dass diese Herausforderung keineswegs akademisch und systematisch angenommen worden ist. Methodistische Kirchen suchten von Anfang an ihren Weg in der Auseinandersetzung mit der sie umgebenden Wirklichkeit. Solange sie missionarisch und darum weltbezogen lebten, und dem Versuch widerstanden, sich selbst zu leben, oder Stille im Lande zu sein, die sich pietistisch-konventikelhaft abschließen, brauchten sie keine missionarischen Aufbauprogramme. Ihre Inspiration empfingen sie durch die Herausforderungen, vor denen sie Woche für Woche standen.

2. 2.1

Schwierige Hamburger Anfänge Ein Vorbote der Methodisten in der Hansestadt

Zuerst sandte Jacoby im Herbst 1850 einen Schriftenmissionar, damals als Kolporteur angestellt, nach Hamburg. Die Wahl fiel auf Christian Nahrmann. Jacoby hatte ihn bald nach seiner Ankunft in Deutschland für die Mitarbeit gewonnen. Seine ersten Erfahrungen sammelte der junge Mann in Bremen. Eines der traditionellen Bremer Volksfeste, dem Hamburger Dom vergleichbar, ist der Freimarkt. Dort bauten die Methodisten eine Bude auf, um Bibeln und Schriften zu verkaufen und Traktate zu verteilen. Nahrmann bewährte sich am Stand als Verkäufer. Bei einer anderen Gelegenheit begleitete er einen Missionar ins benachbarte Dorf Thedinghausen. Dort wurden die beiden vom aufgehetzten Pöbel empfangen. Nahrmann wurde geschlagen, gewürgt und in einen Graben gestoßen. Er hatte also, bevor er nach Hamburg gesandt wurde, um unter Auswanderern, Seeleuten und Hafenarbeitern zu wirken, seine Feuertaufe bereits hinter sich. Die Aktivitäten Nahrmanns riefen auch in Hamburg Widerspruch hervor. Aufgrund einer Anzeige von Pastor Moritz Ferdinand Schmaltz (1785–1860), der zu dieser Zeit Hauptpastor an St. Jakobi war, hat er eine Nacht hinter Schloss und Riegel bei der Polizei zubringen müssen. Schmaltz hatte sich als konfessionsbewusster Lutheraner durch antikatholische Reformationspredigten einen Namen gemacht und 1830 für seine kontroverstheologischen Auseinandersetzungen sogar einen theologischen Ehrendoktor verliehen bekommen. Aus den Berichten um den Vorgang des polizeilichen Gewahrsams von Nahrmann geht hervor, dass der Kolporteur, wenn er Gelegenheit fand, auch predigte. Nahrmanns Tätigkeit hatte bereits eine internationale Dimension. Durch eine kleine, von Jacoby in Bremen herausgegebene Schrift Freundschaftliche

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

Winke für Auswanderer, eine Art ,Erste Hilfe für Auswanderer’, bekamen die unsicheren Emigranten schon im Hamburger Hafen Anschriften von Kosthäusern in den amerikanischen Ankunftshäfen in die Hände. Es gab darin auch Warnungen vor Gefahren, besonders vor Gepäckdiebstahl bei der Ankunft in den amerikanischen Häfen, in denen die sog. Runners sich auf diese Art Geschäft eingerichtet hatten. Natürlich wurde auch auf methodistische deutschsprachige Gemeinden in Amerika hingewiesen und zu deren Besuch eingeladen. Auf dem Bremer Kirchentag von 1852 wurden die Methodisten für diese Publikation von einem Auswandererpastor gelobt. Nach einigen Jahren schloss sich der Kolporteur Christian Nahrmann selber dem Auswandererstrom nach Amerika an. 23

2.2

Der erste Prediger in Hamburg – ein Missionar

Im April 1851 besuchte der Amerika-Rückkehrer Carl Heinrich Doering (1811–1897) die Hansestadt, um den Beginn seiner Missionsarbeit vorzubereiten. Doerings erste Eindrücke von Hamburg wirkten nicht gerade ermutigend auf ihn. Er schrieb nach diesem Besuch an seine amerikanischen Freunde: „mein Herz wurde betrübt von dem, was ich dort sah und hörte.“ Der Beginn der Mission verzögerte sich wegen der Krankheit eines Kindes. Aber am 23. Juli 1851 konnte es losgehen. Nach dem, was er „von Hamburg gehört und selbst gesehen“ hatte, begab er sich „mit einem Gefühl des Widerwillens […] und unter den Gefühlen des Zagens und der Furcht“ auf den Weg. So erinnerte er sich neun Monate nach dem Anfang. Sein Hamburg-Bild hat sich zu dieser Zeit bestätigt. 24

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„Der moralische Zustand von Hamburg scheint wirklich theilweise sehr gesunken, wie es leider meistens in großen See- und Handelsstädten gefunden wird; besonders schlimm scheint es hier für junge und unerfahrene Leute zu seyn, indem ihnen so manche Schlingen für ihren Fall gelegt werden.“26

Aber diese Situation nahm er inzwischen als Herausforderung an. Er sei nicht mutlos, „nein, sondern im Gegentheil, so sehr auch anfänglich meine 23

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Verh. des vierten Congresses für die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche auf dem fünften deutschen evangelischen Kirchentage zu Bremen im September 1852, hg. von Fr. Ad. Toel, Berlin 1852, S. 71. Carl H. Doering, Bericht vom Bremer Missionsbezirk, vom 18. April 1851. In: CA 13. Jg. (1851), S. 83. Carl H. Doering, Ein Bericht von der Hamburger Mission, vom 22. April 1852. In: CA 14. Jg. (1852), S. 86. Ebd.

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Gefühle gegen Hamburg waren. Ist es nothwenig für uns [als Kirche], an irgend einem Platz zu arbeiten, so ist es sicherlich hier.“ Seine neue Einstellung und seine Erfahrungen führten dazu, dass er nach zwei harten Jahren schreiben konnte, er sei glücklich und könne jetzt sagen, es fange ein wenig an zu tagen, „weil sich die Aussichten auf meinem Felde aufhellen.“ Wie sehr er in einer Spannung zwischen Hoffen und Bangen blieb, zeigte jene Bemerkung, die er wenige Monate später resümierend in einem Brief mitteilte: „Hamburg ist sicherlich ein schweres Arbeitsfeld.“ In seinen schwankenden Urteilen wurde Doering auch von seinen Erfahrungen bestimmt, die er im Auf und Ab mit der entstehenden Gemeinde machte. 27

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2.3

Wer war Carl H. Doering?

Carl H. Doering, der nach seiner Einbürgerung in Amerika seinen Namen Döring in Doering geändert hatte, kam ursprünglich aus Springe am Deister im damaligen Königreich Hannover, wo er am 27. August 1811 geboren ist. Nach einer kaufmännischen Lehre in der nahegelegenen Landeshauptstadt und einer sich daran anschließenden Tätigkeit in Bremen wanderte er mit guten englischen Sprachkenntnissen 1836 nach Amerika aus. In Wheeling, West Virginia, schloss er sich einer deutschen methodistischen Gemeinde an. Bevor er ins Predigtamt dieser Kirche eintrat, widmete er sich 3½ Jahre lang theologischen Studien am Allegheny College in Meadville, Pa. Zu dieser Zeit fing er bereits an, unter seinen Landsleuten in der Stadt zu predigen. 1841 sandte ihn die Kirche zur Bildung einer deutschen Gemeinde nach New YorkCity. Später wirkte er von Pittsburgh aus. Im Sattel seines Pferdes ritt er ins Land hinaus, um den Einwanderern auf ihren Wegen zu folgen. Sein Bezirk erforderte von ihm, jährlich 4.000 Meilen unterwegs zu sein. Das bedeutete monatlich etwa 500 km durch weitgehend unwegiges Gelände zu reiten. Mitte 1850 wurde er als Missionar nach Deutschland gesandt. Er unterstützte zunächst die unerwartet vielseitige Arbeit von Ludwig S. Jacoby im Raum Bremen. Als mit Heinrich Nuelsen (1826–1911) ein weiterer RückwandererMissionar eingetroffen war, konnte Doering im Juli 1851 nach Hamburg übersiedeln. Damit erfüllte sich der längst bei Jacoby gehegte Wunsch, dort 27 28 29

Ebd. Carl H. Doering, Unsere Mission in Hamburg, Bericht v. 6. Juni 1853. In: CA 15. Jg. (1853), S. 114. Carl H. Doering, Brief aus Hamburg v. 22. Oktober 1853. In: CA 15. Jg. (1853), S. 190.

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

durch den zu dieser Zeit am besten ausgebildeten Prediger eine neue Mission zu gründen. 2.4

Predigtsäle

Doering mietete eine Wohnung in der zentralen Straße Große Bleichen 65 und einen Predigtsaal für nahezu 200 Zuhörer in der ABC-Straße. Das war ein mutiger Schritt. Obwohl er kräftig die Werbetrommel gerührt hatte, waren zu seiner ersten Predigt nur sechs fremde Zuhörer erschienen. Bei der Anmietung des Raumes für 200 Personen war er von den Erfahrungen Jacobys in Bremen ausgegangen. Der musste nach der anfänglichen Überfüllung bei seinen Predigten im Krameramtshaus, dem heutigen Gewerbehaus, schon bald einen größeren Saal im Hause mieten, der bis zu 500 Personen fasste. Doering resümierte: Er habe sich nicht wie Jacoby in Bremen getäuscht: der Bremer „hatte ein leeres Haus erwartet und fand ein volles, gedrängtes; ich erwartete nach dem, was ich gehört, ein leeres Haus, und fand es so.“ Am zweiten Sonntag waren es schon achtzehn Zuhörer, darunter ein österreichischer Offizier, über dessen Motiv zur Teilnahme Doering verunsichert rätselte. Dieser Gottesdienst nahm zum Schluss einen unerwarteten Verlauf. „Ein schnaubender Rationalist rief der kleinen Versammlung nach Beendigung des Gottesdienstes zu, sie sollten sich ja nicht von diesem Kreuzesprediger verblenden lassen.“ Ein paar Wochen später wunderte sich Doering, dass es nicht zu weiteren Störungen kam. Er hatte in Hamburg eine derartige Gleichgültigkeit angetroffen, wie sie ihm bisher nicht begegnet war. Darum wäre es ihm „lieber, daß Satan anfinge, etwas unruhiger […] zu werden.“ Anfeindungen und Störungen, die er aus Amerika kannte und hier vermisste, würden mehr Aufmerksamkeit und Neugierde geweckt haben. Doerings Wunsch wurde erfüllt. 1853 schrieb er nach Amerika: „Die öffentlichen Blätter fangen an, unserer zu erwähnen, und obschon in höhnischer Weise, so hat es doch einige veranlasst, selbst zu sehen und zu hören, so daß manche fremden Personen anfangen zu erscheinen.“ 30

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Friedrich Kolb. Hamburg St. Georg. In: Goldenes Buch zum 75jährigen Jubiläum der Bischöfl. Methodistenkirche in Deutschland (1926). Zentral Archiv (ZA) EmK Reutlingen. Carl H. Doering, Ein Bericht aus Hamburg v. 22. April 1852. In: CA 14. Jg. (1852), S. 86. Redaktionelle Nachricht, Das Neueste von unserer Mission in Deutschland. In: CA 13. Jg. (1851), S. 159. Nach einem späteren Schreiben war es ein „Halbbetrunkener“, der hier aufmüpfig geworden sei. Carl H. Doering an Wilhelm Nast v. 22. April 1852. In: CA 14. Jg. (1852), S. 86. Carl H. Doering, Unsere Mission in Hamburg. In: CA 15. Jg. (1853), S. 114.

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Die Raumverhältnisse in der ABC-Straße waren so miserabel, dass Doering schon zum 1. Mai 1852 einen anderen Saal in der Katharinenstraße mietete, der aber – aus späterer Sicht – „noch weniger geeignet“ war als der erste. Trotzdem ging es vorübergehend ein wenig bergauf. 35

2.5

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Hamburg als Vorfeld für Amerika

Nach vielen Mühen hatte Doering gelegentlich bis zu 50 Zuhörer, aber meistens waren es nur zehn bis fünfzehn. Später stieg die durchschnittliche Zahl auf 30 bis 40. Darunter befanden sich zunehmend Auswanderer, die vor dem Betreten ihres Schiffes gerne einen Rückwanderer hörten, ihn dann auch um Rat fragten und die früher bereits erwähnte Broschüre für Auswanderer erbaten. Auf diese Weise wurde Hamburg zu einem Missionsvorort für die Kirche in Amerika. Eine Gemeindebildung in Hamburg unterstützte die zahlenmäßige Entwicklung nur, weil dadurch mehr Gottesdienstteilnehmer da waren und die einmal hereinschauenden Hamburger nicht ein gar so kümmerliches Häuflein vorfanden. Sehr langsam stieg die Zahl der Gottesdienstbesucher. Das schien auch mit dem Wechsel in der Mitarbeiterschaft zusammenzuhängen. 37

2.6

Kolporteure und Laienprediger

Als Schriften-Kolporteur war Christian Nahrmann wie ein fliegender Händler unterwegs, um seine Traktate zu verteilen. Er war, wie bereits erwähnt, schon in Hamburg tätig, als Doering seine Arbeit dort aufnahm. Es scheint, als habe er seinen Arbeitsstil zu jener Zeit, als Doering kam, schon so fest ausgeprägt gehabt, dass beide mehr nebeneinander her arbeiteten, als dass Nahrmann die Aktivitäten des Hamburg-Missionars unterstützt hätte. Als sich Nahrmann 1853 selber zur Auswanderung entschloss und nach Amerika übersiedelte, weinte Doering ihm keine Träne nach. Unter Nahrmanns Nachfolger, dem Kolporteur Carl Steinmeyer (1826–1918), änderte sich die Arbeitsweise. Steinmeyer wohnte direkt gegenüber der englisch-reformierten Kapelle. Der neue Kolporteur wirkte nicht nur unter Auswanderern, sondern bot Luther-Bibeln und Testamente auch in der Stadt von Haus zu Haus an, 35 36 37

Friedrich Kolb. Hamburg St. Georg. In: Goldenes Buch zum 75jährigen Jubiläum der Bischöfl. Methodistenkirche in Deutschland (1926). Zentral Archiv (ZA) EmK Reutlingen. Johann Jakob Sommer, Geschichte des Methodismus auf dem europäischen Kontinent. In: John L. Nuelsen, Kurzgefaßte Geschichte des Methodismus, Bremen 19292, S. 610. Carl H. Doering, Brief aus Hamburg v. 22. Oktober 1853. In: CA 15. Jg. (1853), S. 190.

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

verteilte Traktate und redete mit den Leuten. Manche konnte er zum Besuch der Gottesdienste einladen und einige kamen tatsächlich. Vorübergehend fand Doering auch Unterstützung durch den gebürtigen Holländer Adrian van Andel (1823–1904). Der hatte schon mit der englischmethodistischen Seemannsmission zusammengearbeitet. Als Doering wegen einer Erkrankung längere Zeit ausfiel, sprang van Andel für ihn ein. Doering kommentierte, „ich zweifle nicht, er wird ein Segen für unser hiesiges Werk werden.“ Van Andel sprach außer seiner holländischen Heimatsprache französisch, englisch und deutsch. Er war mit einer Engländerin verheiratet. Doering charakterisierte ihn und schrieb, er „ist ein guter Schreiber und vorzüglich guter Prediger, sowohl nach Erfahrung als Lehre.“ Er sah in ihm den ersten in Deutschland für das Predigtamt gewonnenen Mitarbeiter. Vielleicht war Doering auch so begeistert, weil er einige der früheren englischen Wesleyaner mit in die Gemeinde gebracht hatte. Das lag nahe, seitdem die Engländer in Hamburg keinen eigenen Prediger mehr hatten. Van Andel wurde von Jacoby angestellt und war 1855 zunächst in Hamburg tätig. Der Niederländer hatte offensichtlich in der Stadt auch wenig Erfolg und verlagerte daher seine Arbeit in drei nahegelegene Dörfer. Die Zusammenarbeit mit van Andel wurde aber von Superintendent Jacoby nach nicht allzu langer Zeit beendet, weil er ihn für die Situation in Deutschland nicht für nützlich hielt. Es scheint, als konnte er sich mit dem Versetzungssys38

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Carl H. Doering, Unsere Mission in Hamburg. In: CA 15. Jg. (1853), S. 114. Zu van Andel: Karl Heinz Voigt, in: BBKL Bd. 14 (1998), Sp. 707–712. Carl H. Doering, Unsere Mission in Hamburg. In: CA 15. Jg. (1853), S. 114. Ebd. Nach einer anderen Mitteilung sei van Andel von der irisch-presbyterianischen Gemeinde gekommen und habe von dort eine Gruppe mitgebracht. Es ist zu vermuten, dass er zu beiden Gemeinden eine Beziehung hatte. Dieses deutet auf ein Herkommen von der irisch-presbyterianischen Gemeinde hin, die im Umkreis von Hamburg durch James Craig viele Aktivitäten entfaltet hatte. Das bis 1864 unter dänischer Herrschaft stehende Lokstedt wird von C. H. Doering in seinem Bericht vom 6. Juni 1853 ausdrücklich im Zusammenhang mit van Andel erwähnt. Aber vorher hatte bereits James Craig in Lokstedt gearbeitet. (The Gospel on the Continent. Incidents in the Life of James Craig, Edited by his daughter, London 1895, S. 110 f.) Der Schritt des Holländers von Craig zu Doering soll mit dem Einverständnis des Iren geschehen sein, da seine als Judenmission begonnene Arbeit von der Presbyterianischen Kirche in Irland finanziell nicht mehr unterstützt wurde. Zu Craig: Karl Heinz Voigt, in: BBKL Bd. 15 (1999), Sp. 453–443.

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tem der Reiseprediger nicht anfreunden. 1857 übernahm Adrian van Andel eine Aufgabe in Ungarn und entfaltete dort eine bemerkenswerte Aktivität. Wie wichtig die Traktatmission war, zeigen die Mengen von Verteilblättern, die mit der Unterstützung der London Tract Society und der in New York ansässigen American Tract Society im Bremer Verlagshaus der Methodisten, dem Traktathaus, gedruckt wurden. Auch die American Bible Society gewährte finanzielle Hilfen zum Druck von Luther-Bibeln und Testamenten sowie zur Anstellung von Kolporteuren. Ahlerd G. Bruns (1833-1925) hat, als er 1863/64 Prediger in Hamburg war, über seine Traktatmission während des Krieges, den Preußen und Österreich gegen Dänemark führten, berichtet. Er nutzte die Gelegenheit unter vielen katholischen Soldaten aus der Donaumonarchie evangelische Traktate zu verteilen. Das kleine Andachtsbuch Des Kriegers Begleiter und die Neuen Testamente fanden reißenden Absatz. Seine Aktivitäten wurden unterschiedlich bewertet. Von privaten Personen in der Stadt, die Bruns’ Aktivitäten beobachteten, hörte er teilweise scharfe Kritik. Die Soldaten und sogar viele Offiziere reagierten begeistert. Offiziere gaben ihm die Möglichkeit zur Verteilung und Soldaten halfen ihm dabei. Bruns arbeitete im Hafen, auf St. Pauli, in der Stadt, in den Quartieren der Soldaten, und am Bahnhof Altona, von wo Bataillone an die Front transportiert wurden. Der unermüdliche Verteiler war glücklich, dass er vielen Katholiken, die keine Bibel hatten, wenigstens ein Neues Testament geben konnte. Enttäuscht war er, dass er nicht mehr Schriften in kürzerer Zeit transportieren konnte, weil die transportablen Partien im Fluge vergriffen waren. 44

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Wade Crawford Barclay, The Methodist Episcopal Church. History of Missions, Part Two, Vol. Three. Widening Horizons, New York 1957, S. 988. Ahlerd G. Bruns, Tractatverteilung unter Soldaten, Briefe v. 27. März 1864 und 26. Mai 1864. In: Ev. 14. Jg. (1864), S. 3712 u. 3735 f. – Dazu: Brief eines Unteroffiziers aus dem Lazarett in Perleberg v. 11. Apr. 1864 (mit der Bitte um Des Kriegers Begleiter als Folge der Verteilaktion). In: Ev. 14. Jg. (1864), S. 3712.

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Kurz vor dem Ausbruch des Deutsch-Dänischen Krieges 1864 druckte der methodistische Verlag in Bremen ein Andachtsbuch für Soldaten zur Massenverteilung.

Im Mai 1864 reiste der Hamburger Methodistenprediger selber ins Frontgebiet, um den dort wirkenden Kolporteur Bugge zu unterstützen. Bruns kam nach Gravenstein, nach Hokkerup und zum zentralen Kriegsschauplatz, der Düppeler Schanze. In mehr als zwölf Lazaretten verteilte er seine Kleinschriften. Die heute deutschen Orte Glücksburg und Rendsburg ließ er auf dem Rückweg nicht aus. Überall traf er auf Notlager mit Verwundeten. Im Raum Flensburg predigte er, wo sich ihm eine Gelegenheit bot, zur einheimischen Bevölkerung. Einige Male nahm er das Angebot eines privates Turnlokals und dann wieder einer Privatschule an. Aus diesen Ansätzen ist wenig später in Flensburg eine methodistische Gemeinde entstanden. Diese in den Anfängen wenig unterstützte Kleinstadtgemeinde hat an Gliederzahl bald die unter großem Einsatz betreute Arbeit in der Großstadt Hamburg überrundet. Das charakterisiert die Unterschiede zwischen Stadt und Land. Sicher waren die einfachen Traktate als Medium, durch das mit Fremden Kontakt aufgenommen werden konnte, ebenso wichtig wie die Weitergabe des Inhalts. Ähnlich war es bei den Schriften und Kalendern mit den Daten der Bauernmärkte, die die Kolporteure zum Verkauf anboten, wenn sie im norddeutschen Flachland mit ihrem Rucksack von Hof zu Hof zogen. 2.7

Sonntagsschule

Sonntagsschulen waren in Hamburg durch Pastor Johann Wilhelm Rautenberg und Johann Gerhard Oncken, auch durch James Craig und etwas später die englischen Methodisten bereits eine bekannte Einrichtung. Auch Doering

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hatte in der Arbeit mit den Kindern, wie er sie aus Amerika kannte, Erfolg. Mit zwölf Kindern fing er an, aber bald waren es 60 bis 70, die regelmäßig kamen. Sein strategisches Ziel war, „durch sie bei den Eltern Zugang zu erhalten, wie es auch schon der Fall gewesen ist.“ Allerdings stand zu dieser Zeit der erste Wechsel in ein anderes Versammlungslokal bevor, was gerade für die Kinder problematisch war, weil sie bei den Umzügen nicht immer mitziehen konnten. Im nächsten Bericht aus Hamburg war aber schon wieder zu lesen: „Unsere Sonntagsschule ist jetzt vielversprechend, die Anzahl der Kinder ist im Zunehmen, und ich werde bald eine andere in der Vorstadt St. Pauli anfangen.“ Es ist typisch, dass Doering Verkündigung, Diakonie und Mission zusammenfasste und neben der bestehenden Sonntagsschule „eine Missions-Nähschule angefangen [hat], um Kleider für unsere Afrikanischen Kinder in Liberia zu machen.“ Wie diese Hamburger Kleider für die afrikanischen Mädchen wohl ausgesehen haben mögen? Die Sonntagsschule insgesamt wuchs. Nach einigen Monaten konnte Doering erstmals von 100 Kindern berichten. 46

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2.8

Klassversammlungen

Die bei Doerings Vorbereitungen für die Mission in Hamburg angemietete Wohnung war geräumig genug, um Besucher zu empfangen und Klassversammlungen darin zu halten. Die Organisation von sog. Klassen war der Beginn der Gemeindebildung. Wer in den öffentlichen Gottesdiensten geistlich angesprochen war, erhielt eine Einladung in eine Klasse. Innerhalb des Rahmens methodistischer Theologie kann man sagen: In den öffentlichen Gottesdiensten war der Ort der Verkündigung der Rechtfertigung aus Gnaden verbunden mit der Einladung, in freier Entscheidung dem Ruf in die Nachfolge Christi zu folgen. Die Klassversammlungen waren Orte der Anleitung zur Gestaltung des Glaubens. Die Teilnehmenden suchten in Gemeinschaft nach Wegen zur Verwirklichung eines geheiligten Lebens, sie beteten miteinander, ermutigten und ermahnten sich gegenseitig, den Weg eines Lebens innerer und äußerer, also sozialer, Heiligung zu gehen. Durch das Berichten über gelungene Werke und das Erzählen vom Versagen spendeten sie sich gegen46 47 48 49

Carl H. Doering, Ein Bericht von der Hamburger Mission v. 22. April 1852. In: CA 14. Jg. (1852), S. 86. Carl H. Doering, Unsere Mission in Hamburg. Bericht v. 6. Juni 1853. In: CA 15. Jg. (1853), S. 114. Ebd. Brief Carl H. Doering an Wilhelm Nast v. 22. Oktober 1853. In: CA 15. Jg. (1853), S. 190.

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seitig Hoffnung und Trost. Die Klasszusammenkünfte waren in ihrer Frühzeit Orte der Einübung in die Praxis des allgemeinen Priestertums der Glaubenden. Beide Versammlungstypen, Gottesdienste und Klassen, bildeten eine Einheit und schufen Raum für den Beginn und die Entfaltung des Lebens aus dem geschenkten Glauben. Sie waren eine strukturelle Konsequenz dessen, was Martin Luther über das Verhältnis von Glauben und Werken in der Vorrede zum Römerbrief, die bei der Entstehung der methodistischen Erweckung eine zentrale Rolle gespielt hatte, geschrieben hat: „Glaube ist ein göttlich Werk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott, Joh. 1 (13), und tötet den alten Adam, machet aus uns ganz andere Menschen von Herzen, Mut, Sinn und allen Kräften und bringet den Heiligen Geist mit sich. O, es ist ein lebendig, geschäftig, tätig, mächtig Ding um den Glauben, daß es unmöglich ist, daß er nicht ohne Unterlaß sollte Gutes wirken. Er fraget auch nicht, ob gute Werke zu tun sind, sondern ehe man fragt, hat er sie getan und ist immer im Tun. Wer aber nicht solche Werke tut, der ist ein glaubloser Mensch, tappet und siehet um sich nach dem Glauben und guten Werken und weiß weder, was Glaube noch gute Werke sind, wäscht und schwätzt doch viele Worte vom Glauben und guten Werken.“50

Am 22. April 1852 wurde erstmals von der Bildung einer kleinen Klasse mit 6 Personen berichtet. Doering kommentierte: In der Klasse hatten wir „schon einige selige Versammlungen … [in denen wir] die Nahheit des Herrn fühlen durften. Der Grund ist gelegt, das Fernere müssen wir dem Herrn anvertrauen, der bisher Alles herrlich hinaus geführt hat. Ich fange daher an, besonders seit die Klasse gebildet ist, mich hier etwas heimathlicher zu fühlen.“ Der Zusammenhang zwischen der Bildung einer Klasse und der Organisation einer Gemeinde wird auch an den Terminen erkennbar. Am 16. Februar 1852 konnten die ersten Kirchenglieder in die Bischöfliche Methodistenkirche aufgenommen werden. Man kann dieses Ereignis als Gründungsdatum der ersten Gemeinde der Bischöflichen Methodistenkirche in Hamburg betrachten. Allerdings scheint der Prediger mit dieser Gruppe nicht lange glücklich gewesen zu sein. Es hat den Anschein, als seien diese ersten Glieder Unzufriedene gewesen, welche die Gelegenheit des Wechsels von van 51

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Martin Luther, Vorrede auf die Epistel S. Pauli an die Römer (1522). Carl H. Doering, Ein Bericht von der Hamburger Mission v. 22. April 1852. In: CA 14. Jg. (1852), S. 86. Friedrich Kolb. Hamburg St. Georg. In: Goldenes Buch zum 75jährigen Jubiläum der Bischöfl. Methodistenkirche in Deutschland (1926). Zentral Archiv (ZA) EmK Reutlingen. Es handelt sich um das Gründungsdatum der heutigen Gemeinde in Hamburg-Hamm, wie der weitere Verlauf der Geschichte ausweist.

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Andel benutzt hatten, ihm zu folgen. Vermutlich brachte der Holländer nicht nur die Personen mit, sondern auch deren Probleme. Was die Hamburger am Anfang erlebten, ist eine Erfahrung bis heute: In ihren eigenen Gemeinden unzufriedene Fromme sind selten geeignet für ein missionarisches Wirken, wenn sie nicht selber geistlich neu erfasst werden.

Der Bremer Laienprediger Wessel Fiege half 1852 in Hamburg aus. Sein Predigtbüchlein zeigt Daten, Texte, Themen und Orte.

Reichlich ein Jahr nach der ersten Aufnahme von Kirchengliedern schrieb Doering am 6. Juni 1853 kurz und nüchtern: „Eine neue Klasse von sieben habe ich gebildet, und hoffe mit besserem Erfolg, als wie die erste.“ Im Oktober kann er schon berichten: „Wir haben jetzt eine Klasse von zehn und dürfen oft die Gegenwart des Herrn in unserer Mitte fühlen. Darum lassen wir den Muth nicht sinken, sondern hoffen fest auf die Verheißung des Herrn, 54

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Carl H. Doering, Unsere Mission in Hamburg. Bericht v. 6. Juni 1853. In CA 15. Jg. (1853), S. 114.

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der ja mit uns seyn und bleiben will bis zu dem Ende der Welt.“ Gerade in Verbindung mit den Berichten über die Klasse spürt man, wie Doering mit jedem einzelnen, der kam, neue Hoffnung schöpfte. 55

2.9

Der schwere Start

In Hamburg gestaltete sich die Entwicklung anders als in anderen Regionen. Doering selber gibt dafür einige Gründe an. Sie zeigen seine Fähigkeit zu nüchterner Analyse. In Hamburg kam kaum jemand aus Neugierde, um einen Rückwanderer zu hören. Dafür war die Stadt zu international in ihrem Lebenszuschnitt. Die methodistische Kirche war keiner besonderen Beachtung wert. Es gab in der Stadt seit vielen Jahrzehnten freikirchliche Gemeinden unterschiedlichster Art: Baptisten, irische Presbyterianer, Altlutheraner, Deutschkatholiken, deutsche und französisch Reformierte, Herrnhuter, Mennoniten, zwei englische Kirchen (Anglikaner und Reformierte), „eine ganze Auswahl, welches einen bald an Amerika erinnert.“ Die methodistische Predigt war keine alleinige Alternative, wie es in Dörfern und Kleinstädten mit rationalistischen Predigern der Fall war. Selbst im „Michel“ wurde erwecklich gepredigt. Die eigenen Raumverhältnisse waren nicht einladend und durch ihre Größe für die wenigen Besucher eher bedrückend als gewinnend. Nach den Erfahrungen Doerings waren die Hamburger im Blick auf die Fragen des Glaubens „gleichgültig“. „Es gibt hier Tausende“, schrieb er nach Amerika, „die nie einen Gottesdienst besuchen, oder seit langen Jahren nicht besucht haben.“ 1854 verließ der inzwischen 43-jährige Doering nach einigen schweren Jahren die Hansestadt. Heinrich Nuelsen, auch ein Amerika-Rückwanderer, wurde sein Nachfolger. Der fand zwar keine missionswillige Gemeinde vor, aber doch eine mit Missionsmöbeln eingerichtete Wohnung und zwei ganz unterschiedliche Predigtstätten: einen Raum in der englisch-reformierten 56

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Brief Carl H. Doering an Wilhelm Nast v. 22. Oktober 1853. In: CA 15. Jg. (1853), S. 190. Carl H. Doering, Ein Bericht aus Hamburg v. 22. April 1852. In: CA 14. Jg. (1852), S. 86. Ebd. Wegen der vielen Umzüge der Reiseprediger im 19. Jahrhundert waren ihre Wohnungen möbliert. Jeder Umzug konnte kostengünstig mit der Bahn erfolgen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Praxis der „Missionsmöbel“ aufgegeben.

Jahre der Enttäuschung (1850–1875)

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Gemeinde im Bereich des Hafens und einen Saal in der Vorstadt St. Pauli, der im Helbingschen Speicher nahe der Tranbrennerei lag.

3.

Jahre der Enttäuschung (1850–1875)

Durch die gedruckten Protokolle der Jährlichen Konferenzen ab 1865 liegen von diesem Jahr an gesicherte statistische Unterlagen vor. Das vermittelt Einblicke in die Entwicklung der Arbeit und schafft Voraussetzungen zum Vergleichen. Diese Quelle ist besonders wichtig, da während des Zweiten Weltkriegs die Archive der Gemeinden – bis auf das in Hamburg-Eppendorf – verbrannt sind. 3.1

Ein überregionaler Vergleich

Nach fast fünfundzwanzigjähriger Wirksamkeit gab es 1875 in Hamburg erst 60 Methodisten, 46 Mitglieder und 14 in Vorbereitung. Im Vergleich mit andern Städten und Dörfern war das eine ernüchternd geringe Zahl für den hohen personellen und finanziellen Einsatz, der für Hamburg erbracht wurde. Andere Gemeinden waren um ein Vielfaches größer, wuchsen von Jahr zu Jahr und hatten teilweise bereits eigene Kapellen. Dort gab es jeweils regionale Erweckungen. Eine Erfahrung, die man freilich im säkularen Hamburg nicht machte. Die Großstadtmentalität in einem insgesamt kirchenkritischen Milieu prägte die Arbeit in Hamburg entscheidend. Aber war wegen der kleinen Zahl der Kirchenglieder die Arbeit ergebnislos? Nein, denn der Dienst, der so vielen Auswanderern und auch manchen Hamburgern getan wurde, war sinnerfüllend. Maßstab für den „Erfolg“ war nicht die Größe der Gemeinde, sondern das Gelingen der Teilhabe an der Mission. Und wer will hier messen? Ein Gesichtspunkt für die geringe Kirchengliederzahl war der häufige Wechsel der Prediger. Von 1851 bis 1875 waren in Hamburg 14 verschiedene Prediger und zwei Laienprediger tätig, was bei einem Jahr Vakanz einer 59

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Im methodistischen Kirchenrecht wurde bis 1968 offiziell von „Probegliedern“ gesprochen, was damals etwa einem Katechumenat zur Vorbereitung der Aufnahme in die verbindliche Kirchengliedschaft gleichkam, aber einem Bedeutungswandel unterworfen war. Einige Vergleichszahlen aus dem Jahr 1875: Frankfurt/M und Friedrichsdorf (gegr. 1851, jetzt 200 Mitgl. u. 35 in Vorb., 3 Kapellen), Heilbronn (gegr. 1851/52, jetzt: 301/104, 1 Kapelle), Pforzheim (gegr. 1862, jetzt 230/70, 1 Kapelle), im thüringisch-sächsischen Dörtendorf-Waltersdorf (gegr. 1870, jetzt 328/72, 2 Kapellen). Vgl. S. 109.

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durchschnittlichen Verweildauer von einem Jahr und etwa 8 Monaten entspricht. Der Erfahrungsschatz, den die Prediger mitbrachten, war sehr unterschiedlich: drei waren Rückwanderer aus den USA und mit dortiger Gemeindepraxis vertraut; einige kamen als junge Prediger, die im Bremer Seminar ihre Ausbildung empfangen hatten; die Mehrzahl der Prediger und auch ihre Frauen kamen aus ländlichen Gebieten, hatten also keine Großstadterfahrungen. In diesem Zusammenhang ist die spezielle Rolle des methodistischen Predigers zu erklären. Er wurde nicht, wie in den kongregationalistischen Baptistengemeinden, von einer Gruppe von Gläubigen als ihr Prediger berufen. Der methodistische Prediger wurde von seinem Bischof oder zu dieser Zeit in Deutschland gelegentlich durch den Superintendenten an seinen Missionsort gesandt. Auf diese Weise kamen Missionare zuerst auch an Orte, wo es gar keine Gemeinde gab, die ihn hätte rufen und bezahlen können. Hamburg ist dafür ein Beispiel. Es war die Sendung des Predigers, Missionar zu sein und eine Gemeinde zu sammeln. Dazu wurden er und die Räume, die er für seine Versammlungen wie für seine Familie als Wohnstätte mietete, von der Gesamtkirche finanziert. Der Missionar war gleichsam der personale Mittelpunkt der Mission, er mietete die Räume, er sorgte für die finanziellen Voraussetzungen zur Entfaltung der Arbeit, und er organisierte das Gemeindeleben. Wie die beachtliche Zahl der Laienprediger zeigt, erwuchs die Stellung des Predigers in der Gemeinde nicht aus einem besonderen Amtsverständnis, das ihm eine pastorale Würde gegeben hätte, sondern aus einem funktionalen Verständnis des Dienstes, und der war konzentriert auf das In-Mission-Sein angelegt und strukturiert. Für den Aufbau einer Gemeinde in Hamburg waren der häufige Ortswechsel und die geradezu primitiven Raumverhältnisse eine schwere Bürde. Neben den großen und prächtigen Hamburger Innenstadtkirchen waren die schlichten Räume, in die man teilweise nur über eine Treppe kam, zwar geeignet, jene Menschen zu erreichen, die sich scheuten oder schämten, neben 62

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1875 wirkten in der deutschsprachigen Methodistenkirche neben inzwischen 55 „Reisepredigern“ weitere 164 „Lokalprediger“. Ein Kennzeichen der Missionare war, dass sie reisten („Reiseprediger“). Dazu waren sie mit kirchlicher Finanzierung freigestellt. Dagegen waren die in ihren Alltagsberufen tätigen Prediger durch ihre berufliche Arbeit an ihren Ort gebunden und wurden in der weltweiten Kirche als „local preacher“ (Lokalprediger) bezeichnet, die natürlich geprüft und dann kirchlich „lizenziert“ waren und regelmäßig Berichte abgaben, um danach in ihrem Predigtdienst für jeweils ein weiteres Jahr durch das gemeindeleitende Gremium „bestätigt“ (oder eben nicht „bestätigt“) zu werden.

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den bürgerlichen und vornehmen Gottesdienstbesuchern in einfacher Alltagskleidung in den schönen Gotteshäusern zu erscheinen und, ohne Kirchenstühle gemietet zu haben, auch noch einen Sitzplatz zu beanspruchen. Aber gerade diese einfachen Leute lebten in der Großstadt anders als in den Dörfern. Dort waren sie noch in den Dunstkreis der Frömmigkeit mit Tischoder Abendgebet eingebunden, vielleicht hatten sie sogar außer der traditionellen Familienbibel ein pietistisches Andachtsbuch oder Predigten von Claus Harms (1778-1855) im Haus. Vielleicht nahmen sie auch auf den landwirtschaftlichen Gütern noch mehr oder weniger willig an den täglichen Hausandachten teil, die ihre Herrschaften ihnen hielten. Aber in der Großstadt hatten sich viele eher und radikaler vom Glauben und der Kirche abgewandt. Da waren kaum noch verschüttete Reste von Frömmigkeit in Herz und Hirn vorhanden, die man noch hätte „erwecken“ können. Die Armut in den berüchtigten Gängevierteln und Bitterkeit über die Verluste beim Großen Brand, der im Mai 1842 ein Viertel der Stadt vernichtet hatte und 20.000 Menschen obdachlos machte, kann unter der Erfahrung existentieller Betroffenheit schon zu einer Absage an Jesus Christus geführt haben, die ernster gemeint war als die öffentliche Absage an den Teufel, die stellvertretend bei der eigenen Taufe einmal über dem Leben ausgesprochen war, wenn sie überhaupt die Taufe noch empfangen hatten. Das bedeutete: diejenigen, die die Methodisten in den schlichten Räumen und bei der einfachen Gestaltung des Gottesdienstes in den Dörfern noch erreichten, fanden in der Großstadt kaum noch einen Zugang zur Kirche und zum Evangelium. Es ist kein Wunder, dass die hochmotivierten Missionare ihre Tätigkeit in die Vorstädte und die Dörfer rund um die Stadt verlegten. Am Rande von Hamburg war man in Lokstedt erfolgreich und besonders im ebenfalls schleswig-holsteinischen Wandsbek. Der 13. nach Hamburg gesandte methodistische Prediger Carl Frischkorn, der hier von 1877 bis 1880 wirkte, zog mit seiner Familie sogar nach Wandsbek, wo er mehr Erfolg hatte. Als er am 29. Juli 1877 dort seinen Wohnsitz nahm, behielt er lediglich einen Predigtplatz in der Hamburger Pastorenstraße 6 aufrecht. Grenzüberschrei63

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Ich schließe mich durchgehend für alle Hamburger Stadtteile der heutigen Schreibweise an, außer bei Zitaten. Brief Carl Frischkorn an die Regierung in Schleswig v. 3. April 1878. Landesarchiv Schleswig-Holstein (LA SH). Best.: Abt. 309 Nr. 24 304. Ausschnitt in einer nicht bezeichneten Hamburger Zeitung vom 9. März 1878. Kirchenzettel: „Methodisten-Gemeinde, Pastorenstraße 6, Sonntag Vormitt. 10 Uhr Predigt vom Prediger Junker aus Flensburg. Jeden Sonntag-Abend Jünglings-Verein und jeden MittwochAbend Gebetsstunde.“

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

tungen waren für eine Kirche, die nicht an ein staatliches Territorium gebunden war, manchmal ein Nachteil, manchmal ein Vorteil. Für die Aufnahme der Wirksamkeit in Wandsbek z. B. bedurfte es weder einer innerkirchlichen noch einer staatlichen Genehmigung, um die Arbeit beginnen zu dürfen. Andererseits hatten die Besucher der Zusammenkünfte – oder der Prediger – bei den abendlichen Veranstaltungen zusätzliche Kosten. Die Methodisten hatten mehrere Jahre einen Saal in der Vorstadt St. Pauli. Kamen die Vorgänger Frischkorns abends von dort in ihre Wohnung zurück, dann mussten sie bis Ende 1860 damit rechnen, dass das Millerntor schon geschlossen war. Um trotzdem eingelassen zu werden, hatten sie eine Gebühr zu entrichten. Ähnlich ging es den Besuchern aus der Vorstadt, die von einer Versammlung mit der innerstädtischen Gemeinde in ihre Häuser zurückkehrten. Die Statistiken gerade der siebziger Jahre zeigen einige eigenartige Besonderheiten. Zwischen 1870 und 1878, als die Gemeinde im Durchschnitt 50 Glieder und 14 Probeglieder zählte, sind statistisch 31 Taufen erfasst. Jährlich 3 Taufen sind für die kleine Gemeinde eine hohe Zahl. Hier ergibt sich die Frage, ob möglicherweise Landeskirchler gekommen sind, um ihre Kinder in der methodistischen Gemeinde taufen zu lassen. Die „Stolgebühren“, die von den Taufeltern an den taufenden landeskirchlichen Pastor zu entrichten waren, können Ausschlag gebend sein. „Besonders für ärmere und kinderreiche Familien“, schrieb Friedemann Green in seiner Untersuchung über die „Kirche in der werdenden Großstadt“ Hamburg, „stellten sie [die Stolgebühren] eine finanzielle Belastung dar, die einen zusätzlichen Grund für den Verzicht auf Taufe und kirchliche Trauung lieferte.“ Die früheren Stolgebühren – von der Stola als Amtskleidung kommend – waren bis zur Einführung der Kirchensteuer ein Teil der Finanzierung des Pfarrgehaltes. In der methodistischen Kirchenordnung wurde damals ausdrücklich festgelegt: „Wir wollen nie eine Vergütung für Taufen oder Beerdigungen verlangen.“ Ein anderer Hinweis ist den Statistiken der folgenden Jahre zu entnehmen. Es gab einen verhältnismäßig starken Wechsel in der Gliedschaft der Gemeinde. Die Zuzüge aus anderen Regionen schwankten zwar, zeigten aber doch, dass die kleine Gemeinschaft ein Auffangbecken für hinzuziehende Methodisten aus den Landregionen war, die in die expandierende Großstadt 66

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Unter Adolf Lüring, der von 1887 bis 1892 in St. Georg wirkte, erhöhte sich die Zahl noch einmal deutlich. Friedemann Green, Kirche in der werdenden Großstadt. Landeskirche und Stadtmission in Hamburg zwischen 1848 und 1914, Herzberg 1994, S. 57. Die Lehre und Kirchenordnung der Bischöflichen Methodistenkirche, Cincinnati 1875, S. 34 (§ 38).

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mit ihrem zunehmenden Bedarf an Arbeitskräften kamen. In der Umstellung von einem Leben auf dem Lande zur Bewährung oder wenigstens Bewahrung des Glaubens in der Metropole leistete die Gemeinschaft einen Beitrag. Strategisch war die Gemeinde in Hamburg dadurch gesamtkirchlich wichtig. Neben den „Zuzügen mit Schein“ gab es natürlich auch entsprechende Wegzüge. Mehr ins Gewicht fielen die relativ hohen Zahlen von „Zurückgezogenen“. Sie erklären sich auch durch die Übernahmen von Personen aus der irisch-presbyterianischen Gemeinde von James Craig in Verbindung mit dem erwähnten Wechsel des Holländers Adrian van Andel. Insgesamt kann man also kaum von einer in sich gefestigten Gemeinde ausgehen. Lediglich ein Kern bildete eine Arbeitsgemeinschaft von Männern und Frauen mit dem Prediger, die sich der Mission in der Stadt verpflichtet wussten. Einige Male stand die Gemeinde in ihrer Existenz auf der Kippe. Mit der gesamten Arbeit in Deutschland war das zuerst während des amerikanischen Bürgerkrieges (1861–1865) der Fall, der Auswirkungen auf die finanziellen Möglichkeiten zur Unterstützung der Arbeit in Europa von Amerika her nach sich zog. Einige Jahre später formulierte 1873 ein Ausschuss der kirchenleitenden Jährlichen Konferenz „Ueber die Erweiterung unseres Missionsfeldes“: „Wir müssen anerkennen, daß manche Missionen unsere Erwartungen in ihrer inneren und äußeren Entwicklung übertroffen haben, dessen ungeachtet aber auch bekennen, daß an manchen Orten die Erfolge den gebrachten Opfern in keinerlei Weise entsprechen.“ Darum wurden von der Konferenz zwei Empfehlungen gegeben: „(1) daß große Städte, woselbst das Gehalt eines Predigers und die hohe Miethe und andere Verhältnisse große Ansprüche an unsere Missionskasse machen, nur mit großer Vorsicht und reiflicher Überlegung aufgenommen werden sollen. (2) Daß Missionsfelder, wo schon jahrelang gearbeitet wurde, ohne eigentliche Erfolge zu erzielen und welche auch keine Garantieen [sic!] bieten, daß für die Zukunft etwas Erhebliches erzielt werden kann, womöglich aufgegeben werden und mit diesem Gelde und diesen Kräften andere Missionen, wo der Herr uns sichtbarlich segnet, unterstützt werden.“ Diese Erwägungen kann man eigentlich nur auf die Entwicklung in Hamburg beziehen. Vorsitzender der Kommission, die diese Empfehlung erarbeitet hatte, war der frühere Hamburger Prediger Ahlerd G. Bruns. Er hatte Sympathie für die Großstadtgemeinde, aber er war auch ein nüchterner Rechner. 69

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Es erfolgten offizielle Überweisungen von Gemeinde zu Gemeinde „mit Schein“, also mit einer Bestätigung der Kirchengliedschaft zu deren Fortführung an einem anderen Ort. Verh. JK 1873, S. 18.

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

3.2

Kein passendes Lokal

Als Prediger Jakob Locher (1836–1882), der in der Hauptstadt des Großherzogtums Oldenburg wirkte, im Frühjahr 1876 von einer Reise aus Hamburg und Schleswig-Holstein zurückkam, bemerkte er zum ständigen Raumwechsel in Hamburg: „Dieses Umziehen ist der Gemeinde nicht vorteilhaft, und es wird hier nie etwas Rechtes werden, wenn wir nicht in den Besitz einer Kapelle kommen.“ Seit 1852 waren die Hamburger Methodisten immerzu auf Wanderschaft. Doering, der – wie schon erwähnt – eine Wohnung in der Großen Bleichen 65 fand, mietete 1851 zunächst einen Raum in der ABC-Straße, zog aber schon zum 1. Mai 1852 in die Katharinenstraße um. Etwas später eröffnete er eine Zweigstelle außerhalb der Stadtmauer in der Vorstadt St. Pauli in Helbings Speicher, ganz in der Nähe einer Tranbrennerei. Helbings Speicher, das scheinen die selben Räume gewesen zu sein, in denen schon die englischen Methodisten unvergessliche Erfahrungen gesammelt haben. Als Doerings Nachfolger Heinrich Nuelsen 1854 kam, verließ er die Katharinenstraße und fand Eingang in der englisch-reformierten Kirche am Johannisbollwerk. Dieser Platz, direkt am Hafen, lag äußerst günstig für die Auswandererberatung. Prediger Ernst H. Peters zog wieder um. Ab 1855 versammelte sich das Gemeindlein im Teilfeld, in unmittelbarer Nachbarschaft zum großen Michel, der alle anderen Hauptkirchen übertraf. Wie lange man es dort aushielt, ist nicht bekannt. 1863 zog die Gemeinde unter Ahlerd G. Bruns in die berüchtigte Deichstraße, wo 1842 der Große Brand gelegt worden war. Im Kirchenblatt der Methodisten wird geklagt: „Die Baptisten und die Gemeinde des Predigers Craag [richtig Craig] haben Kapellen, wir müssen uns mit einem schmalen, finstern Zimmer begnügen.“ Der Nachfolger von Bruns, Georg Göß, fand ab 1. November 1865 einen Raum am Jägerplatz, der nun einige Jahre als Versammlungsort diente. Danach zog man ab 1870 in die Königstraße, die heutige Poststraße, aber der Gemeindesaal lag im ersten Stock, was ohne Frage mit Einschränkungen verbunden war und – wie sich später zeigen sollte – noch andere Probleme mit sich brachte. Es handelte sich um Räume der irisch-presbyterianischen Gemeinde. Als Jakob Locher die kleine Schar 1875 besuchte, war sie wieder in der „englischen Kirche am Hafen“ angekommen. Der Oldenburger fügte seinem Bericht die Bemerkung hinzu: 71

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Jakob Locher, Eine Besuchsreise auf dem Hamburger und Flensburger Bezirk. In: Ev. 27. Jg. (1876), S. 30. Siehe Anhang S. 259 ff. Meldung über Hamburg. In: Ev. 16. Jg. (1865), S. 3860.

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„könnten wir nicht hier sein, so wären wir wohl heimathlos geblieben.“ 1879 veröffentlichte der frühere Lübecker Prediger Friedrich Köchli, der als Prediger 1877 in Lübeck mit seinem Hamburger Nachbarn Carl Frischkorn zusammengearbeitet hatte, einen Aufruf für Hamburg. Darin erinnerte Köchli an die dramatische Situation und die Umstände, die dazu geführt haben, dass es zu einer Kündigung durch die irische Judenmission kam. Er schrieb über einen Hamburg-Besuch in der Königsstraße: 74

„Ich fand unsere Gemeinde in einem schönen Haus eine Treppe hoch einquartirt, wo es ihr in zwei Zimmern nicht gerade an dem nothwendigen Platz fehlte, aber es waren andere Übelstände vorhanden. Sie hatte die Localitäten nicht für sich gemiethet, sondern war nur geduldeter Gast einer anderen Gemeinschaft, hatte sich also in jeder Hinsicht in Abhaltung ihrer Gottesdienste u.s.w. in die Anordnung der Andern zu fügen. Daß dieses für unser Werk mit mancherlei Nachtheilen verbunden war und auf die Dauer nicht so bleiben konnte, musste sich jeder sagen, der die Sache mit ansah. Letzten Herbst nun brach die Krisis aus. Eines Sonntags wünschten nun ein paar nicht gerade fein gekleidete Männer unsern Gottesdienst zu besuchen. Auf der Treppe des Hauses begegnete ihnen ein Bewohner des Hauses, jagte sie fort und beklagte sich bei dem Hauseigenthümer über das Gesindel, vor dem man nicht sicher sei, und drohte, daß, wenn sich das nicht ändere, er ausziehen werde. In Folge dessen wurde uns gekündigt, und mit erstem October mussten wir ziehen. Der Prediger machte sich deshalb Woche für Woche und Tag für Tag auf den Weg, um eine neue Heimath zu finden, aber vergebens. Bald war der Ort nicht geeignet, bald zu theuer. So sollten beispielsweise für 2 Zimmer 2 Treppen hoch 550 Mark bezahlt werden. So kam der 1. October, unsere Gemeinde musste ausziehen und war auf die Straße gesetzt. Was nun?“75

Nach dem Auszug konnte die Gemeinde vier Wochen lang keine Gottesdienste halten, bis sich die englisch-reformierte Gemeinde ihrer erbarmte und den Methodisten wieder Unterschlupft gewährte. Unter diesen Umständen war es kein Wunder, dass sich der Schwerpunkt der Gemeindearbeit aus dem Zentrum der Stadt inzwischen nach Wandsbek verlagert hatte. Zu dieser Zeit wurde die Jerusalem-Gemeinde, die vorüberge-

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Jakob Locher, Eine Besuchsreise auf dem Hamburger und Flensburger Bezirk. In: Ev. 27. Jg. (1876), S. 30. Auch: Franz Klüsner, Reisenotizen. In: Ev. 28. Jg. (1877), S. 167. Friedrich Köchli, Aufruf für Hamburg. In: Ev. 30. Jg. (1879), S. 159. Dieses zur Zeit der Schilderung erst kurz zurückliegende Ereignis zeigt einerseits die schwierige Lage einer Freikirche, die auf die Anmietung von Räumen angewiesen war, und gibt zugleich konkret Einblick in soziale Spannungen, mit denen eine Kirche der Armen leben musste.

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

hend keinen eigenen Pastor hatte, von den Methodisten mit versorgt. Daher kam es zu der gemeinsamen Raumnutzung. Eine methodistische Gemeinde konnte ihr geistliches Leben nicht in einem traditionellen Kirchengebäude entfalten. Sie brauchte Gemeinschaftsräume, die oft fälschlich als „Nebenräume“ bezeichnet werden, dazu sanitäre Anlagen und eine Garderobe. In den im Winter auch geheizten Räumen der Gemeinde fühlte man sich wohl. Wenn sie als Schwestern und Brüder zusammenkamen, legten sie wie Zuhause ihre Mäntel ab. Die Erfahrung, ein Teil der Familie Gottes zu sein, wurde existentiell ermöglicht. Oft waren die eigenen Wohnungen der einfachen Gemeindeglieder so bescheiden, dass sie es bevorzugten, in den Räumen der Gemeinde zu verweilen, und dass sie manchmal auch ihre Gäste und Freunde lieber dorthin einluden, als zu sich nach Hause. 76

3.3

Das Gemeindeleben

Die Methodisten brauchten, wie es eben aufgezeigt wurde, die Gemeinderäume nicht nur für die Gottesdienste, sondern die kirchlichen Räume waren für sie auch ein Ort, um zu den typisch methodistischen Versammlungen zusammen zu kommen. Das waren nicht zuerst die im Pietismus entwickelten Bibelstunden, sondern Gebetsstunden, in denen Männer und Frauen ohne Unterschied ermuntert wurden, persönlich Gebete für die Gemeinde, für die Stadt, für die Bekehrung von Sündern, oder was sie sonst bewegte, frei formuliert zu beten. Zum Beten ging die ganze Versammlung, wie im Gottesdienst, auf die Knie. Deswegen verdächtigte man die Methodisten, katholisch zu sein. Das konnte während des Kulturkampfes in Preußen durchaus belastend werden. Neben den Gebetsversammlungen gab es die Zusammenkünfte der Klassen. Das waren verbindliche Kleingruppen, die sich wöchentlich trafen und miteinander wie auf der Grundlage eines Beichtspiegels in puritanischer Strenge darüber sprachen, was sie Gutes oder Böses getan hatten und welchen Segen sie aus den Gnadenmitteln gewonnen hatten. Leitlinie waren die Allgemeinen Regeln John Wesleys, die bis heute in jeder methodistischen Kirchenordnung zu finden sind. Diese grundlegenden Regeln der Frömmigkeit wurden zu jener Zeit allen ausgehändigt, die sich der Kirche „auf Probe“ anschlossen. Bei der ersten Teilnahme an einer Klassversammlung wurden diese Regeln dem neuen Teilnehmer oder der Teilnehmerin gleichsam als verpflichtende 76

Jakob Locher, Eine Besuchsreise auf dem Hamburger und Flensburger Bezirk. In: Ev. 27. Jg. (1876), S. 30 f. Auch: Franz Klüsner, Reisenotizen. In: Ev. 28. Jg. (1877), S. 167. Auch: O. V. (August Rodemeyer?), Reiseskizzen. In: Ev. 28. Jg. (1877), S. 315.

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Grundlage des gemeinsamen Lebens in der Gemeinde und im Alltag vorgelesen und in gedruckter Form überreicht. Bezeichnend für den Methodismus ist, dass diese Regeln nicht von dogmatischen, sondern von ethischen Fragen bestimmt waren. Noch bewegender als diese regelmäßigen Zusammenkünfte in den Klassen waren die sog. Vierteljahrssonntage. Sie waren lebhafte Gemeinschaftsversammlungen. Der Vorstehende Älteste, heute Superintendent, kam als Repräsentant der Gesamtkirche, um in der Vierteljährlichen Konferenz, dem Leitungsgremium jedes Bezirks, den Vorsitz zu führen. Es wurden die Berichte über die Gemeindearbeit gegeben, in der Frühzeit besonders mit den Tagesordnungspunkten Sonntagsschule und Unterstützung von Armen. An diesen besonderen Sonntagen wurde das Abendmahl gefeiert, und es wurden Kinder getauft. Diese Gewohnheit des Gemeindelebens war in jener Zeit entstanden, als es nur wenige ordinierte Prediger gab. Aber am Vierteljahrssonntag war in der Person des Vorstehenden Ältesten gewiss jemand anwesend, der durch die Ordination zur Leitung der Abendmahlsfeier und zum Taufen bevollmächtigt war. Beides geschah in der Regel nicht im Gottesdienst, sondern während eines sog. Liebesfestes, das an die urchristlichen Agapen anknüpfte. Bei den methodistischen Agapen gab es lediglich Wasser und trockenes Brot. Die urchristlichen Agapen hatten zu biblischen Zeiten aufgrund der sozialen Unterschiede dazu geführt, dass Paulus die damit verbundenen Abendmahlsfeiern in Korinth als unwürdig bezeichnet hat. In einer methodistischen Gemeinde im 19. Jahrhundert, die überwiegend eine Gemeinde von Armen war, wollte man mit Wasser und Brot würdig, also ohne soziale Grenzen aufzureißen, feiern. Die Liebesfeste waren zunächst nicht öffentlich, weil Gemeindeglieder „Zur Ehre Gottes…“ aus ihrem persönlichen Leben Erfahrungen mit Gott berichteten. Manchmal vertrauten sie im engen Kreis den Brüdern und Schwestern auch an, wie sie aus einem Glaubenstief wieder zurückgefunden und wie sie die befreiende Kraft der Gnade Gottes erfahren hatten, oder was sie sonst bewegte. Das alles musste nicht unbedingt öffentlich sein. Der Reichtum dieser Versammlungstypen zeigt, dass eine methodistische Gemeinde nicht nur einen gottesdienstlichen Predigtraum brauchte. Diese im 19. Jahrhundert noch ungewöhnlich lebendige Form der gemeindlichen Frömmigkeit, in den USA vital religion genannt, brauchte zu ihrer Entfaltung 77

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Über die Durchführung solcher Vierteljahrs-Conferenzen liegen aus den Jahren 1875 und 1876 Berichte vor. In: Ev. 26. Jg. (1875), S. 52 u. Ev. 27. Jg. (1876), S. 30. Zu den Klassversammlungen, zum Liebesfest und zum Knien beim Gebet: Ludwig. S. Jacoby, Handbuch des Methodismus, Bremen 18552, S. 346–376 in dem Kapitel: Eigenthümliche Einrichtungen und Gebräuche der Methodisten. 1. Korintherbrief Kap. 11, 17–22 u. 27.

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

entsprechende Lokalitäten. Die Theologie der Erfahrung, durch die auch Herz und Gemüt erfasst wurden, korrespondierte mit dafür gestalteten Räumen, um das individuelle Erleben in der Nachfolge Christi zur Gemeinschaftserfahrung des gemeinsamen Lebens werden zu lassen. Das alles setzte ein hohes Maß an Vertrauen und Vertraulichkeit voraus. Diese Höhe der Gemeinschaft konnte nur durchgehalten werden, solange das geistliche Leben von der gegenseitigen Liebe bestimmt war. Später glitten diese Gemeinschaftserfahrungen in Worthülsen und Gesetzlichkeit ab. Weil neue Glaubenserfahrungen nicht erzwungen werden können, wiederholte man frühere. Das konnte später bis zu gewissen formelhaften, fast phrasenhaften Wiederholungen führen. Hamburg brauchte, wenn es eine methodistische Gemeinde dort geben sollte, eine Kirche, die diesen vielfältigen Formen der Frömmigkeit einen Gestaltungsrahmen bot. 3.4

Aufbrüche zu neuen Ufern

1874 lag dem Capellenbau-Comité der kirchenleitenden Jährlichen Konferenz ein Schreiben aus Hamburg vor. Der Inhalt ist nicht mehr zu ermitteln. Aber einige „Hamburger Brüder“ hatten sich in Bauangelegenheiten ihrer Gemeinde an die Konferenz gewandt. Die Konferenz antwortete den Hamburgern, dass „die dortige Vierteljahrskonferenz bzw. ein von ihr ernanntes Comité sich… an das Norddeutsche Baucomité zu wenden habe.“ Der Konferenzbeschluss hob das zunächst mehr persönlich vorgetragene Hamburger Anliegen von einigen „Brüdern“ auf die offizielle Schiene der verantwortlichen, gemeindeleitenden Vierteljahrskonferenz und bestimmte den regionalen Bauausschuss als Ansprechpartner. Er hatte die generelle Vollmacht, 79

„die von den Localcomité’s vorgelegten Baupläne, Kostenvoranschläge von Um- und Neubauten, Projekte zum An- und Verkauf von Grundstücken, Häusern oder von Theilen derselben zu prüfen“.80

Entweder haben die Hamburger keine Unterlagen eingereicht, oder der Bauausschuss konnte den Vorschlägen nicht zustimmen. Die nächsten Protokolle schweigen zu den Hamburger Wünschen. Erst drei Jahre später, 1877, wird wieder auf Hamburg hingewiesen. Diesmal war es nicht das Baucomité, sondern das Missionscomité, das darauf drängte, Kapellen und Predigerwohnun79 80

Verh. JK 1874, S. 50. Ebd., S. 49.

Jahre der Enttäuschung (1850–1875)

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gen „so vorsichtig und einfach wie möglich“ zu bauen, obwohl man sich bewusst war, „dass das Gedeihen unseres Werkes in hohem Grade davon abhängt,“ ob die Gemeinden über eigene angemessene Räumlichkeiten verfügen. In dem gleichen Zusammenhang wurde die amerikanische Missionsbehörde vom deutschen Missionscomité dringend gebeten, im nächsten Jahr die Zuwendung um 5.000 Dollar zu erhöhen, weil „wir sonst unser Werk nicht mehr ausdehnen könnten, sondern sogar genöthigt werden, einige Felder aufzugeben, wie z. B. Berlin und Hamburg.“ Es ist bezeichnend, dass die beiden größten Städte des Deutschen Reiches als Problemfälle genannt werden. Die Verantwortlichen standen unter einer großen Spannung. Der inzwischen als Vorstehender Ältester die Aufsicht führende Carl H. Doering hatte in einem Reisebericht die Aufmerksamkeit auf den Raum um Kiel gelenkt. Er hatte auf seiner Visitationsreise von Hamburg aus in Klausdorf, Preetz, Neumühlen und anderen Orten gepredigt. In Schönkirchen waren 80 Versammlungsbesucher erschienen, nachdem im Kreis der gastgebenden Familie zuerst das Abendmahl gefeiert worden war. Doerings Resümee der Reise war, dass sich „in dieser Gegend ein großes Verlangen nach dem Worte Gottes“ zeigt. Die weit von Hamburg entfernten Orte wurden auch von dem Hamburger Prediger Ferdinand Schmidt (1846–1924) aufgelistet, als er gegenüber dem Statistischen Büro in Altona eine Erläuterung über seine missionarische Tätigkeit und die Zahl der Kirchenglieder und der Predigtorte in SchleswigHolstein abzugeben hatte. Er zählte Methodisten auf: in Altona 10, in Wandsbeck 22, in Bramfeld keine, in Rausdorf (Kreis Stormarn) 1, im Kreis Plön 6, in Preetz keine, in Elmschenhagen 4, in Klausdorf keine, in Laboe keine und im Kreis Kiel 10. Doering fügte seinem bereits erwähnten Bericht hinzu: „Wenn man einen Prediger nach Kiel senden könnte […], so würde derselbe ein schönes Arbeitsfeld haben.“ Das war das Dilemma. In Hamburg, von wo aus der Prediger Kiel und Flensburg mit betreute, gab es wenig Hoffnung. Im Umfeld von Kiel dagegen warteten die Menschen, dass sich ein frommer Prediger um sie kümmere. Zu einer entsprechenden Einschätzung kam auch Prediger Jakob Locher, der die gleiche Reise machte und über die Orte um Kiel und Flensburg berichtete. Wieder zeigt sich, wie schwer der Großstadtboden im Vergleich zu den Kleinstädten und Dörfern zu beackern war. 81

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Verh. JK 1877, S. 45. Ebd. Statistisches Büro Altona, Übersicht vom 31. März 1876. LA SH, Abt. 309, Nr. 24304. Carl H. Doering, Reisebericht (nach Hamburg, Kiel und Flensburg). In: Ev. 26. Jg. (1875), S. 52.

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

3.5

Aus dem Zentrum nach Wandsbek

In der Mitte der siebziger Jahre scheint sich der Schwerpunkt der methodistischen Arbeit nach Wandsbek verlagert zu haben. Diese überschaubare, damals in Schleswig-Holstein gelegene Grenzstadt mit einer Zollstation unterstand bis 1864 der dänischen Verwaltung. Nach kurzer österreichischer Herrschaft im Anschluss an den deutsch-dänischen Krieg wurde Wandsbek schließlich preußisch, bis es 1937 an Hamburg angegliedert wurde. 1870 überschritt die Einwohnerzahl die Grenze von 10.000. Prediger Carl Frischkorn, der von 1877 bis 1880 im Großraum Hamburg wirkte, und vor ihm Prediger Ferdinand Schmidt (1846–1924) hatten zeitweise ihren Wohnsitz nach Wandsbek verlegt. Das wirkte sich dort auf die Arbeit positiv aus und führte zu einer wachsenden Gottesdienstteilnahme. Nach dem Hamburger Vormittagsgottesdienst versammelte sich am Nachmittag in Wandsbek eine aufgeschlossene Gemeinde. Sie nahm auch an einem der bewegenden Vierteljahrssonntage teil, der in Wandsbek stattfand. Dort wurde Abendmahl gefeiert und ein Kind Frischkorns getauft. Das typisch methodistische Liebesfest durfte nicht fehlen. Die Arbeit entwickelte sich so gut, dass Jakob Locher von dem Bestreben weiß, einen größeren Saal mit mehr als 80 Plätzen zu finden. Franz Klüsner (1837–1916) predigte dort in einer „gut besuchten Versammlung“; und als Gustav Junker (1854–1919) im März 1879 in Wandsbek predigte, war der Saal bis auf den letzten Platz besetzt. Die Entscheidung, in die Kleinstadt zu ziehen, zeigt die Tendenz, möglichst dort zu sein, wo Gott sichtbar Frucht schenkt. Aber die Arbeit in der Stadt Hamburg nicht aufzugeben war gleichzeitig ein Zeichen dafür, wie sehr man sich den Menschen im „Sodom“ der Großstadt verpflichtet wusste. 85

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4. 4.1

Erfolge unter veränderten Bedingungen Ein Anfang: Kleiner Kirchenweg Nr. 10

Die von der Missionsabteilung in Amerika für den Kapellenbau in Hamburg erhofften 5.000 Dollar waren nicht bewilligt worden. Es gab zwar Dollars an verschiedene Gemeinden zu verteilen. Aber Hamburg ging leer aus. Sollte 88

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Jakob Locher, Eine Besuchsreise. In: Ev. 27. Jg. (1876), S. 30 f. Franz Klüsner, Reisenotizen. In: Ev. 28. Jg. (1877), S. 167 f. Gustav Junker, Von Flensburg nach Hamburg und Aurich. In: Ev. 30. Jg. (1879), S. 142. Verh. JK 1877, S. 39–41.

Erfolge unter veränderten Bedingungen

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Hamburg nun aufgegeben werden? Vielleicht kann man die kleine Gabe, die die Hamburger der gesamtkirchlichen Kirchenbauhülfsgesellschaft beisteuerten , als ein Zeichen verstehen, aus diesem Fonds eines Tages selber zu profitieren. Unabhängig davon begann Prediger Carl Frischkorn nach seiner Ankunft in Wandsbek umgehend, für Hamburg einen Baufonds anzulegen. Im Herbst 1878 veröffentlichte er erstmals eine Spendenliste, die von sieben Gebern 80,70 Mark erbracht hatte. Sein Kommentar zu diesen Gaben drückt sein Engagement aus. Er leitete seinen kleinen Beitrag unter der Überschrift Kapelle für Hamburg mit den Worten ein: 89

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„Durchdrungen von der Nothwendigkeit, in einer Stadt wie Hamburg eine Kapelle haben zu müssen, wenn wir mit Erfolg arbeiten sollen, haben wir längst im Stillen einige Scherflein gesammelt, damit einmal die Gemeinde ein eigenes Gotteshaus bekomme.“

Dann zählte er die Spender auf, die aus Hamburg, Berlin und Amerika zu dem vorhandenen „Kapitälchen“ beigetragen hatten. Mit diesem Schritt ging Frischkorn jene Not an, die sich zu dieser Zeit auch in einer Editoriellen Notiz des methodistischen Kirchenblattes Der Evangelist niedergeschlagen hatte: 92

„So oft wir Hamburg, Lübeck und Kiel besuchen bedauern wir es tief, daß wir wegen Mangel an Geld in Hamburg keine Kapelle bauen oder einen großen Saal miethen können und daß Lübeck und Kiel nicht mit einem Prediger besetzt werden konnte.“93

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Verh. JK 1877, S. 51. Es gibt die Schreibweisen Carl und Karl. Ich entscheide mich für die von ihm selbst benutzte Fassung Carl. Brief vom 13.4.1878, LA SH. Best.: Abt. 309, Nr. 24304. Er belief sich 1876 auf bescheidene 600 Mark. Erklärung Ferdinand Schmidt vom 31.3.1876. LA SH, Best.: Abt. 309, Nr. 24304. Carl Frischkorn, Kapelle in Hamburg. In: Ev. 30. Jg. (1879), S. 383. Ev. 29. Jg. (1878), S. 340. Hervorhebung im Original.

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

Spendenliste für den ersten Kirchenbau in Hamburg. Veröffentlicht im Kirchenblatt „Der Evangelist“ von Prediger Carl Frischkorn

Was der zielstrebige Frischkorn in seinem Dank an die Spender nicht mitgeteilt hatte, war sein ganz persönlich verantwortetes Voranschreiten. Im volkreichsten Teil Hamburgs, dem Vorort St. Georg, hatte Frischkorn auf eigene Faust ein Haus erworben. Der begabte Kollege Junker aus Flensburg schrieb zu diesem Haus: Frischkorn „kaufte es zu einem billigen Preise. Es ist noch neu und ganz aus bestem Material erbaut. Wir haben vielleicht nirgends in Deutschland und der Schweiz ein so festes und so elegantes Gebäude. Zu dem Predigtlokal ist ein besonderer Eingang durch eine Veranda, welche man nöthigenfalls zum Saal hinzuziehen kann, wenn die jetzige Räumlichkeit nicht mehr ausreichen sollte. Auch die Lage ist sehr günstig. Es wäre der Wunsch der Gemeinde, das Haus als Eigenthum von Br. Frischkorn zu erwerben. Die nächste Conferenz wird darüber zu entscheiden haben. […] Wir sollten thun, was irgend möglich ist, um das Werk in Hamburg zu fördern. Es ist nirgends so nothwendig wie dort.

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Wenn wir zuerst zu denen gehen sollen, ,die unser am Meisten bedürfen’, dann müssen wir diese Stadt behaupten.“94

Die erste Kapelle der Methodisten in Hamburg, Kleiner Kirchenweg 10 im Stadtteil St. Georg, erbaut 1885/86 neben dem 1878/79 von Carl Frischkorn erworbenen Haus.

Junker, der sich auch sonst als ein Kenner der methodistischen Geschichte und Theologie erwies, zitiert hier aus den Regeln für Prediger, die John Wesley formuliert hatte. Junkers Schilderung war mit dem Aufruf verbunden, „das Werk in Hamburg zu fördern“ und er fügte motivierend hinzu: „Es ist nirgends so nothwendig wie dort.“ Wieso war Carl Frischkorn finanziell in der Lage, in St. Georg ein eigenes Haus zu erwerben? Die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Methodistenpredigers reichten zu solchen Erwerbungen in der Regel nicht aus. Frischkorn hatte am 22. November 1876 die junge Gertrud Henriette Elise Anna Freifrau von Boenigk geheiratet. Ihr Vater, Freiherr von Boenigk, war 1870 als 95

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Gustav Junker, Von Flensburg nach Hamburg und Aurich. In: Der Ev. 31. Jg. (1879), S. 142. Die Regel 11 lautet: „Du hast nichts zu thun, als Seelen zu retten, darum widme dich gänzlich deinem Werke; und gehe zu Allen, die deiner bedürfen, zuerst aber zu denen, die deiner am meisten bedürfen.“ Die Lehre und Kirchenordnung der Bischöflichen Methodistenkirche 1875, § 111, S. 77. Gustav Junker, Von Flensburg nach Hamburg und Aurich. In: Der Ev. 31. Jg. (1879), S. 142.

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preußischer Oberst- und Regimentskommandeur infolge einer Verwundung im Deutsch-Französischen Krieg verstorben. In Anerkennung der Verdienste ihres Vaters, wie auch ihres Großvaters, wurde die junge Gertrud Henriette vom Kaiser belobigt und offensichtlich auch in einer Weise belohnt, die den Erwerb des Hauses in Hamburg St. Georg, Kleiner Kirchenweg, ermöglicht zu haben scheint. Aber Frischkorn wusste auch die innerkirchlichen Medien seiner Zeit einzuschalten. Kurze Zeit nach dem bereits erwähnten Junker’schen Bericht erschien in der Kirchenzeitung ein von Friedrich Köchli unterzeichneter Aufruf für Hamburg. Er schilderte darin noch einmal die frühere dramatische Situation der Kündigung und fuhr fort: 97

„Um dem Nothstande abzuhelfen und der Gemeinde eine Herberge zu bieten, entschloß sich Br. Frischkorn auf eigne Gefahr ein Haus zu kaufen […]. Aber was soll nun weiter werden? Nehmen wir an, Br. Frischkorn wird versetzt, was dann? Da er das Haus nicht mitnehmen, es auch nicht zur bloßen Verwaltung in andere Hände geben kann, so wird er eben genöthigt sein, es zu verkaufen, und kann es dann die Gemeinde nicht übernehmen, so sitzt sie wieder da, und leidet an der alten Krankheit weiter.“98

Köchli unterstrich auf Anregung von Frischkorn die Dringlichkeit für Hamburg und schrieb: „Wir haben dort eine unserer ältesten Gemeinden, in einer der größten Städte Deutschlands, und dazu in einer Stadt, wo wir nothwendiger sind als in irgendeiner andern.“99

Inzwischen tagte im Juli 1879 die Jährliche Konferenz in Bremen. Sie entlastete den Hamburger Prediger nicht von seinen Aufgaben im Raum Kiel und in Lübeck. Menschlich gesehen wäre es richtig gewesen, er hätte seinen Wohnsitz nach Kiel verlegt, wo die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit äußerst günstig waren. Aber strategisch durfte Hamburg nicht aufgegeben werden, und Frischkorn hatte das durch sein gewagtes persönliches Engagement unterstrichen. Aber der Ausschuss für Kapellenbau der Konferenz folgte den Wünschen der Hamburger und ihrer Freunde nicht. Er stellte in seinem Protokoll fest:

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Carl Frischkorn, Lebensabriß von Anna Frischkorn. In: Ev. 34. Jg. (1883), S. 111 f. Friedrich Köchli, Aufruf für Hamburg. In: Ev. 30. Jg. (1879), S. 159. Ebd.

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„Da wir vorerst die Überzeugung nicht gewinnen können, daß das von Br. Frischkorn in Hamburg gekaufte Haus rentabel sei, so sei aus diesen und anderen Gründen beschlossen: Das Haus in Hamburg nicht zu übernehmen. Daß die Gelder, die für Hamburg gegeben werden, in den schon bestehenden Kapellenfond daselbst gelegt werden. Daß wir die Gemeinde in Hamburg ermuntern wollen, ihren Kapellenfond zu erhöhen und die Conferenz bitten, Hamburg zu erlauben, für diesen Zweck durch den Evangelisten und Apologeten zu collectiren.“100

Die Konferenz musste sich längerfristig davor schützen, durch derartige private Aktionen zum Handeln gezwungen zu werden, und gleichzeitig sah sie es als notwendig an, das gesammelte Geld für den Kapellenfonds der Gemeinde zu sichern. Immerhin konnte Frischkorn den bescheidenen Erfolg verbuchen, dass jetzt durch die Zeitschriften in Deutschland und in Amerika Gelder eingeworben werden durften. Wie zu erwarten war, erschien schon bald mit der Empfehlung der Zeitschriftenredaktion ein Bericht aus Hamburg über Spendeneingänge. 51 namentlich genannte Personen aus Deutschland hatten 260,31 Mark überwiesen, 8 Schweizer schickten 148,50 Franken. Das war eine Summe, die dem bescheidenen Gehalt von zwei Predigern für ein Jahr entsprach. Hier taucht erstmals die postalische Anschrift für die neue, nun für einen längeren Zeitraum bestehende Adresse auf. Sie lautete: Hamburg, St. Georg, Kleiner Kirchenweg 10. Die Kapelle lag ganz in der Nähe des späteren Hauptbahnhofs. Nach einigen Wochen erschien eine weitere Sammelliste. Sie erbrachte 122,97 Mark und setzte sich zusammen aus Gaben zwischen 30 Pfennig und 21,00 Mark. Unter den 36 Gebern waren 12 Männer, 16 Frauen und 3 Kinder. Vier Spender sandten Dollars. Es handelte sich um Beträge, die nicht erheblich waren, aber deutlich über den Gaben deutscher Spender lagen, die sich weitgehend zwischen 1 und 3 Mark bewegten. Dies zeigt, wie die Arbeit unter Armen geschah und von Armen mitfinanziert wurde. 101

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100 Verh. JK 1879, S. 53. Der Christliche Apologete war die deutschsprachige Zeitschrift der Methodistenkirche in Amerika, die regelmäßig über die Arbeit in Deutschland berichtete. 101 Carl Frischkorn, Aus Hamburg. In: Ev. 30. Jg. (1879), S. 279. Auch S. 276. 102 Das ist ein Durchschnitt von 5,14 Mark. 103 Später kam es zu einer Änderung der Hausnummer in Nr. 15. 104 Das ist ein Durchschnitt von 3,41 Mark. 105 Leider gibt es bisher keine Studie über die sozialen Verhältnisse, aus denen die Menschen kamen, die sich methodistischen Gemeinden anschlossen. Es ist aber keine Frage, dass sich die Methodisten von anderen Freikirchen im 19. Jahrhundert deutlich unterschieden. Methodistische Kirchen predigten den Ärmsten die befreiende Botschaft von der Rechtferti-

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Im Frühjahr 1880 erging ein neuer Aufruf. Diesmal war er unterzeichnet durch „Mehrere früher in Hamburg stationirte Prediger“. Sie verwiesen auf andere Gemeinden, die in der Kirchenzeitung werben durften, erinnerten an die Notlage der Hamburger Gemeinde im Vergleich mit anderen freikirchlichen Arbeiten in der Stadt und bestätigen: „Die Glieder der Hamburger Gemeinde waren immer opferwillig und bereit, ihr Möglichstes zu thun. Sie achten ihre Prediger hoch und stehen fest zur Kirche ihrer Wahl. Sie sind es in der That werth, daß ihnen geholfen wird.“106

Wieder ging es um die Menschen ohne Glauben, wenn die Prediger formulieren: „Das Mittel, arme Sünder in Hamburg dem Heilande zuzuführen, ist hauptsächlich die Predigt des Evangeliums. Helfet, daß dieses in Zukunft von unserer Kirche in einem geeigneten Gotteshause verkündigt werden kann.“107

Erneut erschien eine Spenderliste. Diesmal wies sie mehr Prediger aus Gemeinden in Deutschland und der Schweiz aus, die von ihren Kirchengliedern Gaben entgegengenommen haben und sie nach Hamburg weiterleiteten. Hinter den verschiedenen Aufrufen und Berichten über die Kapellennot in Hamburg stand ohne Frage der rührige Frischkorn. Er setzte alle Mittel ein, um die Aufmerksamkeit auf den dortigen Notstand zu richten. Am Ende schaffte er die Wende nicht nur mit seinem persönlichen Einsatz, sondern durch ein gewagtes persönliches Opfer. Der Kleine Kirchenweg wurde nun eine wichtige Adresse. Was Köchli in seinem Bericht schon befürchtet hatte, trat ein. 1880 wurde Prediger Frischkorn ins badische Lahr versetzt und die Arbeit in Hamburg wurde von dem tüchtigen Philipp Lutz (1848–1930) übernommen. Der zog in das Haus am Kleinen Kirchenweg Nr. 10 ein. Aber er war nicht der alleinige Bewohner. Im November 1878 war zur Pflege eines an Diphtherie erkrankten 108

gung des Sünders aus Gnaden in Verbindung mit dem Ruf zu Bekehrung und Wiedergeburt. Sie hatten keine besondere Lehre, wie z. B. die täuferischen Kirchen, sondern eigene Formen der Frömmigkeit mit eigenen theologischen Akzenten. In anderen Freikirchen waren es nicht selten Gebildete und Bürgerliche, die sich mit den Fragen der rechten Gemeinde und der – wovon sie überzeugt sind – biblischen Taufe auseinander setzten. Das bedeutete: sie hatten es mit einem ganz anderen Typ von Menschen zu tun, die sie durch den anderen Ansatz ihres kirchlichen Selbstverständnisses anzogen. 106 Mehrere früher in Hamburg stationirte Prediger, Aufruf für Hamburg. In: Ev. 31. Jg. (1880), S. 78 f. 107 Ebd. 108 Ev. 31. Jg. (1880), S. 296.

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Kindes der Familie Frischkorn eine Diakonisse des Frankfurter BethanienVereins nach Hamburg gerufen worden. Ihr Einsatz führte dazu, eine weitere Diakonisse in Hamburg einzusetzen. Wo konnten oder sollten sie wohnen? Das Frischkorn’sche Haus am Kleinen Kirchenweg wurde für das entstehende Hamburger Bethanienwerk die erste Bleibe. Von hier aus wirkten die Schwestern in den kommenden sieben Jahren, bis sie im Frühjahr 1886 ein eigenes Schwesternheim beziehen konnten. Bis dahin hatte die wachsende Schwesternschaft im Haus am Kleinen Kirchenweg „in den letzten Monaten unter unbequemsten Verhältnissen“ gewohnt. Der Gemeindeprediger Philipp Lutz war im Laufe des Jahres 1881/82 bereits in die nahegelegene Frankenstraße 5 gezogen, um der wachsenden Schwesternschaft den Raum zu überlassen. Diese Entwicklung, die schließlich zur Überbelegung seines Hauses mit diakonischen Mitarbeiterinnen in der Mission führte, konnte Carl Frischkorn nur aus der Ferne miterleben. Ganz reibungslos scheint der Übergang nicht erfolgt zu sein. Jedenfalls lag der Konferenz 1881 ein Schreiben Frischkorns vor, in dem er die rückständige Miete der Hamburger Gemeinde anmahnte. Die Konferenz sah die unbefriedigende Situation und suchte nach einem Weg, das Haus schließlich doch als kirchliches Eigentum zu übernehmen. Im Oktober 1880 sandte die Konferenz-Bauverwaltung eine Bittschrift an die Missionsbehörde in New York. Der wurde 109

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„die Noth unserer Hamburger Mission sehr warm an’s Herz gelegt und hervorgehoben […], daß letztere zu dem vorhandenen Kapellenbaufond mindestens noch Dollar 13.000 bedarf, um zu einem passenden Eigentum gelangen zu können, und daher [wurde] das Missionsboard dringend um einen einmaligen, entsprechenden Extra-Betrag gebeten.“112

Die Bitte wurde abschlägig beschieden, weil sie zu spät eingetroffen war. Daraufhin sollte ein neuer Versuch gestartet werden, von dem man sich mehr Erfolg erhoffte. Im März 1881 wurde der Brief von der Hamburger Gemeindevertretung an die Kirchenbau-Hülfsgesellschaft in Amerika verschickt. Obwohl er von der Konferenz unterstützt worden war, fand auch dieser Antrag nicht die erhoffte Zustimmung. Daraufhin reisten die beiden Mitglieder der Konferenz-Bauverwaltung, Georg Göß (1828–1912) und Johannes Staiger (1835–1905) nach Hamburg, um die Kapellen-Angelegenheit zu prüfen und einer Lösung zuzuführen. 109 110 111 112

Diakonissenwerk Bethanien Frankfurt a. M. Festschrift 1874–1974, S. 8. Vgl. Kap. 3. JB-Bethanien-Vereins 1885/86, S. 14. Verh. JK 1881, S. 16 f. Ebd., S. 30 f.

