Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen: Aktuelle Zugänge in Literatur- und Mediendidaktik 9783839460733

Verstehen und Nichtverstehen sind kulturwissenschaftliche und ideengeschichtliche Leitbegriffe. Je nach theoretischer Au

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Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen: Aktuelle Zugänge in Literatur- und Mediendidaktik
 9783839460733

Table of contents :
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Inhalt
Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen
Zur jüngeren Begriffsgeschichte von Verstehen in der Literaturdidaktik
Konzeptionen ästhetischen Verstehens in der deutschsprachigen Literaturdidaktik
Zur jüngeren Begriffsgeschichte von Nichtverstehen in der deutschsprachigen Literaturdidaktik
Deutschdidaktische Debatten des ästhetischen Nichtverstehens in Hinblick auf Literatur
Über diesen Band
Quellenverzeichnis
Bedingungen des Verstehens
Spielarten des Nichtverstehens
I. Einleitung.Nichtverstehen als Teil oder als Gegenteil des Verstehens
II. Vom Satzverstehen bis zum Sich‐in‐der‐Sache‐Verstehen.Eine sprachanalytische Auffächerung des Verstehensbegriffs
III. Vier Spielarten des (Nicht‑)Verstehens.Ein Modell
III.I Man kann nicht nicht verstehen: der affektive Aspekt
III.II »Alles Verstehen ist … immer zugleich ein Nicht‐Verstehen«. Der pragmatische Aspekt
III.III Nichtverstehen als logisches Gegenteil des Verstehens: der referentielle Aspekt
III.IV Verstehen als ästhetisches Vergnügen, Nichtverstehen als dessen Ausbleiben: der poetisch‐literarische Aspekt
IV. Fazit und didaktischer Ausblick
Quellenverzeichnis
Die tropische Stadt
I. Gadamer über die rhetorische ›Vorgeschichte‹ der Hermeneutik
II. Der Tod in Venedig und die rhetorische Gefahr
III. Die Seele schreiben
Quellenverzeichnis
Vom Nichtverstehen zum Verstehen?
I. Einleitung.Von der Irritation zur ästhetischen Erfahrung – ein Definitionsversuch
II. Subjektive Assoziation(en).Eine individuelle Lektüre (ästhetisches Erleben)
III. Theoretische Reflexion.Das Konzept der Rahmung (ästhetische Wahrnehmung)
IV. Empirische Untersuchung.Versuch einer Leser*innentypisierung
V. Didaktische Überlegungen
Quellenverzeichnis
Phänomene des (Nicht‑)Verstehens
›Staunen‹ als literarästhetische Praxis zwischen Verstehen und Nichtverstehen
I. Staunen zwischen Verwunderung und Bewunderung
II. Literaturunterricht zwischen Verstehen und Nichtverstehen
III. Staunen als ästhetische Praxis zwischen Verstehen und Nichtverstehen
IV. Potentiale und Grenzen von Momenten des Staunens im Literaturunterricht
Quellenverzeichnis
Literatur unterrichten ist Anfangen lehren
I. Kein Schlüssel zum Schloss.Über eine gelingende Lektüreerfahrung präzisen Nichtverstehens
Ankunft
II. Anfängliches Denken und Nichtverstehen.Überlegungen zur Praxis des Antwortens auf die Fraglichkeiten literarischer Texte
»Lass die Deutungen!«, sagte K.Weshalb wir K. im selben Atemzug Recht geben und nicht auf ihn hören sollen. Versuch einer Systematisierung
IV. Zurück im Schloss.Ein abschließender Blick auf K.s und unsere eigenen Deutungsversuche
Quellenverzeichnis
Dem Nichtmenschlichen begegnen durch kollaboratives spekulatives Schreiben im Rahmen einer posthumanistischen Literaturdidaktik
I. Einleitung
II. Radikale Fremdheit, responsive Literaturdidaktik und die Fremdheit des Nichtmenschlichen
III. Herta Müllers Collagen als radikal fremde und kollaborative Texte
IV. Schreiben in Intra‐Aktion
V. (Un‑)Möglichkeit, das Nichtmenschliche zu verstehen
VI. Spekulative Fabulation und kollaboratives Schreiben
VII. Kollaboratives spekulatives Schreiben mit dem Etherpad