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„Das Resultat war die Ueberzeugung, daß der Hamburger Mission mindestens Mark 20.000 auf irgend einem Wege zufließen müssen zu ihrem Kapellenbaufond, um endlich zu einem Eigenthum gelangen und gedeihen zu können.“113

Es sollte ein neuer Versuch bei der New Yorker Missionsbehörde unternommen werden. Gleichzeitig erklärte sich die Kirche bereit, das Haus von Carl Frischkorn „um den Preis, zu welchem er es gekauft hat, zu übernehmen, vorausgesetzt, daß er geneigt wäre, es abzutreten.“ Es sei jetzt umgehend notwendig, die Arbeit in Hamburg besser zu unterstützen, damit die Gemeinde sich nicht weiter verschulden müsse. Inzwischen war in der Außenwirkung der Gemeinde zweifellos eine Veränderung eingetreten. Anfang 1881 konnte Prediger Lutz 13 Personen in die Anwartschaft der Kirche aufnehmen. Und wieder drängt er darauf, dass es notwendig sei, eine eigene Kapelle zu bekommen. „Ist nicht hüben oder drüben ein Freund, welcher uns für Hamburg 10-20.000 Mark schenken würde, um daselbst eine Kapelle bauen oder ein Haus ankaufen zu können?“ Die Gaben für den Kapellenbaufonds tröpfelten weiter. Ein Steinchen kam zum anderen. Aber was half das bei den ständig steigenden Preisen für Grundstücke, die noch mehr Sorgen machten als die Baukosten selber? Der Hamburger Prediger Philipp Lutz schätzte, dass 36.000 Mark erforderlich wären, um „eine Kirche mit Thurm für etwa 300 – 400 Zuhörer und zwei Wohnungen zu bekommen.“ Der Baufonds belaufe sich aber erst auf 6.000 Mark, „womit wir nichts anfangen können.“ Bald danach drückte er seine Sorgen unmissverständlich aus und schrieb: „Können wir dem Volk etwas ordentliches bieten, dann sind wir zu den besten Hoffnungen berechtigt, sonst aber nicht.“ Die Menschen haben eine andere Vorstellung von einer Kirche, als dass wir ihren Erwartungen so entsprechen könnten. Sprachlich fällt auf, dass bisher immer von Lokalen, Lokalitäten, größeren Zimmern, von angemieteten Sälen und 114

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113 Ebd., S. 31. 114 Nach der kirchlichen Ordnung wurde diese Anwartschaft als „Probegliedschaft“ im Sinne eines Katechumenats bezeichnet. Die Aufnahme in diesen Status erfolgte in der frühen Zeit verhältnismäßig spontan in einem Gottesdienst. Ein Handschlag vor der Gemeinde machte einen Gottesdienstteilnehmer, der sich angesprochen fühlte und nach vorne trat, zu einem „Probeglied“. Nun folgte eine etwa sechs Monate währende Anwartschaft auf die vollberechtigte Kirchengliedschaft, in die jene Personen aufgenommen wurden, die sich nach genauerer Kenntnis mit der Kirche verbinden wollten. Andererseits gab auch die Klasse, an deren Leben das Probeglied seit seinem Kontakt teilnahm, eine Empfehlung zur Aufnahme in die Kirchengliedschaft, die mit Rechten und Pflichten für beide Seiten verbunden war. 115 Editorielle Notiz. In: Ev. 32. Jg. (1881), S. 29. 116 Philipp Lutz, Aus Hamburg. In: Ev. 32. Jg. (1881), S. 151.

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von dem Wunsch nach einer Kapelle die Rede war. Bei Lutz taucht erstmals der Wunsch nach einer „Kirche mit Thurm“ auf. Hier deutet sich auch ein Wandel von der Vorstellung der kirchlichen Selbstdarstellung an. Auch übergemeindlich wurden die Methodisten langsam von anderen Gemeinden akzeptiert. Vom 15. August 1881 bis zum 2. Juli 1883 war Ernst Gebhardt (1832– 1899) mit seiner Tochter Maria zu einer Kollektier- und Sängerreise in den deutschsprachigen Gemeinden Amerikas unterwegs. Die Hamburger hatten kein Glück, von dem gesammelten Geld etwas abzubekommen. Es war ausschließlich für die Abtragung von Kapellenschulden bestimmt, und davon konnte aufgrund der Eigentumsverhältnisse in Hamburg keine Rede sein. Es wird für die Entwicklung der Gemeinde nicht gut gewesen sein, dass schon wieder ein Wechsel des Predigers anstand. Auf Philipp Lutz folgte von 1883 bis 1887 Heinrich Welti (1862–1923). Es war die erste Gemeindearbeit, die dieser junge Schweizer als gerade ordinierter Prediger selbständig übertragen bekam. Er war voller Initiative und so sollten seine Hamburger Jahre für die Baugeschichte der Gemeinde bedeutungsvoll werden. Nachdem der Gemeindegründer Carl Heinrich Doering nach Amerika zurückgekehrt war, bot er sich 1884 an, dort in den englischsprachigen Gemeinden für Deutschland zu kollektieren. Die Konferenz bat ihn, dabei besonders an Hamburg zu denken. Ein Jahr danach kam es endlich zu einer Entscheidung, die für die Entwicklung der Arbeit unaufschiebbar geworden war. Das Hamburger Baukomitee hatte erneut „ein Gesuch um die Genehmigung zum Ankauf des Hauses von Prediger Frischkorn, sowie zum Bau einer Kapelle auf dem sich beim Hause befindlichen Garten“ eingereicht. Während der Konferenz musste der Bauausschuss noch einmal beraten, wie man mit diesem Antrag umgehen solle und wie die daraus entstehenden finanziellen Verpflichtungen zu tragen seien. Es wurde „eingehend beraten […], um womöglich eine endgiltige Entscheidung herbeizuführen.“ Der Antrag wurde dann mit neun gegen eine Stimme genehmigt. Endlich hatte Hamburg nach 34 Jahren ein eigenes Haus und die Genehmigung, auf dem Grundstück eine Kapelle zu errichten. Was hatte es den Verantwortlichen so schwer gemacht, diese Entscheidung zu treffen? In Berlin 117

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117 Rosmarie Lauber, Kapellenschuld-Tilgung. Kollektier- und Sängerreise Ernst Gebhardts und seiner Tochter Maria 1881 bis 1883. In: Mitteilungen der Studiengemeinschaft für Geschichte der Evangelisch-methodistischen Kirche, 18. Jg. (1997/1) S. 3–13. Auch: Verh. JK 1883, S. 53–56. 118 Verh. JK 1884, S. 23. 119 Verh. JK 1885, S. 51 (auch: S. 17).

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war 1867 eine repräsentative Kirche eingeweiht worden. Sie war mit der wirksamen Unterstützung des amerikanischen Generalkonsuls am Preußischen Hofe, Joseph Albert Wright (1810–1867), gebaut worden, der mit seiner Frau ein aktives Mitglied der methodistischen Kirche war. Diese für die Gemeinde überdimensionierte Kirche, in der übrigens die Berliner Bethanien-Diakonissen ebenfalls ihren ersten Unterschlupf fanden, war längerfristig auf Zuschüsse angewiesen. Auch in Frankfurt/M. hatte die Gemeinde 1875 in zentraler Lage ein großes Haus erworben, aber die Hoffnung auf die Finanzierung durch Mieteinnahmen hatte sich nicht erfüllt. Nun stand dort ein Fass ohne Boden. Das durfte sich nicht wiederholen. Haben die Erfahrungen in den Großstädten Berlin und Frankfurt/M. die Entwicklung in Hamburg mitbestimmt, so dass die Verantwortlichen sich fragten: Und nun auch noch Hamburg? Man kann sich kaum vorstellen, vor welchen Problemen allein in der Frage des Kapellen- oder Kirchenbaus eine wachsende Kirche steht, die auf die eigenkirchliche Finanzkraft angewiesen ist, ohne dass ihr Steuern oder öffentliche Zuschüsse zur Verfügung standen. Von 1850 bis 1885 war die gesamte Zahl der Kirchenglieder von den wenigen Amerika-Rückwanderern in Deutschland und der Schweiz auf 14.000 gestiegen. Die Kirche arbeitete inzwischen an 723 „Predigtplätzen“. In 417 Sonntagsschulen wurden über 22.500 Kinder unterrichtet. Auf dem Hintergrund dieser Entwicklung schrieb der frühere Hamburger Prediger Ahlerd G. Bruns: 120

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„Daß für diese Arbeit auch entsprechende Lokale nötig waren, ist ja selbstverständlich. An manchen Plätzen ist uns zwar unentgeltlich ein Lokal zur Verfügung gestellt worden, aber was da und dort auf Dörfern möglich war, ging in den Städten eben nicht. Wir mussten daher für entsprechende Lokale oft sehr hohe Mieten zahlen und waren dabei gar vielen Unannehmlichkeiten ausgesetzt, während an einigen Plätzen entsprechende Lokale überhaupt nicht zu finden waren, so daß wir zum Bauen oder Kaufen gezwungen wurden, wenn das Werk nicht leiden sollte. Aber woher das Geld nehmen? […] In den meisten Fällen waren wir auf Selbsthilfe angewiesen. Die Mitglieder und Freunde der Kirche haben daher auch an allen Plätzen mit großer Opferfreudigkeit das Ihre gethan, und so sind 85 Kapellen, wovon 56 mit Wohnungen, und 22 Wohnhäuser erworben worden im Werte von über 2½ Millionen Mark. Daß darauf 120 Zu Joseph A. Wright: Karl Heinz Voigt, BBKL Bd. 14 (1998) Sp. 98–102. 121 Karl Heinz Voigt, „Geliebt und gefürchtet von jedermann“. Über die Anfänge der methodistischen Kirche in Berlin. In: Ökumenisch-Missionarisches Institut in Berlin, „Mit uns hat der Glaube nicht angefangen“. Wie Freikirchen in Berlin begonnen haben. Berlin 2001, S. 39–82.

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noch eine beträchtliche Schuld lastet, ist eine natürliche Sache; doch sind wir an allen Plätzen finanziell weit besser gestellt, als wenn wir mieten müssten, und für die Entwicklung des Werks war ein eigenes Heim eine unumgängliche Notwendigkeit.“

Bruns, der sich zu einem Fachmann für Bau- und Finanzfragen entwickelt hatte, wusste, was das in einem Land bedeutete, in dem es noch nie die Aufgabe einer evangelisch-landeskirchlichen Gemeinde war, für die eigene Kirche selber zu sorgen. Das mag für ihn der Anlass gewesen sein, den Artikel über „Kapellenschuldentilgung“ mit einer Belobigung und einem Seitenblick zu schließen. Er schrieb: „Die große Opferfreudigkeit der Mitglieder und Freunde unserer Kirche muß mit Dank anerkannt werden, da alles, was gethan worden ist, ganz ungezwungen und aus freier Liebe geschehen ist, und dabei fast niemand der Verpflichtung enthoben ist, auch noch für die Unterhaltung der Staatskirche steuern zu müssen.“122

1885, als schon soviel gebaut war, konnte es auch in Hamburg losgehen. Es zeigte sich, dass die Mission in der Großstadt anderen Bedingungen unterlag, als in der Weite Ostfrieslands und in den Kleinstädten und Dörfern von Württemberg und Sachsen. 4.2

Eine schöne Kapelle und größere Versammlungen

Im Laufe des Jahres 1885/86 wurde der Bau einer bescheidenen Kapelle in Hamburg am bekannten Standort St. Georg, Kirchenweg 15, ausgeführt. Die Kirche erwarb das vorhandene Haus einschließlich des Gartens für 42.000 Mark von Prediger Frischkorn. Der Voranschlag für die Erweiterung durch den Bau für eine Kapelle belief sich zunächst auf 14.000 Mark. Jedoch reichte das Hamburger Lokal-Baukomité einen neuen Vorschlag mit einer Möglichkeit zur Verbesserung der Rendite für das Gesamtobjekt ein, wodurch sich allerdings die Baukosten um 4.000 Mark erhöhten. Die Zustimmung der Konferenz wurde dazu erteilt. Der Gesamtwert des Objektes wurde nun auf 63.000 Mark angesetzt. Darauf ruhten 55.000 Mark Schulden. Es wurde mit Mieteinnahmen in Höhe von 1.580 Mark gerechnet. An Stelle der bisherigen Kosten für den Saal und die Wohnung in Höhe von 850 Mark entstand jetzt für die Gemeinde eine Belastung von 1.150 Mark, also jährlich 300 Mark

122 Ahlerd G. Bruns, Kapellenschuldentilgung. In: Ev. 36. Jg. (1885), S. 182.

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mehr, „doch dafür haben wir jetzt eine schöne Kapelle und auch eine bedeutend größere Versammlung.“ Wie sah nun das Kirchlein aus? „Die kleine Kirche mit Gallerie“ sollte angeblich 260 bis 300 Personen fassen. Wie es damals üblich war, scheint die Zahl recht hoch angegeben zu sein. Sie war „mit Seiten- und Oberlicht versehen“ und „sehr nett eingerichtet“. Ihre Einweihung fand am 28. Februar 1886 statt. Die Gemeinde scheint mit den Aufgaben der Planung, der Baubegleitung und der Einrichtung des Hauses so ausgelastet gewesen zu sein, dass keine Zeit oder Kraft blieb, den allgemein üblichen Bericht über diesen Festtag für die Kirchenzeitung zu schreiben. Dazu kam, dass Prediger Heinrich Welti, der bis dahin noch in der Frankenstraße wohnte, nun in das kircheneigene Gebäude einzog. Von den Reisen nach Kiel und Flensburg wurde Welti entlastet. Inzwischen war in diesen Tochtergemeinden jeweils ein eigener Prediger tätig. Die Herrichtung der bis dahin von den Schwestern genutzten Räume für den Pastor und der Umzug von Welti sind möglich geworden, weil die Bethanien-Diakonissen inzwischen ein eigenes Gebäude am Grindelberg 15a erwerben konnten und auf die Herberge im Kleinen Kirchenweg, die zuletzt nur noch ein Unterschlupf für die wachsende Schwesternschaft war, nicht mehr angewiesen waren. Trotz der räumlichen Trennung blieb die Verbindung von Verkündigung und Diakonie bestehen. Zwar hatten die Schwestern im eigenen Hause auch einen Betsaal. Aber ihre Jahresfeste und die Einsegnungen der Diakonissen fanden in der Kirchenweg-Kapelle statt. Am 7. März 1886, dem Sonntag nach der Kapellen-Einweihung, feierten die Diakonissen ihr Stiftungsfest, bei dem zwei Schwestern eingesegnet wurden. Als sie sich ein Jahr später wieder dort versammelten, war die Kapelle „so angefüllt, dass die gewöhnlichen Sitzplätze nicht reichten und die Verwalter noch besondere Stühle beschaffen mussten.“ Nachmittags fand im „festlich geschmückten Betsaal des Schwesternheims am Grindelberg“ zunächst ein gemeinsames Mahl statt, dann gab es „fröhliche Unterhaltung, Gesang und Deklamationen“ und eine plattdeutsche Predigt von Prediger Adolf Lüring (1828–1896) über den vom Hamburger Reformator Johannes Bugenhagen (1485–1558) übersetzten Text „Lütt Dirn, ick segg di, stah up!“ (Markus 5, 41). In seiner Rede gab er auch den Diakonissen, seine „lütten Dirns“ genannt, treffliche 123

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123 Verh. JK 1885, S. 59 f. 124 Ebd. 125 In Kiel: Gustav Adam Kaiser (1862–1935). Zu Kaiser: Karl Heinz Voigt, BBKL Bd. 17 (2000) Sp. 750–754. – In Flensburg: Johann Christoph Jeutter (1856–1907).

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Ratschläge. 1887 beginnt die Ära Lüring. Vorher ist noch zu registrieren, welche Fortschritte die Arbeit unter Welti mit der neuen Kapelle gemacht hatte. Die letzte Statistik, die Philipp Lutz 1882 abgab, wies 60 Mitglieder und 21 Probeglieder (Anwartschaft) mit 7 Taufen aus. Es gab zwei Sonntagsschulen mit dreizehn Lehrerinnen und Lehrern, die 100 Kinder unterwiesen. Vier Jahre später zählte die Gemeinde 155 Kirchenglieder und 36 in Anwartschaft. Sie hatte mit 15 Täuflingen gefeiert. Das deutet auf eine junge Gemeinde hin. In vier Sonntagsschulen unterrichteten 14 Lehrerinnen und Lehrer 250 Kinder. Nach so langer Stagnation war Bewegung in die Arbeit gekommen. Auch die Berichte von Hamburg-Besuchern schlugen seit der Einweihung der Kapelle einen anderen Ton an. Als Franz Klüsner Ende 1887 Hamburg besucht hatte, schrieb er: „Letzten Sonntag war die Kapelle dreimal buchstäblich gefüllt.“ Er war begeistert über die Gemeinde, die innerhalb eines halben Jahres 25 Personen in die Anwartschaft aufgenommen hatte. Seine Hoffnung für eine reiche Ernte in der Zukunft brachte er in der Anregung zum Ausdruck, dem neuen Hamburger Prediger Adolf Lüring eine junge Kraft an die Seite zu stellen. In einem anderen Bericht schrieb der Redakteur der Kirchenzeitung, Paul Gustav Junker, nach dem Besuch eines Jahresfestes der Hamburger Diakonissen: 126

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„Der Gemeinde genügt die Kapelle, die vor etlichen Jahren eingeweiht wurde, fast nicht mehr. Sie ist ebenfalls gewachsen und würde sich noch weiter entwickeln, wenn für das Werk in Hamburg mehr gethan werden könnte.“ Er fügte hinzu: „Die Stadt zählt nun fast eine halbe Million Einwohner, von denen über 400.000 keinen Gottesdienst besuchen. Da ist ein großes Arbeitsfeld, welches auch von unserer Seite mit mehr Kräften besetzt werden sollte.“128

Als Junker diese Herausforderung erwähnte, war wenige Monate vorher der erste Prediger der Evangelischen Gemeinschaft, ein gewisser Heinrich Meinhardt (1858–1923), nach Hamburg gekommen, dem im Jahr 1888 die ersten Bethesda-Diakonissen aus Wuppertal folgten. 129

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O. V., Ein Sonntag in Hamburg. In: Ev. 40. Jg. (1889), S. 50. Redaktionelle Notiz. In: Ev. 39. Jg. (1888), S. 50. Paul Gustav Junker, Ein Sonntag in Hamburg. In: Ev. 39. Jg. (1888), S. 51. Da es später einen anderen Heinrich Meinhardt (1874–1943) in der Evangelischen Gemeinschaft gegeben hat, waren die nachfolgenden Daten zur unmissverständlichen Klärung zu erheben. Der 1888 in Hamburg wirkende Heinrich Meinhardt ist am 30. September 1858 in Wesel/Rheinpreußen geboren und am 13. Februar 1923 in Wanheimerort bei Duisburg gestorben. Sein früherer Beruf war Hutmacher. Er trat am 1. Sept. 1880 ins Predigerseminar St. Chrischona ein, schied vorübergehend wegen Krankheit wieder aus und

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

Die Arbeit in der Zeit Adolf Lürings brachte erneut einen erfreulichen Zuwachs. Die Zahl der Kirchenglieder und Probeglieder stieg in den Jahren seines Dienstes von 1887 bis 1891 von 191 (155/36) auf 224 (203/21). Erstmals wurde die Zahl zweihundert überschritten. Zu den jährlichen Aufnahmen in die Kirche kamen eine Reihe von Zuzügen, denen andrerseits Wegzüge entgegenstanden. Das ist im Blick auf die Stadtentwicklung ein Zeichen der zunehmenden Industrialisierung. Kirchlich ist bedeutsam, dass die Gemeinde in der wachsenden Stadt attraktiv genug war, die zuziehenden Kirchenglieder anzuziehen. Auffällig bleibt die hohe Zahl der Taufen. Inzwischen war die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Sonntagsschulen erheblich gestiegen. Nach bisher 14 Lehrerinnen und Lehrern waren es 1891 für etwa 400 Kinder 26 Unterrichtende. Hier spielt gewiss die Sonntagsschule, die im Betsaal des ersten Schwesterheims von Diakonissen gehalten wurde, eine wichtige Rolle. Das Heim der Schwestern lag am Grindelberg 15a. Hier ist die Wiege der Eppendorfer Gemeinde, die in einem der typisch einfachen Säle ihre Mission begann und später von St. Georg in die Eigenständigkeit entlassen wurde. In dem feinen Saal mit seinen lederbezogenen Rückenlehnen der Bänke sammelte die „Armenschwester“ Sophie Nussberger ab 1886 an den Sonntagnachmittagen eine Sonntagsschule. Sie wuchs derart, dass das Nähzimmer der Schwestern einbezogen werden musste, um alle Kinder unterbringen zu können. Neben der Sonntagsschule wurde durch Schwester Sophie am Mittwochnachmittag eine „Strickschule“ angeboten. Sie fand mit 16 bis 20 Kinder im Betsaal der Schwestern statt. Auch die pastorale Präsenz war seit 1889 verbessert, weil Philipp Lutz als Inspektor des BethanienVereins wieder nach Hamburg zurückgekehrt war, um die Diakonissen in ihren schwierigen Aufgaben zu unterstützen. Er wohnte am Grindelberg 7a. 131

nahm 1. Sept. 1881 erneut eine nun vierjährige Ausbildung auf. Seine Einsegnung erfolgte am 2. August 1885. Danach wurde er für Neusalz/Süd-Russland bestimmt, erkrankte aber auf der Reise dorthin. Angesichts der vor ihm liegenden Aufgabe verlor er seine Berufungsgewissheit. Daraufhin überließ ihm die Pilgermission St. Chrischona die Wahl eines Arbeitsfeldes und löste die Verbindung mit ihm. Später wirkte er als Prediger in Wanheimerort, wo er auch verstarb. Seine Tätigkeit in der Evangelischen Gemeinschaft in Hamburg war nur eine kurze Episode. 130 Vgl. Kapitel 5. 131 Arnold Sulzberger, Eine Reise nach Hamburg. In: Ev. 43. Jg. (1892), S. 86.

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Die Kapelle im Schwesternheim am Grindelberg – Ort für die Schwestern und die Armensonntagsschule!

Die in Bildung begriffene Gemeinde in Eppendorf hatte, bis sie in den Abendrothsweg 43 zog, zunächst einen sehr schlichten Saal.

Von der Gemeinde konnte Jahr für Jahr überwiegend aus eigener Kraft ein Teil der Kapellenschulden abgetragen werden. Auch in rechtlicher Hinsicht trat eine Verbesserung ein. Musste das Kircheneigentum zunächst auf den Namen eines Gemeindeglieds oder eines Predigers eingetragen werden, weil die Kirche keinen anerkannten Rechtstitel hatte, so war es ein deutlicher Fortschritt, dass am 22. März 1889 das Statut des Hamburger Methodisten-Vereins vom Senat anerkannt wurde. 132

132 Der Vorgang bleibt zu erforschen. Ich habe die Senatsakten dazu nicht eingesehen. Das betrifft auch die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, die durch die Weimarer Verfassung möglich wurde. Sie erfolgte durch den Hamburger Senat am 3. November 1922. Offensichtlich schließt der Hamburger Methodisten-Verein, jedenfalls von der Formulierung her, an den bereits 1863 anerkannten Bremer Methodisten-Verein an.

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In den Jahren 1892 bis 1895 kam Prediger Ernst Pucklitzsch (1831–1916) in die, wie er schrieb, „Stadt der Millionäre“. Er zog mit seiner Frau Anna geb. Gräfin von Uexküll-Güllenband (1843–1916) und sieben Kindern in die Hansestadt. Die Wohnung in St. Georg reichte für diese große Familie nicht aus. Die Gemeinde fand eine passende im Hause eines Fuhlsbütteler Gefängnisaufsehers, der gutnachbarschaftlich auch immer für neueste Informationen aus dem Stadtleben sorgte. Frau Pucklitzsch war nur widerwillig aus dem heimatlichen Schwabenland nach Hamburg gezogen. Dagegen schätzte der Familienvater die Großstadt trotz ihrer Belastungen, die ihm durch die rußgeschwärzten Häuser nicht verborgen blieben, um ihrer Weite mit dem internationalen Hafenbetrieb und der nach dem Brand gebauten Prachtstraßen willen. Rückblickend hat er auch die Gemeinschaft in den Begegnungen mit Predigern anderer Kirchen innerhalb der Hamburger Evangelischen Allianz gerühmt. Die Gemeinde empfing die Familie schon am Bahnhof und geleitete sie nach ihrer zweitägigen Reise, die sie von Vaihingen/Enz nach Hamburg machte, ins Schwesternheim Bethanien zu einem Empfang mit Abendessen. Der erste Gottesdienst in der Kirche war überaus gut besucht. Aber je mehr Pucklitzsch die Gemeinde kennen lernte, um so mehr staunte der aus dem pietistischen Württemberg kommende Prediger über die liberale Gesinnung der hanseatisch geprägten und weltoffenen Hamburger Methodisten. „Die Sittlichkeitsbegriffe sind im allgemeinen beinahe auf den Nullpunkt gesunken, was bei Hafenstädten allenthalben der Fall ist. Dies hatte auf die Gemeinde ihre Schatten geworfen und Spuren hinterlassen, die mir viel Schmerz, Arbeit und Schwierigkeiten bereiteten,“ erinnerte sich der Prediger im Rückblick. Ob es an den Hamburger Methodisten oder an ihrem vielleicht zur Gesetzlichkeit neigenden Prediger lag, ist heute schwer zu ermitteln. Die Neigung geht eher in die Richtung der Frömmigkeit des neuen Predigers. Sein Vorgänger Adolf Lüring war ein Kind der Großstadt. Der hatte seine Kindheit und Jugend in Hamburg verbracht. Hier hatte er eine vorzügliche Schulbildung im Schmidt’schen Institut erfahren. Seine Vorfahren und Geschwister, die keine Beziehungen zur Methodistenkirche hatten, lebten hier. Sein Denken und seine ethischen Maßstäbe waren von Kindheit an durch die Großstadt mit geformt. Jene Sorgen, die sich Pucklitzsch machte, 133

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133 Ernst Pucklitzsch, Meine Lebenserinnerungen, unveröffentlicht, transkribiert aus dem handschriftlichen Manuskript von Dorothea Sackmann, S. 60. Manuskript im ZA-EmK. 134 In seiner regelmäßigen Kolumne „Aus dem Plauderstübchen“, in der er Fragen der „Schwesternvereine“, also von Frauengruppen in den Gemeinden, behandelte, schilderte er 1885 einen Besuch bei seiner Mutter. In: Ev. 36. Jg. (1885), S. 142.

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mögen durch den Lebens- und Frömmigkeitsstil der Hanseaten ausgelöst worden sein. Tiefergreifend als die Probleme in der Gemeinde war zeitweise die Sorge um das eigene Überleben. 1892 brach in Hamburg mit seinen damals katastrophalen sanitären Zuständen die Cholera aus. Was die Behörden anfangs verschweigen wollten, konnten sie später nicht mehr unter Kontrolle halten. Pucklitzsch erlebte die Epidemie als ein Gericht Gottes. Diese „schauerliche Zeit“ sei „eine Zeit [gewesen], wo auch der Gottlose anfing zu zittern und mancher gebetslose Mensch Zuflucht an den Altären gesucht und vielleicht auch gefunden hat. Die frechsten Sünder wurden kleinlaut, wenn sie täglich vor der Frage stehen mussten, ob nicht schon in der nächsten Stunde der Todesengel mit unerbittlicher Energie ein Opfer forderte unten denen, die man am wenigsten missen möchte.“

An anderer Stelle berichtet Pucklitzsch über sich selbst: „Ich ging eines Tages in der Absicht aus, einige Besuche zu machen bei Geschwistern, die in unmittelbarer Nähe solcher Straßen wohnten, wo die Seuche am meisten Opfer dahinraffte. Unterwegs aber, beim Anblick so vieler Leichenwagen und der ängstlichen Gesichter vieler Männer, die im Gespräch waren über das grauenhafte Eingreifen in viele enge Familienverhältnisse, bekam ich einen kalten Schauer, der mich nichts Gutes ahnen ließ. Ich kehrte sofort um und ging heim, brachte meine Bücher in Ordnung und wartete, was geschehen werde. Aber Gottlob, der Herr erhielt mein Leben.“135

Ernst Pucklitzsch soll einer von zwei Pastoren gewesen sein, „denen der besondere Dank des Magistrats für unerschrockene Seelsorge ausgesprochen wurde.“ Eine besondere Note erhielt die Hamburger Zeit dadurch, dass Ernst Pucklitzsch eine predigende Ehefrau an seiner Seite hatte. Schon zwischen 1864 und 1866 war sie in Pforzheim als Seelsorgerin in den sog. Nachversammlungen aktiv, die im Anschluss an spezielle Predigten für Ungläubige – später Evangelisationen genannt – gehalten wurden. In den Jahren 1884–1886 hatte die Adlige Anna Pucklitzsch im Schweizer Biel mit Predigten zeitweise ihren erkrankten Mann vertreten. Als die Familie von Biel nach Schwarzenberg ins Erzgebirge versetzt wurde, gab es eine Außen-Gemeinde, die lieber Frau Pucklitzsch hörte als deren Mann. Wenn sie zur Predigt in eine Kapelle 136

137

135 Ernst Pucklitzsch, Meine Lebenserinnerungen, S. 62. ZA-EmK Reutlingen. 136 August Rücker, Die Pioniere des Methodismus in Deutschland. Bd. 1, Bremen o. J., S. 90. 137 Karl Ulrich, Zur 50jährigen Jubelfeier des Bezirks Pforzheim der Bischöfl. Methodistenkirche 1862-1912, Bremen, o. J. (1912), S. 16-20 mit einem Bild des Ehepaars Pucklitzsch.

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oder ein Kirchlein kam, hat sie nicht die Kanzel betreten. Sie ließ sich vor dem Abendmahlstisch ein kleines Lesepult aufstellen, um von dort zu predigen. Das ist auch von anderen Laienpredigern bekannt, die z. B. zur Predigt hinter dem Harmonium gestanden haben oder einen Notenständer für die Ablage des Predigtmanuskripts benutzten. Die Kanzel war ihnen offensichtlich ein heiliger Ort, obwohl es im Methodismus kein spezielles Kanzelrecht gab. Vielleicht hängt diese Scheu mit dem sog. Kanzelparagraphen aus der Zeit des Kulturkampfes seit 1871 zusammen, durch den der Missbrauch des Amtes der Prediger – hier auf die Jesuiten bezogen – wegen der möglichen Gefährdung des öffentlichen Friedens unter Strafandrohung gestellt wurde. Ob Frau Pucklitzsch auch in Hamburg gepredigt hat, ist bisher nicht sicher. Ausgeschlossen ist das bei vier Predigtplätzen in der Stadt und in Wandsbek nicht. Nach Pucklitzsch, der 1895 in die sächsische Provinzstadt Zeitz weiterzog, kam Jakob Neuhart (1860–1902) für sechs Jahre in die Hansestadt. Er fand bessere Bedingungen vor als alle seine Vorgänger. Aber er stand auch vor großen neuen Herausforderungen, die er mit Geschick und Hingabe aufgriff. Kraft für seinen unermüdlichen Einsatz fand er in seinem persönlichen Gebet und durch die Fürbitte der Gemeinde. Als er nach Hamburg kam, wurden im Hamburger Stadtgebiet in St. Georg, Eilbek, Barmbek, im Schwesternheim in Eppendorf und in Fuhlsbüttel methodistische Gottesdienste gehalten, dazu im Alten Lande. Seit es in Barmbek ein eigenes Lokal gab, erlebte die dortige Gemeinde einen Aufschwung. Neuhart schilderte die Probleme beim Anmieten. Noch kurz vor der Jahrhundertwende fürchtete ein Vermieter, sein Haus verliere an Wert, wenn er darin einen Saal an die Methodisten vermietete. Das waren altbekannte Probleme. Schließlich fand die Gemeinde einen Saal in der Blücherstraße 5. Das wurde die Keimzelle der später eigenständigen Gemeinde in Barmbek. 138

4.3

Hafenarbeiter- und Seemännerstreik im Winter 1896/97

Wie Ernst Pucklitzsch im Sommer 1892 von der Cholera-Epidemie erschüttert war, war es im Winter 1896/97 Jakob Neuhart über den harten Hafenarbeiter- und Seemännerstreik. Er wohnte im Stadtteil St. Georg. Dort lagen mehrere Streiklokale, in denen die Arbeiter zusammenkamen, um ihre Reaktionen auf die öffentlichen Verlautbarungen der Arbeitgeber zu diskutieren. 138 Jakob Neuhart, Aus Hamburg. In: Ev. 47. Jg. (1896), S. 134. Auch: Jakob Neuhart, Aus Hamburg. In: Ev. 48. Jg. (1897), S. 190 f.

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Kurz vor Weihnachten 1896 brodelte es erheblich. Einen Einblick in seine Gedanken und Gefühle gab er den Lesern der methodistischen Kirchenzeitung nach dem Ende des Arbeitskampfes, für den es damals noch keine institutionellen Regelungen zu kontrollierten Auseinandersetzungen zwischen den streitenden Parteien gab. Neuhart schrieb: „Ein harter Winter liegt hinter unserer Stadt. Von Ende November bis in den Februar hinein tobte eine Art Bürgerkrieg, der viel Murren, Seufzen und Elend brachte. Die Hafenarbeiter hatten die Arbeit niedergelegt, um bessere Arbeitsverhältnisse und Löhne zu erzwingen, weil ihnen solches nicht freiwillig gewährt wurde. Die Zahl der Streikenden wuchs auf 16.000 Mann an. Aus unserer Gemeinde war niemand direkt beteiligt. Der Ausstand bedeutete für die Arbeiter einen Schaden von etwa 4 Millionen, für die Arbeitgeber wohl 50–60 Millionen Mark. Der Verlust solcher Summen fördert keineswegs die gegenseitige Zuneigung. Manchem sollte ich sagen, zu welcher Partei der wahre Christ sich zu stellen habe. Das ist nicht leicht. Betrachtet man die sachliche Seite des Streikes, dann lässt sich kaum viel einwenden gegen die Forderung der Arbeiter. Achtet man aber auf den Geist, in welchem gekämpft wurde, dann ist klar, daß man als Christ zu keiner Partei halten kann. Ohne weiteres den Stab über die Streiker zu brechen und sie als rebellische Sozialdemokraten brandmarken, das ist sehr wohlfeil; das erfordert keine Gedankenarbeit, sondern nur etwas Parteigeist. Ob es aber gerecht ist? Ach, wenig wird nach Recht gefragt. ,Gewalt geht über Recht‘, lautet die Prophetenklage.139 Jede Partei glaubte sich im Besitz der Macht und wollte sich diesen Besitz nicht streitig machen lassen. Der Vertreter der Arbeitgeber erklärte: Es steht mir ja frei, die Forderungen der Arbeiter zu bewilligen, das fällt mir aber gar nicht ein. Auf der anderen Seite rief ein Arbeiter dem andern zu: Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will. Fast täglich fanden ein Dutzend Versammlungen statt, wobei jede Partei140 sich stärkte in der Hartnäckigkeit. Selbst die Arbeiterfrauen kamen in öffentlichen Lokalen zusammen und ermunterten einander zum Ausharren in Not und Entbehrung bis der Sieg errungen sei. Auf der einen Seite wurde mit Haß gegen die ,Geldprotzen‘ und ,Landhaifische‘ losgewettert, während man auf der anderen Seite in vornehmer Mißachtung der Gegner sich darauf verlegte, die Kämpfer durch Aushungern zahm zu machen. Und das ist 139 Biblischer Prophet Habakuk, Kap. 1, Vers 3. 140 Hier sind vermutlich nicht die beiden Seiten der streitenden Parteien gemeint, sondern die verschiedenen Gruppen der Streikenden, die sich in unterschiedlichen Sälen trafen. Am 21. 12. 1896 z. B. Schauerleute, Ewerführer, Kohlenarbeiter, Schiffsreiniger, Kesselreiniger, Seeleute, Schiffsmaler, Getreidearbeiter, Speicherarbeiter, Kaiarbeiter der Amerika-Linie und des Staatskai, Kaihilfsarbeiter und Maschinisten. Es ging um die Antwort auf eine öffentliche Erklärung des Arbeitgeberverbands, in der die „bedingungslose Beendigung des Streiks seitens der Arbeitnehmer“ gefordert wurde. Vgl. Plakat „An die Streikenden“, in: Peter Stolt, Liberaler Protestantismus in Hamburg 1870–1970, Hamburg 2006, S. 98.

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auch gelungen und darin besteht der große (!) Sieg der Arbeitgeber, daß sie länger aushalten konnten als die Arbeiter. Wurde auch äußerlich Ruhe zur Schau getragen, so wusste man doch nur zu gut, wie der Haß zum Überkochen gesteigert war. […] Der Streik ist provisorisch zu Ende, der Geist, in dem er geführt wurde, lebt noch. Wir haben in einen Abgrund von Selbstsucht und Lieblosigkeit geschaut und dabei erkannt, wie Gottes Volk mehr denn je die Aufgabe hat, das Evangelium der Liebe Christi zu verbreiten und danach zu handeln.“141

Durch seinen Bericht ließ der Hamburger Prediger Neuhart die ganze Kirche teilhaben an dieser sozialen Katastrophe. Es lohnt nicht, die ökonomischen Konsequenzen, die er den Lesern anbot, zu hinterfragen. Aber seine persönliche Haltung in der Frage, zu „welcher Partei der wahre Christ sich zu stellen habe“ ist durchaus bedenkenswert. Er wusste damals: „Das ist nicht leicht.“ Aus heutiger Sicht sieht das einfach aus. Man kann die Brisanz nur verstehen, wenn man seine Haltung in den zeitlichen Zusammenhang einordnet. Neuhart hielt sich die Antwort offen, und schon damit stand er gegen den Trend der Zeit gerade in der Erweckungstheologie, deren führende Vertreter überwiegend politisch konservativ waren. Das lange Zeit wirksame Programm der Inneren Mission ist in der Phase nach der Revolution von 1848 entstanden. Je länger je mehr zeigte es seine konservative politische Grundhaltung, die sich noch nicht auf die Moderne eingestellt hatte. Besonders das Luthertum sah seit der Französischen Revolution in den gesellschaftskritischen Aufständen und auch im Streik einen Abfall von der gottgewollten Ordnung und eine Haltung des Ungehorsams gegen die von Gott eingesetzte Obrigkeit. Es sei eine Abwendung von ihm und seinen Ordnungen. Bei den revolutionierenden Streikenden sei nicht mehr der Wille Gottes die Grundlage des Denkens, sondern die von Menschen gesetzten Maßstäbe leiten zu diesem falschen Handeln an. Die Monarchie und die in ihr vorhandenen Stufen der Herrschaft, also auch die Industriellen, die Vorgesetzten, die Lehrer, die Hausväter wurden in ihrem Handeln durch die lutherische Ständeethik sanktioniert. Es wurde durch die Innere Mission schon seit 1848 unter dem Einfluss des Rechtsphilosophen Friedrich Julius Stahl (1802–1861) für den Fortbestand der monarchischen Staatsordnung 142

141 Jakob Neuhardt, Aus Hamburg. In: Ev. 48. Jg. (1897), S. 141 f. Ein Vergleich mit der Haltung anderer Prediger, Pastoren, Theologen und christlicher Blätter wäre wünschenswert, übersteigt aber den Rahmen dieser Studie. 142 Peter Stolt, Liberaler Protestantismus in Hamburg 1870–1970, Hamburg 2006, geht zwar auf diesen Streik ein (S. 97–100), vermittelt aber kaum ein Bild darüber, was Hamburger Pastoren, Innere Mission und Stadtmission in dieser Phase gesagt und geschrieben haben.

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gearbeitet. Wichern hat dafür theologische Gründe angeführt. In seiner Denkschrift von 1849 waren für ihn „die verschiedenen Stände selbst als von höherer Hand gesetzte[n] Unterschiede göttlicher Wohltaten […], durch welche die einzelnen Stände untereinander sich zum Himmelreich erziehen sollen.“143

Aus dem gleichen Jahr 1849 wird beim Anschluss der Stuttgarter Evangelischen Gesellschaft an den Central-Ausschuß der inneren Mission formuliert: Weil Gott es ist, „der nach seinem heiligen Willen Überfluß oder Mangel schickt, fruchtbare Zeiten oder Hungerjahre; […] haben hier Menschenrechte keine Geltung.“144

Auch die Hamburger Diakonie-Pionierin Amalie Sieveking (1794–1859) hat sich zu den revolutionären Entwicklungen 1848 in diesem Sinne geäußert. Sie publizierte ein Zweites Sendschreiben, in dem sie kein Verständnis für den politischen Umschwung zeigte. Ähnlich wie Wichern in seiner Denkschrift schlussfolgerte sie aus ihren theologischen Erwägungen: „Somit müssen wir denn doch aber auch wohl erkennen, daß der Unterschied zwischen Reich und Arm eben nothwendig hineingehört in die jetzige Weltordnung, in den Plan der göttlichen Vorsehung“.145

Mit solchen Argumenten, die nach dem Vorbild der Ständegesellschaft in die Theologie eingewandert waren, stützten Kreise der Erweckungsbewegung und der Inneren Mission im 19. Jahrhundert die Monarchie, die sich nicht scheute, die Polizei, sogar Militär, auch die Justiz und die Verwaltung zur Unterbindung von Streiks und gegen die Entstehung von Gewerkschaften einzusetzen. Diesem Trend zur frommen Legalisierung von Reich und Arm ist der Methodist nicht verfallen. Er lebte in einer Frömmigkeitstradition, die für Gerechtigkeit eintrat, in England die Gewerkschaftsbewegungen durch ihre engagierten Laienprediger mitgeprägt hatte, das Genossenschaftswesen mit-

143 Johann Hinrich Wichern, Die innere Mission – eine Denkschrift (1849). In: SW Hg. v. Peter Meinhold, Bd. 1, Berlin/Hamburg 1962, S. 275. 144 Zit. n. Martin Greschat, Das Zeitalter der industriellen Revolution, Stuttgart 1980, S. 131. 145 Amalie Sieveking, Zweites Sendschreiben der Vorsteherin des weiblichen Vereins für Armen- und Krankenpflege, auch für die arbeitenden Klassen in weiteren Kreisen bestimmt, als ein Beitrag zu der Beleuchtung der Arbeitsfrage, des Communismus usw., Hamburg 1848, S. 17.

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organisierte und alles dafür tat, dass durch Bildung ein sozialer Aufstieg möglich wurde. Die Mehrzahl der in Deutschland wirkenden methodistischen Prediger waren selber ein lebendes Zeugnis des Aufstiegs. Nach ihrer persönlichen Hinwendung zu einem Leben in der Nachfolge Christi und ihrer durch die Kirche bestätigten Berufung zum Dienst eines Predigers setzte ein neuer Bildungsprozess ein, dessen Folge zugleich unbeabsichtigt von einem sozialen Aufstieg begleitet wurde. Insgesamt muss in diesem Zusammenhang bedacht sein, dass die methodistischen Amerika-Rückkehrer ihre demokratischen Erfahrungen für die Gestaltung einer Kirche der Freiheit mitgebracht haben. Ihre Mission in Deutschland folgte nicht zufällig der 1848er Revolution und setzte am Anfang alle Hoffnungen auf die in der Frankfurter Paulskirche beschlossene politische Neuordnung. Daher war für sie die Restauration ein herber Rückschlag. Der Hamburger Prediger Neuhart hätte reichlich zehn Jahre nach dem Streik in seiner Kirchenordnung eine unzeitgemäße Orientierungshilfe finden können. Dort hieß es in einer weltweiten Erklärung: 146

„Die Kirche und ihre sozialen Aufgaben: Den arbeitenden Klassen versichern wir unsrer herzlichen Teilnahme an ihren Bestrebungen, so wie Willigkeit, unsere Hand zu bieten zur Abstellung allen Unrechtes ihnen gegenüber und zu jeder Förderung ihrer Wohlfahrt. Wir erkennen die der Arbeiterbewegung zu Grunde liegenden Gedanken und Absichten als im wesentlichen sittlich berechtigt an und empfehlen sie darum allen Christen zur Unterstützung. Wir anerkennen ferner, daß die Organisation der Arbeit nicht nur ein Recht der Arbeiter ist und im Interesse ihrer Wohlfahrt liegt, sondern daß sie auch von großem Nutzen ist […] weil dadurch bessere Arbeits- und Lebensverhältnisse geschaffen und ein erzieherischer Einfluß auf die Massen ausgeübt wird […].“

Die Erklärung sprach sich für „Schiedsgerichte bei Zwistigkeiten“ aus und stellt fest: „Wir glauben, daß dadurch Streiks und Aussperrungen, Boykotte und schwarze Listen immer weniger in Anwendung kommen.“ 147 146 Markus Elsässer, Die Rochdaler Pioniere. Religiöse Einflüsse in ihrer Bedeutung für die Entstehung der Rochdaler Pioniergenossenschaft von 1844, Berlin 1982. 147 Die Kirche und die sozialen Aufgaben. In: Lehre und Kirchenordnung der Bischöflichen Methodistenkirche 1908. Mit Anhang. Deutsche Ausgabe, Bremen/Cincinnati/USA, 1908, S. 514–518. Im Jahr 2009 hat die Evangelisch-methodistische Kirche weltweit des Beginns der immer weiterentwickelten sozialen Verpflichtungen gedacht. Im Gesangbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche von 2002 findet sich auf den S. 1342/1343 eine bekenntnisartige Form des gegenwärtigen Sozialen Bekenntnisses, das getragen wird von detailliert entfalteten Sozialen Grundsätzen, die alle vier Jahre weitergeführt werden. Vgl. auch:

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Es ist in der Erklärung weiter vom „Schutz des Arbeiters vor den besonderen Gefahren des Maschinenbetriebs, vor gewerblichen Krankheiten und vor Unfällen“ die Rede, von der „Abschaffung von Kinderarbeit“, der „Regulierung der Frauenarbeit zum Schutze der körperlichen und moralischen Gesundheit“, von der Notwendigkeit der „Beseitigung der Hungerlöhne“ und der „Verminderung der Arbeitsstunden“. Ferner wurde die Erwartung „für den höchsten Lohn, den jeder Industriezweig gewähren kann, und für die gerechteste Verteilung des Arbeitsertrags, die gefunden werden kann“ formuliert. Diese geradezu gewerkschaftlich klingenden Positionen sind erwachsen aus der in Amerika damals einflussreichen Theologie des Social Gospel, die später auch weltweiten Einfluss durch die Ökumenische Bewegung ausübte. Die tiefe Verbindung zwischen dem Wort-Zeugnis in der Predigt und dem Tat-Zeugnis im diakonischen Handeln in möglichst ökumenischer Gemeinschaft ist für den Methodismus fundamental. In Deutschland ist die gesellschaftspolitische Positionierung durch den Einfluss von Pietismus und Gemeinschaftsbewegung immer mehr überdeckt worden, ja sie wurde in mancher Hinsicht von Anfang an auch durch politische Rahmenbedingungen unterdrückt. 148

4.4

Kaum zwischenkirchliche Konflikte

Zwischen der lutherischen Kirche im Hamburgischen Staate und den Methodisten hat es keine nennenswerten Konflikte gegeben, die denen in den lutherisch geprägten Flächenstaaten Württemberg und Sachsen, wo es Erlasse und behördliche Maßnahmen gegen die Methodisten gab, gleichzustellen sind. Als sich 1879 der Hamburgische Kirchenrat mit den Methodisten befasste, gab eine kaum erwähnenswerte Anfrage den Anlass. Es war eine kleine Anzeige in einer Hamburger Zeitung vom 9. März 1879, in der die methodistische Gemeinde ihre Veranstaltungen ankündigte. Auf Veranlassung des Seniors der Hamburger Kirche, Pastor Johannes A. Rehhoff (1800–1883), befasste sich der Kirchenrat damit. Die gegensätzlichen Erörterungen in diesem Gremium führten schließlich zu dem Ergebnis, dass nach den gesetzlichen Bestimmungen in Hamburg keine Methodisten-Gemeinde existieren dürfe. Sie sei nicht Lothar Elsner/Ulrich Jahreiß (Hg.), Das Soziale Bekenntnis der Evangelischmethodistischen Kirche, Göttingen 2008. 148 Martin Greschat, Das Zeitalter der Industriellen Revolution, Stuttgart 1980, S. 29–36 ist einer der wenigen Forscher, die auch Informationen zum Thema Methodismus und Industrialisierung geben.

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konzessioniert und dürfe darum keine öffentlichen Gottesdienste halten, keine Geistlichen anstellen, sie dürfe weder die Sakramente verwalten noch sei sie berechtigt, Trauungen vorzunehmen. Ihre öffentliche Stellung sei den AltLutheranern zu vergleichen, denen 1852 ausdrücklich die Bildung einer Gemeinde abgeschlagen worden war. Besonders Carl Mönckeberg (1807–1886), der sich stets mit Fragen der Kirchenverfassung beschäftigt hat, war hier aktiv. Zunächst sollte nach seinen Erwägungen angeregt werden, dass die Methodisten sich „conzessionieren“ lassen. Als am 12. November 1878 der Kirchenrat die Diskussion dieser Frage beendete, kam er jedoch zu einem anderen Ergebnis und protokollierte: „Es steht fest, daß den Methodisten, welche übrigens niemals durch ihr Verhalten einen Anstoß gegeben haben, keine Concession v. Staate ertheilt ist. Da nun aber die Erlangung einer Concession, welche jetzt einen übereinstimmenden Beschluß von Senat und Bürgerschaft erfordert, auch Schwierigkeiten in dem Nachweis der pecuniären Mittel u.s.w.149 entgegenstehen, überdies der K.[irchen] R.[at] nicht die den Methodisten vorgesetzte Behörde ist und so lange der evang.- luthr. Kirche keine Schädigung durch die Methodisten gebracht wird, dieselbe auch kein Interesse hat, ob den Methodisten die Concession ertheilt sei, bei E. H. Senat in Anregung zu bringen, beschließt der K. R. auf Antrag des Herrn Vorsitzenden den Gegenstand auf sich beruhen zu lassen.“150

Ganz anders als die Beziehung zwischen der lutherischen Kirche und den methodistischen Gemeinden gestaltete sich das Verhältnis des erwecklichen Teils der Hamburger Kirche zu ihnen. Als ein Beispiel soll die Haltung von Carl Wilhelm Th. Ninck (1834–1887) ins Blickfeld gestellt werden. Als Ninck 1873 nach Hamburg kam, hatte er bereits Jahrzehnte lang in lebhafter Verbindung mit dem irischen Missionar James Craig gestanden. Der Ire holte Ninck zusammen mit Jasper von Oertzen in die Hansestadt. Dort übernahm er die Leitung der Anscharkapelle. Sie war durch ihre Eigenständigkeit ein Kirchlein in der Kirche. An seiner lutherischen Haltung und seinem Verhältnis zur Hamburgischen Landeskirche ließ Ninck keine Zweifel aufkommen. 149 Dem Kirchenrat war nicht bekannt, dass es innerhalb der methodistischen Kirche eine Verfassung, Lehre und Ordnung gab und ein Finanzwesen, das einer jährlichen Prüfung und Zusammenfassung in einer Gesamtstatistik unterlag. – Die kirchenleitende Konferenz der Methodistenkirche hatte sich auch verschiedentlich um „Korporationsrechte“ bemüht, zuletzt durch einen Beschluss im Jahre 1875 für Preußen, war aber schließlich erst nach der Annahme der Weimarer Reichsverfassung erfolgreich. Zu Körperschaftsfragen: Karl Heinz Voigt, Freikirchen in Deutschland (19. und 20. Jahrhundert). KGE III/6, Leipzig 2004, u. a. S. 147–151. 150 Nordelbisches Kirchenarchiv (NEK) Kiel, Best. 32.01 Nr. C.I.2

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Trotz seiner langen und intensiven Beziehungen zu dem Iren Craig waren für Ninck die Freikirchen Sekten. Am deutlichsten trat die Haltung des freien Anscharpastors hervor, als Jasper von Oertzen aus Berlin zurückkam, wo er aufsehenerregende Evangelisationen mit Friedrich von Schlümbach (1842–1901), dem Sekretär des deutschsprachigen YMCA in Amerika, erlebt hatte. Oertzen war so begeistert, dass er den Deutsch-Amerikaner auch nach Hamburg rief. Aber das passte nicht ins Konzept von Ninck. Dabei spielte eine wichtige Rolle, dass Schlümbach zwar in Berlin ausschließlich innerhalb der Landeskirche evangelisierte, er aber ein vom deutschen Zweig der Methodistenkirche in Amerika für den YMCA freigestellter Pastor und Evangelist war. Als in Hamburg ruchbar wurde, dass der Methodist Schlümbach kommen solle, organisierte Ninck zusammen mit den Hamburger Pastoren Adolph Kreusler (1824–1894) und Otto Weymann (1832–1903) in Tütges Salon, wo 1873 übrigens auch Ferdinand Lassalle (1825–1864) agiert hatte, ähnliche Versammlungen, wie sie in Berlin gehalten worden waren. Man grub zwar Oertzen das Wasser ab, aber die Aktion richtete sich gegen den Methodisten Schlümbach. Ninck schrieb über diese Art „religiöser Versammlungen“ für solche, die der Kirche entfremdet waren, als einer, der selber an den Versammlungen von Robert Pearsall Smith (1827-1898) in Brighton und an Evangelisationen von Dwight L. Moody in London teilgenommen hatte: 151

„Unsere hiesigen religiösen Versammlungen in profanen Lokalen, die sich einer großen Teilnahme erfreuen, haben nichts zu tun mit Sozialpolitik, noch auch mit kirchlichen Streitigkeiten, sondern wollen nur einfach das Evangelium von Christo denen nahe bringen, die der Kirche entfremdet sind. Darum wünschen wir sie auch auf dem Boden unserer lutherischen Bekenntnisse zu halten und möchten dazu keinen amerikanischen Methodisten herbeirufen, selbst wenn dieser ein noch so erfolgreicher Erweckungsprediger ist“152

Wie tief die Vorbehalte gegen den Methodisten Schlümbach waren, zeigte sich in Hamburg und Lübeck. Obwohl Schlümbach sich verpflichtet hatte, und dieses auch nach der Bestätigung von den Berliner Veranstaltern einhielt, für die Methodisten keine Werbung zu machen, kam es doch im Verein für Innere Mission wie auch in Lübeck im Norddeutschen Jünglings- und Männerbund – in beiden war von Oertzen Vorsitzender –, zu heftigen Auseinander151 Zu Schlümbach: Karl Heinz Voigt, BBKL Bd. 9 (1995), Sp. 306–314. 152 Johannes Ninck, Frei von jedermann und aller Knecht. Carl Ninck. 1834–1887, Leipzig/Hamburg 1932, S. 189. Zu Ninck auch: Karl Heinz Voigt, BBKL Bd. 24 (2005), Sp. 1121–1132.

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setzungen. Oertzen kam so unter Druck, dass er im Nordbund (CVJM) sogar dem Beschluss zustimmen musste, dass „Mitglieder von Sekten (Baptisten, Methodisten u.a.) weder als Mitglieder noch als Mitarbeiter der Vereine zugelassen [sind], damit die Vereine nicht ein Tummelplatz sektiererischer Bestrebungen werden.“ Schlümbach war daraufhin nach Schleswig-Holstein ausgewichen und evangelisierte statt in Hamburg nun in Kiel. Ninck, der hartnäckig gegen die Freikirchen kämpfte, hatte in der Hamburger Zeit sein konfessionelles Bewusstsein und sein national-protestantisches Denken immer stärker ausgeprägt. Es ist typisch, dass er sich mit dem Eisernen Kreuz an seiner Lutherweste fotografieren ließ. Im Februar 1887 kam der international erfahrene, frühere Basler Missionar Elias Schrenk (1831–1913) zu einer 14-tägigen Evangelisationskampagne nach Hamburg. Die Veranstaltungen fanden in Nincks Anscharkapelle in den Gängevierteln am heutigen Gänsemarkt statt. Schrenk arbeitete im Auftrag des Deutschen Evangelisationsvereins , der sich 1884 mit der Unterstützung durch Japser von Oertzen unter dem Vorsitz von Theodor Christlieb (18331889) in Bonn gebildet hatte. Dass die Organisation ausdrücklich als Deutscher Evangelisationsverein firmierte, brachte dessen Abgrenzung gegenüber den angelsächsischen Evangelisten, wie gegen die Freikirchen zum Ausdruck. Diese Tendenz war ausgelöst durch die Schlümbach’schen Evangelisationen. Schrenk selber befand sich in einem Dilemma. Um der Abgrenzung von den Freikirchen willen, durch die der Evangelisation innerhalb der Landeskirchen die Tür leichter geöffnet werden sollte, hatte Schrenk im Jahr 1888 vor der Allgemeinen Evangelischen Kirchenkonferenz in Elberfeld ein persönliches Bekenntnis formuliert. Darin stellte er ausdrücklich fest: „Ich habe keine Verbindung mit außerkirchlichen Gemeinschaften“ und einige Zeilen später formulierte er unter Bezugnahme auf seine Erfahrungen in Afrika, der Schweiz und anderswo „Man erwarte nicht von mir, daß ich […] jetzt meinen 153

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153 Baron Jasper von Oertzen, Diskussionsbeitrag nach einem Referat von OKR Sell, Darmstadt, über ´Die christliche Laienthätigkeit im Reiche Gottes und ihre Schranken´. In: Verhandlungen des 25. Congresses für innere Mission in Kassel, Cassel 1888, S. 232–235. 154 Johannes Ninck, Carl Ninck. Umschlagfoto und S. 1. 155 Karl Heinz Voigt, Schlümbach, Christlieb und die Evangelisation in Deutschland. – Zur Bildung des Deutschen Evangelisationsvereins. In: ders., Theodor Christlieb (1833–1889). Die Methodisten, die Gemeinschaftsbewegung und die Evangelische Allianz. Göttingen 2008, S. 85–110. 156 Ebd.

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ökumenischen Standpunkt aufgebe.“ Das methodistische Kirchenblatt sah darin einen unauflösbaren Widerspruch. Dazu bemerkte dessen Redakteur: 157

„Wir können es wohl verstehen, wenn Herr Schrenk, um seinen Einfluß in der Landeskirche zu erhalten und zu stärken, sich allein zu ihr hält und jede Berührung mit Methodisten und sonstigen Christen scheut; wir sind auch weit entfernt davon, ihm seinen Standpunkt übel zu nehmen – er hat ein volles Recht dazu – aber dann soll er es frei heraus sagen: ‚Die Landeskirche ist meine Partei, zu der ich mich halte und für die ich arbeite’ und diesen einseitigen Parteistandpunkt nicht fälschlich als einen ökumenischen stempeln. Ein ökumenischer Christ ist ein solcher, der alle Christen gleich liebt, gleichviel, welchen Namen sie tragen, wenn sie nur Christi angehören.“158

Auch der damals im Umfeld der Gemeinschaftsbewegung oft und gerne verwendete Begriff „außerkirchlich“, mit dem man alle Nicht-Landeskirchler charakterisierte, wurde von der Redaktion unter theologischen Gesichtspunkten problematisiert. Freikirchen wollten nichts anderes sein als Zweige an dem Baum der einen Kirche Christi. Darum wehrten sie sich dagegen, als „außerkirchlich“ abgetan zu werden. Elias Schrenk, dessen Dienst von den Methodisten geschätzt wurde und der in ihren Zeitschriften eine positive Beachtung erfuhr, evangelisierte in Hamburg zwischen 1887 und 1898 fünf mal. Er erfuhr jedoch eine zunehmende Ablehnung, die durch Konfessionelle und Liberale verursacht sei. Inhaltlich und in der Struktur unterschieden sich diese und ähnliche Evangelisationen nicht von den methodistischen, aber sie fanden mehr Aufmerksamkeit in der Presse und konnten mit einem größeren Zulauf rechnen, weil sie nicht unter dem Makel standen, „außerkirchlich“ zu sein. Trotzdem darf man die Wirkungen der innerlandeskirchlichen Debatte nicht unterschätzen. Die landeskirchlichen Auseinandersetzungen um die Evangelisation und ihre Beziehung zur Arbeit der Stadtmissionen warfen ihre Schatten bis nach Hamburg. Der Central-Ausschuß der inneren Mission veröffentlichte nach seinem Kasseler Kongress von 1888 und den dortigen Diskussionen im Jahr darauf 16 Thesen Zur Frage der Evangelisation. Es ging darin um die Rolle der Laien, um die Beziehung zum geordneten Pfarramt, um die Verankerung im kirchlichen Bekenntnis, aber auch um die Abgrenzung gegenüber den Freikirchen. 159

157 Redaktioneller Beitrag (Paul G. Junker?), Ein ökumenischer Standpunkt. In: Ev. 41.Jg. (1890), S. 284. 158 Ebd. 159 Verh. des 25. Congresses für innere Mission in Cassel 1888, S. 232–235. Die Thesen wurden auch in die in Hamburg erscheinenden „Fliegenden Blätter“ aus dem Rauhen Haus übernommen. 40. Jg. (1889), S. 233–237.

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In den Thesen hieß es, durch die Möglichkeit der landeskirchlichen Evangelisation könne man „um so erfolgreicher […] dem sektirerischen Treiben, welches neuerdings unter dem Namen der Evangelisation hie und da in ärgerlicher Weise hervorgetreten ist, mit Nachdruck und Erfolg entgegentreten.“ 160

Dies sei nicht zu unterschätzen und es könne durch die kirchlichen Aktivitäten „die Evangelisation in gesegnete Bahnen“ gelenkt werden. Die Thesen wurden auch im Rauhen Haus kurz nach ihrer Veröffentlichung Gegenstand eingehender Erörterungen, um klare Grenzlinien zwischen der Arbeit der Hamburger Stadtmission und den Evangelisationen Schrenks in Nincks Anschargemeinde zu ziehen. Durch die Bindung der Stadtmission an die Bekenntnisse und Ordnungen der Landeskirche werde es ihr gelingen, „bei regem Missionseifer methodistische Treiberei“ (These 5) von ihr fernzuhalten, in der man – so der Kommentar – „Undeutsches und Unlutherisches“ sah.“ Die Erklärung der Bruderschaft des Rauhen Hauses wandte sich mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit täglicher Reue und Buße gegen eine mit der Evangelisation verbundene „Treibhausgeschwindigkeit“ genauso wie gegen die Vermischung von Rechtfertigung und Heiligung, die für Hörer und Redner eine Gefahr sei, die in der Verszeile „Jesus errettet dich jetzt“ liege. In diesen Bemerkungen spiegeln sich eine Reihe von Vorurteilen wider, die gegen die methodistischen Kirchen, oft ohne detaillierte Kenntnis derselben, weit verbreitet worden waren und die man zur Sicherung der eigenen festen Burgen unkritisch, aber dankbar aufnahm. Aber die Kritik galt ausdrücklich auch Elias Schrenk, den man von seinen Hamburger Massenevangelisationen im Stile Moodys in den Jahren 1887, 1888 und 1889 kannte. Schrenk habe „sicherlich den Tausenden, die ihn hören, Anregung und den schon Bekehrten vielfache Förderung“ gebracht. Aber „es hörten ihn in Hamburg doch wieder zum größten Theil kirchliche Leute, die etwas unersättlichen Besucher aller 161

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160 Evangelisation und Stadtmission. In: Fliegende Blätter 46. Jg. (1890), S. 141–149 (S. 143 u. 146). 161 Ebd. 162 Dieses war der Refrain in einem Lied der Heiligungsbewegung, das beim Besuch des amerikanischen Laienpredigers Robert Pearsall Smith in Karlsruhe entstand und in vielen Ländern als das Lied dieser Bewegung schlechthin verbreitet und gesungen wurde. Vgl.: Karl Heinz Voigt, Die Heiligungsbewegung zwischen Methodistischer Kirche und Landeskirchlicher Gemeinschaft. Die Triumphreise von Robert Pearsall Smith im Jahre 1875 und ihre Auswirkungen auf die zwischenkirchlichen Beziehungen. Wuppertal 1996, S. 101–106. Evangelisation und Stadtmission. In: Fliegende Blätter 46. Jg. (1890), S. 147 f.

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Missionsfeste.“ Bei aller Freiheit innerhalb der Bruderschaft der Rauhhäusler kam man zu dem Schluss: „Alt bewährte Methoden um der noch neuen unerprobten willen aufgeben, können wir nicht, und den Anspruch weisen wir zurück, als hätte der Evangelist ein unfehlbares Mittel, große Massen zu gewinnen, und also der kirchlichen Noth radikal abzuhelfen. Die Stadtmission will ihrerseits still und ernst den Verlorenen nachgehen“

und sich nicht durch die erschütternde Not dazu verleiten lassen, „Massenwirkungen in der Kirche für heilsam“ zu halten. Elias Schrenk, der sich durch die Übernahme von Praktiken des Amerikaners Dwight L. Moody den Vorwurf machen lassen musste, mit der neu aufkommenden Massenevangelisation angelsächsische Methoden einzuführen und den man darum auch mit dem Schimpfwort „Methodist“ belegte, hätte im Bewusstsein um das besondere Charisma eines Evangelisten der Bruderschaft im Rauhen Haus kaum widersprochen. Der ganze Vorgang mit den verschiedenen Vorwürfen und Verdächtigungen zeigt, wie sehr schon die innerlandeskirchlich verantwortete Evangelisation Diskussionen und Widerspruch auslöste. Auf diesem Hintergrund lässt sich erklären, wie schwer es erst die „undeutsche, unlutherische“ Mission als Evangelisation trotz aller Liberalität in Hamburg haben musste. Zwischen den Freikirchen gab es verschiedene Kontakte. Herausragend war die Bedeutung der Evangelischen Allianz, die ab 1853 in Hamburg Fuß gefasst hatte. Während der traditionellen Gebetswoche im Januar kam es unter den mitwirkenden Freikirchen schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum sog. Kanzeltausch. In den ersten Jahrzehnten waren zunächst der mennonitische Pastor Berend Carl Roosen und danach der 1873 nach Hamburg gekommene irische Judenmissionar John Campell Aston Vorsitzender dieser überdenominationellen Gemeinschaft. Die hamburgische Pastorenschaft war eher zurückhaltend. Lediglich Pastor C. Bertheau war seit der Berliner Allianz-Weltkonferenz von 1857 interessiert. Nachdem er Pastor in der St. Michaeliskirche geworden war, fanden dort auch AllianzGottesdienste statt. Aus der Gemeinschaftsbewegung wirkte Jasper von Oertzen mit. Von den Freikirchen konnte man Baptisten, Mennoniten, Methodisten, die irischen Presbyterianer und später die Mitglieder der Evangelischen Gemeinschaft antreffen. Die Pastoren versammelten sich außer in den traditionellen, international organisierten Januar-Gebetswochen über viele Jahre in überschaubaren zeitlichen Abständen zu Gebet und Schriftstudium. Zu den großen Allianztreffen fand man Raum in Sagebiels Etablissiment oder im Saal

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der Loge. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts konnte die Hamburger Allianz eine Bedeutung erlangen, die es ermöglichte, für 1902 eine internationale Allianzkonferenz zu planen, die jedoch wegen des Burenkrieges und der harten englischen Kriegsführung von den Hansestädtern abgeblasen wurde. Außer in der Evangelischen Allianz traf man sich anlässlich der Begegnungen der damals noch weitgehend pastorengeführten Jünglingsvereine. Sie hatten seit der Allianz-Weltkonferenz von 1855 in Paris eine gemeinsame „Basis“, die später etwas vereinnahmend als CVJM-Basis bezeichnet wurde. Weitere Kontakte gab es im Bereich der Sonntagsschulen. Es wurden gemeinsame Fortbildungskurse für Sonntagsschullehrerinnen und Lehrer angeboten. 1887 kam es sogar zur Bildung eines gesamtfreikirchlichen Vereins zur Förderung des Sonntagsschulwerkes in Hamburg und Umgebung, in dem moderne amerikanische Methoden der frühen Erwachsenenbildung eingesetzt wurden. Vorökumenische Erfahrungen gab es auch bei Besuchen aus dem Ausland. Zusammenfassend lässt sich beobachten, dass es die internationalen Kontakte waren, die den Lebenshorizont in den Freikirchen weit und offen hielten. Dazu zählten über die jeweiligen innerkirchlichen Verbindungen hinaus: die 1846 in London gebildete internationale Evangelische Allianz, die 1855 in Paris gegründete Union der Jünglingsvereine und die bereits 1803 ins Leben gerufene London Sunday School Union, welche die Arbeit auf dem Kontinent finanziell förderte und dadurch auch eine Brücke zu den Sonntagsschulen in den Landeskirchen schlug. Die Freikirchen mit ihren internationalen Verbindungen wurden in Deutschland zu Vorboten der kommenden Ökumenischen Bewegung. Möglich wurde dies durch ihren theologischen Ansatz in ekklesiologischen Fragen, insbesondere durch den sie gemeinsam prägenden Einfluss der Föderaltheologie des angelsächsischen Typs. Er führte zu dem Selbstverständnis als Denominationen, die in der Gestalt unterschiedlicher Zweige erst alle zusammen den Baum der einen Kirche Christi bilden, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Dagegen waren damals die traditionellen protestantischen Territorial163

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163 Karl Heinz Voigt, Internationale Sonntagsschule und deutscher Kindergottesdienst, Göttingen 2007, S. 203. – Auch: John H. Vincent. Karl Heinz Voigt, BBKL Bd. 27 (2007), Sp. 1452–1466. 164 1881 hielten u.a. der Anglikaner Reginald Radcliffe (1825–1895) und 1882 der schottische Presbyterianer Alexander Neill Somerville (1813–1889), übersetzt von dem Methodisten P. G. Juncker, in Hamburg erweckliche Versammlungen. 165 Karl Heinz Voigt, Internationale Sonntagsschule und deutscher Kindergottesdienst, Göttingen 2007, S. 171–185. 166 Erich Geldbach, Gottes Bundesrepublik. Die Bedeutung der Föderaltheologie für Kirche und Gesellschaft. In: Freikirchenforschung Bd. 18 (2009), S. 157–165. Auch: Karl Heinz

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kirchen auf dem Kontinent durch ihre konfessionellen Bekenntnisse eher von einem zur Abgrenzung und zur Trennung neigenden ekklesiologischen Grundverständnis geprägt. 4.5

Eppendorf – und andere selbständige Tochtergemeinden

Im Stadtteil Eppendorf war die Arbeit im Umfeld der missionarisch aktiven Diakonissen gewachsen. Ein junger Gemeindemitarbeiter, der aus der Schweiz nach Hamburg gekommen war, berichtete 1897 von erwecklichen Versammlungen. Als Mitarbeiter in der Sonntagsschule bemerkte er: „Nur schade, daß wir überall zu wenig Platz haben, in der Sonntagsschule wie in den öffentlichen Gottesdiensten.“ Es ist kein Wunder, wenn Prediger Neuhart die Erwartung formulierte, „daß in nicht zu ferner Zeit die Hamburger Gemeinde in zwei oder drei selbständige Gemeinden geteilt werden wird.“ In Eppendorf wurden dafür räumlich die ersten Voraussetzungen geschaffen. Grund für einen eingeleiteten Umzug war die Sonntagsschule. Ihre über 150 Kinder konnte der Betsaal der Diakonissen nicht mehr fassen. Die Gemeinde mietete Am Eppendorfer Baum 8 über einer Tischlerei einen schlichten Raum im ersten Stock über der eigentlichen Werkstatt. Er wurde zu einem denkbar einfach ausgestatteten Gottesdienstraum umgestaltet Eine Woche nach dem ursprünglich geplanten Termin konnte am 11. Juli 1897 „der Saal zu seinem heiligen Zweck“ eingeweiht werden. Die den eigenen Eppendorfer Gemeindebezirk konstituierende Vierteljahrskonferenz fand am 18. August 1897 statt. Damit war die Gemeinde selbständig und aus dem Bezirk St. Georg einvernehmlich entlassen. 1906/07 erwarb die Kirche das Grundstück am Abendrothsweg 43 Ecke Löwenstraße. Die dort stehenden zwei alten Häuser wurden abgerissen, um einen Neubau mit einer größeren Anzahl von Wohnungen errichten zu können. Es gab eine längere Planungsphase mit unterschiedlichen Konzepten. Schließlich wurde der Kirchsaal am 167

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Voigt, Freikirchen als Vorboten der Ökumene in Deutschland. In: Freikirchenforschung Bd. 18 (2009), S. 166–187. Redaktionelle Notiz, Mitteilung eines jungen Bruders, der in Hamburg arbeitet. In: Ev. 48. Jg. (1897), S. 12. Jakob Neuhart, Aus Hamburg. In: Ev. 48. Jg. (1897), S. 190. Andere Quellen nennen den Hinterhof. Ebd. Durch ein Feuer in der darunter liegenden Werkstatt, das den Saal teilweise zerstörte, war die Gemeinde zeitweise ohne eigenen Versammlungsraum. Sie fand wieder Aufnahme im Betsaal von Bethanien. Am 11. August 1907 konnte die Gemeinde Hamburg-Eppendorf das von ihr erbaute Haus im Abendrothsweg 43 einweihen. Dazu: Geschichte in Bildern, 100 Jahre Bezirk Hamburg-Eppendorf 1897–1997, Hamburg 1997.

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11. August 1907 durch Bischof William Burt (1852–1936) eingeweiht. Der Bau war trotz Kostensteigerungen im Lohn- und Materialbereich möglich, weil ein durch den Bischof vermittelter Zuschuss von 4.000 Mark die Kassenlage verbesserte. Durch die Aktivitäten von Prediger Bernhard Schröder (1867– 1945), der in den sieben Jahren von 1901 bis 1908 in Eppendorf wirkte, wurde der Bau des eigenen Gemeindehauses aktiv betrieben, obwohl er auch in Fuhlsbüttel, im holsteinischen Ahrensburg, bei den Diakonissen im Schwesternheim und in deren Erholungsheim in Volksdorf predigte. Mit der Bildung einer zweiten selbständigen Gemeinde setzte die aus der amerikanischen Tradition übernommene Zählung ein: St. Georg wurde Hamburg I, Eppendorf entsprechend Hamburg II, 1910 sollte dann weiter mit dem Bezirk Barmbek Hamburg III hinzu kommen. Außer der St. Georg-Kapelle am Kleinen Kirchenweg 15 war ein weiterer Predigtplatz in Fuhlsbüttel. Dort hatten die wenigen Methodisten zusammen mit anderen Freunden des Reiches Gottes gemeinsam einen Versammlungssaal gemietet und auf eigene Kosten eingerichtet. Man erfreute sich gutbesuchter Versammlungen, allerdings hatte die neugegründete Sonntagsschule „manche Widerwärtigkeiten“ zu ertragen. Ein anderer Platz war am Eilbeker Weg Ecke von Essen-Straße. Aber dort war das Quartier der Gemeinden nicht von langer Dauer. In Barmbek, wo man ebenfalls aktiv war, wurde wegen Raummangel am 26. Februar 1899 ein neuer Saal bezogen, der nun 120 Personen fasste. Das war innerhalb von vier Jahren der dritte Umzug dieser wachsenden Gemeinde. Dagegen hat man die Arbeit in Eilbek zu dieser Zeit aufgegeben und den Schwerpunkt wieder in die Stadt Wandsbek verlegt. Dort war 1864 die Arbeit unter Prediger Göß aufgenommen worden. Das war zu dieser Zeit „der Mittelpunkt der hiesigen Gemeinde“, die im Laufe der Jahre ihre Versammlungen manchmal auf Hamburger, manchmal auf Holsteinischem Gebiet hielt. Jetzt kehrte man nach mancher Enttäuschung an den Ort mit einer „einst blühenden Gemeinde“ zurück und hielt am Karfreitag vor 75 Zuhörern den ersten Gottesdienst nach dem Umzug aus Eilbek. In der innerhalb der methodistischen Kirche benutzten Sprache werden solche Zweig171

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171 Zur Baugeschichte: Verh. Jährliche Konferenz 1906, S. 55 ff u. S. 85. 1907, S. 74 u. 86. 172 Über erweckliche Einflüsse in Ahrensburg: Ruth Albrecht, Schloss Ahrensburg als Ausgangspunkt diakonischer Aktivitäten. In: Rainer Hering u. a. Hg., Gottes Wort in Leben verwandeln. Perspektiven der (nord-)deutschen Kirchengeschichte. Festschrift für Inge Mager zum 65. Geburtstag, Hannover 2005, S. 295–343. 173 Die Hausnummer wechselte von 10 auf 15. 174 Jakob Neuhart, Aus Hamburg I. In: Ev. 48. Jg. (1897), S. 190. 175 Jakob Neuhart, Aus Hamburg I. In: Ev. 50. Jg. (1899), S. 126.

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gemeinden oft als „Predigtplätze“ bezeichnet. Das ist für die Arbeiten in Hamburg und Umgebung keinesfalls eine sachgemäße Beschreibung, denn es ging nicht nur um regelmäßige Predigtangebote. Es gab auf den Stationen ein reges Leben, das von den missionierenden Predigern angestoßen, aber weitgehend von den Gliedern der Gemeinden getragen wurde. Die traditionellen Versammlungen neben Gottesdiensten als Zentrum des Gemeindelebens wurden weiterhin lebhaft gestaltet. Man führte weiter die in erwecklich wirkenden Kreisen zunehmend praktizierten Evangelisationen durch. Die methodistischen Kirchen hatten diese Praxis schon Jahre früher aus Amerika übernommen. Neuhart bezeichnete sie in seinen Berichten teilweise noch als „anhaltende Versammlungen“. Ursprünglich wurden sie von den methodistischen Gemeinden nicht im Voraus geplant, sondern überall da, wo es unter der gewöhnlichen Predigt zu Erweckungen kam, setzte man die Verkündigung über eine längere Zeit – manchmal eine Woche und gelegentlich auch länger – fort, man verlängerte die Versammlungstätigkeit, um das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. Gleichzeitig wies Neuhart auf die „klaren Zeugnisse mancher unserer Mitglieder“, das Leben in den „Vereinen“ und in der Sonntagsschule hin. Menschen, die in den Evangelisationen angesprochen waren, hatten von Anfang an ein gemeindliches Beziehungsgeflecht, in das sie integriert werden konnten. Dadurch wurden sie angehalten, ihren aufkeimenden Glauben nun auch in gemeinsamer Christus-Nachfolge praktizieren zu lernen und zu leben. In einem Bericht über die Arbeit des Hamburger Bezirks St. Georg ist von der sonntäglichen „Gebetsstunde“ vor dem Gottesdienst die Rede, die auch als Frühgebetsstunde stattfand, wenn kein besonderer Raum zur Verfügung stand. Nach der Predigt fanden „Erfahrungsstunden“ statt. Es waren Gemeinschaftsstunden, in denen Gemeindeglieder von ihren Gotteserfahrungen berichteten. Es sieht so aus, als hätte diese Form der Gemeinschaft die frühere Klassstunde, von der jetzt in Hamburg nicht mehr die Rede war, um diese Zeit in sich aufgenommen. Andere arbeiteten in der Sonntagsschule, besuchten Kranke und Gesunde oder brachten als evangelistischen Lesestoff das Verteilblatt Friedensglocke in die Häuser. An den Abendmahlssonntagen, zu denen oft der Vorstehende Älteste kam, wurde traditionell auch ein Liebes176

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176 Jakob Neuhart, Hamburg I. In: Ev. 49. Jg. (1898), S. 398. 177 Heute ist der Vorstehende Älteste der umherreisende Superintendent. Die Bezeichnung hat sich geändert, aber das Verständnis eines funktionalen Dienstes, in dem jeder Bischof bzw. jede Bischöfin, wie die Superintendentin bzw. der Superintendent, ein ordinierter Ältester bleibt und lediglich für eine begrenzte Zeit eine spezielle Funktion wahrnimmt, wurde beibehalten.

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fest als Agape gefeiert. Neuhart richtete um die Jahrhundertwende sogar Passionsstunden ein. Sie schienen ihm eine besondere Gelegenheit zu sein, einladend auf den hinzuweisen, „der um unserer Sünde willen dahingegeben und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt wurde“. Dieser Reichtum an zeugnishafter, erlebnisorientierter Gemeindefeier war zunächst nicht auf die „Zentrale“ im Sinne eines „Bezirksgottesdienstes“, zu dem alle zusammenkamen, begrenzt, sondern war in den verschiedenen Missionsstationen der Stadt erlebbar. Es ist interessanterweise auch weder von einem Chor oder einem Zions-Sängerverein noch von speziellen Gruppen die Rede, obwohl Jünglings- und Jungfrauenvereine, auch schon der von Amerika herüberwirkende Jugendbund aufkamen. In der Mission der Gemeinde scheinen weniger die altersbezogenen Gruppen als vielmehr die von Erfahrungsfrömmigkeit geprägten Versammlungen Impulse ausgelöst zu haben. Die Fülle der Aufgaben, die sich aus diesem reichen Gemeindeleben ergaben, war durch einen einzigen Prediger nicht mehr zu bewältigen. In der Zeit der Gemeindeteilung waren die Prediger Friedrich von Minden (1867– 1934) , Jakobus Coobs (1873–1940) und für kurze Zeit Hinrich Bargmann (1875–1953) in den Gemeinden engagiert tätig. 178

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Weder Gemeinde ohne Mission noch Mission ohne Gemeinde

Seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden nacheinander in verschiedenen Stadtteilen Hamburgs methodistische Gemeinden. Wieder weisen die ursprünglichen Räume auf das soziale Umfeld hin. In Eppendorf mietete sich die entstehende Gemeinde in eine Tischlerwerkstatt ein. Nach zehn Jahren konnte ein Gemeindehaus mit einem Kirchensaal am Abendrothsweg gebaut werden. Eine weitere neue Gemeinde in Barmbek versammelte sich zuerst in einem Gartenhaus, später erwarb sie an der Dehnhaide einen Kinosaal und baute ihn unter Beibehaltung der Klappsitze um. Im Stadtteil St. Georg war eine soziale Entwicklung eingetreten, die nach längeren Diskussionen zum Umzug an den Brekelbaumspark nach Hamm führte. Andere Gemeinden entstanden in Wilhelmsburg und in Fuhlsbüttel. Alle Gemeinden hatten in und um Hamburg kleinere Zweiggemeinden, die bereits bekannten „Predigtplätze“.

178 Jakob Neuhart, Aus Hamburg I. In: Ev. 51. Jg. (1900), S. 101 f. 179 Text aus Römer 4, 25. Jakob Neuhart, Aus Hamburg I. In: Ev. 51. Jg. (1900), S. 102. 180 Friedrich (genannt Fritz) von Minden leitete den Eppendorfer Bezirk von 1897–1899.

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Zwangsläufig ergibt sich die Frage: Ging es nicht am Ende doch um die Etablierung der methodistischen Kirche durch Gemeindebildung? Die historischen Einblicke haben gezeigt, dass in den Anfängen das Motiv für die Mission darin bestand, „Verlorene zu retten“, um es in der Sprache des 19. Jahrhunderts zu sagen. Später verlagerte sich tatsächlich der Schwerpunkt auf die Bildung neuer Gemeinden. Es ist ganz natürlich, dass zum Glauben Gekommene sich als christliche Gemeinschaft organisieren und damit Kirche gestalten. Was die methodistische Erweckung unter Wesley in England im Großen erlebte, ist auch eine permanente Erfahrung im Kleinen: Durch geistliches Wirken erneuerte Menschen werden von der traditionellen Kirche – wie die Methodisten in England – nicht angenommen und sie lassen sich schwer in einen wenig offenen Kirchenkörper integrieren. Die von ihrer ‚vital religion’ geprägten, missionarischen Prediger in Hamburg bildeten unter schwierigsten Bedingungen eigene Gemeinden. Das war notwendig. Aber entscheidend ist, welches Selbstbild diese Gemeinden haben. Weder Kirche noch Gemeinde sind ein Selbstzweck, weil sie einen Auftrag haben. So haben sich die Hamburger methodistischen Gemeinden zunächst wie Missionsstationen erlebt, die eine Aufgabe in ihren Stadtteilen hatten. Sie waren Orte der Sendung, an denen gebetet, unterwiesen und ausgesandt wurde. Sie standen nicht nur in der Pflicht, an der Mission auf jede erdenkliche Art, von der Unterweisung in der Sonntagsschule bis zur Verteilung der missionarischen Schriften und dem Singen im Chor, teilzunehmen, sondern auch für die Räume, die Heizung, das Arbeitsmaterial zu sorgen und schließlich die finanzielle Grundlage zu schaffen. Die Erfahrung zeigt, dass Mission wie ein Kreislauf ist, der keinen festen Ansatzpunkt hat. Aber ohne die sendende, die Arbeit tragende, die neu zum Glauben Kommenden integrierende, sie dann unterweisende und danach wieder sendende Gemeinde funktioniert die Mission nicht. Allerdings, und das wird in diesem Kreislauf erkennbar, eine Gemeinde, die sich selbst genug ist, sich als Kultusgemeinschaft über einen guten Gottesdienstbesuch freut und aus einer herzlichen Atmosphäre lebt, unterbricht den missionarischen Umlauf und verändert ihr Profil. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderten sich aber die Modalitäten der missionarischen Zuwendung in Inhalt und Form rapide. Gerade das war es, was den Methodisten in ihrer Großstadtmission Probleme machte, die sich teilweise lösten, als die Gemeinde ein eigenes, wenn auch bescheidenes Zentrum erhielt und der Dienst durch die Diakonissen auf eine deutlich breitere Basis gestellt wurde.

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

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Versuch einer Zwischenbilanz

Einige aus der Erfahrung erhobene Gesichtspunkte sollen hier, soweit sie Einfluss auf das Wirken einer überschaubaren Missionsgemeinschaft in der Großstadt haben, in einer Zwischenbilanz erfasst werden. (1) Das Wirken als Reiseprediger, das in der vorindustriellen, durch landwirtschaftlich bestimmte Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse seine Gestalt gefunden hatte, konnte für das innerstädtische Großstadtleben keine adäquate Arbeitsweise mehr sein. Damit mussten sich die missionarischen Rahmenbedingungen den total veränderten Verhältnissen anpassen. Die vielschichtige Großstadt entwickelte ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, nach denen das tägliche Leben sich gestaltete. Für die Aktivitäten einer missionierenden Gemeinschaft verwandelte sich die Stadt in einen fast unübersehbaren Raum. In Hamburg bestimmten innerstädtische Wanderungsbewegungen durch die Einbeziehung der vorherigen Vorstädte mit ihrem je eigenen Milieu die zwischenmenschlichen Beziehungen neu. Die durch den Ausbau des Hafens bedingten Umsiedlungen brachten Tausende in Bewegung, die sich in jeder Hinsicht neu organisieren mussten. Die Trennung von Wohngebiet und Arbeitsplatz und die damit verbundene Auflösung der traditionellen Nachbarschaftsbeziehungen, manchmal auch der familiären Bindungen, veränderte das Sozialgefüge. Nicht ohne Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung blieben die Zuwächse im Zeitungswesen. Die gesamte Gesellschaft konnte nunmehr an den Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern mit genauerer Kenntnis der Argumente und ganzer Emotionalität teilnehmen, wenn in den noch nicht geordneten Arbeitskämpfen die Meinungen aufeinanderprallten. In der Zeit der aufkommenden Parteien und der Gewerkschaftsbewegung wurde die Stadt bewegt durch diese Entwicklungen, in der Kirche keine Rolle spielte. Für die Kirchengemeinden entwickelten die Parteien und Gewerkschaften eine außerordentlich ungewöhnliche Konkurrenz. Sie kümmerten sich um die sozialen Belange der Armen und der Arbeiter und lösten durch ihr gesellschaftliches Engagement manche kirchliche Aktivität, soweit es sie in diesem Feld überhaupt schon gab, ab. Gerade in St. Georg scheint der Bau des Gewerkschaftshauses auch Einfluss auf den nachfolgenden Bau eines landeskirchlichen Gemeindehauses gehabt zu haben. (2) Die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen schufen völlig neue soziale Kommunikationsstrukturen, die gerade für eine vorzugsweise vom Wort-Zeugnis bestimmte Mission nicht ohne Konsequenzen bleiben konn-

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ten. Es zeigt sich, wie dringend es geboten war, ganzheitlich das Evangelium zu bezeugen, das hieß neben dem Wort-Zeugnis das diakonische TatZeugnis und die aus dem Glauben gestaltete Lebensgemeinschaft zu praktizieren. Es ist kein Zufall, dass die Bethanien-Schwestern einen Umschwung im Dienst der Mission herbeiführen halfen. Dieses war typischerweise eine Parallelerscheinung der methodistischen Missionen in den Großstädten Frankfurt/M. und Berlin. (3) Der unaufhaltsame Traditionsabbruch erreichte zu dieser Zeit das kirchlich-religiöse Verhalten in zwei entgegengesetzte Richtungen. Die Frömmigkeitstraditionen mit Familien- bzw. Kindergebet, Andachtsliteratur – man denke an die Andachtsbücher und Postillen des einflussreichen Johann Jakob Rambach (1693-1735) –, auch die Inanspruchnahme von Taufe und Trauung verlieren an Bedeutung und gesellschaftlicher Integrationskraft. Damit ging für die Methodisten der Boden für die missionarischevangelistische Verkündigung verloren, auf dem die Saat der Rückrufung zum Heil bisher – in anderen Regionen mehr als in Hamburg – so gut aufgegangen war. Die Missionare gingen weitgehend noch wie selbstverständlich von vorhandenen Grundlagen, dem darauf zu sensibilisierenden Gewissen und einer selbstverständlichen Religiosität aus, die nur neu zu „erwecken“ war. (4) Gleichzeitig stabilisierte sich unter der wachsenden Verunsicherung im Bereich von Wohnen und Arbeiten und der Entwurzelung vom traditionellen Wohnsitz innerhalb einer der alten Parochien durch Umzüge in andere Stadtteile eigenartigerweise die innere Bindung an die Kirche (Konfession), zu der man seit Generationen gehörte. Verlust von inhaltlichen Kenntnissen bei gleichzeitiger Stärkung konfessioneller Bindung wirkte sich auf die methodistische Mission hemmend aus. (5) Die Missionare wirkten in ihrer Verkündigung, die im Kern Heilsproklamation mit dem Ruf zum Glauben und in die Nachfolge Christi war, weitgehend in traditionellen Denkmustern und in Verbindung mit den sogenannten Evangelisationswochen auch in entsprechenden Gestaltungsmustern. Darin stimmten sie weitgehend mit angelsächsischen Vorbildern überein, z.B. dem zeitweise in Deutschland wirkenden Robert Pearsall Smith (1827–1898) und dem YMCA-Evangelisten Friedrich von Schlümbach (1842–1901) sowie dem aus England und Amerika herüberwirkenden 181

181 Eine ähnliche Entwicklung wie in der Bischöflichen Methodistenkirche ist auch in der damaligen Evangelischen Gemeinschaft zu beobachten. Fast gleichzeitig kamen predigende Missionare und dienende Schwestern nach Hamburg und nach Berlin.