VIII. Kollaboratives spekulatives Schreiben und posthumanistische Literaturdidaktik
Quellenverzeichnis
Anhang
»[A] question minus its answer« (Roland Barthes)
englishDie Gewissheit der Fragen
II. »Ach, die Wahrheit zu reden«.Die Fragwürdigkeit der Antworten in Thomas Manns Der Weg zum Friedhof
II.I Durchkreuzte Verstehensentwürfe: Nietzsche versus Schopenhauer
II.II Zwischenfazit: Fragen ohne Antworten
III. Didaktische Fragen
III.I Kognitive »Problemlösungen«: der Kompetenzbegriff Weinerts und die Frage seiner Anwendbarkeit auf literarisches Lernen
III.II Notwendige Erweiterungen: Literalität statt Kompetenz
IV. (Nicht‑)Verstehen und literarästhetische Bildungsprozesse
englishQuellenverzeichnis
(Nicht‑)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen
Verstehen auf Niveau?
I. Linearität und Simultaneität des Lernens und der Filmrezeption
II. Dreiecksbeziehungen mit dem Publikum in On Her Majesty’s Secret Service und Vertigo
III. Schilchers und Pissareks Modell zum literarischen Kompetenzerwerb auf semiotischer Grundlage
IV. Die Wilden Hühner und die literarische Kompetenz
Quellenverzeichnis
»Dafür sind die noch zu klein!«
I. Ein kurzer Überblick.Didaktische Perspektiven zum literarischen Verstehensprozess von Primarstufenschüler*innen
Problemfeld 1: das Grundlagenproblem – Bildungsaspekte versus Kompetenzen
Problemfeld 2: das Fokusproblem – das Kind im Mittelpunkt
Problemfeld 3: das Diagnoseproblem – arbeiten mit kindlichen Aussagen
Standardisierung versus Offenheit
Mündlichkeit versus Schriftlichkeit
Personeneffekte
II. Kindliches literarisches Verstehen erfassen.Das BOLIVE‐Modell
III. Diagnose konkret.Verstehensprozesse diagnostizieren
IV. Fazit
Quellenverzeichnis
Anhang
Literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen durch Lernaufgaben fördern?
I. Einleitung
II. Die Unterscheidung von zwei miteinander verbundenen Zieldimensionen
III. Lernaufgaben im kompetenzorientierten Literaturunterricht fördern beide Zieldimensionen
III.I Zieldimension 1: Aufgaben zum Aufbau eines eindeutigen Verstehens und zur Vermeidung von eindeutigem Missverstehen
III.II Zieldimension 2: Verstehensmöglichkeiten auffächern und Anerkennen von Nichtverstehen als Folge der literarischen Textbedingungen von Mehrdeutigkeit, Offenheit und Unbestimmtheit
IV. Für beide Zieldimensionen spielt die Lernunterstützung durch Aufgaben eine zentrale Rolle
IV.I Unterstützungsmaßnahmen haben einen positiven Einfluss auf die Verstehens‐ und Interpretationsleistung der Lernenden
IV.II Unterstützungsmaßnahmen haben einen positiven Einfluss auf das Kompetenzerleben der Schüler:innen
V. Kurzes Fazit und literaturdidaktische Reflexion
Quellenverzeichnis
Anhang
(Nicht‑)Verstehen in historischen und gegenwärtigen Kontexten der Professionalisierung
»das Lesestück solle als Ganzes wirken, was es könne«
I. Methodologische Vorbemerkungen
II. Zur Entwicklung und Transformation des schulbezogenen literarischen Verstehens von deutschsprachiger Literatur in der Sattelzeit
III. Literarisches Verstehen in der Encyklopädie
III.I Philologische Vorbemerkungen
III.II Denotatives Wortverstehen: explizite Verwendungen von Verstehen, Verständnis, Verständlichkeit, verstehen
III.III Das verständige Lesen
III.IV Funktionen des literarischen Verstehens
III.V Implikationen, Methoden und Metaphern des literarischen Verstehens
IV. Schlussfolgerungen
Quellenverzeichnis
Textverstehen und Nichtverstehen aus der Perspektive von Lehramtsstudierenden
I. Textverstehen, Nichtverstehen, Missverstehen
II. Was wissen Lehramtsstudierende über das (Nicht‑)Verstehen?
III. Textverstehensprobleme als Ausgangspunkt einer Seminarkonzeption
IV. Fazit
Quellenverzeichnis

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Hendrick Heimböckel, Jennifer Pavlik (Hg.) Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen

Literaturdidaktik und literarische Bildung  | Band 2

Hendrick Heimböckel (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für deutschsprachige Literatur und ihre Didaktik an der Universität Hildesheim. Jennifer Pavlik (Dr. phil.) ist Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Kassel.

Hendrick Heimböckel, Jennifer Pavlik (Hg.)

Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen Aktuelle Zugänge in Literatur- und Mediendidaktik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Jan Wenke, Leipzig Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6073-9 PDF-ISBN 978-3-8394-6073-3 https://doi.org/10.14361/9783839460733 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen Positionen und Schnittpunkte des literaturdidaktischen Diskurses Hendrick Heimböckel, Jennifer Pavlik...................................................... 9

Bedingungen des Verstehens Spielarten des Nichtverstehens Versuch der Eingrenzung eines negativen Begriffs Johannes Odendahl .....................................................................33

Die tropische Stadt Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig zwischen Rhetorik und Hermeneutik Michael Baum...........................................................................53

Vom Nichtverstehen zum Verstehen? Eine exemplarische Untersuchung des Kurzprosatextes Der Schauspieler von Thomas Bernhard in Hinblick auf das Potential von Irritationsmomenten als Auslöser ästhetischer Erfahrung(en) Verena Ronge ........................................................................... 75

Phänomene des (Nicht-)Verstehens ›Staunen‹ als literarästhetische Praxis zwischen Verstehen und Nichtverstehen Jennifer Pavlik ........................................................................ 101

Literatur unterrichten ist Anfangen lehren Über das notwendige Spannungsverhältnis zwischen Verstehen und Nichtverstehen im Rahmen ästhetischer Bildung Nicola Mitterer ..........................................................................121

Dem Nichtmenschlichen begegnen durch kollaboratives spekulatives Schreiben im Rahmen einer posthumanistischen Literaturdidaktik Yasemin Dayıoğlu-Yücel ................................................................ 143

»[A] question minus its answer« (Roland Barthes) Zum Status von Fragen und Antworten im Kontext literarästhetischer Lernprozesse am Beispiel von Thomas Manns Erzählung  Der Weg zum Friedhof Carlo Brune............................................................................ 165

(Nicht-)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen Verstehen auf Niveau? Zur Modellierung von Lernprozessen und ihrer medialen Unterwanderung Volker Pietsch ......................................................................... 187

»Dafür sind die noch zu klein!« Literarische Verstehensprozesse von Primarstufenschüler*innen empirisch diagnostizieren Lisa König ............................................................................. 207

Literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen durch Lernaufgaben fördern? Verstehensunterstützung in der literaturdidaktischen Aufgabenorientierung und -forschung Jochen Heins ..........................................................................239

(Nicht-)Verstehen in historischen und gegenwärtigen Kontexten der Professionalisierung »das Lesestück solle als Ganzes wirken, was es könne« Ziele, Methoden und Metaphern der Literaturvermittlung in der Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens (1859-1878) Hendrick Heimböckel ...................................................................269

Textverstehen und Nichtverstehen aus der Perspektive von Lehramtsstudierenden Julia Landgraf ........................................................................ 305

Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen Positionen und Schnittpunkte des literaturdidaktischen Diskurses Hendrick Heimböckel, Jennifer Pavlik