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Ankommen in Hamburg – die Bischöfliche Methodistenkirche

Dwight L. Moody (1837–1899) mit seinem Sänger Ira D. Sankey (1840– 1908). Diese missionarische Praxis und die damit verbundenen theologischen Muster passten nicht in die geistige Lage des aufgeklärten Bürgertums, der revoltierenden Arbeiter und der fahrenden Seeleute. Dies alles schließt nicht aus, dass noch vorhandene Religiosität, die aus dem Pietismus und der Erweckungsbewegung erwachsen war, sich gegen neuere Entwicklungen zur Wehr zu setzen versuchte, wie bei einigen der Erweckungsbewegung verbundenen Hamburger Senatoren. Dass aber für diesen erwecklichen Frömmigkeitstyp noch neue Personengruppen neu erschlossen werden konnten, ist kaum zu belegen. Dieses Dilemma spiegelt sich in den Ansätzen der frühen methodistischen Mission in Hamburg. Es verstärkte sich noch durch die gesellschaftliche Ausgrenzung als sog. „Sekte“ und in der Gleichsetzung als „Dissidenten“ mit Kirchenlosen und Freidenkern. Dabei taten sich in Hamburg – anders als in Bremen – bezeichnenderweise Gruppen und Personen mit ähnlichen theologischen Positionen und missionarisch ausgerichteter Frömmigkeit öffentlich als Gegner und Konkurrenten hervor. Sie suchten nachdrücklicher eine Auseinandersetzung, manchmal sogar Bekämpfung als es bei den liberalen Theologen und ihren Gemeinden wahrzunehmen war. Es war eine eigenartige Situation, dass die, die den Methodisten theologisch und spirituell nahestanden, sie ablehnten, während die, deren theologischen Ansatz zu bekämpfen sie gekommen waren, sie im Allgemeinen tolerierten. In der neueren Entwicklung zeigt sich, dass eine Kirche, die kaum noch ein eigenes Proprium hat, und die vor allem ihre missionarische Kraft als den entscheidenden Akzent ihres Kircheseins verloren hat, unter dem gewaltig veränderten Selbstverständnis der Landeskirchen ihren Auftrag kaum noch formulieren kann. Der enorme Wandel der Landeskirchen zeigt sich darin, dass sie nicht nur mehr und mehr ihr konfessionelles, sie voneinander trennendes Profil verlieren. Entscheidender ist, dass sie einen Zugang zu einer missionarischen Gestalt ihres kirchlichen Lebens suchen und längst aus einer Kultuskirche mit dem alleinigen Gottesdienst zu einer Gemeindekirche mit vielen Gruppen, Kreisen und offenen Veranstaltungen in den neuerbauten Gemeindehäusern geworden sind, die soziale und die ökumenische Dimension des christlichen Glaubens integriert haben und sich offen dem Einzelnen und kritisch der Gesellschaft zuwenden. Als Miniatur-Abbild landeskirchlicher Gemeinden hat die Evangelisch-methodistische Kirche kaum noch einen

Erfolge unter veränderten Bedingungen

109

Auftrag, es sei denn, sie wird sich ihres missionarischen und ökumenischen Erbes in Verkündigung und Praxis neu bewusst und findet die Kraft, es in das Gesamte der einen Kirche Christi partnerschaftlich einzubringen. Es folgt eine Übersicht, die vor dem Namen der Hamburger Prediger die Zeit ihrer dortigen Wirksamkeit und nach dem Namen ihre Lebensdaten ausweist. Es fällt auf, dass die missionarische Tätigkeit in der ersten Generation von verhältnismäßig jungen Mitarbeitern getragen wurde. 1851–1854:

Carl H. Doering,

(1811–1897)

1854–1855:

Heinrich Nuelsen

(1826–1911)

Ernst Heinrich Peters

(1799–1887)

1855–1856:

Adrian van Andel

(1823–1904), Laienprediger

1857–1859:

Carl [Karl] Gottlieb Dietrich

(1823–1909)

1855:

1859–1861:

Heinrich Geerdes Odinga

(1833–1919)

1863–1864:

Ahlerd Gerhard Bruns

(1833–1925)

1865–1866:

Georg Göß

(1828–1912)

1867:

Johann Spille

(1837–1926)

1868:

Friedrich Eilers

(1839–1923), Gehilfe/Praktikant

Friedrich Deppeler

(1842–1924)

1869–1870: 1870–1873:

Hermann Schlaphof

(1840–1875)

Johannes von Oehsen

(1837–1898)

1874–1877:

Ferdinand Schmidt

(1846–1924)

1877–1880:

Carl Frischkorn

1880–1883:

Philipp Lutz

(1848–1923)

1883–1887:

Hermann Welti

(1862–1923)

1873:

1887–1892:

Adolf Lüring

(1828–1896)

1892–1895:

Ernst Pucklitzsch

(1831–1916)

1895–1900:

Jacob Neuhardt

(1860–1902)

Kapitel 3 Nicht nur reden – auch handeln: Die Mission der Bethanien-Diakonissen Ohne den historischen Hintergrund gesellschafts- und vor allem sozialpolitischer Entwicklungen ist die frühe Geschichte des Hamburger Diakonissenwerkes Bethanien kaum zu verstehen. Die „soziale Frage“ beschäftige unter ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten die Verantwortlichen in Politik, Gesellschaft und Kirchen. Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts war eine Phase des Übergangs von der Armenfürsorge zur Organisation der sozialen Sicherungssysteme. Die Entwicklung ist untrennbar mit dem Namen Otto Fürst von Bismarck (1815–1898) verbunden. Nacheinander wurden 1883 die gesetzliche Krankenversicherung, 1884 die Unfall- und 1889 die Alters- und Invalidenversicherung gesetzlich geregelt. Thomas Nipperdey schätzt, dass bis 1913 etwa 50 % der Bevölkerung, also auch Familienangehörige von Werktätigen, über die Kassen auch medizinisch versorgt wurden. Man wird nicht fehlgehen, wenn man die andere Hälfte der Bevölkerung mit unterschiedlichen Anteilen den Reichen und den Ärmsten zuordnet. Vor der Einführung der gesetzlichen Sozialversicherung lag die Versorgung der Armen überwiegend in der Verantwortung der Familien. Wo die öffentliche Hand eingreifen musste, haben Armen- oder Versorgungshäuser unter teilweise katastrophalen hygienischen und sanitären Verhältnissen die Ärmsten untergebracht. Für die akut und chronisch Kranken kam hinzu, dass die pharmazeutische Forschung erst in den Anfängen steckte und im Krankheitsfall die mögliche Unterstützung durch Medikamente noch minimal war. Zur Zeit der beginnenden Pflichtversicherung und der davor liegenden ungenügenden öffentlichen Fürsorge nahmen die noch einfach ausgebildeten methodistischen Diakonissen in Hamburg ihren Dienst auf. Sie selber verstanden sich als Teil der kirchlichen Mission. Dabei war die diakonische Mission zwar von dem Wunsch der Bezeugung des eigenen Glaubens erfüllt. Die frühen Aufgabenbeschreibungen und das formulierte Selbstverständnis zeigen jedoch, dass die Diakonissen ihre Tätigkeit als Teilnehmen am Dienen Christi, der sich den Armen an Leib und Seele zugewandt hat, ausüben woll1

1

Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. I, Arbeitswelt und Bürgergeist, München 19933, S. 347.

Bethanien-Diakonissen in Hamburg

111

ten. Diakonie war für sie die ganzheitliche Hinwendung zu den Armen, zuerst in der sozialen Tat und danach – wenn es angebracht war – im gesprochenen Zeugnis des Glaubens. Diakonie wurde nicht um der Mission willen zu einer „Methode“ des Zugangs zu solchen, die vom Glauben entfremdet waren oder ihn gar verloren hatten. Das diakonische Handeln in sich, besonders unter den Armen, war Mission. Die Veränderungen in der Gesellschaft wurden von den Verantwortlichen registriert. 1889 hieß es im Jahresbericht der Mutterhausleitung: „Mehr und mehr bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß es eine allgemeine Menschenpflicht ist, menschlicher Not und menschlichem Elend das Auge und das Herz nicht zu verschließen […]. Immer weiter […] zieht gerade auf diesem Gebiete die staatliche Fürsorge ihre Kreise. Mehr und mehr reift das großartige sozialpolitische Vermächtnis des erhabenen greisen Kaisers seiner Ausführung entgegen, und Kranken- und Unfall-, Alters- und Invaliditäts-Versicherungsgesetze bezeugen unwiderleglich den ernsten Willen, nach Kräften dem Elend zu wehren!“2

1.

Bethanien-Diakonissen in Hamburg

Der Fortschritt der kirchlich-missionarischen Arbeit der Methodisten in Hamburg ist seit dem Erwerb eines eigenen Hauses durch Carl Frischkorn im Jahre 1878 für die Gottesdienste und das reiche Gemeindeleben unübersehbar. Aber es gibt für die Einleitung einer neuen Phase der kirchlichen Entwicklung neben der neuen Kapelle einen zweiten, noch einflussreicheren Grund: Die Erweiterung der Mission durch den Einsatz von Diakonissen. Das ist hier zu beschreiben. In der methodistischen Dienstgemeinschaft der Prediger gab es mehrere Jahre hindurch ein vorsichtiges Herantasten an das neue Arbeitsgebiet der Diakonie durch hauptamtlich angestellte Frauen. „Krankenpflegerinnen“ in Gemeinden waren die erste Stufe. 1866 hatte Ludwig Nippert (1825–1894) einen Versuch unternommen. Der tragende Verein mit zeitweise sieben Schwestern löste sich aber 1872 wieder auf. Ein zweiter Versuch in Bremen scheint erfolgreich, aber aus Mangel an Führungskräften nach der Versetzung von Prediger Carl Weiß (1841–1883) nicht mehr lebensfähig gewesen zu sein. Das erwirtschaftete Kapital wurde zwischenzeitlich im Bremer kirchli-

2

JB1889, S. 8.

112

Nicht nur reden – auch handeln: Die Mission der Bethanien-Diakonissen

chen Verlag angelegt, bis dieser „Diakonissenfonds“ für den Neustart in Anspruch genommen wurde. Auf diese Weise hat der „Vorlauf“ den späteren Start erleichtert. Für diesen Beginn zeigten sich neben den finanziellen Engpässen die für eine Freikirche im 19. Jahrhundert typischen Schwierigkeiten: Sie hatte in den konfessionsbestimmten Staatswesen keinen Rechtsstatus erlangen können. Auf welcher Grundlage sollte eine institutionelle Arbeit mit Frauen eröffnet werden, wenn kein Rechtsträger für eine vertragliche Absicherung vorhanden war? 1874 kam es durch vier Prediger, die nach der methodistischen Ordnung alle Mitglieder der Konferenz waren und darin auch ihren innerkirchlichen Rechtsrahmen hatten, zur „wohlüberlegten“ Gründung eines eigenständigen Vereins. Sie wählten in Erinnerung an den biblischen Ort, in dem Jesus auch karitativ gewirkt hatte, den Namen Bethanien. Es kann hier nicht erörtert werden, was die Bildung eines kirchlichen und doch formaljuristisch von der Kirche unabhängigen Vereins langfristig bedeutete. Soweit es möglich war, diente auch das Kaiserswerther, von Theodor Fliedner (18001864) entwickelte Mutterhaus-Modell als Vorbild, obwohl die kirchlichen, finanziellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen keineswegs vergleichbar waren. Im April 1876 wurde die Arbeit in Frankfurt/M. zunächst mit einer Diakonisse begonnen. Der jungen Frau, Schwester Sophie Roßnagel, wurde ein Zimmer in der Wohnung der Familie des Frankfurter Predigers eingeräumt. Die Möblierung wurde durch die Geldspenden einiger Prediger möglich. Man kann sich die Anfänge nicht einfach genug vorstellen. 1878 gab es in Frankfurt/M. bereits sieben Bethanien-Diakonissen. Sie waren alle in der Hauspflege tätig. Die Ärzte hatten Interesse an ihrem Einsatz und die Familien begehrten die Betreuung durch die teilweise in einem Heidelberger Krankenhaus ausgebildeten Schwestern. In Hamburg erkrankte im November 1878 in der Familie des dortigen Predigers Carl Frischkorn ein Kind an Diphtherie. Das Ehepaar Frischkorn 3

4

5

6

3 4 5

6

Christian Golder, Die Geschichte der weiblichen Diakonie, Cincinnati 1901, S. 116, Fußnote. JB 1883/84, 13. Auch: Verh. der JK 1883, S. 22. Es ist in dem Zusammenhang der Erwähnung wert, dass von den ersten drei Diakonissen, die Fliedner in Kaiserswerth einsegnete, zwei aus der methodistischen Erweckung in Winnenden/Württemberg kamen. Karl Heinz Voigt, Ein methodistischer Beitrag am Anfang der Mutterhaus-Diakonie in Deutschland. BGEmK Beiheft 7, Stuttgart 1977, S. 38–50. Marc Nördinger/Thomas Bauer. Der Schwestern Werk. Die Geschichte des BethanienKrankenhauses in Frankfurt am Main von 1908–2008, Frankfurt/M. 2008.

Die Diakonissen: ihre soziale Lage und ihr Dienst

113

bat um die Sendung einer Diakonisse nach Hamburg-Wandsbek, wo die Familie damals wohnte. Die Frankfurter Leitung sandte Schwester Luise Schmidt nach Hamburg. Als sie eintraf, war das erkrankte Kind bereits gestorben. Schwester Luise stand der Mutter, die schon längere Zeit gesundheitlich angeschlagen war, zur Seite. Der behandelnde Arzt, ein Dr. Prausnitz, bat die junge Diakonisse dringend, eine andere Patientin von ihm zu betreuen. Am 9. Dezember übernahm die Diakonisse die erste Bethanien-Privatkrankenpflege in Hamburg. Sie konnte nicht ahnen, dass damit eine weitreichende Weichenstellung für die methodistische Mission in Hamburg eingeleitet wurde. Noch Ende des Jahres 1878 wurde eine zweite Diakonisse, Elisabeth Schmidt, von Frankfurt/M. in die Hansestadt entsandt. Die Schwestern wohnten unter sehr einfachen Verhältnissen im Gemeindehaus Kleiner Kirchenweg 10. Nachdem die Frankfurter Leitung am 5. März 1879 beschlossen hatte, Hamburg zur ersten auswärtigen Station des BethanienVereins auszugestalten, wurde im Juli des gleichen Jahres Schwester Therese Gutmann in den Norden gesandt. Das bescheidene Gemeindehaus wurde nun gleichzeitig ein Schwesternheim. Damit waren Wortverkündigung und Tatverkündigung mitten im sozialen Brennpunkt St. Georg unter einem Dach zusammengefasst.

2.

Die Diakonissen: ihre soziale Lage und ihr Dienst

Die ersten Hamburger Bethanien-Diakonissen waren nicht auf Rosen gebettet. Das hatten sie nach ihren Frankfurter Erfahrungen auch nicht erwartet. Dort, so wird berichtet, „litten [die Schwestern] hie und da sogar Mangel, wenn es in Küche und Keller am Nötigsten fehlte.“ Vielleicht war das der Anlass für den Austritt der Oberschwester, der sich mehrere Schwestern anschlossen und damit den dortigen Verein in eine empfindliche Krise führten. In finanzieller Hinsicht hatten sie keinen starken Rückhalt. Sie mussten ihre gemeinsame Kasse durch ihre Hauspflegetätigkeiten füllen. Das war zeitweise sehr eng, weil zu den Pflegebedürftigen Arme gehörten, denen ohne Vergütung geholfen wurde. Die Schwestern hatten viel Verständnis für die Armen, denn sie waren selber arm. In einem Bericht über die Hamburger Anfänge heißt es: 7

„Ihr erstes Heim fanden die beiden Schwestern in dem neuerbauten Gemeindehaus der Bischöflichen Methodistenkirche in Hamburg, Kleiner Kirchenweg 7

Christian Golder, Die Geschichte der weiblichen Diakonie, Cincinnati 1901, S. 119.

114

Nicht nur reden – auch handeln: Die Mission der Bethanien-Diakonissen

10. Dasselbe bestand aus einem Zimmer im Erdgeschoss, dessen Fenster nach einem dunklen Hof lag, und aus einer Küche im Kohlenkeller. Die Betten für das Wohn- und Schlafzimmer erhielten die Schwestern von ihrem Mutterhaus in Frankfurt a. M.; einige Stühle, einen runden Tisch und Fenstervorhänge schenkten Mitglieder der Gemeinde. Messer, Gabel, Löffel, Teller, Tassen, Töpfe und was sonst zu so einem kleinen Haushalt gehört, kauften die Schwestern nach und nach von ihrem Taschengeld. Die Kücheneinrichtung war mehr als einfach. Sie bestand aus einem alten Herd mit drei Füßen, einem Küchenschrank, dessen Aufsatztüren Glasfüllungen haben sollten, aber nicht hatten. Der Tisch bestand aus zwei alten Bänken, die ein Schlossermeister gekauft hatte und denen die Schwestern durch gründliches Scheuern erst wieder Ansehen gaben. Diese auf zwei Böcke gestellt und an die Wand geschoben bildeten die Tafel, an welcher die Schwestern ihre Mahlzeiten einnahmen. Davor stand eine Bank, welche die fehlenden Stühle ersetzte. Das Vornehmste an diesem Heim war, daß Sauberkeit und Ordnung darinnen herrschte, Jesus Christus daselbst wohnte und die ‘geringen Mägde des Herrn’ nicht zuerst an sich, sondern an ihren Herrn und dessen Hilfsbedürftige dachten.“8

Die seit 1880 in Hamburg tätige resolute Schwester Sophie Hurter, die aus der Schweiz kam, hatte angesichts der finanziellen Engpässe bereits den Plan gefasst, eine Kollektierreise nach Amerika zu unternehmen. Hier zeigte sich bereits in ersten Ansätzen, dass in der Entwicklung der Diakonie auch aus wirtschaftlichen Gründen eine Tendenz zur Verselbständigung liegt. Das berührte natürlich – anders als in der landeskirchlich orientierten Mutterhausdiakonie – auch die Frage der Ausgestaltung des Verhältnisses zur Kirche. Gerade die Überlegung des Kollektierens in Amerika konnte die Konferenz der Prediger nicht begeistern, weil sie zu dieser Zeit gerade selber in Amerika Hilfe zur Schuldenfinanzierung für die erbauten Kapellen suchte. In den wirtschaftlichen Fragen wurden das Vertrauen und der Glaube der Diakonissen nicht enttäuscht. Durch ihren demütigen und hingebenden Dienst öffneten sich ihnen die Türen in zwei Richtungen. Sie kamen in die Wohnungen der Ärmsten, um ihnen in verzweifelten Lagen zu helfen und sie fanden Aufgaben in vornehmen Häusern bei gutbegüterten Bewohnern der Stadt. 9

8 9

Heinrich Ramcke, Der Anfang des Bethanien-Vereins in Hamburg. In: Ev. 90. Jg. (1939), S. 278 f. Rosmarie Lauber, Kapellenschuld-Tilgung: Kollektier- und Sängerreise Ernst Gebhardts und seiner Tochter Maria zu Gunsten der Abtragung der Kapellenschulden der Bischöflich-methodistischen Mission in Deutschland und der Schweiz 1881–1883. In: Mitteilungen der Studiengemeinschaft für Geschichte der EmK, 18. Jg. Neue Folge (1997), Heft 1, 3–13.

Die Diakonissen: ihre soziale Lage und ihr Dienst

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Die Mehrzahl der eintretenden Schwestern kam aus kleinen Dörfern in Württemberg, Baden, Preußen, der Schweiz und einige aus anderen deutschen Kleinstaaten. Allein der Schritt in die vitale Großstadt Hamburg bedeutete für die jungen Frauen eine enorme Umstellung. Ihre Beheimatung in den Dörfern oder ländlichen Kleinstädten lässt vermuten, dass sie als junge Menschen kaum eine Chance gehabt haben werden, eine höhere Schule zu besuchen. Vielleicht kann man nicht nur die Entlassung von Probeschwestern als Problemanzeige deuten, sondern auch eine Passage im ersten gedruckten Jahresbericht von Inspektor Heinrich Mann von 1884, in dem er um gut ausgebildete junge Frauen warb. Er schrieb damals: 10

„Der Diakonissenberuf eignet sich für Töchter aus allen Lebensständen. Er enthält nichts Herabwürdigendes für solche aus höheren Lebensständen, und stellt auch keine Anforderungen, für die dieselben nicht die ausreichenden körperlichen Kräfte besitzen könnten. Gewiß muß eine Diakonisse eine gute körperliche Gesundheit haben, und ebenfalls darf sie sich solcher Arbeit nicht schämen, welche man nach landläufiger Weise als ‚gröbere’ bezeichnet; doch nur, damit sie nach allen Seiten hin und für alle Fälle zu dem guten Werk geschickt sei, und ihren leidenden Menschen, es seien Arme oder Reiche, wohl thun kann. Die Aufgaben des Diakonissenberufs sind gar mancherlei, und deshalb sind auch mancherlei gute Gaben des Geistes und des Körpers für denselben erforderlich, und je reicher die Begabung ist, desto besser ist’s. Wir können uns nur freuen, wenn auch Töchter mit etwas mehr als gewöhnlicher Bildung vom Herrn sich rufen und in die Arbeit stellen lassen; müssen aber doch betonen, daß die Herzensbildung durch den Heiligen Geist die hauptsächlichste und nicht fehlende bei einer angehenden Diakonisse sein muß.“11

Die Geschichte zeigt, dass starke, mit Führungsfähigkeit ausgestattete Frauen, ganz egal woher sie kamen, ihr natürliches Potenzial im Dienst der Leitung der Schwesternschaft entwickeln konnten. Vielleicht war es der größeren Zahl einfacher Frauen doch leichter, mit dem minimalen Lebensstandard fertig zu werden. 1886 erfolgte der Umzug aus dem kirchlichen Haus in der Kleinen Kirchenstraße ins erste eigene Schwesternheim.

10

11

Eine Studie zu dieser Frage gibt es nur über das ebenfalls methodistische Diakoniewerk Martha-Maria in Nürnberg: Ulrich Ziegler, Beruf Diakonisse – Motive und Rahmenbedingungen. In: Patrick Streiff (Hg.), Der europäische Methodismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. EmK-Geschichte Monografien Bd. 52. o. O., 2005, S. 189–199. JB 1883/84, S. 7.

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Nicht nur reden – auch handeln: Die Mission der Bethanien-Diakonissen

In der Kirchenstraße präsentieren sich Gemeinde und Diakonie als Einheit. Links die Kirche, rechts die erste Unterkunft der Bethanien-Diakonissen ab 1878/79.

Ein Rückblick nach dem Umzug zeigt, unter welch einfachen Bedingungen die Schwestern ihren ungewohnten und schweren Dienst getan haben. Im Jahresbericht wird die mit der wachsenden Zahl der Schwestern zunehmende Enge erwähnt. Der Umzug ins neue Domizil brachte erhebliche Veränderungen mit sich. Es war nicht nur ein Wechsel des Hauses, sondern auch des Stadtteils. Die Schwestern wussten sich zu den Armen und Verlassenen gesandt. Das sollte sich nach ihrem Umzug an den Grindelberg nach Harvestehude nicht ändern, auch wenn sie dort ein anderes soziales Umfeld als in St. Georg hatten. Am Grindelberg 15a bewohnten die Diakonissen jetzt ein etwas von der Straße entfernt gelegenes Haus in einem großen Garten. Es war ihr eigenes Heim, in dem sogar ein Badezimmer vorhanden war und ein für das geistliche Leben der Schwestern wichtiger Betsaal. Die gesunde Lage und eine durch mehrere Straßenbahnlinien bequeme Verbindung in alle Stadtteile zu den Hauspflegen werden in einer Schilderung hervorgehoben. Im folgenden Jahr konnten die Schwestern sogar schon das Nachbargrundstück mit einem zweistöckigen Haus erwerben und es weiter ausbauen. Die Hauptaufgabe sahen die Schwestern zunächst in der Hauskrankenpflege. Die vom Vorstand des Bethanien-Vereins formulierten Bedingungen zur Krankenpflege stellten grundsätzlich fest: 12

„Der Verein übernimmt sowohl in der Stadt [gemeint ist hier zunächst als „rechtliches Domicil des Vereins“ Frankfurt/M.], als auch auswärts Pflege in

12

JB 1887/88, S. 7.

Die Diakonissen: ihre soziale Lage und ihr Dienst

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Privathäusern bei Herren, Damen und Kindern ohne Unterschied der Religion.“13

Die Pflegebedingungen mussten mit dem Selbstverständnis der Diakonissen übereinstimmen. In den Bedingungen […] für die Aufnahme von christlichen Jungfrauen in den Bethanien-Verein wurde zunächst aus der Sicht der Leitung festgehalten, dass „der Bethanien-Verein sich zur Aufgabe macht, christlichen Jungfrauen, welche sich zum Diakonissendienst berufen fühlen, Gelegenheit zu geben, in diesem Berufe dem Herrn zu dienen.“ Das Aufnahmealter war auf 18 bis 36 Jahre begrenzt. Man nahm auch Witwen in dieser Altersspanne auf. Die Beschreibung des Verständnisses einer Diakonisse beginnt mit dem Absatz: „Da Diakonissen Dienerinnen Jesu Christi sein sollen, die sich aus Liebe zu ihm dem Dienst der Kranken widmen, so muß als erste Bedingung lebendige, gründliche Herzensbekehrung hervorgehoben werden. Eine christliche Jungfrau muß Jesum als ihren Heiland kennen, bei dem sie Vergebung der Sünden gefunden. Denn nur die können Ihm dienen, die Ihm angehören.“ 14

Die Liebe Christi soll sie dringen , der göttlichen Berufung sollen sie gewiss sein und die Dankbarkeit gegen ihren Erlöser soll sie zu diesem Beruf treiben. Neben der ausführlichen Darstellung über die pflegerische Tätigkeit sind die Bemerkungen über das christliche Zeugnis der Schwestern der Beachtung wert. Die geistliche Betreuung bekam einen anderen Akzent, als 1883 in der Kleinen Kirchenstraße eine äußerst bescheidene Poliklinik eröffnet wurde. Erstmals kamen die Hilfesuchenden in das eigene Haus der Schwestern und unter das Dach der Kirche. In einem Bericht wird erläutert: 15

„In religiöser Beziehung schien die Arbeit auch nicht vergeblich gewesen zu sein. Wir sind uns wohl bewußt, daß es unsere erste Aufgabe ist, die Kranken leiblich zu pflegen und alles zu thun, damit sie ihre gewünschte Gesundheit wieder erhalten. Dennoch durften wir in einzelnen Fällen erfahren, daß die Heilung der Seele der Genesung des Körpers nur förderlich war. Selbst solche, die sich wenig äußerten, nahmen andere Anschauungen über Gottes- und Nächstenliebe mit hinweg und kamen dem Heile näher.“16

13 14 15 16

Bedingungen zur Krankenpflege, In: JB 1883/84, S. 21. JB 1883/84, S. 22 f. 2. Korintherbief Kapitel 5, Vers 14. JB 1894/95, S. 8.

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Nicht nur reden – auch handeln: Die Mission der Bethanien-Diakonissen

In einer Dienstgemeinschaft mit Frauen, die selber einen ganzheitlichen Glauben, der Herz, Seele, Gemüt und Verstand bestimmt, leben möchten, wird das bekennende Zeugnis nicht fehlen dürfen. Aber gegen eine falsche Akzentuierung der Arbeit, als sei sie nur zu tun, um die Kranken mit der Frage des Glaubens zu konfrontieren, wurden die Schwestern durch ihre geistliche Leitung in eine anderen Richtung gewiesen. So bemerkte der Jahresbericht 1897: „Es lässt sich nicht anders erwarten, als daß in einer Diakonissenanstalt auch auf die Seelsorge bei den Kranken Wert gelegt wird. Doch ist es keine leichte Aufgabe, dieselbe mit treuer Gesinnung vor Gott und den Patienten, die sie wünschen, so zu üben, wie es den jeweiligen Umständen angemessen erscheint. Mancher Patient hat ein tiefes Verlangen nach derselben und begrüßt eine Unterredung über das Heil der Seele, sowie ein ernstes Gebet mit Freuden. […] Mancher Kranke lernt sich im Spiegel der göttlichen Wahrheit prüfen und seines Gottes gedenken, dessen Friedensgedanken er in den Tagen des zeitlichen und leiblichen Wohlergehens zu wenig Beachtung schenkte. Doch wird selbstverständlich die Seelsorge keinem Patienten in irgend einer Weise aufgenötigt.“17

Das wäre auch nicht angemessen gewesen, denn zu den im Krankenhaus Betreuten gehörte immer ein Anteil Katholiken und jeweils reichlich ein Dutzend Patienten, die als „israelitisch“ in die Patientenkartei eingetragen waren. Erstmals im Bericht von 1900 taucht das Stichwort „Krankengottesdienst“ auf. In dem Zusammenhang werden „der Gesang der Schwestern am Sonntag bei den Kranken, die täglichen Andachten, sowie auch die seelsorgerlichen Besuche, soweit dieselben gewünscht werden“ erwähnt. Man spürt der Berichterstattung die Zurückhaltung an, die weiß, dass der Patient zuerst um der leiblichen Gesundung willen das Krankenhaus aufgesucht hat. Aber die Schwestern waren in der Regel bereit, ihren Glauben unaufdringlich zu bezeugen. 18

3.

Die Diakonissen und die Armen

In den Bedingungen zur Krankenpflege von 1884 hieß es in § 7: „Arme werden unentgeltlich gepflegt.“ Auch weniger Bemittelten sollte geholfen werden, aber erst, nachdem sie Rücksprache mit der Oberschwester genommen haben und diese ihre Zustimmung gab. Zu dieser Zeit dienten die Schwestern noch 19

17 18 19

JB 1897/98, S. 12. Hervorhebung übernommen. JB 1900, S. 12. JB 1884, S. 22.

Die Diakonissen und die Armen

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überwiegend in der Hauspflege. Auch um sie davor zu schützen, ausgenutzt zu werden, wurde festgelegt: „Ihre Beschäftigung beschränkt sich ausschließlich auf die kranke Person und die Ordnung im Krankenzimmer.“ Nur für eine Gruppe wurden die Hilfsmöglichkeiten erweitert und ausdrücklich festgeschrieben: „doch mit Ausnahme der Armenpflegen.“ Über die am 1. Januar 1883 eröffnete „Poliklinik“ wurde berichtet: 20

„Die Sprechstunde wurde von etwa 180 Armen in Anspruch genommen. Die Sprechstunde von Herrn Dr. Aly, sowie andere Hilfeleistungen wurden unentgeltlich ertheilt. Durch uns übergebene milde Gaben waren wir im Stande, manchem Armen Verbandstoffe, auch in einzelnen Fällen Medicin und sonstige zum leiblichen Wohl nothwendige Gegenstände verabreichen zu können.“21

Der Pflegebericht für 1885/86 weist die verschiedenen Hauspflegen der Schwestern aus: 211 Personen wurden in 4.636 Ganzpflegen betreut. Es gab 94 Tagpflegen, 612 Nachtpflegen, 182 Besuchspflegen. Unter den Pflegebedürftigen waren 30 Armenpflegen an 359 Tagen. 1886 fassten die Diakonissen den Plan, eine Arbeit „unter den Gefallenen“ zu beginnen. Zwei Schwestern wurden dafür vorgesehen: Sophie Nußberger und Agathe von Lagerström. Dieser Dienst unter Prostituierten wurde von dem neuen Schwesternheim am Grindelberg aus aufgenommen. Das konnte jedoch nur kurze Zeit geschehen, da Schwester Agathe schwer erkrankte. Die Leitung der Schwesternschaft bedauerte diesen Rückzug sehr und schrieb: 22

„Wir wissen von dem Unglück, dem Elend und der entsetzlichen Versunkenheit dieser Armen genug, um es für unsere Liebespflicht zu halten, nach diesen unter dem Seelenmörder Gefallenen, durch die Lustseuche Gebundenen, die Retterhand auszustrecken.“ 23

Welche Früchte die Arbeit der beiden Schwestern in „diesem dunklen Nachtgebiet der Sünde“ gebracht hat, „wissen wir nicht. Wir haben fast gar keine gesehen; hoffen aber doch, daß nicht alles umsonst war.“ Die Bemühung, den Prostituierten nachzugehen, wurde nach kurzer Zeit wieder eingestellt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die jungen Diakonissen überfordert waren und dass sie wenig Aussichten sahen, zu den ihnen vorschwebenden Zielen zu gelangen. Sie waren weder auf diese Arbeit vorbereitet noch dafür ausgebildet. Schwester Sophie Nußberger arbeitete danach ausschließlich unter Ar24

20 21 22 23 24

JB 1884, S. 21. JB 1884, S. 8; auch: JB 1885, S. 10. JB 1886, S. 17. JB 1887, S. 16 f. Ebd.

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Nicht nur reden – auch handeln: Die Mission der Bethanien-Diakonissen

men und Notleidenden. Für die Kinder organisierte sie eine Sonntagsschule, der später eine Näh- und Strickschule angegliedert wurde. Bei besonderen Gelegenheiten wurden arme Kinder beschenkt. „Manche Gaben der Reichen flossen durch ihre Hände“ Armen und Notleidenden zu. In den kommenden Jahren unterstützte Schwester Sophie bei ihren Besuchen Arme auch mit Geld. Manche Familien versorgte sie mit Speisekarten, andere bekamen „durch ihre Vermittlung wöchentlich einmal Mittagessen.“ Es ist erstaunlich, wie die kleine, aber wachsende Schwesternschaft ihr Feld, auf dem sie diente, selbstlos ausweitete. 1890 wurde eine Gemeindeschwester nach Kiel gesandt. Es wurde später von ihrem „treuen Fürsorgedienst, der an armen Leuten und Trinkern geleistet wurde“ berichtet. „Man scheute sich nicht, sie zu waschen und zu kleiden und ihnen ihr verkommenes Heim wieder gemütlich zu machen.“ Wieder ging es um die Hinwendung zu den Ärmsten, wie es der Schwester in Hamburg in Fleisch und Blut übergegangen war. Im gleichen Jahr überbrückten zwei Schwestern im Altonaer MilitärLazarett einen Engpass, als dort eine Typhus-Epidemie ausgebrochen war. Im Herbst 1892 wurde in Rotterdam eine Diakonissenanstalt gegründet. Obwohl es in den Niederlanden keine methodistischen Gemeinden gab und es sich auch nicht um eine Einrichtung im Rahmen der methodistischen Mission handelte, war die Hamburger Leitung der Schwesternschaft bereit, zwei Diakonissen für mehrere Jahre dorthin zu senden, um den Aufbau dieser Einrichtung durch die Unterstützung der Ausbildung junger einheimischer Schwestern zu unterstützen. Die erfahrene Armenschwester Sophie Nussberger bekam im Juni 1892 Urlaub für eine Reise in die USA. In Brooklyn, N.Y., waren die deutschen Methodisten zu jener Zeit gerade dabei, ein erstes BethanienKrankenhaus zu gründen. Sie fanden aber keine erfahrene Schwester, die für diese Aufgabe geeignet war. Schwester Sophie erklärte sich bereit, Starthilfe zu leisten, und die Leitung des Bethanienwerkes in Deutschland und der Schweiz stimmte einer notwendigen Verlängerung ihres Urlaubs zu. Inspektor Carl Weiss (1843-1883) sah sich nicht in der Lage, die Diakonisse für die Arbeit in New York freizustellen. Er bot aber an, Schwester Myrtha Binder, die im Zürcher Zweig des Werkes als Oberschwester tätig war, in die Staaten zu entsenden, sofern sie zu einem Einsatz dort bereit sei. Schwester Myrtha nahm ihren Dienst am 1. November 1894 auf und löste Schwester Sophie 25

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JB 1888, S. 7. JB 1891, S. 10. Protokollbuch des Jugendbundes Kiel. Gemeindearchiv EmK Kiel. JB 1897, S. 10.

„Fabrikdiakonissen“: Fürsorgerisches Wirken

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Nußberger nach einem Jahr ab, so dass sie nach Hamburg zurückkehren konnte. Die Arbeitsweise in Brooklyn orientierte sich an den Hamburger Erfahrungen mit Missionsbesuchen und privater Krankenpflege in den Familien. Es dauerte nicht lange, bis Schwestern zur Ausbildung aus methodistischen Gemeinden in Schweden und Norwegen nach Hamburg kamen, um dort ausgebildet zu werden und danach in der Heimat die Arbeit mit Diakonissen zu organisieren. 29

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4.

„Fabrikdiakonissen“: Fürsorgerisches Wirken

Für die Teilnahme der Diakonissen an der Mission in der Hansestadt sind heute einige ungewöhnlich erscheinende Arbeitszweige bemerkenswert. Seit 1891 war Schwester Marie Müller viele Jahre hindurch als Fabrikdiakonisse tätig. Der Besitzer der Harburger Gummi-Kamm Compagnie Heinrich Traun (1838–1909) hatte die Bethanien-Leitung um die Bereitstellung einer Diakonisse gebeten. Die Leitung folgte seinem Wunsch. Die Schwester machte in den Häusern seiner Arbeiter Besuche, kümmerte sich um kranke Kinder und leidende Frauen, sie unterwies etliche auch in Handarbeiten. In den neunziger Jahren wurde von 600 Arbeitern in dem Traun’schen Betrieb berichtet. Im Jahr 1910 war die Zahl der Beschäftigten auf 2.400 angewachsen. Der erfolgreiche Unternehmer war angelsächsischen Anregungen folgend in sozialer Hinsicht seiner Zeit voraus. Er hatte bereits in den siebziger Jahren eine betriebliche Kranken- und Sterbekasse organisiert. In einem Bau- und Sparverein bemühte er sich darum, den Geringverdienenden zu Wohnungseigentum zu verhelfen. Um dieses Ziel zu erreichen, gründete er eine Gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaft. Weiter organisierte er ein Volksheim nach englischem Vorbild. Seit dem 1. Februar 1910 gehörte Heinrich Traun dem Hamburger Senat an. Die Weltoffenheit Trauns kam auch zum Ausdruck, als sein Sohn der erste deutsche Medaillienengewinner bei den Olympischen Spielen 1896 in Athen wurde. Im Umfeld einer zukunftsorientierten, international aufge29

30

H. Müller u.a. (Hg.), Geschichte der Ost-Deutschen Konferenz (in den USA), New York 1916, S. 179 f. Christian Golder, Die Geschichte der weiblichen Diakonie, Cincinnati, o. J., S. 308. Paul F. Douglass, The Story of German Methodism. Biography of an Immigrant Soul, Cincinnati 1939, S. 150. Lars Erik Nordby, Die Entstehung der Bethanieninstitutionen in Norwegen 1897–1920. In : Patrick Streiff, (Hg.), Der europäische Methodismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. EmK-Geschichte Monografien Bd. 52, o. O., 2005, S. 200–206.

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Nicht nur reden – auch handeln: Die Mission der Bethanien-Diakonissen

stellten und in sozialer Verantwortung gestalteten Unternehmenskultur wirkten Bethanien-Schwestern in einem späteren Sinne fast sozial-pädagogisch. In der ersten Phase der Verberuflichung sozialer Arbeit leisteten sie einen Beitrag im Umfeld der industriellen Gesellschaft, der im damaligen Kontext als modern und fortschrittlich bewertet werden muss. Eine ähnliche Arbeit wurde 1895/96 durch Schwester Anna Blickensdörfer in einer anderen Harburger Fabrik eines Ehepaars Meyer aufgenommen. Im Bethanien-Jahresbericht wurde über ihre und die Tätigkeit in der Firma Traun unter der Überschrift Diakonissen für Fabrikarbeiterfamilien berichtet: „Beide Schwestern besuchen und pflegen, wo es gewünscht wird, die erkrankten Arbeiter, nehmen sich in Krankheitsfällen der Frauen und der Arbeiter an und lassen sich namentlich die Pflege der alten Witwen und altersschwachen Arbeiter angelegen sein. Nebst der genannten Arbeit haben beide Schwestern noch eine Näh- und Strickschule, wo sie bei Unterweisung in Handarbeiten manch Saatkorn für die Ewigkeit ausstreuen können. Auf Weihnachten sind sie die Vermittlerinnen der Geschenke für die Witwen und Waisen und bringen dadurch manchen Sonnenstrahl in das Erdenleben ihrer Pflegebefohlenen. Beide Schwestern haben reichlich Gelegenheit, ein gutes Werk zu thun, und an beiden Orten scheinen die Vorstände genannter Häuser mit dieser segensreichen Einrichtung zufrieden zu sein. Soweit wir wahrnehmen durften, genießen die Schwestern auf ihren Arbeitsfeldern Achtung und Liebe. Wo sie einmal zur Pflege waren, wird ihr Wiederkommen gerne gesehen.“31

In jener Zeit konnte man sich noch nicht vorstellen, dass die Schwestern innerhalb der Firmen auch eine kritische Funktion wahrnehmen durften. In der damaligen Pflegeethik wurden sie nicht nur in Charakterbildung unterwiesen, sondern es wurden auch Höflichkeitsformen und Etikette eingeübt. Für die wenigen Bethanien-Schwestern, besonders im Blick auf die Armenschwestern und die Fabrikschwestern muss man davon ausgehen, dass sie sich einfach in die unerwarteten Situationen, die sie antrafen, hineinfühlen mussten. Im Vollzug ihrer Dienste waren und blieben sie Lernende. Die Leitung der Schwesternschaft schrieb: 32

„Eine tiefere Einsicht in die Bedürfnisse, gute Menschenkenntnis und eine brennende Liebe zu den Armen sind Eigenschaften, welcher sie besonders bedürfen. Sie sehen das Elend der Menschen in der krassesten Form, stoßen aber auch hie und da auf eine gewisse Verschlagenheit, durch welche sie versucht werden, sich einfach von solchen Personen zurückzuziehen. Eine dieser 31 32

JB 1896, S. 17. Marion Grossklaus-Seidel, Pflegeethik. In: Evangelisches Soziallexikon, Neuausgabe, Stuttgart 2001, S. 1226–1230.

Veränderungen durch die Sozialgesetzgebung

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Schwestern hat sich bei den Täuschungen, denen sie ausgesetzt war, daran erinnert, daß Gott in seinen Liebesbeweisen auch nicht ermüde, und bemerkte: ‚Gott versorgt so manchen Wicht, – es reut mich nicht‘.“33

Eine Schwester, die unter den Ärmsten tätig war, führte als Motivation dazu das biblische Vorbild an. Sie bemerkte: „Hat doch der Herr Jesus sich selbst der Armen angenommen“, darum sei es eine Freude, ausschließlich bei den Armen wirken zu dürfen. Ein anderes Tätigkeitsfeld eröffnete sich vermutlich in Verbindung mit den Fabrikschwestern. Ab 1897 begleiteten verschiedene Diakonissen Kinder in Ferienkolonien, wie es damals genannt wurde. In Duhnen, Bad Oldesloe, im Olgaheim am Timmendorfer Strand und in Krems waren zeitweise fünf Schwestern tätig, um erholungsbedürftige Kinder zu betreuen. Damit sind sie der späteren Freizeitgesellschaft weit voraus. Zwar gab es bereits Kinderheime, aber die eigentlichen Freizeitaktivitäten entstanden erst mit dem Anwachsen der Wandervogel-Bewegung knapp 20 Jahre später.

5.

Veränderungen durch die Sozialgesetzgebung

Ein Umbruch in der Finanzierung der Krankenhaus-Aufenthalte erfolgte in Verbindung mit den Bismarck’schen Sozialgesetzen. Aber sie boten, wie die Finanzentwicklung Bethaniens zeigt, noch längst keine umfassende soziale Sicherheit. In Hamburg trat die gesetzliche Versicherung für Dienstboten 1890 in Kraft. Die Bethanien-Statistik für 1893 weist aus: 16 Patienten 1. Klasse mit 400 Pflegetagen 28 Patienten 2. Klasse mit 588 Pflegetagen 350 Patienten 3. Klasse mit 11.579 Pflegetagen, davon wurden 162 Patienten mit 4540 Pflegetagen mit der Dienstbotenkasse abgerechnet und 44 Patienten mit 2.242 Pflegetagen mit der Allgemeinen Armenanstalt. Diese Übersicht zeigt, dass die Schwestern sich überwiegend der ärmeren Bevölkerung annahmen. Es scheint, als habe die finanzielle Beteiligung der Dienstbotenkasse mit den neu erlebten Abrechnungsverfahren auch die Initiative ausgelöst, sich an die viel ältere Allgemeine Armenanstalt zu wenden, um sich dort neue finanzielle Ressourcen zu eröffnen. Das Sozialversicherungswesen 34

33 34

JB 1897, S. 19. JB 1894, S. 7 f.

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Nicht nur reden – auch handeln: Die Mission der Bethanien-Diakonissen

veränderte die Lage nachhaltig. Jetzt konnte das Haus Pflegesätze abrechnen und zwar: 2 Mark pro Tag bei der Dienstbotenkasse, 1,50 pro Tag bei der Allgemeinen Armenanstalt, die 1 Mark pro Tag für Kinder zahlte. Nach den Berechnungen der Krankenhausleitung entstanden „pro Pflegetag mindestens Mark 2,50 bare Auslagen […] ohne die Arbeit unserer Schwestern in Anschlag zu bringen.“ Wenn man dazu die Arbeit der Armenschwester berechnet, die einzig zu diesem Dienst der Liebe beauftragt und freigestellt war, dann kann man sich vorstellen, wie groß das Defizit in der Kasse war. Es wurde nur gering gehalten, weil die Schwestern sich mit einem sehr einfachen Lebensstandard zufrieden gaben und sie für den Rest andere Hilfsquellen erschlossen haben. 35

Eine der beliebtesten Bereiche: Die Station mit den Kindern

Die Schwestern haben besonders ihre Dienste bei den Armen als eine fundamental christliche Arbeit verstanden. Das hieß auch in anderer Beziehung: sie hatten ein felsenfestes Vertrauen, dass sie zu diesem Dienst berufen waren. Mit dieser Berufung zum Dienst an den Armen verbanden sie eine glaubensstarke Gewissheit, dass der Gott, der sie in diese Aufgabe berufen hat, ihnen auch die wirtschaftlichen Grundlagen zur Ausführung dieses Dienstes schenken wird. Der gewisse Glaube war die Grundlage ihrer Mission in der Großstadt. Und wenn sie an eine der Türen klopften, hinter denen die Armut ein Zuhause hatte, dann taten sie es in der Gewissheit: das muss nicht so bleiben. Gott will nicht das Elend und die Not der Armen. Er dachte in seiner Barmherzigkeit nicht in Ständen, in die er die Menschen für immer eingefügt hatte, wie es ein den Methodisten fremder theologischer Ansatz auswies. Der beru35

JB 1895, S.10.

Typhus und Cholera in der Stadt

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higte sich mit der Vorstellung, dass wer arm ist, eben darin seine Bestimmung hat und sich genügen lassen solle. Methodistische Theologie wusste von Anfang an, was Bildung in sozialer Hinsicht bewirken kann. Gleichzeitig wussten die Schwestern aus ihrer eigenen Erfahrung, dass ein bewusster Glaube in der Nachfolge Jesu Christi das Leben tiefgreifend verändert. Der Glaube prägt die neuen Lebensinhalte, er verändert zwischenmenschliche Beziehungen, stellt auch in eine neue Lebensgemeinschaft, denn ohne Gemeinde hat der christliche Glaube keinen ihm angemessenen Raum. Alles beruht auf einer veränderten ethischen Grundlage. Von daher betrachtet gab es für die Schwestern eine Sicht, die Einsamkeit, Oberflächlichkeit und manche Form der Armut mit der Glaubenslosigkeit ursächlich verbunden sah. Darum war ihr Missionsverständnis ein ganzheitliches. Mission war für sie immer zuerst Diakonie als Gottes barmherzige Zuwendung durch der Schwestern Hände, aber sie war nicht loszulösen von dem befreienden Wort der Gnade, die sie selber lebten, weil sie davon erfüllt waren. Die knappe Übersicht über die Dienstbereiche und die Grundlagen des Dienstes der Schwestern zeigt, dass die Arbeit auf zwei Säulen ruhte: Die Diakonissen haben aus christlicher Nächstenliebe selbstlos und hingebungsvoll in spartanischem Lebensstil und in Solidarität mit den Armen gelebt. Ohne ihre Bereitschaft zur Armut aus Liebe wäre die so dringend notwendige Arbeit nur ein Strohfeuer gewesen. Die andere Säule baut sich gerade in Hamburg auf aus Spenden und reichlichen freiwilligen Gaben von Freunden und Förderern der Bethanien-Diakonissen. Bevor die Aufmerksamkeit auf die Wirksamkeit unter den Reichen gelenkt wird, ist noch die Aufmerksamkeit auf das Wirken der Diakonissen während der Typhus-Epidemie 1886/87 und der schrecklichen Cholera-Epidemie 1892 zu lenken. 36

37

6.

Typhus und Cholera in der Stadt

Schon während der Typhus-Epidemie waren alle Schwestern, es waren damals reichlich 20, „fast ohne Unterbrechung der ganzen Zeit über in Thätigkeit“. Noch härter war der Dienst der Schwestern fünf Jahre später während 38

36 37

38

Manfred Marquardt, Praxis und Prinzipien der Sozialethik John Wesleys, Göttingen 20073, S. 59–84. Nicht zufällig trägt der letzte Grundriss einer Theologie der Evangelisch-methodistischen Kirche den Titel „Gelebte Gnade“, verfasst von Walter Klaiber und Manfred Marquardt, Göttingen 20062. JB 1887, S. 16.

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Nicht nur reden – auch handeln: Die Mission der Bethanien-Diakonissen

der Cholera-Epidemie 1892. Die Belastung ging bis an die Grenze ihrer Kraft. Eine der Schwestern, Lina Richert, wurde selber durch diese schreckliche Seuche dahingerafft. Andere waren dem Tode nahe, besonders die Oberin Schwester Katharina Stoll. Vielleicht war der Einsatz der Diakonissen während der Typhus-Epidemie eine Vorbereitung auf die vernichtende CholeraKatastrophe, die in der Stadt hauste und ihren Höhepunkt im August und September 1892 erreichte. Bethanien entsandte 13 Schwestern in die Städtischen Krankenanstalten, wo sie unter den schwer Erkrankten tätig waren. In den eigenen Krankenbetten des Schwesternheims wurden nichtinfizierte Kranke aus den Städtischen Anstalten untergebracht, um weitere Krankenhausbetten frei zu bekommen für die notwendige isolierte Pflege von schwer Erkrankten. Die anderen 12 Bethanien-Diakonissen waren in der Privatpflege unterwegs, um ebenfalls von der Seuche Befallenen beizustehen. Oft haben sie am Tage drei, vier oder mehr Kranke in ihren Häusern gepflegt. Darunter waren immer wieder Sterbende, die sich als eine schwere seelische Last auf das Herz und Gemüt der Schwestern legten. Alle Dienste in dieser Katastrophenzeit wurden unentgeltlich geleistet. Das schlug sich in der Kasse der Schwesternschaft nieder. Selbst statistisch war die Zahl der Hauspflegen nicht mehr zu erfassen, wie es in einer Fußnote des Berichtes ausdrücklich vermerkt wurde. Nach dem Ende der Katastrophe, über die an anderer Stelle Einzelheiten erfasst sind, übergab die Stadt Hamburg der Schwesternschaft einen Dank und schrieb dazu: 39

„Das Krankenhauskollegium der Freien und Hansestadt Hamburg dankt der Diakonissenanstalt Bethanien für die selbstlose und hingebende Hilfe, welche die Schwestern während der Choleraepidemie des Jahre 1892 in den hamburgischen Heilanstalten geleistet haben. Hamburg, im Oktober 1892. Der Präses: Senator Dr. Lappenberg.“40

Die Inanspruchnahme des Dienstes der Bethanien-Schwestern zeigte, dass sie ein Teil des städtischen Sozialnetzes geworden waren, auch wenn durch den Senat lediglich jene Hilfe gewürdigt wurde, die sie in den staatlichen Einrichtungen geleistet hatten. Aber auch das war für die Diakonissen und die Kirche, der sie sich verbunden wussten, wichtig, denn eine öffentliche Ehrung war ihnen vorher noch nie widerfahren. 39 40

JB 1892, S. 8 f; 1892, S. 16; 1893, S. 7. August Rücker, Im Dienst der Liebe und Barmherzigkeit. 1874–1949. Fünfundsiebzig Jahre Diakonissendienst des Bethanien-Vereins. Diakonissen-Anstalt Bethanien, Frankfurt 1949, S. 23.

Die Diakonissen und die Reichen

7.

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Die Diakonissen und die Reichen

Wie die Armenschwester sich ausschließlich auf den Dienst an den Randgruppen der Gesellschaft konzentrierte, so hatte Schwester Wilhelmine Guntermann die Aufgabe, jährlich Spenden bei den Wohlhabenden zu erbitten, damit die Arbeit der Schwestern unter den Armen überhaupt erst möglich war. An welche Türen klopfte Schwester Wilhelmine, um Gaben für die Arbeit zu erbitten? Es gab eine Schlüsselerfahrung, deren Bedeutung die Schwestern und die Mutterhausleitung erst im Rückblick erkennen konnten. In einer Hamburger Familie erkrankte der vierjährige Sohn an Diphtherie, einer damals verbreiteten, gefährlichen Infektionskrankheit. Der Hausarzt hatte empfohlen, eine sachkundige Pflegerin ins Haus zu holen. Als der Vater des Kindes bei der Suche nach einer Pflegerin keinen Erfolg hatte, begab er sich zu den Bethanien-Schwestern, die noch unter den erbärmlichen Bedingungen in St. Georg wohnten. Er traf bei seinem Besuch nur eine Schwester an. Die erholte sich gerade von ihrer eigenen Diphtherie-Erkrankung. Die Schwester spürte die Sorge des Vaters und übernahm die Pflege seines Sohnes. Der Junge wurde gesund. Das Glück der Eltern war groß. Durch diese Erfahrung entstand eine folgenreiche Beziehung zwischen dem Hamburger Bethanienwerk und der betreuten Familie. Die Schwester hatte nicht geahnt, dass sie in das Haus des Bankiers Johann Berenberg-Gossler (1839–1913) gerufen worden war. Es muss der vierjährige Cornelius, später Freiherr von Berenberg-Gossler (1874–1953) gewesen sein, den sie gesund gepflegt hatte. Der Hamburger Bankier Berenberg-Gossler führte die älteste Privatbank Deutschlands. Er hat in der Wirtschaftsgeschichte der Stadt Hamburg seinen Platz. Der frühere BethanienKlient wurde nicht nur Erbe der Bank, sondern er wirkte – wie sein Vater – auch gesellschaftlich und politisch in der Hansestadt. Man kann die von dem Banker in den folgenden Jahren angestoßenen Aktivitäten zugunsten von Bethanien nur als einen Ausdruck des Dankes für das Wirken der Diakonisse verstehen. Bevor sich Berenberg-Gossler für die Unterstützung der Diakonissen einsetzte, wollte er erst geklärt wissen, wer eigentlich hinter dem Bethanienwerk stand. Heinrich Mann (1844–1920), Mitglied in der Leitung des BethanienVereins, hat das Ergebnis eines klärenden Gesprächs zusammengefasst. Er zeichnet mit einfachen Worten ein Bild über die Lage der Schwesternschaft und die Stellung der hamburgischen Öffentlichkeit gegenüber dem Verein 41

41

Zu Heinrich Mann: Karl Heinz Voigt, BBKL Bd. 5 (1993), Sp. 682–684.

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Nicht nur reden – auch handeln: Die Mission der Bethanien-Diakonissen

und stellt in dem Zusammenhang dessen Verbindung mit der methodistischen Kirche in folgenden Sätzen dar: „In Hamburg machte sich […] je länger je mehr das Bedürfnis nach einem eigenen Heim für die Schwestern geltend. Viele durch die treue Arbeit der Diakonissen gewonnene Freunde wären nun bereit gewesen, das begonnene Werk mit den nötigen Mitteln zu unterstützen, wenn nicht die konfessionelle Frage dazwischen getreten wäre. Wer ist der Bethanien-Verein? Ist er nicht die Methodistenkirche? Viele warnten vor der Unterstützung derselben. Den Sekten Vorschub leisten – das ging nicht. Der warme Freund des jungen Werkes, Herr B.[erenberg] G.[ossler] bat um eine Unterredung mit dem Präsidenten des Vereins. An dieser Unterredung, welche auf dem Bureau des Herrn B.[erenberg]. G.[ossler] stattfand, nahm auch unser Inspektor F. Eilers42 und das Vorstandsmitglied C. Schell teil. Die Hamburger Freunde wollten wissen, welche Stellung der Bethanien-Verein zur Methodistenkirche einnehme. Der Präsident gab hierauf folgende Erklärung ab: Wir alle im Vorstand sind Prediger der Bischöflichen Methodistenkirche und arbeiten von Herzen in derselben. Wir sind durch sie zur Erkenntnis der Wahrheit gekommen und lieben sie. Ebenso sind unsere Schwestern alle Mitglieder dieser Kirche und wollen keiner anderen angehören. Aber der Verein als solcher steht nicht unter der offiziellen kirchlichen Leitung. Die Jährliche Konferenz hat es abgelehnt, die Diakonissensache als Kirchensache zu betreiben. Der Bethanien-Verein lehnt sich nun an diese Kirche an, ist aber ein Verein für sich, ganz wie das bei anderen Diakonissen-Anstalten in Deutschland, die sich an die Staatskirchen anlehnen, auch der Fall ist. Die Hamburger Freunde bestätigten hierauf, daß sie mit dieser abgegebenen Erklärung zufrieden seien und versprachen in weitherziger Weise dem Werke ihre Unterstützung.“43

Diese Erklärung hat ganz unterschiedliche Facetten. Sie zeigt, wie viel anders ein methodistischer Verein um seine Akzeptanz ringen musste. Nach den Darlegungen über den kirchlichen Status der Schwesterngemeinschaft wird einerseits die Fliedner’sche Linie als am Rande der verfassten Kirche stehend erkennbar, andererseits ist zugleich deutlich, dass es zwischen den Kirchen deutliche Unterschiede gibt. Niemals hätte Theodor Fliedner, der Kaiserswerther Mutterhausgründer, erst seine konfessionelle Zugehörigkeit offen legen müssen. Andererseits muss man sehen, dass die methodistische Kirche zu jener Zeit noch gar keinen Rechtsstatus hatte und daher kaum die Voraussetzung für die formale Trägerschaft einer derartigen diakonischen Institution mitgebracht hätte. 42 43

Zu Friedrich Eilers: Karl Heinz Voigt, BBKL Bd. 17 (2000), Sp. 305–308. Christian Golder, Die Geschichte der weiblichen Diakonie, Cincinnati 1901, S. 122 f.

Basare zu Bethaniens Wohl

129

Nur wenige Namen der „Hamburger Freunde und Gönner“ sind bekannt. Hervorzuheben ist der Bankier Johann Berenberg-Gossler mit seiner Frau, aber auch Fabrikbesitzer Schmilensky und Frau werden genannt.

8.

Basare zu Bethaniens Wohl

Als die Schwestern zum 1. Januar 1883 vermutlich in der Kleinen Kirchenstraße die erste Poliklinik eröffneten, hatten sie noch keine Freunde und Gönner. Es waren Arme, die sich zur kostenlosen Behandlung ins Haus trauten. Vielleicht war es diese bescheidene Initiative, die den Anstoß gab, bessere Voraussetzung für die Arbeit zu schaffen. Es ist kaum anders vorstellbar, als dass die Familie Berenberg-Gossler nach dem erwähnten klärenden Vorgespräch die Sache ins Rollen brachte. Es organisierte sich ein Komitee von 30 Damen, um einen Wohltätigkeitsbasar zur Schaffung eines Schwesternheims zu veranstalten. An drei Tagen boten diese Damen in dem berühmten Konzertsaal von Sagebiel, der zu diesem Zweck kostenlos zur Verfügung stand, ihre Arbeiten an. Sie hatten sie selber gefertigt und andere Bekannte zu entsprechenden Spenden ermutigt. Der Basarerlös reichte als finanzielle Grundlage für den Kauf eines dringend benötigten Schwesternheims. Bereits am 11. März 1886 war es soweit. Für 43.000,00 Mark Basarüberschuss konnte das bereits erwähnte Haus mit Souterrain und drei weiteren Ebenen sowie einem Garten am Grindelberg 15a erworben werden.

Das erste Schwesternheim Bethanien am Grindelberg 15a, erworben 1886.

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Es wurde eingetragen unter dem Namen Schwesternheim Bethanien, Diakonissenanstalt des Bethanienvereins. Die Schwestern legten sich hinter dem Haus einen Gemüse- und Obstgarten mit einem Hühnerhof für den eigenen Bedarf an. Vielleicht drückte sich in dieser Aktivität eine heimliche Sehnsucht und Erinnerung an die Kindheit und Jugendzeit auf dem Lande aus, die sie mit dem Eintritt als Diakonisse gegen ein Leben in der pulsierenden Großstadt mit ihren Nöten eingetauscht hatten. Bereits 1887 wurde das Grundstück durch den Kauf des Nachbarhauses erweitert. Um mehr Platz zu schaffen, wurde auf das früher erworbene Haus außerdem eine weitere Etage aufgestockt. Die wachsende Schwesternschaft brauchte Platz. Jetzt standen 35 Betten für die anspruchslose und dienstwillige Gemeinschaft zur Verfügung. Wieder hatten Gönner geholfen, die notwenigen 21.000,00 Mark aufzubringen. Diesmal wurde auch der Ertrag eines Wohltätigkeitskonzertes gespendet. Das Ergebnis von 8.486,95 Mark reichte fast ganz aus, um den Erweiterungsbau zu finanzieren, der nur wenige Mark mehr kostete. Die Schwestern und die Leitung der Diakonissenarbeit waren sich darüber einig: Hier hatte Gott selber seine Hand im Spiel, damit die Schwestern weiterhin „von Krankheit und Not heimgesuchte[n] Familien ohne Unterschied der Religion Hilfe bieten“ konnten. Bereits 1888 wurde über die erneute Erweiterung der Anstalt nachgedacht. Im Vorfeld konnte man lesen: „Durch das rühmliche Wohlwollen, das seit Jahren unsere Freunde in Hamburg uns entgegengebracht haben, ist uns auch diesmal die Aussicht gegeben, den gefassten Plan ausführen zu können.“ Jetzt waren es mehr als 50 einflussreiche Familien, die ihre Unterstützung für einen Verkaufsbasar zugesagt hatten. In dem neuen Projekt ging es um einen Krankenhausneubau. Dafür wurde durch den Senat, in dem man inzwischen einige Freunde hatte, der Grund und Boden in der Martinistraße bereitgestellt. Zuschüsse für den Bau und die Einrichtung gab es damals nicht. Der Senat zeigte sein weiteres Interesse durch die Begrüßungsrede anlässlich des Basars, den der unter der Initiative der Berenberg-Gosslers inzwischen weiter gewachsene Freundeskreis Bethaniens vorbereitet hatte. Senator Johann Heinrich Burchard (1852–1912) eröffnete den – wie er ihn nannte – „Bethanien-Bazar“ mit einer Ansprache. Das hatte es noch nicht gegeben: Ein Hamburger Senator im Kreise von Metho44

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JB 1885, S. 9 u. 1886, S. 13–15. JB 1887, S. 16. JB 1888, S. 6 f. Der vollständige Text in JB 1889, S. 7–9.

Basare zu Bethaniens Wohl

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disten. Im Hintergrund scheint wieder Berenberg-Gossler die Fäden gezogen zu haben. Der Senator lobte die Damen, die den Basar auszurichten bereit waren und die 48

„Zeit und Mühe nicht gescheut haben zur Förderung unserer Sache, unserer guten Sache. Denn es handelt sich darum, die Schwestern von Bethanien in ihrem frommen, stillen Wirken zum Besten leidender Mitmenschen thatkräftig zu unterstützen.“49

Senator Burchard sah in den Bethanien-Schwestern „evangelische Diakonissen“. So verstanden sie sich selber auch, aber das stimmte nicht unbedingt mit der öffentlichen Meinung und einer Einschätzung durch die allgemeine kirchliche Meinung überein.

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Der Vater des Senators Burchard war von Bremen nach Hamburg gezogen, um 1853 als Teilhaber in das Handelshaus Johann Berenberg, Gossler & Co einzutreten. Ebd., S. 7.

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Nicht nur reden – auch handeln: Die Mission der Bethanien-Diakonissen

Der reich beschickte Basar erbrachte 40.000,00 Mark, die dem Zweck der Errichtung eines eigenen Krankenhauses zur Verfügung standen. Noch bestand der Plan, es „zum Zwecke der Ausbildung von Schwestern für die Privat-Krankenpflege“ zu errichten. Der Senat stellte, wie bereits bemerkt, den nötigen Baugrund zur Verfügung. Während der Bauzeit brach die CholeraEpidemie aus, die nun alle Aufmerksamkeit der Diakonissen in Anspruch nahm. Die Mutterhausleitung wurde von der Aufsicht entlastet, weil der in Bremen wirkende methodistische Prediger Paul Gustav Junker (1854–1919) diese Aufgabe übernahm. Zum Richtfest am 19. November 1891 waren Senator Friedrich Alfred Lappenberg (1836–1916), der an Senator Burchards Seite auch im Krankenhauswesen tätig war, Senatssekretär Dr. Zellmann und der 1. Vizepräsident der Bürgerschaft, Herr Bankier Hinrichsen, der – weil er Jude war – nicht Senator werden konnte, vertreten. Er nahm als „der warme Freund unseres [Bethanien-]Vereins“ neben vielen anderen Gästen an der Feier teil. Nach einem weiteren Basar, der nun 50.000,00 Mark erbrachte, war auch die Finanzierung der Inneneinrichtung sichergestellt. Die Liegenschaft am Grindelberg konnte für 67.000,00 Mark verkauft werden. Damit waren die finanziellen Voraussetzungen für einen guten Übergang geschaffen. Am 14. September 1893 konnte schließlich unter der wehenden Flagge die Einweihung des eigenen Krankenhauses an der Martinistraße gefeiert werden. Damit begann ein neues Kapitel für die Schwesternschaft. Die Dienste verlagerten sich von der Hauspflege immer mehr ins Krankenhaus. Die Ausbildung der Schwestern verbesserte sich von Jahr zu Jahr. Die Sozialgesetzgebung verschob die Verantwortung für das Wohl aller Bürger von den Wohlhabenden immer mehr auf den Staat und auf die Solidarkassen von Arbeitern und Arbeitgebern. Der Staat sah auch immer mehr seine Pflicht darin, entsprechende Vorsorge für die Betreuung der Notleidenden, Kranken und Armen zu treffen und hatte darum ein Interesse daran, entsprechende Einrichtungen, die öffentliche Aufgaben wahrnahmen, auszustatten. Dieser Prozess interessiert hier nur am Rande. 50

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Zu Junker: Karl Heinz Voigt, BBKL Bd. 3 (1992), Sp. 880 f.

Basare zu Bethaniens Wohl

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Das neue Bethanienkrankenhaus in der Martinistraße

Wichtiger ist, dass mit der stillschweigenden Verlagerung der diakonischen Aktivitäten aus den Häusern von Armen und Reichen sich auch die missio-

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narischen Aktivitäten änderten. In den Häusern, die von den Schwestern besucht wurden, hinterließen sie in der Regel auch christliche Kleinschriften, manchmal erzählten sie von ihren eigenen Glaubenserfahrungen und wenn es die Situation gebot und es angebracht war, sprachen die Diakonissen auch ein frei formuliertes, der Situation angemessenes Gebet. Es ist gewiss, dass sie in ihrer kleinen Kapelle, die sie schon in ihrem Schwesternheim am Grindelberg eingerichtet hatten, in ihren Gebetsstunden auch für die Stadt, die Menschen und für jene Patienten beteten, die sie besuchten und betreuten. Es ist auch nicht von ungefähr, dass im Schwesternheim und in der Region Eppendorf zunächst zwei Sonntagsschulen und dann eine methodistische Gemeinde entstanden. Die unaufdringliche und ganzheitliche Mission der Schwestern änderte sich mit dem Wandel ihres Tätigkeitsfeldes. Im Laufe der Zeit scheint die diakonische Herausforderung so groß geworden zu sein, dass die Schwestern sich immer mehr auf das Krankenhaus konzentrierten. Unbemerkt wurde aus der ganzheitlichen Mission, die Diakonie und Kirche zusammenband, eine Aktivität, die zwar Verkündigung und Diakonie zusammenhielt, nun jedoch in getrennten Häusern und Organisationen. Von Anfang an haben die Verantwortlichen im Vereinsvorstand sich für das Wohl der jungen Diakonissen eingesetzt. Dazu gehörte die RundumVersorgung für die Schwestern in gesunden und kranken Tagen sowie im Alter. Die Freiheit, sich auch als Diakonisse für einen anderen Lebensentwurf zu entscheiden, wurde den Schwestern in ihrem Statut ausdrücklich zugesagt.

Krankenhaus mit einem Windrad zum Betreiben einer Pumpe.

Es hieß darin: „Jeder Diakonisse steht der Austritt aus dem Verein frei.“ Es gab spezielle Rechte und Pflichten der Schwestern, die man dem Hinweis entnehmen kann: 51

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Statut des Bethanienvereins. In: JK 1884, S. 18–20.

Die Schwestern in der Stadt und in der Kirche

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„Die Diakonisse muß jeden Tag sich eine Stunde in frischer Luft bewegen; auch soll es ihr [während der Hauspflegen] unverwehrt sein, in der Regel sonntäglich einmal den öffentlichen Gottesdienst zu besuchen. Sie nimmt ihre Mahlzeiten in Gesellschaft der Familie ihres Pflegebefohlenen oder allein ein.“52

Es gab keine Pflicht zum sonntäglichen Gottesdienstbesuch. Der ökumenischen Haltung im Methodismus entspricht es, wenn es hinsichtlich des Gottesdienstbesuchs keine Einschränkung auf eine bestimmte Konfession gab, so dass die Schwestern die der betreuten Familie nächstgelegene Kirche aufsuchen konnten. Eine besondere Freude war es für die Schwestern, als der Hamburger Senat und „viele edle Freunde“ die Voraussetzung für den Bau eines Schwesternerholungsheims am Rande von Hamburg im Stadtteil Volksdorf schufen. Der Senat stellte wieder das Grundstück zur Verfügung. Eine Sammlung erbrachte 83.769,86 Mark, so dass das Erholungsheim mitsamt der Einrichtung schuldenfrei erstellt wurde. Die Einweihung erfolgte im Frühjahr 1903. Nun konnten die Schwestern nicht nur eine damals keinesfalls gesetzlich verankerte „einmalige Erholungszeit“ genießen, sondern auch im nahen Volksdorf Erholung und Entspannung nach ihren schweren Einsätzen im Krankenhaus und in der Hauspflege finden.

9.

Die Schwestern in der Stadt und in der Kirche

Die diakonische Arbeit durch die Schwestern, zunächst unter dem Dach der Gemeinde, brachte für die kleine, einflusslose Kirche ungeplant einen tiefgreifenden Umschwung mit sich. Die gesamte kirchliche Arbeit gewann durch die Diakonissen eine Ausstrahlung in viele Häuser hinein. Überall in Deutschland waren die Mitglieder der sich bildenden Gemeinden einfache Männer und Frauen. Anders als andere Freikirchen erreichten sie kaum Kreise des Bürgertums und Mittelstands oder gar Adelige, obwohl gerade unter denen der Typ erwecklicher Frömmigkeit nicht ohne Einfluss war. Die diakonische Arbeit vorzugsweise unter den Armen entsprach englischer methodistischer Tradition. Aber besonders dieser Teil der Großstadt-Bevölkerung scheint am Ende des 19. Jahrhunderts bereits mit Fragen der Kirche und der Religion abgeschlossen zu haben. Die Arbeitervereine und die Arbeiterparteien fanden unter ihnen mehr Aufmerksamkeit als die Kirchen. Eine Differenz 52

Bedingungen zur Krankenpflege. In: JB 1884, S. 21 f.

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Nicht nur reden – auch handeln: Die Mission der Bethanien-Diakonissen

zwischen den Freikirchen und den damaligen Staatskirchen scheinen die Menschen kaum wahrgenommen zu haben. Kirche war für sie Kirche, wenn nicht die Minderheiten mit der gesteuerten öffentlichen Meinung sogar als gefährliche Sekten angesehen wurden, die besser zu meiden waren. Um öffentlichen Einfluss auszuüben, waren die methodistischen Gemeinden zu klein. Alles konnte nur über die persönliche Ebene laufen. Da spielten die Hauspflegen eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Vertrauensbildung. In den verschiedenen Jahresberichten scheint gerade bei den Hamburger Bethanien-Diakonissen durch die Bedingungen ihres Einsatzes und die Entwicklung ihrer Tätigkeit zwischen den Hilfeleistungen unter den Ärmsten einerseits und in den Häusern von Wohlhabenden andererseits ein besonderer Aspekt durch. Sie sahen sich als Mittler zwischen reich und arm. Die Arbeiter und die Bürgerlichen hatten kaum Berührungspunkte. Die Schwestern kamen selber weitgehend aus einfachen sozialen Verhältnissen und konnten ohne Vorbehalte mit jenen kommunizieren, die am unteren Rand der Gesellschaft ihr Leben durchbringen mussten. Die schlichte soziale Herkunft der Schwestern sagt nichts über ihre Begabung, wie die Entwicklungen ihrer Biographien an den wachsenden Aufgaben, denen sie sich stellten, zeigen. Aus ihrem Kreis erwuchsen herausragende Oberinnen und Oberschwestern mit Führung- und Leitungsfähigkeiten, die in ihrer früheren Umgebung vermutlich nicht entdeckt und auch nicht entwickelt worden wären. Durch die geringen Bildungschancen blieben im 19. Jahrhundert viele Jugendliche weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Die aus einfachen Verhältnissen kommenden Diakonissen hoben sich aber zugleich deutlich von den Armen ab, auch wenn sie selber in der Frühzeit ihrer Schwesternschaft ärmlich leben mussten. Sie hatten ein Diakonissenkleid, das es ihnen leichter machte, auch in den Kreisen des Bürgertums akzeptiert zu werden. 53

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Die gleiche Beobachtung kann man bei der Mehrzahl der methodistischen Prediger jener Zeit machen.

Die Schwestern in der Stadt und in der Kirche

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Hamburger Bethanien-Diakonissen am Ende des 19. Jahrhunderts

Auch wenn Theodor Fliedners ursprüngliche Idee, durch die DiakonissenTracht seine Schwestern den verheirateten Bürgersfrauen gleichzustellen, wohl vorüber war, so waren die Diakonissen auch durch ihr Erscheinungsbild doch respekteinflößende Persönlichkeiten, die sich in die Zeit zu schicken wussten. Die Hamburger Bethanien-Schwestern nahmen in ihrer Stellung zwischen den sozialen Schichten eine eigenartig vermittelnde Position ein. Sie empfingen von den Wohlhabenden nicht nur Gelder zur Verwendung für Arme. Die frühen Spendenlisten weisen aus Kreisen, die keiner methodistischen Gemeinde angehörten, aus: Fräulein Ortmann stiftete 1 Paar Beinkleider, die reiche Frau Tawcus 1 Unterrock und eine Bibel, Frau Großmann 1 Paar Handschuhe, die Bankiersfrau Berenberg-Gossler 1 Regenschirm, Kapitän Lariby 1 Lampe und 1 Weckuhr, Kapitän zur See Struben spendete schließlich 1 Rosshaarmatratze mit Keil. Die Spendenliste von 1883/84 könnte noch weiter verlängert werden. Diese Geschenke versetzten die Schwestern in die Lage, hier und da weiterzugeben, was sie andernorts empfangen hatten. Die Gaben der Gutbetuchten durch die Hände der Schwestern an die Armen erinnern an eine Aufforderung, die in der christlichen Urgemeinde ihre Kreise zog: „Euer Überfluss diene ihrem Mangel“. So sollte unter den ersten Gemeinden ein Ausgleich geschehen. Nichts haben die Schwestern lieber getan, als an solche biblischen Anweisungen anzuknüpfen; nicht immer mit hehren Worten, sondern auch mit den Gaben und mit einem Herzen der Hingabe an Gott und Menschen. 54

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JB 1883, S. 15 f.

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Nicht nur reden – auch handeln: Die Mission der Bethanien-Diakonissen

Betrachtet man die Dienste der Hamburger Bethanien-Diakonissen im Zusammenhang mit der Mission der methodistischen Kirche, dann ist der durch sie eingeleitete Wandel unübersehbar. Die kleine Gemeinde in der St. Georger Kirchenstraße kam aus ihrer Isolierung heraus. Die gemeinsam verantwortete Verkündigung und Diakonie eröffnete Wege zu den Menschen, die ohne die Diakonissen verschlossen geblieben waren. Jetzt begann die Gemeinde zu wachsen. Niemand, der sich in der christlichen Tradition auskennt, wird überrascht sein. Mission ist eben mehr als die regelmäßige Predigt, als das Beten der Gemeindeglieder und als das Singen schöner Choräle oder später der volkstümlichen Erweckungslieder. Eine missionarische Gemeinde lebt wie in einem Dreieck, denn Mission als Zeugnis des Glaubens entfaltet sich (1) in der befreienden Verkündigung des Evangeliums, dem Kerygma als öffentlicher Proklamation des Anbruchs der Herrschaft Gottes, (2) in der neuen Gemeinschaft von Glaubenden und Suchenden, in der die biblische Botschaft der Liebe im Sinne biblicher Heiligung ihre Gestalt sucht und in der das neue Leben in der Nachfolge zugleich geformt und präsent wird, und schließlich (3) in dem hingebenden Dienst, der vorzugsweise den Armen als dienende Liebe gilt. Neben der Echtheit ist für die Wirkung des umfassenden missionarischen Zeugnisses immer auch die gesellschaftliche Akzeptanz ein Faktor, der den Einfluss und die Wirkung, die letztlich Gottes Werk sind, fördern kann. Im 19. Jahrhundert haben die Kritiker des aufkommenden Freikirchentums genau gewusst, was sie taten, als sie die entstehenden Gemeinden, die mit ihrem Eintreten für Religionsfreiheit und mit der freiwilligen Taufe und Kirchengliedschaft Zeichen der Moderne waren, als Sekten diskriminierten. Daher mussten die unscheinbaren freikirchlichen Gemeinden ihre Mission vom äußersten Rand der Gesellschaft aus initiieren. Auch hier waren es gerade die Schwestern, die halfen, solche Barrieren zu überwinden. Das Kommen eines Senators zur Eröffnung des Basars einer Schwesternschaft, die am Rande des kirchlichen Lebens ihren Platz zugewiesen bekommen hatte, war schon so etwas wie eine Sensation. Wer hätte sich schon getraut, eine geachtete politische Persönlichkeit zur Tagung einer methodistischen Kirchenkonferenz als 55

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Ein Vergleich der Tätigkeit und Rolle mit den Bethesda-Schwestern von Elise Averdieck, die ebenfalls in der Vorstadt St. Georg wirkten, wäre von großem Interesse, kann aber im Zusammenhang dieser Studie nicht geleistet werden. In den Arbeiten von Inke Wegener, Zwischen Mut und Demut, Die weibliche Diakonie am Beispiel Elise Averdiecks, Göttingen 2004, und in der Studie von Ruth Albrecht, Elise Averdieck, in: Adelheid M. von Hauff (Hg.), Frauen gestalten Diakonie, Bd. 2, Stuttgart 2006, deuten sich die Unterschiede an.

Die Schwestern in der Stadt und in der Kirche

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einen Repräsentanten des Staates einzuladen? Und wer wäre wohl gekommen? Die Schwestern haben die Tür zur bürgerlichen Gesellschaft aufgestoßen und geholfen, der Kirche in der Gesellschaft im allgemeinen und in einzelnen hochangesehenen Familien im besonderen ein Gesicht zu geben und das wirkliche Profil erkennbar zu machen. Bankier Berenberg-Gossler und der Industrielle Traun, der später Senator wurde, sind herausragende Beispiele. Ja, was bedeutete es für eine kleine Kirche, dass sie mit ihm und anderen vor ihm im Senat Fürsprecher für ihre Sache hatte. Es ist bezeichnend, dass der Hamburger Hohe Senat am 13. August 1886 das Schwesternheim Bethanien als wohltätige Anstalt anerkannte und die Diakonissengemeinschaft damit nach 8 Jahren Hamburger Wirksamkeit einen öffentlich rechtlichen Status zuerkannte. Die methodistische Kirche, die seit 1851 in der Stadt präsent war, erlangte erst am 22. März 1889 die Anerkennung ihres Statuts des Hamburger Methodisten-Vereins. Ob sie diese Anerkennung ohne die Vorarbeit der Diakonissen und ohne deren Freundeskreis unter den politisch Aktiven auch erreicht hätte, sei dahingestellt. Eins bleibt noch anzumerken: Im Vergleich zu Hamburg haben sich die Frankfurter Bethanien-Diakonissen manchmal über die hanseatische Großzügigkeit im Senat gewundert. Als 1905 in Frankfurt am Main für den Bau des dortigen Krankenhauses Verhandlungen über die Bereitstellung eines Grundstücks geführt wurden, konnten die Verantwortlichen kein Ergebnis nach Hamburger Vorbild erzielen. Die stolze Summe von 106.000,00 Mark musste die Schwesternschaft für das Grundstück Im Prüfling bei der Stadt auf den Tisch blättern. Der Standard der freikirchlichen Diakonissen in der alten Kaiserstadt scheint mit dem in der Hansestadt nicht vergleichbar gewesen zu sein. 56

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Der Schwestern Werk. Die Geschichte des Bethanien-Krankenhaus in Frankfurt am Main von 1908 bis 2008, Frankfurt/M., 2008, S. 35–37.

Kapitel 4 Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft „Noch nie hatte die Evangelische Gemeinschaft, die in Württemberg als Dorfmission begonnen und nur allmählich Eingang in größere Städte gefunden hatte, bisher in einem Industriegebiet gearbeitet.“ Mit dieser bemerkenswerten Feststellung leitete Paul Wüthrich (1917-1997) die 1874 beginnende Geschichte der sogenannten Preußenmission ein, deren zentraler Ausgangspunkt das Industriezentrum Essen war. Nach einigen Jahren ständiger Ausbreitung im Ruhrgebiet hieß es 1887: „Hamburg soll als neues Arbeitsfeld aufgenommen und mit einem Prediger besetzt werden.“ Im gleichen Jahr wurde auch die Arbeit in Berlin aufgenommen. Man wies den Berlinern jedoch keinen eigenen Prediger zu, sondern übergab die Verantwortung dem Vorstehenden Ältesten, wie man damals die Superintendenten bezeichnete. Das war Bernhard Beck (1840-1912), der zu dieser Zeit in Eisenach wohnte. Nach Hamburg wurde als erster Missionar ein gewisser Heinrich Meinhardt (1858-1923) gesandt. Der war selber nicht aus der Evangelischen Gemeinschaft hervorgegangen und hatte nicht deren Reutlinger Predigerseminar besucht. Er kam von der Evangelistenschule St. Chrischona bei Basel, die der Heiligungsprediger Heinrich Rappard (1837–1909) leitete. Nach einer Prüfung hinsichtlich seiner theologischen Ansichten nahm die Konferenz ihn 1886 auf. Ökumenisch bemerkenswert ist, dass die zum Abschluss seiner Ausbildung auf Chrischona erfolgte Ordination von der Konferenz als Ordination zum Dieneramt anerkannt wurde. Nach dem ersten Dienstjahr in Elberfeld mit dem Wohnsitz in Barmen an der Seite von Prediger Jakob Huber (1846–1917) wurde der junge Meinhardt 1887 als erster Prediger der Evangelischen Gemeinschaft nach Hamburg gesandt. Er verließ allerdings bereits 1

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Paul Wüthrich, Die Evangelische Gemeinschaft im deutschsprachigen Europa. In: Karl Steckel u. C. Ernst Sommer (Hg.), Geschichte der Evangelisch-methodistischen Kirche, Stuttgart 1982, S. 167 f. Verh. JK-EG Reutlingen 1887, S. 12. Heinrich Rappard hatte schon 1874 die Konferenz der EG in Zofingen (Schweiz) besucht und sie angesprochen. Vgl.: EB 11. Jg. (1874), S. 108. Verh. JK-EG Essen 1886, S. 10.

Der Weg nach Hamburg

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nach wenigen Monaten die Gemeinschaft, um sich einer anderen Arbeit zuzuwenden.