Sprachbasierte ästhetische Formen wie Literatur, Bühnenstücke und andere, sogenannte neuere, Medienformen fordern Rezipient*innen sinnlich, kognitiv und emotional. Im Verlauf, im Anschluss und im Nachgang der Rezeption ereignen sich Momente sowie Phasen des Verstehens und Nichtverstehens.1 Sie markieren Prozesse, Zustände oder Ziele. In der Schule und in anderen Bildungseinrichtungen wird mit ästhetischen Formen gelehrt und gelernt. Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen lassen sich vor diesem Hintergrund als basale Kategorien des Unterrichts mit ästhetischen Formen beschreiben. Diesen Kategorien wollen wir uns im folgenden Sammelband zuwenden. Hierfür werden zunächst die interdisziplinären Bezüge und die innerdisziplinären Positionen, Modelle und Diskussionen der Ausdrücke Verstehen und Nichtverstehen im Kontext des deutschsprachigen Literaturunterrichts exemplarisch beschrieben, um dann die diesem Band zugrundeliegenden Fragen und Beiträge vorzustellen.2 Zum 1

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Das Kompositum Nichtverstehen kann ebenfalls mit einem Bindestrich geschrieben werden: Nicht-Verstehen. Beide Schreibweisen werden in literaturdidaktischen Beiträgen zu diesem Ausdruck verwendet. Von den vielfältigen Beiträgen zum Verstehen in Hinblick auf Literatur- und Mediendidaktik sowie auf interkulturelle Didaktik können neben den unten stehenden Ausführungen hier weitere ebenfalls nur exemplarisch angeführt werden: Spinner, Kaspar H. (1994): Fremdes Verstehen. Ein Hauptziel des Literaturunterrichts. In: Kurt Franz (Hg.): Interkulturalität und Deutschunterricht. Festschrift zum 65. Geburtstag von Karl Stocker. Neuried, S. 205-216. Bredella, Lothar (Hg.) (2002): Literarisches und interkulturelles Verstehen. Tübingen. Spinner, Kaspar H. (Hg.) (2006): Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch, Jg. 33, H. 200. Kammler, Clemens (Hg.) (2009): Lyrik verstehen. In: Praxis Deutsch, Jg. 36, H. 213. Bosse, Heinrich; Renner, Ursula (Hg.) (2010): Der Deutschunterricht, Jg. 25, H. 4. Winkler, Iris; Masanek, Nicole; Abraham, Ulf (Hg.) (2010a): Poetisches Verstehen. Literaturdidaktische Positionen – empirische Forschung – Projekte aus dem Deutschunterricht. Baltmannsweiler. Kammler, Clemens (Hg.) (2011): Symbole Verstehen. In: Praxis Deutsch, Jg. 38, H. 228. Pieper, Irene; Wieser, Dorothee (Hg.) (2012a): Fachliches Wissen und literarisches Verstehen. Studien zu einer brisanten Relation. Frankfurt a.M. u.a. Frickel, Daniela A.; Kammler, Clemens; Rupp, Gerhard

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Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen

Abschluss werden weitere Forschungsdesiderate angeführt, die sich aus den Ergebnissen des Workshops, der dem Band zugrunde liegt, und den Beiträgen herauskristallisiert haben.

Zur jüngeren Begriffsgeschichte von Verstehen in der Literaturdidaktik Am Verstehen führt in der Geschichte der Vermittlung von Medien kein Weg vorbei: Selbst dann, wenn es sich nicht um das vordergründige Unterrichtsziel handelt, geht solchen Lehr- und Lernsituationen die Frage danach voraus, was der- oder diejenige in der Rolle des oder der Vermittelnden in welcher Weise verstanden hat und welche Gründe für dieses Medium und diesen Inhalt sprechen. Historisch früheste Zeugnisse eines Nachdenkens über Bedingungen, Verlauf und Grenzen des Verstehens werden begriffsgeschichtlich in den überlieferten Texten frühmittelalterlicher Theologen einer christlich-platonischen Tradition verortet.3 Der Ausdruck Verstehen und die damit verbundenen Phänomene und Methoden sind Bestandteile ideengeschichtlicher Reflexion bis in die Gegenwart.4 Die moderne geisteswissenschaftliche Hermeneutik als Methode des Verstehens der schriftlichen und mündlichen Rede einer und eines Anderen wird bei Friedrich Schleiermacher angesetzt5 und wurde über namhafte Schlüsselfiguren, des Ideologieverdachts und reduktionistischer Tendenzen zum Trotz bis in die Gegenwart tradiert.6 Diese Ansätze mo-

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(Hg.) (2012): Literaturdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. Perspektiven und Probleme. Freiburg i.Br. u.a. Möbius, Thomas; Steinmetz, Michael (Hg.) (2016): Wissen und literarisches Lernen. Grundlegende theoretische und didaktische Aspekte. Frankfurt a.M. Odendahl, Johannes (2018): Literarisches Verstehen. Grundlagen und didaktische Perspektiven. Berlin. Freudenberg, Ricarda; Lessing-Sattari, Marie (Hg.) (2020): Zur Rolle von Irritation und Staunen im Rahmen literarästhetischer Erfahrung. Theoretische Perspektiven, empiriebasierte Beobachtungen und praktische Implikationen. Berlin. Vgl. Apel, Karl-Otto (2001): Verstehen. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11: U-V. Basel, S. 918f. Über die Unschärfen der begriffsgeschichtlichen Skizze bitte ich im Kontext dieser Ausführungen hinwegzusehen. Siehe zur Begriffsgeschichte ebd. Leschke, Rainer (2005): Verstehen. In: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 6: TanzZeitalter/Epoche. Stuttgart u.a., S. 330-367. Scholz, Oliver R. (3 2016): Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie. Frankfurt a.M. Vgl. Leschke (2005): Verstehen. In: Ästhetische Grundbegriffe. S. 341. Vgl. ebd., S. 364. Siehe hierzu etwa: Figal, Günter; Zimmermann Bernard (Hg.) (2013ff.): International Yearbook for Hermeneutics/Internationales Jahrbuch für Hermeneutik. Figal, Günter (2 2018): Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie. Tübingen.

Hendrick Heimböckel, Jennifer Pavlik: Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen

dellieren selbst Erkenntnistheorien, Anthropologien, Ethiken und Geschichtsphilosophien oder sie implizieren solche Modelle. Mit der Kognitionspsychologie entwickelt sich seit den 1970er Jahren ein empirisches Interesse am Ablauf und an der Funktionsweise des Textverstehens selbst, woraus ein standardisiertes Wissen der Kognitionspsychologie folgte.7 Damit wurden die verschiedenen Teilaspekte des nicht unmittelbar wahrnehmbaren Textverstehens zum Untersuchungsgegenstand der Psychologie und infolgedessen der Lesedidaktik.8 Seitdem wird Textverstehen innerhalb der Logik empirischer Forschung methodisch differenziert erschlossen, intersubjektiv überprüft, objektiviert und systematisiert. Dieser Wandel zeichnet sich in den 1990er und 2000er Jahren in didaktischen Kontexten deutlich ab: Die Maßstäbe der empirischen Psychologie und Sozialforschung wurden im Anschluss an die großen Schulvergleichsstudien TIMMS, VERA und PISA seit den 2000er Jahre sowie an die nationalen Bildungsstandards zur Grundlage schulischer Lehr- und Lernprozesse. Durch diesen Wandel als Resultat einer »politischen Willensbekundung […] erhofft man sich eine Qualitätsverbesserung schulischer Bildung und eine größere Vergleichbarkeit der Abschlüsse.«9 Das gilt auch für den Stellenwert und die Semantik des Verstehensbegriffs innerhalb der Literatur- und Mediendidaktik. In der Deutschdidaktik stieß dieser Wandel gerade in Hinblick auf den Literaturunterricht eher auf Ablehnung, doch ebenfalls auf affirmative und integrative Resonanz: »Diese [in den Bildungsstandards; d. Verf.] als Kompetenzbereiche bezeichneten Lernfelder mögen den Deutschunterricht sinnvoll strukturieren, mit fachwissenschaftlichen Kernideen haben sie aber kaum etwas gemein.«10 7