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Der Weg nach Hamburg

In der Hansestadt gab es verschiedene missionarische Arbeiten von unabhängigen Gemeinden. Besonders rührig war die von dem irischen Presbyterianer James Craig (1818–1889) gegründete Judenmission. Der Ire arbeitete auch weit über Hamburgs Grenzen hinaus und beunruhigte die traditionellen Kirchen. In den frühen Anfängen der Hamburger Inneren Mission kam es durch ihn zu Auseinandersetzungen und zu Trennungen. Einer der verschiedenen Jünglingsvereine, die in Verbindung mit der Judenmission und der 1862 in der Königstraße erbauten Jerusalemkirche auch in verschiedenen Stadtteilen Hamburgs wirkten, hatte sich – wie auch andere Vereine – von dieser Gemeinde gelöst. 1874 wurde Craig durch die irische Synode von Hamburg abberufen. Als Grund wurden Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit dem Bau der Hamburger Kirche angegeben. An Craigs Stelle sandten die Iren dafür Reverend John C. Aston. Dieser war zu dieser Zeit aber der deutschen Sprache noch nicht mächtig. Der Jünglings- und Jungfrauenverein fühlte sich nicht mehr gut versorgt. Das führte um 1873 zur Trennung von dem Werk Craigs und zur Bildung eines unabhängigen Vereins, der sich den Namen Hoffnung gab. Eines der Mitglieder dieses Vereins wanderte um 1885 nach Amerika aus. Dort begegnete der frühere Hamburger einer Gemeinde der deutschsprachigen Evangelischen Gemeinschaft. Er schrieb an seine Hamburger Freunde, sie möchten doch mit den Predigern dieser Gemeinschaft in Deutschland Kontakt aufnehmen. Das geschah bald darauf. Der in Elberfeld wohnende Vorstehende Älteste Jakob Knapp nahm sich selber der Sache an. Er reiste von Zeit zu Zeit nach Hamburg, um unter den jungen Menschen zu predigen. Das war noch bevor Meinhardt als Prediger in die Hansestadt gesandt wurde. Im November 1887 reiste der Essener Prediger Carl Grün (1851–1913) nach Hamburg, um als Festprediger beim Jahresfest eines „unserer Gemeinschaft nahestehenden Jünglingsvereins“ zu predigen. Am Abend kamen die jungen Männer und jungen Frauen zum eigentlichen Jünglingsfest zusammen. Nach Grün sprach Baron Jasper von Oertzen (1833–1893). Der war seit 1880 Präses 5

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Karl Heinz Voigt, James Craig. In: BBKL, Bd. 15 (1999), Sp. 435–443. Friedemann Green, Kirche in der werdenden Großstadt. Landeskirchen und Stadtmission in Hamburg zwischen 1848 und 1914, Herzberg 1994, S. 197 f.

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Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

des Norddeutschen Männer- und Jünglingsbundes, dem Vorläufer des CVJM. In dieser Eigenschaft hatte er auch aufgeschlossen und kritisch die Evangelisationsversammlungen Friedrich von Schlümbachs (1842–1901) in Berlin verfolgt. Wahrscheinlich gehörte er zu denen, die diesen feurigen deutschamerikanischen Evangelisten auch nach Hamburg eingeladen hatten, was nicht ohne Konflikte – auch im Norddeutschen Jünglingsbund – blieb. Das Vereinsfest der Jünglinge wurde, wie es damals üblich war, mit Chören, Gedichten, kleinen Aufführungen, Deklamationen genannt, und Ansprachen gestaltet. Wie es Craig eingeführt hatte, wurde Tee „und was dazu gehört“ aufgetragen. Am Tag darauf war ein weiteres Jünglingsvereinsfest in der Jerusalemkirche. Die dortigen irischen Pastoren John C. Aston und Arnold Frank leiteten das Fest, Oertzen war Festredner und Carl Grün hielt die Schlussansprache. Der Essener Gastprediger hatte am Vormittag einen Gottesdienst der Hamburger baptistischen Gemeinde besucht, hatte sich die methodistische Kapelle und „das wunderschöne Schwesternheim ´Bethanien´ besehen.“ Es scheint, als sei er mit dem Auftrag nach Hamburg gekommen, dort die Arbeitsmöglichkeiten auszuloten. Auch ein Besuch im Hafen und die Besichtigung eines großen Dampfschiffes gehörte zum Hamburg-Besuch des Missionars aus dem Ruhrgebiet. Grün ahnte nicht, dass die Evangelische Gemeinschaft für den Baron kein unbeschriebenes Blatt war. Oertzen war gerade in dieser Zeit dabei, im Zusammenwirken mit seinem Bonner Freund Theodor Christlieb, den Wirkungskreis der Evangelischen Gemeinschaft einzugrenzen. Christlieb hatte erlebt, wie deren Preußen-Mission mit sichtbarem Erfolg vor seiner Bonner Haustüre und im Rheinland wirkte. Das war für ihn ein Grund, die in Frömmigkeit und Struktur vielfältigen Gemeinschaftsbewegungen 1888 nach Gnadau einzuberufen, um dieser Bewegung in der Gnadauer Pfingstkonferenz einen gemeinsamen Rahmen aufzuzeigen und ein klares Ziel zu vermitteln. Oertzen war in dieser Sache Christliebs aktivster Mitstreiter. Grün konnte kaum ahnen, dass er bei seinem ersten Hamburg-Besuch unter der besonderen Beobachtung von Baron Oertzen stand. Den Mitgliedern seiner Konferenz hat Grün Mut gemacht, in Hamburg eine neue Mission zu beginnen. Diese in Stuttgart tagende Konferenz von 1888 sandte Gottlob Daniel Niethammer (1850–1917), der drei Jahre lang erfolgreich in Mülheim/Ruhr 7

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Karl Heinz Voigt, Friedrich von Schlümbach. In: BBKL Bd. 9 (1995), Sp. 306–314. Carl Grün, Ein Besuch in Hamburg. In: EB 24. Jg. (1887), S. 390. Karl Heinz Voigt, Die methodistischen Kirchen und die Gemeinschaftsbewegung. In: ders., Theodor Christlieb. Die methodistischen Kirchen, die Gemeinschaftsbewegung, die Evangelische Allianz, Göttingen 2008, S. 169–208.

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gearbeitet hatte, nach Hamburg. In der Hansestadt hatte die Evangelische Gemeinschaft keine Glieder, kein Gebäude, und niemand las ihre Zeitschriften. Aber, wusste Niethammer aus Hamburg zu berichten, „eine Anzahl gläubiger Seelen [haben] uns eingeladen und ihre Hilfe zum Missionieren versprochen“. Wie ernst diese Einladung des bereits erwähnten Jünglingsvereins Hoffnung gemeint war, kann man an dem entschiedenen Umgang mit ihrem gemeinsamen Besitz sehen. Niethammer berichtete: „Ihr Eigentum an Stühlen, Kanzel, Harmonium, u.s.f. haben sie urkundlich der Evang. Gemeinschaft übergeben mit der Bedingung, daß es in Hamburg bleiben soll.“10

Die Kosten für den Beginn der Arbeit hatte die Dienstgemeinschaft der Konferenz übernommen. Im Haushaltsplan war ausgewiesen: Gehalt: 1.800,00, Zieh- und Reisekosten 200,00, Wohnmiete 600,00, Saalmiete 800,00, Verschiedenes 100,00 Mark. Das machte insgesamt 3.500,00 Mark, wozu aus der Kasse der Konferenz 2.700,00 beigesteuert wurden. Das war nach Berlin mit 4.000,00 Mark die höchste Summe, welche die Konferenz in diesem Jahr investierte. 800,00 Mark mutete man der Hamburg Mission zu, selber aufzubringen. Die strategisch denkenden Köpfe der Konferenz waren der Meinung, „die Missions- und Evangelisationsarbeit in unseren Großstädten“ sei dringend „notwendig“. Unter diesen Voraussetzungen zog der tatkräftige Niethammer im Sommer 1888 nach Hamburg. Eine Wohnung fand er im Stadtteil Eimsbüttel, Fettstraße 19. Im Herbst desselben Jahres besuchten bereits zwischen 40 und 50 Kinder die Sonntagsschule und freuten sich über die Verteilblätter Evangelischer Kinderfreund, die sie mit nach Hause nehmen konnten. Prediger Niethammer hatte bald gemerkt, dass das Versammlungslokal des Vereins Hoffnung „zu unbequem und zu klein war“. Er mietete einen früheren Schulraum in der Katharinenstraße 37. Der lag zwar im dritten Stock, kostete genau das Doppelte von dem, was die Konferenz eingeplant hatte, bot aber einhundert Personen Platz. Er war verbunden mit einer Wohnung für die Familie des Predigers. Außerdem waren zwei Zimmer vorhanden, in welche die für Hamburg durch den Elberfelder Verein ab Oktober 1888 vorgesehenen Diakonissen einziehen konnten. Im Herbst dieses Jahres predigte Niethammer sonntags um 10.00 Uhr und um 18.00 Uhr vor etwa 25 bis 40 Personen. Die gleiche Teilnehmerzahl fand sich dienstags zur Gebetsstunde zusammen. Der Prediger hatte Kontakte zu den Baptisten, die in und um 11

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David Niethammer, Aus Hamburg. In: EB 25. Jg. (1888), S. 317. Redaktion. In: EB 25. Jg. (1888), S. 300.

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Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

Hamburg verschiedene Kapellen und ein Predigerseminar hatten. Die Methodisten hatten eine Gemeinde, die unter Prediger Adolf Lüring (1828– 1896) einen Aufschwung erlebte, und eine prosperierende Diakonissenarbeit. Der Hamburg-Missionar Niethammer setzte zunächst große Hoffnungen auf den vorhandenen „evangelischen Verein“ Hoffnung, auf dessen Veranlassung die Arbeit aufgenommen wurde. Mitglieder dieses Vereins hatten ja „ihre Mithilfe zum Missionieren versprochen“ und, fügte Niethammer im Herbst 1888 hinzu, „bis jetzt haben sie ihr Gelöbnis getreu gehalten.“ Trotzdem bemerkte der Berichterstatter, dass die Hoffnungs-Vereins-Mitglieder unter dem Einfluss von James Craig „dessen Lehre und gottesdienstliche Gebräuche angenommen [haben], welche aber im wesentlichen mit denen unserer Gemeinschaft im Einklang stehen.“ Weil „unsere Gottesdienste, unsere Lehre, Seelsorge und Kirchenordnung bei ihnen Anklang finden, so ist die Gründung einer Gemeinde um so leichter zu hoffen.“ Ob diese Einschätzung sich durchhalten ließ, musste erst die Zukunft erweisen. Man darf nicht übersehen, dass Craig in der calvinistischen Tradition stand, deren Lehre von der doppelten Prädestination im wesleyanischen Methodismus immer radikal abgelehnt wurde. Außerdem waren es Kongregationalisten, die von Irland aus in Hamburg wirkten. Dazu stand auch das Selbstverständnis des methodistischen Predigtamtes mit einer klar entwickelten Führungsstruktur schon in einem gewissen Kontrast. Es wird kein Zufall gewesen sein, dass Niethammer in seinem Bericht erwähnte: „Glieder haben wir bis jetzt noch keine aufgenommen und werden auch damit warten, bis die Notwendigkeit dazu vorhanden ist. Wir möchten die Sache nicht übereilen, sondern alles prüfen und das Gute behalten.“ Die etwas vorsichtige Einschätzung kann sich durch eine mutige Entscheidung von Niethammer entwickelt haben. Die Ablehnung des bisherigen Versammlungsortes vom Verein Hoffnung und der Umzug in die Katharinenstraße war seine eigene strategische Entscheidung, die auf mehr Öffentlichkeit hinzielte. Aber wie haben darauf die im Sinne des Kongregationalismus gemeinsam entscheidenden Mitglieder des Vereins reagiert? Unter welchen Bedingungen vollzog sich der Umzug, bei dem ja auch das Mobiliar des Vereins an einen neuen Ort kam? Die Besucherzahlen lassen vermuten, dass die früheren Anhänger Craigs mitgezogen sind. Aber wie lange würden sich die beiden Führungskonzepte gegenseitig dulden? 12

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David Niethammer, Aus Hamburg. In: EB 25. Jg. (1888), S. 317. Ebd. – Eine Anspielung auf 1. Thessalonicher 5, 21.

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Niethammer sah eine andere Perspektive, die er mit den BethesdaDiakonissen aus Wuppertal verband. Er hatte die Bedeutung der BethanienDiakonissen, die zu dieser Zeit in Hamburg ein neues Krankenhaus bauen wollten, erkannt: „Durch die Diakonissen bekommt der Methodismus Eingang in viele Familien und nimmt immer zu.“ Also musste er Raum schaffen, dass die Wuppertaler Schwestern in möglichst enger Verbindung mit der Gemeinde ihren Dienst bald aufnehmen konnten. Das hatte er ebenfalls bei den Bethanien-Diakonissen gesehen, die noch in der schlichten Kapelle wohnten und mit dem Prediger Hand in Hand ihren Dienst aufgenommen hatten. Die Aussichten für Elberfelder Bethesda-Diakonissen waren zu dieser Zeit gut. Inspektor Jakob Knapp hatte bereits im Herbst 1888 öffentlich berichtet: „Mit dem Monat Oktober soll Hamburg als Station besetzt werden.“ Zwar hatte er noch keine Schwestern, weil alle in Elberfeld und Berlin ausgelastet waren, aber er war gewiss, Gott werde welche berufen, die er nach Hamburg senden kann. Der Missionar beobachtete natürlich auch die weitere Szene der erwecklich evangelistischen Arbeit in Hamburg. Er erwähnt die Stadtmission, verschiedene wohltätige Anstalten und Stiftungen und schließlich das Rauhe Haus mit Johann Hinrich Wichern. „Gewiß“, schloss der engagierte Missionar seinen Bericht, „hat auch die Ev. Gemeinschaft hier eine vom Herrn bestimmte Aufgabe zu lösen.“ Noch im Herbst 1888 kam der landeskirchliche Evangelist Elias Schrenk (1831–1913) nach Hamburg. Carl Ninck (1834–1837) mit seiner autonomen Anschar-Gemeinde hatte ihn gerufen. Er sollte in Hafenviertel St. Pauli evangelisieren und dort eine weitere autonome Gemeindebildung innerhalb der Landeskirche in Gang setzen. Gleichzeitig sollte flächendeckend in der Stadt evangelisiert werden. Schrenk und Ninck arbeiteten in Verbindung mit dem Deutschen Evangelisationsverein, der mit der kurz zuvor durchgeführten Gnadauer Konferenz in Verbindung stand. Beide Organisationen wollten die gemeindebildende Tätigkeit der methodistischen Kirchen überflüssig machen und die von ihnen betriebene Sache der Evangelisierung Deutschlands nicht den Freikirchen überlassen. Niethammer berichtete über diese verlängerten Ver14

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David Niethammer, Aus Hamburg. In: EB 25. Jg. (1888), S. 318. Jakob Knapp, Von dem Bethesda-Verein. In: EB 25. Jg. (1888), S. 318. David Niethammer, Aus Hamburg. In: EB 25. Jg. (1888), S. 318. Johannes Ninck, Carl Ninck. Frei von jedermann und aller Knecht, Leipzig/Hamburg 1932, S. 193.

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Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

sammlungen , wie er diese Evangelisation in der damaligen Sprache des Methodismus bezeichnete. Er schildert die typische Art des von dem Amerikaner Dwight L. Moody entwickelten Kampagnen-Stils: vormittags Bibelstunden, später Abendversammlungen, in denen sich Schrenk an die Christen und an die „Unbekehrten“ wandte, danach die sog. Nachversammlungen. Das Bild, das Niethammer von dem Evangelisten zeichnete, war durch und durch positiv. Er bemerkte aber auch über ihn: „Es nimmt mich nicht wunder, daß Herr Schrenk schon öfters für einen Methodistenprediger gehalten wurde, so daß er, wie er meinte, von dem Verdacht desselben sich reinigen mußte.“ Genau das zeigte die Distanz, welche die Gemeinschaftsbewegung seit Gnadau vom Methodismus suchte. Niethammer wunderte sich, wie zurückhaltend die landeskirchliche „Geistlichkeit“ sich gegenüber der aufwendigen Schrenk-Evangelisation verhielt, obwohl der doch ausschließlich für die Landeskirche tätig war. Ähnlich sei es auch mit der Presse, die wenig Notiz von diesem Ereignis nahm. Niethammer wusste nicht, dass es in Hamburg erst wenige Jahre vorher eine Auseinandersetzung um solche Evangelisationen mit Friedrich von Schlümbach gegeben hatte. Damals waren es nicht die Liberalen oder die Rationalisten, sondern fromme Prediger in der Stadt, die selber zu evangelisieren begonnen hatten, um den deutsch-amerikanischen Methodisten, der im Dienste der Landeskirche stand, begründet abweisen zu können, sein Kommen überflüssig zu machen. Denkt man noch einmal an die kirchlichen Kontakte Niethammers in Hamburg, dann fällt auf, dass er die unabhängige Personalgemeinde des Pfarrers Carl W. Theodor Ninck , der einer der Gewährsleute von Schrenk in Hamburg war, nicht erwähnte. Ninck gehörte zu denen, die evangelistisch in der Stadt wirkten. Man muss es als eine Auswirkung der ersten Gnadauer Pfingstkonferenz zusammen mit den Evangelisationen von Schrenk in Hamburg sehen, dass der Central Ausschuss der Inneren Mission in den in Hamburg erscheinenden Fliegenden Blättern, die Wichern begründet hatte, eine Erklärung „Zur Frage der Evangelisation“ abgab. Sie wurde „als ein berechtigtes Werk der inneren Mission“ angesehen. Aber das war nur die eine Seite. Gleichzeitig trat sie, typisch für diese Zeit, mahnend gegenüber den freikirchlichen Evangelisationen an die Öffentlichkeit 18

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„Verlängerte Versammlungen, oder solche, die mehrere Tage, bisweilen Wochen, nacheinander gehalten werden, und deshalb besonders zur günstigeren Winterszeit im Gange sind, werden nun wieder allgemein in unseren Gemeinden gehalten…“. In: EB 28. Jg. (1891), S. 388. David Niethammer, Aus Hamburg (über Elias Schrenks Evangelisation). In: EB 25. Jg. (1888), S. 391. Vgl. auch: Hermann Klemm, Elias Schrenk, Wuppertal 19862, 346 f. Karl Heinz Voigt, Carl W. Theodor Ninck. In: BBKL, Bd. 24 (2004), Sp. 1121–1132.

Trennung vom Verein „Hoffnung“

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und warnte ausdrücklich vor dem „sektiererischen Treiben“. Wie Gnadau wünschte die Innere Mission die Evangelisation als eine Aufgabe der Landeskirchen zu sehen und die Unterstützung durch die örtlichen Pfarrämter zu gewinnen. Niethammers Aussichten auf ein gemeinsames Ziehen am gleichen Strang mit anderen waren also gering einzuschätzen.

2.

Trennung vom Verein „Hoffnung“

Schon in den ersten Monaten 1889 kam es zur Klärung. Niethammer berichtete: „Unser Wirkungskreis ist noch klein […]. Da wir beflissen sind, kein Holz, Heu oder Stoppeln auf den Grund, welcher für alle Prediger des Evangeliums und für alle Zeiten gelegt ist, zu bauen, so geht’s eben langsam voran. Wir möchten gerne eine Gemeinde mit Christo und für Christum sammeln; eine solche Gemeinde hat dann auch Christum in sich.“ Auf diese theologischen Erörterungen folgte die praktische Anwendung: „Mit dem gehofften Anschluß des Vereins Hoffnung an unsere Gemeinschaft wurde nichts.“ Niethammer wollte keine Gründe nennen, bemerkte aber: „Ist keine Einigung zu erzielen, so ist es je eher je besser, wenn man dem Rat Abrahams folgt, den er Lot gab.“ Die Entwicklung war zunächst schmerzlich, aber sie schuf auch Klarheit. Schmerzlich war, dass die Zahl der Gottesdienstteilnehmer sich auf 15 bis 30 reduzierte. Etliche davon, bemerkte Niethammer, sind „bekehrt“, andere sind „heilssuchend“. Klarheit entstand, weil wir jetzt die Gottesdienste „ganz nach der Ordnung der Evangelischen Gemeinschaft eingerichtet“ haben. Der Missionar sah einer guten Zukunft entgegen. Er sah aber auch, dass es in Hamburg mehr als er es sonst gewohnt war, Alternativen anderer freikirchlicher Gemeinden zu seiner Tätigkeit gab. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte die Zeitschriftenmission eine Rolle, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. Die Evangelische Gemeinschaft hatte eine gute Palette solcher Blätter: Das Hauptblatt, den Evangelischen Botschafter, seit 1864, dann den Evangelischen Kinderfreund, schließlich neben dem Missionsfreund das Verteilblatt Gute Botschaft, das in Hamburg bald wöchentlich zu Hunderten verteilt werden sollte. Niethammer bemerkte in 21

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David Niethammer, Aus Hamburg. In: EB 26. Jg. (1889), S. 84. Nach Gen. 13, 9 sagte Abraham zu Lot, als sie sich trennten: „Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken.“ Ebd. 1889: 10 Expl.; 1890: 75; 1891: 80; 1892: 150; 1893: 300; 1894: 500; 1895: 600 Expl.

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Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

seinem frühen Bericht: „Es ist keine leichte Sache, in dieser Stadt unsere Blätter zu verbreiten, da andere auf billigerem Wege verbreitet und im allgemeinen keine verlangt werden.“ Der bereits erwähnte Carl Ninck gab seit 1878 das Blatt Der Nachbar als ein illustriertes christliches Volksblatt für Stadt und Land heraus. Es hatte 1887 eine Auflage von 100.000 Exemplaren. Dazu gab Ninck monatlich auch noch einen Deutschen Kinderfreund heraus, der sich schon im Titel von den angelsächsischen Vorläufern im Bremer methodistischen Traktathaus und im Stuttgarter Verlagshaus der Evangelischen Gemeinschaft absetzen sollte. Beide freikirchlichen Blätter gehörten zu den „weitverbreitetsten christlichen Volksblättern“. Gegenüber dieser übrigens auch auf James Craig zurückgehenden Schriftenmission, die immer auch Hamburger Lokalkolorit lieferte, mussten die Aktivitäten von Niethammer mit einem Stuttgarter Blatt zurückbleiben. 24

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3.

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Am zweiten Ostertag 1889 wurde die erste Gemeinde der Evangelischen Gemeinschaft in Hamburg nach der Ordnung der Kirche mit einem Fest gebildet. In einem staatskirchlich geprägten Land ist eine Gemeindebildung aus freien Stücken an sich schon eine Besonderheit. Keine Behörde gab den Anlass oder musste gefragt werden. Eine unscheinbar erscheinende Gemeinschaft versammelte sich. Wenn man bedenkt, dass Prediger Carl Grün 1891 von einer „Rundreise“ durch Hamburger Gottesdienste berichtet, er habe in der berühmten Hauptkirche St. Nikolai mit ihrem hohen Turm und dem schönen Glockenspiel „etwa 7 Männer und 20 Frauen“ angetroffen, und dass dort der Organist mit den Knaben, die zusammen den Gesang leiteten, während der Predigt „verdufteten“ , dann war die Gründungsversammlung mit ihren 40 Teilnehmern im ehemaligen schlichten Schulsaal im dritten Stock des Hauses in der Katharinenstraße 37 ein hoffnungsvoller Start. Aber es wäre falsch, nur auf die Zahl zu sehen. Der Nikolaiprediger predigte aufgrund eines Textes aus den Evangelien über die Heilung des Taubstummen. Sein Thema dazu lautet: „Auge und Ohr im Dienst der Religion“. Der Kommentar des schlichten Predigers zu dieser Predigt: 26

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David Niethammer, Aus Hamburg. In: EB 26. Jg. (1889), S. 84. Ferdinand Cuntz, Karl Wilh. Theodor Ninck. Ein Lebensbild, Herborn 18912, S. 186 f. Carl Grün, Aus Hamburg. In: EB 28. Jg. (1891), S. 382.

Ungewöhnliche Gemeindebildung

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„Es war eine sehr gewandte und geschulte Rede, die als wissenschaftliche Vorlesung etwa für solche, die als Aerzte studieren wollen, sehr gut gepasst hätte, aber nie und nimmer für solche, die im Gotteshause Erbauung und Belehrung für ihre Seelen suchen und folglich eine Evangeliumspredigt bekommen sollten, worin der wunderthätige, gekreuzigte und auferstandene Heiland die Hauptsache ist. Meine Herzensbitte war, daß Gott sich doch auch hier Hirten erwecken möchte, auch in der Staatskirche, die nach seinem Herzen lehren, und daß er doch mir und meinen teuren Amtsbrüdern die Gnade schenke, daß wir nie in solche Irrtümer verfallen und immer dem Volke nur die lautere Milch des Evangeliums darreichen, nämlich Jesum Christum, den Sünderheiland.“27

Wer diese Replik auf die Nikolai-Predigt liest, kann sich denken, was im Gottesdienst zur Gemeindegründung verkündigt wurde. Natürlich waren die Nikolai-Gottesdienstbesucher stille Zuhörer. Wie hätten sie sich auch anders verhalten sollen? Im ehemaligen Schulsaal der Katharinenstraße konnte man etwas freier sein. Drei Männer, schlichte Gemeindeglieder ohne eine besondere Ausbildung, bezeugten der Gemeinde ihre persönlichen Gotteserfahrungen. Es seien „herzliche und lehrreiche Ansprachen“ gewesen, berichtete der Prediger dieser Gemeinde. Heute würde man sagen: sie waren Ausdruck eines charismatischen Gottesdienstes in nüchterner Gestalt. An diesem Tag wurden 14 Personen „aus freiem Antrieb und nach wohlbedachter Ueberlegung“ in die Gemeinde aufgenommen. Die Statistik weist bis zum Jahreswechsel sechs Zuzüge mit Schein aus. Das waren Überweisungen aus anderen Gemeinden der Evangelischen Gemeinschaft. Dazu zählten auch die beiden ersten Diakonissen, welche die Leitung in Elberfeld nach Hamburg sandte, aber auch David Niethammer und seine Frau, die ja schon vorher aus Essen gekommen waren. Zur Sozialstruktur der entstehenden Gemeinde vermerkte der Bericht, dass „keine reichen und von der Welt geehrten Leute“ aufgenommen worden seien, „aber liebe Gotteskinder, welche durch Leiden geprüft und an Erfahrung reich geworden seien.“ Das klingt fast, als wären es einige Personen, die sich von dem Verein Hoffnung getrennt hatten und nun die Arbeit der Kirche der Evangelischen Gemeinschaft mit tragen wollten. Einige waren darunter, die „suchen den Herrn und werden ihn hoffentlich in der Kirche ihrer Wahl bald finden.“ Das Bekenntnis zum persönlich empfangenen Glauben scheint also zu dieser Zeit noch nicht Bedingung für die Aufnahme in die Kirche gewesen zu sein. In Hamburg jeden28

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Ebd. David Niethammer, Aus Hamburg. In: EB 26. Jg. (1889), 158. Ebd.

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falls entstand eine Gemeinde aus Glaubenden und Suchenden, wie wir uns heute verstehen. Das entsprach den Allgemeinen Regeln und Pflichtanweisungen der Gemeinschaft, wie sie in der kirchlichen Lebensordnung zu finden waren. Dort hieß es, wie es früher schon John Wesley formuliert hatte: „Um in diese Gemeinschaft aufgenommen zu werden wird nur eine einzige vorherige Bedingung erfordert, nämlich: daß solche Personen ein ernstliches Verlangen haben, von Sünden erlöst zu werden und dem zukünftigen Zorn zu entfliehen.“ An dem Fest zur Gemeindebildung nahmen auch einige Kinder teil. Vielleicht waren es die Kinder einiger Eltern, die in die Gemeinde aufgenommen wurden. Aber es können genau so gut Kinder aus der Sonntagsschule gewesen sein. Kinder und Kirche, das war ein ganz ungewohntes Thema. Zwar gab es in Hamburg die ersten Sonntagsschulen schon seit 1824. Und trotzdem. Kirche und Gottesdienst, das ging die Erwachsenen an. Wo hatten damals die Kinder schon einen Platz? Es gab noch keinen Kindergarten und keinen Kindergottesdienst. Ebenso wenig gab es Kinderabteilungen in Museen. Sportvereine waren gerade erst im Kommen, aber doch nicht für Kinder! Kein Kaufhaus mit einer Kinderabteilung, kein Jugendamt, das sich um Kinder kümmerte. Es ist kaum vorstellbar, dass die städtische Bibliothek schon eine Kinderbuchecke hatte. Aber diese kleine Gemeinde spiegelte schon etwas von der Zukunft wider. Kinder waren willkommen, sie hatten eigene Zeiträume, es gab eine Zeitung Kinderfreund und – der Zeit weit voraus – eine Leih-Bibliothek. Die der Sonntagsschule in der Katharinenstraße hatte 1894 bereits einen Bestand von etwa 150 Büchern. Was hätte aus dieser modernen, zukunftsorientierten Art Kirche Christi zu sein werden können, wenn sie nicht aus der Öffentlichkeit abgedrängt und als fremdländische Sekte diskriminiert worden wäre! Die Evangelische Gemeinschaft kam von Amerika. Dort hatte sie sich unter deutschen Einwanderern organisiert, die von ihren Kirchen in Deutschland weitgehend unbeachtet geblieben waren. Das war auch eine Folge des Staatskirchentums, denn die Staatsgrenze war immer zugleich die Kirchengrenze. Wer sie überschritt, war damit – ohne es wahrzunehmen – ausgetreten. Auf diese Weise waren die Deutschen in Amerika kirchenlos geworden. Die Evangelische Gemeinschaft nahm sich dort der Ausgewanderten an, deren Kinder nicht mehr getauft wurden und die keine Chance hatten, einen 30

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Die Glaubenslehre […] der Evangelischen Gemeinschaft, Nürtingen 1868, S. 21; auch in: Die Glaubenslehre und Kirchenordnung der Evangelischen Gemeinschaft Stuttgart 1897, S. 16. Über die spätere Ordnung für die Aufnahme in die Kirche. Vgl.: Johannes Schempp d. Ä., Kirchenordnung. Reutlinger Vorlesungen. Kopiert o. J., S. 15 f.

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Abendmahlsgottesdienst zu besuchen. In Amerika waren Kirche und Staat konsequent getrennt, das hieß, es gab auch keinen Religionsunterricht in den Schulen. Daher fiel den Kirchengemeinden eine große Aufgabe zu und die Sonntagsschulen leisteten ungeheurer viel, um dem Staat ein geistiges Fundament zu geben. Jede dortige Gemeinde hatte mindestens eine Sonntagsschule, zuerst nur für Kinder, aber bald auch für Erwachsene. Es war kein Wunder, dass die von den Deutsch-Amerikanern in ihre Heimat zurückgebrachte staatsfreie Kirche diesen Zweig ihrer Wirksamkeit in Deutschland in moderner Gestalt einbürgerte, als es in den Kirchen den Kindergottesdienst kaum gab. In Hamburg gab es schon eine Sonntagsschule mit 70 bis 80 Kindern, als die Evangelische Gemeinschaft noch gar keine Gemeinde organisiert hatte. Kinder ließen sich durch die ausgestreuten Vorurteile nicht abhalten, wie es vielfach bei Erwachsenen der Fall war. Der Gemeindegründungstag mit Kind und vielleicht auch mit Kegel wurde zu einem Fest mit Gesängen, Gedichten und mit Ansprachen von drei Teilnehmern, die „die lautere Milch des Evangeliums“ darboten und „Jesum Christum, den Sünderheiland“ preisen konnten. Ohne dass die Teilnehmer es ahnten, haben sie „fast wie von selbst […] eine Erfahrungsstunde zur allgemeinen Erbauung“ erlebt. Es schlossen sich der Kirche Menschen an, die bereit waren, gegen den Strom zu schwimmen und von der in der Aufklärung neu eröffneten Möglichkeit Gebrauch zu machen, auch in religiösen und kirchlichen Fragen in eigener Verantwortung zu entscheiden. 31

4.

Die Großstadt als neue Herausforderung

Hamburg war schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine beeindruckende Großstadt. Prediger David Niethammer sah sie als „die europäische Grenzstadt […, die] unserer Hafenmission in New York gegenüber“ liegt. Die Stadt Hamburg hatte zu dieser Zeit etwa 600.000 Einwohner. Die Türme der fünf Hauptkirchen prägten das Bild dieser protestantischen Stadt, in der damals mehr Juden als Katholiken lebten. Niethammer sah großen Reichtum angesammelt, großartige Paläste und Villen, prachtvolle Gärten und Parkanlagen, schattige Alleen und breite Straßen. Aber er nahm auch eine

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Erfahrungsstunden fanden oft in Verbindung mit der Feier von Agapen statt. Den teilnehmenden Gliedern der Gemeinde wurde Gelegenheit gegeben, zur Ehre Gottes eigene Glaubenserfahrungen zu erzählen. Manchmal fanden solche Erfahrungsstunden am Tag vor dem Vierteljahrssonntag, an dem der Vorstehende Älteste anwesend war, statt.

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Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

„wogende Menschenmenge, buntes Durcheinander von allerlei Nationalitäten, Rennen und Jagen der Geschäftsleute, Lärmen der Kinder, Rasseln der Wagen, das Flöten und Pfeifen der Drehorgeln [als] tägliche Erscheinungen auf der Oberfläche des Stadtlebens“ wahr. 32

Die beiden ersten Prediger David Niethammer und sein Nachfolger Carl Grün haben aufmerksam die Atmosphäre dieser außergewöhnlichen Stadt beobachtet. Sie haben versucht, sich auf die besonderen Herausforderungen einzustellen und auszuloten, wie die Mission einer freikirchlichen Gemeinde sich gestalten, welche Fragen sie aufgreifen und in welche Richtung sie sich bewegen sollten, um dem göttlichen Auftrag, von dem sie durch ihre Berufung und durch ihre Ordination erfüllt waren, gerecht zu werden. 33

34

4.1

Eine neue Welt: die Großstadt

Jakob Knapp hat als Vorstehender Ältester 1890 zur ersten Distriktsversammlung nach Hamburg eingeladen. Eine solche Versammlung war die Zusammenkunft aller Prediger einer Region, um sich unter der Leitung des Superintendenten theologisch fortzubilden und mehrere Tage hindurch in geistlich geprägter Gemeinschaft mit den Kollegen zu leben. Hamburg war zu dieser Zeit eine Stadt des Berliner Distrikts der Evangelischen Gemeinschaft. Seine entferntesten Gemeindebezirke waren Dresden im Süden und Bromberg, das heute zu Polen gehört, im Osten. Die anderen Prediger kamen aus LeipzigHalle, Schneidemühl und aus Berlin. Von den sechs Teilnehmern lebten vier in Großstädten. Diese Zusammensetzung zeigte einen Strukturwandel in der entstehenden Kirche an, der nicht ganz leicht zu bewältigen war. Nach der langen Zeit in Württemberg, dem benachbarten Baden und der Schweiz, trat dieser Umbruch 1875 mit der Gründung der sog. Preußenmission ein. Zentrum war die Ruhrmetropole Essen. Die Prediger sprachen von der „Fabrikstadt“ und von der „Kanonenstadt“ und beschrieben das Industriegebiet in markanten Zügen. Von Essen aus wurde, wie bereits dargestellt, der Vorstoß 35

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David Niethammer, Aus Hamburg. In: EB 25. Jg. (1888), S. 302 f. Gottlieb David Niethammer war in Feuerbach bei Stuttgart geboren. Bevor er nach Hamburg kam, wirkte er in Schwäbisch-Hall, Cannstatt, Durlach bei Karlsruhe und Mülheim a.d. Ruhr. Carl Grün war in Bibersfeld bei Hall seit seinem ersten Lebensjahr vaterlos aufgewachsen. Er war vor seinem Hamburger Dienst in Göppingen, Tuttlingen und Essen. Wolfgang Olfermann (Hg.), Evangelisch-methodistische Kirche. 1875–1975 im Ruhrgebiet. O. O. u. o. J. (Essen, 1975). Martin Kupsch, Der Methodismus im Rheinland: Anfänge, Entwicklungen, Veränderungen – Eine Skizze. In: Monatshefte für evangelischen Kirchengeschichte des Rheinlands, 43. Jg. (1994), S. 183–210.

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nach Hamburg unternommen. Die Hansestadt hatte mit ihren rund 600.000 Einwohnern einen völlig anderen Charakter als Essen. Der aus dem ElbFlorenz nach Hamburg kommende Schwabe Gottlob Barchet d. Ä. (1853– 1930) schilderte als „Binnenländer“ , wie überrascht er war, „wenn er von dem Nordrande der Lüneburger Heide die großartige Stadt mit der prachtvollen Elbe und dem ungeheuren Mastenwald [der Schiffe im Hafen] überblickte.“ Er beobachtete die großen Dampf- und Segelschiffe auf dem Elbstrom und registrierte mit Erstaunen die Tide mit ihren Gezeiten von Ebbe und Flut. Aber er erlebte auch, „daß in dieser Stadt nicht nur viele Waren sich anhäuften, sondern auch die Sünde und Schande und damit verbunden Armut, Elend und Krankheit erschreckliche Gestalten aufzuweisen haben. […] Ganz entsetzt waren wir,“ fuhr er in seiner Schilderung fort, „als wir bei einem Gang durch die Stadt die vielen Destillationen und Wirtshäuser sahen. Welche wie grausige Spinnengewebe am Hafen ausgebreitet sind, um die bethörte Menge zu fangen.“ Von dem Gemeindesaal in der Katharinenstraße zum Hafengebiet war es nur ein Katzensprung. Und bis zum Vergnügungsviertel in St. Pauli war es auch nicht weit. Barchet schien entsetzt, als er sah, wie 36

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„Tausende von Matrosen, die dem Sturm des Meeres getrotzt und nach furchtbaren Strapazen das Festland erreicht“ hatten, in den Kneipen „ihren Untergang an Leib und Seel“ fanden, „ja, diese Bestien […], diese Sauf- und Spielhöllen fressen an dem Mark unseres Volkes. Noch ist zwar ein sittlicher Kern unseres Volkes vorhanden,“ resümierte der aus dem noblen Dresden hergereiste Barchet, „und selbst in Hamburg, dieser Stadt so vieler Verführungen, sind noch eine Menge solcher, die sich durch Reinheit des Charakters und durch edle christliche Gesinnung auszeichnen. […] Ja, das alte Christentum, diese Gotteskraft, lässt sich eben nicht verdrängen, es ist da und verbreitet sein Licht und Leben. Freilich, wenn die Christen die Hand in den Schoß legen, wenn sie den heiligen Verpflichtungen, das Reich Gottes auszubreiten, nicht nachkommen, dann muß viel versäumt werden und manche Orte müssen verwahrlosen in religiöser Hinsicht.“38

Man spürt diesen Sätzen nicht nur strenge ethische Normen, sondern auch eine weitgefasste Verantwortung ab. Barchet sah die einzelnen Menschen in der Gefahr des Verlustes ihrer Würde, die gesamte christliche Kirche in ihrer umfassenden missionarischen Verantwortung, die Städte, in denen die Men36 37 38

Karl Heinz Voigt, Gottlob Barchet d. Ä. In: BBKL, Bd. 15 (1999), Sp. 64–69. Gottlob Barchet d. Ä. In: EB 1890, S. 334. Ebd.

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schen bedroht waren und schließlich sah er das Volk, das sittlich zu verwahrlosen drohte. Die Teilnehmer der Distriktsversammlung waren nicht als Touristen nach Hamburg gekommen. Der Stadtrundgang gehörte zu ihrem Bildungsprogramm über das Evangelium in der Großstadt. In sechs Referaten wollte sich die kleine Dienst- und Missionsgemeinschaft austauschen. Barchet stellte seinen Kollegen in jenem Optimismus, der dem Methodismus des 19. Jahrhunderts eigen war, seine theologischen Überlegungen zum „Siegeszug des Christentums über die Erde“ vor Augen. Keine Konventikelfrömmigkeit eitler Selbstbespiegelung stand am Anfang, sondern bei aller Kleinheit der Hamburger Gemeinde der Blick auf die ganze bewohnte Erde, verbunden mit der Gewissheit: Sein Reich kommt! Und dieses alles in dem Wissen des wesleyanischen Mottos „Die Welt ist mein Kirchspiel!“ Der Hamburger Gastgeber, G. David Niethammer, führte in die Möglichkeit der Wiederherstellung der Gemeinschaft des gefallenen Menschen mit Gott ein. Seine Erwägungen hatten ohne Frage in seiner Hamburger Großstadterfahrung ihren Kontext. Niethammer hatte früher schon geschrieben, dass die Hafenstadt „neben vielem Schönen und Guten“ ein „großer Sammelplatz von Menschen in Sünden und Greuel“ sei. 39

„Die Pestilenz, welche im Finstern schleichet, und die Seuche, welche am Mittag verderbet, haben da ihren Herd.40 Die Fleischessaat findet hier empfänglichen Boden und wird aufs beste gepflegt; sie gedeiht und trägt allerlei Früchte, wie sie Galater 5, 20. 21. verzeichnet sind.41 Nebst dem tausendköpfigen Laster der Trunksucht, welches an Macht allen anderen voransteht, ist auch das der Unsittlichkeit zu nennen. Dieses Bollwerk des Satans hat viele geheime und offene Freunde und unlöbliche Verteidiger. Die bekannten und gut organisierten Lasteranstalten sind ein Fluch der Christenheit. Die ´Freudenmädchen´, wie sie genannt werden, ziehen bei Tag durch ihre frechen Blicke aus den bezeichneten Fenstern ihrer Wohnungen und durch auffällige Kleidung, wobei Scham und Zucht vergessen wird, die Blicke der Vorübergehenden auf sich, und bei Nacht ist man ihren Händen nicht sicher. Viele Tausende solcher Unglücklichen nähren sich von diesem entsetzlichen Gewerbe. […] Das entsittlichte Leben hat eine demoralisierende Wirkung zur Folge. Das Volk wird religionslos 39 40 41

„The World is my parish!“ Der Begriff parish ist bemerkenswert. Anspielung auf Psalm 91, 6. Galater 5, 19 ff: Offenbar sind aber die Werke des Fleisches, als da sind: Unzucht, Unreinigkeit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Hader, Eifersucht, Zorn, Zank, Zwietracht, Spaltungen, Neid, Saufen, Fressen, und dergleichen, von welchen ich euch vorausgesagt habe und sage es noch einmal voraus, dass, die solches tun, werden das Reich Gottes nicht erben.

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und fällt dem Umglauben anheim. Das Übernatürliche wird als natürlich bezeichnet, und an Stelle Gottes wird die Vernunft verehrt. Die letzte Spur der Gottesfurcht verschwindet und das letzte Band des Göttlichen wird zerrissen; der Mensch ist Fleisch geworden, ohne höhere Triebe und ein höheres Ziel zu haben. Wer aber religionslos ist, der ist auch kirchenlos. […] Die Tempel des Gambrinus und der Diana werden voll, dagegen die Kirchen leer.“42

In einer so gedeuteten Lebenswirklichkeit bekommt die Frage nach dem Menschen in der Gemeinschaft mit Gott eine herausfordernde Dringlichkeit und man kann sich vorstellen, wie sich die Summe dieser Erfahrung in den Sonntagspredigten auswirkte. Niethammer betonte in seinem Referat „den Segen der Gottesgemeinschaft“ und verband ihn „mit dem Rettungswillen Gottes“, wie er in Jesus Christus in Erscheinung getreten ist. Das nächste Referat hielt Reinhold Kücklich d. Ä. (1863-1931). Kücklich war seit einiger Zeit Prediger und Missionar in Berlin, der Reichshauptstadt, die sich in einem vielschichtig wirkenden Prozess des Umbruchs befand. Kücklich sprach über „Der Bibelglaube und die Vernunft“. Ein aktuelles Großstadtthema, aber auch eine zeitgemäße Frage unter den Theologen der Hauptstadt. Der Berichterstatter fasste das Referat in dem Satz zusammen: „Das Verhältnis des Bibelglaubens zur Vernunft und umgekehrt, so wurde ausgeführt, sei das denkbar innigste; der Bibelglaube fordere die Vernunft, die Vernunft aber den Glauben.“ Man spürt der vorsichtigen Berichterstattung ab, dass der Autor die These des Referenten nicht uneingeschränkt teilen wollte. Das folgende Referat des jüngeren Predigers Gottlieb Mistele (1854–1945) aus Schneidemühl ging der Frage nach, welche Hilfe das Geschichtsstudium für den Prediger sein kann, nicht nur um ein klares Urteil fällen zu können, sondern um apologetisch auch „etwaigen Uebeln entschieden und weise begegnen zu können.“ Theodor Eugen Deeg (1862–1921) warf in seinem Referat über „Die Aufgabe des evangelischen Predigers in der Gegenwart“ die Frage auf: „Wie soll sich der Prediger den sozialen, kirchlichen und sittlichen Uebelständen gegenüber verhalten?“ Er warnte seine Brüder, sich niemals einfach den allgemeinen Urteilen anzuschließen. Über den Verlauf der Diskussion, in der es auch um die Rolle der Inneren Mission und der Stoecker’schen Bewegung ging, hätte der heutige Leser des Berichts gerne mehr gewusst. Der damals in Berlin unter starker Beachtung wirkende Adolf Stoecker (1835–1909) zog also selbst in dieser kleinen Runde die Aufmerksamkeit auf 43

42 43

David Niethammer, Aus Hamburg. In: EB 25. Jg. (1888), S. 309. Zu Reinhold Kücklich d. Ä.: Karl Heinz Voigt, in: BBKL Bd. 4 (1992), Sp. 743–745.

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sich. Das war keineswegs überraschend. Der umstrittene und in seinem Denken, seiner Arbeit und seiner Wirkung so vielschichtige Stoecker hatte auch auf viele Prediger der methodistischen Kirchen eine faszinierende Wirkung: Er war fromm und sozial, er war den Armen zugewandt und suchte gerade das in seiner Beziehung zur Arbeiterschaft politisch umzusetzen, er wusste um die Bedeutung der Evangelisation und gab dieser Arbeit in der Berliner Stadtmission einen organisatorischen Rahmen, er war in gewissem Sinne kaisertreu und doch so kritisch, dass er sich als Hofprediger nicht halten konnte, er war „christlich-sozial“ und stritt mit den Sozialdemokraten, er kämpfte für die Auflösung der Ehe von Thron und Altar und wollte eine freie Kirche, er hatte schließlich ein verführerisches Muster einer frommen Geschichtsdeutung, durch das er dem emanzipierten und assimilierten Judentum mit dessen Einfluss über Presse und Kapital die Ursachen des in der Gesellschaft sichtbaren Abfalls von der christlichen Wahrheit zuschob. In der theologisch den methodistischen Bemühungen nahestehenden Positiven Union und in der sich später auch aus dieser Wurzel entwickelnden Deutsche Gemeinschaftsbewegung hatte Stoecker ähnlichen Einfluss wie in den methodistischen Kirchen. Kücklich, der in Hamburg mit diskutierte, war selber Mitglied in Stoeckers Christlich-Sozialer Partei (CSP). Für einen Predigtband Social Christianity des englischen christlichen Sozialisten und Methodisten Hugh Price Hughes (1847–1902), den die Baronin Amelie von Langenau (1830–1902) 1893 herausgab, schrieb Adolf Stoecker ein Vorwort. Diese Hinweise zeigen Sympathie und Einfluss, die Stoecker innerhalb der methodistischen Kirchen genoss, bis hin zu seinen antisemitischen Beeinflussungen. Der Leipziger Referent Deeg mahnte jeden seiner predigenden Kollegen, „daß er in der Hast nach Außerordentlichem nicht äußerlich wird, nicht bloß sittliche Hebung des Volkslebens erstrebt, sondern auf wahre Herzenserneuerung dringt; denn im Grunde sind eben nur diese das Salz der Erde, welche aus wahrer Herzenserfahrung den Segen des Christentums kennen.“ 44

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Wolfgang Heinrichs, Das Judenbild im Protestantismus des Deutschen Kaiserreichs. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums in der Krise der Moderne, Köln 2000, mit den Kapiteln über das Judenbild der „Positiven Union“ (S. 155–213) und im Spiegel der Zeitschrift der Gemeinschaftsbewegung „Licht und Leben“ (1889–1918) (S. 213–250). Hugh Price Hughes, Social Christianity, zuerst London 1889. Karl Heinz Voigt, Amelie von Langenau. In: BBKL Bd. 4 (1992), Sp. 1107–1109. Eine Untersuchung über das Bild von Adolf Stoecker in den methodistischen Zeitschriften ist längst überfällig.

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Das Referat des Vorstehenden Ältesten J. Knapp scheint schließlich alles bündeln zu wollen, was vorher in die Debatte gebracht worden war. Er gab Antworten auf die Frage „Was sollen und wollen wir als Evangelische Gemeinschaft in den Großstädten?“ Noch einmal klangen „familiäre und gesellschaftliche Unordnungen“ mit den „jetzt schon zu Tage tretenden Folgen“ an. „Und da sollte unsere Gemeinschaft, welche von Kopf bis zu Fuß eine Missionskirche ist, thatenlos zusehen?“ Auf diese Frage gab es nur eine Antwort: „Nein, tausendmal nein, gerade hier sollte sie thätig eingreifen.“ Und er fügte bedauernd hinzu: „Ach, hätten wir nur mehr Mittel, mehr Prediger und mehr Kirchen für und in solchen Großstädten!“ Alle in Hamburg versammelten Großstadtprediger hatten ihre Kindheit und Jugend in überwiegend süddeutschen Kleinstädten und Dörfern verbracht. Sie waren besonders von der Großstadtsituation betroffen und sahen von ihrer christlichen Position her gewisse Unterschiede zwischen Stadt und Land und die Herausforderungen, die eine urbane Gesellschaft mit sich brachte, besonders scharf. Ihr theologischer Ansatz, in dem es keine Rechtfertigung ohne die nachfolgende Heiligung als Ausdruck sozial-ethischer Verantwortung in individueller und gesellschaftlicher Hinsicht gab, vermittelte ihnen am Ende des 19. Jahrhunderts Kriterien, die sie in der Gemeinschaft der Großstadtprediger, die sich „von Kopf bis Fuß“ als Gesandte einer „Missionskirche“ verstanden, vergewissernd formulierten. 48

4.2

Raumprobleme

Die weltweite Gesamtkirche hatte für die „Errichtung von Versammlungshäusern“ Anweisungen erlassen. Sie gingen von der Frage aus: „Ist es wohl nöthig, Versammlungshäuser irgendwo zu bauen?“ Die kirchliche Antwort auf die Frage lautete: „Ja, an Orten, wo die Gemeinden so stark geworden sind, daß Wohnhäuser überhaupt zu klein sind, die Versammlungen gelegentlich darin zu halten; und besonders in Städten, wo sich gewöhnlich viele Zuhörer einfinden.“49

Des Weiteren werden Richtlinien erlassen für die finanziellen Voraussetzungen, die Klärung von Eigentums- und Rechtsfragen, die Wahlen von Hausverwaltern sowie eine gemeindliche Bauaufsicht. Die soll darauf sehen, „daß auf eine einfache, wohlfeile, doch auch anständige, dauerhafte und geräumige 48 49

Gottlob Barchet, Berichte von Distriktsversammlungen – III. In Hamburg. In: EB 28. Jg. (1891), S. 334 f und 341 f. – daraus alle Zitate, sofern nicht anders angegeben. Die Glaubenslehre […] der Evangelischen Gemeinschaft, Nürtingen 1868, S. 182.

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Weise“ gebaut werde. Ein Hinweis auf die missionarische Ausrichtung der Arbeit war der Verzicht auf jegliche Stol- und vor allem Stuhlgebühren. In der Kirchenordnung hieß es: „Da das Evangelium allen Menschen gepredigt werden soll, und nach der Lehre des Apostels Jakobus die Armen nicht zurückgesetzt werden dürfen; daher sollen die Sitze in unsern Kirchen ohne Unterschied frei sein für Alle, welche kommen, das Wort Gottes zu hören.“50

Es war klar, um Wort und Sakrament in der Gemeinschaft der Gemeinde feiern zu können, brauchte man entsprechende Versammlungsräume. Die waren in einer Großstadt wie Hamburg nicht leicht zu finden. Zu Versammlungen in Häusern von Freunden und Mitgliedern der Gemeinden einzuladen, schloss sich damals weitgehend aus. Die methodistischen Kirchen arbeiteten unter einfachen und oft sehr armen Menschen. Die hatten unter den Lebensverhältnissen am Ende des 19. Jahrhunderts keine Wohnungen, in die sie hätten einladen können. Bei der Bildung der ersten Gemeinde der Evangelischen Gemeinschaft in der Hansestadt kam hinzu, dass sie mit der Trennung von dem Verein Hoffnung verbunden war. Es scheint, als hänge die Loslösung, die auch räumliche Konsequenzen in sich schloss, mit der Ausbildung einer eigenen Identität und der Durchsetzung der eigenen Vorstellungen im Blick auf das Verständnis von Gemeinde und Gottesdienst zusammen. Prediger D. Niethammer vermittelt den Eindruck, als sei der in der Katharinenstraße 37 gemietete frühere Schulraum eine gute Lösung für die Sammlung einer Gemeinde. Dieser Raum war für die Kinder, die täglich in die Schule kamen, kein Problem, aber für ältere Menschen, die erst drei Stockwerke hinauf mussten, wenn sie den Saal überhaupt gefunden hatten, stellte sich das anders dar. Vor allem war jede Treppenstufe eine neue psychologische Hemmschwelle. Ideal scheint der Raum nicht gewesen zu sein, wenn er auch zunächst eine Wohnung für den Prediger und ein Unterkommen für die ersten Diakonissen bot. Der 1891 nachfolgende Prediger Carl Grün hat wieder in diesem Gebäude gewirkt und gelebt. Aber er war unglücklich, dass er keine großartigen Fortschritte berichten konnte. In einem Artikel über die Mission in den großen Städten bemerkte er: „Weil die Großstädte noch keine besonderen, großartigen und in die Augen fallenden Siege aufweisen können, dagegen aber viel Geld kosten, so werden sie nicht selten als Schmerzenskin-

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Ebd., S. 183 f.

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der behandelt und bedauert, aber nicht so für sie gebetet, wie es sein sollte.“ Später führte er auf dem Hintergrund seiner Hamburger Erfahrungen weiter aus: Drittens

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„Sollte man in den Großstädten geeignete Versammlungslokale haben, also keine kostspieligen Kirchen, sondern einfache, aber günstig gelegene Betsäle; denn das Volk geht in den Großstädten lieber in kleine, bequeme Versammlungsstätten, als in große Kirchen. Ach, wie thut es einem wehe, sehen zu müssen, wie die Schankwirte so passende und bequeme Lokale einrichten an schönen Orten und Ecken und zur ebenen Erde, und das Volk Gottes muß sich in abgelegenen Winkeln herumschlagen: In Berlin in einem Hinterhause drei Treppen hoch, in Hamburg auch im dritten Stock eines alten Hauses u. s. f.“52

Anfang 1893 sollten im Zuge der Hafenerweiterung 3.000 Arbeiterwohnungen in einer Vorstadt bezugsfertig sein. Dadurch hatte Grün die Hoffnung, „daß sich auch für uns ein anderes Plätzchen in der Stadt öffnen wird.“ Mit dieser Aussicht verbunden teilte Grün auch eine Enttäuschung mit. 53

„In der Vorstadt St. Pauli hatten wir eine Zeit lang ein unentgeltliches Lokal, welches uns aber durch ein ungeschicktes Vorkommnis verloren ging. Weil sich aber daselbst eine schöne Versammlung und eine blühende Sonntagsschule und Arbeitsschule sammelte, so mieteten wir ein anderes Lokal; was uns zwar ein wenig schwerfällt, aber der Herr wird uns helfen. Da wohnt nun auch die vom Diakonissenverein angestellte Missions- und Armenschwester, welche mir eine gute Stütze ist. In Hamburg-Hamm sind wir im Diakonissenheim Ebenezer, wo uns ein schöner Saal zur Verfügung steht. Doch wohnen daselbst viele reiche Leute, was wohl für unsere Schwestern passend ist, nicht aber unsere Sache fördert.“54

Die weitgehend in der Hauspflege eingesetzten Diakonissen fanden eher ein Arbeitsfeld bei den Reicheren, die für solche Dienste zahlen konnten; obwohl sie sich auch den Armen zuwandten. Die Mission der Kirche dagegen konnte unter der bürgerlichen Bevölkerung kaum einen Ansatz finden. Ihr Arbeitsfeld waren die armen und einfachen Leute. Schließlich wies Grün noch auf seine Predigtwirksamkeit im Hause Zoar in der Eppendorfer Tarpenbekstraße hin, wo er „unter Lahmen, Blinden, Krüppeln und Fabrikmädchen“ predige. Auch im schleswig-holsteinischen Altona hatten sie einen kleinen Saal mitten in der Stadt gemietet. Vermutlich in der später einmal genannten Gegend von 51 52 53 54

Carl Grün, Aus Norddeutschland – Unsere Großstädte. In: EB 29. Jg. (1892), S. 55. Ebd. Carl Grün, Aus Hamburg. Das Werk des Herrn. In: EB 30. Jg. (1893), S. 63. Ebd.

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Pinneberg hatte Grün auch einen Ansatz für seine Predigten gefunden. Der Bruder und Sohn eines nach Amerika ausgewanderten Schleswig-Holsteiners hatte den Hamburger Prediger dazu eingeladen. Der Ausgewanderte war in Amerika Prediger in der Evangelischen Gemeinschaft geworden und wollte seinen Angehörigen über seine nun in Hamburg wirkende Kirche auch den Weg zum lebendigen Glauben ebnen. Zwei Jahre später meldete sich der Hamburger Carl Grün wieder zu Wort. Er klagte über die Raumprobleme der drei Predigtplätze: 55

„Zu den mancherlei Hindernissen, mit denen wir seit 8 Jahren in dieser Hafenstadt zu kämpfen hatten, gehören die ungünstigen Lokalverhältnisse. Der Hauptsaal lag an einer engen Straße in einem alten Hause drei Treppen hoch, der zweite im Hof einer verrufenen Straße und der dritte im Diakonissenheim, inmitten der sogenannten reichen Viertel.“ 56

Jetzt trat endlich eine Wende ein. „Der Besitzer eines großen, schönen Hauses […] erbot sich, uns einen 200–300 Personen fassenden Saal einzurichten.“ In dem Stadtteil wohnen 60.000–80.000 Einwohner, es gibt weit und breit keine Kirche, und die Gemeinschaft hatte dort bisher die meisten Erfolge. Mit dem Saal verbunden war ein Gruppenraum, eine Küsterwohnung und eine Wohnung für den Prediger. Am 17. März 1895 fand die Einweihung statt. In der nun kommenden Zeit waren der Gottesdienst und die Sonntagsschule „überfüllt“. Grün, der bald seinem Nachfolger Platz machte, hatte eine Wende zum Guten eingeleitet. Bisher war „Vorarbeit“ geschehen; jetzt sollte es richtig los gehen. „Ich freue mich besonders“, schrieb er, „da ich meinem Nachfolger […] eine angenehme Hütte Gottes einräumen durfte, wo er mit Vergnügen weiterwirken kann.“ Es schien, als seien nicht alle der gleichen Meinung gewesen. Die Verantwortlichen dachten weiter in die Zukunft und waren überzeugt, dass „in den Großstädten Berlin und Hamburg […] in möglichster Bälde geeignete Gotteshäuser errichtet werden [sollten], wenn das Werk nicht Schaden leiden soll.“ Als Carl Grün 1895 nach Cannstatt versetzt wurde, nahm an seiner Stelle Carl A. Berner (1850–1920) den Dienst in Hamburg auf. Er bezog die neue Wohnung in der Wilhelminenstraße 65, wo nun auch die Versammlungen statt57

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Zu dieser Art von Kontaktaufnahme vgl.: Karl Heinz Voigt, Die Bedeutung der Auswanderung für die Ausbreitung der methodistischen Kirchen in Deutschland. In: Freikirchenforschung Bd. 5 (1995), S. 222–246. Carl Grün, Aus Hamburg. In: EB 32. Jg. (1895), S. 134. Sitzung der Missionsgesellschaft der Deutschland-Konferenz zu Mülheim a. d. R., den 6. Juni 1894. In: Anhang Verh. der Schweiz-Konferenz der Evang. Gemeinschaft in Thun 1894, S. 14.

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fanden. Die Parterre-Wohnung mit dem Kirchensaal lag im Gebiet von St. Pauli. Was von Grün als eine großartige missionarische Chance angesehen wurde, führte bei seinem Nachfolger Berner zu Anfechtungen. Schon bald nach seiner Ankunft bemühte er sich um eine Veränderung der räumlichen Situation für die Gemeinde. Waren es die Lage und das soziale Umfeld, das den aus dem Schwabenlande stammenden Carl Berner schockierte, weil er auf eine solche Situation nicht vorbereitet war? Am 10. August 1895 stellte er den Antrag an das kirchliche Baukomitee, „ein Anwesen in Hamburg um 125.000,00 Mark ankaufen zu dürfen.“ Der Antrag wurde abgelehnt, weil diese Bitte die Finanzlage der Konferenz überstieg. Dazu kam die Überzeugung, „daß wir in Hamburg gut fortmissionieren können, ohne uns eine solche Schuldenlast aufzuladen.“ Berner hielt es nur zwei Jahre in der quirligen Großstadt mit ihren ungeheuren sozialen Problemen aus. In einer Chronik der Gemeinde heißt es über ihn: „Der Übergang nach Norddeutschland fiel ihm nicht leicht.[…] Er fand schwer Eingang in der Gemeinde.“ Ein Konfliktfeld scheint sein durch die Heiligungsbewegung beeinflusstes Frömmigkeitsbild gewesen zu sein. Schon 1897 kam es zu einem neuen Wechsel. Berner wurde nach Schneidemühl gesandt. Für ihn kam der äußerst rührige Gustav Bähren (*1864). Der junge Pastor brachte Großstadterfahrungen mit. Bis 1891 war er in Karlsruhe, der badischen Metropole des damaligen Fürstentums, danach von 1892 bis 1897 in Berlin. In Hamburg übernahm er zunächst die Wohnung seines Vorgängers, um von St. Pauli aus seine Aktivitäten zu entfalten. Einige Jahre später zog er in die Eimsbütteler Chaussee. Die Arbeit nahm einen enormen Aufschwung. Innerhalb von zwei Jahren wurden fast 100 neue Gemeindeglieder gewonnen. Die Konferenz sandte mit dem jungen Heinrich Warweg (1877–1937) umgehend personelle Unterstützung. Auch in die Frage einer Herberge für die Gemeinde war Bewegung gekommen. Bähren hatte Kontakte zu einem Hauptzollamtsassistenten namens Otto Mau bekommen. Der hatte auf einem Grundstück, das ihm gehörte, eine Kapelle im Bau. Sie sollte im Januar 1899 fertiggestellt sein. Nun stand Mau ungeplant vor einem Umzug. Er hatte einen Ruf zur Mitarbeit im Blankenburger Allianzhaus angenommen. Weil dadurch auch die unter seiner Leitung stehende Gemeinschaft ohne Betreuung blieb, bot Mau über Bähren der Evangelischen Gemeinschaft an, die Kapelle „ohne jeden Nutzen abzutreten, indem er Grund und Boden 58

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Verh. des Baukomitees der Deutschland-Konferenz während des Jahres 1895/96. In: Verh. der Deutschland- & Schweiz-Konferenz der Evang. Gemeinschaft 1896 in Dresden, S. 16. O. V., 100 Jahre Erlöserkirche Hamburg-Eimsbüttel 1886–1986, Hamburg 1986, S. 13.

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nicht, sondern nur die Herstellungskosten berechne, welche samt innerer Einrichtung 37.000 Mark betragen. Die Kirche fasse 500 Personen und liege an einer Hauptstraße, 15 Minuten von unserem jetzigen Saal entfernt.“ Das Protokoll des gesamtkirchlichen Baukomitees, das darüber zu befinden hatte, vermerkte: „Br.[uder] Bähren meint, es wäre ein großer Fehler, wenn man das günstige Anerbieten abweisen wolle, und ersucht das Baukomitee, die Sache zu prüfen und dieses so günstige Angebot nicht abzuweisen.“ Trotz allen Werbens des Hamburger Predigers wurde „nach eingehender Prüfung des mitgesandten Planes und Erwägung aller Umstände […] beschlossen, daß wir auf das sehr liberale Anerbieten insofen eingehen wollen, daß wir von Herrn Mau die Kirche insoweit übernehmen, daß wir die Verzinsung der 37.000 Mark übernehmen und uns das Vorkaufsrecht vorbehalten.“ Der heutige Leser des Protokolls kann leicht den Eindruck gewinnen, als sei der kirchlichen Bauabteilung das Angebot an den jungen, in Bausachen noch wenig erfahrenen Bähren nicht ganz seriös vorgekommen. Die Bauabteilung fand damit einen Weg, das Angebot nicht auszuschlagen und doch die Möglichkeit des Erwerbs offen zu halten. 60

Erlöserkirche der Evangelischen Gemeinschaft in Eimsbüttel, erworben 1899 durch Gustav Bähren.

Bähren war hochengagiert. Er brauchte für die wachsende Gemeinde ein repräsentativeres Gebäude, das mehr Möglichkeiten zur Entfaltung des Ge60

Verh. des allgemeinen Baukomitees während des Jahres 1898/99. In: Verh. der Deutschland-Konferenz der Evang. Gemeinschaft Reutlingen 1899, S. 17.

Die Großstadt als neue Herausforderung

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meindelebens bot. Er schritt kurzerhand selber zur Tat. Am 20. Oktober 1898 teilte er dem Baukomitee mit, „daß er die Kirche, zu welcher noch zwei andere Liebhaber vorhanden seien, gekauft habe, und stellt das Gesuch, daß wir die Kirche übernehmen und auf unsere Aktiengesellschaft61 einschreiben lassen möchten, welches Gesuch zwar diesmal noch abgewiesen, aber auf eine spätere Auseinandersetzung mit Br.[uder] Bähren hin schließlich doch noch gewährt wird.“62

Man muss das kirchliche Baukomitee verstehen, denn die kleine Kirche hatte trotz einiger Zuschüsse aus Amerika nur begrenzte Mittel zur Verfügung. Hamburg hatte in den vorauslaufenden Jahren seit 1889 immer zu den Städten gehört, in die die höchsten Zuschüsse geflossen waren. Das würde sich bei dem Ankauf der Kapelle noch deutlich erhöhen. Bis zum Kommen von Bähren hatte die Gemeinde zusammen mit den in der Stadt wirkenden EbenezerDiakonissen lediglich 52 Glieder, und die scheinen finanziell nicht gut ausgestattet gewesen zu sein. Der Bauherr der kleinen Kirche, Hauptzollamtsassistent Mau, hatte eine christliche Gemeinschaft um sich geschart, die sich in der Eimsbütteler Osterstraße versammelte. Für diesen Kreis erbaute er auf eigene Kosten in der Eimsbütteler Chaussee die Kapelle. Durch seinen Umzug nach Blankenburg konnte er sein Vorhaben nicht zu Ende führen. Daher entschloss er sich für den Verkauf. Es handelte sich um ein schmales kirchliches Gebäude mit einem Kreuz auf dem Dach zur Straßenseite und einem Dachreiter. In den Kirchenraum waren an beiden Seiten Emporen eingezogen. Er konnte wohl kaum 500, aber doch einer beträchtlichen Zahl von Gottesbesuchern Platz bieten. Mit dem kirchlichen Gebäude übernahm Bähren auch eine Anzahl von Mitgliedern der Mau’schen Gemeinschaft. Die Einweihung der ersten eigenen Kirche der Evangelischen Gemeinschaft – ein „allerliebstes Kirchlein“ an der Eimsbütteler Chaussee 69 – fand nach dem hohen persönlichen Engagement von Prediger Gustav Bähren am 5. Februar 1899 statt. Das Kirchlein bekam nicht ohne Grund den Namen Erlöserkirche. Menschen ohne Glauben und Hoffnung sollten aus alten Gebundenheiten und Zwängen in die Freiheit eines Lebens mit Gott eingeladen wer63

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62 63

Angesichts nicht zu erreichender juristischer Anerkennung der Kirche bildete sie eine Aktiengesellschaft, um für das gemeinsame Eigentum einen Rechtsträger zu haben. Vgl. dazu: Karl Heinz Voigt, Freikirchen in Deutschland (19. und 20. Jahrhundert), Leipzig 2004, S. 121–124. Verh. des allgemeinen Baukomitees während des Jahres 1898/99. In: Verh. der Deutschland-Konferenz der Evang. Gemeinschaft Reutlingen 1899, S. 18. Gottlob Barchet, Die Kircheinweihung in Hamburg. In: EB 36. Jg. (1899), S. 93 f.

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Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

den. Aus dem neuen Zentrum der Erlöserkirche breitete sich die Arbeit in andere Stadtteile und Vororte aus, zuerst nach Harburg und nach Langenfelde.

Einladung und Eintrittsberechtigung zur Jubiläumsfeier 1924

5.

Das Verhältnis zur Gesellschaft und zu den Kirchen

Bisher gibt es keine überregionalen Untersuchungen über das Verhältnis der verschwindend kleinen Minderheitenkirchen zu den sie umgebenden staatlichen, gesellschaftlichen und politischen Institutionen. Darum stehen die folgenden Erwägungen unter dem Vorbehalt einer Vorläufigkeit, durch die vielleicht intensivere Forschungen angestoßen werden.

Das Verhältnis zur Gesellschaft und zu den Kirchen

5.1

165

Politische Orientierungen

Als die Prediger der Evangelischen Gemeinschaft nach Hamburg kamen, brachten sie bereits ihre zwischenkirchlichen Erfahrungen und Erlebnisse mit Polizei und Gerichten, aber auch festgefügte Vorstellungen über die Gesellschaft mit. Im Vergleich zu Württemberg war Hamburg in jeder Hinsicht ein liberales Pflaster. Die Prediger stießen auf ein Großstadtmilieu, verbunden mit einer ungewöhnlichen Internationalität. Alles stellte andere Herausforderungen an sie, die sie bisher nicht erlebt hatten. Politisch fiel den ankommenden Predigern sofort auf, welche Rolle die Sozialdemokratie in Hamburg spielte. Die Reichstagsabgeordneten, welche die Stadt in Berlin vertraten, gehörten dieser Partei an, der, wie es in einem Bericht bemerkt wird, fast 60 % der Bevölkerung zugeneigt gewesen seien. Zu den Hindernissen, die Prediger Grün in Hamburg für den Dienst der Kirche sah, gehörte „die alles verderbende Sozialdemokratie, die hier namentlich das Arbeitervolk und zum Teil den Bürgerstand beherrscht. Bekanntlich ist ja Hamburg im Reichstage durch lauter Sozialkdemokraten vertreten, und das will was heißen. Wir halten es daher für eine unserer größten Lebensaufgaben, dieselben auf redliche Weise durch Wort und Schrift zu bekämpfen und ihnen die verirrten Brüder zu entreißen. Ich glaube ganz entschieden, wenn dies ein evangelischer Prediger und christlicher Editor unterläßt, daß er eine seiner heiligsten Pflichten vernachlässigt.“64

Das ist eine deutliche Stellungnahme, die ganz im Trend der damaligen Zeit lag und die Einschätzung der den Kirchen und vor allem dem Glauben bedrohlich erscheinenden Partei zum Ausdruck brachte. Es war kein Wunder, dass man Hamburg auch die „Arbeiterhochburg“, nannte. August Bebel soll die Hansestadt sogar als „sozialistische Hauptstadt Deutschlands“ bezeichnet haben und Kaiser Wilhelm II. empfand, „daß in Hamburg alle Fäden der sozialistischen Verschwörung zusammenlaufen.“ Man muss in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass die SPD in ihrem Erfurter Programm von 1891 forderte, die „Religion zur Privatsache“ zu erklären, keine öffentlichen Gelder mehr für kirchliche Zwecke bereitzustellen und die Trennung von Kirche und Staat so konsequent zu gestalten, dass die Religionsgemeinschaften alle Angelegenheiten völlig selbständig ordnen. Eigentlich mussten bewusste Freikirchler sich hinter diese Forderungen stellen. Aber sie waren so 65

64 65

Carl Grün, Aus Hamburg. In: EB 28. Jg. (1891), S. 261. Beide Zitate in: M. Grüttner, Arbeitswelt an der Wasserkante, Göttingen 1984, S. 13.

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Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

tief in der Tradition verwurzelt, dass sie wohl deutlicher in den ideologischen, anti-(staats)kirchlichen Äußerungen gerade dieser Forderungen einen Angriff auf die Kirche und den christlichen Glauben sahen, der durch die Forderung nach der Loslösung der Schulaufsicht von der Kirche noch verstärkt wurde. Der von allgemein-christlichen Werten geprägte Staat war das Bild, das auch viele Freikirchler bewahrt hatten, selbst wenn sie bei andern Gelegenheiten ähnliche Forderungen wie die SPD aufstellten. Aber dass sie vor der damals kirchenfeindlichen Sozialdemokratie wegen deren Kampf gegen den christlichen Glauben erschraken, war Grund genug, diese abzulehnen und ihr den Kampf anzusagen. Fromme Christen waren kaisertreue Patrioten, was vermutlich durch die Vorwürfe, „Angelsächsisches Gewächs“ zu sein, noch verstärkt wurde. Bald kam hinzu, dass die Freikirchler zu den „vaterlandslosen Gesellen“ gerechnet wurden, man sie also in die Nähe der Sozialdemokraten rückte, die die Internationale sangen. Die öffentliche Ausgrenzung der Freikirchler führte bei ihnen zu nationaler Solidarisierung. Als Kaiser Wilhelm I. am 9. März 1888 starb, titelte gut eine Woche später das in Stuttgart erscheinende Wochenblatt Evangelischer Botschafter mit einem Kaiserbild und einem von Prediger Gottlieb Füßle (1839–1918) verfassten Gedicht. 66

„Du hast den Lauf vollendet, An Ruhm und Tugend reich, Zu Deutschlands Heil gesendet, Ein Held und Christ zugleich. Nie ward wohl mehr von Herzen Ein Fürst vom Volk beweint, Als heut in Trauerschmerzen Das deutsche Volk erscheint. Nie, nie wird es vergessen, Was Gott durch Dich ihm gab; Drum häuft es die Cypressen Um seines Kaisers Grab…“. 67

Sogar „zum Heil“ Deutschlands war der Kaiser von Gott gesandt. Was den Lesern des Wochenblattes an religiöser Überhöhung geboten wurde, zeigt nicht nur die nationale Begeisterung des Redakteurs, sondern leistete inner66 67

Karl Heinz Voigt, Gottlieb Füßle, BBKL Bd. 17 (2000), Sp. 415–422. F. (Gottlieb Füßle), Kaiser Wilhelm †. In: EB 25. Jg. (17. 03. 1888), Titelseite.

Das Verhältnis zur Gesellschaft und zu den Kirchen

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halb der gesamten Freikirche auch einen Beitrag zu einer nicht unbedenklichen Meinungsbildung. Carl Grün, zu dieser Zeit noch in Essen, wo „die Kruppschen Kanonen ihre Kraftproben erzeugen und so heftig donnern, daß ein Fremder auf den Gedanken kommen könnte, wir seien von Feinden umgeben,“ schrieb über seine Reaktion auf den Tod des Kaisers: 68

„Als die Trauernachricht vom Hinscheiden unseres allverehrten deutschen Kaisers Wilhelm I. eintraf, hielten auch wir, als evangelische Gemeinde und echte Patrioten, aus Liebe und hoher Verehrung für den Entschlafenen, einen Gedächtnis- und Trauergottesdienst ab.“69

Grün predigte über eines der letzten Bibelworte aus dem Munde des Kaisers und der Chor umrahmte die Feierstunde. Einige Wochen später schlug er „Ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal in der Evangelischen Gemeinschaft“ vor. „Aus Liebe, Hochachtung und Ehrerbietung“ sollte die Gemeinschaft „dem verewigten, großen, vielgeliebten Kaiser Wilhelm I. ein Denkmal setzen […] indem wir zu diesem Zweck ein ´KaiserWilhelm-Waisenhaus´ in Deutschland stiften und gründen.“ Als Wilhelm II. die Krone übernommen hatte, wurde von dessen Presseabteilung sein Bild für die Öffentlichkeit ausgestaltet. Das Wochenblatt berichtete, ihm liege „das Wohl seiner Unterthanen am Herzen. Die soziale Frage beschäftigt ihn in besonderem Maße,“ hieß es, „und es ist zu erwarten, daß er, wo nur immer möglich, kräftig eingreifen wird zur Besserung der Lage der ärmsten Klasse.“ Man muss dieses kaiserliche Programm auf dem Hintergrund des so genannten Sozialistengesetzes sehen, durch welches sozialistische Vereine, Versammlungen und Druckschriften verboten waren. Die Redaktion der Wochenzeitung veröffentlichte den vielsagenden Wunsch: „Hoffentlich werden sich die Arbeiter mehr und mehr überzeugen, daß sie an ihrem Kaiser einen besseren Freund und Vertreter ihrer Interessen haben als in den sozialistischen Worthelden, die im Reichstag vorgeblich die Sache der arbeitenden Klasse vertreten.“ Als die herrschaftliche Öffentlichkeitsarbeit verbreiten ließ, dass der Kaiser „in der Sprache der gläubigen Gemeinschaften“ bekannt gab: „Es kommt nicht auf das Haus und den Ort an, wo man zusammen kommt, die Kirchenmauern thun es nicht, sondern es kommt darauf an, was man treibt, 70

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Carl Grün, Aus der Kanonenstadt. In: EB 25. Jg. (1888), S. 118. Ebd. S. 119. Carl Grün, Ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal in der Evangelischen Gemeinschaft. In: EB 25. Jg. (1888), S. 174 f. Redaktionelle Nachrichten. In: EB 26. Jg. (1889), S. 95.

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Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

wenn man zusammenkommt, und wie Gottes Wort verkündigt wird,“ da erreichte das die Herzen manches Freikirchlers. Wenige Jahre später konnten sie sich an ihre unkritische Haltung erinnern, als sie in der kaiserlichen Hauptstadt mit dem zentralen Schloss ihre Kirchengebäude nicht an die Straßen bauen durften, sondern sich als Sekten mit dem Gebäude im Hinterhof der Berliner Schröderstraße begnügen mussten. Das ist wegen seines Standorts bis heute in dieser Hinsicht ein bemerkenswertes Baudenkmal anderer Art. Carl Grün war von 1891 bis 1895 nicht nur ein Missionar, sondern auch ein aufmerksamer Beobachter innerstädtischer Vorgänge. Während er seine Koffer zum Umzug nach dem heutigen Bad Cannstatt packte, erlebte er am 19. Juni 1895 in Hamburg die „großartigen Kaisertage“. Er schilderte: „Wir hatten reichlich Gelegenheit, den Kaiser und die deutschen Fürsten und vieles andere zu sehen.“ Danach folgt erstmals eine freimütige Kritik des unter sparsamsten Verhältnissen lebenden Predigers. 72

„Schlug auch unser patriotisches Herz warm für diejenigen, denen mit Recht Ehre gebührt,“ schrieb er, „so konnte doch unser christliches Gewissen mit dem großartigen und kostbaren Aufwand nicht einverstanden sein und das hauptsächlich im Hinblick auf die vielen Staatsschulden und die traurigen Volksverhältnisse. So kostete ja eine künstlich gebaute Insel, wo die hohen Fürsten kaum 3/4 Stunden bei strömendem Regen verweilen konnten, allein mehrere Hunderttausend Mark und ein Festessen für 1.400 Mann 140.000 Mark. Dann noch viele andere Ausgaben für Ehrenpforten und Ausschmückungen. Das war uns des Guten zu viel, weil es für unser genußsüchtiges und vergnügungsdurstiges Geschlecht nur schädlich wirken konnte. So was schafft mehr in die Arme des Umsturzwesens, als hundert Umsturzgesetze davon erlösen können. Würde man in solchen Dingen vorsichtiger und klüger, vor allem aber christlicher handeln, so brauchte man keine Umsturzgesetze.“73

Hatte sich das Bild des in dem Dorfe Bibersfeld bei Schwäbisch-Hall geborenen Grün in der norddeutschen Großstadt verändert? Konnte er jetzt auch kritischer auf die politisch Verantwortlichen blicken und ihre Arbeit nicht mehr nur als ein Bollwerk gegen die Umsturzgefahr sehen? Bei einem Berlin-Besuch hatte Grün zusammen mit seinem Berliner Kollegen und einem weiteren Prediger seiner Gemeinschaft eine Sitzung des Reichstags von der Loge aus beobachtet. Drei Gegenstände wurden verhandelt: die Kolonien, ein Unfallversicherungsgesetz und ein Gesetz gegen Wu72 73

Jakob Knapp, Aus Berlin. In EB 27. Jg. (1890), S. 187. Carl Grün, Von der Elbe an den Neckar. In: EB 32. Jg. (1895), S. 269.

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cherer. Grün beobachtete mit besonderem Interesse die beiden führenden Sozialdemokraten Paul Singer (1844–1911) und August Bebel (1840–1913) und kommentierte: „Ersterer, ein Jude von Fuß bis Kopf, ist ein gewandter Redner, mehr noch aber sein Kollege Bebel, den man einen schneidigen und sehr verständigen Redner heißen darf. Schade, daß diese beiden Männer nicht einer besseren Sache dienen, ach, was könnten sie Gutes schaffen! So aber ist zu befürchten, daß sie bei aller guten Meinung das Volk verwirren und die Klassen hintereinander hetzen. Auch die Antisemiten Böckel74 und Liebermann75 interessierten mich in hohem Grade. Ersterer mit einer ausgezeichneten Stimme begabt, hielt eine sehr fesselnde Rede über die Mangelhaftigkeit des jetzigen Gesetzes gegen die Wucherer, wobei er nicht nur die Regierung heftig angriff, so daß der Präsident mehrmals nach der Glocke greifen wollte, sondern auch die Geld- und Wucherjuden unbarmherzig Spießruten laufen ließ. Auch Liebermann tat sein bestes, daß die Juden nichts weniger als Engel erschienen, worauf der Freisinnige Riekert76 die Juden aufs glänzendste verteidigte, und die bezeichnende Bemerkung machte, daß die Juden das Alte Testament zur Grundlage ihrer Moral hätten, und weil das gut sei, so müssen sie, wenn sie darnach handeln, auch gut sein.“77

Es wird nach dem Besuch des alten Reichstags angeregte Diskussionen gegeben haben, besonders auch weil der Berliner Gastgeber Kücklich ja politisch mit Adolf Stoecker sympathisierte. Im Jahr 1893, als Carl Grün im dritten Jahr Prediger in Hamburg war und die nicht ohne Versäumnisse des Senats ausgelöste Cholera-Epidemie miterlebt hatte, schrieb er einen Artikel, in dem er sich zum Verhältnis der Staatskirchen zu den Freikirchen äußerte. Darin antwortete er auf die Frage: „Warum sollten die Staatskirchen, wenn auch nicht gerade freundlich, so doch duldsamer gegen die Freikirchen sein?“ Eines der Argumente war: „Weil die Freikirchen eine gute Stütze für den Staat und das Vaterland sind. Sie sind eifrig bemüht, das schöne Wort von Kaiser Wilhelm I. zu erfüllen: ´Sorgt dafür, daß dem Volke die Religion erhalten bleibt.´ Sie geben sich al74 75

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Otto Böckel (1889–1923), seit 1887 im Reichstag für den Raum Marburg. Max Liebermann von Sonnenberg (1848–1911). Der antisemitische Liebermann von Sonnenberg vertrat seit 1890 die Deutschsoziale Partei, die sich mit der Deutschsozialen Reformpartei vereinigte. Er benutzte schon die Formeln von der „Endlösung der Judenfrage“ und der „Vernichtung des Judentums“. 1892 schrieb er das Buch: Die Schädigung des deutschen Nationalgeistes durch die jüdische Nation. Hermann Rickert (1833–1902), seit 1874 Reichstagabgeordneter der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Carl Grün, Aus Norddeutschland – Im deutschen Reichstage. In: EB 29. Jg. (1892), S. 71.

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lerdings nie dazu her, den Hohen und Reichen eine Art schwarze Polizei zu sein, sie mischen sich auch in keine Staatspolitik, werden aber auch nie regierungsfeindlich auftreten, sondern darauf hinwirken, daß die Gesetze und Verordnungen des Staates ausgeführt, dem Volkswohl aufgeholfen und den Umsturzmächten gesteuert werde. Und solchen gesegneten Kirchengemeinschaften unduldsam entgegentreten und sie hindern in ihrem fruchtbaren Schaffen, ist ein Unrecht und eine Schmach für das 19. Jahrhundert und wird sich noch bitter rächen.“78

Mit diesem Themenfeld ist die Brücke zur Frage der Beteiligung an zwischenkirchlichen Beziehungen ein halbes Jahrhundert vor der Bildung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 in Amsterdam geschlagen. 5.2

Vorökumenische Erfahrungen

Die kleinen Freikirchen waren neben den großen Volkskirchen bisher kaum der Beachtung wert. Im Hamburg-Beitrag der neuen Theologischen Realenzyklopädie sind die Freikirchen nicht erwähnt. Friedemann Green hat in seiner Untersuchung Kirche in der werdenden Großstadt. Landeskirche und Stadtmission in Hamburg zwischen 1848 und 1914 zwar den entsprechenden Zeitraum behandelt, aber nach dem „Fall Craig, 1849“ lediglich die Gemeinschaftsbewegung in seine Untersuchung einbezogen. In dem Zusammenhang hat er auch die Bildung der Freien evangelischen Gemeinde erwähnt. Das geschah aber nur um aufzuzeigen, wie sich die Innere Mission „von sektiererischen Teilen dieser neuen Bewegung“ distanzierte. Schon die Sprache ist für unsere Zeit verdächtig. In seinen grundsätzlichen Erwägungen über das Verhältnis der Staatskirchen zu den Freikirchen hielt der Hamburger Prediger Carl Grün eine interessante Beobachtung fest. Er ging davon aus, dass die staatliche Kirchengesetzgebung nicht selten liberaler sei als das nachfolgende Verhalten der Staatskirchen gegenüber den Freikirchen. Anstatt sie als Mitstreiter willkommen zu heißen, legen sie den Freikirchen „in ihrer bekannten Unduldsamkeit allerlei Hindernisse in den Weg.“ Dabei fiel ihm auf, dass „die frei79

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Carl Grün, Warum sollten die Staatskirchen gegen die Freikirchen duldsamer sein? In: EB 30. Jg. (1893), S. 326. Bernhard Lohse, Hamburg, TRE Bd. 14 (1985), S. 404–414. Karl Heinz Voigt, Freikirchen in Deutschland (19. und 20. Jahrhundert), Leipzig 2004, S. 61–63. Carl Grün, Warum sollten die Staatskirchen gegen die Freikirchen duldsamer sein? In: EB 30. Jg. (1893), S. 326.

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sinnigen Pfarrer öfters froh sind, wenn nur etwas Gutes geschafft wird, die sogenannten gläubigen Geistlichen dagegen fast durchweg den Freikirchen feindlich entgegenarbeiten.“ Das mache es den Freikirchlern schwer, mit denselben Allianz zu pflegen. 82

„Unter ´evangelischer Allianz´ versteht man: Gleichberechtigung aller Beteiligten aufgrund des Evangeliums Jesu Christi. Wie kann aber ein ehrlicher, gewissenhafter Freikirchler mit einem Staatskirchenpfarrer Allianz haben, wenn dieser ihn nicht anerkennt als einen Mitarbeiter im Weinberge des Herrn, sondern als einen Sektierer behandelt und zwar nur deshalb, weil er überzeugungshalber nicht zur Landeskirche gehören kann.“83

Der Autor hatte bei seinem Artikel die Lage im ganzen Reich im Blick. In Grüns württembergischer Heimat hatte es gerade vorher wieder eine Auseinandersetzung gegeben, die hohe Wellen schlug. Den Methodisten wurde dort vorgeworfen, sich „in unsere Landeskirche eingeschlichen“ zu haben. Man war empört und bezeichnete es als „eine Beleidigung und Ungerechtigkeit, daß von den Methodisten neben Afrika, Indien, China u.[sw] Deutschland als eines ihrer Missionsgebiete bezeichnet [wird], daß unser evangelisches Deutschland, der Hauptherd der Kirchenerneuerung, das Land Luther’s, dem auch die Methodisten zu danken Ursache haben, in eine Linie mit den Heidenländern gestellt wird. Wir evangelische Geistliche Württembergs setzen unsere Kräfte ein, um das moderne Heidenthum zu bekämpfen […] Es ist kein Grund vorhanden, uns den Heiden gleich zu achten.“84

Hochoffiziell hatte die dortige Synode 1880 einen zweiten Synodal-Erlass, in dem sie sich kritisch mit der Arbeit der methodistischen Kirchen auseinander setzte, veröffentlicht. Es war eine Ermahnung an die landeskirchlichen Gemeindeglieder, keine Taufen, Trauungen, Beerdigungen von einem methodistischen Prediger vollziehen zu lassen, denn das habe den Ausschluss aus der Landeskirche zur Folge. Synoden anderer Landeskirchen haben sich in ähnlicher Weise geäußert. Besonders schmerzlich waren die Friedhofstreitigkeiten, 85

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Ebd. Ebd., S. 326. Zum Verhältnis der Gemeinschaftsbewegung zu den methodistischen Kirchen: Karl Heinz Voigt, Theodor Christlieb, Göttingen 2008 mit dem Kapitel: Theodor Christlieb und die Evangelische Allianz – Ev. Allianz zur Disziplinierung der „Außerkirchlichen“?, S. 211–247. O. V. (Ein Geistlicher der württembergischen Landeskirche), Eine Bitte an die „Evangelische Allianz“. In: Allgemeine Ev.-Luth. Kirchenzeitung, 25.Jg. (1892), S. 870. Synodal-Erlaß vom 12.02.1880, Nr. 2839. In: Amtsblatt des Ev. Consistoriums und der Synode in Kirchen- und Schulsachen Nr. 3380 v. 05.04.1880.

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Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

wenn methodistische Prediger auf einem landeskirchlichen Friedhof eine Bestattung vornehmen wollten Es gab immer wieder gerichtliche Auseinandersetzungen, weil die freikirchlichen Prediger – wenn sie trotz Verbots am Grab ihre Agende benutzten – Hausfriedensbruch begingen. Das Versagen des Glockengeläuts war in den Dörfern und Kleinstädten eine Art Ausschluss aus der überschaubaren Lebensgemeinschaft. Alle diese Probleme wurden in der Großstadt Hamburg nicht akut. Der Ohlsdorfer Friedhof war städtisch und die Kirchenbehörden kümmerten sich zu dieser Zeit kaum um die Methodisten. Wie war die „zwischenkirchliche“ Lage in Hamburg? 1880 gab es nach einer Volkszählung in Hamburg neben den traditionellen Kirchen Anglikaner, Altkatholiken, Baptisten, die Heilsarmee, Irvingianer, Mennoniten, Methodisten, Quäker, Presbyterianer und andere religiöse Gruppen. Die hier nicht eigens ausgewiesenen Prediger der Evangelischen Gemeinschaft fanden im freikirchlichen Bereich schnell Kontakte. Aber sie beobachteten auch aufmerksam, was sich in den Landeskirchen tat. Der Protestantenverein habe abgewirtschaftet und sei bedeutungslos geworden, Ritschls wässerige Theorie und seine Schulen bedrohen die evangelische Wahrheit, die katholische Kirche sei trotz der Bemühungen von Wilhelm I. in ihrer Macht gewachsen. Im Wirrwarr dogmatischer Schulen, theologischer Fehden, kirchlicher Streitigkeiten, öffentlicher Kämpfe verzehre sich die Lebenskraft des Protestantismus. Es fällt auf, dass Jakob Klenert (1859–1933) die Gruppe der Positiven Union nicht erwähnt, die in Fragen der Evangelisation und der Mitwirkung von Laien ähnliche Positionen vertrat, wie die methodistischen Kirchen. Über das Rauhe Haus und andere „gesegnete Anstalten“ berichtete Grün freundlich. Es scheint, als habe er 1891 am Jahresfest der Alsterdorfer Anstalten teilgenommen, bei dem nach seinem Bericht unter Fackeln und Trommelwirbel „patriotische Reden gehalten, ein Hoch auf den Kaiser ausgebracht und verschiedene Feuerwerke abgebrannt“ wurden. Gelegentlich besuchten Prediger der Evangelischen Gemeinschaft auch landeskirchliche Gottesdienste, wie z. B. in der Nikolaikirche. 86

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Carl Grün, Aus Hamburg – Der Gottesacker. In: EB 30. Jg. (1893), S. 69 f. schildert Beerdigungsbeobachtungen in Hamburg. Friedrich Oldenberg u.a. (Hg.), Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause, 45. Jg. (1888), S. 148. Jakob Klenert, Freikirchentum und Staatskirchentum. In: EB 26. Jg. (1889), S. 86 f. Karl Heinz Voigt, Jakob Klenert. In: BBKL Bd. 4 (1992), Sp. 35. Carl Grün, Aus Hamburg – Das Jahresfest gesegneter Anstalten. In: EB 28. Jg. (1891), S. 334.

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Wichtiger als diese Beobachtungen der Situation in den Landeskirchen war für die Minderheiten die frühe Einheitsbewegung der Evangelischen Allianz. In der ersten Januarwoche fand seit 1846 traditionell die internationale Gebetswoche statt. Grün berichtet 1892 darüber. „Neben den vielen Nachtseiten unserer alten Hansestadt gibt es auch eine Menge glänzender Lichtseiten.“ Er bemerkt in seinem Bericht, dass er zu einem Vorbereitungstreffen für diese Woche eingeladen worden war. Es nahmen Baptisten, Methodisten, Presbyterianer – was sicher die Gemeinde der Jerusalemkirche irischer Tradition mit Pastor Frank meint –, Mennoniten und die Evangelische Gemeinschaft teil, außerdem vier lutherische Pastoren und Baron Jasper von Oertzen, der offensichtlich die Gesamtleitung hatte. In den abendlichen Gebetsversammlungen sprachen immer Prediger verschiedener Kirchengemeinschaften. Grün war beeindruckt von dieser erhebenden Gemeinschaft, in der er keinen Misston vernahm. Nach einem Anfang dieser Allianz vor 30 Jahren war sie in den letzten Jahren „ziemlich eingeschlafen […], weil man mehr auf die Trennungen als auf die Einigungspunkte schaute.“ Die Lage in der Berliner Allianz war zu dieser Zeit ganz anders. An einer Konferenz, die am Gründungsort der ersten Vereinigung in Deutschland stattfand, war unter den Rednern kein Freikirchler vertreten. Dazu gab es eine kritische Anmerkung. Dieses lag aber ganz im Trend dieser Jahre. 1888 hatte die erste Gnadauer Konferenz die Initiative gestartet, die Freikirchen zu isolieren. Da die Vertreter der landeskirchlichen Gemeinschaften in der Evangelischen Allianz eine einflussreiche Rolle gewonnen hatten, wirkten sich die Gnadauer Bemühungen dort aus. Die Abgrenzung mit der Sprachregelung „kirchlich“ und „außerkirchlich“, was natürlich theologisch unmöglich ist und „außer[landes]kirchlich“ meinte, spielte seit der Organisation der Gemeinschaftsbewegung zunehmend eine Rolle. Trotzdem blieben die methodistischen Kirchen im Bereich der Allianz aktiv. In der Stadt Hamburg gab es scheinbar keine Probleme. Der Prediger der Evangelischen Gemeinschaft besuchte Tagungen wie z.B. 1889 die des Sendbotenvereins in Schleswig-Holstein. Nach früheren Erfahrungen mit dem Iren Craig hat der Verein unter dem Einfluss von Jasper Oertzen die Abgrenzung zu „außerkirchlichen“ in seiner Ordnung festgeschrieben. Prediger Niethammer beobachtete: „Der Verein ist interkonfessio91

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Karl Heinz Voigt, Die Evangelische Allianz als ökumenische Bewegung, Stuttgart 1990. Carl Grün, Aus Norddeutschland – Die Allianzgebetswoche in Hamburg. In: EB 29 Jg. (1892), S. 62 f. Allianzsache. Redaktionelle Notiz. In: EB 29. Jg. (1892), S. 260. David Niethammer, Der Sendbotenverein in Schleswig-Holstein. In: EB 26. Jg. (1889), S. 94.

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Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

nell, d. h. soweit das in staatskirchlichen Grenzen möglich ist, denn er arbeitet ausschließlich innerhalb der Staatskirche und für dieselbe.“ Er wird geleitet durch Jasper von Oertzen. Eine der Ansprachen hielt Andreas Graf von Bernstorff (1844–1907) , der zwar in der Allianz eine zentrale Rolle spielte, aber auch eine innerlandeskirchliche Allianz bevorzugte. Als der bekannte Evangelist Elias Schrenk 1893 nicht nach Hamburg kommen konnte, waren nach einem Bericht von Carl Grün im Wochenblatt der Evangelischen Gemeinschaft andere Evangelisten eingesprungen. Wieder ist Baron von Oertzen maßgeblich beteiligt, daneben Pastor Johannes Röschmann (1862–1901), Pastor Carl Jungclaussen (1850–1924), und einer von Theodor Christliebs Söhnen, entweder Theodor Friedrich (1862–1935) oder Alfred (1866–1934), auch Curt von Knobelsdorff (1838–1904), ein ehemaliger Oberstleutnant, der sich jetzt der Blaukreuzarbeit, einer Antialkoholbewegung, verschrieben hatte, war nach Hamburg gekommen. Getreu der Gnadauer Losung war kein Freikirchler an dieser missionarischen Kampagne beteiligt. Es war schon bemerkenswert: Sie „teilten keine Seitenhiebe gegen die Nichtangehörigen der Landeskirchen aus; im Gegenteil, sie anerkannten dieselben völlig als ihre Mitbrüder […] und als ihre Mitarbeiter in seinem Weinberge.“ Zwei Jahre später erwähnte Grün Pastor Theodor Jellinghaus (1841–1913) mit seinen Bibelkursen freundlich. Jellinghaus hatte zuerst mit seinem Buch über die Heiligungslehre Das völlige Heil durch Christum in frommen Kreisen Aufsehen erregt und war später in die Auseinandersetzungen um die entstehende Pfingstbewegung einbezogen. Auch die seit 1898 in Hamburg eingeführten Osterkonferenzen, Begegnungen, die ganz im Zeichen der Gemeinschaftsbewegung standen, hatten keinen Raum zur Mitwirkung von Freikirchlern, obwohl sie daran interessiert waren. An der zweiten Konferenz befand sich der inzwischen nach Hamburg versetzte Prediger Gustav Bähren unter den Besuchern. Er berichtete von der Gelegenheit, manchen der führenden Männer aus der Gemeinschaftsbewegung begegnet zu sein. Darunter waren Curt von Knobelsdorff und Pfarrer Otto Stockmayer (1838–1917), der in der Allianz und in der Heilungsbewegung eine Rolle spielte und oft die Heiligungskonferenz in Keswick im englischen Lake District besuchte. Weiter Pastor Herbst aus Wuppertal, der auch am Johanneum unterrichtete, und Rektor Christian Dietrich (1844–1919), der führende Kopf der württembergischen Gemeinschaften aus Stuttgart. Sie alle 95

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Karl Heinz Voigt, Andreas Graf von Bernstorff,. In: BBKL Bd. 27 (2007), Sp. 79–99 Carl Grün, Andere Evangelisten. In: EB 30. Jg. (1893), S. 189 f. Carl Grün, Aus Hamburg. In: EB 31. Jg. (1895), S. 134.

Das Verhältnis zur Gesellschaft und zu den Kirchen

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standen auf der Rednerliste. Zu den weiteren überregional bekannten Rednern gehörten wieder Graf Bernstorff und der später in Verbindung mit der aufkommenden Pfingstbewegung einflussreiche Heiligungslehrer und Prediger Jonathan Paul (1853–1931). In seinem Bericht nannte Bähren auch zwei Hamburger Pastoren, die der erwecklichen Szene zuzurechnen sind: Johann Heinrich Hoeck (1850–1921) von der Stiftskirche (St. Georg) und Friedrich Mahling (1865–1933), der zu dieser Zeit Vorsteher der Hamburger Stadtmission war. Auch an dieser Osterkonferenz war die Gemeinschaftsbewegung unter sich. Bähren machte dazu keine Bemerkungen. Die Berichterstattung über die methodistische Schwesterkirche, die Bischöflichen Methodisten, ist eher spärlich. Natürlich hat Niethammer bei seinem Kommen den dortigen Prediger Adolf Lüring aufgesucht und auch die entstandene Diakonissenarbeit des Bethanien-Vereins gesehen. Er fühlte sich durch ihren hingebungsvollen Dienst ermutigt. In dem Zusammenhang erwähnt er auch die Baptisten und die Stadtmission. Die Zahl der milden Stiftungen und wohltätigen Anstalten in der Hansestadt beeindruckte ihn. Als der BethesdaVerein mit seiner Hamburger Station Ebenezer am 4. Oktober 1889 sein erstes Jahresfest feierte, war auch der Methodist Adolf Lüring (1828–1896) eingeladen. Er sprach dort über das Gleichnis vom Senfkorn, aus dem ein großer Baum wurde. Im darauffolgenden Jahr hatten die Prediger der norddeutschen Großstädte ihre Distriktsversammlung in Hamburg. Dazu waren die bischöflich-methodistischen Nachbarn nicht eingeladen. Aber als zum Abschluss das Ebenezer-Jahresfest gefeiert wurde, kam außer Prediger Adolf Lüring auch der neu nach Hamburg gezogene Bethanien-Inspektor Philipp Lutz (1848–1930) dazu. Schon am Beginn seiner Dienstzeit war der erst 1888 nach Hamburg gekommene David Niethammer zur Abschlussfeier eines Ausbildungsjahres in das baptistische Predigerseminar eingeladen. Er war von der Feier, die er wohl nicht ohne Vorurteile besucht hatte, beeindruckt. In Anspielung auf die baptistische Taufpraxis schrieb er: „Von einer ´Wasserstraße´, die sie von anderen Gläubigen trennen würde, hörte ich gottlob nichts.“ Niethammer war es gewohnt, dass Ordinationen in der Dienstgemeinschaft an den Konferenzen der Pastoren erfolgten. Daher merkte er seinem Bericht an: „Die Ordination wird seltsamerweise von den Gemeinden vollzogen, aus denen sie [die Predi98

99

100

98 Gustav Bähren, Von der Hamburger Osterkonferenz. In: EB 35. Jg. (1899), S. 135 f. 99 Redaktionelle Mitteilung. In: EB 26. Jg. (1889), S. 348. 100 Gottlob Barchet, Berichte von Distriktsversammlungen. In Hamburg. In: EB 27. Jg. (1890), S. 342.

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Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

ger] hervorgegangen sind.“ Den Weg ins Predigerseminar nach HamburgHorn benutzte Niethammer, um dem Rauhen Haus einen Besuch abzustatten. Niethammers Nachfolger Carl Grün besuchte die Horner Predigerschule zwei Jahre später ebenfalls. Er war eingeladen an der dort tagenden Bundeskonferenz, der jährlichen Versammlung aller baptistischen Gemeinden, teilzunehmen. Grün begann seinen Bericht mit einer Bemerkung über Veränderungen der zwischenkirchlichen Lage. 101

„Wo hätte man es früher erlebt, daß Baptistenprediger Prediger der Evangelischen Gemeinschaft zu ihren Konferenzen eingeladen hätten? Die Kluft war zu groß. Die gewaltige Tauffrage hat die Brüder, die doch dasselbe Ziel verfolgen, nämlich Seelen zu retten und die Ehre des Herrn zu erhöhen, einander sehr weit entfernt. Seit aber nüchterne und aufrichtige Baptisten einsehen, daß der Herr andere Gotteskinder gerade so lieb hat und ihnen denselben Erfolg und Segen schenkt wie ihnen, und seit man auch auf unserer Seite immer mehr anerkennt, daß den Baptisten das Heil der Welt wie uns am Herzen liegt, und da sie doch auf dem Gebiet des Freikirchentums, nebst den [bischöflichen] Methodisten unsere treuesten Verbündeten sind, änderte sich das.“

Den Verhandlungsverlauf fand Grün gemütlich und nicht so streng geführt, wie er es gewohnt war. Grün sah in Professor August Rauschenbusch (1816– 1899) eine „ehrwürdige Gestalt“. Es nötigte ihm Respekt ab, dass Rauschenbusch 30 Jahre lang in Amerika einer Hochschule vorstand. Dort leitete er seit 1858 als theologischer Lehrer die deutschsprachige Abteilung des baptistischen Theologischen Seminars in Rochester. Rauschenbuschs Sohn, Walter (1861–1918), wurde der bedeutendste Vertreter des Social Gospel, das in der Ökumenischen Bewegung zu heftigen Diskussionen führte, als sich europäisch-kontinentale und amerikanische Theologie auf der ersten ökumenischen Weltkonferenz 1925 in Stockholm begegneten. Grün freute sich, auch einem Schwaben unter den Baptisten zu begegnen, der in einer süddeutschen Gemeinde der Evangelischen Gemeinschaft zum Glauben gefunden hatte. Auf freikirchlicher Ebene gab es durch die Sonntagsschulen mit vier Freikirchen eine gemeinsame überregionale Arbeit. Es ist bezeichnend, dass der Baptist Claus Peters 1889 anlässlich der Konferenz der Prediger der Evangelischen Gemeinschaft in Wuppertal vorgestellt wurde als „Sonntagsschulmissi102

103

101 David Niethammer, Aus Hamburg. In: EB, 26. Jg. (1889), S. 237. 102 Carl Grün, Aus Hamburg. In: EB 28. Jg. (1891), S. 326. 103 Karl Heinz Voigt, Internationale Sonntagsschule und deutscher Kindergottesdienst. Göttingen 2007, S. 171–185: Die Bildung des Bundes freikirchlicher Sonntagsschulen.

Das Verhältnis zur Gesellschaft und zu den Kirchen

177

onar der freikirchlichen Sonntagsschul-Union von England.“ Im Jahr 1891 kam es zu einer offiziellen Zusammenarbeit, nachdem eine freikirchliche Sonntagsschulkonferenz 1891 in Berlin ein Bundesstatut angenommen hatte. Danach kam es hier und da auch auf Ortsebene zu zwischengemeindlichen Beziehungen. 1893/94 wurde sogar ein Hamburger freikirchlicher Sonntagsschulverein ins Leben gerufen. Das könnte die erste Zusammenarbeit autonomer Kirchen in Hamburg überhaupt gewesen sein. Er hat nach einem in der amerikanischen Sonntagsschulbewegung entwickelten Konzept der Erwachsenenbildung gearbeitet. Zum freikirchlichen Sonntagsschulverein hatte auch die Jerusalemgemeinde mit Pastor Arnold Frank Kontakte. Die Prediger der Evangelischen Gemeinschaft waren ihm von Zeit zu Zeit begegnet. Grün traf ihn schon bei seinem ersten Hamburg-Besuch 1887 und nahm an dem Jünglingsfest in dessen Kirche teil. Im Bereich der Allianz begegneten sie sich immer wieder, und es war selbstverständlich, dass er 1899 von Gustav Bähren auch zur Einweihung der Kapelle in der Eimsbütteler Chaussee eingeladen war und ein Wort der Ermutigung sagte. Zu erwähnen bleibt schließlich, dass Friedrich Wilhelm Baedeker (1823–1906), der Weltreisende und Allianzmissionar vor allem in Russland und Sibirien, im Saal der Evangelischen Gemeinschaft auf St. Pauli zweimal Versammlungen gehalten hat. Versetzt man sich an das Ende des 19. Jahrhunderts, dann ist es erstaunlich, über welches Kontaktnetz die kleine Gemeinde in Hamburg verfügte. Die Grundvoraussetzung dafür ist einfach zu beschreiben. Methodistische Christen hatten keine Berührungsängste, wie man sie ihnen gegenüber vielfach zeigte. Sie sind nicht gegen andere Kirchen, nicht gegen die reformatorischen theologischen Positionen und nicht gegen Pastoren angetreten, sondern gegen die Sünde, die sich zuerst im moralischen Niedergang des einzelnen Menschen zeigt und danach in der Gesellschaft auswirkt. Sie waren auch keine pietistischen Konventikelhalter, sondern weltoffene Christenmenschen, 104

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106

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108

109

104 Verh. der Deutschland-Konferenz der Evang. Gemeinschaft (Elberfeld) 1889, S. 6 – Auch S. 8 u. 10. Vgl. Verh. 1893, S. 18 – Anschluss an den Sonntagsschulbund. 105 Gottlob Barchet, Die freikirchliche Sonntagsschulkonferenz in Berlin. In: EB 28. Jg. (1891), S. 254 f. 106 Karl Heinz Voigt, Internationale Sonntagsschule und deutscher Kindergottesdienst. Göttingen 2007, S. 196 f. Auch: Georg Reibert, Der Verein zur Förderung des Sonntagsschulwerkes in Hamburg und Umgegend. In: Sonntagsschul-Mitarbeiter 16. Jg. (1894), 95–97. 107 Ebd., 196 f. Auch: Karl Heinz Voigt, John H. Vincent. In: BBKL Bd. 27 (2007), Sp. 1452– 1466. 108 Gottlob Barchet, Die Kircheinweihung in Hamburg. In: EB 34. Jg. (1899), S. 98. 109 Redaktionelle Notiz, Aus Hamburg. In: EB 33. Jg. (1898), S. 4.

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Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

die nicht nur selbstbezogen nach dem eigenen Heil fragten, sondern die den Problemen der Zeit auf der Grundlage ihrer eigenen theologischen Position ins Gesicht schauten. Dazu kam die immer innerhalb der methodistischen Kirchen betonte ökumenische Gesinnung. Bischof Johann Jakob Escher (1823–1901) sagte einmal über die Entwicklung seiner Kirche: 110

„Die Evangelische Gemeinschaft ist zur selbständigen Kirchengemeinschaft herangereift; aber bei ihrer Selbständigkeit steht sie andern Kirchen gegenüber nicht vereinzelt da, sondern steht mit der ganzen Christenheit gemeinsam auf dem Grunde des göttlichen Wortes […]. Was den Lehrbegriff und die Predigt anbetrifft, stehen wir so lauter, als irgendeine Kirchengemeinschaft gestanden hat. Wir suchen nicht gewisse Lehrmeinungen dem Worte anzupassen, sondern das Wort zu erklären.“111

6.

Struktur und Entwicklung der Gemeinde

Unter einigen Gesichtspunkten kann der Blick in die Statistik hilfreich sein. Das Zahlenwerk kann aber auch völlig falsche Bilder hervorrufen. Betrachtet man beispielsweise die Zahl der Mitglieder, um von daher Schlüsse über das Gemeindeleben zu ziehen, dann ist es ausgeschlossen, der missionarischen Arbeit gerecht zu werden. In der Mitglieder-Statistik sind jeweils die Menschen erfasst, die sich der Gemeinde verbindlich angeschlossen hatten. Die kirchenordentlich festgelegten Aufnahmebedingungen bedeuteten eine hohe Hürde, denn man musste vor der versammelten Gemeinde seinen Glauben bekennen. Die Aufnahme hatte theologisch die Bedeutung der landeskirchlichen Konfirmation, also der persönlich verantworteten Übernahme der Taufverpflichtung. Es war – ohne dass man es gewusst hätte – ein Kirchengliedschaftsmodell, das auch Johann Hinrich Wichern auf dem Kirchentag 1869 in Stuttgart vorgeschlagen hat. Aber wer sich mit der Frage der Aufnahme in eine methodistische Kirche auseinander zusetzen begann, der hatte schon eine andere Hürde genommen. Es war und ist im Denken der Bürger unseres Landes tief verankert, dass man aus der angestammten Kirche nicht austritt. Konfessionswechsel ist eine Art Sakrileg. Die Herabsetzung aller Nichtlandeskirchler als Sektierer schuf hohe Barrieren. Außerdem war mit dem Austritt aus einer Staatskirche lange Zeit auch der Verlust bestimmter bürgerlicher Rechte verbunden, durch die Berufe im Staatsdienst verschlossen blieben. Selbst Grabstellen auf kirchlichen Friedhöfen wiesen über den Tod hinaus 110 Karl Heinz Voigt, Johann Jakob Escher. In: BBKL Bd. 15 (1999), Sp. 528–537. 111 Jakob Klenert, Freikirchentum und Staatskirchentum. In: EB 26. Jg. (1889), S. 87.

Struktur und Entwicklung der Gemeinde

179

noch aus, dass ein Kirchenaustritt erfolgt und ein Ausschluss aus der Gesellschaft damit verbunden war. Eine Folge der öffentlichen Einschätzung der methodistischen Kirchen waren die geringen Mitgliederzahlen. Sie spiegeln aber keineswegs das Bild vom Leben und Wirken einer Gemeinde wider. Dabei gab es sicher erhebliche Unterschiede zwischen Stadt und Land. Wenn in einem Dorf ein rationalistisch geprägter Pfarrer war, dann überwinterten nicht selten seine vom Pietismus und der Erweckung beeinflussten „Schäfchen“ in einer Gemeinde mit einer biblischen Verkündigung und einem Gemeindeleben, in dem solche Frömmigkeit nicht verspottet wurde, sondern ihren natürlichen Platz hatte. Viele Mitarbeiter in den Sonntagsschulen, Sänger in den Chören und Teilnehmer von Bibelstunden sind nie Mitglieder einer methodistischen Gemeinde und Kirche geworden und sie haben, trotz ihrer Kirchensteuer, oft auch die freikirchliche Gemeinde mit ihren Gaben unterstützt. 6.1

Statistische Übersicht

Unter dem festgestellten Vorbehalt ist die Statistik zu lesen. Trotz der erwähnten Einschränkungen vermittelt sie manche hilfreiche Einsichten. Darum wird hier ein Auszug mit interpretationsfähigen Daten vorgelegt. Sie beginnt nach der Gemeindebildung und reicht bis zur Wende zum 20. Jahrhundert. Aufnahmen

1889 1890 1891* 1892 1893 1894 1895* 1896 1897* 1898 1899 1900

13 2 5 7 4 11 11 12 2 48 50 35

Zuzüge

Wegzüge

6 0 6 9 8 3 0 24 9 9 5 6

0 0 2 9 6 6 10 9 10 13 9 9

Mitglieder112

19 24 28 34 39 44 50 60 52 95 132 148

Taufen

0 5 1 0 1 0 0 0 0 0 0 0

Sonnt. schulen

1 2 2 2 3 3 2 3 2 3 4 4

Lehrer/ innen

4 2 7 7 10 10 13 14 11 17 21 24

Kinder

70 100 100 100 150 160 160 170 135 250 410 350

112 Es handelt sich lediglich um einen Auszug, der darum in sich nicht stimmig sein muss. Todesfälle, „zurückgezogen“ oder „gestrichen“ werden nicht erfasst.

180

Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

Aufgrund der Rolle und Bedeutung des methodistischen Predigers als Missionar und Missionsleiter kann man die statistische Entwicklung unter dem Gesichtspunkt der Predigerwechsel lesen, die jeweils mit einem * angezeigt sind. Sie fanden immer mit dem Beginn der zweiten Jahreshälfte statt, während das Zahlenwerk mit dem Kalenderjahr übereinstimmt. Es sind von daher gewisse Verschiebungen zu beachten. In Verbindung mit der Schriftenmission werden nachfolgend die Namen der Hamburger Missionare und die Jahre ihrer Tätigkeit in Hamburg erfasst: Botschafter

1889 Niethammer 1890 Niethammer 1891 Grün 1892 Grün 1893 Grün 1894 Grün 1895 Berner 1896 Berner 1897 Bähren 1898 Bähren 1899 Bähren 1900 Bähren

KinMissi- SonnGute deronstags- Botsch freund freund schulfr. .

BiblioJüngl. thek Vereine So.-sch.

Frauen Vereine

021

040

00

07

010

000

0

0

050

034

13

03

075

000

0

0

040 050 082 108 105 122 123 190 253 303

060 080 135 155 170 182 156 177 235 203

00 40 40 40 50 40 60 65 75 75

13 14 14 10 10 15 12 21 27 24

080 150 300 500 600 700 500 400 650 700

100 080 100 150 133 160 170 240 415 415

0 0 0 1/42 1/55 1/50 1/59 4/60 4/80 4/80

0 0 0 1/13113 2/30 2/30 2/30 2/30 3/40 3/30

Es folgen erläuternde Anmerkungen zu den statistischen Zahlen. 6.2

Aufnahmen in die Kirche

1889 scheint eine Anzahl von der früheren Gemeinschaft Hoffnung übernommen zu sein. Die Entwicklung zeigt zunächst, wie schwer die Gemeindebildung trotz des hohen Einsatzes eines Missionars und einiger Diakonissen war. Die Zahlen werfen aber auch die Frage auf, welche Rolle die Begabung des einzelnen Predigers spielte. Gustav Bähren, bei dem die Zahlen sich sprung113 Zahl der Gruppen und Zahl der Mitglieder.

Struktur und Entwicklung der Gemeinde

181

haft erhöhen, hat nicht nur die Eimsbütteler Gemeinschaft des Zollamtsassistenten Mau übernommen, sondern verfügte nun auch über einen repräsentativeren Kirchenbau in der Eimsbütteler Chaussee und war hier, wie in anderen Städten, überdurchschnittlich erfolgreich.

Typisch für Kapellen der methodistischen Kirchenfamilie war im 19. Jahrhundert die Kanzel in der Mitte, davor der bescheidene Abendmahlstisch und die Kniebank zur Fürbitte und zum Abendmahlsempfang. Über oder neben der Kanzel stand ein zentrales Bibelwort.

6.3

Zu- und Wegzüge

Im Verhältnis zu der kleinen Gliederzahl sind unverhältnismäßig viele Menschen zu- und weggezogen, die der Evangelischen Gemeinschaft angehörten. Im Falle eines Umzugs war es in der Kirchenordnung geregelt, dass wegziehende Mitglieder einer Gemeinde „mit Schein“, wie es dann auch in den Statistiken ausgewiesen wurde, weg- und in anderen Gemeinden zuzogen. Ein beträchtlicher Teil der Hamburger Gemeinde war also nicht das Ergebnis missionarischer Arbeit in Hamburg, sondern die Großstadtgemeinde diente als Auffangbecken für solche, die überwiegend aus beruflichen Gründen in

182

Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

die Stadt zogen. Die Präsenz einer Gemeinde bedeutete für die urbane Gesellschaft eine enorme Hilfe bei der Beheimatung von Nichtstädtern in der neuen Umgebung. Hamburg hatte z. B. 1895, ein Jahr vor der größten Zahl der Zuzüge, bei einer Einwohnerschaft von 705.738 Menschen einen Anteil von 34,2 % innerhalb der Stadt „Umgezogene“ und 14,4 % „Zugezogene“. In der Gemeindeentwicklung spiegeln sich entsprechende Entwicklungen wider. Auch der Umzug in die Kapelle nach Eimsbüttel zählt dazu, denn auch dieser Stadtteil wurde zu dieser Zeit stärker als zuvor erschlossen und bebaut. Freilich steht den Zuzügen auch ein deutlicher Abgang gegenüber. Ob es sich dabei um Zeitarbeiter, um Landflucht oder Verluste durch den innerstädtischen Umzug handelte, ist nicht mehr zu ermitteln. Setzt man die statistisch erfassten Zahlen mit dem erheblich höheren Gottesdienstbesuch in Beziehung, dann lässt sich eine ziemliche wechselhafte Gemeinschaftserfahrung und ein permanenter Gewinn und Verlust von Mitarbeitern daraus schließen. Das war in Dörfern und Kleinstädten unvorstellbar. Trotzdem stieg die Gesamtzahl der Kirchenglieder kontinuierlich. Einmal ist die Zahl von fünf Taufen bei 24 Mitgliedern ungewöhnlich. 114

6.4

Zeitschriften

Die Zeitschriften sind ein Indikator für die Zahl derer, die in einer Beziehung zur Gemeinde lebten, aber auch für ihre missionarische Kraft in der Zeitschriftenmission. Der Evangelische Botschafter war das Wochenblatt der Gemeinde. Jahrelang erschien er im 19. Jahrhundert unter dem Datum des jeweiligen Sonnabends. Der Grund war ohne Frage das strenge Verständnis der Sonntagsheiligung. Die im eigenen Verlag mit einer dazugehörenden Druckerei erscheinende Zeitschrift war für die verstreut im Land lebenden Gemeinden eine Art einendes Band. Die Ausgaben umfassten auf der Titelseite erbauliche Beiträge, überwiegend von Predigern der Evangelischen Gemeinschaft, Lieder und Gedichte zu Themen des Kirchenjahres oder zur Jahreszeit, bei besonderen Anlässen, wie beispielsweise zum Tod des Kaisers, erschienen geschmückte Titelblätter. Der Leser fand Erzählungen und Belehrendes für den Familienkreis. Für das Selbstverständnis der Evangelischen Gemeinschaft erschienen kleinere Artikel als Editorielles und inhaltsreiche Artikel, die einerseits theologische Akzente der eigenen Kirche setzten, sich mit kirchlichen Entwicklungen in Deutschland auseinander setzten, und immer wieder Berichte aus den Gemeinden der verschiedenen Regionen, aber 114 Zahlen: Friedemann Green, Kirche in der werdenden Großstadt, Herzberg 1994, S. 49.

Struktur und Entwicklung der Gemeinde

183

auch von Konferenzen; auch Reisepläne der Superintendenten oder des Bischofs und Berichte von den Distriktstagungen der Pastoren wurden veröffentlicht. Dem Kirchenblatt verdanken wir auch viele Hamburg-Informationen. Bemerkenswert ist, dass 1894 bei einer nachgewiesenen Gliederzahl von 44 die Zahl der Bezieher des Evangelischen Botschafters, dessen Charakter eine Mitgliederbindung ausweist, mit 108 in der Statistik erschien. Wenn man von einer Leserzahl von nur zwei Personen je Blatt ausgeht, dann wird es nicht übertrieben sein, mindestens 220 Personen zum festen Einzugsbereich der Gemeinde zu rechnen. Die gerade 1894 begonnene Jünglingsarbeit weist außerdem 40 Bezieher des alle zwei Monate erscheinenden Bundesboten aus, der das Blatt für diese Gruppe war. 55 Mitglieder zählte der Jugendverein, in dem Jugendliche beiderlei Geschlechts organisiert waren, im Unterschied zu den Jünglings- und Jungfrauenvereinen. Da auch die Jugendlichen aus dem Jugendverein gewöhnlich in die Gemeinde integriert waren und die Gottesdienste besuchten, ist die Zahl eher nach oben als nach unten zu korrigieren. Besonders die Kirchenzeitung Evangelischer Botschafter wies eine steigende Leserzahl aus. Im Jahre 1900 hatte sie bei 148 Kirchengliedern 303 zahlende Abonnenten. Für die missionarischen Aktivitäten der Gemeinde stand ein einfaches Verteilblatt zur Verfügung, das noch nicht unter der späteren Flut von Drucksachen zu leiden hatte, sondern nicht selten eine willkommene Lektüre war, während andere Empfänger solche Blätter mit dem ganzen Traktatwesen verspotteten. Das Verteilblatt Gute Botschaft versuchte geistliche Themen für Nichtkirchliche und Ungläubige zu behandeln. Niethammer erreichte bei 24 Mitgliedern 75 Verteilblätter, Carl Grün steigerte den Gemeindebezug bis auf 500, Berner legte noch einmal 200 zu und im Jahr 1900 wurden wöchentlich 700 Exemplare verteilt. Diese Zahlen zeigen den Willen, in der Stadt die Botschaft unter die Leute zu bringen. 115

116

6.5

Frauenarbeit in Schwesternvereinen

Ab 1895 gab es auch eine Arbeit von Frauen. Aus einer Gruppe mit 15 Teilnehmerinnen erwuchsen bis 1900 drei Gruppen, in denen die Frauen sich im Dienst der Gemeinde ein Arbeitsfeld gesucht haben. Insgesamt gab es zu 115 Ein Vergleich des Zeitschriftenbezugs mit der württembergischen Kleinstadt Pfullingen zeigt dort das Verhältnis von 231 Mitgliedern zu 255 Exemplaren des Evangelischer Botschafters und 630 Verteilblätter Gute Botschaft. Der Unterschied im Bezieherverhalten zwischen der Kleinstadt und der Großstadt ist bemerkenswert. Weitere Vergleiche wären notwendig. 116 Verh. der Deutschland-Konferenz der Evang. Gemeinschaft 1895 (Stuttgart), Bericht über Bundesjugendsache, S. 18 f.

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Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

dieser Zeit in der Kirche 169 Schwesternvereine mit 2 227 Mitgliedern. Carl Grün war ihr Korrespondierender Sekretär. Zu den Schwerpunkten der Arbeit zählte ein „verleugnungsvoller und anspruchsloser Missionssinn“. Führend waren in den Gemeinden oft die Frauen der Prediger darin tätig. In Verbindung mit den Schwesternvereinen, die keinesfalls als Diakonissengemeinschaft gesehen werden dürfen, wurde die Zeitschrift Der Evangelische Missionsfreund gelesen und verbreitet. Über die Frühzeit der Frauenarbeit heißt es in einer Geschichte von Frauen in der Evangelisch-methodistischen Kirche: „In den Gemeinden sammelten sich Frauen, meistens auf Anregung und unter der Leitung der Prediger und ihrer Ehefrauen, und bildeten ´Vereine´, die sich ganz verschieden bezeichneten: Nähvereine, Schwesternvereine, Frauen- und Jungfrauenvereine, Bienenvereine, Tabeavereine [Apg. 9, 36–41]. Sogenannte Kranken- und Armenvereine nahmen soziale Aufgaben in Angriff. Man bemühte sich um die Versorgung von Kranken und Alten und half in sozialen Notfällen. Öffentliche Fürsorge gab es noch wenig.“ 117

118

6.6

Sonntagsschulen

Die Arbeit mit Kindern in den Sonntagsschulen spielte von Anfang an in der Mission der methodistischen Kirchen eine zentrale Rolle. Kinder waren vorurteilsfrei und konnten wohl von den Eltern, aber nicht durch die ausgestreuten Vorurteile zurückgehalten werden, den Weg in die Räume einer methodistischen Gemeinde zu finden. In Hamburg, wo die erste Sonntagsschule seit 1825 zu theologischen Kontroversen in der Stadt Anlass gab , hatte die Evangelische Gemeinschaft zunächst eine, 1900 vier Sonntagschulen. Mit 70 Kindern und 4 Lehrerinnen oder Lehrern fing man an, zum Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert waren es 24 Mitarbeitende und 350 Kinder. Über die Kinder reichte der Einfluss auch zu den Eltern und nicht selten zu den älteren Geschwistern. Zuletzt 700 Exemplare der Zeitung Evangelischer Kinderfreund wurden von den Kindern 119

120

117 Als Beispiel: Carl Grün, Bericht über Schwesternvereine. In: Verh. der DeutschlandKonferenz der Evang. Gemeinschaft 1895 (Stuttgart), S. 22 f. 118 Hannelore Christner, Frauenarbeit als Werk innerhalb der Kirche – Wurzeln und Entwicklung (von den Anfängen bis 1968). In: Mit Weisheit, Witz und Widerstand. Die Geschichte von Frauen in der Evangelisch-methodistischen Kirche, Hg. v. Frauenwerk der Evangelisch-methodistischen Kirche, Stuttgart 2003, S. 246. 119 Karl Heinz Voigt, Internationale Sonntagsschule und deutscher Kindergottesdienst, KKR 52, Göttingen 2007. 120 Kurt Jägemann, Festschrift – 175 Jahre Sonntagsschule (in Hamburg). Hamburg 2000.

Struktur und Entwicklung der Gemeinde

185

mit in die Häuser genommen. Die traditionell zur Sonntagsschule gehörende Leihbibliothek mit zuletzt 415 Bänden, die jeden Sonntag getauscht werden konnten, war ebenfalls ein Beitrag, Familien mit christlichen oder wenigstens ethisch wertvollen Büchern und Schriften zu erreichen. Es sind in diesem Zusammenhang drei Aspekte auch von kulturgeschichtlichem Interesse zu erwähnen. Erstens: Die Wertschätzung der Kinder. Es gab zu dieser Zeit kaum Vereine, Gruppen oder Organisationen, die den Kindern Beachtung schenkten. Es gab auch weder städtische Initiativen wie Kinderfeste oder ähnliche Angebote, noch gab es ein Interesse der Wirtschaft oder der Sparkassen und Banken an Kindern. Die Sonntagsschulen der Freikirchen waren noch vor den Kindergottesdiensten in den Landeskirchen Teil des normalen Programms in jeder Gemeinde. Die im Jahre 1900 bestehenden 48 Gemeindebezirke der Evangelischen Gemeinschaft betreuten in 247 Sonntagsschulen durch 1.165 Lehrer und Lehrerinnen 15.717 Sonntagsschüler. Sonntagsschulen waren in der nicht formulierten Missionsstrategie eine Art Vorposten für nachfolgende Gemeindebildungen. Neben der Vorreiterrolle in der Wertschätzung der Kinder, die doch schließlich getauft waren, trat zweitens: Der Anfang von Erwachsenen-Bildung. Die neugewonnenen Glieder wurden zur Mitarbeit qualifiziert. Im wiederholt genannten Jahr 1895 hatte die Gemeinde bei 50 Kirchengliedern 13 Mitarbeitende allein für die Sonntagsschulen. Für sie gab es nicht nur die Vorbereitungs- und Schulungszeitschrift Sonntagsschulfreund, sondern vielfach auch gemeinsame Vorbereitungsstunden. Wie in den Sonntagsschulen gab es Gruppenleiter für die Jugend- und Frauenvereine, sowie für die entstehenden Chöre, die von Laien organisiert und geleitet wurden. In diesem Zusammenhang ist die früher bereits erwähnte gemeinsame Schulung freikirchlicher Sonntagsschullehrer und Lehrerinnen bemerkenswert. Im Anschluss an amerikanische Vorbilder der ChautauquaBewegung wurde 1884 eine für damalige Verhältnisse ungewöhnlich fortschrittliche Art der Erwachsenen-Fortbildung eingeführt. Es wurden systematisch aufgebaute Materialien entwickelt, die auch als Fernkurs verwendet werden konnten. Zum Ende der einzelnen Kurse waren Abschlussprüfungen möglich, besondere Leistungen wurden durch Buchgeschenke belobigt. Schließlich ist drittens auf die Bibliotheken der Sonntagsschulen hinzuweisen. Nicht nur im ostfriesischen Flachland und in den Schweizer Bergdörfern 121

121 Georg Reiber, Der Verein zur Förderung des Sonntagsschulwerkes in Hamburg und Umgegend und seine Thätigkeit. In: Sonntagsschul-Magazin, Bd. 16 (1894), S. 95–97, Bremen 1894. Zur Chautauqua-Bewegung: Karl Heinz Voigt, John H. Vincent. In: BBKL Bd. 27 (2007), Sp. 1452–1466.

186

Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

waren Bibliotheken mit Kinderliteratur ungewöhnlich. Man muss davon ausgehen, dass auch in den öffentlichen Bibliotheken der Großstädte noch keine Abteilungen für Kinder angedacht waren. Alle drei Bereiche waren von den „Mutterkirchen“ in den USA beeinflusst. 6.7

Die Bildung von Chören

Das Singen hatte in den methodistischen Gemeinden immer schon eine große Bedeutung. Es war so selbstverständlich, dass die Entstehung der Chöre in den Statistiken der Kirchen gar nicht erfasst wurde. Mit Robert Pearsall Smith kam 1875 bei dessen Heiligungskonferenzen in deutschen und schweizerischen Städten das erweckliche Liedgut aus den angelsächsischen Ländern auf breiterer Ebene nach Deutschland. Ernst Gebhardt (1832–1899) , ein methodistischer Prediger, übersetzte nicht nur das Liedgut, sondern regte auch Formen an, wie es in die Arbeit einer missionierenden Gemeinde zur Wirkung gebracht werden konnte. Später schuf er ein Modell von Gesanggottesdiensten. Darin wurden von den Chören mit nicht ausgebildeten Sängern unter der Leitung von Laiendirigenten schlichte Heilslieder gesungen, die den emotional ausgeprägten Menschen des 19. Jahrhunderts erreichten und die Musiktheoretiker ob ihrer Einfachheit erschreckten. Die Gemeindeglieder konnten zu diesen einfachen „Kirchenkonzerten“, in denen Chorlieder, Einzelgesänge als Solo oder Duett, mit Gedichten abwechselten und die mit einer evangelistisch-volkstümlichen Ansprache eine missionarische Mitte hatten, Freunde und Bekannte einladen. Bei solchen sog. Gesanggottesdiensten wurden auch erstmals in Deutschland von einheimischen Chören Spirituals gesungen. Für deren Verbreitung hatte der methodistische Pastor Ernst Gebhardt nach dem Besuch einer Gruppe farbiger Sänger der speziell für sie nach dem amerikanischen Bürgerkrieg neu eröffneten Fisk-University aus Nashville, Tenn., erstmals in Deutschland Notenausgaben besorgt. Sowohl das Notenmaterial für das Liedgut zu den Gesanggottesdiensten wie auch die Form dieser besonders einladenden Konzerte für anspruchslose Leute wurde durch den 1879 überwiegend von freikirchlichen Chören gebildeten Christlichen Sängerbund bereitgestellt und verbreitet. Seit 1890 hatte es in 122

123

122 Karl Heinz Voigt, Ernst Gebhardt. In: BBKL Bd. 26 (2006), Sp. 362–431. 123 Ernst Gebhardt, Amerikanische Negerlieder in deutschem Gewand. Zuerst Basel 1878, bis 1912 insgesamt 37 Auflagen bei weiteren Nachdrucken in anderen Verlagen. Dazu: Karl Heinz Voigt, Methodistischer Brückenbau in den Anfängen des Gospelsingens (Die FiskJubilee-Singers). In: Hartmut Handt, „… im Liede geboren.“ Beiträge zur Hymnologie im deutschsprachigen Methodismus. Reutlingen 2009.

Gemeinde und Kirche – die methodistische Connexio

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Hamburg schon einen Norddeutschen Zweig des Sängerbunds gegeben. Daher ist es nicht überraschend, wenn auch der Chor der Evangelischen Gemeinschaft die Lieder in die Gemeindearbeit einbezog. Ein Hinweis auf das Chorsingen findet sich im Bericht über den Tag der Kircheinweihung, die am 5. Februar 1899 stattfand. Es heißt dort: „Wie immer bei solchen festlichen Anlässen fand abends noch ein Gesanggottesdienst statt.“ Die Formulierung zeigt, dass dieses längst üblich gewesen sein muss, das Chorsingen also schon eine Tradition hatte. Es bleibt zu bemerken, dass die Chöre in der Regel an jedem Sonntag in den Gottesdiensten – nicht selten waren es zwei, einer am Vormittag und ein weiterer am frühen Abend – gesungen haben. Die Sänger empfanden ihre Mitwirkung als einen unverzichtbaren Beitrag im Sinne einer Unterstützung der evangelistischen Predigt. 124

7.

Gemeinde und Kirche – die methodistische Connexio

Das methodistische System, Kirche zu organisieren, ist einmalig und von seinem Ansatz her auf das Ziel der missionarischen Existenz ausgerichtet. Es ist nicht mit dem Wesen einer konsistorial geleiteten Kirche durch Theologen und Juristen in der Begleitung einer Synode vergleichbar. Der missionarische Gemeindeaufbau aus dem Nichts, wie er am Beispiel Hamburgs gezeigt wurde, ist für diese Art der Kirchenleitung und Kirchenorganisation, schon gar nicht im Kontext des bürokratisierten Staatskirchendenkens mit seiner komplexen Verwaltung, vorstellbar. Auf der anderen Seite gilt das auch für den independentistischen Kongregationalismus, in dem die Erhaltung der Gemeindeautonomie bis hinein in die Eigengestaltung der theologischen Gemeindeverfassungen Prinzip ist. Selbst wenn unsere immer stärker vom Individualismus gezeichnete gesellschaftliche Entwicklung hier ein kirchliches Modell sieht, in dem man seine Unabhängigkeit ausgestalten kann, sind doch theologische Fragen an diese Art von lokal abgegrenzter Gemeinde als Repräsentation der ganzen Kirche Christi zu stellen. Zwischen diesen Modellen hat sich im Methodismus der Connexionalismus entwickelt. Schaut man nach der ursprünglichen sprachlichen Form Connectionalism im englischen Wörterbuch nach, so findet man dort die Erklärung: „Das System der Methodistischen Kirche in Theorie und Praxis.“ Innerhalb dieses Systems gibt es zwei entscheidend wichtige Pole: Die weltweite Gesamtkirche mit einer verbindlichen 125

124 Gottlob Barchet, Die Kircheinweihung in Hamburg. In: EB 36. Jg. (1899), S. 94. 125 The Shorter English Dictionary, Vol. I, Oxford 1977, S. 401: “The System of the Methodist Church in theory and practice.”

188

Noch einmal – Ankommen in Hamburg: Die Evangelische Gemeinschaft

Lehre, Verfassung und Ordnung für alle Gemeinden, die in einem ständigen Prozess des Konferierens (Conferencing) alle vier Jahre den Verhältnissen angepasst wird, und die Bezirksgemeinde, die innerhalb dieses Rahmens verhältnismäßig viel Entscheidungsspielraum für ihre konkrete Mission vorfindet. Durch die gemeinsame Ordnung sind die Gemeinden als Gebende und Empfangende miteinander vernetzt. Die Gesamtkirche kann durch ihre personellen und finanziellen Ressourcen nicht nur ausgleichen, sondern auch Missionen initiieren. Hamburg ist ein Beispiel. Dort gab es, als der erste Prediger dorthin kam, keine berufende Gemeinde, aber es gab eine sendende Kirche, welche die Aufgabe auf dem Missionsfeld Hamburgs sah. So sorgte die Kirche über die Dienstgemeinschaft der Prediger, die Jährliche Konferenz, die innerhalb des Systems eine maßgebliche Rolle spielt, für die Voraussetzungen zur Organisation einer Missionsstation in Hamburg. Sie sandte unter der Leitung des Bischofs, der der „Missionsstratege“ für personale Fragen war, einen Missionar in die Großstadt voller Unheil. Sie brachte die Kosten für den Missionar und die Raummiete auf, die sich innerhalb der ersten elf Jahre nach den Haushaltsplänen auf 33.250 Mark beliefen, abgesehen von Jahresdefiziten, die ebenfalls von der Konferenz übernommen wurden. Sie stärkte dem Missionar, der in seiner Dienstgemeinschaft zugleich eine Fortbildungs- und Seelsorgegemeinschaft hatte, zu der er fast wie zu einem Orden gehörte, den Rücken. Die Hamburger Prediger haben über ihre Erfahrungen und Eindrücke ständig in der gesamtkirchlichen Zeitschrift berichtet. Sie haben als Beitrag zur Connexio, so möchte man fast sagen, an die kirchliche Gemeinschaft zurückgezahlt, indem sie der agrar-orientierten Kirche Bilder aus der Großstadtsituation schilderten und damit, bewusst oder unbewusst, Anregungen zu einer Zukunftsvision nach Württemberg und in die Schweizer Berge sandten, wo der Evangelische Botschafter gelesen wurde. Der methodistische Connexionalismus war ursprünglich eine Art konziliares System einer missionierenden Kirche, das freilich nur solange funktionierte, wie die Missionare von ihrer Sendung erfüllt waren und die Gemeinden sich als eine Art Missionsstationen verstanden, wo die Kirchenglieder sich nicht um sich selber drehten, sondern angesichts der Stadt ohne Gott das Heil der Welt vor Augen hatten. Der Connexionalismus lebt nicht aus sich selber. Er ist nicht mehr als eine Hülle, ein Rahmen, innerhalb dessen das Leben aus dem Geist sich entfalten kann. Eine Folge dieses Systems, Kirche zu sein, ist, dass den Verantwortlichen auf den verschiedenen Ebenen, den hauptamtlichen Missionaren, den 126

126 Verglichen mit den ausgewiesenen Gehältern hätten von diesem Gesamtbetrag etwa 27 Prediger für ein Jahr bezahlt werden können.

Gemeinde und Kirche – die methodistische Connexio

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gestaltenden Superintendenten und dem sendenden Bischof innerhalb der Gesamtgemeinschaft eine Rolle zuwächst, die sie nicht immer gerne ausfüllen. Es geht letztlich nicht um Kirchenleitung, Distriktsleitung und Gemeindeleitung, sondern um die Anwendung des Systems zur Ermöglichung der Missionsstrategie und damit letztlich um die Erfüllung des missionarischen Auftrags, von dem bis heute in den methodistischen Kirchen viel gesprochen wird. In diesem Zusammenhang wird erkennbar, warum Methodisten sich nicht durch theologische Proprien hervorgetan oder von anderen Christen abgegrenzt haben. Es war ihr erklärter Wille, an der Missionierung der Welt in ökumenischer Gemeinschaft als an der Sendung ihres Herrn in Wort und Tat, in missionarischer Verkündigung und sozialem Dienst teilzunehmen.

Kapitel 5 Noch einmal: Reden und handeln – Die Mission der Ebenezer-Diakonissen Nacheinander wurden von Elberfeld aus die ersten Bethesda-Diakonissen in die beiden Großstädte Berlin (1887) und Hamburg (1888) ausgesandt. Die Schwestern Johanna Schmidt und Luise Binder bezogen in der Hansestadt das Haus in der Katharinenstraße 37. Mit der Wohnung der Familie des Predigers und dem Versammlungssaal im gleichen Haus war es ein außerordentlich schlichtes, aber theologisch gesehen ein modernes Missionszentrum. Als die beiden ersten Wuppertaler Diakonissen in Hamburg ankamen, war im Jahr vorher gerade ein Bethesda-Krankenhaus in der Burgstraße eingeweiht worden. Seit 1856 trug das älteste Hamburger Diakonissenkrankenhaus diesen biblischen Namen. Es war in der Vorstadt St. Georg unter einfachen Bedingungen durch die berühmte Elise Averdieck (1808–1907) entstanden. Die Konsequenz war, dass die ankommenden Diakonissen sich einen neuen Namen wählten. Sie entschieden sich für die biblische Bezeichnung Ebenezer, was ins Deutsche übersetzt bedeutet: „Bis hierher hat der Herr geholfen“. 1

2

1.

Entstehung und Besetzung der Station Hamburg

Die missionarische Arbeit in Hamburg hatte von Anfang an zwei Akzente. Das entspricht genau dem methodistischen theologischen Ansatz im 18. Jahrhundert. Missionarische Predigt und diakonischer Dienst waren nicht nur zwei Seiten ein und derselben Medaille, sondern sie begannen ihre Arbeit in Hamburg auch unter einem Dach. Prediger und Diakonissen arbeiteten Seite an Seite, was sich besonders nachdrücklich im Cholera-Jahr 1892 zeigte. Wenn man sich den Dienst der Diakonissen am Ende des 19. Jahrhunderts vorstellen will, dann muss man sich frei machen von heutigen Bildern. Die Schwestern waren noch nicht in ein staatliches Gesundheitssystem eingebunden. Es gab noch keine Verträge mit Leistungsträgern der Krankenversiche1 2

Ruth Albrecht, Elise Averdieck. In: Adelheid M. von Hauff (Hg.), Frauen gestalten Diakonie. Bd. 2: Vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Stuttgart 2006, S. 200–219. Inke Wegener, Zwischen Mut und Demut. Die weibliche Diakonie am Beispiel Elise Averdiecks, Göttingen 2004.

Entstehung und Besetzung der Station Hamburg

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rung. Ebenso wenig gab es eine soziale Absicherung der Diakonissen. In völliger Freiheit regelten die Schwestern alle Dinge in Verbindung mit der männlichen Leitung der Schwesternschaft selber. Die Leitung der Hamburger Ebenezer-Diakonissen hatte ihren Sitz in Elberfeld, wo der Bethesda-Verein am 12. August 1886 von einigen Predigern der Evangelischen Gemeinschaft gegründet worden war. Im Oktober 1888 wurde die Station Hamburg mit den ersten beiden Diakonissen besetzt. Es bedurfte keiner besonderen Genehmigung durch eine staatliche Behörde und es gab keine Einschränkungen. Anfang April 1891 zogen die Ebenezer-Schwestern in die Marienstraße 64, die in der Vorstadt St. Pauli lag. Reichlich ein Jahr später konnten sie bereits ein Haus in der Ritterstraße 129 erwerben. Am 23. Oktober 1892 wurde das „schön und gesund gelegene Haus“ als Diakonissenheim eingeweiht. Die Mehrzahl der Diakonissen stand im Dienst an Kranken, eine von ihnen wurde als Missions- oder Armenschwester freigestellt. Ihr Tätigkeitsfeld lag einige Zeit im sozialen Brennpunkt St. Pauli. Mit dem Umzug in die Ritterstraße im Stadtteil Hamm-Eilbek wurde eine neue Entwicklung eingeleitet. 3

Das erste Eilbeker Diakonissenheim der Ebenezer Schwestern aus Wuppertal. Im Krieg zerstört.

3

Andere Quellen nennen als Gründungsdatum den 3. Juli 1886.

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Noch einmal: Reden und handeln – Die Mission der Ebenezer-Diakonissen

Erste Anzeichen der Loslösung des schwesterlichen Einsatzes von dem Wirken der Gemeinde werden erkennbar. Oberschwester Katharine Borgmann arbeitete im Schwesternheim allerdings auch noch im Sinne der missionarischen Gemeindearbeit. Sie leitete einen Jungfrauenverein, eine Sonntagsschule und erteilte den Kindern Handarbeitsunterricht. Aber die räumliche Lage und damit verbunden das soziale Umfeld hatten sich verändert. Nur die Armenschwester machte bei „begüterten Familien“ Besuche, um danach zahlreichen Armen helfen zu können. Sie übernahm die ganze Bürde des Wirkens auf St. Pauli und hielt dort weiter Sonntagsschule, leitete eine Frauengruppe und unterwies die Armen in einer Handarbeitsschule. Die Prediger Grün und Berner haben die mit dem Umzug nach Eilbek eingeleitete Entwicklung nicht ohne vorsichtige Kritik begleitet. Das Hauptarbeitsfeld für die Schwestern war nach dem Umzug unter bürgerlichen Einwohnern mit guter finanzieller Ausstattung lukrativer als die Arbeit unter den Armen auf St. Pauli, für die man nun lediglich noch eine Schwester freistellte. Es zeigen sich erste Ansätze zu einer Ökonomisierung in Verbindung mit einem marktgerechteren Arbeitsfeld. Während die Gemeinde noch bei den Armen blieb, entwickelt die Diakonie bereits eigene Strukturen und Vorstellungen. Die notwendige Formalisierung bekam am 13. Januar 1893 einen ersten Ausdruck in dem vom Bethesda-Verwaltungsrat erlassenen Statut des Vereins Diakonissenheim Ebenezer. Der nächste Schritt zu einer in eigenen Institutionen wirkenden Diakonie erfolgte in Hamburg 1897. Im Diakonissenheim konnte mit der Genehmigung des Medizinalamtes eine Klinik eingerichtet werden, in die am 5. Mai 1897 die ersten Kranken aufgenommen wurden. In einem BethesdaBericht heißt es: „Der klinische Betrieb [was für eine Sprache!] dehnte sich schnell aus, weitere Pflegeschwestern mußten herangezogen werden, und so gebrach es bald an Raum. Im Oktober 1898 wurde das angrenzende Haus Ritterstraße 131, in dem wir zuvor schon etliche Zimmer gemietet hatten, dazu gekauft und durch kleine bauliche Veränderungen mit dem seitherigen Gebäude verbunden. Nunmehr konnte man 15 Krankenbetten aufstellen und hatte noch Raum für die Diakonissen.“ Der Trend zu Professionalisierung, Institutionalisierung, Ökonomisierung, zu Mitarbeiterengpässen und der Ablösung von der Gemeindearbeit hat unreflektiert eingesetzt. Es kam ein Prozess in Bewegung, der sich noch schneller vollzog als bei den methodistischen Bethanien-Schwestern. Das von Theodor Fliedner (1800–1864) entwickelte gemeindelose Modell kam in kurzer Zeit zur Entfaltung. Als 1909 der Hamburger Senat ein Baugrundstück in der Ritterstraße zur Errichtung einer Krankenanstalt bereitstellte und die Bethes-

Das soziale Umfeld

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da-Leitung dieses Angebot natürlich annahm, hatte die Entwicklung zur formalen Unabhängigkeit von der Kirche fast schon einen Abschluss gefunden.

2.

Das soziale Umfeld

In den Anfängen des späteren Diakoniewerks Ebenezer schlugen die Wellen in den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten Hamburgs hoch: Politiker und Bürger, aber auch Unternehmer und Arbeiter rangen miteinander. Auch die innerkirchliche Szene zwischen Erweckung, Rationalismus und Liberalismus hatte ihre Erfahrungen gesammelt. Der starken Sozialdemokratie in Hamburg waren die Kirchen zu eng mit dem Staat verbündet. Auch darum war ihnen gegenüber die kritische Distanz vertieft. Das formte andererseits auch in der Evangelischen Gemeinschaft das Bild über diese Partei mit dem Ergebnis, dass sie „auf redliche Weise“ zu bekämpfen war, auch wenn sie 1891 ihr Programm reformierte. Der missionierende Prediger sah in der Arbeiterpartei eine Macht, welche die gesamte Arbeiterschaft immer mehr in ihren Bann zog und beherrschte, wie er schrieb. Er sah seine Berufung zusammen mit den Diakonissen gerade darin, die Armen, und das waren vorwiegend die Arbeiter mit ihren Frauen und Kindern, unter eine andere, sie befreiende Macht zu rufen. Dazu bildete er mit den Diakonissen eine Arbeitsgemeinschaft. In den ersten Jahren suchten sie die einfachen und gesellschaftlich weitgehend ausgegrenzten Menschen in ihren Kellerwohnungen auf. Mit ihnen konnten sie eine Art Solidargemeinschaft bilden, denn sie waren als fremde und ungewollte Minderheitenkirche selber an den gesellschaftlichen Rand gedrängt und Schwestern wie Prediger lebten in denkbar einfachen sozialen Verhältnissen. Die missionierende Gemeinde sah sich durch die Großstadtsituation in eine zweifache Front gedrängt: einerseits musste sie ihr Wirken gegenüber der herrschenden Staatskirche rechtfertigen, andererseits waren es soziale Herausforderungen, oft verbunden mit Hoffnungen weckenden Ideologien von Arbeiterführern, denen sich die einfachen Menschen anschlossen. Grün sah, weil sich die Partei in ähnlicher Weise um die Gunst der Menschen kümmerte wie die missionierende Gemeinde, eine Art säkulare Konkurrenz, die wie er freiwillige Mitglieder sammelte, sie zu Versammlungen zusammenrief, von ihnen einen regelmäßigen Beitrag forderte und sie ideologisch schulte. Die Einheit von bürgerlicher Gesellschaft und städtischer Kirchenkultur grenzte die aufmüpfigen Arbeiter mit ihrer Partei konsequent aus. Dabei

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Noch einmal: Reden und handeln – Die Mission der Ebenezer-Diakonissen

konnten sich die Herrschenden jeglicher politischer Unterstützung der unter ihrem Einfluss stehenden Kirche gewiss sein. Bismarck hatte 1878 das sog. Sozialistengesetz erlassen, dessen offizieller Titel korrekt lautete: „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“. Es hatte engagierte Sozialdemokraten mit Inhaftierungen, Ausweisung und anderen Schikanen in unangenehme Situationen gebracht. Das alles war auch manchen Freikirchlern nicht fremd, aber sie hatten es längst nicht in dem gleichen Maße zu erleiden. Die negative Sicht der Sozialdemokraten war in einer kirchlich und konservativ dominierten Gesellschaft verständlich. August Bebel (1840–1913) war mit seiner Frau 1874 aus der Kirche ausgetreten. Das hatte aber nicht zuerst religiöse, sondern vielmehr politische Gründe. Es waren ja auch sonst breite Volksschichten da, die keine geistliche Beziehung zur Kirche pflegten, aber trotzdem auf die Mitgliedschaft nicht verzichten wollten. Bebel sah, wie durch das enge Zusammenwirken von Staat und Kirche im herrschenden politischen System der beharrende Einfluss von Religion und Kirche stabilisiert wurde. Es ist logisch, dass zunächst im Gothaer (1875) und dann im Erfurter Parteiprogramm (1891) die Forderungen nach einer Trennung von Kirche und Staat sowie die Entflechtung von Kirche und öffentlicher Schule gestellt wurden. Das war zwar ein heftiges Rütteln an den Grundfesten der Staatskirche, das im gesamten konservativen politischen Lager und in den betroffenen Kirchen nicht ohne Reaktionen blieb. Nicht nur die verfasste Kirche fand nicht zu einem offenen Dialog mit der aufkommenden Arbeiterbewegung, sondern auch das von Wichern inspirierte Programm der Inneren Mission war so angelegt, dass es zwar sozial ausgerichtet war, aber politisch eine Gegenbewegung zu solchen politischen und gesellschaftlichen Prozessen initiieren sollte, die sich kirchenkritisch oder gar kirchenfeindlich zeigten. Es ist kein Wunder, dass der preußische Staat die Dienste Wicherns in Anspruch nahm und in seine restaurative Politik integrierte. Die Freikirchler hätten ruhig etwas gelassener reagieren können, auch wenn Bebel bekennender Atheist war und seinen Atheismus in seiner antikirchlichen Agitation unter Arbeitern und Intellektuellen propagierte. Der Parteiführer vertrat damals die These, Christentum und Sozialismus seien wie Feuer und Wasser. Die kritische Position gegenüber der Kirche als staatstragender Macht mit restaurativem Charakter hatte ihre Gründe. 4

4

August Bebel, Christentum und Sozialismus. Zuerst 1875, danach viele Auflagen dieses Briefwechsels zwischen Bebel und dem römisch-katholischen Kaplan Hohoff.

Das soziale Umfeld

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Es sollte im wachsenden nationalen Bewusstsein auch gar nicht mehr lange dauern, bis es zwischen Arbeiterpartei und Freikirchen nicht nur Parallelen durch gleiche Formen der Unterdrückung und gesellschaftliche Ausgrenzung kam. Man verwendete bald sogar die gleichen polemischen Schlagworte für beide gesellschaftlichen Gruppen. Beide waren in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg „vaterlandslose Gesellen“, die einen, weil sie sich kritisch dem eigenen Staat gegenüber verhalten hatten, die anderen, weil sie ihre Wurzeln im „feindlichen Ausland“ hatten. Die Distanz überrascht bei der aus den angelsächsischen Ländern mitgebrachten demokratisch ausgerichteten Kirchenstruktur und Gemeindepraxis in keiner Weise. Längst nicht alle Forderungen, die von der Sozialdemokratie formuliert waren, betrafen auch die Freikirchen. Dazu gehörte auch die Erfurter Forderung nach der Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken. Das war doch für die Freikirchler von Anfang an gängige Praxis, ja es gehört zu ihren Prinzipien. Hinzu kam die unterschiedlich entwickelte Vorstellung von der Glaubens- und Gewissensfreiheit, die durchaus die Möglichkeit einbezog, den Glauben zu kritisieren oder auch abzulehnen, wie es in großen Teilen der deutschen Arbeiterbewegung jener Zeit zu den Grundpositionen gehörte. Die einfachen, weder theologisch noch ideologisch geschulten Diakonissen taten unverdrossen ihren Dienst in jedem Haus, in das sie gerufen wurden; ganz gleich ob es Christen oder Juden waren, die um Hilfe baten, oder ob sie bei Atheisten einkehrten, die keinen Zugang zum christlichen Glauben gefunden hatten. Die religiöse Lage ihrer Klienten schmerzte sie. Aber sie hatten Kraft genug, das Anderssein zu respektieren und suchten Gelegenheiten, in ihrem Dienst auch ihren persönlichen Glauben zu bezeugen. Weniger 5

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5

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Erich Geldbach, Markus Wehrstedt, Dietmar Lütz (Hg.), Religionsfreiheit. FS zum 200. Geburtstag von Julius Köbner, Berlin 2006. Darin auch: Karl Heinz Voigt, Religionsfreiheit bei Baptisten und Methodisten in Deutschland. Versuch eines Vergleichs. S. 295–324. Die britische Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung ist nicht, wie die deutsche, antikirchlich geprägt gewesen. Ihre Wurzeln finden sich besonders unter den Laienpredigern eines Flügels der methodistischen Erweckungsbewegung. Der englische Soziologe Eric J. Habsbawm (Sozialrebellen, Neuwied 1962, S. 184f) schrieb: „Die Kapelle, und besonders die kleine, selbständige Dorfkapelle, bot eine Schule für Organisation jeder Art, und unter den Bergleuten wie den Landarbeitern hat häufig die Gewerkschaft ihr ureigenes Rezept einer Sekte entliehen.“ Der Soziologe führt die Entwicklung auf den Prozess der Bekehrung zurück und schreibt weiter: „Bei einer bemerkenswert großen Anzahl von späteren Arbeiterführern setzte politisches Bewußtsein und politische Aktivität mit oder kurz nach einer solchen Bekehrung ein.“ – Allein diese Hinweise zeigen, dass nicht ohne weiteres das ursprüngliche methodistische und das pietistische Bekehrungsverständnis verwechselt werden darf.

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Noch einmal: Reden und handeln – Die Mission der Ebenezer-Diakonissen

Kraft schienen sie zu haben, auf dem Boden ihrer eigenen Glaubens- und Gemeindegrundlagen auch gegen gesellschaftlich vorherrschende Meinungen ihren Standort zu beschreiben oder gar zu verteidigen. Sie argumentierten mit ihren Erfahrungen, die sie im Zusammenhang ihres Glaubens und ihrer Frömmigkeit gemacht hatten. Das war bei denen, die argumentierende Rededuelle gewohnt waren, entwaffnend, machte sie gelegentlich sprachlos, manchmal auch nachdenklich. Die jungen Diakonissen, wenige Jahre vorher erst zum Glauben gekommen und danach in den Dienst berufen, waren nicht einmal in zwischenkirchlicher apologetischer Rede geschult. Ihr Auftrag war es, zu dienen und den Ärmsten beizustehen. Dem latenten Vorwurf der Abwerbung in landeskirchlichen Gemeinden brauchten sie lediglich zu entgegnen, dass ihnen jegliche Art von Proselytismus untersagt war. Was später ein süddeutscher Prediger bei den Elberfelder Diakonissen in Berlin beobachtete, hätte er genauso über Hamburg berichten können: „Unsere Krankenschwestern üben grundsätzlich keine sogenannte ´Proselytenmacherei´, sie legen es nicht darauf an, unmittelbar für unsere Kirche zu werben. Aber mittelbar tragen sie wesentlich zum Gedeihen unserer Gemeinden bei; vor allem durch ihren christlichen Einfluß. […] Kommt nun solch eine Pflegeschwester in ein Haus und übt hier ihre stille, hingebende, selbstlose Thätigkeit an Kranken, zumal an armen, sonst verlassenen Kranken, und zwar, wie häufig nötig, nicht nur an solchen selbst, sondern nebenbei auch im verwahrlosten Hauswesen; versteht sie sich als echte Heilandsjüngerin mit Werk und Wort seinen Sinn zu bethätigen: wie könnte es anders sein, als daß dadurch die Sache des Christentums im Ansehen und Einfluß gefördert wird? Und eine Kirche, mit der solche Schwestern in näherer Verbindung stehen, gewinnt naturgemäß dadurch an Einfluß:“7

Dass die missionarische Arbeit des Predigers und der Diakonissen für die Landeskirche keine Bedrohung war, zeigen auch nachträglich die kleinen Zahlen der Statistik. Nach reichlich zehn Jahren (1889 bis 1900) wies sie für Hamburg 148 Kirchenglieder aus. Mehr als die Hälfte waren Zuzüge von Kirchengliedern aus auswärtigen Gemeinden der Evangelischen Gemeinschaft. Auch wenn die Gemeinde unscheinbar war: ungezählten Menschen wurden ohne Bedingungen im Auftrag und Namen Jesu Christi geholfen. Die wachsende Zahl der Diakonissen hat durch den dienenden Teil des missionarischen Wirkens den Aktionsradius der Hamburger Arbeit in alle Richtungen auf eine fast natürliche Art ausgeweitet. 7

O. V., Was mir in Berlin bemerkenswert erschien. In: EB 35. Jg. (1898), S. 236.

Antwort auf Großstadtprobleme.

3.

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Antwort auf Großstadtprobleme.

1874 begann die Evangelische Gemeinschaft von Württemberg aus ihre Mission an Rhein und Ruhr. Reichlich zehn Jahre später wurde dort von den sieben entstandenen Gemeinden mit knapp eintausend Mitgliedern eine Arbeit mit Diakonissen organisiert: der Bethesda-Verein zur allgemeinen Krankenpflege wurde gegründet. Sein Sitz war Elberfeld.

Das erste „Kranken-Asyl“ der Bethesda-Diakonissen in Elberfeld

Dort wurden erst nach der Vereinsgründung und dem Beginn der Arbeit Prediger stationiert. Nun stand der missionarische Dienst in dieser Region auf zwei Beinen: Der Wortverkündigung durch reisende Missionare und der Diakonie durch lokal wirkende Schwestern. Wie sehr sie an der Ausbreitung der Evangelischen Gemeinschaft in Norddeutschland mitwirkten, zeigte die schnelle Aufnahme von Schwesternstationen gerade in den sich rasant entwickelnden Großstädten Berlin und Hamburg. Für Berlin reichte die Zahl der Prediger noch nicht, um 1887 einen dorthin zu entsenden. Aber eine jugendliche Diakonisse war die tatkräftige Vorbotin dieser Freikirche. In Hamburg war es umgekehrt. Dorthin wurde erstmals 1887 ein Prediger entsandt. Am 1. Oktober 1888 wurde eine Diakonissenstation gegründet. In beiden Großstädten war der Beginn der Mission und das Kommen der ersten Diakonissen miteinander verbunden. Im Vorfeld der Gründung des Bethesdavereins wurde immer wieder von den Organisatoren, die aus ländlichen Regionen Württembergs ins Ruhrgebiet gesandt waren, betont: In Norddeutschland ist diese Arbeit unumgänglich notwendig. Die Verantwortlichen hatten erkannt, dass die Mission in den beiden großen Städten Berlin und Hamburg nicht an pietistische Traditionen 8

8

Reinhold Kücklich [d. Ä.], Die Evangelische Gemeinschaft in der deutschen Reichshauptstadt. Festschrift zum 25jährigen Jubiläum ihrer Wirksamkeit in Berlin. Stuttgart 1913, 14 f.

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Noch einmal: Reden und handeln – Die Mission der Ebenezer-Diakonissen

anknüpfen konnte. Hier war ein anderer Stil von Mission notwendig, als im beschaulichen Schwabenland. Carl Grün, der als Prediger 1887 aus Tuttlingen nach Essen kam, hatte das schnell gesehen. Er schrieb 1888 in einem Beitrag der Kirchenzeitung Evangelischer Botschafter im Zusammenhang eines Aufrufs zu einer Stiftung für den verstorbenen Kaiser Wilhelm I.: „Daß wir früher oder später ein Waisenhaus haben müssen, ist einfache Thatsache. Denn mit der nackten, obwohl teuren Evangeliumsbotschaft, kann eben je länger je weniger die Masse erreicht werden, wenigstens nicht von unserer Seite, dafür ist unser Volk für das Gute zu abgestumpft; wenn aber die werkthätige Liebe voraus und mitgeht oder nachfolgt, so kann dies teure Wort vom Kreuz Siege feiern. Den besten Beweis für diese Meinung haben wir auch wieder an unserer Diakonissensache. Wie sind wir dadurch schon mit allerlei Leuten zusammen und in Berührung gekommen, die uns sonst einfach fremd geblieben wären, wie Staats- und Gemeindebeamte, Aerzte und Geistliche, Reiche und Arme sind mit uns bekannt geworden, die ohne dies uns kaum nahegetreten wären, oder nicht mit der redlichen Absicht, mit unserer Gemeinschaft bekannt zu werden. Daher finden auch diese, welche unsere Gemeinschaft immer als verwerfliche ´Sekte´ brandmarken möchten, in solchen Kreisen, wo unsere Krankenpflegevereine eine segensreiche Thätigkeit entfaltet, einfach kein Gehör, und so ginge es auch mit der Waisensache, umsomehr, wenn dieselbe dem Andenken des teuren christlichgesinnten Kaiser Wilhelm I. gestiftet wäre.“9

Die Verbundenheit von Tat und Wort schuf zunächst eine Basis für die Hörbereitschaft auf die gnadenvolle, erlösende Botschaft. Sie verhalf gerade auch einer Minderheit, der man mit Misstrauen begegnete, zu einer gewissen gesellschaftlichen Akzeptanz. Diese war und blieb eine unverzichtbare Grundlage, die als Voraussetzung für die Annahme der Botschaft nicht unterschätzt werden darf. Als der in Hamburg angekommene Prediger David Niethammer über seine ersten Eindrücke aus der Hansestadt berichtete, wusste er 1888 von den dort bereits wirkenden Bethanien-Schwestern der Methodistenkirche zu berichten, wie das Zusammenwirken von Wort und Tat ihnen sonst verschlossene Türen zu den Menschen öffnete. Die Verbundenheit von Wort und Tat hat ihren Ursprung in der gemeinsamen Wurzel der methodistischen Kirchen. Das Wirken von Jacob Albrecht (1759–1808), welcher der erste Bischof der Evangelischen Gemeinschaft war, ist maßgeblich geprägt durch die wesleyanische Tradition, in der von Anfang

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Carl Grün, Ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal in der Evangelischen Gemeinschaft. In. EB 25. Jg. (1888), S. 175.

Im Cholera-Jahr 1892

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an beide Gestalten der missionarischen Verkündigung eine Einheit bildeten. Es ging um die Gestaltung des Glaubens, „der in der Liebe tätig ist“.

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4.

Im Cholera-Jahr 1892

In jenem Jahr, als die ersten beiden Diakonissen von Elberfeld nach Hamburg kamen, hatte der strenge Inspektor Jakob Knapp die jungen Frauen ermahnt, vor ihrem Eintritt in diesen Dienst die Kosten zu überschlagen. Er hatte zu ihrem Dienst ausgeführt: „Es handelt sich bei der Diakonissensache, wie wir sie betreiben, nicht um fromme Wünsche, um die Pflege frommer Ideen, sondern um wahre Herzensfrömmigkeit und um ernstliche Thätigkeit zum leiblichen und geistlichen Wohl der Mitmenschen. Wenn Schwestern ohne Herzensfrömmigkeit zu uns kommen, können sie nicht bestehen und werden entweder selbst wieder heimkehren oder entlassen werden müssen. Es denke doch keine Schwester, sie werde in diesem heiligen Dienst den Versuchungen Satans entfliehen. […] Ohne innere Gewißheit und die Kraft des heiligen Geistes sollte keine Schwester den Schritt wagen; aber dann auch, wenn er gewagt ist, mutig voran gehen und allzeit das Bewußtsein haben: Ich bin in des Herrn Dienst, ihm diene ich aus Dankbarkeit und Liebe an den leidenden Mitmenschen, ich will seinem Vorbild folgen.“12

Am 4. Oktober 1889 fand in der Hansestadt das erste Jahresfest statt. Inspektor Knapp hielt Rückschau und bestätigte: in Hamburg habe man „einen guten Anfang gemacht und, obwohl die Station mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, dennoch Erfolge erzielt.“ Die inzwischen vier Diakonissen waren mit ganzen und halben Tagpflegen, Nachtpflegen, Pflege- und Armenbesuchen voll ausgelastet. Ihre hohe Bereitschaft zum diakonischen Engagement zeigte sich überzeugend in der katastrophalen Hamburger Notlage, welche die Stadt in der zweiten Hälfte des Jahres 1892 belastete. Eine verheerende Cholera-Epidemie, wie sie in unserem Land kaum je wieder aufgetreten ist, war ausgebrochen. Zu der kleinen Gemeinde mit 34 Kirchengliedern, die am Ende des Jahres 1892 erfasst waren, zählten auch die Hamburger Diakonissen. Es war gerade die 13

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Dazu: Manfred Marquardt, Praxis und Prinzipien der Sozialethik John Wesleys, Reutlinger Studien Band 3, 3. überarbeitete Auflage. Göttingen 2008. Galaterbrief Kap. 6, Vers 5. Dieses ist eines der oft von John Wesley zitierten Worte. Jakob Knapp, Von dem Bethesda-Verein. In: EB. 25. Jg. (1888), S. 318. Redaktionelle Notiz in: EB. 26. Jg. (1889), S. 348.

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Noch einmal: Reden und handeln – Die Mission der Ebenezer-Diakonissen

kleine Schwesterngemeinschaft der Bethesda-Diakonissen, die alle Hebel in Bewegung setzte, um Kranken zu helfen und Sterbenden beizustehen. Als im Elberfelder Zentrum die Diakonissen aus den verschiedenen Städten zu einem Einsegnungskurs zusammen waren, erhielten sie die ersten Informationen über die in Hamburg durch die Epidemie ausgebrochene Lage. Der Kursus wurde sofort abgebrochen. Die Diakonissen sahen, es geht um Leben und Tod. Die aus Hamburg in Elberfeld weilenden Schwestern reisten zuerst eilig zurück. Drei Schwestern aus Berlin und die Mehrzahl der Schwestern aus Elberfeld folgten ihnen bald. Andere Diakonissen wurden aus ihrer Erholung telegrafisch zurückgerufen, um sie „so schnell wie möglich an den Ort des Elends“ zu senden. Fünf Privatpflegerinnen schlossen sich den Diakonissen aus eigener Initiative an. Insgesamt waren von der noch kleinen Schwesternschaft 19 Diakonissen und die fünf Privatpflegerinnen in Hamburg im Einsatz. Mitte August 1892 hatten sich die ersten Fälle von Cholera gezeigt, die zum Tode führten. Es war ein Glück im Unglück, dass für die Arbeit der Diakonissen in der Hansestadt am 17. August 1892 in der Ritterstraße 129 ein eigenes Haus erworben und am 23. Oktober eingeweiht wurde. In diesem neuen Heim hatten während der Epidemie nun auch die zusätzlich nach Hamburg gekommenen Schwestern eine gemeinsame Unterkunft. In dem Zusammenfallen der beiden Daten sahen die Schwestern ein Zeichen der fürsorglichen Vorhersehung Gottes. Der Elberfelder Inspektor Jakob Knapp schrieb am Anfang der Katastrophe: „Gerade jetzt ist ein Zeitpunkt gekommen, wo unser Glaube sich bewähren […] muß zum thätigen Wirken.“ Eine der 19 Diakonissen, die in die Hansestadt gekommen war, um zusammen mit der kleinen Gemeinde aktiv zu sein, schrieb: „Es hat mich mächtig hergezogen, meinen lieben Schwestern hier zu helfen unter den so bedrängten Menschen.“ Und indem sie hinzufügt, „es ist eine große Gnade, dass ich es thun darf“ gibt sie einen Einblick in die Motivation zu ihrer freiwilligen Bereitschaft. Als die jungen Schwestern in Hamburg ankamen, erlebten sie ziemlich chaotische Verhältnisse. Wer sollte wo was und wie tun? Wer durfte trotz der Ansteckungsgefahr die Krankenhäuser und die notdürftig hergerichteten Hallen und Baracken betreten? Eine Meldepflicht für die Kranken gab es noch nicht. Für die Verstorbenen gab es anonyme Massengräber. Aus den 14

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Jakob Knapp, Unsere Diakonissinnen in Hamburg. In: EB. 29. Jg. (1892), S. 318. Ebd., S. 319. Ebd.

Im Cholera-Jahr 1892

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überfüllten Krankensälen, wo die Menschen Seite an Seite lagen, wurden die Toten in einfache, zusammengezimmerte Kisten, man nannte sie ironisch „Nasenquetscher“, gepfercht. In den Nächten brachte man die Verstorbenen in Möbelwagen in jeweils 50 bis 70 solcher Kisten zum Ohlsdorfer Friedhof. Die Diakonissen aus dem Ebenezer-Heim haben da ihre Pflege angeboten, wo sie am dringendsten war. Die Begleitung Sterbender gehörte zu ihrer täglichen Erfahrung. Wegen der Ansteckungsgefahr wurde den Elberfelder Diakonissen teilweise der Zutritt zu den Krankensälen verweigert. In ihrem neuen Hause gingen täglich Menschen aus und ein, die Hilfe begehrten. Der Gemeindeprediger, Carl Grün, hatte bereits den Plan erwogen, sich selber als Krankenpfleger anstellen zu lassen, um als Seelsorger bei den Kranken, den Schreienden, den Winselnden und den Sterbenden, wie er schrieb, sein zu können. Aber in dem Getümmel in den Krankensälen sei „es sehr schwer über Seelenangelegenheiten zu reden.“ Danach fuhr er über sich und offensichtlich die Diakonissen fort: „Um so mehr machten wir aber Besuche in den Privathäusern; hauptsächlich suchten wir die Hütten der Armen und der Arbeiter auf, kamen aber auch in die Paläste der Reichen.“ Die Diakonissen, einige von ihnen waren selber zeitweise von der Krankheit erfasst, hatten weder Zeit noch Kraft, Berichte zu schreiben. Daher gilt das Interesse den Nachrichten ihres Pastors. Er sah sich wegen der eingehenden Spenden aus den Gemeinden des In- und Auslands nicht nur in einer Informationspflicht, sondern er interpretierte den Lesern auch die Sehnsüchte und Hoffnungen der missionarisch ausgerichteten Arbeit. Niemand, der die wenigen Berichte der Diakonissen liest, wird den Eindruck gewinnen, sie seien zur Evangelisierung der Menschen nach Hamburg gekommen. Allerdings befriedigte auch eine Ausrichtung nicht, die ausschließlich die Hilfe in leiblichen Sorgen anstrebte. Die Arbeit wurde ganzheitlich gesehen. Das spürt man den Deutungen ab, die der Hamburger Prediger, der gerade jetzt in einer lebhaften Dienstgemeinschaft mit den Diakonissen stand, formulierte. Er schilderte „den werten Lesern“ der Kirchenzeitung, denen es wichtig war zu hören, 17

„was diese Heimsuchung für einen Eindruck auf die Einwohner macht, und was wir in dieser Zeit besonders für ihre Seelen thun. Die vielen Leidtragenden und Trauernden sind natürlich zum Teil sehr bewegt, aber meistens geht’s nur bis an das Gefühl. Auch findet man da und dort einige Seelen, die gerührt sind und mit denen man etwas über ihr Heil reden kann; aber im allgemeinen kann man von einer Demütigung und Beugung unter Gottes Hand noch nichts be17

Carl Grün, Aus Hamburg III. In: EB 29. Jg. (1892), S. 357.