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Siehe etwa Kintsch, Walter; Dijk, Teun van (1983): Strategies of Discourse Comprehension. New York. Anderson, John R. (7 2013): Kognitive Psychologie. Dt. Ausg. hg. von Joachim Funke. Aus dem Engl. übers. von Katharina Neuser-von Oettingen. Berlin. Siehe Christmann, Ursula; Groeben, Norbert (1999): Psychologie des Lesens. In: Bodo Franzmann, Klaus Hasemann, Dietrich Löffler u.a. (Hg.): Handbuch Lesen. Berlin, S. 145-223. Schwarz-Friesel, Monika (2006): Kohärenz versus Textsinn. Didaktische Facetten einer linguistischen Theorie der textuellen Kontinuität. In: Maximilian Scherner, Arne Ziegler (Hg.): Angewandte Textlinguistik. Perspektiven für den Deutsch- und Fremdsprachenunterricht. Tübingen, S. 63-75. Rautenberg, Ursula; Schneider, Ute (Hg.) (2015): Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin u.a. Kammler, Clemens (2006): Literarische Kompetenzen. Standards im Literaturunterricht. Anmerkungen zum Diskussionsstand. In: Ders. (Hg.): Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. Modelle für die Primar und Sekundarstufe. Stuttgart, S. 7. Kämper-van den Boogaart, Michael (6 2016): Der Deutschunterricht des Staates. In: Ders. (Hg.): Deutsch-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin, S. 32. Hier ließen sich allein im Kontext der Literaturdidaktik viele Diskussionen anführen. Siehe hierzu paradigmatisch Kammler (2006): Literarische Kompetenzen. In: Ders.: Literarische Kompetenzen. S. 7-22. Winkler, Iris; Masanek, Nicole; Abraham, Ulf (2010): Zur Einführung. Poeti-

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Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen

Virulent werden die Unterschiede des hermeneutischen und empirischen Zugangs zum Verstehen darüber hinaus in den damit verbundenen Bildungskonzepten. Das Verstehen von ästhetischen Medien ist im Kontext einer hermeneutischen Didaktik eng an einen spätaufklärerischen Bildungsbegriff gebunden: Unabgeschlossenheit und Unvergleichbarkeit des Individuums sind die Voraussetzungen für Selbstreflexion und Bildung.11 Im Gegensatz dazu ist Verstehen in der empirisch fundierten Didaktik konkret an Begrenzung, Vergleichbarkeit und Überprüfbarkeit gebunden. Bildung wird in dieser Ausrichtung verstanden als Möglichkeit, um die Schüler*innen für die gesellschaftlichen Anforderungen fit zu machen. Verstehensprozesse können intentional gesteuert werden und stehen in kompetenz- und outputzentrierten Mittel-Zweck-Relationen.12