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Noch einmal: Reden und handeln – Die Mission der Ebenezer-Diakonissen

merken. Im Gegenteil Empörung gegen Gott, der doch keine Gedanken des Leides, sondern des Friedens hat; Auflehnung gegen die Obrigkeit, die für alles zum Sündenbock gemacht wird; leichtsinniges Reden und lasterhaftes Leben haben leider die Oberhand. Wir müssen öfters nur staunen über die Versunkenheit, Verstocktheit, Herzenshärtigkeit und Religionslosigkeit dieses Volkes.“18

Wer vor der Katastrophe nach Hamburg gekommen war, um in der Stadt glaubensferne Menschen zum Glauben zu rufen, der stand vor Fragen, die in der missionarische Kirche so noch selten gestellt worden waren. Es war seit den Propheten des Alten Bundes ein traditionelles Deutemuster, dass Katastrophen als Gottesgerichte gesehen wurden, damit Menschen darin den Ruf Gottes zur Umkehr hören sollten, um ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Aber hier wurde erkennbar, Gott war in den Köpfen und Herzen der Menschen keine feste Größe mehr, mit der sie rechneten. Das traditionelle christliche Frömmigkeitsmuster trug nicht mehr, wie es in weniger großstädtischen Lebensbeziehungen noch der Fall sein mochte. Jedenfalls konnte die Mission der Kirche nicht mehr selbstverständlich in der Weise von Gott reden, wie sie es Jahrhunderte getan hatte. An die Stelle der Gleichgültigkeit gegenüber Gott war längst die innere und zunehmend auch die öffentliche Abkehr von Gott getreten, auch wenn man der Institution Kirche noch die Treue hielt. Grün sah von seinem Wunsch her, Menschen für ein Leben in der Nachfolge Christi zu gewinnen, dass eine solche Zeit der Heimsuchung nicht mehr unbedingt auch eine Zeit des Zulaufs zur Kirche oder zum Glauben sein muss, sondern dass die Hürden für den Schritt zum Vertrauen auf Gottes Kraft eher noch höher wurden. Der ungenannte Autor eines Artikels nahm den Gedanken eines Journalisten auf, der jedem Hamburgern geraten hatte, in der Zeit der Krise eine Karte mit Namen und Anschrift bei sich zu tragen, damit er im Falle eines überraschenden Todes identifizierbar sei. Daran knüpfte der von einer puritanischen Gewissensethik geprägte Prediger Grün an. Er schrieb: 19

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Carl Grün, Aus Hamburg. In: EB 29. Jg. (1892), S. 326f. Diese Kategorie der Deutung war auch der Hamburger Erweckung nicht fremd. Elise Averdieck schrieb gerade in der „Colerazeit“: „Ja, das Gottesgericht liegt schwer auf unserer Stadt […]. Der Herr wolle uns alle durch diese ernste Züchtigung zur Buße leiten!“ (geschrieben am 10. September 1892). Einen Monat später schrieb sie: „O, daß das Gericht ausrichte, wozu der treue Herr es gesendet! Daß Glaube und Liebe sich mehren und wir alle besser beten lernen und miteinander sprechen: Kommt, wir wollen wieder zum Herrn gehen! Er hat uns geschlagen, er wird uns auch heilen!“ – Hannah Gleiss, Elise Averdieck. Aus dem Leben einer Hundertjährigen, Hamburg 19268, S. 184–186.

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„ein Volk, das im Angesicht solcher ernsten Dinge in seiner großen Gottlosigkeit und Ruchlosigkeit kaltblütig verharrt und anstatt in die Gotteshäuser zu eilen, mit Ungestüm darauf losstürmt, daß die Götzenhallen der Theater und anderer Lusthäuser [im Vergnügungsviertel St. Pauli] geöffnet werden und, als die zweifelhaften Thore sich öffneten, in wilder Hast massenweise da hin zog, um im Anblick elender Gaukeleien den Ernst des Lebens zu vergessen, ein solches verblendetes Volk ist zu allem fähig. Gott erbarme sich!“20

Das ernüchternde Fazit über die geistliche Bewegung in Hamburg lautete im Frühjahr 1893: „Während nun die einen sich vorstellen, die Massen seien ernstlich davon [dem Notstandswesen] berührt, gedemütigt und nach Gottes Wort hungrig geworden, sind andere der Meinung, es habe gar keinen Eindruck gemacht, sondern alles sei spurlos vorübergegangen. Beide Ansichten gehen aber zu weit. Es ist ja wahr, die Gottesdienste wurden, sowohl in den Landes- wie in den Freikirchen, von der Cholerazeit an etwas besser besucht und es kamen auch da und dort einzelne Bekehrungen vor; aber eine allgemeine Erweckung blieb bis jetzt aus. Die großen Massen, und das sowohl die Reichen, die Mittleren, wie die Armen, sind wieder mitten im Sündigen und Lustigsein, wovon sie übrigens auch während der Cholerazeit nicht herausgetreten sind, nur konnten sie es in dieser Zeit nicht so ausführen, wie sie es gewohnt waren.“21

Unabhängig von den kirchlichen Auswirkungen konnte man erleben, wie die Diakonissen ihren Dienst mit großer Liebe und unermüdlicher Hingabe getan haben. Die kleine Gemeinde mit ihren ungefähr vierzig Mitgliedern und die 24 Schwestern haben teilweise gemeinsam einen enormen Einsatz geleistet. „Es war dies zwar eine ungemein schwere und aufreibende, aber auch reich gesegnete Missionsarbeit.“ Worin bestand dieser Segen? Die Statistik der Gemeinde erhöhte sich von 1892 bis 1896 nur von 34 auf 60 Mitglieder. Darunter waren aber 44 Zuzüge von auswärts – vielleicht waren es die neuankommenden Diakonissen? – und 40 Wegzüge nach auswärts. Der Erfolg kann nicht darin bestanden haben, durch den enormen diakonischen Einfluss Mitglieder für die eigene Gemeinde gewonnen zu haben. Aber sie hatten Menschen in den Winkeln, Höfen und Gängen Gutes getan, hatten viele Arme in ihren Kellern und manche Reiche in ihren Palästen besucht, hatten mit Menschen über das Heil, das befreiend auf das Leben wirken kann, gesprochen. Damit war es von Anfang an umschrieben, was das Ziel der Elberfelder Bethesda-Diakonissen in Hamburg war: Sie wollten Gott in ihren Nächsten 20 21

Carl Grün, Aus Hamburg. In: EB 29. Jg. (1892), S. 342. Carl Grün, Aus Hamburg. Das Werk des Herrn. In: EB 30. Jg. (1893), S. 62.

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dienen. Das zeigt gleichzeitig, wie diakonisches Wirken bei den Schwestern nicht zu einer Methode der Evangelisierung umfunktioniert und damit ihrer Kraft beraubt und ihres eigentlichen Wesens entfremdet wurde. Der Prediger der kleinen Gemeinde, der zugleich zum Vorstand des Diakonissenwerkes gehörte, sorgte sich um das „Elend in unserer schwer heimgesuchten Stadt“, das nach seinem Bericht „grenzenlos“ war. Er erhoffte, Unterstützung für sich und die Diakonissen durch eine Sammlung in den Gemeinden seiner Kirche zu gewinnen. Von 39 der 41 Gemeindebezirke – überwiegend in Süd- und Westdeutschland – gingen große und kleine Geldspenden zur Linderung der Not ein. Viel Unterstützung kam auch von den Gemeinden in der Schweiz – es waren damals 24 Bezirke – und selbst aus Amerika kam ein schöner Betrag. Einige Freunde hatten auch „christliche Schriften zur Verteilung“ geschickt. Grün selber scheint gegenüber dieser Zusendung nicht unkritisch gewesen zu sein. Er bemerkte in einem in der Gemeindezeitschrift gedruckten Bericht freimütig: „Waren auch viele nicht geeignet, so haben doch Tausende Verwendung gefunden und werden Segen stiften.“ Diakonische Hilfe und missionarische Aktivitäten waren eine unauflösliche Einheit. Es konnte nicht um die Frage gehen, ob das der Situation angemessen war, sondern wie Dienst und Seelsorge miteinander verbunden waren und wie sie praktiziert wurden, war entscheidend. Träger der Diakonie waren in dieser Zeit besonders die fachlich qualifizierten Schwestern, die zum Teil in der Berliner Charité ausgebildet waren, aber wenn einem Sterbenden ein Trostwort gesagt wurde oder man die fremde Hand in der Angst hielt, dann war das die natürliche Einheit von Tat und Wort. Träger der evangelistisch ausgerichteten Arbeit unter den Ärmsten waren vorwiegend die Glieder der Gemeinde. Die reichten auch manchem ein Glas Wasser oder netzten die Zunge eines Verlassenen in seiner trostlosen Behausung. Aber darum wurde die Verteilung der Schriften, die jetzt aus den Gemeinden in größerem Umfang zur Verfügung standen, nicht eingestellt. Prediger Grün berichtete: „Unsere kleine Gemeinde hat sich fast vollzählig an der Verbreitung beteiligt.“ Auch andere Kirchen und Gemeinschaften haben Blätter verteilt, z. B. habe ein Pastor „ein sehr zeitgemäßes Flugblatt unter der Überschrift ´Der Herr dein Arzt, auch in der Cholerazeit´“ geschrieben. Allerdings sei die Verteilung nicht einfach gewesen sein. Aus Gründen der Ansteckungsgefahr wur22

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Carl Grün, Aus Hamburg. In: EB 29. Jg. (1892), S. 326. Carl Grün, Aus Hamburg – das Notstandswesen. In: EB 30. Jg. (1893), S. 54. Carl Grün, Aus Hamburg. In: EB 29. Jg. (1892), S. 341. Ebd.

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den nicht einmal die Angehörigen in die Krankenhäuser und notdürftig eingerichteten Krankensäle eingelassen. Die Gemeinde der Evangelischen Gemeinschaft konzentrierte sich auf Besuche in Privathäusern. Im sozial auf der untersten Stufe stehenden Gängeviertel machten sie erschütternde Erfahrungen. Durch niedrige Gänge erreichten sie nacheinander zunächst den ersten, dann den zweiten Hof. Grün schildert, wie sie von da „eine steile, halbverfaulte Treppe hinauf, von da aus nochmals eine Treppe, die aber mehr einer Leiter gleich sah und wo man sich krampfhaft an einer Leine halten mußte. Jetzt glaubte ich aber, es sei genug, doch es ging nochmals hinauf, wo abermals mehrere Familien wohnten, die besucht werden mussten. Da lag ein alter Greis, welcher für ein freundliches Wort und eine Unterstützung empfänglich war, aber von einem Gott und Heiland rein nichts hören wollte. Dort lag eine Jungfrau, bleich und abgezehrt, voller Schmerzen, aber bei der Nennung des Namens Jesu lachte sie spöttisch. Hier ist ein etwa 45-jähriger Hausvater in der größten Not, denn Frau und Kinder sind plötzlich gestorben. Aber von Gottes Wort will er nichts wissen. Dort ist ein junger Schuhmacher, welcher eben wieder halbkrank und arbeitsunfähig vom Krankenhause zurückkam. ´Glauben Sie, daß der Herr Jesus als der rechte Arzt Sie wieder gesund machen kann, besser als alle irdischen Ärzte, wenn Sie sich ihm hingeben?´– ´Ja, das glaube ich.´– ´Glauben Sie an Gott?´– ´“Ja, ich glaube an ihn. Ich hatte fromme Eltern und deren Ermahnungen und Gebete wachten wieder auf.“26

In diesem Stil geht der Bericht weiter. Die soziale Not, aber auch das Denken von Menschen in dieser Großstadt wurde eindrucksvoll dargestellt. Die Mitteilungen lassen auch ahnen, wie schrecklich diese Seuche wütete. Die Informationen in der freikirchlichen Zeitschriftenpresse wecken auch die Frage: Wie mögen die geschilderten Vorgänge auf die frommen Leser in den Dörfern und auf die Empfänger abseits in den Schweizer Bergen gewirkt haben? In der Beurteilung der zeitlichen Umstände lag der Berichterstatter ganz im Trend seiner Zeit. Hamburg, so schrieb er, werde von zwei Seiten beeinflusst und geleitet, die zu einer solchen „Versunkenheit, Verstocktheit, Herzenshärtigkeit und Religionslosigkeit“ geführt haben. Es seien „das freisinnige Judentum und die gottlose Sozialdemokratie. Ersteres beherrscht mit seinem undeutschen, widerchristlichen Geiste die Börse, die vornehme Presse, den Geldsack und die öffentliche Meinung, und letztere den Mittel- und Kleinbürger, vor allem die Arbeiterwelt. Die Sozialdemokraten rühmen sich, daß 58 % der Einwohner Hamburgs sozialdemokratisch gesinnt seien, und es mag dies zutreffen. Während die Judenpresse mehr in feinerer 26

Carl Grün, Aus Hamburg. In: EB 29. Jg. (1892), S. 357.

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Weise das Christentum angreift und in den Augen des Volkes lächerlich macht, führen das die Sozialdemokraten mehr in plumper, frecher und gotteslästerlicher Weise aus. Und so wurde das arme Volk von oben und von unten vergiftet und Gott und seinem Worte entfremdet.“27

Genau diese antisemitischen Formeln waren damals auch bei den frömmsten Predigern gang und gäbe. Sie vergifteten die ohnehin schwach ausgebildete christlich-jüdische Nachbarschaft und wirkten in fataler Weise meinungsbildend für die kommenden Jahrzehnte. Den engagierten und mit hohen ethischen Prinzipien erfüllten Prediger, kränkte es besonders, „daß die sozialdemokratische Zeitung nicht besseres zu thun gewußt, als das Volk davor zu warnen, daß ja niemand in die Kirchen gehen soll, weil man sonst angesteckt werden könne, während sie für die unglücklichen Insassen der stinkenden Bier- und Schnapsstuben keine Sorgen hatte.“ 28

Diese Situation mag sich erklären durch irritierende öffentliche Äußerungen. Selbst Ärzte haben die Meinung vertreten, man könne dem Tod durch die Einnahme von Alkohol entgehen. Grün glaubte, der Handel mit Schnaps, Cognac, Rum und dergleichen sei bis zum 20. September durch den Senat völlig frei gegeben gewesen. Der Senat hatte in einem Flugblatt Ratschläge für eine vernünftige Ernährung gegeben und darin auch den Genuss von Rotwein empfohlen. Aber, fragte Professor Hueppe später in einer Untersuchung, „Was nutzt es, einem Menschen Quellwasser oder Rotwein zu empfehlen, wenn er nur schlechten Branntwein zum schlechten Wasser hat?“ In den Zeitungen erschienen Anzeigen, die den Irrglauben stärkten, als schütze gegen Ansteckung nichts besser, als scharfe alkoholische Getränke. Da konnte man lesen: O Publico! O Publicum! Trink Arrac, Cognac, Grog und Rum… Desinfiziere Haus und Wagen, vergesse aber nicht den Magen. Der besorgte Prediger sah, dass viele sich „voll und toll soffen“. Das Schlimmste in der Sache sei, dass die Sauferei – wie er meinte – zu dieser „Pest“ führe. Es sei amtlich nachgewiesen, „daß unter Säufern 91 % an der 29

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Ebd., S. 327. Ebd. Ferdinand Hueppe, Die Cholera-Epidemie in Hamburg 1892, Berlin 1893, S. 99. Zit. n. St. Winkle, Chronologie und Konsequenzen der Hamburger Cholera von 1892, Hamburger Ärzteblatt, 12/1982.

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Cholera sterben, während dieselbe unter nüchternen Menschenkindern nur 19 % erringen kann.“ Die Lage in der Stadt muss schrecklich gewesen. Nie habe es so viele Betrunkene gegeben, die auf den Straßen lagen. Manche seien von den Wagen, mit denen die Toten abgefahren wurden, mit aufgesammelt und abtransportiert worden. Den 41-jährigen Prediger, der erst ein Jahr in der Hansestadt war, brachte diese ungewöhnliche Herausforderung an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Er sah sich aber durch die eingehenden Spenden aus den Gemeinden in seinem Engagement getragen. Unter dem Aspekt einer gewissenhaften Verteilung der „großen und kleinen Geldsendungen“, die die Hamburger Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus den Gemeinden erhalten hatten, gab er seinen Bericht. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie die sendenden Gemeinden doch „diese Schweiß- und Armenpfennige selber hätten brauchen können.“ Aber nun teilte er mit, wie die Diakonissen und die Gemeindeglieder in der heimgesuchten Stadt bei den Ärmsten nicht etwa nur Geld an die Armen verteilt haben, „was in vielen Fällen auch nicht gut gewesen wäre, sondern [wir] kauften auch Lebensmittel, Kleidungs- und Bettstücke, Bücher und Schriften.“ Als eine Art Abschluss wurden vor Weihnachten im Betsaal Arme unter dem Tannenbaum bewirtet und mit einem Päckchen beschenkt. Die „uneigennützige christliche Opferwilligkeit“ der Spender habe manche Herzen tief berührt. Zu den ethischen Normen, die das Leben eines Predigers der methodistischen Kirchen im 19. Jahrhunderte prägte, gehörte die totale Abstinenz von alkoholischen Getränken. Das ist eine Entwicklung, die ihre Wurzeln schon im angelsächsischen Puritanismus und im britischen Methodismus der Zeit Wesleys hatte. Der Abstinenzgedanke führte in den USA 1826 zur American Society for the Promotion of Temperance. In den Kirchenordnungen der Evangelischen Gemeinschaft des 19. Jahrhunderts hieß es: 30

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„Es soll keinem unserer Mitglieder erlaubt sein, geistige oder berauschende Getränke zu machen oder zu bereiten, damit zu handeln, oder dieselben als ein Getränk zu gebrauchen, ausgenommen für Medizin.“33

Entsprechend haben die jährlich tagenden kirchenleitenden Konferenzen einen Mäßigkeitsbericht angenommen. Im Jahr der Cholera-Epidemie wurde 30 31 32 33

Carl Grün, Aus Hamburg. In: EB 29. Jg. (1892), S. 303. Carl Grün, Aus Hamburg – Das Notstandswesen. In: EB 30. Jg. (1893), S. 55. Ebd., S. 54. Die Glaubenslehre […] der Evangelischen Gemeinschaft, Nürtingen 1868, S. 33. Auch: Ausgabe von 1897, S. 23.

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anlässlich der Tagung in Dresden – noch vor dem Beginn der Hamburger Katastrophe – u. a. beschlossen: dass es sich die Prediger „zur heiligen Pflicht machen, alle Vereine und Bestrebungen, welche mit uns dieses für die Religion und den Staat so sehr gefährliche Uebel bekämpfen, kräftig zu unterstützen und mit Wort und That allenthalben, wo wir Gelegenheit haben, bei jung und alt, auf und unter der Kanzel die schreckliche Gefahr dieser Sünde allen Ernstes zu betonen und davor zu warnen.“34

Durch sein furchtloses und treues Handeln, mit dem Carl Grün manche Not linderte und an Sterbenden Seelsorge übte , hat er mit der Tat bezeugt, dass ein freikirchlicher Prediger und Missionar nicht nur da ist, um seine kleine und überschaubare Gemeinde zu betreuen, sondern dass sich missionarische Existenz in Wort und Tat gerade an denen erweist, die der Hilfe bedürfen. Die Evangelische Gemeinschaft und ihre Diakonissen lebten in der Übernahme der Sonntagsschule, in ihrer Verpflichtung zur Abstinenz von alkoholischen Getränken, wie auch in der missionarischen Grundausrichtung der gesamten Arbeit in der Tradition der angelsächsischen Kirchen. Ein Problem sah Grün darin, dass die politisch Verantwortlichen und die Hamburg Regierenden die wahre Situation in der Stadt nicht aus eigener Erfahrung kannten. Er schrieb: 35

„Man muß öfters über die Nachsichtigkeit der Obrigkeit nur staunen. Aber die Herren kommen eben in die erbärmlichen Winkel, Höfe und Gänge nicht hinein, auch andere Bürger haben wenig Einsicht hiervon; ja es giebt sogar Pastoren und wahre Christen, welche keine Vorstellung von der bodenlosen Versunkenheit mancher Einwohner hier haben. Hiervon können nur die reden, welche von Gott und Menschen berufen sind, den Seelen um Jesu willen nachzugehen.“36

Schon vor der Katastrophe hatte Grün den Lesern des Evangelischen Botschafters seine und der Diakonissen Aufgabe in Hamburg in einer Weise mitgeteilt, die während der Cholera-Epidemie durch die Praxis bestätigt wurde. Er schrieb: „In dieser großen Weltstadt hat auch die Evangelische Gemeinschaft ihre segensreiche Thätigkeit seit einigen Jahren begonnen, welche hauptsächlich darin besteht, den Verlorenen nachzugehen und ihnen den Weg zum zeitlichen und ewigen Glücke zu zeigen.“ Er hob dabei nach den Hinweisen 37

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Mäßigkeitsbericht. In: Verh. der Deutschland-Konferenz der Ev. Gemeinschaft, 27. Sitzung in Dresden, Juni 1892. Stuttgart 1892, S. 10. A. Schmid, Aus dem Leben des Predigers † C. Grün. In: EB 50. Jg. (1913), 253 f. Carl Grün, Aus Hamburg – das Notstandswesen. In: EB 30. Jg. (1893), S. 55. C. G. [Carl Grün], Aus Hamburg. In: EB. 28. Jg. (1891). S. 261.

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auf das Glück der Verlorenen die Bedeutung der Diakonissen hervor, die „durch werkthätige Liebe dem Volk […] zeigen, daß es uns heilig ernst um unser Christentum ist.“ Für den Prediger Carl Grün waren die Eindrücke in dieses soziale Elend in der reichen Stadt Hamburg mit den herrlichen Villen am Elbufer eine bleibende Erfahrung. Wie glücklich er selber war, wieder in seiner schwäbischen Heimat andere Verhältnisse in der Gesellschaft und in der Gemeinde anzutreffen, kann man seinem Bericht entnehmen, den er nach seinen vier Hamburger Jahren schrieb. Im Süden angekommen konnte er sich wieder freuen an der „ganzen Prachtfülle“, über „die lieblichen Berge und üppigen Thäler“, den schönen Neckar, den gesunden Menschenschlag, auch „die derbe, aber gemütliche Umgangssprache und noch vieles andere ließ deutlich erkennen, daß wir im gesegneten Schwabenlande“ angekommen waren. In Cannstatt, dem neuen Dienstort, „trafen wir an, was wir zum Theil schon viele Jahre entbehren mußten, nämlich: gesunde Luft, gutes Wasser, freundliche Wohnung und eine Anzahl bewährter Gotteskinder.“38

Die Cholera-Seuche, die durch das Wasser ausgelöst war, klingt noch einmal an. Was mögen die zurückgebliebenen Hamburger gedacht haben, als sie Grüns Gefühle über seine Hamburger Jahre lesen konnten, und was mag in den Köpfen der Diakonissen vorgegangen sein, die nun ständig in Hamburg wirken wollten? Der politisch geschärfte Blick des kaisertreuen Predigers mit einem patriotischen Herzen sah auch den in seiner Heimat eingetretenen Wandel. „Ist auch Württemberg in den letzten Jahren,“ so notierte er, „leider kirchlich von dem bedenklichsten Rationalismus und politisch von der Sozialdemokratie heimgesucht worden, deren verderbliche Folgen sich in Stadt und Land zur Genüge offenbaren, so ist es doch noch eins von den gesegnetsten Ländern der Welt.“ Gerade der Blick in die Zeit der Cholera-Epidemie hat noch einmal neu gezeigt, wie eng in den Anfängen die Arbeitsgemeinschaft zwischen dem Missionar und der Schwesternschaft der Diakonissen war. 39

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Carl Grün, Von der Elbe an den Neckar. In: EB 32. Jg. (1895), S. 270. Ebd.

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5.

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Die Lebensbedingungen – Orte und Umstände

Wie es bereits geschildert wurde, konnten die Schwestern im April 1891 die schwierige Wohn- und Arbeitssituation in der Katharinenstraße 37 beenden. Sie zogen mit ihrer wachsenden Schwesternschaft in eine größere Wohnung. Die lag in der Marienstraße 64. Damit waren grundlegende Entscheidungen verbunden. Erstens zogen die Diakonissen mutig in den sozialen Brennpunkt St. Pauli, jenen Stadtteil, in dem es nicht nur große soziale Nöte, sondern auch ein ungewöhnliches zwischenmenschliches Lebensgefüge gab. Die Verantwortlichen hofften, dass den Schwestern die Probleme nicht über den Kopf wuchsen. Tatsächlich gab es Querelen. Die Schwestern zogen erneut um. Daraufhin mietete die Gemeinde unter Aufbietung aller ihrer finanziellen Möglichkeiten einen eigenen Raum auf St. Pauli, um darin die von den Schwestern begonnene Arbeit weiterzuführen. Die Missions- und Armenschwester, die nicht mit ihren Mitschwestern nach Eilbek zog, sondern fortan in dem Gemeindelokal wohnte, leitete eine Sonntagsschule, sorgte für einen einfachen handwerklichen Unterricht, gründete eine Frauengruppe und verteilte den Armen Gaben, die eine andere Schwester bei reichen Familien sammelte. Erwähnenswert ist, dass eine der Schwestern eine kurze Zeit für eine „Zufluchtsstätte für entlassene weibliche Gefangene“ freigestellt wurde. Innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit änderte sich das Berufsbild. Zuerst lagen die Armen im Blick, nach und nach nahmen die Aufgaben innerhalb der wachsenden Gemeinden in Hamburg und an anderen Orten zu. Langfristig verlor die Arbeit ihre originäre missionarische Zuspitzung. Die in Hamburg eingeleitete Tendenz sollte sich schon bald weiter entwickeln. Als nämlich die Schwestern ihr eigenes erstes Heim unter wohlsituierten Familien in der Ritterstraße bezogen, boten sie der Gemeinde an, in ihren Räumen Gottesdienste zu halten. Der Prediger, dem keine eigenen Räume zur Verfügung standen, nahm dieses Angebot selbstverständlich gerne wahr. Bot anfangs die Kirche für die ankommenden Schwestern die erste Wohnung, so kehrten sich innerhalb weniger Jahre die Verhältnisse um und die Gemeinde fand eine offene Tür im Hause der Schwestern, die nun Gastgeber waren. Das 1892 in der Rittertrasse 129 erworbene Haus wurde für lange Zeit die Heimat der Elberfelder Diakonissen. Während sich für die Gemeinde der Stadtteil Eimsbüttel mit seinem sozialen Umfeld immer mehr als Schwerpunkt herausschälte, lebten die Diakonissen in guter Entfernung im vornehmeren Eilbek. Ihr Anwesen war nach dem Ende der Cholera-Katastrophe nicht mehr voll ausgelastet, weil die zur Unterstützung angereisten Schwestern an

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eigentlichen Dienstorte zurückkehrten. Daher bot sich die Gelegenheit, dort eine Klinik einzurichten. In Verbindung mit dem Belegarzt Dr. med. Späth hatte das Medizinalamt seit dem 5. Mai 1897 der Eröffnung einer Frauenklinik zugestimmt. Der Bettenbedarf stieg rasch, sodass noch im gleichen Jahr eine Erweiterung durch die Anmietung von zwei Zimmern im Nachbarhaus erfolgte. Bereits im Herbst 1898 konnte dieses zweite Haus erworben werden. Die Klinik konnte dadurch um fünfzehn Betten erweitert werden. Eine zunehmende Verbesserung des gesamten Hamburger Gesundheitswesens war mit der wachsenden behördlichen Aufsicht verbunden. Der Hamburger Senat erteilte der Ebenezer-Klinik im November 1905 den Status einer rechtsfähigen Stiftung. Grundlage war das bereits am 13. Januar 1893 beschlossene Statut Diakonissenheim Ebenezer. Die Entwicklung schritt rasant weiter fort. Der Senat überließ schon einige Jahre später dem Diakonissenheim Ebenezer kostenfrei ein Grundstück für den Bau eines größeren Krankenhauses im Stadtteil Barmbek. Es lag an der Ecke Friedrichsbergerstraße und Holsteinischer Kamp. Das Haus mit 75 Betten und zusätzlichen Wohn- und Arbeitsräumen für die Schwestern wurde am 25. Oktober 1911 eingeweiht. Die Anschrift lautete jetzt: Krankenhaus Ebenezer, Hamburg, Friedrichsberger Straße 53. Innerhalb von knapp zwanzig Jahren war die Basis für ein solides Krankenhaus gewachsen. 40

Das 1911 eingeweihte neue Krankenhaus der Ebenezer Schwestern in der Friedrichsbergerstraße

Das Haus in der Ritterstraße 129/131 wurde danach in ein Heim für ältere Damen umgewandelt, das ab 1932 kurz als Altersheim Ebenezer firmierte. Am 28. Juli 1943 musste durch einen schweren Luftangriff, der den gesamten Stadtteil in verheerender Weise dem Erdboden gleich machte, auch die Schwes-

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Als anderes Datum wird der März 1906 genannt.

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ternschaft einen Totalschaden erleiden. Die Arbeit an diesem Standort wurde nicht wieder aufgenommen.

6.

Wandel und Anpassung

Der notwendige Wandel, der im Gleichschritt mit den Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Rechtssetzung vollzogen werden musste, hat auch einige innerkirchliche Facetten, die gerade im Blick auf die aufgeworfene Frage nach der Mission in der Großstadt Beachtung verdienen. (1) Die stadterfahrene und mutige Missions- und Armenschwester entwickelte sich mehr und mehr zur kircheninternen Gemeindeschwester. An die herausragende Stelle der Teilnahme an der Mission trat nach und nach die innergemeindliche Betreuung. (2) Mit dem Aufgeben der Gemeinschaft von Gemeinde- und DiakonissenDiakonie in räumlicher Nähe waren Weichen gestellt für eine beschleunigte je eigene Entwicklung von Kirche und Diakonie. Damit folgten sie dem Bild in den Landeskirchen. Der Verlust der räumlichen Nähe von Wortzeugnis und diakonischem Tatzeugnis nahm der Arbeit einen Akzent, den die methodistische Diakonie im Vergleich zur maßgebenden Kaiserswerther gewonnen hatte. Diese gestaltete sich zunächst als Gemeindediakonie, jene war von Anfang an Anstaltsdiakonie. (3) Die Entwicklung der Verselbständigung wurde gefördert durch die frühe politische Anerkennung der diakonischen Arbeitsbereiche mit ihren Einrichtungen, während die Freikirche bis zur Weimarer Republik und selbst noch in deren verfassungebender Versammlung darum kämpfen musste, einen rechtlichen Status erlangen zu können. Trotzdem muss man bestätigen, dass es sich für die methodistischen Diakonissenvereine als vorteilhaft erwiesen hat, formaljuristisch von den ursprünglichen Kirchen unabhängig handeln zu können. (4) Die Entwicklung zu Professionalisierung, Institutionalisierung, Ökonomisierung und vor allem zur schleichenden Ablösung von der Gemeindearbeit hat sich mehr oder weniger unbemerkt vollzogen. Das Fliedner’sche gemeindelose Modell erwies sich auch in der freikirchlichen Arbeit als praktikabel, auch weil es rechtliche, wirtschaftliche und personelle Unabhängigkeit von schwerfälligen kirchlichen Strukturen mit sich brachte. Wie weit es in der Lage war, den missionarischen Akzent als einen selbstverständlichen Ausdruck des Glaubens zu praktizieren, bleibt zu untersuchen.

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(5) Der Wandel des Selbstverständnisses dieses und der anderen Diakoniewerke war unaufhaltsam. Daran hat auch der Einfluss des Staates mitgewirkt. Die praktischen und schönen eigenen Häuser halfen dem Staat, die notwendigen medizinischen Einrichtungen vorzuhalten und eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Die sowohl fachlich wie menschlich hervorragende Arbeit der Diakonissen war ein unübersehbarer gesellschaftlicher Beitrag von hoher Qualität. Gleichzeitig führte der Prozess der Professionalisierung und der Einbindung in das staatliche Gesundheitssystem zum Rückzug aus den Unterkünften der Armen. Der mit den Anforderungen einer klar strukturierten Arbeit in den eigenen Häusern verbundene Arbeitsrhythmus und die wachsenden Aufgaben brachten bald einen Mangel an Mitarbeiterinnen mit sich, den die Diakonissen teilweise willig durch ihr hohes Engagement ausfüllten. Damit war neben der Richtungsänderung in der Aufgabe auch ein Einschnitt in das Leben und die Arbeit der Diakonissen verbunden, der ihren missionarischen Spielraum einengte. Die stille Erwartung eines hohen Einsatzes an die Schwestern, die mit der ganzen Kirche gleichzeitig verschobene inhaltliche missionarische Ausrichtung aus den Häusern der Besuchten in die eigenen Kapellen und Kirchen und die wachsende Institutionalisierung der Diakonie zogen im Verhältnis zu den eigenen Gemeinden und der Kirche im Blick auf die Mission in der Großstadt erkennbare Veränderungen nach sich. Es verschoben sich – wie in den Gemeinden – die sozialen Ebenen und die Orte des Handelns und damit verengte sich der Blick und der Erfahrungshorizont. Das alles konnte nicht ohne Folgen für die Predigt, für die spontanen Gebete in der Gemeinde und beim Zusammentreffen in der Gemeinschaft bleiben. Exkurs Missionarisch bestimmtes Rollenverständnis bei Predigern und Diakonissen Wie sich das Bild der Diakonisse von der weitgehend unabhängigen Missionarin zur dienenden Krankenschwester mit organisiertem Tagesrhythmus in überschaubarer Zeit entwickelte, wandelte sich auch das Bild des Predigenden. Aus dem Missionar wurde zuerst der Evangelist. Der Missionar kannte sich in den Hinterhöfen bei den Armen und Verlassenen aus. Er konzentrierte alle seine Aktivitäten darauf, Menschen für den Glauben zu gewinnen und dadurch das Bild der Gesellschaft zu verändern. Es ist bemerkenswert, wie oft in den Be-

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richten die Rede von den gesellschaftlichen Problemen ist, deren Grund in der Halt- und besonders Glaubenslosigkeit der Menschen gesehen wurde. Darum war die Botschaft von der Errettung geprägt von der Sorge um das Heil und das Wohl der Menschen. Das Lied „Brüder auf zu dem Werk in dem Dienste des Herrn!“ haben die Gemeinden später noch gesungen. In der dritten Strophe heißt es: „Sucht Verlorene auf, wie der Meister getan, den Verlass’nen bringt Trost, nehmt der Armen euch an, bringet Licht in die Nacht alles Kummers hinein, zeigt in Liebe dem Feind, was ein Christ heißt zu sein.“ Das Bild von der Glaubensnot durch die Entfernung und Entfremdung von der christlichen Frömmigkeitstradition prägte die volkstümliche Predigt bei den „Verlassenen“ und „Verlorenen“. Das Angebot der Erneuerung auf der Grundlage der geschenkten Rechtfertigung und der gelebten Gnade führte Predigt und Zeugnis der Gemeindeglieder und Diakonissen zu einem evangelistisch-missionarischen Ansatz. Wenn unter solcher Predigt spürbar wurde, wie Gottes Geist Herzen bewegte, wurde aus einer Predigt eine Predigtreihe; man verlängerte spontan die Versammlungen über einen längeren Zeitraum und sprach entsprechend von Verlängerten Versammlungen. Alles war Mission, das Aufsuchen der Armen, die diakonische Hilfe und das verkündigte Gnadenangebot. Der Einsatz war nicht an der Gemeinde orientiert, sondern an der Stadt und ihrer Umgebung. Darum war der mobile Missionar unterwegs, Orte und Plätze zu suchen, wo er Menschen das Evangelium verkündigen konnte: Schulen, Kneipen, Bauernhäuser, Armenstuben, und was es sonst für mögliche und unmögliche Stätten gab. 41

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Fanny Crosby (1823–1915), übersetzt von Ernst Gebhardt. Zuletzt in: Gesangbuch der Evangelisch-methodistische Kirche, Stuttgart 2002, Nr. 564 mit dem veränderten Textbeginn: Christen, auf zu dem Werk. Es ist bezeichnend, dass es innerhalb der methodistischen Kirchen in Hamburg zu dieser Zeit keine bewegenden größeren Erweckungsversammlungen gegeben hat. Darum sei hier ein Beispiel für „Verlängerte Versammlungen“ eingebracht, das Ernst Gebhardt aus Heilbronn schilderte. Dort kamen in einer Hunderte fassenden Erweckungsversammlung Menschen zum Glauben. Gebhardt schildert: Der Herr „ließ uns nicht ungesegnet. Er erhörte unsere Gebete, so daß eine Seele um die andere Frieden […] fand und fröhlich ihre Straße weiter pilgern konnte. Da sich der Herr denn so augenscheinlich zu dieser Art der Wirksamkeit bekannt hatte, standen wir keinen Augenblick an, es an den folgenden Abenden auf dieselbe Weise anzugreifen und so kam es, daß beinahe alle Tage zwei bis acht oder noch mehr Sünder begnadigt wurden und andere noch zu Hause den Herrn fanden.“ Ernst Gebhardt, Mission in Heilbronn. In: Ev. 14. Jg. (1863) S. 3470.

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Aus dem Missionar wurde der Prediger und Evangelist. Sobald ein Saal eingerichtet war, kam es zu einer örtlichen Konzentration. Der Missionar hatte Interesse daran, seinen Saal zu füllen und eine Gemeinde zu sammeln, die ihn in der Mission unterstützte. Die Kapellen waren noch ganz von dem missionarischen Konzept her gestaltet: die Kanzel in der Mitte, und zwar möglichst hoch, damit zu allen Besuchern auf den Emporen, oft noch aus der amerikanischen Tradition „Galerien“ genannt, Blickkontakt möglich war. Vor der Kanzel stand der bescheidene Abendmahlstisch und darum herum der sogenannte Betaltar, den andere mit einem gewissen Unterton Bußbank nannten. Hier konnten die Gottesdienstbesucher knien und die Fürbitte durch den Prediger erbitten. Der fast einzige Schmuck dieser Predigträume war ein leeres Kreuz als Zeichen der Gegenwart des Auferstandenen. An der Stirnwand der Kapelle standen ein oder zwei einladende Bibelworte. Beide, Verkündigung und Raum, dazu auch die Heilslieder des 19. Jahrhunderts, bildeten ein einheitliches theologisches Konzept, das von der Mission her geprägt war. Über die Amtskleidung des Predigers ist nicht viel zu berichten; jedenfalls war es kein Talar, später ein Gehrock. Das war bei Diakonissen anders. Gerade durch ihre Besuche in den Häusern waren sie öffentliche Personen. Ihre schmucke Schwesterntracht gab ihrem Dienst eine ungeahnte Würde und gleichzeitig schuf sie eine schützende Distanz. Der Ansatz der missionarischen Verkündigung veränderte sich. Aus den spontan hier und da stattfindenden verlängerten Versammlungen wurden durch die neuen Umstände jetzt Evangelisationswochen. Sie hatten noch das gleiche Ziel, aber sie waren jetzt nicht mehr Ausdruck einer immerwährenden Mission, sondern eine begrenzte missionarische Aktion von einer oder zwei Wochen. Sie wurden geplant, Zettel wurden verteilt, Gemeindeglieder luden Freunde ein oder brachten Nachbarn mit, auswärtige Prediger wurden als Evangelisten eingeladen, die in ihren volkstümlichen Predigten oder Vorträgen den Heilsweg aufzeigten. Die permanente Mission war zu einer zeitlich begrenzten Evangelisation zusammengeschmolzen. In dieser Hinsicht hatte sich das Leitbild des Verantwortlichen fast unbemerkt verändert. Ähnlich war es mit dem Dienst der Diakonissen. Als sie Hauspflege in den verschiedenen Stadtteilen übten, trafen sie Krethi und Plethi. In den Straßenbahnen oder auf den Alsterdampfern waren sie unterwegs mit den Menschen und zu den Menschen. Die Missionsschwestern gingen am weitesten hinaus bis nach St. Pauli und manchmal sogar zu den entlassenen weiblichen Strafgefangenen und den Prostituierten. Mit dem Bau eigener Krankenhäuser

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Noch einmal: Reden und handeln – Die Mission der Ebenezer-Diakonissen

wurden aus den Missionsschwestern immer stärker Krankenschwestern. Ihr Lebensrhythmus änderte sich von einer gewissen Spontaneität zu einer systematischen Betreuungsregelmäßigkeit. Das Arbeitsfeld schränkte sich von dem ganzen Stadtgebiet auf die gepflegte Station des Krankenhauses. Der Rückzug erfolgte aus den nicht immer reinlichen Hütten ins klinisch einwandfreie Krankenzimmer. Die Verantwortung war größer geworden, die Welterfahrung kleiner. Das ist keine spezifisch methodistische Entwicklung, aber vor der Frage nach der Teilnahme an der Mission tritt sie besonders deutlich in Erscheinung. Den weiteren Wandel vom Prediger zum Pastor mit neuen Aufgabenbeschreibungen und dem weiteren Verblassen des missionarischen Leitbilds darzustellen, überschreitet den Rahmen dieser Studie. Jedoch ist der Hinweis auf ein Proprium des methodistischen Predigtamtes, das sich aus seinem ursprünglichen missionarischen Selbstverständnis ergeben hat, auf dem Hintergrund der Hamburger Geschichte angebracht. Im Kongregationalismus war in vielen Fällen eine kleine Gruppe Christen mit speziellen Tauf- oder Abendmahlsvorstellungen der Ausgangspunkt für Gemeindebildungen. Diese kleinen Kreise, nicht selten individualistisch eingestellte Bibelleser, riefen einen Prediger ihrer meist täuferischen Richtung, der sie in ihren Anliegen bestärkte. Daraus wuchsen Gemeinden. Bibelarbeit, Predigt und Gebet waren in diesen Gemeinden das Zentrum. Hier und da gehörten auch Adlige den theologisierenden Gemeinden an, jedenfalls mehr Bürgerliche und Gutsituierte, als sie in den methodistischen Versammlungen anzutreffen waren. Die täuferischen Gemeinden wurden in manchen Traditionen von Laien geleitet, die Baptisten leisteten sich bald Prediger, die sie selber, vielleicht im Zusammenwirken mit einer Nachbargemeinde, finanzierten. Diese Ausgangssituation prägte ein anderes Bild als die Anfänge methodistischer Gemeinden. Methodisten predigten keine Heilstheologie, mit der sie sich von anderen abgrenzen mussten oder die sie monopolistisch für neutestamentlich hielten. Ihre Lehre vom universalen Heil war der von den Erweckungspredigern in den damaligen Staatskirchen sehr ähnlich, wenn nicht in vieler Hinsicht gleich. Anders war vielleicht einige Zeit ihre volkstümliche Predigtweise, also ihre Frömmigkeitsform. Im Kongregationalismus sammelten sich kleine Gruppen, die einen Prediger beriefen. Die Methodisten sandten auf der Grundlage ihrer missionarischen Theologie Missionare aus. Die wurden, wie in Amerika zu den Neusiedlern aus Europa, hier bei uns in die Städte gesandt, um zu missionieren. Sie standen mit ihrer Person für die Möglichkeit der Erneuerung durch Gnade und die Chance eines neuen Le-

Wandel und Anpassung

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bens ein. Sie sammelten die ersten Glieder der Gemeinden, die sie dann wiederum als Mit-Missionare in ihre Arbeit einspannten. Durch ihre von dem missionarischen Anliegen her geprägte Arbeitsweise nahmen die Missionare in den Gemeinden von Anfang an eine zentrale Rolle der Leitung, der Organisation, der Einrichtung von Versammlungsräumen und des Baus von Kapellen ein. Sie waren als Mitglieder einer missionierenden Dienst- und Lebensgemeinschaft, die sich einmal jährlich traf, um ihre Angelegenheiten zu regeln, die zentralen Personen im Konzept der Mission. Ohne dass es den Gemeinden bewusst ist, prägen diese ehemals missionarischen Strukturen die Arbeit des Pastors und die Beziehungen zwischen Pastor und Gemeinde bis heute, auch weil immer noch die letzte Verantwortung für pastorale Mitarbeiter und die Finanzen nicht bei den Gemeindebezirken, sondern bei der jeweiligen Konferenz liegt. Die Pastoren und die Diakonissen einerseits und die Kirche wie die Diakoniewerke andererseits haben unter den Umständen ihres Wirkens ihr Rollenverständnis verändert. Hier ergeben sich Fragen: Sind die Veränderungen geprägt durch die notwendige Anpassung an den gesellschaftlichen Wandel? Folgte man unbewusst prägenden, maßgebenden fremden Leitbildern von Kirche und Diakonie? Oder geschah beides? Bedeuteten diese Veränderungen für die immer dringlicher werdende Mission der Kirche einen Verlust oder einen Gewinn? Hat die eigene theologische Einsicht und Erkenntnis die gegenwärtigen Bilder mitgeprägt oder ist das heutige Selbstverständnis Ausdruck des Verlustes von eigenem Profil? Halten die Hauptamtlichen heute ihre Rolle, die sie ausfüllen, für angemessen oder sind Rückbesinnungen z. B. auf die Verbindung von wandernder Gesellschaft mit vielen migrativen Elementen und eine Verortung des Pastorats in einer Stadt die richtigen Zeichen für die Ablösung von mobiler Reisemissionspredigt und ist eine immer festere Verörtlichung mit gleichzeitiger überregionaler Abgrenzung ein angemessener Weg für eine global organisierte Kirche? Welche Rolle spielt heute die Hinwendung zu den Armen in der Gesellschaft? Allein diese Fragen lassen erkennen, dass es innerhalb der methodistischen Kirche aus verschiedenen Gründen Unsicherheiten im Zusammenhang des Selbstverständnisses von einzelnen und dem deutschen Zweig der Kirche insgesamt gibt. Gerade die Diakonissen des Bethesdawerkes haben es geschafft, sich aus dem Raum, der für sie im Laufe der Zeit geschaffen und entstanden war, zu befreien. Sie sind ins Zentrum der wiedervereinigten Hauptstadt gezogen und haben dort an ihre eigenen alten Erfahrungen angeknüpft. „Kinder in die Mitte“ heißt ihr neues Aufgabenfeld, das sie sich unter Kindern der Groß-

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Noch einmal: Reden und handeln – Die Mission der Ebenezer-Diakonissen

stadt gesucht haben. Manche Christenmenschen, die sich schon lange nach einem neuen Schub gesehnt haben, sind auf ihren Wagen aufgesprungen. Missionarische Diakonissen und Glieder der Gemeinden arbeiten wieder Hand in Hand. Kann die Kirche auch ihre Ressourcen mutig für eine neue Hinwendung zu den Armen einsetzen? Sind die Mitarbeiter dazu motiviert? Reicht ihre Liebe zu den Armen, um die ungewohnte Aufgabe selbstlos und hingebungsvoll anzupacken? Die Fragen zeigen die Scheu, mit der eine neue Zukunft gewagt werden will. Aber sie zu stellen, will ein erster kleiner Schritt sein für das mutige Voranschreiten, ohne das es nicht geht. Man kann hier noch einmal wiederholen, was der Gründer des Elberfelder Bethesda-Diakonissenwerkes, der später an sich selber gescheitert ist, den jungen Frauen gesagt hat: „Es handelt sich bei der Diakonissensache, wie wir sie betreiben, nicht um fromme Wünsche, um die Pflege frommer Ideen, sondern um wahre Herzensfrömmigkeit und um ernstliche Thätigkeit zum leiblichen und geistlichen Wohl der Mitmenschen. Wenn Schwestern ohne Herzensfrömmigkeit zu uns kommen, können sie nicht bestehen und werden entweder selbst wieder heimkehren oder entlassen werden müssen. Es denke doch keine Schwester, sie werde in diesem heiligen Dienst den Versuchungen Satans entfliehen […] Ohne innere Gewißheit und die Kraft des heiligen Geistes sollte keine Schwester den Schritt wagen; aber dann auch, wenn er gewagt ist, mutig voran gehen und allzeit das Bewußtsein haben: Ich bin in des Herrn Dienst, ihm diene ich aus Dankbarkeit und Liebe an den leidenden Mitmenschen, ich will seinem Vorbild folgen.“43

Der Unterschied der Berufung und Beauftragung von Diakonissen und Pastoren besteht lediglich in der von ihnen jeweils auszuführenden Aufgabe. Die Grundlage, auf der sie ihrer Berufung folgen, ist für beide gleich und schließt auch andere Mitarbeitende in Kirche und Gemeinde mit ein.

43

Jakob Knapp, Von dem Bethesda-Verein. In: EB. 25. Jg. (1888), S. 318.

Kapitel 6 Ganzheitlich Kirche sein 1.

Methodistische Kirchen- und Gemeindebildung in Hamburg

Die methodistischen Kirchen sind in einem schwierigen Prozess durch Gemeindebildungen entstanden. Für die Hansestädter waren internationale Beziehungen im 19. Jahrhundert nicht in dem Maße fremd, wie für Binnenländer. Unter denen gab es vor dem 1. Weltkrieg einen Prozess der Verstärkung nationaler Gefühle. Das haben Kirchen, die aus den angelsächsischen Ländern kamen, zu spüren bekommen. Gleichzeitig fand eine Konfessionalisierung der deutschen Kirchentümer, besonders ihrer erwecklichen Teile, statt. Das engte die missionarischen Lebensräume für Kirchen angelsächsischer Tradition erheblich ein. Auch in ihnen sah man Sammelbecken für „vaterlandslose Gesellen“. Wenn es trotz der Entwicklung dieser gesellschaftlichen und kirchlichen Bedingungen zu Gemeindebildungen kam, war es weder „Separation“ noch „Proselytenmacherei“. Es gab keine Abspaltung von Gemeinden oder Gemeinschaften von den damaligen Staatskirchen, die sich den Methodisten angeschlossen haben. Das entspricht genau ihrem missionarischen Ansatz. So, wie die Brüder Wesley eine innerkirchliche Erneuerung der Anglikanischen Kirche wollten, sahen die methodistischen Missionare in Deutschland ihr Missionsobjekt nicht in den Landeskirchen. In einer gewissen Wertschätzung der Kirche unterschieden sich die Methodisten von vielen Pietisten. Die bezeichneten ihre verfasste Kirche als „Babel“. Das hatte seit den Reformatoren, Täufern, Spiritualisten, natürlich Pietisten und später auch bei manchen Freikirchlern Tradition. Babel war zum Symbol für die gefallene Kirche, die man verlassen muss, geworden. Die Methodisten hingegen bevorzugten es, von „Sodom“ zu sprechen, jener verweltlichten und von Gott abgefallenen Stadt, der Gott ein Gericht androhte und der er doch gnädig sein 1

1

Apokalypse Kapitel 18, Vers 4 f: heißt es über „Babel“: „Geht hinaus aus ihr, mein Volk, dass ihr nicht teilhabt an ihren Sünden und nichts empfangt von ihren Plagen! Denn ihre Sünden reichen bis zum Himmel, und Gott denkt an ihren Frevel!“

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Ganzheitlich Kirche sein

wollte, wenn sich nur zehn Gerechte in ihr fänden. Schon im ersten Jahr nach seiner Rückkehr aus den USA schrieb Jacoby nach Amerika: „Was soll ich über Hamburg sagen? Wer weiß nicht, daß es ein wahres Sodom ist!“ Fünf Jahre später schrieb er fast resigniert über Hamburg an den Missionssekretär der Kirche nach New York: „Wir haben nur wenig Hoffnung für dies große Sodom.“ Diese Wortwahl war kein Zufall, denn die methodistische Mission hatte ja ursprünglich den Plan, die deutschen Landeskirchen in ihren Kampf gegen den Unglauben und den Aberglauben, das bedeutete, gegen den Rationalismus und gegen Rom, zu unterstützen. Die Mehrzahl derer, die sich den Methodisten anschlossen, haben in den kleinen Gemeinden keine „bessere“ Theologie oder die „richtigere“ Kirche gesucht und gefunden. An einen gesellschaftlichen Prestigegewinn war überhaupt nicht zu denken. Überwiegend einfache, schlichte, oft arme Menschen haben diesen Weg gewählt. Meistens geschah das, wenn sie dort irgendeine Form von geistlicher Erfahrung erlebten und die Kraft der christlichen Gemeinschaft entdeckt hatten. Das war nicht selten eine Bekehrung als bewusste individuelle Grundlegung des Glaubens, das war manchmal die spürbare Erfahrung der Kraft des gemeinsamen Gebets, in dem jeder und jede seine oder ihre eigenen Ängste und Hoffnungen, ihren Dank und seine Zuversicht persönlich formulieren konnte. Es war das Singen der einfachen und frischen Heils- und Glaubenslieder. Es war die Erfahrung der Annahme von zerbrochenen Menschen durch Gottes Gnade und zugleich die menschliche Zuwendung. Man kam zu den Methodisten, wenn man in ihrer Gemeinschaft eigene Gotteserfahrungen machte oder durch Gottes Wort berührt worden war. Eigentlich kann man gar nicht sagen, dass man in die Gemeinde kam, sondern man wurde eingeladen, mitgebracht, abgeholt von solchen, die selber vorher ihre persönlichen Gotteserfahrungen gemacht und darin Freude und das Glück des Heils erfahren hatten. Genau das wollte man nun mit anderen teilen, denen man das gleiche wünschte. Damit ist bereits angedeutet: die frühen methodistischen Gemeinden waren nicht von einer „Komm-Struktur“ geprägt, sondern von einer „Geh-“, besser vielleicht von einer „Abhol-Struktur“. Arme, Zerbrochene, Trinker fanden Aufnahme und erlebten Akzeptanz. Keinen von diesen Außenseitern 2

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Genesis 18, 16–33. Später wurden Sodom und Gomorra noch vernichtet. Sodom blieb Synonym für die verdorbene Stadt ohne Gott. Ludwig S. Jacoby an Wilhelm Nast, Brief v. 13. Sept. 1850. In: CA, 12. Jg. (1850), S. 167. Ludwig S. Jacoby an John P. Durbin, Missions-Nachrichten aus Deutschland. In: CA 17. Jg. (1855), S. 182.

Methodistische Kirchen- und Gemeindebildung in Hamburg

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musste man abwerben, weil sie in der Regel in ihren bürgerlichen Traditionsgemeinden keinen Platz gesucht und gefunden hatten. Dann gab es eine zweite Gruppe, die sich zu den Methodisten hingezogen fühlte. Es waren die sog. „Pietisten“, die manchmal etwas spöttisch „Quäker“ genannt wurden. Nicht selten konnten sie in ihren traditionellen Gemeinden den theologischen Positionen ihres Pastors nicht mehr folgen, sei es, dass er als Rationalist predigte, sei es, dass er liberale Ideen verkündigte oder, wie es zunehmend zum Ende des Jahrhunderts der Fall war, ausgrenzend konfessionell wirkte. Diese Menschen haben die Freikirchen nicht in fremden Teichen abgefischt, sondern sie suchten von sich aus einen Ort, wo sie mit ihrer Frömmigkeit und ihren Glaubensgrundlagen unbelächelt leben konnten. Besonders in ländlichen Regionen, wo es zur einzigen Parochialgemeinde keine Alternative der eigenen Konfession gab, überwanden sich Christenmenschen trotz der sozialen Kontrolle durch die Dorfgemeinschaft, in eine als sektiererisch verleumdete Gemeinde zu gehen. Die weitaus größere Zahl dieser Teilnehmer am Gemeindeleben schloss sich aber den methodistischen Gemeinden nicht als Kirchenglied an, sondern „überwinterte“ dort, bis durch einen Pastorenwechsel eine theologische Richtungsänderung in der eigenen Gemeinde eintrat oder sich eine landeskirchliche Gemeinschaft bildete. Wer sich verbindlich auf eine methodistische Gemeinde einließ, erwarb nicht selten eine „Doppelmitgliedschaft“ und gehörte beiden Kirchen an. Das hieß: er oder sie zahlte die landeskirchlich bedingten Kirchensteuern und lebte sein geistliches Leben in einer methodistischen Gemeinde. Das führte besonders in Württemberg und Sachsen zu Konflikten, die hier nicht zu behandeln sind, aber für die Kirchen folgenreich waren. Drei Aspekte hatten also Einfluss auf die Gemeindebildung: (1) das ganzheitliche missionarische Selbstverständnis als theologischer Impuls, (2) die in der Gemeinde gelebte Frömmigkeit als alternative spirituelle Möglichkeit und (3) ein teilweise gebrochenes Verhältnis zur eigenen Konfession. 5

5

Aufgrund einer Empfehlung der Konferenz der Kirchenleitungen (Eisenacher Konferenz) wurden „Doppelmitglieder“ in Württemberg und Sachsen aus der Landeskirche im Sinne der Kirchenzucht ausgeschlossen, wenn sie eine Taufe, Trauung oder Beerdigung durch einen methodistischen Prediger vornehmen ließen. Dieser kirchenrechtliche Vorgang ist mit ein Grund für die bis heute erkennbaren Schwerpunkte in Württemberg und Sachsen, während in weniger konfessionell geprägten Kirchen auch methodistische Christen ihren Landeskirchen treu blieben und dadurch ihre Kinder großenteils auch dort die Kirchengliedschaft behielten; so auch in Hamburg und Bremen.

222

2.

Ganzheitlich Kirche sein

Gemeindebildendes „missionarisches Quadrat“

In der historischen Darstellung ist die Bedeutung der Verbindung von Wortverkündigung und Tatververkündigung durch die Rolle der Diakonissen deutlich hervorgetreten. Mit dem missionarischen Zeugnis durch Predigt (κηρυγµα) und Dienst (διακονια) sind aber nur zwei Akzente ins Blickfeld getreten. Das frühe Wirken methodistischer Kirchen in Großstädten – aber auch sonst – ist jedoch von vier Akzenten geprägt. Sie bilden gemeinsam mit gleichwichtigen Seiten ein Quadrat, in dem Gottes Geist Gemeinde werden ließ. Die vier Akzente sollen noch einmal systematisch erfasst werden. 2.1

Verkündigung durch die Predigt

Die christologisch konzentrierte biblische Botschaft auf der reformatorischen Grundlage des sola fide, sola gratia und sola scriptura bildet den Kern der Verkündigung, allerdings mit dem besonderen Akzent als Heilspredigt. Die Predigten waren leicht verständlich und suchten mit volkstümlichen Stilelementen die Hörer emotional zu erreichen oder argumentativ zu überzeugen, um sie für einen Weg der Nachfolge Christi zu gewinnen. Die Inhalte waren weitgehend bestimmt durch Grundaussagen zum Heil des Menschen, weil methodistische Theologie sich von der Soteriologie her entfaltete. Die damalige Predigt setzte kein theologisches Basiswissen voraus. Man kann sie als rudimentäre Heilsverkündigung bezeichnen. Geprägt war sie von einem die Rechtfertigung voraussetzenden Grundverständnis der vor(aus)laufenden Gnade, in der Gott am Hörer schon zu dessen Heil gehandelt hatte, ehe es ihm bewusst wurde, der rechtfertigenden Gnade, die man jetzt und hier – aber auch jederzeit an einem anderen Ort oder in einem Prozess – annehmend erfahren kann. In der Wiedergeburt als der Erneuerung des Menschen zur Wiedergewinnung der Gottesebenbildlichkeit erfuhr der Gerechtfertigte Gottes Handeln in seinem Leben. War die Rechtfertigung Gottes Handeln für ihn, so war die Wiedergeburt Gottes Handeln an ihm. Der neue Mensch wollte nun leben, wie es Gott gefällt. Darum lebte er jetzt von der heiligenden Gnade. Die Nachfolge Christi und das Reich Gottes brachten neue Maßstäbe für sein Leben, die nun zur Gestaltung eines neuen Lebensstils drängten, der von der Liebe bestimmt war. 6

6

1. Thessalonicher 4, Vers 1.

Gemeindebildendes „missionarisches Quadrat“

223

Diese Botschaft zielte nicht auf den Gläubigen in einer anderen Kirche, sondern auf den Menschen ohne Gott. 2.2

Verkündigung durch die diakonische Tat

Als die Seemanns-Mission durch die englischen Methodisten im Hamburger Hafen ihren Dienst aufnahm, als die Bischöflichen Methodisten von Bremen aus nach Hamburg kamen oder die Evangelische Gemeinschaft aus dem Ruhrgebiet, waren dort jeweils Missionare aktiv. Das erinnert an die Grundvoraussetzung jeder speziellen Mission: Sie braucht eine personelle Trägerschaft. In Hamburg wurde diese Aufgabe erfüllt durch die Kolporteure, die besonders für die Auswanderer im Hafengebiet ansprechbar waren und die – auch durch ihre speziellen Schriften – beratend tätig waren. Als die Mission begann, fehlte zunächst die institutionelle Diakonie. Es gab weder Personen, die diese Aufgabe übernahmen, noch hatten die Gemeinden Geld, solche Dienste zu finanzieren oder gar Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anzustellen, abgesehen von den Kolporteuren. Gesamtkirchlich wuchs aus den kleinen, jungen Gemeinden heraus zuerst der Versuch, „Krankenwärterinnen“ für spezielle diakonische Dienste zu gewinnen und die Frauen der Gemeinden für eine Art Nachbarschaftshilfe zu mobilisieren. Schließlich kam es zur überregionalen Bildung von DiakonieVereinen. Diese von führungsstarken und risikobereiten Missionaren organisierten Diakonissen-Vereine mit Schwerpunkten in Frankfurt/M., Hamburg, Wuppertal und Nürnberg wurden zu einem zweiten Standbein in der Mission der Kirche. Von den genannten Zentren aus spannten sie ein Netz von Diakoniestationen über Deutschland und andere europäische Länder aus. In nahezu 50 Städten wirkten vor dem Ersten Weltkrieg Diakonissen. Sie waren immer Mitglieder der entsprechenden örtlichen Gemeinde ihrer Denomination. Durch ihren überwiegenden Einsatz in der Hauspflege fanden sie Kontakte zu vielen Armen und manchen Reichen, aber fast immer zu Menschen 7

7

(1) Bethanien Frankfurt/M.: Darmstadt, Esslingen, Frankfurt/M., Heidelberg, Karlsruhe, Kassel, Ludwigsburg, Mannheim, Pforzheim, Saarbrücken, Straßburg sowie Budapest, Lausanne, St. Gallen, Zürich und Wien. (2) Bethanien Hamburg: Berlin, Chemnitz, Dresden, Hamburg, Leipzig, Plauen, Stettin, Zwickau. (3) Bethesda Elberfeld: Berlin, Elberfeld, Erfurt, Essen, Dortmund, Dresden, Frankfurt/M., Hamburg, Karlsruhe, Köln, München, Solingen, Stuttgart, Ulm. (4) Martha Maria Nürnberg: Düsseldorf, Halle, Heilbronn, Köln, Magdeburg, München Nürnberg, Siegen, Stuttgart, Wiesbaden. Die Tochtergründungen in den skandinavischen Ländern und die Anregungen unter den deutschen Methodisten in den USA wurden hier nicht erwähnt.

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Ganzheitlich Kirche sein

in akuter Notlage. Ihre Dienste konnten sie um so leichter anbieten, als der gesundheitliche Sektor noch wenig durch politische Vorgaben reguliert war. Kirchlich waren sie neben den Missionaren die einzigen hauptamtlichen Mitarbeiterinnen. Die frühen Diakonissen-Stationen waren, obwohl es in manchen Regionen eine größere Anzahl von Gemeinden in Dörfern und Kleinstädten gab, fast ausnahmslos in mittleren und vor allem großen Städten angesiedelt. Die Diakonissen hatten selber eine hohe geistliche Motivation. Man kann davon ausgehen, dass sie persönlich, in der Schwesterngemeinschaft und in ihrer kirchlichen Gemeinde ein konzentriertes geistliches Leben führten. Sie waren in der Lage, ihren Kranken einen passenden Psalm oder einen anderen biblischen Text vorzulesen, mit den Betreuten und ihren Angehörigen zu beten und sie durch Worte und Gesten, zum Beispiel im Todesfall, zu trösten. Wenn es die Situation erforderte, verschmolzen Tat und Wort organisch zu einer Einheit. Mit der Zunahme eigener und größerer Krankenhäuser fand eine schleichende Strukturveränderung statt. Der Einsatz der Schwestern wurde in diesen Einrichtungen bei ständig zunehmender zeitlicher Beanspruchung zusammengefasst. Die diakonische Arbeit wurde immer gemeinde-unabhängiger. Eine ganze Reihe Schwestern arbeitete auch in nicht zum eignen Mutterhaus gehörenden fremden Einrichtungen der Krankenpflege. Auch hier fand eine gewisse Entfernung von den Gemeinden, mit denen man früher eng zusammenwirkte, statt. Anzumerken bleibt, dass diese frühen Diakonissen-Stationen alle in der rechtlichen und finanziellen Verantwortung der Mutterhäuser standen, die wiederum von Pastoren aus der kirchlichen Dienstgemeinschaft geleitet wurden. In den Aufsichtsgremien saßen ebenfalls immer in der Mehrzahl pastorale Kollegen. Die Kirchenzeitungen berichteten regelmäßig über die Arbeit der Diakonissen. Die zunehmend gebauten Krankenhäuser waren für die gesellschaftlich noch nicht anerkannte Kirche Prestigeobjekte, auf die man in Festschriften und anderen Publikationen mit einem gewissen Stolz verwies. 2.3

Verkündigung durch die gelebte Gemeinschaft des Glaubens

In den missionarischen Gemeinden beschränkte sich das Leben nicht auf den Gottesdienstbesuch. Allein diese Wortschöpfung drückt ein in unserem Land latent vorhandenes Verständnis persönlicher kirchlicher Beteiligung aus, sofern man überhaupt am gottesdienstlichen Leben teilnimmt. Als die methodistischen Kirchen anfingen, schlichte eigene Kapellen zu bauen, war der zentrale Raum ein Predigtsaal. Die schmucklosen Kapellen waren multifunk-

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tional nutzbar und dienten von vorneherein auch der Gemeinschaft (κοινωνια). Das war möglich, weil man kein ausgeprägtes sakrales Empfinden hatte. Die Kapellen waren für die, die mit der Gemeinde lebten, fast eine zweite Heimat. Ihre Räume waren mit Kanonenöfen ausgestattet, weil die Kapellen beheizt wurden. An den Eingängen gab es Garderoben. Eine Küche und einfache sanitäre Räume gehörten zur Grundausstattung. Eigentlich waren es keine Kapellen oder Kirchen, sondern eine Vorform der späteren Gemeindehäuser. Und so empfanden es die Menschen auch: Die Kapelle war das Haus „meiner Gemeinde“, in der ich Predigten hören, Chorlieder lernen, an Gebetskreisen und Klassstunden teilnehmen, Agapen feiern und demokratisch durchgeführte Vereinsversammlungen abhalten oder erleben konnte. Und vor allem war es das Haus, in das die Gemeindeglieder auch Gäste einladen konnten, weil bei aller Einfachheit der Gestaltung dort räumliche und geistliche Wärme zu erleben war. Das gemeinsame, oft von dankbarer Freude bestimmte Leben, war eine Andeutung vom Gestalt gewordenen Evangelium, sicher schwach und zerbrechlich, aber darin eben gerade den frühen christlichen Gemeinden gemäß. Es war nicht immer das Wort, das die Gäste zuerst beeindruckte, auch nicht immer allein die erfahrene Tat, sondern nicht selten die erlebte Gemeinschaft, in der Integration durch Annahme und Akzeptanz erfahren wurde. Es waren Gemeinden von Glaubenden und Suchenden, die sich gegenseitig helfen wollten, den Weg des Glaubens zu finden und zu gehen. 2.4

Der Missionar als gestaltende Persönlichkeit

Schließlich ist ein anderes markantes Zeichen der missionarischen Gemeinde nicht zu übersehen: Es waren hochmotivierte Missionare da. Ihr Ziel war es, Menschen zum Glauben zu führen, ihnen zu helfen, die Liebe und Kraft Gottes zu erfahren, ihnen einen Weg zum eigenen Glaubenserlebnis, in dem der Sünder zu einem Heiligen wurde, zu zeigen. Sie waren zentrale Personen in dem Geflecht einer Gemeinde, die sie motivierten, in ihrem Glauben stärkten, zum Beten anhielten und die dem Leben der entstehenden Gemeinden durch die in die Praxis umgesetzte Theologie und durch ihr Vorbild die Richtung vorgaben. Die Rolle, in die methodistische Pastoren im 19. Jahrhundert hineinwuchsen und die von den Gemeinden respektiert wurde, war eine Folge ihres eigenen Selbstverständnisses als Missionare. Trotz dieses ausgeprägten Rollenverständnisses wurde ein typisches Element des Freikirche-Seins im reforma-

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Ganzheitlich Kirche sein

torischen Priestertum aller Glaubenden praktiziert. Allerdings war auch der sog. Laiendienst – typisch für die methodistischen Kirchen – klar strukturiert und kirchenrechtlich geordnet. Der früh eingeführte und wohlgeordnete Dienst der Laienprediger und teilweise Laienpredigerinnen seit dem 18. Jahrhundert ragt als eine Besonderheit heraus. Für den Gemeindeaufbau durch Mission erwies sich im 19. Jahrhundert dieses „Missionarische Quadrat“ als eine Einheit ohne Über- oder Unterbewertung eines Aspekts als zielführend: (1) evangelistische Verkündigung, (2) von der Gemeinde ausgehende Diakonie, (3) in der Gemeinde gestaltete Gemeinschaft und (4) eine die Gemeinde geistlich motivierende Führerschaft.

3.

Vorökumenische Perspektiven

Im 19. Jahrhundert waren die Freikirchen in Deutschland Fremdkörper, die als „Eindringlinge“ oder gar „Einschleicher“ in geordnete kirchliche Verhältnisse empfunden wurden. Die in den Regionen unterschiedlich konfliktträchtigen Verhältnisse wurden lange Zeit überwiegend auf das Gegenüber „Staatskirche-Freikirche“ reduziert. Diese Art der Bewertung ist oft weniger theologisch als soziologisch instrumentalisiert worden. Vielleicht wurde dieses Gegenüber durch die staatstragende Rolle der Landeskirchen mit entsprechenden politischen Implikationen noch verstärkt. In Hamburg spielte die Frage des Verhältnisses im Vergleich zu anderen konfessionell bestimmten deutschen Staaten und später innerhalb des Deutschen Reiches eine untergeordnete Rolle. Trotzdem ist es angemessen, in diesem Zusammenhang kurz auf eine grundlegende theologische Differenz im Selbstverständnis der Kirchen einzugehen. Unter den historischen Vorgaben der frühen nachreformatorischen Zeit wurden die Landeskirchen zu Konfessionskirchen. Verbindliche Bekenntnisschriften formulierten das Wesen der Kirche innerhalb unterschiedlicher staatlicher Gebilde aus konfessioneller Sicht. Die Konsequenzen dieser konfessionellen Selbstdarstellung waren scharfe Abgrenzungen gegenüber anderen Konfessionen, die zunächst für die Lutheraner im Augsburger Religionsfrieden von 1555 und für die Reformierten im Westfälischen Frieden von 1648 festgeschrieben wurden. Die politisch gewollte konfessionelle Einheit der Staatswesen führte zu Ausweisungen und großen Auswandererschüben von solchen, die nicht bereit waren, sich der obrigkeitlich bestimmten Konfession unterzuordnen. Das Konfessionelle hatte von Anfang an den Charakter des Abgrenzenden und des einzig Möglichen.

Vorökumenische Perspektiven

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In den angelsächsischen Ländern entwickelte sich unabhängig von der europäisch-kontinentalen konfessionellen Kirchlichkeit ein Typ der Föderaltheologie, die kirchlich den Raum für ein anderes Selbstverständnis eröffnete und die politisch einen breit angelegten Beitrag zur Entwicklung der Demokratie leistete. Auch für die Entwicklung der Ökumene als einer sich nicht gegenseitig ausgrenzenden Gemeinschaft von Konfessionen schuf dieser Typ der angelsächsischen Bundestheologie wichtige theologische Grundlagen. Dieser theologische Ansatz geht davon aus, dass Gott mit den Glaubenden einen Bund macht. Der von Gott her geschenkte Bund zwischen ihm und den einzelnen Menschen verändert das Verhältnis aller derer, die an ihn glauben, zueinander dergestalt, dass auch sie alle in einen Bund gerufen und dadurch Teilhaber ein und desselben Bundes sind. Dabei spielt die konfessionelle Beheimatung keine Rolle, weil Gottes Bund Konfessionsgrenzen überschreitet und er alle Glaubenden in die eine sichtbare Kirche Christi stellt. Jede Kirchengemeinschaft kann sich angesichts dieses theologischen Ansatzes nur als eine Teilkirche der Kirche Christi verstehen, wie es inzwischen auch die traditionellen Konfessionskirchen tun, wenn sie die Formel von der Einheit in Vielfalt aufgenommen haben. Die in Deutschland wirkenden Freikirchen sind in ihrem ekklesiologischen Selbstverständnis von diesem Ansatz mitgeprägt. Sie verstehen sich daher nicht als Konfessionen, sondern als Denominationen, die sich als Mitbewohner des einen Hauses der Kirche Christi sehen, die lediglich ein anderes Zimmer in diesem Haus bewohnen, das nicht schlechter und nicht besser ist als die anderen Räume. Der in der Moderne mögliche Weg der Denomination hat einen integrierenden Charakter, während die frühere Bestimmung als Konfession eher ab-, lange Zeit sogar ausgrenzend sein musste. Wenn traditionelle Konfessionskirchen heute das Verständnis, lediglich auch nur Teilkirchen zu sein, teilen, dann darf man das durchaus als ein Ergebnis ökumenischer Entwicklungen bewerten. Mit einem von angelsächsischer Föderaltheologie geprägten kirchlichen Selbstverständnis kamen die methodistischen Kirchen nach Deutschland. Sie meinten, wie in ihren Heimatländern als Partner mit anderen Kirchen zusammenarbeiten zu können, ja die Methodisten wollten, wie sie permanent formulierten, „mithelfen beim Aufbau des Reiches Gottes“. Sie konnten es nicht verstehen, dass sie in manchen deutschen Ländern ausgewiesen wurden, 8

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Erich Geldbach, Gottes Bundesrepublik. Die Bedeutung der Föderaltheologie für Kirche und Gesellschaft. In: Freikirchenforschung Bd. 18 (2009), S. 157–165. Auch: Karl Heinz Voigt, Freikirchen als Vorboten der Ökumene in Deutschland. In: Freikirchenforschung Bd. 18 (2009), S. 166–187.

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Ganzheitlich Kirche sein

dass es in andern Ländern gelegentlich sogar zu Zwangstaufen ihrer Kinder kam, dass sie von Kanzeln als „Sektierer“ und „Irrlehrer“ bekämpft und von Kathedern in Universitäten für England und Amerika respektiert, aber für die deutsche Kirchenlandschaft zurückgewiesen wurden. Die Kirche in Hamburg war liberal, lediglich die Frommen in den dortigen Gemeinschaften taten sich schwer.

4.

Gemeindeaufbau einer missionarischen Kirche.

Heutige Gemeindeaufbau- und Erneuerungs- oder Missionsmodelle sind in ihrem theologischen Ansatz weitgehend kongregationalistisch. Einzelne Gemeinden stellen beispielhaft ihre Entwicklungen und Erfolge heraus. Sie sind weitgehend initiiert von einzelnen Personen mit unglaublicher Initiative, schöpferischer Kreativität, individueller Führungsfähigkeit und finanzieller Unabhängigkeit. Manche Zeitschriften bewundern diese Personen und Gemeinden und machen sie zum Maßstab für andere. 4.1

Missionarisch Kirche-Sein

Der Methodismus im 19. Jahrhundert bietet ein Beispiel für den missionarischen Gemeindeaufbau durch eine missionarische Kirche. Dieser Aspekt gewinnt auch dadurch an Gewicht, dass heute in Deutschland fast überall unabhängige, oft personenbezogene Gemeinden entstehen und teilweise auch wieder in der Versenkung verschwinden. Es scheint, als habe dieses Modell autonomer, personenbezogener Spontan-Gemeinden in einer von Individualismus und Unverbindlichkeit mitgeprägten Gesellschaft eine besondere Chance. Die Kirche Christi hat aber auch Verantwortung für eine geistgewirkte Kontinuität. Daher hat gerade in einem Land, das seine Normen und Prägungen durch traditionsreiche Kirchen empfangen hat, die Frage nach der missionarischen Kirche eine gewisse Aktualität. Der Methodismus des 19. Jahrhunderts als missionarische Kirche hat einige grundlegende Voraussetzungen, die zunächst zu benennen sind: Die weltweite methodistische Kirche ist ohne die Übernahme von Gruppen, Gemeinden oder Kirchenteilen, die dem Prozess der kontinentalen Reformation im 16. Jahrhundert vergleichbar wäre, fast ausschließlich durch missionarische Aktivität geworden.

Gemeindeaufbau einer missionarischen Kirche.

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Das war nur möglich, weil der Methodismus von Anfang an theologisch in seinem Kern von der Frage nach dem Heil der Welt – der Soteriologie – geprägt war. Die Frage nach der Gestalt der Kirche blieb untergeordnet. Das heißt, die methodistischen Kirchen waren im Ansatz eine Missionsbewegung und unterschieden sich dadurch von anderen Freikirchen, die sich selber bis heute als Gemeindebewegung verstehen. Bei ihnen hat die Frage nach der rechten Gemeinde, oder wie sie selber bevorzugt sagen, nach der „neutestamentlichen Gemeinde“ – also die Ekklesiologie –, Vorrang. Innerhalb des Methodismus war von Anfang an ein ganzheitliches Verständnis von Mission grundlegend. Es hat die langanhaltende Diskussion über den Vorrang der Verkündigung vor der Diakonie und die Entwertung des Diakonischen zu einer gewissen „Methode, um an die Menschen heranzukommen“, innerhalb des methodistischen Kirche nur gegeben, wo man die eigene Tradition verlassen und sich an gängige Frömmigkeitsmuster von Mehrheiten angepasst hat. In England, Amerika und Europa ist die Ausbreitung des Methodismus unter theologischer Führerschaft weitgehend von Laien, teilweise auch Frauen, erfolgt. Sogenannte Laien haben von Anfang an unter geordneten Voraussetzungen geistliche Aufgaben bis hin zur öffentlichen Predigt wahrgenommen. Innerhalb des Gottes Volkes gibt es lediglich unterschiedliche Funktionen. Das respektvolle Zusammenspiel von ausgebildeten und ordinierten Theologen in einer gemeinsamen Dienstgemeinschaft mit berufenen und beauftragten Laien hat weitgehend funktioniert. In einigen Weltteilen hat es Spannungen und auch Trennungen gegeben, weil Laien mehr Rechte beanspruchten und mehr Verantwortung übernehmen wollten. Weil der Methodismus am Heil der Welt mitwirken wollte, war er nicht an der Kritik der bestehenden Kirchen interessiert. Auch weil die Frage des Heils vor der Diskussion um das rechte Kirche-Sein stand, war der Methodismus um des gemeinsamen Heilszeugnisses willen von Anfang an ökumenisch offen. Vielleicht ist es eine Folge bedrückender Erfahrungen in der Vergangenheit, dass Methodisten in Deutschland heute die ökumenische Partnerschaft mehr als Freude über ihre neue Akzeptanz erleben, als dass sie ihre eigenen Erfahrungen als Teil der Kirche Christi reflektieren und diese als kritische Partner fruchtbringend und freundschaftlich in das zwischenkirchliche Gespräch einbringen. Der als Missionsbewegung entstandene Methodismus ist im Laufe der Geschichte Kirche geworden, die immer mehr verkirchlichte. Er hat in Deutschland durch Anpassung von seinem Profil eingebüßt und ist immer noch in

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Ganzheitlich Kirche sein

ständiger Gefahr, seine nachaufklärerischen Lebensformen dem mächtigen Bild ihm zeitlich vorausgehender und maßstabsetzender Mehrheitskirchen anzupassen (z. B. sakraler Kirchenbau, liturgische Gesänge, Amtskleidung, Sesshaftwerdung in einer Zeit der Migration, pastorales Selbstverständnis statt missionarischer Dynamik). 4.2

Die Missionsgemeinschaft

Naturgemäß üben in einer missionarischen Kirche die Missionare eine zentrale Funktion aus. Darum ist die Aufmerksamkeit zunächst auf ihre Gemeinschaft, dann auf ihre Praxis, danach auf einige konkrete Hindernisse ihres Wirkens, schließlich auf ihr zwischenkirchliches, heute sagen wir ökumenisches Handeln zu richten. Jeder einzelne Prediger hatte sein eigenes Profil. Alle waren sie unterschiedlich in Ausbildung und Bildung, in ihrem familiärem Herkommen, in ihrem Erleben von Stadt und Land; einige hatten internationale Erfahrungen gesammelt. Die Spanne war groß. Aber in ihren geistlichen Erfahrungen erscheinen sie im Rückblick sehr ähnlich. Als junge Menschen haben sie sich auf ganz unterschiedliche Weise „bekehrt“, das hieß: sie haben den Ruf in die Nachfolge Christi bewusst angenommen und waren bereit, ihr Leben entsprechend auszurichten. Das war nur möglich in einer christlichen Gemeinde. Die jungen Gemeinden, selber noch vom geistlichen Aufbruch geprägt und noch nicht festgeformt in ihrer Lebens- und Frömmigkeitsstruktur, haben den jungen Männern reichlich Raum zur Entfaltung ihrer Charismen in Predigt und Seelsorge gegeben. Die Regel war, dass sie zuerst in den Sonntagsschulen als „Lehrer“ mitwirkten. Dort lernten sie nicht nur, selber mit der Bibel zu leben, sondern sie übten, biblische Geschichten erzählend, frei zu sprechen. Zunächst gab es in den jungen Gemeinden noch keine Bibelstunden, wie der Pietismus sie seit Philipp Jakob Spener (1635–1705) entwickelt hatte. Es gab wöchentliche Klassversammlungen. Jedes Gemeindeglied war zur Teilnahme verpflichtet. In den Zusammenkünften hat jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer sich reihum am Gespräch beteiligt. Es war im besten Falle eine Art von Gruppenseelsorge, aber gleichzeitig die Basisstufe des Konferenzsystems, 9

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Ich bediene mich hier durchgehend des Begriffs Prediger. Ursprünglich kamen die Boten als Missionare und die ersten in Deutschland gewonnenen hauptamtlichen Mitarbeiter haben sich auch so verstanden. Aber in einem durch und durch kirchlichen Land wurde der Begriff „Missionar“ als eine Art ökumenischer Kränkung erfahren. Aus den Missionaren wurden bald Prediger, was zugleich einen Funktionswandel andeutet. Später waren sie „Pastoren“, in der Schweiz „Pfarrer“.

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das für die gewachsene ekklesiologische Struktur des Connexionalismus im Methodismus kennzeichnend geworden ist. In den Klassversammlungen konnte jedes Mitglied seine Charismen entfalten: den seelsorgerlichen Zuspruch, das fürbittende Gebet, die Fähigkeit, eine Gruppe zu leiten oder die freie, ermahnende Rede. Hier schälten sich die zukünftigen „Ermahner“, die in den Gottesdiensten im Anschluss an die Predigt ein Wort an die Gemeinde richteten, heraus. Aus der Gruppe der Klassführer und Ermahner erwuchsen die Laienprediger. In deren Mitarbeit erkannte die Gemeinde, wenn sie zu einer Aufgabe als missionierende Prediger befähigt waren. Es war keine Ausnahme, dass eine Gemeinde einem predigenden Laien bestätigte, was er bereits in seinem Innern dachte: Gott braucht mich für die Mission. Die persönliche Berufung, die Bestätigung durch die Gemeinde und die Beauftragung durch die Kirche war für einige Generationen von Predigern das Fundament ihres Dienstes. Das war auch formal in der Kirchenordnung entsprechend geordnet. Wer ins Predigtamt wollte, brauchte die „Empfehlung“ durch seine Gemeinde und er musste vorher bereits als „Laienprediger“ Erfahrungen gesammelt haben. Im ökumenischen Gespräch hatten in der Debatte über die Kirche, das nach der Lausanner Faith and Order-Weltkonferenz von 1927 geführt wurde, methodistische Theologen u.a. formuliert: „Wir glauben an die charismatische Organisation der Kirche Christi, die fort und fort von Christus ausgeht und in der Kirche als lebendiger Organismus von ihm abhängig ist und bleibt.“ Die Schritte ins methodistische Predigtamt zeigen, wie Charisma und Ordnung keine Gegensätze sein müssen. Der Berufung folgte die gemeinsame Ausbildung im Predigerseminar. Die Methodistenkirche hatte das erste als „Missionshaus“ organisiert. Die eigenartige Aufgabe dieser Ausbildungsstätten war, den berufenen und in gewissem Sinne bereits erfahrenen charismatischen Predigern zusätzliches Wissen zu vermitteln und sie dadurch in ihrem längst begonnenen Wirken weiter zu qualifizieren. Die Seminargemeinschaft stärkte die anschließende lebenslange Dienstgemeinschaft, schuf Kontakte über landsmannschaftliche Grenzen 10

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Thesen über die Kirche im Neuen Testament. Formuliert von methodistischen Theologen. In: Friedrich Siegmund-Schulze Die Kirche im Neuen Testament in ihrer Bedeutung für die Gegenwart, Hamburg 1930. Bischöfliche Methodistenkirche: „Missionshaus“ (Bremen 1858), „Missionsanstalt“ (Frankfurt 1869);- Wesleyanische Methodistengemeinschaft: „Missionshaus“ (Waiblingen 1864), „Predigerseminar“ (Cannstatt 1875);- Evangelische Gemeinschaft: „Predigerseminar“ (Reutlingen 1877). Diese frühen Ausbildungsstätten sind die gemeinsame Wurzel der heutigen „Theologischen Hochschule“ der Evangelisch-methodistischen Kirche in Reutlingen.

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Ganzheitlich Kirche sein

hinaus und integrierte sie in eine missionarische Kirche. Auch während der Ausbildung waren die „Zöglinge“ besonders an den Wochenenden in den nahegelegenen Gemeinden als Prediger unterwegs. Nach der Weiterbildung in den Seminaren wurden die jungen Kandidaten sowohl in der Bischöflichen Methodistenkirche wie in der Evangelischen Gemeinschaft zunächst als Diakone ordiniert. Sie wurden für zwei Jahre „auf Probe“ in die Dienstgemeinschaft der „Konferenz“ aufgenommen. Sofern in zwei weiteren Jahren die begleitenden Studien – die insgesamt vier Jahre dauerten – erfolgreich abgeschlossen waren, erfolgte danach die Ordination zum Ältesten und die Aufnahme in die „volle Verbindung“. Die „Konferenz“ war das für die betreffende Region kirchenleitende Organ im Rahmen der Verfassung der weltweiten Gesamtkirche. Ihr gehörten alle Prediger dieser Region an. Sie bildeten eine fast ordensmäßige Dienstgemeinschaft. Wenn sie einmal jährlich unter dem Vorsitz eines Bischofs zusammenkam, regelte sie alle Angelegenheiten ihrer Dienstgemeinschaft nach einer festen Ordnung. Im Jahr 1865 umfasste diese Regel 15 Fragen; später wurden es mehr. Durch die Fragen wurden in einem geregelten Verfahren miteinander beschlossen, wer in die Dienstgemeinschaft aufgenommen werden sollte, wer zu welchem Dienst ordiniert wird, welcher Prediger aus der Dienstgemeinschaft ausscheidet, entweder durch die Annahme eines festen Wohnsitzes, durch die Versetzung in den Ruhestand oder notfalls durch Ausschluss nach einem entsprechend demokratisch fest geregelten Verfahren. Über alle diese Vorgänge stimmte die Dienstgemeinschaft derer, die in voller Verbindung mit der Konferenz standen, unter der Aufsicht des vorsitzenden Bischofs nach der Ordnung der Kirche ab. Der Bischof hatte weder ein Stimmrecht noch griff er in die Debatten der Dienstgemeinschaft ein, solange alles im Rahmen des gesamtkirchlichen Rechts der Lehre, Verfassung und Ordnung ablief. Die connexionale Aufgabe des Bischofs bestand darin, im Sinne der Gesamtkirche als Präsident den Konferenzen vorzusitzen. Unter seiner Aufsicht wurden von der Dienstgemeinschaft auch die Statistiken vorgelegt und Finanzbeschlüsse gefasst. Die Gemeinschaft gedachte gottesdienstlich ihrer verstorbenen Mitglieder. Am Ende der Konferenzsitzungen wurden alle Missionare und Prediger für ein Jahr an den Ort gesandt, wo sie im nächsten Jahr am nötigsten gebraucht wurden. Das konnte auch mehrere Jahre nacheinander der gleiche Ort sein. Die Sendung an die Orte war ein Recht und eine Pflicht des Bischofs, der gleichsam der gesamtkirchliche Missionsplaner war und sich gerade darin kirchenleitend – das hieß: missionsstrategisch – betätigte. Hier

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und da hat es sich eingebürgert, angepasst von einer „Synode“ zu reden. Der Vergleich zeigt, wie unangemessen dies ist. Das Versetzungssystem brachte, wie die Hamburger Erfahrungen zeigen, verhältnismäßig viele Wechsel mit sich. Die vielen Umzüge waren der Missionsstrategie geschuldet. Wenn ein mit einem bestimmten Charisma ausgestatteter Prediger an einem Ort gebraucht wurde, dann wurde er – ganz im Sinne des Reisepredigerprinzips – dorthin gesandt. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass damals die Ausbildung noch wenig entwickelt und kurz war. Der begrenzten Ausbildung folgte eine begrenzte Dienstzeit an einem Ort. Dadurch war den Gemeinden, wenn ein Prediger weniger ausgeprägt begabt war, immer wieder einmal ein Wechsel in den theologischen Akzenten der Predigt oder im unterschiedlich ausgebildeten Charisma des Predigers vermittelt. Die vielen Umzüge erklären den Umstand der sog. „Missionsmöbel“, mit denen die Wohnungen der mobilen Prediger ausgestattet waren. Diese bescheidene und anspruchslose Wohnkultur ist Ausdruck des hohen missionarischen Engagements in einer Lebens- und Dienstgemeinschaft. Beide Aspekte, die Praxis der sog. „Missionsmöbel“ wie die Vollmacht zur Sendung durch den Bischof, zeigen, wie sehr die Konferenz-Gemeinschaft ähnlich wie ein Orden organisiert war, dessen Mitglieder in der MissionsDiaspora lebten und sich einmal jährlich zur Abwicklung der gemeinsamen Verpflichtungen und zu theologischen Klärungen trafen. An den Konferenztagungen wurde in Ausschüssen gearbeitet, in denen die Mitglieder der Konferenz ihre konkreten Angelegenheiten wie Theologische Ausbildung und Seminare, Sonntagsschule, Sonntagsheiligung, Pressearbeit und Verlagswesen, Kirchenbau, Finanzen, Eingaben zur Erlangung von Rechten an Regierungen, Stellungnahmen zu aktuellen kirchlichen oder öffentlichen Fragen berieten und beschlossen. Zur Leitung der Konferenzen in Europa entsandte das Bischofskollegium im Zusammenwirken mit der Missionsbehörde in New York eines seiner Mitglieder. Jede Konferenz empfing Besucher und brüderliche Delegierte aus den USA und aus den anderen methodistischen Kirchen in Deutschland, in Frankreich, manchmal aus Italien oder den skandinavischen Ländern. Missionare richteten ihre Reisen so ein, dass sie auf der Durchreise die Konferenzen ansprechen konnten. Dadurch waren sie auch im 19. Jahrhundert bereits international eingebundene Körperschaften. Für die einzelnen Gemeinden in Hamburg, Berlin, in Ostfriesland und Bayern war durch die Gemeinschaft der Prediger ein unsichtbares Band der Einheit geknüpfte. Jeder einzelne missionarische Prediger war in die Dienst-

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gemeinschaft verbindlich eingebunden. Er arbeitete nach den von ihm selbst mitvollzogenen Beschlüssen der Konferenz. In der Evangelischen Gemeinschaft war es jahrzehntelang Praxis, dass alle Prediger am Ende der Verhandlungen die Konferenz-Protokolle einzeln unterzeichneten. Es gibt kaum einen stärkeren Ausdruck der gemeinsamen Verbindlichkeit und gegenseitigen Verpflichtung. Die Gemeinden konnten sich bei aller ihrer Unterschiedlichkeit darauf verlassen, dass die verschieden begabten Prediger den gleichen Missionsauftrag sahen, die gleiche Ausbildung empfangen hatten, den gleichen Informationsstand durch die Dienstgemeinschaft und die Lektüre der gleichen Zeitschriften hatten und dass sie die Gemeinden nach der gleichen Ordnung leiteten. Dieser geistliche und strukturelle Gleichschritt scheint eine wesentliche Voraussetzung für eine missionierende Kirche zu sein, die – wenn man das so sagen kann – erfolgreich sein will. Das ekklesiologische System des weltweiten Methodismus wird von den Kennern als „Connection“ oder „Connexio“ bezeichnet. Es erinnert an das altkirchliche „konziliare Prinzip“ des Verbundenseins, das im Methodismus durch Konferenzen und durch die kirchenleitenden Personen, die durch ihre Reisetätigkeit unter zu Hilfenahme der kirchlichen Ordnung eine Art Band der Einheit um die Gemeinden geschlungen hat. Im 19. Jahrhundert funktionierte die methodistische „Connexio“ durch die „Konferenzen“ auf den verschiedenen Ebenen: Grundlegend war die mit etwa 12 Personen gebildete, wöchentlich tagende „Klasse“. Sie hatte damals Vollmachten zur Empfehlung für die Aufnahme in die Kirche. Auf der Ebene der Gemeinde tagte etwa alle drei Monate die „Vierteljährliche Konferenz“. Sie hatte gemeindeleitende Funktionen und nahm die Berichte der Gruppen entgegen und informierte sich über Kranke und Gemeindeprobleme. Sie empfahl junge Männer zur Anstellung als Prediger. Die Leitung der „Vierteljährlichen Konferenz“ hatte der „Vorstehende Älteste“, ein vom Bischof aus der Dienstgemeinschaft für Leitungsaufgaben berufener Ältester, der „Erster unter Gleichen“ war. Die Pastoren trafen sich zu mehrtätigen „Distriktskonferenzen“, die aber weniger kirchenrechtliche Aufgaben verhandelten, sondern vorwiegend der gemeinsamen Weiterbildung und dem Erfahrungsaustausch dienten. Die Leitung hatte der „Vorstehende Älteste“. Jährlich trafen sich die Pastoren unter der Leitung des Bischofs zu ihrer „Konferenz“, um Fragen der Dienstgemeinschaft zu klären, die Aufgabenfel-

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der zu besprechen und Rechenschaft durch Berichte und Statistiken zu geben. Die „Jährlichen Konferenzen“ wählten Delegierte, die andere Konferenzen der eigenen oder befreundeter Kirchen besuchen sollten, und sie wählten insbesondere ihre Vertreter zur alle vier Jahre tagenden verfassunggebenden Generalkonferenz. Die Gemeinschaft formulierte ihre Anträge an die Generalkonferenz und sie stimmte mit allen Pastoren aller Konferenzen der weltweiten Gesamtkirche über Verfassungsänderungen ab. Die Generalkonferenz hat bisher immer in den USA getagt. Die regional organisierte Jährliche Konferenz ist eine in sich geschlossene wirtschaftliche Einheit mit finanzieller und personeller Selbstverantwortung im Rahmen der gesamtkirchlichen Verfassung und Ordnung. 4.3

Das ekklesiologische Verbundsystem des Connexionalismus

Die unterschiedlichen Konferenzen sind im Connexionalismus auf verschiedene Weise verbunden. Grundlegend für diese Struktur ist die in der weltweiten Kirche gültige Verfassung. Durch sie werden bestimmte für die gesamte Kirche grundlegende Fragen der Theologie, der Verfassung, der Struktur, der Funktion der Konferenzen und die Aufgaben der leitenden Dienste verbindlich festgelegt. Alles zusammen schafft ein hohes Maß an gegenseitiger Verbindlichkeit. Wie wird diese verpflichtende Gemeinschaft gelebt? Die verschiedenen funktionalen Dienste sind alle mit einer connexionalen Aufgabe verbunden. Der von der Konferenz in die örtliche Gemeinde bzw. auf einen regionalen Bezirk gesandte Prediger (heute Pastor oder Pastorin) hat auch die Aufgabe, alle Gruppen und Aktivitäten innerhalb der Gemeinde durch seine Person miteinander zu verknüpfen. Ist er beauftragt, einen Bezirk mit mehreren Gemeinden zu beaufsichtigen, dann wird er sie als eine Einheit sehen und ihnen zu einem möglichst hohen Maß an Gemeinschaft verhelfen. Möglichst jeder Gruppenleiter soll die Ziele der Gemeindearbeit kennen und die einzelnen Personen sollen Vertrauen zueinander haben. Der Prediger ist oft der einzige Hauptamtliche, was die Koordination der anderen Mitarbeiter zwingend notwendig macht. Der Vorstehende Älteste (heute Superintendent oder Superintendentin), früher durch den Bischof als seine mit Leitungsfähigkeit ausgestattete Vertrauensperson in die Aufgabe berufen, hat die Pflicht, die Gemeinden seines Distriktes zu besuchen, dort den Vorsitz im leitenden Gremium der Gemeinden zu führen, die Berichte über die Arbeit entgegenzunehmen und durch Informa-

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tion über das Leben anderer Gemeinden und gemeinsame kirchliche Aktivitäten und Stellungnahmen die Gemeinden miteinander zu verbinden. Der jeweilige Bischof (heute auch die Bischöfin) verbindet die Konferenzen untereinander und mit der weltweiten Kirche. Er übt seine Episkope, die Aufsicht, durch Besuche in Gemeinden und bei Tagungen, durch den Vorsitz bei den von ihm bzw. von ihr zu leitenden Jährlichen Konferenzen, durch Visitationen von Konferenzen in anderen Kontinenten und durch die Teilnahme an den Sitzungen des gesamtkirchlichen Bischofsrates aus. Lange Zeit haben die Bischöfe durch ihre Berichte von den Reisen in den Zeitschriften ihrer Region eine Art connexionale Rechenschaft gegeben und die Glieder der Kirche gedanklich an den gesamtkirchlichen Entwicklungen beteiligt. Gestalten Pastoren und Pastorinnen die örtliche Verbundenheit, so hilft der Superintendent bzw. die Superintendentin zur regionalen und der Bischof bzw. die Bischöfin schließlich zur internationalen Vergemeinschaftung. Auf allen Ebenen werden Informationen hin und her transportiert, um die Gemeinschaft der Kirche mit Leben zu erfüllen. Ein wesentlicher Teil ist die Sendung von Pastoren in die Städte und Regionen, in denen sie ihre missionarischen Aktivitäten entfalten sollen. Heute zeigt sich zunehmend, dass durch die Bereitstellung von Pastorinnen und Pastoren seitens der Kirche in den Gemeinden eine Art Versorgungsmentalität entstanden ist. Die personelle Verbundenheit schafft das Netz, in dem die gegenseitigen Verpflichtungen ganz unterschiedlicher Art wirksam werden können: im Bereich der eigenen Konferenz gibt es einen finanziellen Austausch, über die Grenzen der eigenen Konferenzen hinaus ist die gegenseitige personelle Hilfe auch grenzüberscheitend sichergestellt. Nicht zufällig kamen fast alle Hamburger Missionare aus anderen Regionen, sogar aus der Schweiz. International haben von Anfang an Kontakte zu den damaligen sog. „Missionsgebieten“ der Kirche bestanden, um überwiegend diakonische Hilfen zu leisten, aber auch um selber Missionare auszusenden. Ausdruck der Connexio sind auch die bereits erwähnten Delegierten und Besucher aus anderen Ländern und anderen Kirchen bei den Konferenztagungen, die in der Regel die versammelte Dienstgemeinschaft ansprechen. Es gibt weltweit eine Art innerkirchliches Familienbewusstsein. 4.4

Zur Missionspraxis

Entsprechend dem theologischen Selbstverständnis war evangelistische Wortverkündigung, diakonisches Handeln oder das Versammeltsein der Gemeinde

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ein gemeinsamer Ausdruck von Mission. Mission war nicht ein Mehr an kirchlicher Aktivität, sondern das Wesentliche im Leben der Gemeinde selbst. Das spiegelt sich auch in den drei folgenden Stufen der Entwicklung wider, die zugleich eine Akzentverschiebung im Selbstverständnis erkennen lassen. Zunächst stand in jeder Versammlung die evangelistisch-missionarische Verkündigung im Zentrum. Darum war man nach Deutschland zurückgekehrt, um die im entfernten Amerika wahrgenommene Kraft der Erweckungsbewegungen in Europa zu unterstützen und dadurch den Rationalismus weiter zurückzudrängen. Die Mehrzahl der frühen Versammlungen in Dörfern und am Rande der Städte fand nicht in kircheneigenen Räumen statt. Die zurückgekehrten Missionare wurden von solchen gerufen, deren Angehörige oder Freunde in Amerika von der methodistischen Erweckung erfasst waren. Die Ausgewanderten wünschten nun nichts mehr, als dass ihre Eltern oder Geschwister die gleichen Glaubenserfahrungen machen konnten, wie sie selbst. Es kam vor, dass bei den einfachen Versammlungen Menschen von der zentralen Heilsbotschaft erfasst wurden. Zuhörer waren überrascht, wenn sie solche, die sie als Kinder oder Jugendliche vor der Auswanderung gekannt hatten, plötzlich als bekennende Christen und sogar überzeugende Prediger der freien, erfahrbaren Gnade erlebten. Es kam immer wieder einmal vor, dass die Gastgeber solcher spontanen Versammlungen den Missionar baten, zu bleiben, weil sie am nächsten Tag andere Freunde und Nachbar herzubringen wollten. Zu jener Zeit gab es noch keine festen Arbeitspläne und Terminverpflichtungen. Die Missionare spürten, dass bei ihren Besuchen das geschah, wozu sie gekommen waren. Darum hörten sie solche Bitten und blieben. Es wurden zwei, drei oder mehr Tage. Manchmal brachen kleine Erweckungen aus. Auf diese Weise entstanden aus den ganz normalen Versammlungen nun die sog. Verlängerten Versammlungen. Wo man das Wirken des Geistes Gottes durch Erweckungen spürte, predigten die Boten das Angebot der Gnade und des Heils. Aus den USA kamen neue Impulse nach Europa. Die dortige Heiligungsbewegung und noch mehr die Evangelisationsbewegung formalisierten derartige Erweckungsversammlungen und richteten sie, das war das Neue, auf Massen aus. Dwight L. Moody kam aus Amerika nach England und hatte in den Großstädten Massenversammlungen. Im Jahr 1875 kam der amerikani12

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Ein Beispiel bei Helmut Mohr, Die Ausbreitung der Evangelischen Gemeinschaft in Nordhessen, BGEmK 5, Frankfurt/M. 1975, S. 38f und.194–198.

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sche Heiligungsevangelist Robert Pearsall Smith nach Deutschland. Während seiner „Triumphreise“ popularisierte er in erwecklichen Kreisen den Typ überkonfessioneller Massenversammlungen. Einige Jahre später führte in Berlin der deutsch-amerikanische Methodist Friedrich von Schlümbach in landeskirchlichen Diensten ähnliche Großversammlungen durch, in deren Folge er den ersten typischen CVJM gründete. In diesem Stil entwickelten sich bei den hiesigen Methodisten die ursprünglich organisch aus der Arbeit entstandenen Verlängerten Versammlungen zu geplanten und durchstrukturierten Evangelisationswochen, wie sie besonders auch in der landeskirchlichen Gemeinschaftsbewegung und der Deutschen Zeltmission Eingang fanden. Die Evangelisationen wurden nun ein zwar zentraler, aber doch nicht mehr so dominanter Teil der Aktivitäten im Laufe eines jeden Jahres. Die Kirche war nicht mehr Mission, sondern sie führte von Zeit zu Zeit – üblich war zweimal im Jahr – missionarische Aktivitäten durch. Diese Praxis übte sie bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auffällig ist, dass in den verschiedenen Berichten aus Hamburg keine Hinweise auf derartige Verlängerte Versammlungen oder Evangelisationen durch methodistische Prediger auftauchen. Selbst der bekannte Evangelist Elias Schrenk hat sich nach anfänglichem Engagement in Hamburg mit Zusagen zurückgehalten. Die Großstadtarbeit hatte ihre eigenen Tücken. Waren diese Evangelisationskampagnen in überschaubaren Städten und für die methodistischen Prediger in Kleinstädten und Dörfern geeignete Wege, um Kirchenferne und Glaubensfremde zu den Vorträgen einzuladen, so zeigte die Großstadtbevölkerung ihrerseits nur wenig Interesse. Die Hamburger hatten inner13

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Karl Heinz Voigt, Die Heiligungsbewegung zwischen Methodistischer Kirche und Landeskirchlicher Gemeinschaft. Die „Triumphreise“ von Robert Pearsall Smith im Jahre 1875 und ihre zwischenkirchlichen Beziehungen, Wuppertal 1996, bes. S. 168–180. Auch: BBKL Bd. 10 (1995) Sp. 696–704. Karl Heinz Voigt, Schlümbach, Christlieb und die Evangelisation in Deutschland. In: ders., Theodor Christlieb (1833–1889). Die Methodisten, die Gemeinschaftsbewegung und die Evangelische Allianz, Göttingen 2008, S. 85–110. Auch: BBKL Bd. 9 (1995) Sp. 306– 314. Friedemann Green, Kirche in der werdenden Großstadt., Herzberg 1994, widmet dem Thema Evangelisation auf den Seiten 201–207 einen Abschnitt. Darin sieht er richtig in der landeskirchlich orientierten Evangelisation mit der Inneren Mission zusammen „ein Bollwerk gegen das Eindringen […] der außer- und nebenkirchlichen Evangelisationsbewegung.“ – Diese These aus dem Bereich der Inneren Mission und der Gemeinschaftsbewegung kann sich aber kaum auf die Entwicklung in Hamburg beziehen, sondern ist überregional zu sehen. Genau diese Bemühung war auch das Anliegen Th. Christliebs zur Bildung der Gemeinschaftsbewegung, durch die er den Methodismus „überflüssig“ machen wollte, wie er selber schrieb.

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halb eines halben Jahrhunderts drei schwere Katastrophen erlebt: den Brand, die Cholera-Epidemie und den Hafenarbeiterstreik. In dem Zusammenhang waren nicht nur soziale Probleme der Unterbringung, der Krankenversorgung und Not durch die Folgen des Streiks zu bewältigen. Die sozialpsychischen Folgen im kollektiven Gedächtnis darf man nicht unterschätzen. In diesem Kontext konnte auch die weitere Ausbildung der Gottesfrage nicht ohne Auswirkungen bleiben. Wer in einer Art „Volksglauben“ sich ohne Unterweisung und Predigt aus einem rudimentären traditionellen „Wissen“ heraus sein Gottesbild geschaffen hatte, der musste ganz heftig in der Gottes- und Sinnfrage ringen, wenn er es denn überhaupt tat. Es war kein Wunder, wenn ein Glaube ohne stärkende Verkündigung, ohne Gebet, ohne christliche Gemeinschaft und ohne die Praxis der Nachfolge Christi ins Wanken kam. Ja, vielleicht waren nach den heftigen Tagen des Hafenarbeiterstreiks und im Vorfeld durch die beiden anderen Katastrophen die Parolen der Streikenden und der Einsatz der Gewerkschaften für die attackierten Arbeiter vielen Menschen existentiell näher als das, was in einer Evangelisationsversammlung über das Heil verkündigt wurde. Manchem Hungernden mag der Vorwurf der Vertröstung auf das Jenseits eingeleuchtet haben. Vergleicht man die wirre Situation der Menschen in der Großstadt mit dem immer noch geordneten und weitgehend geschlossenen Leben in den Dörfern mit ihrer traditionellen Nachbarschaftshilfe und der funktionierenden Dorfgemeinschaft, dann waren es auch für die kirchliche Arbeit zwei Welten, die je ihre eigene Arbeitsweise, die inkulturierte, kontextuale Verkündigung, eine ortsbezogene Akzentsetzung durch Diakonie und Gemeinschaft und eine glaubwürdige Trägerschaft brauchten. Die Hamburg-Erfahrungen der methodistischen Kirchen zeigen, wie sich in ihrem missionarischen Mühen das Blatt in dem Augenblick wendete, als zur Predigt die Diakonie wie ein zweites Standbein hinzukam. Eine entsprechende Missionspraxis wird durch die Erfahrungen in der weltweiten Mission bestätigt. Auch dort bilden Verkündigung, Diakonie, Bildung und Gemeinschaft eine unauflösliche Einheit. Es kam zu einer veränderten Praxis, auf die sich auch die methodistischen Prediger, die aus anderen Städten und Dörfern nach Hamburg kamen, einlassen mussten, nachdem sie die Lektion gelernt hatten.

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5.

Ganzheitlich Kirche sein

Unübersehbare Probleme in der missionarischen Arbeit

Die folgenden Erwägungen sind typisch für Erfahrungen der Freikirchen im 19. Jahrhundert. Teilweise reichen sie bis ins 20. Jahrhundert. 5.1

Wie die Bevölkerung ihre Landeskirchen sah

Für den Durchschnittsbürger gab es im 19. Jahrhundert nur zwei Kirchen, denen man angehören konnte: Entweder der Evangelischen oder der Katholischen. Als die evangelische Kirche bezeichnete man weitgehend die in Deutschland wirkende, also die „vaterländische“ Kirche, wie man zur Abgrenzung gegen die „ausländischen Sekten“ gelegentlich schrieb. Dieses trennende Bild wurde von den Universitätstheologen und den Gemeindepastoren gerne vertieft, um den Bestand der eigenen Kirchen zu sichern und die Freikirchen abzuwehren. Es ist bezeichnend, dass der Erlanger Professor Theodor Kolde (1850–1913) einer Schrift den Titel gab „Der Methodismus und seine Bekämpfung“. Er grenzte sich gegen den nach Lehre und Sitten „englischen Methodismus“ ab und erläuterte: „ein anderes ist deutsches Christentum, ein anderes englisches.“ Freikirchen waren in Deutschland eine „importierte Ware“, die es zu bekämpfen gelte. Man war teilweise wohl bereit, die Bedeutung des methodistischen „Kirchenvaters“ John Wesley anzuerkennen und dem Methodismus in England, Amerika oder der Weltmission eine Aufgabe zuzugestehen, aber nicht in Deutschland, wo fast jeder Bürger getauft und also Christ war. Die Gemeindepastoren ermahnten ihre „Schäfchen“, der Kirche ihrer Väter und Vorväter treu zu bleiben und sich unter keinen Umständen von einer 16

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Eine konfessionelle Differenzierung zwischen lutherisch, reformiert oder uniert tauchte kaum auf. Die allgemein gehaltene Beschreibung hat sich auch konfessionskundlich bis in unsere Zeit erhalten. Selbst ökumenisch schreibt man in der Regel bei Veranstaltungen mit der Teilnahme mehrerer Denominationen: Evangelisch – katholisch – orthodox und freikirchlich, obwohl die Freikirchen auch alle „evangelisch“ sind. Die präzisere Bezeichnung wäre heute wohl: landeskirchlich und freikirchlich, damit evangelisch nicht, wie katholisch, zur Konfessionsbezeichnung wird. Nur ein frühes Beispiel: Synodal-Ausschreiben betreffend das Auftreten methodistischer Sendboten in Württemberg, Amtsblatt des württembergischen Consistoriums 1860, Nr. 64, S. 517. Theodor Kolde, Der Methodismus und seine Bekämpfung, Erlangen 1886, S. 10. – 1877 hatte sein Erlanger Kollege Gustav Plitt bereits „Ein Wort zur Belehrung und Warnung“ im Blick auf die methodistische Evangelische Gemeinschaft geschrieben. – Unter den von mir über siebzig durchgesehenen Kleinschriften zu diesem Themenfeld ist übrigens keine in Hamburg erschienen.

Unübersehbare Probleme in der missionarischen Arbeit

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gefährlichen „Sekte“ einfangen zu lassen. Die Zielrichtung der methodistischen Mission auf Menschen ohne Glauben und ohne Nachfolge wurde nicht erkannt oder gar anerkannt. Offizielle Gespräche zwischen den Kirchen gab es noch nicht. Kirchenbehörden gaben Erlasse heraus, die – besonders in Württemberg und Sachsen – nicht frei waren von Drohungen gegenüber solchen, die sich einer sog. „Sekte“ zuwandten. Die Volksfrömmigkeit ließ die Bevölkerung fest in ihrer Volkskirche verwurzelt sein, auch wenn die Beziehungen über die Familientradition und über Amtshandlungen im Lebenslauf mit gelegentlichem Kirchenbesuch kaum hinausreichten. Die Kirche stand eben solange man zurückdenken konnte mitten im Dorf. Das hatte auch eine symbolische Bedeutung. Man war evangelisch, einer Freikirche – ein im 19. Jahrhundert seltener verwendeter Begriff – trat man nicht bei. Das wäre einem Austritt aus der Dorfgemeinschaft mit an anderer Stelle bereits angedeuteten Konsequenzen gleich gekommen. 19

5.2

Die Taufpraxis: falsche Vergewisserung

In der Volksfrömmigkeit hatte sich ein Taufverständnis durchgesetzt, nach dem jeder Getaufte damit ein Christ sei. Man lebte in einer gewissen Heilssicherheit durch die Vorstellung, die Wiedergeburt durch die Taufe empfangen zu haben. Diese Art der Selbstwahrnehmung war durchaus nicht völlig aus der Luft gegriffen. Der Erlanger Professor Gustav Plitt (1836-1880) schrieb in seiner Kritik an der methodistischen Tauflehre, dass nach seinem lutherischen Verständnis die Getauften durch das „Bad der Wiedergeburt“ eben derselben „theilhaftig werden“. Die auf dieser Grundlage verbreitete Sicherheit blockierte einen missionarischen Zugang, denn man war ja Christ und die evangelistische Einladung, die Gnade Gottes zu empfangen, hatte keinen Sinn. Wurden diese Menschen durch eine Predigt oder in einem bekennenden, zeugnishaften Gespräch auf die Frage ihres Glaubens und Christseins angesprochen, so war in ungezählten Fällen eine in gewissem Sinne aus der Empörung gewonnene Antwort: „Aber ich bin doch Christ!“ Was wollte man 20

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Conferenz der deutschen evangelischen Kirchenregierungen in ihrer 16. ordentlichen Sitzung 1884, Referat „Welche Maaßregeln sind von den deutschen evangelischen Landeskirchen zur Wahrung ihrer Ordnung gegen die in neuerer Zeit sich in bedenklicher Weise bemerkbar machenden separatistischen und sectirerischen Umtrieben zu ergreifen?“ EZA Berlin Best.: 7/3449. Dort auch die entsprechenden Beschlüsse. Gustav Plitt, Die Albrechtsleute oder Die Evangelische Gemeinschaft. Ein Wort zur Belehrung und Warnung. Erlangen 1877, S. 22.

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Ganzheitlich Kirche sein

noch mehr. Der oft voraussetzungslose, weithin traditionelle Taufvollzug schuf bei den Getauften eine Art Immunisierung gegen eine Einladung zu einem Glauben, der zur Nachfolge und zum gemeinsamen Leben in der christlichen Gemeinde führt. Dadurch bewirkte die Taufe in der Praxis nicht selten das Gegenteil von dem, worauf sie eigentlich in Verbindung mit der Unterweisung und der nachfolgenden Konfirmation hinführen sollte. Im Methodismus gab es schon bei John Wesley eine kritische Haltung gegenüber der Verbindung von Taufe und Wiedergeburt. Nachdem im Anglikanismus des 17. Jahrhunderts die Frage diskutiert wurde, ob die Taufe auch die Wiedergeburt sei, lässt sich bei John Wesley für die Zukunft der methodistischen Kirche eine vorsichtige Haltung erkennen. Obwohl er selber den beiden Sakramenten eine hohe Bedeutung zumaß, strich er in seiner Kurzfassung des Book of Common Prayer, das er 1784 für die Methodisten in Amerika drucken ließ, alle Bezugnahmen auf die Wiedergeburt in Verbindung mit der Taufhandlung. Er hatte ja nicht selten Wiedergeburten unter der bloßen Predigt miterlebt. 21

5.3

Sonntagsschule und Konfirmationsunterricht

In der Missionsstrategie methodistischer Gemeinden spielte die Sonntagsschule eine herausragende Rolle. In der Regel erreichten die Gemeinden mehr Kinder, als sie selber Kirchenglieder hatten. Fast jede Gemeinde hatte in verschiedenen Stadtteilen oder Vororten Sonntagsschulen eröffnet. Es war oft die Absicht, dadurch einen Stützpunkt für eine neue Gemeindegründung zu gewinnen. Die Sonntagsschule war in einer Gesellschaft, die wenig Angebote für Kinder machte, eine willkommene Bereicherung für ihr Leben. In ländlichen Regionen gab es Dörfer, in denen im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast alle Kinder die Sonntagsschule durchlaufen haben. Ein Bruch trat regelmäßig ein, wenn die Kinder etwa mit zwölf Jahren anfingen, den obligatorischen Konfirmanden-Unterricht zu besuchen. Im Rückblick hat man den Eindruck, der freiwillige Sonntagsschulbesuch wurde für die Teilnehmer durch die Pflicht zur Teilnahme am Konfirmanden-Unterricht beendet. Für die angehenden Jugendlichen bedeutete dieser „Orts22

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John Wesley, The Sunday Service of the Methodists in North-America, Bristol 1784. Heute ist es möglich, dass Konfirmanden auch die Teilnahme an einem methodistischen Gottesdienst und eine entsprechende Bestätigung anerkannt bekommen.

Kirche mit anderen

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wechsel“ in vielen Fällen einen Einschnitt in ihre geistliche Biografie. Für die methodistischen Gemeinden bedeutete er einen Verlust. 23

5.4

Methodistische Evangelisation und fremde Taufpraxis

Es gab auch zwischen den Freikirchen Konflikte. Aus norddeutschen methodistischen Gemeinden, besonders in ländlichen Regionen, liegen entsprechende Berichte vor. Dort wurden durch die sog. „Evangelisationen“ Kirchenferne manchmal mehr, manchmal weniger erreicht und angesprochen. Es gab auch Bekehrungen. Dann kam es vor, dass Mitglieder täuferischer Gemeinden sich um solche Freunde, Nachbarn oder Verwandte besonders kümmerten, um ihnen zu erklären: „Eins fehlt dir noch!“ Methodisten haben ihre Kinder getauft und natürlich die andernorts vollzogene Taufe immer anerkannt. Für sie war der geistliche Beginn eines neuen Lebens durch die bewusste Antwort des Glaubens entscheidend. Täufern war das zu wenig, sie wollten eine Neutaufe. Es war für die gerade zum Glauben Gekommenen nicht leicht, damit umzugehen, wenn ihnen mitten in ihrer geistlichen Neuorientierung vorgelesen wurde: „Wer glaubt und getauft ist…“, um daraus eine richtige Reihenfolge zu konstatieren. Manche gingen dann tatsächlich ins Taufwasser. Die Erinnerungen an vorökumenische Zeiten sind nicht immer angenehm, aber sie helfen uns zu erkennen, welcher Fortschritt im Miteinander der Kirchen erzielt wurde.

6.

Kirche mit anderen

Für eine missionierende Kirche sind die zwischenkirchlichen Beziehungen in verschiedener Hinsicht von Bedeutung. Erstens bewahren sie vor der Gefahr einer Selbstüberschätzung, weil man sich den Brüdern und Schwestern in anderen Konfessionen und Denominationen verbunden und verpflichtet weiß. Zweitens bereichern sie die eigenen Erkenntnisse und helfen ein Bild von der Einheit der Gemeinde Jesu Christi zu formen. Drittens helfen sie zu gemeinsamen Schritten z. B. in der Evangelisation wie in der Weiterbildung. Schließlich können sie gerade den freikirchlichen Predigern, die oft in einer denominationellen Diaspora leben, den Glauben stärken und zum Dienst ermutigen. 23

Ulrike Voigt, Hildegard Grams. Ein Leben für Indien, Stuttgart 2005, S.18, schildert die Erfahrung dieses Bruchs zwischen Konfirmanden-Unterricht und Sonntagsschule in der Großstadt Berlin in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

244

Ganzheitlich Kirche sein

Die methodistischen Prediger sind anderen Kirchen und Christen immer in dem Bewusstsein begegnet, dass sie ihnen gegenüber immer auch ihre Kirche repräsentieren. Die wichtigsten zwischenkirchlichen Bereiche sollen hier kurz angesprochen werden. 6.1

Die Evangelische Allianz

Die 1846 in London gegründete Evangelische Allianz hatte drei große Anliegen: sie wollte ein Sammelbecken für die Einheit der Glaubenden sein, sie trat international für die Religionsfreiheit ein und sie wollte dem Anliegen des persönlich verantworteten Glaubens auf der Grundlage der zentralen Aussagen der Bibel Bahn brechen. Mit allen drei Aspekten ihres Selbstverständnisses konnten sich die Methodisten von Anfang an identifizieren. Darum haben sie, wo immer sich eine Möglichkeit bot, in dieser überkonfessionellen Gemeinschaft ihren Platz gesucht. Im 19. Jahrhundert war die Arbeit der Evangelischen Allianz in Deutschland noch wenig durchorganisiert. Ihre Zweige fanden sich überwiegend in den größeren Städten, in denen mehrere Freikirchen wirkten. Landeskirchliche Pastoren nahmen nur zu einem verhältnismäßig geringen Teil diese Möglichkeit überkonfessioneller Gemeinschaft wahr, für die Freikirchen war sie fast die einzige Möglichkeit der Begegnung und des Austausches über die eigenen Grenzen hinaus. Hier konnte man gemeinsam beten und von einander lernen. Die typische Gebetswoche am Anfang des Jahres begingen zunächst für mehrere Jahrzehnte die einzelnen Gemeinden in den jeweils eigenen Räumen, allerdings weitgehend zeitgleich und mit dem gleichen internationalen Programm, das die einzelnen „Zweigvereine“ von der Londoner Zentrale erhielten. Erst als das gegenseitige Vertrauen der einzelnen Personen zueinander wuchs und neue Impulse durch die Heiligungsbewegung aus den angelsächsischen Ländern hinzukamen, wuchs auch die Gemeinschaft in den gemeinsam geplanten und durchgeführten Gebetswochen mit gegenseitigen Besuchen der Prediger und der Gemeinden. Vermutlich hat es keine anderen überkonfessionellen öffentlichen Gottesdienste und Versammlungen gegeben als die, die in Verbindung mit der Evangelischen Allianz stattfanden. Daher bildete sie in vorökumenischer Zeit einen Rahmen für die ersten Ansätze zur kirchlichen Gemeinschaft, auch wenn die Allianz nicht von den Kirchen, sondern von einzelnen Personen getragen wurde.

Kirche mit anderen

245

Für die methodistischen Prediger waren die Kontakte innerhalb der Evangelischen Allianz von großer Bedeutung. 24

6.2

Unter freikirchlichen Minderheiten

Anfangs standen sich auch die Freikirchen noch fremd gegenüber. Besonders in Amerika haben sie offensichtlich eine gewisse Konkurrenz durch die Hinwendung zu den deutschen Einwanderern und durch eine gegenseitige theologische Abgrenzung insbesondere wegen der Taufpraxis entwickelt. Es scheint, als hätten sie in Deutschland über die Evangelische Allianz den Weg zueinander gefunden. Langsam sind die Beziehungen durch Begegnungen gewachsen. In Hamburg nahm einer der methodistischen Prediger an einer Konferenz der baptistischen Prediger teil und war von der Brüderlichkeit, damals gehörten nur Männer dazu, beeindruckt. Ein anderer hat später das in Hamburg angesiedelte Predigerseminar besucht, Stunden wunderbarer Gemeinschaft erlebt und darüber ausführlich berichtet. Nachdem 1891 ein Freikirchlicher Sonntagsschulbund auf Reichsebene gegründet war, kam es in Hamburg zur Bildung eines Vereins zur Förderung der Sonntagsschularbeit in Hamburg und Umgebung. Er übernahm Vorbilder der Erwachsenenbildung, die in den USA der methodistische Sonntagsschulsekretär John H. Vincent (1832–1920) entwickelt hatte. Diese gemeinsame freikirchliche Organisation in Hamburg entwickelte einen gemeinsamen Studienplan, Material für Fernkurse, er nahm Prüfungen ab und verteilte, ganz dem amerikanischen Vorbild folgend, entsprechende Diplome. Es zeigte sich darin in einer Zeit wachsender nationaler Begeisterung und zugleich innerhalb der Erweckungsbewegung erkennbarer konfessioneller Abgrenzung unter den Minderheitenkirchen ein wachsendes Vertrauen. Auch aus apologetischen Gründen rückten sie näher zusammen. Was sich hier abzeichnete, war mehr als ein Zusammenwirken einzelner Personen. Es war fast im ökumenischen Sinn zwischenkirchlich verbindliche Zusammenarbeit. Immerhin war die nach einem längeren Vorlauf 1926 entstandene Vereinigung Evangelischer Freikirchen die erste offizielle ökumenische Gemeinschaft von vier autonomen Kirchen in Deutschland. 25

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24 25 26

Leider fehlt bisher eine Geschichte des Hamburger Zweiges der Evangelischen Allianz. Karl Heinz Voigt, Internationale Sonntagsschule und deutscher Kindergottesdienst, KKR Bd. 52, Göttingen 2007, S. 183f. Karl Heinz Voigt, Freikirchen in Deutschland (19.und 20. Jahrhundert), KiG Bd. III/6, Leipzig 2004, S. 140–147.

246

Ganzheitlich Kirche sein

6.3

Die ökumenische Grundhaltung

John Wesleys Predigt über „Ökumenische Gesinnung“ und sein öffentlicher „Brief an einen römisch-katholischen Christen“ von 1749 sind von je her für alle Methodisten richtungweisend gewesen. Es zog sich bereits wie ein roter Faden durch die verschiedenen Kapitel, dass die methodistische Kirche keine Protestkirche gegen eine andere Kirche ist, sondern dass sie ihren Auftrag an einer Welt ohne Gott sah. Die Auswirkungen dieser ungewöhnlichen Positionierung sind mehrfach erkennbar geworden. Für den Sprung in die Gegenwart ist anzumerken, welche Auswirkungen dieses Selbstverständnis bis heute hat. Eine nicht geringe Anzahl von landeskirchlichen Pastoren hat ihre Wurzeln in der methodistischen Tradition. Methodistische Christen, die einen Ortswechsel vornehmen und in eine Gegend ziehen, wo es kaum Gemeinden ihrer Herkunft gibt, nehmen ganz selbstverständlich am Leben einer dort bestehenden Kirchengemeinde teil. Manche lassen sich überweisen, andere erbitten aufgrund der Kirchengemeinschaft einen Gaststatus in der „neuen“ Gemeinde und bleiben Kirchenglied in der alten. Das hat natürlich Folgen für die Kinder aus solchen Familien, weil sie zur vorherigen Gemeinde kaum noch Beziehungen aufbauen können und auch nicht wissen, warum sie es eigentlich sollen. Eine solche Diaspora-Integration in einen anderen Zweig der einen Kirche Christi wird nicht als Verlust beklagt, obwohl sie statistisch so ausgewiesen wird. Insgesamt bedeutet das: Die Diaspora-Situation einer ökumenischen Minderheitenkirche führt auf natürliche Weise zu einer Verringerung der eigenen Gliederzahl. Gerade aus der evangelikalen Presse, die doch ihre Wurzeln in der Einheitsbewegung der Evangelischen Allianz hat, wird der methodistischen Kirche immer wieder ihre statistische Entwicklung vorgeführt, wo sie doch eigentlich diese ökumenische Offenheit loben sollte. Es überschreitet den Rahmen dieser Arbeit, die Bedeutung des ökumenischen Selbstverständnisses für die heutige missionarische Arbeit anzudeuten. Aber es darf doch darauf hingewiesen sein, dass die Initiative der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) Aufbruch zu einer missionarischen Ökumene – Ein Verständigungsprozess über die gemeinsame Aufgabe der Mission und Evangelisation in Deutschland von dem methodistischen Bischof Walter Klaiber ausging.

Von Generation zu Generation – Weitergeben, aber wie?

7.

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Von Generation zu Generation – Weitergeben, aber wie?

Einige Entwicklungen von den Anfängen bis in die Gegenwart bedürfen einer umfassenderen kritischen Untersuchung, als sie im Rahmen dieser Arbeit möglich sind. Zu einigen Tendenzen sollen jedoch hier skizzenhafte Anmerkungen gemacht werden, um auf die Themenbereiche und die Fragestellungen hinzuweisen und zur weiterführenden Diskussion einzuladen. 7.1

Die Weitergabe erwecklicher Frömmigkeit

Der Methodismus insgesamt und speziell als Minderheitenkirche in den europäischen Ländern war im 19. Jahrhundert eine dynamische Missionsbewegung. Die Arbeit war getragen von Missionaren mit einer hohen Motivation, geprägt durch eine soteriologisch ausgerichtete Theologie und durchgestaltet von einer kirchlichen Ordnung, die die ganze Kirche zu einer Missionsorganisation machte. Bemerkenswert für die Kraft dieser fast einseitig ausgerichteten Missionsbewegung war die entsprechende zielgerichtete Frömmigkeit. Sie schlug sich nieder in den Gottesdiensten durch die Inhalte und Zeiten, in den Versammlungstypen, die sich bis in die Abteilungen der Gesangbücher widerspiegeln, in den verschiedenen regionalen und überregionalen Veranstaltungstypen, durch entsprechende Schulungen – zuerst im Bereich der Sonntagsschulen –, und schließlich in den klaren Zielvorstellungen, mit denen phasenweise auch die Gemeindeglieder lebten. Durch die gesamtkirchliche Ordnung war die Gemeinsamkeit formal gesichert, durch die Gesangbücher für die Gottesdienste und für die Sonntagsschulen geschah das neben dem Wirken der Prediger in der Gemeindewirklichkeit. 27

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Nach den Gemeindebildungen, die an das gottesdienstliche Leben auch andere Anforderungen stellten als evangelistische Predigten wurden bis nach dem Zweiten Weltkrieg sonntäglich spezielle Abendgottesdienste gehalten, die sich insbesondere an Kirchenferne richteten und zu denen in besonderer Weise Gäste eingeladen werden konnten. Im Gesangbuch der Bischöflichen Methodisten-Kirche in Deutschland und der Schweiz, Bremen o. J. (1896), gibt es die Abteilungen „Gebetsstunde“ (15 Lieder), „Erfahrungsstunde und Liebesfest“ (33 Lieder), „Treuer Gebrauch der anvertrauten Gaben und Güter“ (5 Lieder), weiter eine große Abteilung „von der Heilsordnung“, vom „Fall und Verderben des Menschen“ über „Einladung und Erweckung“, „Buße“, „Bekehrung“, bis zur „Heiligung“ (zusammen 107 Lieder). Natürlich durfte die Rubrik „Aufnahme von Mitgliedern“ (8 Lieder) nicht fehlen. Traditionell beginnen methodistische Gesangbücher nicht mit dem Kirchenjahr, sondern mit dem „Wesen Gottes“ und Lobliedern. Für Kinder und Jugendliche gab es eigene Liederbücher. Alle Grundausstattungen waren mit vierstimmigen Notensätzen versehen.

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Ganzheitlich Kirche sein

Als Problem lässt sich in der Rückschau erkennen, wie wenig missionarische Frömmigkeit als ein individueller Erfahrungsschatz übertragbar ist. Damit ist die Frage der Kontinuität angesprochen. Eine theologische Eigenart, z. B. die Glaubenstaufe der Baptisten, die Sabbatfeier der Adventisten oder der Gedanke der Wehrlosigkeit bei den Mennoniten und anderen Friedenskirchen, lässt sich identitätsbewahrend und immer wieder neu identitätsbildend von Generation zu Generation transportieren, weil die jeweiligen Akzente nach innen ständig neu erörtert und nach außen permanent verteidigt, wenigstens gerechtfertigt werden müssen. Methodistische Frömmigkeit liegt auf einer anderen geistigen wie auch geistlichen Ebene. Sie kann nicht von Generation zu Generation weitergegeben werden, sondern muss immer neu erlebt, erfahren und vor allem geistlich empfangen werden. Weil Frömmigkeit nicht von Generation zu Generation weitergegeben werden kann, ist neben der grundlegenden Bedeutung der Bibel die Tradierung der eigenen Geschichte von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Sie kann in geringem Maße und keineswegs gleichwertig ersetzen, was in anderen Freikirchen durch die Erörterung ihrer spezifisch theologischen Positionierung zu bewahren und zu bewähren ist. Hier wird wieder bedeutsam, dass der Methodismus kein theologisches „Gegenkonzept“ zu andern reformatorischen Kirchen entwickelte. Die Kirchwerdung war eher ein ursprünglich unbeabsichtigtes, fast zufälliges historisches Ereignis, das mit der Trennung Amerikas vom Mutterland England verbunden und der Kategorie der nichttheologischen Faktoren zuzuordnen ist. Vielleicht ist die Tatsache der zufälligen Entstehung eine Erklärung dafür, dass Methodisten ihre Identität leichter mit Hinweisen auf die geschichtlichen Erfahrungen erklären als mit theologischen Abgrenzungen oder Akzentsetzungen. Das ist von Anfang an so gewesen. Und wenn schon die frühen Kirchenordnungen allesamt mit einer Darlegung ihres historischen Ursprungs beginnen, dann sieht das rückwirkend fast so aus, als müssten sie sich mit dem über sie gekommenen, historischen und politisch bedingten Kirchesein dafür rechtfertigen, dass es sie überhaupt gibt. 29

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Karl Heinz Voigt, Freikirchen in Deutschland (19. und 20. Jahrhundert), S. 41–43 zeigt, wie Freikirchen mit ausgeprägten theologischen Eigenarten sich in ihrer theologischen Reflexion vielfach auf diese Themen begrenzen. Methodistische Theologen haben dagegen umfassendere Gesamtdarstellungen vorgelegt. Zuletzt erschien: Walter Klaiber/Manfred Marquardt, Gelebte Gnade. Grundriss einer Theologie der Evangelisch-methodistischen Kirche, zuerst 1993, weitergeführt Göttingen 2006, 552 S. Selbst die verschiedenen Kirchenordnungen der weltweiten Kirche beginnen seit je her immer mit einer geschichtlichen Einleitung. Z. B. Lehre und Zuchtordnung der Bischöf-

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Diese kurze Erwägung deutet an, dass die methodistische Kirche in ihrer europäisch-kontinentalen Minderheitensituation in der Gemeinschaft mit protestantischen Landeskirchen ein gewisses Identitätsdilemma hat. Es zeigt sich darin, dass sie theologisch vom protestantischen Hauptstrom lediglich durch solche Akzente unterschieden ist, wie sie in unterschiedlicher Intensität innerhalb einzelner Konfessionen auch immer schon vorhanden waren. Im Unterschied zu ihnen sind von den methodistischen Kirchen im Verbund der Weltgemeinschaft aus dem grundlegenden theologischen Selbstverständnis andere Konsequenzen gezogen worden. Dadurch wurde die Struktur und im Blick auf die einzelne Gemeinde und ihre Glieder ein Frömmigkeitsstil entwickelt, der durchaus eine eigene Prägung hatte. Unabhängig davon befinden sich sowohl die Evangelisch-methodistische Kirche wie die Landeskirchen in einem enormen Wandel. Der hat zu einer unübersehbaren gegenseitigen Annäherung geführt. Zunächst wurde seit 1987 Kirchengemeinschaft als Kanzelund Abendmahlsgemeinschaft mit den Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vereinbart. Einige Jahre später wurde mit der Zugehörigkeit zu Leuenberger Konkordie diese ökumenische Verpflichtung formal in einem weiteren Rahmen sichtbar zum Ausdruck gebracht. Trotzdem gibt es einerseits Strukturelemente, die nicht ohne Schaden aufgegeben werden können; es gibt auch Frömmigkeitsformen, die für die Gesamtheit der Kirche Christi eine Bereicherung darstellen können. Zwischen Frömmigkeit, Charisma und methodistischem Kirche-Sein gibt es offensichtlich eine Verbindungslinie. Die traditionelle charismatische Ausformung der Kirche und des Gemeindelebens mit einem reichen Gebetsleben in Gruppen , mit lebendigen Gottesdiensten und wohl gründlich vorbereiteten, aber doch frei formulierten Predigten an Stelle von gelesenen, einer diakonisch ausgestalteten Arbeit der Gemeinden, der Erfahrung von individuellen Berufungen in bestimmte ehrenamtliche und hauptamtliche Dienste der Kirche, der missionarischen Orientierung der Gemeinde mit ihren Gruppen und der Erwartung von geistlicher Erneuerung jetzt und hier setzt voraus, dass solche Hoffnungen vorhanden sind. Charismen als Gnadengaben, ei31

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lich-Methodistischen Kirche, Lancaster 1808: Erstes Kapitel, Abschnitt 1: Vom Ursprung der Bischöflich-Methodisten Kirche; Glaubenslehre und Kirchen-Zucht-Ordnung der Evangelischen Gemeinschaft, Neuberlin 18172, Erstes Kapitel. Erster Abschnitt, Vom Ursprung dieser Evangelischen Gemeinschaft, S. 7 f; Verfassung, Lehre und Ordnung der Evangelisch-methodistischen Kirche, Ausgabe 2005, Zur Geschichte, S. 26–31. Die Gebetsstunde verwandelte sich etwa zwischen 1880 und 1890 schleichend in die Bibel- und Gebetsstunde und durch den Verlust weiterer Spiritualität danach in die Bibelstunde mit der heutigen Tendenz zu einer theologischen Gesprächsrunde.

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gentlich als Gnadengeschenke für solche missionarisch ausgerichteten Handlungsfelder darf eine Gemeinde erbitten. Sie wird es aber nur tun, wenn sie Zukunftsbilder vor sich sieht. Die können auch durch die Kenntnis von Erfahrungen und das lebendige Bewusstsein der kirchlichen Tradition geweckt werden. Insofern kann Geschichte identitätsbildend sein und die Zukunft auf eine Weise erschließen, die an den vergessenen Reichtum der eigenen Geschichte anknüpft. „Erweckung“ kann in dem Sinne stattfinden, dass traditionelle Frömmigkeitsphänomene ins Bewusstsein gerückt und – wenn Gott es schenkt – neu belebt werden. Methodistische Frömmigkeit als Ausdruck methodistischer Theologie ist wie eine vielfältige Komposition, die sich nicht scheut, Erfahrungen anderer Konfessionen in ihre Praxis aufzunehmen und ihren Zielvorstellungen zuzuordnen. Daraus erklärt sich ihre Vielfalt in den Verbindungen von Glauben und Handeln, von Gottesdienst und sozialer Tat, von eigenem Sendungsbewusstsein und ökumenischer Verpflichtung, von Rechtfertigung und Heiligung. Dazu gehört auch die Hinwendung zu denen, die den Boden unter den Füßen verloren haben, die Festigung der reformatorischen Lehre und die evangelistische Predigt als Angebot für solche, die nicht mehr glauben können, schließlich die Ausrichtung des pastoralen Dienstes weniger nach innen als nach außen, um neue Bürger des kommenden Reiches Gottes ohne eigenkirchlichen Egoismus zu gewinnen. Wenn visionäre Leitbilder aufleben und eine Gemeinde ihre Aufgabe in der Teilnahme an der Mission Gottes entdeckt, ist Gottes Geist schon am Werk, um neues Leben zu schenken. 7.2

Frömmigkeit als Last

Die frühere hohe Wertschätzung und Praktizierung persönlicher Frömmigkeit war nicht frei von Gefahren. Die Erfahrung zeigt, wie eine Generation oder auch zwei, die selber intensive geistliche Erfahrungen gemacht und sie in persönlicher Frömmigkeit gestaltet haben, gerne die eigene Begeisterung, Dankbarkeit und Freude den Kindern und Enkeln weitergeben wollte. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert geschah das, indem die Kinder in das Gemeindeleben mit hineingenommen und von ihnen – bewusst oder unbewusst – der gleiche Frömmigkeitsstil und die gleiche Lebensweise erwartet wurden, durch die jene erste Generation reich gesegnet worden war. Wie verständlich ist das, wenn in der ersten Generation ein Trinker zu einem Beter wurde, dass er den eigenen Kindern sein Glück wünschte. Aber echte Frömmigkeit ließ sich nicht weitergeben. Die

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neue Generation lebte unter anderen Bedingungen, hatte eine andere Vorgeschichte, erlebte das, was die erste Generation als eine Art Urerlebnis erfuhr, nicht erneut, sondern empfing eine andere Sozialisation, nicht nur inmitten der Gemeinde, sondern auch im alltäglichen Leben. Wie leicht wurden aus den Hoffnungen und allzu verständlichen Wünschen der ersten Generation für die Kinder und Enkelkinder fromme Zwänge und Gesetzlichkeiten. Das zeigte sich besonders an Themen, die in den Bereich der Adiaphora gehören und für das Heil unerheblich sind. Der Vater war als Alkoholiker zu einem neuen Leben wiedergeboren und nun abstinent. Der Enkel sollte es auch sein, aber er hatte – auch als Folge der Veränderungen durch den Glauben im Elternhaus – einen sozialen Aufstieg erlebt, der ihm einen anderen Umgang mit Fragen eröffnete, in denen die Vorfahren Ausdruck eines frommen Lebens sahen. Rauchen, Tanzen, selbst Theater- und Kinobesuch wurden zu Streitpunkten oder führten zu Entfremdungen. Wo Gesetzlichkeit die echte Frömmigkeit ablöst, wird sie zu einer leeren frommen Hülle. Danach kann man nicht mehr von einer missionierenden Praxis, sondern höchstens noch theologisch von einer missionarischen Kirche sprechen. Aber das zentrale Anliegen, Mission zu sein, wird durch die eigene Kraftlosigkeit unterlaufen. Inzwischen ist die methodistische Kirche längst nicht mehr einseitig auf die Mission an „Verlorenen“, wie man früher sagte, ausgerichtet. Sie ist keine Missionsbewegung mehr, sondern eine verfasste Kirche. Vielleicht muss man weiter konstatieren: im Vergleich zu früher ist aus der Kirche Armer und Benachteiligter eine Kirche des Mittelstands geworden. Von ihrer früheren missionarischen Einseitigkeit distanziert sie sich eher; nicht in offiziellen Stellungnahmen, sondern in der konkreten Arbeit vor Ort. Das geschieht fast in einer so umfassenden Weise, dass sie kaum noch evangelisiert oder wenigstens in Predigt und Seelsorge gezielt zur Umkehr zu einem neuen Leben mit Gott einlädt. Durch diese Distanz zur eigenen Geschichte der dritten und vierten Generation haben viele junge Menschen, auch die jüngere Theologengeneration, eine funktionierende und aktiv missionierende Gemeinde kaum noch erlebt. Die Kraft, neue Bilder einer missionierenden Kirche zu entwickeln, reicht unter den heutigen Lebens- und Arbeitsbedingungen kaum aus und es gelingt nur vereinzelt, zeitgemäße Ansätze zu entwickeln. Die geschichtlichen Erfahrungen werden unter den unglaublich vielfältigen Herausforderungen und in einer an der Geschichte wenig interessierten Zeit kaum noch zur Kenntnis genommen, geschweige denn reflektiert. Der Griff zu irgend einem praktischen „Handbuch“ liegt nahe.

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Ganzheitlich Kirche sein

Über theologische Fragen kann man diskutieren, aber Frömmigkeit und Missionsstile sind in der Tradition des Methodismus an den eigenen Erfahrungen und in der Begegnung mit den Menschen, die weder Glauben noch eine nachhaltige Zukunftsperspektive hatten, organisch gewachsen. Organisieren, eine Lieblingsbeschäftigung von Methodisten, kann man geistliches Leben und Erleben nicht. Hier kann nur der Heilige Geist sein Werk tun, indem er neues Leben schenkt. 7.3

Von der integrierten zur Spartengemeinde

Die kirchliche und öffentliche Diskussion über den Methodismus und die örtlichen Gemeinden wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viel engagierter geführt, als man sich das heute vorstellen kann. Universitätsprofessoren haben in konfessionskundlichen Vorlesungen und in Vorträgen vor Pastoralkonventen Warnungen formuliert und die Pfarrer auf ihre Weise mit dem Phänomen methodistischer Erweckung vertraut gemacht. Auf Kirchentagen des 19. Jahrhunderts wurde darüber verhandelt und die internationalen Konferenzen der Evangelischen Allianz mussten sich aufgrund von Interventionen deutscher Pfarrer mit diesem Einbruch in die kirchlich abgegrenzten und konfessionell bestimmten Kleinstaaten befassen. Gerichtliche Auseinandersetzungen und kirchenrechtliche Maßnahmen der damaligen Staatskirchen gehörten zum Alltag. Die methodistische Kirche war an viel mehr Orten aktiv, als dieses heute noch bekannt ist. In der verhältnismäßig schnellen Ausbreitung der verschiedenen methodistischen Kirchen kam es in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu einem Einbruch. Als in Hamburg erst der Aufschwung einsetzte, gab es andere Gebiete, in denen sich erste Anzeichen von Stagnation zeigten. Die Bildung von Gemeinden war schon fast abgeschlossen. Wer die Orte mit methodistischen Kapellen um 1890 mit den Orten etwa einhundert Jahre später vergleicht, wird nur verhältnismäßig wenige neue Städte entdecken. Da, wo das der Fall ist, entstanden sie überwiegend nach 1945 aus Flüchtlingen und Vertriebenen, die aus den früheren Gemeinden jenseits von Oder und Neiße kamen. Neuerdings gibt es übrigens fast ausschließlich in Kleinstädten und ländlichen Regionen sog. Neulandmissionen. Dieser stagnierenden Entwicklung vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Fragt man nach den Ursachen, dann bieten sich drei Erfahrungsfelder an, die durchaus unabhängig voneinander, aber doch parallel zueinander wirksam geworden sein

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können. Über den Verlust an missionarischer Kraft im Wechsel von der ersten zur zweiten, teilweise auch schon von der zweiten zur dritten Generation wurden bereits einige Erwägungen angestellt. Der Frage des Einflusses der Gemeinschaftsbewegung wird später nachgegangen. Hier ist zunächst auf innergemeindliche Veränderungen einzugehen. Drei bis vier Jahrzehnte hindurch waren die Gemeinden für ihre Glieder und Freunde tragende Gemeinschaften, die ihr reiches geistliches Leben fast durchgehend unabhängig von Alter und Geschlecht gestalteten. Integrierend waren zunächst die individuellen und danach die gemeinsamen Glaubenserfahrungen. Dass sich in den Gottesdiensten alle wie eine große Familie Gottes trafen, war normal. Aber auch in den Gebetsstunden und in den Klassversammlungen als den in der ersten Zeit wichtigsten Zusammenkünften neben den Gottesdiensten trafen sich Junge und Alte, zur Gebetsstunde auch Männer und Frauen. Als weitere Gruppenstunde kann man die Vorbereitungsstunde der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Sonntagsschulen für diese Phase der Entwicklung bezeichnen. Auch hier trafen sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unabhängig von Geschlecht und Alter. Das trifft auch für die ab etwa 1875 entstehenden Zions Sängervereine, wie sich die Chöre oft nannten, zu. Zu den Agapen, einfach „Liebesfeste“ genannt, wie auch zu den „Wachnachtgottesdiensten“ versammelte sich die ganze Gemeinde. Im Zentrum dieser an die altkirchlichen Vigilien anknüpfenden Nachtgottesdienste stand die „Erneuerung des Bundes mit Gott“ nach einem Formular, dessen zeitgemäßer, geistlich anspruchsvoller Text sich auch heute im Gesangbuch findet. Auch zu den Vierteljahresfesten kam die Gemeinde an einem ganzen Wochenende zusammen und zu den Jahresfesten der in den Gemeinden bestehenden Traktatgesellschaften traf sich Jung und Alt. Fast immer war die ganze Gemeinde als Teil des Leibes Christi ohne Trennungen erfahrbar. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts setzte auf ganz natürliche Weise ein Wandel der Gemeindestruktur ein. Es entstanden Gruppen, die durch Alter und Geschlecht getrennt waren. Es waren nacheinander zuerst 32

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Wachnachtgottesdienste wurden in der Regel Silvester ab 21.00 Uhr und bis nach Mitternacht gefeiert. Predigt, Betstunde, oft auch das Abendmahl wurden miteinander erlebt und empfangen. „Kurz vor 12 [24] Uhr beugt sich die Gemeinde einige Augenblicke im stillen Gebet zu Gott nieder; es wird ein passendes Lied zur Erneuerung unseres Gelübdes mit Gott auf den Knien gesungen, und dann mit einem lauten Gebete geschlossen.“ So beschrieb es L. S. Jacoby im Handbuch des Methodismus, Bremen 18552, 359. Gesangbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche, Stuttgart – Zürich – Wien 2002, S. 1363–1367. Seit einiger Zeit werden ähnliche Gottesdienste in Deutschland als „Tauferneuerung“ auch ökumenisch gefeiert.

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Jünglingsvereine, Jungfrauenvereine und Frauenvereine. Unbemerkt wurde in den wachsenden Gemeinden in einem langen Prozess die Einheit zerlegt. Für die Gestaltung der einzelnen Gruppen wurden die neuen Organisationsformen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden waren, benutzt. Die „freien Assoziationen“ gestalteten ihr Leben als „Vereine“. Die Kapellen und Gemeindehäuser wurden nun auch mit einem „Vereinszimmer“ gebaut. In den Vereinsgruppen entwickelte sich ein Eigenleben. Es gab, ganz im Sinne demokratischer Gemeindepraxis, Jahreshauptversammlungen jedes einzelnen Vereins, darin wurden die Vorstände gewählt: Vorsitzende(r), Stellvertreter, Schriftführer(in), Kassierer. Es wurde regelmäßig der Jahresbericht gegeben. Dem Kassierer wurde Entlastung erteilt. Die Schriftführerin verfasste ein Protokoll. Der Blick wurde immer weniger nach außen gerichtet, ja der eigene Verein schob sich vor den Blick auf die Gesamtgemeinde. Nach der jeweiligen Jahresversammlung fanden dann die regelmäßigen Vereinsstunden der Jünglinge, der Jungfrauen und des Frauenmissionsvereins statt. Bei den Vereinen von Jugendlichen wurde vielfach regelmäßig Protokoll geführt, offensichtlich in fast allen Gruppen auch eine Anwesenheitsliste. Überregional entstanden verschiedene Typen von Zeitschriften, die an eine Art Verbandsorgan erinnern: Jugendblätter, Frauenblätter, Sängergruß. Neben den Gruppen, die den Eindruck eines florierenden Gemeindelebens erweckten, versammelte sich zu den Bibelstunden, die inzwischen weitgehend an die Stelle der Gebetsstunden getreten waren, überwiegend die ältere Generation. Dieser kurze Aufriss deutet an, wie tief der unbemerkte strukturelle Einschnitt war, weil die Gruppen ein seltsames Eigenleben innerhalb der Gesamtheit der Gemeinde führten. Was dieser Strukturwandel für die Mission der Gemeinde und ihr Selbstverständnis bedeutete, ist bisher nicht untersucht. Es liegt nahe, dass nach innen durch die Differenzierung eine gewisse Tiefe erhalten oder erreicht wurde und dass gleichzeitig in der Breite und der Außenwirkung ein Verlust eintrat. Gerade angesichts der heutigen Entwicklung von „Spartenkirchen“ scheint es angebracht, unter dem Gesichtspunkt der Erfüllung des missionarischen Auftrags eine Untersuchung einzuleiten, die über das eigene Wohlbefinden in den „Generationenkirchen“ hinausreicht und die missionarische Kompetenz zum Maßstab macht. 7.4

Der Einfluss der Gemeinschaftsbewegung

Das Jahr 1888 war für die Entwicklung der Gemeinschaftsbewegung einschneidend. Die erwecklich ausgerichteten Verbände und regionalen Organisatio-

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nen verschiedenen Ursprungs innerhalb der theologisch und strukturell ganz unterschiedlich positionierten Landeskirchen bildeten den Gnadauer Gemeinschaftsverband. So unterschiedlich die Landeskirchen waren, so verschieden waren auch die Beziehungen der regionalen Gemeinschaften zu ihnen und umgekehrt. Aus den sehr unterschiedlich organisierten Gemeinschaften entstand unter der Führung von Eduard Graf Pückler (1853-1924), Jasper von Oertzen und Professor Theodor Christlieb eine reichsweite Gemeinschaft. Der Hamburger Jasper von Oertzen hatte besonders in Schleswig-Holstein Gruppen dieser Bewegung in den Bereich der Landeskirche zurückgeführt, die sich unter dem Einfluss des irischen Judenmissionars James Craig, der von Hamburg aus wirkte, zu verselbständigen drohten und freikirchliche Tendenzen vertraten. In vielen anderen Gebieten waren erwecklich ausgerichtete Personen unter den Einfluss der methodistischen Kirchen geraten und sympathisierten mit der aufkommenden Freikirche. Der Bonner Praktische Theologe Professor Theodor Christlieb, der durch seinen mehrjährigen Englandaufenthalt einer der wenigen Kenner des kirchlichen Methodismus war, beobachtete die Tendenz von Gemeinschafts-Christen, die sich in manchen Regionen den methodistischen Gemeinden annäherten. In einer programmatischen Schrift schlug er 1882 einen Weg vor, wie man der kirchenbildenden Ausbreitung des Methodismus in Deutschland wirksam begegnen könne. Er schätzte das evangelistisch-missionarische Proprium dieses Methodismus, die Aktivität von Laien in der Predigt, die Sonntagsschulen und andere Aktivitäten. Um die weitere Gemeinde- und Kirchenbildung einzuschränken, machte er den Vorschlag, die Arbeit der Methodisten überflüssig zu machen. Sein strategischer Vorschlag bestand darin, dass die einheimische Kirche die Praxis des Methodismus übernehme. Die Landeskirchen waren dazu natürlich weder bereit noch in der Lage. Daher übernahmen die Vereinigungen und Verbände der Gemeinschaftsbewegung dieses Programm. Für seine Ausgestaltung war die Zusammenführung in der Gnadauer Konferenz seit 1888 eine strategische Meisterleistung. Die regelmäßigen Gnadauer Konferenzen beschäftigten sich mit den typisch methodistischen Themenfeldern Evangelisation, Laientätigkeit und Heiligung, ohne immer der Sympathie ihrer Landeskirche gewiss zu sein. Die Gemeinschaften übernahmen eine Art Führerschaft in missionarischen Fragen in den eigenen Kirchen. Sie verwandelten ihre pietistische, nach innen gerichtete Konventikelfrömmigkeit durch die 34

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Jörg Ohlemacher, Gemeinschaftschristentum in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. In: GdP Bd. 3, S. 393–464, der die hier entwickelte These noch nicht beachten konnte. Theodor Christlieb, Zur methodistischen Frage in Deutschland, Bonn/Gernsbach 1882.

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Ganzheitlich Kirche sein

Aufnahme evangelistischer Praktiken aus der angelsächsisch-methodistischen Erweckungs- und Evangelisationsbewegung in missionierende innerlandeskirchliche Gemeinschaften unterschiedlicher Färbung. Mit dem Christlieb’schen Ansatz, in Deutschland die Kirchenbildung des Methodismus zu verhindern, war eine bis dahin nur lokal praktizierte Methode zur allgemeinen Strategie geworden, die in der festeren Organisation der Gemeinschaftsbewegung ihren strukturellen Ausdruck fand. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man weithin durch Diskriminierung und durch gesetzliche Maßnahmen versucht, dieser damals beunruhigenden methodistischen Bewegung Herr zu werden. Die Konfrontation hat die Methodisten in einigen Regionen eher gestärkt als geschwächt. In anderen Gebieten wurden sie durch die Ermöglichung methodistischer Frömmigkeit innerhalb, oder wenigstens am Rande der Landeskirchen, in ihrer Wirkung eingeschränkt. Da in der methodistischen Theologie keine gravierenden Gegensätze gegen protestantische „Normaltheologie“ in ihrer Vielfalt ausgemacht werden konnte, stand einer Aufnahme der sich daraus ergebenden praktischen Impulse für eine Gemeinschaftsbewegung, die ähnlich wie die Methodisten gewisse Elemente der Moderne integrierte, nichts im Wege. Ging es vor Gnadau um eine Überwindung des kirchlichen Methodismus aus Rechtspositionen und durch Konfrontation, so wurde nun die Theorie und Praxis einer ÜberflüssigMachung durch die Übernahme des methodistischen Profils eingeführt. Es ist nachgewiesen, dass dieser Weg erfolgreich beschritten wurde. Er ermöglichte dem einzelnen Christen methodistische Spiritualität in mancher landeskirchlichen Gemeinschaft zu leben. Das hieß: am Rande der heimatlichen Landeskirche konnte man Räume des eigenen Frömmigkeitsstils bis hin zu den Erweckungsliedern des Methodisten Ernst Gebhardt finden. Das war ein bedeutend leichterer Weg der Partizipation, denn man brauchte weder aus der Landeskirche auszutreten noch war man in seiner Umgebung einer gesellschaftlichen Ächtung ausgesetzt. 36

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Die von Ernst Gebhardt aus dem Englischen übersetzten wie die von ihm selber getexteten und vertonten Lieder mit ihrer soteriologischen Theologie nahmen in den ungezählten Auflagen des Hauptliederbuchs innerhalb der Gemeinschaftsbewegung einen respektablen Platz ein. Alleine der Reichssänger erreichte bis heute eine Auflage von 3,5 Millionen. Vgl. Dazu: Walter Schulz, Die Bedeutung der vom angelsächsischen Methodismus beeinflussten Liederdichtung für unsere deutschen Kirchengesänge, illustriert an den Liedern von Ernst Gebhardt, Greifswald 1934. Zu dem gesamten Themenfeld: Karl Heinz Voigt, Theodor Christlieb. Die Methodisten, die Gemeinschaftsbewegung und die Evangelische Allianz. Göttingen 2008.

Schlussbemerkung

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Die Auswirkungen für die weitere missionarische Ausbreitung der methodistischen Kirchen sind noch genauer zu untersuchen. Es liegt aber nahe, dass ihr Stillstand oder die erste Stagnation durch die festere Organisation und die unter Christliebs Einfluss gewonnene klarere missionarische Ausrichtung der Gemeinschaftsbewegung beeinflusst worden ist.

8.

Schlussbemerkung

Die historisch angelegte Studie hat insbesondere gezeigt, wie missionarisches Wirken in einer Großstadt wenig Chancen hat, wenn es sich auf die Verkündigung durch die Predigt beschränkt. Damals entwickelte sich Hamburg hin zu einer „Stadt ohne Gott“, um es mit Harvey Cox zu sagen. Heute kommt der weitere Verlust an Glaubwürdigkeit, die immer weiter eingeschränkte gesellschaftliche Bedeutung der Kirche überhaupt, die offene Kritik an der Institution und ihren führenden Persönlichkeiten, der Individualismus in der Gesellschaft, die Tendenz zu unverbindlichen Lebensstilen und nur kurzzeitiger Verantwortungsbereitschaft, sowie die multireligiöse Entwicklung verstärkend zu den aufgezeigten Tendenzen hinzu. Auch wenn die Arbeit in ihrer historischen Erörterung auf der freikirchlichen Minderheitensituation basiert, kann sie für die ökumenische Diskussion um das Missionsland Deutschland durchaus anregend sein. Die freikirchliche Minderheiten-Erfahrung im 19. Jahrhundert kann morgen eine Wirklichkeit der gesamten christlichen Kirche in den europäischen Staaten sein. Vielleicht kann auch manche anregende Überlegung für die heute im Aufbruch befindlichen, in einem anderen als von mir gebrauchten Sinn „charismatischen Gemeinden“ gegeben werden. Was manche dieser Gemeinden mit den Entwicklungen zu ihrer zweiten und dritten Generation noch vor sich haben, das haben methodistische Gemeinden zu einem Teil hinter sich. Wenn sie ihre eigene Geschichte kennen und sich nicht einfach gewissen Trends anhängen, sondern ihre Arbeit reflektieren, werden sie vorsichtig sein, auf einen gegenwärtig modischen Zug aufzuspringen. Die zukünftige Kirche in den europäischen Staaten wird eine durch Wort, Tat und Gemeinschaft missionierende sein, deren Zeugen – der Ursprung des Wortes erinnert an das Leiden – sich nicht durch Widerspruch, Ausgrenzung und Ablehnung irritieren lassen, oder sie wird als Verteidigerin einer reinen Lehre, als Verwalterin einer traditionsreichen Institution oder Vertreterin von rechtlichen Privilegien in einer Gesellschaft ihrer eigentlichen Berufung nicht mehr gerecht werden. Dies ist nicht die Perspektive einer einzelnen Konfessi-

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Ganzheitlich Kirche sein

on oder Denomination, sondern der gesamten Kirche Christi in ihrer ökumenischen Verflochtenheit.

Anhang Die erste methodistische Mission in Hamburg 1.

Engländer bevorzugt vor allen anderen

Seit der Reformation war Hamburg ein konfessionell bestimmter Stadtstaat. Wer dort leben und arbeiten wollte, musste sich zur lutherischen Konfession bekennen. Engländer waren die ersten Nichtlutheraner in der Stadt. Schon 1611 war man über die Engländer froh, die nach dort kamen. Man gewährte ihnen ungewöhnliche Privilegien. Dazu gehörte auch Religionsfreiheit, die ihnen nicht nur das Recht der freien Religionsausübung zuerkannte. In einem den Engländern zur Verfügung gestellten „Englischen Haus“ in der Gröningerstraße war sogar eine Kapelle für Gottesdienste der Anglikaner bereitgestellt. Diese Privilegien unterstützten eine starke Ansiedlung von „ökonomischen Eroberern des Kontinents“ in Hamburg. Das ging gut, bis Napoleon (17691821) Europa aufmischte und seinen Kampf gegen die Engländer in der sog. Kontinentalsperre als wirtschaftliche Aussperrung anordnete. Die Besetzung Hamburgs durch die Franzosen von 1806–1814 legte den Handel mit England lahm, soweit er nicht nach Helgoland verlegt wurde, das damals unter englischer Herrschaft stand. Engländer verließen die Stadt, ihre Privilegien wurden nach ungefähr zweihundert Jahren zurückgenommen. Nachdem die Franzosenzeit zuende war und die Engländer nach Hamburg zurückkehrten, zeichnete sich ein tiefer Einschnitt in den Beziehungen zwischen den beiden Staaten ab. Er führte zu manchen Turbulenzen zwischen Hamburg und London. Diese Wirren spiegeln sich auch in den Anfängen der Arbeit englischer Methodisten in Hamburg wider. Im 19. Jahrhundert lebte in der Stadt zeitweise eine Kolonie von etwa 2.000 Engländern. Das waren reiche Kaufleute, Architekten und in der Stadtplanung einflussreiche Baumeister, die nach dem großen Brand von 1842 zum Wiederaufbau beitrugen. Dazu kamen von englischen Firmen entsandte Handelsagenten und Kapitäne. Für die Freizeitgestaltung nach heimatlichem Vorbild siedelten sich Pferdeverleiher und Jockeys an. Außer den vornehmen Engländern gab es immer britische Schiffe im 1

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Die erste Schienenverbindung in Norddeutschland zwischen Hamburg und Bergedorf wurde von dem Engländer William Lindley gebaut. Die fünf Lokomotiven kamen von der

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Die erste methodistische Mission in Hamburg

Hafen mit einer oft rohen Besatzung. Sie wurden von den Kneipen und ihren englischen Wirten, die sich auf St. Pauli eingemietet hatten, ausgenommen. Beziehungen zwischen denen, die an der Elbchaussee und in anderen vornehmen Quartieren wohnten, und denen, die sich auf St. Pauli herumtrieben, scheint es nur notgedrungen durch die in Hamburg ansässigen englischen Reedereien gegeben zu haben. Unter den Briten aller Schichten in der Hansestadt gab es Anglikaner, Reformierte, Methodisten und Christen anderer Denominationen. Manche waren in der Stadt nicht ohne Einfluss. Sie bildeten aber keineswegs eine ökumenische Gemeinschaft englischer Kirchen, sondern beobachteten sich gegenseitig aufmerksam und kritisch. Zuerst konnte die Englisch-Reformierte Gemeinde eine eigene Kirche bauen. Als sie am 18. Juli 1826 am Johannisbollwerk eingeweiht wurde, lehnte der britische Generalkonsul Henry Canning als Vertreter seines Staates und der Staatskirche die Teilnahme am Eröffnungsgottesdienst ab. Die Anglikaner hatten zu dieser Zeit keine eigene Kapelle, weil das „Englische Haus“ mit seiner Kapelle nach dem Ende der Franzosenherrschaft abgerissen worden war. Als eine neue Kirche am Zeughausmarkt gebaut werden sollte, die den würdevollen Gottesdiensten der Anglikaner entsprechenden Raum bot, legte am 16. Juli 1836 Generalkonsul Canning den Grundstein höchstpersönlich. Was lässt sich nun über die frühesten englischen Methodisten in Hamburg herausfinden und welchen Platz haben sie neben den dominierenden Anglikanern und Reformierten eingenommen? 2

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englischen Firma Stephenson. Lindley hatte nach dem großen Brand von 1842 beim Neuaufbau der Innenstadt auch das ganze Sielnetz eingerichtet. Der Plan für den Wiederaufbau der Hauptkirche St. Nikolai wurde von dem Londoner Architekten Sir Gilbert Scott entworfen, der auch das britische Außenministerium gestaltet hatte, und die Buntfenster lieferte aus London die Firma Clayton und Bell. Der gerne nach England reisende Hamburger Kaufmann Caspar Voght brachte nicht nur die erste Sonntagsschule nach Hamburg, sondern er holte auch den aus Schottland stammenden Baumschulspezialisten James Booth in die Hansestadt, der eine Farm nach englischen Vorbild gestaltete, neue Bebauungsmethoden und Werkzeuge einführte, in Flottbek erfolgreich Baumschulen anlegte und Treibhäuser errichtete. Der Volksmund sprach von „englischen Baumschulen“. Diese Liste berühmter Engländer, die im kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben Hamburgs eine herausragende Rolle spielten, könnte beliebig fortgeführt werden. Die bekannteste ist die Reederei Robert Miles Sloman, die besonders im Ostasien-Handel erfolgreich war. Canning war von 1823 bis 1841 in Hamburg; von 1823–1836 Generalkonsul, ab 1836 aufgewertet als diplomatischer Geschäftsträger.

Der Laienprediger John Henry David Tyson

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Der Laienprediger John Henry David Tyson

John Tyson muss um 1772 in Hamburg geboren sein. Seine Vorfahren werden zu jener English Community gehört haben, die sich in der Hansestadt angesiedelt hatte. Nachfahren von John Tyson vermuten, dass er um 1793 als Methodist zu predigen begann. Zu dieser Zeit war er reichlich 20 Jahre alt. Es würde durchaus der Praxis im Methodismus dieser Zeit entsprechen, wenn er eine Predigtlizenz als Ermahner oder Local-Preacher erhalten hat. Die Frage ist: Wer hat den jungen Mann beauftragt? War es eine Gemeinde in England? Oder – was durchaus denkbar ist – war es eine methodistische Klasse, die sich innerhalb der anglikanischen Gemeinde gebildet hatte? Ausgeschlossen war das keineswegs, denn zu dieser Zeit waren die Methodisten in England noch keine eigene Denomination und daher eng mit den Anglikanern verbunden. Tysons Wirkungsfeld deutet auf die Tätigkeit eines Reisepredigers hin, denn er wirkte nicht etwa nur in Hamburg, sondern auch in Dänemark – vielleicht im Zusammenhang mit dem dänischen Einfluss auch nur im heutigen Hamburg-Altona. Die spärlichen Hinweise auf seine frühen außerdeutschen Aktivitäten werfen die Frage auf, ob er zu jener großen Gruppe von Engländern gehörte, die Hamburg verließen, als Napoleons Truppen auf Hamburg zukamen. Der Fluchtweg über das nahegelegene dänische Gebiet war nicht ausgeschlossen. In England soll er einige Zeit inhaftiert gewesen sein. Ob man in ihm einen Spion vermutete? Seine anschließende Rückkehr nach Deutschland würde in dieses Bild passen. Im November 1817 erschien in der Hamburger „Zeitschrift“ eine Anzeige. Darin wurde zu öffentlichen methodistischen Gottesdiensten in englischer Sprache eingeladen. Bis zur Einrichtung einer Kapelle werde man sich in der Neumannstraße versammeln. Diese Anzeige enthielt für die Anglikaner soviel Sprengstoff, dass der neue Konsul Joseph Charles Mellish sich nach dem Erscheinen der Anzeige sofort über den für ihn zuständigen Diplomaten Hermann Doormann (1752–1820) an den Hamburger Senat wandte, um auf diesen Vorgang hinzuweisen. Mellish musste beunruhigt sein, weil die Anglikaner in der Stadt ihre Privilegien verloren hatten und sie neben den anerkannten Katholiken und Englisch-Reformierten selber ohne Rechte wenigstens ihre stillschweigende Duldung nicht auf Spiel setzen wollten. Der methodistische Gottesdienst in der Neumannstraße hat Mellish Sorgen bereitet, denn er verunsicherte die Anglikaner, die auf einen Ersatz für die erlittenen 4

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Mellish war 1814 nach Hamburg gesandt, zunächst als diplomatischer Geschäftsträger, dann bis 1820 als Konsul und schließlich bis zu einer Ablösung durch Henry Canning als Generalkonsul.

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Die erste methodistische Mission in Hamburg

Verluste hofften, auch hinsichtlich eines neuen Kirchenbaus. Die Ausführungen in einem Beschwerdebrief über den Prediger in der Neumannstraße deuten wieder auf Tyson hin. Der Konsul schrieb, er habe Grund zu der Annahme, dass der amtierende Prediger dieser fanatischen und sektiererischen Zusammenkünfte nicht ordnungsgemäß ordiniert sei. Er hoffe darauf, dass der Senat diese Versammlungen nicht sanktioniere, solange die Person die ordnungsgemäße Ordination nicht gegenüber der Kirche von England oder derselben von Schottland nachgewiesen habe. Grund für das Schreiben des Konsuls sei sein Wunsch, dem schädlichen Treiben der Sekte der Methodisten vorzubeugen und dem entgegenzutreten, was sie unter den einfachen Leuten, die hier leben, und unter der sehr großen Menge englischer Seeleute im Hafen verbreiten. In politischer Hinsicht sei nämlich bemerkenswert, dass Anführer von Krawallmachern, Tumultanten, Randalierern und anderer Straffälliger in England dieser methodistischen Sekte angehören. Der methodistische Prediger habe weder von der konsularischen Vertretung in Hamburg noch von der englischen Regierung eine Beauftragung für seine hiesige Wirksamkeit. Mellish, der typisch staatskirchlich argumentierte, kündigte an, sich umgehend auch an die britische Regierung zu wenden. Der Konsul hat seine Beschwerde später zurückgenommen. Es ist möglich, dass die englische Regierung die Kompetenz ihres Konsuls überschritten sah. Es kann aber auch sein, dass englische Methodisten in Hamburg ihn zu diesem Schritt gedrängt haben. Wie immer die Lage sich gestaltete, Tyson wanderte nach Amerika aus. Warum auf dem Umweg über Deutschland und nicht gleich von England aus? Hatte er hier Verwandte? Oder ein Vermögen? Wollte er gar eine Klasse oder eine Gruppe von Methodisten, für die er sich verantwortlich fühlte, nicht ohne Klärungen mir nichts dir nichts verlassen? 5

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Eric J. Hobsbawm, Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, Neuwied 1962. Auf den Seiten 167–196 behandelt der englische Soziologe radikale methodistische Bewegungen jener Zeit. – Volkstümlich zu dieser Frage revolutionärer Handlungsbereitschaft: Owen Rattenbury, Flammen der Freiheit. Die Geschichte der Märtyrer von Tolpuddle, mit einem Vorwort des (methodistischen) Außenministers Arthur Henderson, Bern/Leipzig 1934. Schreiben Konsul Mellish an Syndikus Doormann v. 18. November 1817. STAHH, Best.: Senat CL VII Lit. H f Nr. 2b Vol 2. Die weitere Erforschung seines Weges kann helfen, um neue Anhaltspunkte zu gewinnen. In Amerika verheiratete sich John Tyson mit Melinda Waldron, der Tochter des prominenten methodistischen Laien Abiathar Waldron. Sie war nach dem Revolutionskrieg von Vermont aus nach Quebec in Kanada gegangen. Die Trauung erfolgte in South Gore, Ontario, in der Nähe von Lachute. Vermutlich ist John Tyson später in den Staat New York zurückgekommen, um danach in Richtung Illinois weiter zu ziehen. Nach dem Bürgerkrieg von 1866 zogen Angehörige der Familie nach Nebraska.

Der Laienprediger John Henry David Tyson

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Das methodistische Verständnis von Mission, die auch Laienprediger als Local-Preacher integrierte, war erfolgreich, insofern Methodisten auch ohne Auftrag und Weisung aktiv wurden. Ihre Tätigkeit wandte sich vorzugsweise an jene britischen Besucher Hamburgs, die nicht von der großen Welle des wirtschaftlichen Erfolgs getragen waren. Exkurs Die Kontinentalsperre konkret: George Bekenn von Liverpool

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Die napoleonische Kontinentalsperre hatte in Norddeutschland nachhaltige Auswirkungen. Ein Beispiel sind die Erfahrungen von George Bekenn. Er gehörte in Liverpool einer methodistischen Gemeinde an, die im Hafenviertel lag. Bekenn schrieb im Juni 1809 – vorsichtshalber ohne Ortsangabe – an seinen Gemeindepastor Reverend Thomas Wood. In seinem Brief berichtete er von Erfahrungen, die er mit einer regionalen Erweckung und der daraus resultierenden Bildung einer methodistischen Klasse in Dornumersiel an der ostfriesischen Nordseeküste gemacht hatte. Mit seinem Handelsschiff hatte er, vom damals englischen Helgoland kommend, trotz des französischen Verbots in dem kleinen Hafen festgemacht. Nachdem er einen Monat unter Ostfriesen gelebt und seinen Glauben bekannt hatte, führte sein Weg nach Bremen. Er schrieb, es sei geschäftlich gewesen, was keinesfalls auszuschließen ist. In dem Brief berichtet er über eine Abwesenheit von vier Monaten von dem unbedeutenden Hafenstädtchen Dornumersiel. Was machte George Bekenn während dieser Abwesenheit? Zweifellos besuchte er seinen Vater, Georg Ludwig Bekenn, der zu dieser Zeit Prediger der Bremer St. RembertiGemeinde war. Der Prediger heiratete nach dem Tod seiner ersten Frau eine Metta Gerdruth Rhode(n?), die vermutlich eine Engländerin war. Die Hochzeit fand am 13. Sept. 1809 statt. Ganz offensichtlich war George aus Liverpool im Zusammenhang der Vorbereitungen für die Wiederverheiratung des Vaters trotz der Seeblockade nach Deutschland gekommen. Das napoleonische Dekret vom November 1806 hatte nicht nur den Handel der unter fran9

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Leider sind die Angaben zu dieser ostfriesischen Episode bei Friedemann Burkhardt, Christoph Gottlob Müller und die Anfänge des Methodismus in [Süd-]Deutschland, Göttingen 2003, S. 376, zum Teil ungenau und weitgehend nicht belegt. Erst die zeitgeschichtlichen Umstände wirken erhellend. In dem kleinen ostfriesischen Küstenstädtchen hatte die Deutsche Christentumsgesellschaft 1788 eine Partikulargesellschaft gebildet, was ein Zeichen früher erwecklicher Frömmigkeit war. (Ernst Staehelin, Die Christentumsgesellschaft in der Zeit der Aufklärung und der beginnenden Erweckung, Basel 1970, S. 10 u. 333).

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Die erste methodistische Mission in Hamburg

zösischer Herrschaft stehenden Länder mit Großbritannien verboten, sondern auch alle Korrespondenz. Alle Briefe nach England, an einen Engländer oder in englischer Sprachen wurden nach dem Dekret konfisziert. So blieb, um notwendige familiäre Kontakte zu pflegen, vielleicht Eigentumsfragen oder Erbschaftsangelegenheiten zu regeln, der Besuch der Angehörigen als einzige Möglichkeit. Die Hafenakten von Dornumersiel geben keine Auskunft darüber, ob Bekenn unter englischer oder deutscher Flagge segelte. Die Schilderung seiner dramatischen Rückfahrt zeigt das riskante Unternehmen, auf das er sich eingelassen hatte. Er verließ den Hafen in Dornumersiel, segelte zur Insel Long Keg. Dort wurde er auf Kosten einer dänischen Familie drei Wochen zurückgehalten. Die Dänen scheinen die Küste ohne militärische Beauftragung mit einem Schiff unter Kontrolle gehalten zu haben. Als schließlich ein englisches Kanonenboot den Weg sicherte, wagte Bekenn, nach Helgoland zu segeln, das er nach einigen Stunden erreichte. Von dort konnte er nach Harwich weitersegeln, wozu er noch einmal 45 Stunden benötigte. Die Hamburger und Bremer Kaufleute hatten, um den Handel mit England nicht zum Erliegen kommen zu lassen, Geschäftsstellen auf Helgoland errichtet. Das erklärt die im Brief genannte Fahrtroute. Die Umstände bedürfen der weiteren Erforschung, auch die von dem Sohn des liberalen Bremer Pastors Georg Ludwig Bekenn in Dornumersiel ausgelöste Erweckung ist noch nicht erforscht. Später hat es in Liverpool eine Bibelklasse gegeben, an der auch Deutsche teilnahmen. Geleitet wurde sie von dem vormals in Hamburg als Judenmissionar aus Irland tätigen John O’Neill. Dieser erbat für die internationale Klasse in Liverpool unter dem 13. Juni 1832 von der British and Foreign Bible Society Bibeln für Deutsche, Engländer und Juden. Der Anglikaner O’Neill 10

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Handelte es sich vielleicht um „Langeoog“. Long Keg könnte ein Transkriptionsfehler von der Handschrift zur Drucksatz in England sein. Vielleicht war Long Key ursprünglich Long Ey als Übertragung von Langeoog? Brief G. B. (George Bekenn) an Reverend Thomas Wood, Liverpool, vom Juni 1809. In: Methodist Magazine 1810, S. 244. – Karl Heinz Wichers, Vorsitzender eines Heimatvereins in Dornumersiel, der dort ein Museum eingerichtet hat, weiß zu berichten, dass „Dat Nee Kapellen Hus“ in Dornumersiel früher im Besitz der Bischöflichen Methodistenkirche war. Später wurde es an die Evangelisch-lutherische Kirche verkauft, deren Gemeinde sich dort heute versammelt. Diese Information verdanke ich Pastor Rudolf Endler. Brief John O´Neill an die Britische und Ausländische Bibelgesellschaft, v. 13. Juni 1832. In Liverpool gab es 1825 bereits ein deutschsprachiges Liederbuch, damit „auf den Schiffen bei den Gottesdiensten der deutschen Seeleute davon Gebrauch gemacht werden möge.“

Methodisten in Hamburg: Ohne Haus und ohne Hirten (1826–1832)

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hatte in Hamburg innerhalb der englisch-reformierten Gemeinde um 1830 eine methodistische Klasse gebildet. 13

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Methodisten in Hamburg: Ohne Haus und ohne Hirten (1826–1832)

1817 wurde die Englisch-reformierte Gemeinde, oft einfach „die Independenten“ genannt, durch den Hamburger Senat anerkannt. Diese Gemeinde wurde ein Sammelbecken für alle, die einen Auftrag zur Mission in der Stadt Hamburg wahrnehmen wollten. Als die Reformierten 1826 ihre schmucke Kapelle am Johannisbollwerk einweihten, verbanden sie damit den Wunsch, eine Zentrale für die Erweckung und Evangelisierung Norddeutschlands zu sein. Es ist Ausdruck eines bestimmten Frömmigkeitstyps, dass eine Anzahl führender Mitglieder dieser Gemeinde, aber auch Gottesdienstbesucher anderer Denominationen zugleich in der Hamburg-Altonaischen Bibelgesellschaft aktiv waren und sich für die Verbreitung der Bibel engagierten. Gleichzeitig waren einige in der Niedersächsischen Gesellschaft zur Verbreitung christlicher Erbauungs-Schriften tätig. Den Jahresbericht dieser Traktat-Gesellschaft von 1825 haben die Engländer Philip Oakden und Samuel Jackson als „Secretaire“ unterzeichnet. Im Verzeichnis der Mitglieder ist ihr Landsmann Thomas Beckitt mit einer der höchsten Spenden aus Hamburg ausgewiesen. Aber auch Johann Gerhard Oncken, der während seiner vor-baptistischen Zeit dieser Gemeinde angehörte, und der englisch-reformierte Pastor Thomas Wright Mathews waren in der Liste der „Wohltäter“ zu finden. Alle gehörten zum aktiven Kern der Gemeinde und vertraten doch ganz unterschiedliche theologische Positionen: calvinistisch-reformierte, arminianischmethodistische und täuferische. In der Kapelle am Johannisbollwerk hatten alle ihre geistliche Heimat. Selbst der als Anglikaner für die Londoner Judenmissionsgesellschaft in Hamburg wirkende John O’Neill kam mit seiner Gruppe jüdischer Bibelstundenbesucher hier zusammen. Der gemeinsame Gottesdienst am Sonntagmorgen war gut besucht. O’Neill berichtete in einem 14

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Dieses Liederbuch ist in Liverpool gedruckt. Vgl.: W. Thun, Werden und Wachsen der Deutschen Seemannsmission, Bremen/Hamburg 1959, S. 14. Ludwig Rott, Die englischen Beziehungen der Erweckungsbewegung und die Anfänge des Wesleyanischen Methodismus in Deutschland, Frankfurt 1968, S. 147f. Es begegnen unterschiedliche Schreibweisen: Mathews und Matthews. Fünfter Jahres-Bericht der Niedersächsischen Gesellschaft zur Verbreitung christlicher Erbauungs-Schriften – 1825, Hamburg 1825, S. 16ff.

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Die erste methodistische Mission in Hamburg

seiner Briefe nach England, „daß etwa ¾ der Predigthörer in der Gemeinde am Johannisbollwerk Methodisten“ seien. Es scheint sogar einer der drei Ältesten in der Gemeinde, ein gewisser Clarkson, Methodist gewesen zu sein. 1826 schrieb einer aus der methodistischen Gruppe am Johannisbollwerk einen Brief an die Wesleyanische Methodistische Missionsgesellschaft in London. Es war Thomas Fuller, der als englischer Glasfabrikant in Hamburg angesiedelt war. Früher war er in Newcastle als Klassführer tätig. Jetzt äußerte er die Bitte, „daß für die in Hamburg ansässigen Engländer eine Methodistengemeinde gegründet werde.“ Ich bin, bemerkte er in seinem Brief, „schon oft von meinen Freunden gedrängt worden, an Sie wegen eines Missionars für diese Stadt zu schreiben.“ In seinem Brief klagte er über die maßlose Entheiligung des Sonntags. Mit dieser Ansicht stand er nicht allein. Vor ihm hatte Oncken schon ganz ähnliche Töne angeschlagen. Nach ihm sollte es der Anglikaner O`Neill sein, der diesen Zustand beklagte, und in dem später zu erwähnenden „Aufschrei aus Hamburg“ („Cry“) wird dieser Aspekt, der für das englische spirituelle Leben seit der Zeit der Puritaner von zentraler Bedeutung war, wieder auftauchen. Um diese Zeit war das Selbstverständnis der britischen Methodisten im Blick auf Kirche und Gemeinde aber noch nicht so weit entwickelt, dass sie mehr als eine „Society“ innerhalb der Anglikanischen Kirchengemeinschaft sein wollten, die mit anderen methodistischen Gruppen in „Connection“ – also in Verbindung – stand. So sprachen sie nicht über ihre „Kirche“, sondern benutzten für die Gesamtzahl der Gemeinden noch den Begriff der „Connection“. Methodisten in England ließen zu dieser Zeit zum Teil ihre Abendmahlsgottesdienste noch von anglikanischen Pfarrern halten. Von der Notwendigkeit einer eigenen Gemeinde für die in Hamburg lebenden Methodisten war man in der Londoner Missionsbehörde nicht überzeugt. So mussten sich die Hamburger Methodisten damit zufrieden geben, die Predigten eines reformierten Theologen mit der Prädestinationslehre zu hören. Wegen dieser Lehre hat John Wesley als Vertreter der „Freien Gnade“ sogar die Trennung von George Whitefield (1714–1770), 16

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Ludwig Rott, Die englischen Beziehungen der Erweckungsbewegung und die Anfänge des Wesleyanischen Methodismus in Deutschland, Frankfurt 1968, S.140. Ebd., S. 138f. Ebd., S. 138. Burkhardt, Müller, S. 120–122 Wesley-Predigten, Hg. J. W. Ernst Sommer u. a., Frankfurt/Main 1950, S. 27–42. BBKL, Bd. 13 (1998), Sp. 1011–1020.

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dem Mitbegründer des Methodismus und Führer seines calvinistischen Flügels, in Kauf genommen. Der noch junge reformierte Prediger Mathews muss gespürt haben, dass „seine Methodisten“ mehr wollten, als er ihnen bieten konnte. So war der reformierte Theologe damit einverstanden, dass der in seinem Wirkungskreis durch den Senat eingeschränkte anglikanische Judenmissionar John O’Neill innerhalb der reformierten Gemeinde die Methodisten sammelte. Noch als er nach Hamburg kam, vertrat O’Neill die üblichen, unter vielen Anglikanern vertretenen Vorurteile. Aber als er die englischen Methodisten in Hamburg kennen lernte, änderte er seine Meinung. Er las John Wesleys Lehrpredigten , dessen Notes upon the New Testament, einige Werke des einflussreichen Methodisten John William Fletcher (1729–1785) und die Kommentare des methodistischen Theologen Adam Clarke (1760/62–1832). Zu seiner eigenen Überraschung fand er darin jene Lehren, die er in den letzten Jahren selber gepredigt hatte. Nun sammelte O’Neill die Methodisten am Johannisbollwerk zunächst zu einer Missionsgebetsstunde. Die gesammelten Gelder schickte er an die Wesleyanische Missionsgesellschaft nach London. Im Frühjahr 1829 kam es unter seiner Leitung zur Bildung von Klassen, dem typischen Strukturelement im Frühstadium des Entstehens methodistischer Gemeinden. Die gute Entwicklung der Klassen mag dazu beigetragen haben, dass es in der reformierten Gemeinde zu tiefgreifenden theologischen Spannungen kam. Sie führten schließlich zur Entlassung von Pastor Mathews, weil er eine theologische Wandlung von einem strengen Calvinisten zu einem Allversöhner durchgemacht hatte. Er war jetzt also ein Vertreter jener Richtung, die die Erlösung aller Menschen am Ende der Zeiten verkündigte. Das war eine Lehre, die im wesleyanischen Methodismus keinen Raum hatte. 1831 kehrte O’Neill nach England zurück. Seiner anglikanischen Kirche war er fremd geworden, auch weil die Bischöfe seine Ordination ablehnten. Was aus den methodistischen Klassen in Hamburg geworden ist, wissen wir nicht. 22

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Benedikt Peters, George Whitefield. Der Erwecker Englands und Amerikas, Bielefeld 1997. Zuletzt publiziert: John Wesley. Die 53 Lehrpredigten. Hg. v. Karsten W. Mohr mit einem Arbeitsausschuss, 2 Bände, Stuttgart 1986. BBKL Bd.19 (2001), Sp. 395–410. BBKL, Bd. 16 (1999), Sp. 268–276.

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Die erste methodistische Mission in Hamburg

Erste diakonische Organisation: „Port of Hamburg Sailor’s Society”

Im März 1839 kam Reverend Richard Knight von London nach Hamburg. Er war Prediger der Wesleyan Methodist Association. Diese hatte 1835 ihre Verbindungen mit der von John Wesleys Konferenz gebildeten Connection aufgegeben und sich 1837 eine eigene Verfassung gegeben. Darin kam ein Protest gegen die autoritäre Handlungsweise der „Mutterkirche“ zum Ausdruck. Die neu entstandene Gemeinschaft wandte sich dem Prinzip der autonomen Ortsgemeinden zu und veränderte entsprechend die bisherige Form der Konferenz in eine für Independentisten typische Assembly, die eine für die Ortsgemeinden weitgehend unverbindliche „Versammlung“ ist. Knight ließ sich durch die British and Foreign Sailor’s Society senden. Sie war 1818 gegründet worden, um anfangs in englischen Häfen Seeleute, darunter auch deutsche, zu betreuen. Später dehnte sie ihre Tätigkeit auch in andere Länder aus. Als Knight in Hamburg ankam, hatte er ein Empfehlungsschreiben des Außenministers Lord Palmerston (1784–1865) in der Tasche. Es kamen verschiedene Motive für seine Entsendung zusammen. Kirchlich: die Sorge um das Heil der Seeleute; ökonomisch: ein reibungsloser Ablauf des Schiffsverkehrs mit möglichst kurzen Liegezeiten im Hafen; national: die Vermittlung eines positiven Bildes über Großbritannien und die Briten in Hamburg. Daran hatten auch die Regierungen von England und Hamburg Interesse. Darum wurde schon 1827 ein Handelsvertrag zwischen Großbritannien und den Hansestädten Hamburg, Bremen und Lübeck geschlossen. Er verfolgte vorwiegend ökonomische Interessen und sollte vor allem den Kaufleuten, Handelsvertre26

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Friedemann Burkhardt, Christoph Gottlob Müller und die Anfänge des Methodismus in [Süd-]Deutschland, Göttingen 2003, S. 377 formuliert: Nach der Rückkehr O´Neills nach England 1831 “bestand die methodistische Gemeinschaft weiter und erhielt 1839 mit Rev. Knight einen methodistischen Prediger der Wesleyan Methodist Association als Leiter.“ Es ist nicht erwiesen und eher unwahrscheinlich, dass die von O´Neill gebildeten Klassen sich zu einer „methodistischen Gemeinschaft“ weiterentwickelten. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass der nun geschickte Reverend Knight nicht als „Leiter“ dieser Gemeinschaft kam, wenn es sie je gegeben haben sollte. Er wurde doch von der Wesleyan Methodist Association, einer damals autonomen methodistischen Kirche mit kongregationalistischen Prinzipien, gesandt, die von der Wesleyanischen Gemeinschaft abgelehnt wurden. Außerdem ist nicht zu übersehen, dass die Sendung durch die „British and Foreign Sailors Society“ erfolgte. Man kann daraus schließen, dass bei Knights Sendung eher die englischen Seeleute im Hafen als die Bildung einer Gemeinde für die Arbeit bestimmend war. John Kent, Wesleyan Methodist Association. In: Encyclopedia of World Methodism. Hg. v. Nolan B. Harmon, Nashville 1974, Vol. II, S. 2527.

Erste diakonische Organisation: „Port of Hamburg Sailor’s Society”

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tungen und vornehmen Bewohnern in der Fremde Schutz und Sicherheit bieten. Für die einfachen Seeleute und die rabiaten Kneipenbesitzer auf St. Pauli hatte er weniger Bedeutung. St. Pauli übte in verschiedener Hinsicht einen verderblichen Einfluss auf die Seeleute aus. Es kam vor, dass die neu beladenen Schiffe erst mit erheblicher Verzögerung, manchmal bis zu fünf Tagen, auslaufen konnten. Teile der Mannschaft, manchmal sogar dieser und jener Kapitän, hatten sich maßlos betrunken. Eine Konsequenz war, dass Reverend Knight noch 1839 eine Port of Hamburg Sailor’s Society gründete. Mitglieder waren überwiegend Briten, die in Hamburg lebten. Und von ihnen gab es wegen der lukrativen Handelsbeziehungen genug. Auch Kapitäne, die Hamburg immer wieder anliefen, wurden Mitglieder in dieser Gesellschaft. Zu ihren Aufgaben zählte die Predigt des Evangeliums an Bord der Schiffe und am Ufer. In der Nähe des Hafens sollte unverzüglich eine Bibliothek zum freien Gebrauch für Seeleute, deren Schiffe im Hafen lagen, aufgebaut werden. Wenn genügend Mittel bereitstünden, sollte damit ein Leseraum verbunden werden. In Bremerhaven hatte es eine ähnliche Einrichtung gegeben. „Strangers Rest“ (Seemannsruh) war ein Ort, der nicht nur eine Bibliothek bereithielt, sondern es gab auch unentgeltlich Papier und Tinte, um dort Briefe schreiben zu können, und es lagen Neue Testamente in zehn Sprachen aus. Eine ähnliche diakonische Zentrale wollte Knight in Hamburg 1839 einrichten. Dort sollten auch religiöse Schriften und Traktate, die auf die Gefahr des Alkoholkonsums hinweisen, verteilt werden. Damit war ein besonderes Problem angesprochen. Briten haben in Hamburg nicht nur die Eisenbahn gebaut, die Wasserversorgung organisiert, die Reinigung des Elbwassers zu Trinkwasser mit Hilfe einer Dampfmaschine in der Elbwasserkunst fertiggebracht, eine öffentliche Wasch- und Badeanstalt eingerichtet und Kirchen gebaut. Es gab auch dunkle Kapitel. Die englischen Gastwirte waren nicht die Schlimmsten. Es hat den Anschein, als entwickelte sich Frauenhandel und Prostitution zu einem hamburgischenglischen Geschäft. Bei den englischen Bordellbesitzern wurde ihr „an sich schändliches und verwerfliches Gewerbe nur geduldet, nicht aber erlaubt, oder gar autorisiert oder gutgeheißen,“ so stand es in den 1834 vom Hamburger Senat erlassenen „Vorschriften, die Bordelle und öffentlichen Mädchen betreffend“. Dieses Thema gehörte nicht zum schönen Hamburg-Bild, 28

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Margarete und Hermann Jelten, eine Freikirche in der „freiesten Stadt“. Werden – Wachsen – Wirken der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Bremerhaven, Bremerhaven 1982, S. 157–166 [157]. Das Haus der englisch-baptistischen Seemannsmission bestand seit 1880. Der Bericht ist aus dem Jahr 1884. Zit. n. Anne D. Petersen, Die Engländer in Hamburg. 1814-1914, Hamburg 1993, S. 143.

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Die erste methodistische Mission in Hamburg

wie es sich jede städtische Pressestelle wünscht. Dass aber dieses schändliche Bild durch die Port of Hamburg Sailors’s Society in England öffentlich verbreitet wurde, erregte im Senat Ärger, und Knight bekam das zu spüren, wie später noch auszuführen ist. Zunächst ist festzuhalten, dass die methodistische Initiative die Anregung auslöste, auch in Hamburg eine Seemannsmission einzurichten. Im Bergedorfer Boten erschien ein Artikel unter der Überschrift „Hamburg merks dir!“ Darin wurde auf die methodistische Initiative im Hamburger Hafen hingewiesen und damit der Wunsch verbunden, vor der napoleonischen Zeit bereits praktizierte Schiffsgottesdienste wieder aufzunehmen. Ein A. W. Gehrckens und seine Frau gaben durch ein Legat den Anstoß. Sie wollten, dass für „diese armen und dem Tode so oft ausgesetzten und so oft in Versuchung geführten Menschen“ in Hamburg etwas getan wurde. 30

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Die zweite sozial-diakonische Initiative: Eine Sonntagsschule in St. Pauli 31

Durch die erste Sonntagsschule, die Caspar Voght nach seiner Rückkehr aus England in Hamburg angeregt hatte und die im Waisenhaus gehalten wurde, sowie durch die für die spätere Geschichte der Sonntagsschule weit bedeutendere Gründung von Johann Gerhard Oncken und Pastor Johann Wilhelm Rautenberg (1791–1865) im Jahr 1825 in der Vorstadt St. Georg, war dem Hamburger Senat das Projekt Sonntagsschule vertraut. Der englische Typ der Sonntagsschule war eine sozial-diakonische Unternehmung. Kinder, die in der Woche arbeiten mussten, sollten am Sonntag in Verbindung mit biblischer Unterweisung einfaches Buchstabieren, Lesen und Schreiben lernen. Durch elementare Kenntnisse sollte eine Grundlage zur Verbesserung ihrer Lebensperspektiven geschaffen werden. Über die inhaltliche Tätigkeit einer von Reverend Knight gegründeten Sonntagsschule wissen 32

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W. Thun, Werden und Wachsen der Evangelischen Seemannsmission, Bremen/Hamburg 1959, S. 12. Es ist nicht sicher, ob die Sonntagsschulen von Richard Knight und William H. Walcker auch schon in „Helbings Speicher“ stattfanden, der später als Ort ausdrücklich genannt wird. 1857 heißt es in einem polizeilichen Untersuchungsbericht, man sei „früher bei Hellwig in S. Pauli“ gewesen. Es scheint hier oder da ein Schreib- oder Übertragungsfehler vorzuliegen. Karl Heinz Voigt, Internationale Sonntagsschule und deutscher Kindergottesdienst. Von den Anfängen bis zum Ende des Deutschen Kaiserreichs, KKR Bd. 52, Göttingen 2007, S. 17–42.

Die zweite sozial-diakonische Initiative: Eine Sonntagsschule in St. Pauli

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wir bisher wenig. Aber es spricht nichts dagegen, dass er sie in dieser englischen Tradition hielt. Ein Hinweis auf eine solche „Schule am Sonntag“ war der Einspruch des Polizeiherrn und Patrons des Kirchspiels St. Pauli, des späteren Bürgermeisters Johann Ludwig Dammert. Er wandte sich gegen die Sonntagsschule, weil Knight „keine Concession als Schullehrer“ vorweisen konnte. In fast allen frühen Sonntagsschulberichten tauchen hinsichtlich der Teilnehmer zwei Begriffe auf: es sollten verwahrloste Kinder sein, die arm waren und der Hilfe bedurften. Es ist heute kaum vorstellbar, dass aus der armen Bevölkerung Hamburgs Kinder nicht in die kostenlose Sonntagsschule in St. Georg kommen konnten, „weil sie keine Kleider hatten, ihre Blöße ausreichend zu decken, um ohne Anstoß durch die Straßen zu gehen.“ Damit manchen Kindern der Besuch der Sonntagsschule ermöglicht wurde, wurde in St. Georg erst ein „Verein zur Bekleidung armer Sonntagsschüler“ gegründet. Kurz vor dem Eintreffen des Engländers Knight hat Johann Hinrich Wichern aus seinen Erfahrungen in der St.-Georg-Sonntagsschule heraus die Initiative zur Gründung einer Rettungsanstalt für verwahrloste (sic!) Kinder ergriffen. Als er von seinen Besuchen in anderen deutschen Städten in solchen Rettungshäusern berichtete, schrieb er: „Das schrecklichste Bild der Welt tritt uns in diesen Anstalten entgegen; sie nehmen allein zu, in dem sie ihre Arme immer weiter ausbreiten, um Lügner, Diebe, Betrüger, Bettler, Ehrlose, Unzüchtige und Vagabunden, ja sogar Mordbrenner, um Herzen voll Tücke, Heuchelei, Bosheit und Laster aller Art – um diese alle in sich aufzunehmen und zu dem Fürsten des Lebens zu bekehren. Was für ein Geschlecht! Und alle diese in dem Alter von 6 bis 16 oder 17 Jahren.“ Die Situation in Hamburg, wo es bis dahin keine solche Einrichtungen gab, beklagte er aufgrund seiner Erfahrungen der Besuche im sog. Gängeviertel in Verbindung mit der St. Georg-Sonntagsschule und schrieb: „sollen auch die Kinder untergehen und mit ihnen die Kraft und das Wohl unseres Volkes, mit ihnen Glaube, das ehrbare, züchtige Wesen und der fromme Sinn immer weiter verlöschen? Was 33

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Senatsprotokoll (Hamburg), v. 23. Okt. 1839. Zit. n. Ludwig Rott, Die englischen Beziehungen der Erweckungsbewegung und die Anfänge des Wesleyanischen Methodismus in Deutschland, Frankfurt 1968, S. 154. Johann W. Rautenberg, Bericht über die Sonntagsschule zu St. Georg, dem hamburgischen Sonntagsschulverein in der dritten Jahresversammlung desselben am 11. März 1828, Hamburg 1828, S. 11. Zit. n. Kurt Jägemann, Die Gründung der Sonntagsschule in der Hamburger Vorstadt St. Georg 1825, Hamburg 2000, S. 37. J. H. Wichern, Rettungsanstalten für verwahrloste Kinder (1833). In: SW, hg. v. Peter Meinhold, Bd. IV/Teil 1, Berlin 1958, S. 47–95 [48].

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Die erste methodistische Mission in Hamburg

ist’s für ein Zeichen, dass, während früher die Fälle von verbrecherischen Knaben in Hamburg zu den seltenen gehörten, seit 5 Jahren in unserer lieben Vaterstadt eine eigene Strafschule notwendig geworden ist, in welche innerhalb von 5 Jahren 180 Kinder wegen Dieberei, Umhertreiben usw. haben versetzt werden müssen.“ Wichern beschrieb die Situation, in die hinein der englische Seemannsmissionar Knight in der ohnehin auf niedrigem moralischen Niveau lebenden Vorstadt St. Pauli eine Sonntagsschule gründete. Es waren die Ärmsten der Armen, derer sich Knight annehmen wollte. Um nach seiner Ankunft in Hamburg alle Formalitäten nach hamburgischen Gesetzen zu regeln, war ihm der Brief des Außenministers eine enorme Hilfe. Dieses Schreiben verpflichtete nämlich zunächst den Geschäftsträger der britischen Regierung in Hamburg, Henry Canning, sich schützend und unterstützend zu Knight zu stellen. Dass er das tat, war keineswegs selbstverständlich. Er hatte eine tiefe Abneigung gegen alle, die nicht seiner Anglikanischen Staatskirche angehörten. Noch 1834 hatte er sich gegenüber dem Vertreter des Hamburger Senats bei der Londoner Regierung Colquhoun über „Sektierer“ und „Religionisten“ beklagt, die ihm viel Mühe gemacht hätten. Colquhoun war in der Wahl seiner Bilder nicht zimperlicher. Er verglich die englischen Reformierten in Hamburg gegenüber dem Senat sogar mit einem betrunkenen Jokey. Man kann sich vorstellen, mit welchen Gefühlen Konsul Canning seine methodistischen Landsleute in Hamburg vertreten hat. Nach Knights Eintreffen im März 1839 suchte der Konsul den Hamburger „Innenminister“ Senator Martin Hieronymus Hudtwalcker auf, um das Empfehlungsschreiben Lord Palmerstons vorzulegen und einen Besuch des Predigers Richard Knight bei ihm anzukündigen. Der britische Außenminister hatte in seinem Brief die Aufgabe des methodistischen Predigers beschrieben, die darin bestehen sollte, „den britischen Bürgern in Hamburg religiöse Unterweisung zu erteilen.“ Knight war daraufhin beim Innensenator und hat ihm seine Vorstellungen von der geplanten Arbeit erläutert. Er hatte offen36

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Ebd., S. 94. Henry Canning, in Hamburg von 1821–1841. Zunächst als Generalkonsul, ab 1836 nur als diplomatischer Geschäftsträger. Heinrich Hitzigrath, Die Kompagnie der Merchant Adventures und die englische Kirchengemeinde in Hamburg 1611–1835, Hamburg 1904, S. 87. Canning in einer Note als britischer Geschäftsträger v. 19. November 1839 an Senator Dr. Karl Sieveking. Zit. n. Ludwig Rott, Die englischen Beziehungen der Erweckungsbewegung und die Anfänge des Wesleyanischen Methodismus in Deutschland, Frankfurt 1968, S. 156.

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sichtlich keinen Widerspruch gehört und begann seine Tätigkeit. Den ganzen Sommer hindurch predigte er auf Schiffen und an Land, „frei und öffentlich und unter den Augen der Polizei, ohne irgendwelche Behinderung oder Störung.“ Plötzlich trat eine Veränderung ein. Der Polizeiherr von St. Pauli, Dr. Dammert, berichtete am 23. Oktober 1839 im Senat „über den in St. Pauli domizilierenden vom Wesley’schen Methodisten Vereine hergesandten Prediger Knight, der unter großem Zulauf am Sonntag Schule und Kirche halte und ein gemietetes Lokal Anfang künftigen Monats einzuweihen beabsichtige.“ Dammert hatte, weil Knight den Unterricht und die Predigt nicht nur für Engländer, sondern auch für Hamburger halte, ihm diese Aktivitäten unter Androhung der Schließung des Predigtsaals verboten. Am Sonntag, dem 27. Oktober, wurde der Saal – vermutlich die Räume der Seemannsmission – tatsächlich geschlossen, weil eine große Anzahl Kinder aus der Vorstadt dort versammelt war. Bevor eine Antwort auf die Frage gesucht wird, wie die Methodisten darauf reagiert haben, liegt es nahe zu klären, durch welchen Umstand der Umschwung im Denken der Verantwortlichen ausgelöst wurde. 40

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6.

Englische Methodisten und die sozialen Probleme

Die Port of Hamburg Sailor’s Society hatte im September 1839 eine Werbeschrift unter dem Titel „A Cry of Hamburg“ drucken lassen, um auch in England für die eigene Sache zu werben und die Dringlichkeit finanzieller Unterstützung aufzuzeigen. Darin beschrieben die Autoren die schockierenden Zustände auf St. Pauli: Die offiziell geduldete gewerbliche Prostitution, die schamlose Darbietung der Prostituierten, die Unzucht und Ausschweifung bei Alkohol und Tanz. Das alles müsse auf englische Matrosen so schockierend wirken, dass sie schleunigst diesen Ort mit Abscheu verlassen. Aber es gebe auch andere Erfahrungen mit Seeleuten, die das Gegenteil beweisen. Als die politisch Verantwortlichen in Hamburg von dieser Werbeschrift hörten, waren sie schockiert. Der für St. Pauli zuständige Polizeiherr Dr. 40 41

Ebd., S. 153f. Ludwig Rott gab dafür verschiedene Gründe an, aber schenkte einem ausdrücklichen Hinweis auf den „Cry“ im Schreiben Dammerts keine Aufmerksamkeit (Dammert in einer Note an den Senat v. 30. Okt. 1839. Erwähnt bei: Ludwig Rott, Die englischen Beziehungen der Erweckungsbewegung und die Anfänge des Wesleyanischen Methodismus in Deutschland, Frankfurt 1968, S. 155.)

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Die erste methodistische Mission in Hamburg

Dammert schrieb am 30. Oktober 1839 im Zusammenhang mit der Schließung des Saals der Methodisten auf St. Pauli: „Gegen uns ganz fremde Personen, die eigenmächtig und unter Hintansetzung unserer Gesetze eine fremde Kirche und Schule hier gründen, die sich ungeachtet aller Warnungen und obrigkeitlichen Verfügungen nicht entblöden, unser Publikum hinzuzuziehen und sich solchergestalt unseren Verfassungen und unserer obrigkeitlichen Autorität förmlich Hohn sprechen, wie sie denn auch in ihrem „Cry“, welcher Ihnen bekannt sein wird, Hamburg als Thron des Lasters in der Welt darstellen, gegen solche Personen, sage ich, wird jeder Staat verfahren und zwar mit noch weniger Kompliment, als ich gemacht habe, und kein anderer Staat wird sich dadurch beeinträchtigt oder verletzt fühlen können.“42

Der „Cry from Hamburg“ hatte zu einem „Aufschrei in Hamburg“ geführt und die Haltung des Senats nicht günstig beeinflusst. Der von dem Methodisten Knight gemietete Saal wurde – wenigstens vorübergehend – durch die Polizei geschlossen. An zwei Sonntagen im November 1839 hatten einige Rowdies die Fenster des Betsaales eingeworfen. Außerdem hatten angesehene Bürger und Grundbesitzer der Vorstadt St. Pauli eine gemeinsame Eingabe formuliert und unterzeichnet. Es stellt sich die Frage: Wie kamen die bisher passiven ehrenwerten Bürger von St. Pauli dazu, plötzlich aktiv zu werden, und waren die Kinder vielleicht angestachelt, Steine in die Scheiben des Betsaals zu werfen? Ging vielleicht alles von dem gleichen Personenkreis aus, und war jener „Cry“, der auch die Nachbarn verletzt haben konnte, der Anlass? Die eingeworfenen Fensterscheiben im methodistischen Betsaal, der – wie erwähnt – vermutlich gleichzeitig als Raum für die Seemannsmission der Port of Hamburg Sailor’s Society genutzt wurde, waren für die Polizei eine willkommene Veranlassung zum Eingreifen. Immer wenn es um die Frage von Ruhe und Ordnung ging, war der Senat sensibel. Dafür gibt es eine ganze Reihe Beispiele. Wegen des offiziell geschlossenen Saals von Reverend Knight setzte nun eine ungeheure diplomatische Aktivität ein. In knapp vier Wochen wurden fünf diplomatische Noten gewechselt. Den Gipfel der Vorwürfe an den Hamburger Senat bildete die Feststellung des offensichtlich in seiner nationalen Ehre gekränkten englischen Geschäftsträgers Canning, die Schließung des methodistischen Versammlungsraumes für Gottesdienst und Sonntagsschule

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Ebd.

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komme einem böswilligen Akt gegen die britische Regierung gleich. Immerhin hatte deren Außenminister sich für die Aktivität Knights eingesetzt. Nach dem schnellen Austausch von Noten zwischen dem britischen Geschäftsträger und dem Senat hatte letzterer die Sache am 22. November 1839 beenden wollen. Es wurde „Beschlossen: dem Knight das Predigen vor englischen Matrosen in englischer Sprache und auf englischen Schiffen im hiesigen Hafen, sowie das Aufziehen des zu diesem Behufe üblichen BethelSignals , bis auf weiteres zu gestatten.“ Gleichzeitig wandte sich der Senat an die Hamburger Vertretung bei der britischen Regierung in London, um dort direkt Erkundigungen über die Einschätzung der Situation im politischen Bereich einzuziehen und zu einer eigenen Bewertung zu kommen. Der für Hamburg in London tätige diplomatische Agent Colquhoun kam zu dem Ergebnis, dass die Methodisten im Parlament eine einflussreiche Gruppe, die größte der Dissenter, seien. Die augenblickliche Regierung sei auf deren Unterstützung angewiesen, was den Druck auf den von ihm vertretenen Senat erklären könne. In Hamburg waren die Methodisten keineswegs mit dem Beschluss des Senats zufrieden. Es kam am 4. Januar 1840 zu einem neuen Antrag. Auf Anordnung des britischen Außenministers legte dessen Hamburger Vertreter Canning dem international erfahrenen Diplomaten und Syndikus Dr. Karl Sieveking (1787–1847) das Gesuch vor, „Herrn Knight die Eröffnung seiner Kapelle an Land zu gestatten.“ Sieveking ließ den in Hamburg tätigen Vertreter der englischen Regierung wissen, dass seine Bemühungen keinen Erfolg haben werden. Dazu sei es notwendig, dass das Gesuch von zahlreichen Personen unterstützt werde. Danach schwieg der Senat. Aber nicht der britische Geschäftsträger Canning. Er mahnte zweimal eine offizielle Antwort an, denn vierundfünfzig in Hamburg lebende englische Methodisten hatten danach ein solches Gesuch unterzeichnet. Sie wollten erreichen, dass Reverend Knight eine Erlaubnis bekam, als Vertreter der Wesleyan Methodist Association 43

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Auch J. G. Oncken hatte eine Bethel-Flagge, die bei seinen Schiffsgottesdiensten mangels eines Glockengeläuts aufgezogen wurde. Es handelte sich um eine Fahne mit blauem Untergrund, die mit den Symbolen „Taube mit Ölzweig“ in Erinnerung an die Arche Noahs und dem gelben „Stern“, das Zeichen der Wegweisung für die Heiligen drei Könige, versehen war. Ob die Methodisten die gleiche Flagge benutzten, konnte nicht ermittelt werden. Anzumerken ist, dass in den frühen ostfriesischen Gemeinden (Neuschoo), wenn der Prediger (bekannt von Franz Klüsner) auf dem Rücken des Pferdes oder in einer Kutsche sein Ziel erreicht hatte, ebenfalls eine „Bethel-Flagge“ zum Zeichen einer Einladung zum Gottesdienst aufgezogen wurde. Ludwig Rott, Die englischen Beziehungen der Erweckungsbewegung und die Anfänge des Wesleyanischen Methodismus in Deutschland, Frankfurt 1968, S. 159.

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und der englischen Seemannsmission eine Kapelle zu eröffnen, um dort regelmäßig Gottesdienste zu halten. Endlich am 10. April 1840 hoffte der Senat eine Lösung für seine Entscheidungen gefunden zu haben. Er berief sich auf Rechtspositionen von 1785 und 1814, durch welche die Ausübung eines Gottesdienstes außer den in Hamburg zur lutherischen Kirche gehörenden Bürgern lediglich den Calvinisten, also den Reformierten, den Katholiken und den Mennoniten zugesichert sei. Den Anglikanern sei aufgrund früherer Rechte zugestanden, ihre Gottesdienste zu halten. Jede neue Genehmigung setze einen Beschluss des Gesetzgebers voraus und der sei nicht möglich, solange nicht eine größere Anzahl von Anhängern die Gewähr für die Unterhaltung eines „kirchlichen Etablissements“ und die Aufbringung der weiteren Kosten sicherstelle. Das war die offizielle Version. Die staatlichen Akten in Hamburg schweigen jetzt für reichlich fünf Jahre. Eine Bemerkungen von Anne D. Petersen ist hier für die Beurteilung der Erfahrungen des englischen Methodisten Knight einzufügen: Sie schrieb in ihrer gründlichen Studie über die Engländer in Hamburg: 45

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„Betrachtet man die Politik der Hamburger Regierung gegenüber fremden Religionsgruppen […] in der Stadt, so läßt sich feststellen, dass es bei Konzessionsvergaben immer großen Widerstand seitens der Geistlichen wie der Bürgerschaft gegeben hat. Allein die Aussicht auf wachsende wirtschaftliche Prosperität, die man sich durch den Zuzug der Andersdenkenden erhoffte, veranlasste den Senat, auf eine Abkehr von der lutherischen Orthodoxie zu drängen. Da die Aktivitäten des Reverend Knight aber nicht dazu angetan waren, den materiellen Wohlstand der Stadt zu mehren, er im Gegenteil die Aufmerksamkeit auf soziale Missstände lenkte, die die Regierung lieber ignorierte, gab es keinerlei Veranlassung, seine Tätigkeit zu tolerieren.“47

Im Blick auf den Methodisten Knight lassen sich bisher keine Aktivitäten aus dem Bereich der Kirche in Hamburg feststellen. Aber in jeder überschaubaren Stadt gab es viele informelle Kontakte, die schwer fassbar sind. Die englischen Methodistenprediger Knight und seine Nachfolger hatten für Unruhe gesorgt. Sie waren nicht von der Art, wie die ehrenwerten Kauf45

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Hier wurde angespielt auf die 1611 den Engländern vertraglich zugesicherte Religionsfreiheit, die in Verbindung mit anderen Privilegien aus ökonomischem Interesse den Mitgliedern der englischen Company of Merchant Adventures neben einer Bevorzugung im Zollund Handelswesen, wie in Zivil- und Strafrechtlichen Angelegenheiten. Vgl.: Petersen, Engländer in Hamburg, S. 21–23. Die kirchlichen und die staatlichen Quellen in England sind noch einzusehen. Anne D. Petersen, Die Engländer in Hamburg. 1814-1914, Hamburg 1993, S. 87.

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leute und ihre Handelsvertreter, die Kapitäne und die Reeder, die Fabrikanten und die Städteplaner. Ihre Dienste galten denen, die sonst nicht das Bild der sog. „Engländerei“ in Hamburg bestimmten, nämlich einflusslosen Seeleuten und Kindern, die keine Schule besuchten. Dadurch war ihnen das schwierige soziale Umfeld nicht fremd. Einige angesehene Bürger der Vorstadt St. Pauli hatten trotz der fliegenden Steine und der Belästigungen, deren sie sich ausgesetzt fühlten, einen gewissen Respekt. In einem Schreiben anerkannten sie des „Missionars Grundsätze […], Gott mehr zu gehorchen als den Menschen und niemanden von seinen Gottesdiensten und seiner Schule auszuschließen.“ Sie bemerkten ausdrücklich, dieses seien „Grundsätze, die an sich gut und löblich sind“. Aber auf Hamburg angewandt empfanden sie, dieser Grundsatz wolle soviel sagen, als „er könne unsere Gesetze mit Füßen treten und den Anordnungen der hiesigen Behörden sich widersetzen.“ Und das führte dann doch zu weit. Es galt das berühmte Wort „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ eben nicht nur für preußische Untertanen. Auch stolze Hanseaten erwarteten es von denen, die Boten einer aufgeklärten, neuen Zeit waren und die Religionsfreiheit zu ihrer rechtlichen Basis machen wollten. Der an die Methodisten gerichteten Untertanen-Erwartung zum Trotz brachten polizeiliche Nachforschungen von 1845 jedoch etwas Überraschendes ans Tageslicht. In „Helbings Speicher“ wurden Gottesdienste morgens und abends gehalten. Daran nahmen größtenteils Matrosen von englischen Schiffen teil. Anstelle von Glocken flatterte, wie der Senat es 1840 für die Gottesdienste auf den Schiffen erlaubt hatte, die „Bethel-Flagge“ auf dem Dach des Hauses. Nun wagten sich die Methodisten wieder an die politische Öffentlichkeit und baten, den Katholiken und den Reformierten gleichgestellt zu werden. Sie verfolgten jetzt das Ziel, eine eigene Kapelle zu erbauen. Seit sechs Jahren – also seit den Anfängen der Arbeit von Reverend Knight – seien sie in der Vorstadt St. Pauli tätig, wo sie in Helbings Speicher ein Lokal gemietet hatten. Es seien jetzt siebzig in Hamburg ansässige Gemeindeglieder, sicher fast nur Engländer, die dieses Begehren unterstützen. Die Finanzen werden von ihnen und der sie unterstützenden Heimatkirche aufgebracht. Reverend Knight war inzwischen nach London zurückgekehrt. An seiner Stelle war jetzt Reverend William Henry Walcker aus Liverpool tätig, der ebenfalls der Wesleyan Methodist Association angehörte. Weder das Ziel der 48

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Zit. n. nach einem Brief angesehener Bürger der Vorstadt St. Pauli innerhalb einer Note des Hamburger Senats an Konsul Canning v. 22. November 1839, bei: Ludwig Rott, Die englischen Beziehungen der Erweckungsbewegung und die Anfänge des Wesleyanischen Methodismus in Deutschland, Frankfurt 1968, S. 158.

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Die erste methodistische Mission in Hamburg

Gleichstellung mit anderen geduldeten nichtlutherischen Konfessionen noch der Bau einer Kapelle wurde erreicht. Dazu hat auch die engagierte Bemühung des englischen Konsuls Colonel George Lloyd Hodges nichts beitragen können. Selbst das von ihm im Oktober 1841 unterstützte Gesuch, Gottesdienste „für Engl. Unterthanen u. Seeleute in einem Zimmer in der Holland. Reihe“ halten zu dürfen, führte nicht zum Erfolg. Endlich am 25. Februar 1846 erreichte er mit einer erneuten Eingabe, dass man die Sache auf sich beruhen lassen werde, soweit keine neuen Probleme auftauchen und sie durch den Vorstadt-Patron ignoriert werden und ohne Anzeige bleiben. Die Akten zeigen also, dass der Senat zu einer stillschweigenden Duldung bereit war. Auf Reverend Walcker folgte der Engländer Rev. Middleton, der schließlich die Brücke zu den von Bremen aus kommenden bischöflichen Methodisten baute. 49

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Mission in Zeiten des Umbruchs – Theologische Erwägungen

Dass Methodisten im 19. Jahrhundert Missionare nach Deutschland sandten, entsprang ihrem theologischen Selbstverständnis als Kirche und war bestätigt durch ihre Erfahrungen auch unter deutschen Einwanderern in Amerika. Es ist verständlich, dass die traditionellen Kirchen in Deutschland diese Mission als eine Kränkung empfanden. Nach deren Selbstverständnis brachen die Methodisten als Proselytenmacher in ihr wohlgeordnetes Kirchenwesen ein. Sie waren Eindringlinge, die lieber in katholische Länder gehen sollten. Wer jedoch von der Sorge um das Heil jedes Menschen bestimmt ist, der sah das alles anders. Damit war der Konflikt vorprogrammiert, in dem Konfessionskirchen und die methodistische Denominationen sich begegneten. Dieser Konflikt flackerte in der Großstadt Hamburg im Vergleich zu anderen Regionen nur gelegentlich auf. Schon das ist ein typisches Großstadtphänomen, denn in konfessionell bestimmten Dörfern und Kleinstädten führten Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen kirchlichen Selbstverständnissen nicht selten zu heftigen Spannungen, die ein typisches Zeichen des Umbruchs waren. 49 50 51

Hodges war in Hamburg von 1841–1860 tätig. STAHH, Patronatsakten St. Pauli (N: 2090). Ludwig S. Jacoby an Wilhelm Nast, Correspondenz aus Deutschland, Bremen, 13. September 1850. In: CA 13. Jg. (1850), S. 167. Auch: Jacoby an Nast, Correspondenz, Bremen, 8. Oktober 1854. In: CA 17. Jg. (1854), S. 174 f.

Mission in Zeiten des Umbruchs – Theologische Erwägungen

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Das missionarische Selbstverständnis der methodistischen Kirchen war stets verbunden mit einer theologisch begründeten Anthropologie, die in jedem Menschen die Ebenbildlichkeit Gottes suchte und sich für die gottgegebene Würde eines jeden Menschen einsetzte. Ihr theologischer Ansatz, der auch in der Zeit vor der Globalisierung vom universalen Heil bestimmt war, trat in der Praxis für eine alle sozialen Schichten übergreifende Integration ein. Sie umschloss auch die Arbeiterfamilien im Hafengebiet, die bisher kaum beachteten Kinder und die fremdländischen Matrosen, die als Gottes Geschöpfe vorurteilsfrei und gleichberechtigt angesprochen wurden. Die Moderne öffnete Türen und Tore, die lange Zeit verschlossen geblieben waren, auch in der Theologie. Methodistische Diakonie und Predigt wandte sich an die Ärmsten, die nicht im Blickfeld der Öffentlichkeit lagen: Es waren auch die fremden Seeleute, die man lieber gehen als kommen sah, und die Kinder, die 1840 noch wenig Beachtung fanden. Kaum jemand kümmerte sich um die Rechte der Kinder. Heute sehen wir, welchen Schutzes sie bedurft hätten. Es ging den methodistischen Vorfahren nicht um missionarische Programme für den inneren Gemeindeaufbau, nicht um einen missionarischen Gemeindeaufbau, auch nicht um die Verwaltung und Pflege eines Besitzstandes. Dem vor Gott heimatlosen Menschen, wer er auch war, musste man zeigen, dass er von Gott geliebt war und dass ihm der Weg zu Gott offen steht. Es ging nicht um eine Gemeinde oder Kirche, sondern um das Heil. Für diese Ausrichtung empfingen Gläubige im weiten theologischen Horizont von Gottes Reich und Gottes Zukunft im 19. Jahrhundert einen wirksamen geistlichen Impuls. Man stellte nämlich heraus, dass Gott seine Herrschaft erst dann aufrichtet, wenn alle Welt das Evangelium gehört haben wird. Darum musste die Botschaft vom Heil und vom Heiland hinausposaunt werden bei den Kindern von St. Pauli, bei den englischen und anderen Seebären im Hafen, bei den einfachen Leuten im Hafenviertel, bei den Verunsicherten, die aus den Dörfern in die Hafenstadt gekommen waren, um Arbeit zu finden, und genauso bei den Reichen, die in Hamburg lebten. Was diese Methodisten von London und Liverpool nach Hamburg trieb, waren weder Fernweh noch Karrierehoffnungen, sondern die eigene Erfahrung der Liebe Gottes, die man mitten in einer bedrohlichen Welt unbeeindruckt von Widerständen, Schikanen und persönlichen Verdächtigungen und unter Verzicht auf Bequemlichkeit, Heimatverbundenheit und geregelte Arbeitsverhältnisse mit anderen teilen wollte. Das war ihr Ziel und ihr Motiv.

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Die erste methodistische Mission in Hamburg

In Hamburg scheuten sie sich nicht, moralische Missstände und die Verkommenheit auf St. Pauli beim Namen zu nennen; freilich um den Preis der Verärgerung des Senats und des Bürgertums. Die mit der Moderne aufziehenden Menschenrechte individuelle Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit auch für Glieder nicht staatlich konzessionierter Kirchen über den Westfälischen Frieden von 1648 hinaus, und endlich Religionsfreiheit, vertraten die methodistischen Missionare selbstbewusst, aber nicht kämpferisch. Das führte zu Veränderungen in Kirche und Gesellschaft. An die Stelle einer konfessionellen, staatlich abgesicherten kirchlichen Monokultur wurde auch auf kirchlichem Gebiet „Multi-Kulti“ eingeleitet. Damit war eine Voraussetzung für das Kommen der Ökumenischen Bewegung auf den Weg gebracht. In allen diesen grundlegenden Veränderungen blieb es dabei, dass das Gegenüber der methodistischen Missionen nicht irgendeine kirchliche Konfession war, sondern die von Gott getrennte Welt. Das Bild der Kirche in der Moderne, in die man nicht mehr wie in die Staatsbürgerschaft hineingeboren wird, sondern zu der man sich als mündiger Bürger aufgrund seines persönlichen Entschlusses bekennen kann, wurde zwar zunächst bis in den wissenschaftlichen Bereich hinein als „vereinsmäßig“ diskreditiert. Es wies aber in die Richtung eines neuen Menschenbildes mit eigener Entscheidungskompetenz und zugleich eines neuen Verständnisses für das Kirchesein in der modernen Welt. Der vernünftige Bürger sollte aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit heraustreten und in eigener Verantwortung mit der Würde leben, die ihm als Geschöpf Gottes eigen ist. Die englischen Methodisten zeigten in der auf ihrem Glaubensverständnis gegründeten Praxis, dass sie den Schritt in die Moderne getan hatten und dass sie bereit waren, geschichtlichen Gewordenheiten den Rücken zuzukehren. Kein staatskirchliches Territorialrecht hielt sie in engen Grenzen, kein Staatskirchenrecht band sie an eine politisch abgegrenzte Region, sei es ein Stadtstaat oder ein Land. Sie fingen schon im 18. Jahrhundert an, global zu denken, getreu dem Motto ihres Kirchenvaters John Wesleys: „Die [ganze] Welt ist mein Kirchspiel“. Damit wurden sie nicht nur Boten, sondern Mitgestalter der Zukunft, welche die traditionelle, monokulturelle Gesellschaft in Frage stellte und schließlich, zuletzt auch im kirchlichen Bereich sogar gegen den Widerstand von Kirche und Gesellschaft, ablöste. Sie lagen damit im Trend der Zeit. 52

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Karl Heinz Voigt, Religionsfreiheit bei Baptisten und Methodisten in Deutschland – Versuch eines Vergleichs. In: Erich Geldbach u.a. (Hg.), Religionsfreiheit. Festschrift zum 200. Geburtstag von Julius Köbner, Berlin 2006, 295–324.

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Es muss die unbequeme Frage erlaubt sein, ob das territoriale Prinzip, Kirche zu konstituieren, sich auf die Mentalität, theologische Fragen zu erörtern, auswirkt. Bezeichnend ist jedenfalls, dass die Territorialkirche sich selber auf die hamburgischen Staatsbürger eingrenzte und die ausländischen Mitbürger – wie z. B. die im Hafen liegenden Fremden – nicht wahrgenommen hat als solche, die aufgrund der universalen Liebe Gottes nicht von ihrer Verantwortung auszuschließen waren. Man schien sich eher vor den Fremden und den Ausländern schützen zu müssen, als sich ihnen im Dienste der Liebe zuzuwenden. Der territorial begrenzte Wirkungsbereich blieb auf den eigenen staatlichen Raum und auf die völkische Zugehörigkeit eingegrenzt. Das erlebten auch die Auswanderer, die von Hamburg aus ihr Heimatland und damit auch ihre Heimatkirche verließen. Sie machten ungewöhnliche Grenzerfahrungen in der universalen Kirche Christi. Innerhalb der methodistischen Kirche stellt sich heute die Frage, wieweit sie sich ihres Erbes, eine nachaufklärerische Kirche der Moderne zu sein, bewusst ist. Gelegentlich verbreitet sie das Bild einer Kirche in einem Prozess der Anpassung an voraufklärerische Kirchenstrukturen. Damit würde sie sich selber die Chance nehmen, ein profilierter ökumenischer Partner zu sein, der als solcher das Leben der Kirche Christi in Deutschland zu bereichern vermag. Eine der theologischen Positionierungen führte zu bemerkenswerten strukturellen Konsequenzen. Der große Hamburger Diakoniker Johann Hinrich Wichern formulierte im Kontext seiner Zeit ein additives Verhältnis von Glaube und – im Sinne einer Ergänzung – Liebe. Das ermöglichte die Struktur von Kirche und Innerer Mission als zwei zusammengehörenden und doch lange Zeit selbständigen Partnern. – Durch John Wesley hatten die Methodisten ein integriertes Verständnis des Glaubens, der in der Liebe tätig wird. Entsprechend haben sich, was in der Vorstadt St. Pauli sichtbar wurde, Diakonie und Predigt gegenseitig durchdrungen. Kirche war Diakonie und Diakonie war Kirche in organischer und organisatorischer Einheit. Es bleibt die Frage nach der Großstadtmission. Waren die englischen Methodisten als Gemeindegründer gekommen? Nein. Sie waren nichts als Missionare, aber das waren sie ganz und gar. Das Ergebnis missionarischer Arbeit kann Gemeinde- oder Kirchengründung sein. 53

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Der kürzlich verstorbene methodistische Theologe Siegfried Lodewigs hat gelegentlich die Frage aufgeworfen, ob die methodistische Kirche in Deutschland nicht stärker von den Verbänden der Gemeinschaftsbewegung beeinflusst sei, als von dem reichen Erbe der weltweiten methodistischen Tradition.

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Muss Mission auch zwangsläufig zu konfessioneller Kirchenbildung führen? Hat nicht die Mission als Sendung zu denen, die nicht in Gemeinschaft mit Gott leben, ihren Wert in sich selber, auch wenn die Erreichten sich einer anderen Konfession anschließen? Mission, die um der Gemeindebildung erfolgt, steht in der Gefahr, instrumentalisiert und durch Motive bestimmt zu werden, die der Überprüfung bedürfen. Sie stünde gleich neben solcher „Diakonie“, die sich nur der Menschen annimmt, um an sie „heranzukommen“ und sie damit ihres eigentlich diakonischen Wertes beraubt. Den englischen Methodisten muss man von ihrem hafenmissionarischen Ansatz her ihre lautere Bemühung bestätigen, in der sie einfach nur missionarisch dienen und dienend missionieren wollten. Ein so weitherziger, ökumenischer Ansatz ist in einer Zeit missionarischer Kongresse und dem Angebot von Gemeindeaufbauprogrammen wieder neu zu diskutieren.

Abkürzungsverzeichnis Hier nicht aufgeführte Abkürzungen: siehe Schwertner Allgemeine Abkürzungen, TRE 1994. BBKL BGEmK CA EB EG EmK Ev JB LASH MH STAHH SW Verh. JK ZA-EmK ZVHaG

Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), z. Zt. 30 Bde 1975 ff Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-methodistischen Kirche, z. Zt. 53 Bde, NF seit 1968 Der Christliche Apologete Evangelischer Botschafter Evangelische Gemeinschaft, 1968 vereinigt zur Evangelischmethodistischen Kirche Evangelisch-methodistische Kirche Der Evangelist. Jahresberichte Bethanien Landesarchiv Schleswig-Holstein, Schleswig Methodisten-Herold Staatsarchiv Hamburg Sämtliche Werke Verhandlungsniederschrift der Jährlichen Konferenz Zentralarchiv der Evangelisch-methodistischen Kirche Reutlingen Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte

Literaturverzeichnis Ungedruckte Quellen Gustav Bähren, Autobiographische Notizen, u.a. über Hamburg. ZAEmK, Reutlingen. Jakob Klenert, Bericht über Hamburg I – Erlöserkirche in Eimsbüttel. ZAEmK Reutlingen. Ernst Pucklitzsch (1831–1916). Meine Lebenserinnerungen, Hamburg S. 60 ff. ZAEmK Reutlingen.

Gedruckte Quellen Zeitschriften Der Christliche Apologete. Deutschsprachiges Wochenblatt der Bischöflichen Methodistenkirche in den Vereinigten Staaten von Amerika. Cincinnati 1839–1941. (CA). Der Evangelische Botschafter. Wochenblatt der Evangelischen Gemeinschaft für Deutschland und die Schweiz. Nürtingen, später Stuttgart 1864–1968. (EB). Der Evangelist. Wochenblatt für die Bischöfliche Methodistenkirche in Deutschland und der Schweiz. Bremen, später Frankfurt/M. (Ev). Der Methodisten-Herold. Eine religiöse Zeitschrift (vierzehntägig). Cannstatt, 1873– 1889. (MH). Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause zu Hamburg Horn. Organ des CentralAusschusses für die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche, Hamburg. Verschiedene Jahrgänge.

Protokolle und Jahresberichte Verhandlungen der Deutschland-Konferenz der Evangelischen Gemeinschaft von Nord-Amerika. Die Konferenz tagte ab 1865 jährlich an wechselnden Orten in Deutschland und der Schweiz. Verhandlungen der Jährlichen Konferenz der Bischöflichen Methodistenkirche von Deutschland und der Schweiz, später Trennung. Jährliche Tagungen ab 1856, Gedruckte Protokolle ab 1865. Jahresberichte des Bethanienvereins (Diakonissenverein) in Frankfurt a.M., ab 1884 jährlich. Verhandlungen 25. Congress für innere Mission, Cassel 1888. Cassel 1888. Johann Hinrich Wichern, Sämtliche Werke. Herausgegeben von Peter Meinhold, ab 1962. Berlin/Hamburg.

Literaturverzeichnis

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286

Anhang

Karl Heinz Voigt, Theodor Christlieb (1833–1889). Die Methodisten, die Gemeinschaftsbewegung und die Evangelische Allianz. Göttingen 2008. Inke Wegener, Zwischen Mut und Demut. Die weibliche Diakonie am Beispiel Elise Averdiecks. Göttingen 2004.

Grundwerke Thomas Bauer/Mark Nördinger, Der Schwestern Werk. Die Geschichte des Bethanien-Krankenhauses in Frankfurt am Main von 1909–2008. Frankfurt 2008. Walter Klaiber/Manfred Marquardt, Gelebte Gnade. Grundriss einer Theologie der Evangelisch-methodistischen Kirche. Stuttgart 19931, weitergeführt Göttingen 20062. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1. Arbeitswelt und Bürgergeist. München 19933. Karl Steckel/Carl E. Sommer, Geschichte der Evangelisch-methodistischen Kirche. Göttingen 2007, Karl Heinz Voigt, Freikirchen in Deutschland (19. und 20. Jahrhundert), KiG III/6. Leipzig 2004.

Register Namensregister Dem Buch sind keine Biogramme beigegeben. Die Mehrzahl der weniger bekannten Personen aus den methodistischen Kirchen, aber auch weitere, sind von Autor dieser Studie im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon (www.bautz/bbkl/index) behandelt. Sie sind im Register mit einem * gekennzeichnet Albrecht, Jacob (1759-1808)*, 6, 15, 22, 102, 138, 190, 198, 285 Andel, Adrian van (1823-1904)*, 52, 57, 63, 109 Aston, John Campell 99, 141, 142 Averdieck, Elise (1808-1907), 45, 138, 190, 202, 285 Baedeker, Friedrich Wilhelm (18231906)*, 177 Bähren, Gustav (*1864), 161, 162, 163, 174, 175, 177, 180, 284 Barchet, Gottlob d. Ä. (1853-1930)*, 153, 154, 157, 163, 175, 177, 187 Bebel, August (1840-1913) 165, 169, 194 Beck, Bernhard (1840-1912)*, 140 Beckitt, Thomas, 265 Bekenn, George, 263, 264 Berenberg-Gossler, Cornelius Freiherr von (1874-1953) 127 Berenberg-Gossler, Johann (1839-1913) 127, 129, 130, 137, 139 Berner, Carl (1850-1920), 160, 161, 180, 183, 192 Bernstorff, Andreas Graf von (18441907)*, 174, 175 Bertheau, C. 99 Binder, Luise 120, 190 Bischoff, Georg Christian (18291885)*, 33 Bismarck, Fürst Otto von (1815-1898), 110, 123, 194

Blickensdörfer, Anna, Diakonisse, 122 Böckel, Otto (1883-1923), 169 Boenigk, Gertrud Henriette Elise Anna Freifrau von (verheiratete Frischkorn), 73 Borgmann, Katharine, 192 Bruns, Ahlerd Gerhard (1833-1925)*, 53, 54, 63, 64, 80, 81, 109 Bugenhagen, Johannes (1485-1558), 45, 82 Bugge, Kolporteur, 54 Burchard, Senator, 130, 131 Burt, William (1852-1936)*, 102 Canning, Henry, brit. Generalkonsul in Hamburg 260, 261, 272, 274, 275, 277 Christlieb, Theodor (1833-1889)*, 96, 142, 171, 238, 255, 256, 286 Clarke, Adam (1760/62-1832)*, 267 Clarkson, 266 Cox, Harvey (*1929), 257 Craig, James (1818-1899)*, 42, 43, 52, 54, 63, 64, 94, 141, 142, 144, 148, 170, 173, 255, 285 Dammert, Johann Ludewig (17881855) 271, 273, 274 Deeg, Theodor Eugen (1862-1921), 155, 156 Dietrich, Christian (1844-1919), 109, 174

288

Register

Doering, Carl Heinrich (1811-1897)*, 28, 37, 38, 48, 49, 50, 51, 52, 54, 55, 56, 57, 58, 64, 69, 79, 109 Eilers, Friedrich (1839-1923)*, 109, 128 Escher, Johann Jakob (1823-1901)*, 178 Fletcher, John William (1729-1785)*, 267 Fliedner, Theodor (1800-1864), 112, 128, 192, 212 Frank, Arnold (1859-1965), 142, 173, 177 Frischkorn, Carl 61, 65, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 81, 109, 111, 112 Fuller, Thomas, 266 Füßle, Gottlieb (1839-1918)*, 166 Gebhardt, Ernst (1832-1899)*, 79, 114, 186, 214, 256 Giebel, Astrid (*1963), 43 Göß, Georg (1828-1912), 64, 77, 102, 109 Goßner, Johannes Evangelista (17731858), 21 Green, Friedemann, 41, 62, 141, 170, 182, 238, 285 Grün, Carl (1851-1913), 31, 75, 114, 141, 142, 148, 152, 158, 159, 160, 165, 167, 168, 169, 170, 172, 173, 174, 176, 177, 180, 181, 183, 184, 192, 193, 198, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 217, 245 Guntermann, Wilhelmine 127 Gutmann, Therese, Diakonisse, 113 Harms, Claus (1778-1855), 61 Hedding, Elijah (1780-1852), 27 Herbst, Pastor 47, 65, 71, 120, 143, 144, 145, 174, 211 Hoeck, Johann Heinrich (1850-1921), 175 Huber, Jakob (1846-1917), 140 Hueppe, Professor, 206

Hughes, Hugh Price (1847-1902), 156 Hurter, Sophie, Diakonissen-Oberin, 114 Jackson, Samuel, 265 Jacoby, Ludwig Sigismund (18131874)*, 27, 37, 47, 49, 50, 52, 67, 220, 253, 278, 285 Jellinghaus, Theodor (1841-1913), 174 Junker, Gustav (1854-1919)*, 61, 70, 72, 73, 74, 83, 97, 132 Klaiber, Walter (*1940), 125, 246, 248, 286 Klenert, Jakob (1859-1933)*, 172, 178, 284 Klüsner, Franz (1837-1916)*, 65, 66, 70, 83, 275 Knapp, Jakob 141, 145, 152, 157, 168, 199, 200, 218 Knight, Richard, 268, 269, 270, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277 Knobelsdorff, Curt von (1838-1904), 174 Köchli, Friedrich 65, 74, 76 Kolde, Theodor (1850-1913), 240 Kreusler, Adolph (1842-1894) 95 Kücklich, Reinhold d. Ä. (18631931)*, 155, 156, 169, 197 Lagerström, Agathe von, Diakonisse, 119 Langenau, Baronin Amelie von (18301902)*, 156 Lappenberg, Friedrich Adolf (18361916), 126, 132 Lassalle, Ferdinand (1825-1864), 95 Liebermann von Sonnenberg (18481911), 169 Locher, Jakob (1836-1882), 64, 65, 66, 69, 70 Löhe, Wilhelm (1808-1872), 21 Lüring, Adolf (1828-1896), 62, 82, 83, 86, 109, 144, 175 Luther, Martin (1583-1546), 51, 53, 56, 171

Namensregister

Lutz, Philipp (1848-1930), 76, 78, 79, 83, 84, 109, 175 Mahling, Friedrich (1865-1933), 175 Mann, Heinrich (1844-1920)*, 37, 47, 87, 89, 115, 127, 168, 261 Mau, Otto, 161, 162, 163, 181 Meinhardt, Heinrich (1858-1923), 83, 140, 141 Mellish, Joseph Charles, brit. Konsul in Hamburg, 261, 262 Meyer, Ehepaar, Fabrikanten, 122 Middleton, Reverend, 278 Mistele, Gottlieb (1854-1945), 155 Mönckeberg, Carl (1807-1886), 94 Moody, Dwight Lyman (1837-1899), 95, 99, 108, 146, 237 Mott. John (1865-1955), 36 Müller, Marie, Diakonisse, 33, 121, 263, 266, 268, 285 Nahrmann, Christian, 47, 48, 51 Napoleon (1769-1821), 259 Nast, Wilhelm (1807-1899)*, 22, 37, 38, 50, 55, 58, 220, 278 Neuhart, Jakob (1860-1902), 88, 90, 92, 101, 102, 103, 104 Niethammer, Gottlob Daniel (18501917), 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 151, 152, 154, 155, 158, 173, 175, 176, 180, 183, 198 Ninck, Carl (1834-1887)*, 44, 94, 95, 96, 145, 146, 148 Nipperdey, Thomas, 18, 110, 286 Nippert, Ludwig (Louis) (1825-1894)*, 111 Nuelsen, Heinrich (1826-1911)*, 27, 28, 49, 51, 58, 64, 109 Nußberger, Sophie 119, 121 Oakden, Philip, 265 Oertzen, Jasper von (1833-1893), 42, 94, 95, 96, 99, 141, 142, 173, 255 Oncken, Johann Gerhard (1800-1884), 42, 54, 265, 266, 270, 275

289

Otterbein, Philipp W. (1726-1813)*, 22 Palmerston, Lord (1784-1865), 268 Paul, Jonathan (1853-1931), 83, 97, 121, 132, 140, 169, 175 Peters, Claus 176 Peters, Ernst H. 64, 109 Petersen, Anne D., 269, 276, 285 Plitt, Gustav (1836-1880), 240, 241 Prausnitz, Dr., Arzt, 113 Pückler, Eduard Graf (1853-1924), 255 Pucklitzsch, Anna (1843-1916), 86, 87 Pucklitzsch, Ernst (1831-1916), 86, 87, 88, 109, 284 Rambach, Johann Jakob (1693-1735), 107 Rappard, Heinrich (1837-1909), 140 Rauschenbusch, August (1816-1899), 176 Rautenberg, Johann Wilhelm (17911865), 42, 54, 270, 271 Richert, Lina, Diakonisse, 126 Roosen, Berend Carl, 99 Röschmann, Johannes (1862-1901), 174 Sankey, Ira D. (1840-1908)*, 108 Schell, Carl (1852-1929), 128 Schlümbach, Friedrich von (18421901)*, 95, 96, 107, 142, 146, 238 Schmaltz, Moritz Ferdinand (17851860), 47 Schmidt, Elisabeth, Diakonisse, 113 Schmidt, Ferdinand (1846-1924), 69, 70, 71, 109 Schmidt, Johanna, 190 Schmidt, Luise, Diakonisse, 113 Schmidt, Martin (1909-1982), 16 Schmilensky und Frau, Fabrikanten, 129 Schrenk, Elias (18311-1913), 96, 97, 98, 99, 145, 146, 174, 238 Schröder, Bernhard (1867-1945), 102

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Register

Sieveking, Amalie (1794-1859), 91 Sieveking, Karl (11787-1847), 272, 275 Singer, Paul (1844-1911), 169 Smith, Robert Pearsall (1827-1898)*, 95, 98, 107, 186, 238 Sommer, Johann Jakob (1850-1925)*, 15, 33, 51, 88, 140, 143, 266, 273, 286 Spener, Philipp Jakob (1635-1705), 230 Stahl, Friedrich Julius (1802-1861), 90 Staiger, Johannes (1835-1905)*, 77 Steinmeyer, Carl (1826-1918), 51 Stoecker, Adolf (1835-1909), 155, 156, 169 Stoll, Katharina, Diakonisse, 126 Stolt, Peter 41, 42, 89, 90, 285 Traun, Heinrich (1838-1909), 121, 139 Tyson, John Henry David (*1772?) 261, 262

Uexküll-Güllenband, Anna Gräfin von (1843-1916), 86 Vincent, John H. (1832-1920)*, 100, 177, 185, 245 Warweg (1877-1937), 161 Weiß, Carl (1841-1883)*, 111 Welti, Heinrich (1862-1923), 79, 82, 109 Wesley, John (1703-1791)*, 14, 16, 73, 105, 150, 199, 219, 240, 242, 266, 267, 273, 281 Weymann, Otto (1832-1903), 95 Wichern, Johann Hinrich (1808-1881), 21, 44, 91, 145, 146, 178, 194, 271, 281, 284 Wood, Thomas 263, 264 Wright, Joseph Albert (1810-1867)*, 80, 265 Wüthrich, Paul (1917-1997), 140 Wyneken, Friedrich (1810-1876), 21 Zellmann, Dr., Staatssekretär, 132

Sachregister Abendmahl 30, 67, 69, 70, 253 Agrargesellschaft 26 Allianz, Evangelische 43, 96, 100, 142, 171, 173, 238, 244, 245, 256, 285, 286 Arbeiter 88, 89, 92, 106, 108, 121, 122, 136, 167, 193, 195, 201, 239 Arme 113, 115, 118, 120, 129, 137, 168, 198, 203, 207, 220, 271 Aufklärung 17, 151, 263 Auswanderung/Auswanderer 14, 18, 19, 20, 21, 37, 38, 48, 51, 160, 223, 237, 281 Baptisten 44, 45, 58, 64, 96, 99, 143, 172, 173, 175, 176, 195, 216, 248, 280 Bauern 18, 33 Beerdigungen 21, 31, 62, 171, 221 Bekehrung 34, 35, 36, 66, 76, 195, 220, 247 Bethanien-Verein 77, 84, 113, 114, 116, 117, 126, 127, 128, 175 Betstunden, Gebetsstunden 34, 46, 66, 134, 253, 254 Bischöfliche Methodistenkirche 37, 43, 56, 231, 284 Bürgerliche Rechte 178 Bürgertum 18 Cholera 39, 87, 88, 125, 126, 132, 169, 190, 199, 200, 206, 207, 208, 209, 210, 239 Circuit Rider 22, 23, 28, 46 Connexionalismus 187, 188, 231, 235 Deismus 17 Denominationen 21, 45, 100, 227, 240, 243, 260, 265, 278 Diakonie, Diakonissen 5, 26, 43, 45, 55, 80, 82, 83, 84, 91, 101, 102, 105, 110, 111, 112, 113, 114, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 123, 125, 126,

127, 128, 131, 132, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 143, 145, 149, 158, 159, 163, 180, 190, 191, 192, 193, 195, 196, 197, 199, 200, 201, 203, 204, 207, 208, 209, 210, 212, 213, 214, 215, 217, 218, 222, 223, 224, 226, 229, 239, 279, 281, 282, 285, 286 Dörfer 28, 30, 32, 33, 52, 61, 242 Erfahrung/Erfahrungsstunden 26, 34, 35, 52, 57, 59, 61, 66, 68, 103, 105, 106, 125, 127, 149, 151, 155, 201, 207, 208, 209, 220, 239, 243, 249, 250, 257, 279 Erweckung/Erweckungsbewegung, erwecklich 29, 35, 41, 43, 56, 58, 91, 103, 105, 108, 112, 145, 179, 193, 195, 202, 203, 237, 245, 247, 250, 252, 254, 256, 263, 264, 265, 266, 271, 272, 273, 275, 277, 285 Evangelisation 25, 36, 44, 87, 95, 96, 97, 98, 99, 103, 146, 156, 172, 215, 238, 243, 246, 255 Evangelische Gemeinschaft 17, 22, 24, 32, 43, 140, 142, 143, 147, 150, 157, 173, 178, 184, 197, 208, 223, 231, 240, 241, 283 Frauen, Frauengruppe 5, 18, 46, 60, 63, 66, 75, 111, 112, 115, 118, 121, 122, 135, 138, 141, 148, 180, 183, 184, 190, 192, 193, 199, 210, 218, 223, 229, 253, 285 Freie evangelische Gemeinde 170 Freikirchen 13, 34, 36, 42, 43, 44, 75, 80, 94, 95, 96, 97, 99, 100, 101, 135, 145, 163, 169, 170, 173, 176, 185, 195, 203, 221, 226, 227, 229, 240, 243, 244, 245, 248, 286 Frömmigkeit 19, 23, 26, 29, 32, 34, 41, 61, 66, 68, 76, 86, 108, 135, 142,

292

Register

179, 196, 221, 247, 248, 249, 250, 251, 252, 256, 263 Gemeinschaftsbewegung 44, 93, 96, 97, 99, 142, 146, 156, 170, 171, 173, 174, 238, 253, 254, 256, 257, 281, 286 Gewerkschaften 91, 106, 239 Glaubens- und Gewissensfreiheit 195 Gnadauer Pfingstkonferenz, Gnadau 142, 146, 256 Gottesdienst 24, 50, 58, 65, 66, 78, 83, 86, 102, 103, 108, 135, 142, 149, 150, 158, 160, 242, 250, 261, 265, 274, 275 Großstadt 5, 13, 19, 32, 34, 38, 41, 54, 61, 62, 70, 81, 86, 106, 115, 124, 130, 135, 141, 151, 152, 154, 158, 161, 168, 170, 172, 182, 183, 188, 205, 212, 213, 218, 238, 239, 243, 257, 278, 285 Hafen, Hafenarbeiter 5, 20, 39, 48, 53, 64, 88, 89, 142, 153, 223, 260, 262, 263, 268, 269, 270, 275, 279, 281 Handwerker 18 Heiligung 55, 98, 138, 157, 247, 250, 255 Heiligungsbewegung, Heiligungskonferenz 98, 161, 174, 237, 238, 244 Herrnhuter 45, 58 Industrie 19, 33 Innere Mission 90, 95, 147, 170 israelitisch 118 Jerusalemgemeinde 177 Juden, jüdisch (→ auch israelitisch) 151, 169, 195, 264 Jünglingsvereine 100, 141, 254 Katholiken 18, 23, 43, 53, 118, 151, 261, 276, 277 Kirchentag 44, 48, 178

Klasse, Klassversammlungen 16, 23, 31, 55, 56, 57, 67, 78, 123, 167, 230, 234, 253, 261, 262, 263, 264 Kolporteure 30, 51, 54, 223 Konfession 21, 36, 107, 135, 221, 226, 227, 258, 259, 280, 282 Kongregationalisten 144 Laien 25, 35, 46, 97, 172, 185, 216, 229, 231, 255, 262 Landeskirche 20, 40, 41, 45, 62, 94, 95, 97, 98, 145, 170, 171, 196, 221, 255, 256, 285 Liberalismus 41, 193 Liebesfeste (Agapen) 67, 253 Lutheraner 18, 20, 21, 42, 47, 226 Methodistenkirche (→ Bischöfl. Methodistenkirche) 13, 38, 43, 50, 51, 56, 60, 62, 73, 75, 86, 87, 92, 94, 95, 107, 113, 128, 198, 231, 232, 264, 284 Minderheiten 13, 39, 44, 45, 136, 173, 245, 257 Mission, Missionare 13, 14, 16, 17, 21, 22, 25, 26, 27, 28, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 40, 42, 44, 45, 48, 49, 50, 52, 55, 56, 57, 59, 60, 61, 63, 77, 78, 81, 84, 90, 91, 92, 96, 97, 99, 104, 105, 106, 107, 108, 110, 111, 113, 114, 120, 121, 124, 134, 138, 141, 142, 143, 146, 152, 155, 158, 159, 180, 184, 188, 190, 194, 197, 202, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 219, 223, 225, 226, 229, 230, 231, 232, 233, 236, 237, 238, 239, 241, 246, 250, 251, 254, 259, 263, 265, 278, 280, 281, 284, 285 Nachfolge Christi 17, 29, 42, 55, 68, 92, 107, 202, 222, 230, 239 Nationalbewusstsein 45 Ökumene, ökumenisch 25, 34, 36, 44, 101, 108, 173, 178, 227, 229, 240, 245, 246, 249, 253, 257, 260, 285

Sachregister

Ordination 21, 67, 140, 152, 175, 232, 262, 267 Parteien 89, 106 Pietismus, pietistisch 20, 32, 47, 66, 93, 108, 179, 230 Polizei 47, 91, 165, 170, 273, 274 Predigerseminar 83, 140, 144, 175, 231, 245 Presbyterianer 42, 58, 99, 100, 141, 172, 173 Rationalismus, rationalistisch 17, 41, 46, 179, 193, 209, 220, 237, 285 Rechtfertigung 45, 55, 76, 98, 157, 214, 222, 250 Reformierte 18, 19, 58, 260 Reiche 96, 115, 198, 203 Religionsfreiheit 17, 28, 39, 43, 44, 138, 195, 244, 259, 276, 277, 280 Revolution 13, 17, 39, 42, 90, 91, 92, 93 Sonntagsschulen 54, 80, 83, 84, 100, 134, 150, 151, 176, 179, 184, 185, 230, 242, 247, 253, 255, 270

293

Sozialdemokraten, SPD 89, 156, 165, 166, 169, 194, 205 Streik (→ Arbeitskämpfe) 90, 92 Taufen 21, 31, 62, 67, 83, 84, 171, 179, 182 Territorialkirchen 19, 101 Traktate, Traktatmission (→ Kolporteure) 24, 30, 47, 51, 52, 53, 54, 269 Vereine 96, 141, 167, 180, 184, 185, 208, 223, 254, 273 Vereinigte Brüder 17, 21, 22, 24, 33 Verfassung, Frankfurter 1848 17 Verfassung, methodistische Kirchen 25, 39, 85, 94, 188, 232, 235, 249, 268 Verlängerte Versammlungen 146, 214, 238 Vierteljahrssonntage 31, 67, 70 Wesleyaner 33, 52

Ortsregister Altona 43, 53, 69, 159, 261 Amerika (→ auch Nordamerika u. USA) 13, 14, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 26, 27, 30, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 40, 48, 49, 50, 51, 55, 58, 63, 70, 71, 75, 77, 79, 80, 89, 92, 93, 95, 103, 104, 107, 114, 141, 150, 151, 160, 163, 176, 204, 216, 220, 228, 229, 237, 240, 242, 245, 262, 278, 284 Basel 140, 186, 263 Bayern 18, 233 Berlin 16, 40, 48, 69, 71, 79, 80, 91, 92, 95, 107, 140, 142, 143, 145, 152, 155, 159, 160, 161, 165, 168, 177, 190, 195, 196, 197, 200, 206, 223, 233, 238, 241, 243, 271, 280, 284 Blankenburg/Thüringen 163 Bremen 15, 20, 21, 27, 28, 30, 31, 33, 34, 37, 38, 40, 41, 47, 48, 49, 50, 51, 54, 67, 74, 87, 92, 108, 111, 131, 132, 185, 221, 223, 231, 247, 253, 263, 265, 268, 270, 278, 284, 285 Brooklyn/New York 120, 121 Cannstatt 152, 160, 168, 209, 231, 284 Cincinnati/Ohio 19, 22, 24, 26, 62, 92, 112, 113, 121, 128, 284, 285 Dänemark 53, 261 Delmenhorst 28, 29 Dornumersiel 263, 264 Elberfeld 96, 140, 141, 145, 149, 177, 190, 191, 197, 199, 200, 223 England (→ auch Großbritannien) 14, 16, 23, 33, 36, 46, 91, 105, 107, 177, 228, 229, 237, 240, 248, 259, 260, 261, 262, 264, 266, 267, 268, 270, 273, 276 Essen 32, 102, 140, 149, 152, 167, 198, 223

Flensburg 54, 61, 69, 70, 72, 73, 82 Frankfurt/M. 29, 31, 44, 59, 77, 80, 107, 112, 113, 114, 116, 126, 139, 223, 231, 237, 265, 266, 271, 272, 273, 275, 277, 284, 285, 286 Friedrichsdorf 18, 31, 59 Großbritannien (→ auch England) 13, 25, 33, 264, 268 Hamburg 5, 6, 13, 21, 34, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 81, 83, 84, 86, 88, 89, 90, 91, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 120, 121, 123, 125, 126, 127, 128, 130, 131, 135, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 163, 165, 168, 169, 170, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 180, 181, 183, 184, 185, 187, 188, 190, 191, 192, 193, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 214, 220, 221, 223, 226, 228, 231, 233, 238, 239, 240, 245, 252, 255, 257, 259, 260, 261, 262, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 281, 283, 284, 285 Barmbek 88, 102, 104, 211 Eimsbüttel 143, 161, 162, 182, 210, 284 Eppendorf 59, 85, 88, 101, 102, 104, 134 Fuhlsbüttel 88, 102, 104 Harburg 37, 164

Ortsregister

Lokstedt 52, 61 St. Georg 42, 50, 51, 56, 62, 72, 73, 75, 81, 84, 86, 88, 101, 102, 103, 104, 106, 113, 116, 127, 138, 175, 190, 270, 271 St. Pauli 53, 55, 59, 62, 64, 145, 153, 159, 161, 177, 191, 192, 203, 210, 215, 260, 269, 271, 272, 273, 274, 277, 278, 279, 280, 281 Volksdorf 102, 135 Wandsbek 61, 65, 70, 71, 88, 102, 113 Hannover 18, 19, 28, 39, 45, 49, 102, 285 Heilbronn 32, 59, 214, 223 Irland 52, 144, 264 Kiel 69, 71, 74, 82, 94, 96, 120 Liberia 55 Liverpool 13, 263, 264, 277, 279 London 13, 22, 42, 43, 52, 53, 95, 100, 156, 244, 259, 260, 266, 267, 268, 275, 277, 279, 285 Lübeck 65, 71, 74, 95, 268 Ludwigsburg 32, 223 Mecklenburg 18, 19 Nashville, Tenn. 36, 186, 268 New York 38, 49, 53, 77, 78, 120, 121, 151, 220, 233, 262 Nordamerika (→ auch Amerika) 21 Norwegen 121

295

Nürnberg 115, 223 Oldenburg 19, 28, 30, 64 Österreich 26, 53 Ostfriesland 18, 233 Paris 100 Pinneberg 160 Preußen 53, 66, 94, 115, 142 Rotterdam 120 Sachsen 81, 93, 221, 241 Schleswig-Holstein 42, 61, 64, 69, 70, 96, 160, 173, 255, 283 Schweiz 17, 18, 26, 35, 72, 76, 80, 96, 101, 114, 115, 120, 140, 152, 160, 161, 204, 230, 236, 247, 284 Stuttgart 17, 22, 31, 32, 36, 42, 91, 93, 112, 122, 138, 140, 142, 150, 152, 166, 173, 174, 178, 183, 184, 190, 197, 208, 214, 223, 243, 253, 267, 284, 285, 286 Thedinghausen 28, 47 USA (→ auch Amerika u. Nordamerika) 16, 24, 33, 34, 35, 37, 40, 60, 67, 92, 120, 121, 186, 207, 220, 223, 233, 235, 237, 245 Westfalen 18 Wuppertal (→ Elberfeld) 44, 83, 98, 145, 146, 174, 176, 191, 223, 238 Württemberg 16, 18, 32, 33, 81, 86, 93, 112, 115, 140, 152, 165, 188, 197, 209, 221, 240, 241

Bildquellen Gemeindearchiv Hamburg-Eppendorf Gemeindearchiv Hamburg-Eimsbüttel Archiv der Schwesternschaft Bethanien, Hamburg Archiv der Schwesternschaft Ebenezer, Wuppertal Sammlung Voigt, Bremen