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sches Verstehen in Zeiten der Kompetenzorientierung. In: Dies.: Poetisches Verstehen. S. 58. Baum, Michael (2 2013): Literarisches Verstehen und Nichtverstehen. Kulturtheorie und Literaturunterricht. In: Volker Frederking, Hans-Werner Huneke, Axel Krommer u.a. (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Literatur- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler, S. 102-125. Kilian, Jörg; Neuland, Eva; Pfeiffer, Joachim u.a. (Hg.) (2017): Kontroversen der Deutschdidaktik. In: Der Deutschunterricht, Jg. 32, H. 2. Siehe im Gegensatz dazu die Versuche, standardisierte Kompetenzmodelle und empirisch verifizierte Modelle zu entwickeln: Zabka, Thomas (2012): Didaktische Analyse literarischer Texte. Theoretische Überlegungen zu einer Lehrerkompetenz. In: Frickel; Kammler; Rupp: Literaturdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. S. 139-162. Leubner, Martin; Saupe, Anja (3 2017): Textverstehen im Literaturunterricht und Aufgaben. Baltmannsweiler. Boelmann, Jan; König, Lisa (2021): Literarische Kompetenz messen, literarische Bildung fördern. Das BOLIVEModell. Baltmannsweiler. Vgl. Spinner, Kaspar H. (2010): Symbolisches Verstehen als Kernkompetenz des poetischen Verstehens. In: Winkler; Masanek; Abraham: Poetisches Verstehen. S. 55-67. Abraham, Ulf (2010): P/poetisches V/verstehen. Zur Eingemeindung einer anthropologischen Erfahrung in den kompetenzorientierten Deutschunterricht. In: ebd. S. 9-22. Vgl. hierzu holzschnittartig Bildung nach Johann G. Herder, Schleiermacher und August H. Niemeyer: Benner, Dietrich; Brüggen, Friedhelm (2004): Bildsamkeit/Bildung. In: Dietrich Benner, Jürgen Oelkers (Hg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim u.a., S. 193, 195, 197. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.) (2004): Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss. Beschluss vom 4.12.2003. München, S. 6. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.) (2014): Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012. Köln, S. 13. Vgl. Kämper-van den Boogaart (6 2016): Der Deutschunterricht des Staates. S. 27ff.

Hendrick Heimböckel, Jennifer Pavlik: Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen

Konzeptionen ästhetischen Verstehens in der deutschsprachigen Literaturdidaktik Carlo Brune beschreibt in seiner jüngst erschienenen Monographie ein typisches Modell ästhetischen Verstehens, das in der Tradition der Moderne seit dem 18. Jahrhundert steht. Brune grenzt ästhetische Rezeptionsprozesse von der Tätigkeit einer »bestimmenden Urteilskraft« ab.13 Ästhetische Rezeptionsprozesse zeichnen sich durch das Zusammenspiel von »Wahrnehmung, Vorstellung resp. Imagination und kognitiv-begrifflichem Verstehen« aus.14 »Die Wahrnehmungen [eines ästhetischen Artefakts; d. Verf.] werden nicht final in begrifflichen Bestimmungen aufgelöst und können somit das ästhetische Objekt verschiedenartig perspektivieren.«15 Der Modus ästhetischer Wahrnehmung ruft Vorstellungen hervor, die »individualisierte Zugänge« zu dem jeweiligen Gegenstand ermöglichen und in – wie Brune es nennt – »symbolischen Auffassungen des Objekts« münden.16 Ein begriffliches Verstehen zielt auf eine Korrespondenz zwischen den Inhalten des Verstehens und den Inhalten des Verstandenen ab, also auf Identifikation und Identität. Ästhetisches Verstehen hat demgegenüber gerade nicht den Abschluss bzw. die Definition »kognitiv-begrifflicher Zuordnungen« zum Ziel.17 Das heißt jedoch nicht, dass ästhetisches Verstehen nicht sprachlich artikulierbar sei. Nach Brunes Modellierung von ästhetischem Verstehen markiert die kognitiv-begriffliche Tätigkeit, das symbolisch Aufgefasste durch Sinn- und Bedeutungszuschreibungen zu artikulieren.18 Dem Dreischritt von Wahrnehmung, Assoziationen und Symbolproduktion sowie der darauffolgenden Artikulation von Sinn- und Bedeutungszuschreibungen ist strukturell das Moment der Produktion von Differenz eingeschrieben: Keiner der Schritte kann mit dem jeweils anderen zur Deckung gebracht werden. Dieses strukturelle Moment führt dazu, dass der Modus des ästhetischen Verstehens das Subjekt der Wahrnehmung auf seine eigene Bedingtheit der Bedeutungsproduktion verweist. Die Bewusstwerdung der Differenz führt zu einem wiederholten Einstieg in den Modus ästhetischer Wahrnehmung und in die Spirale des Verstehens: Auf diese Weise können automatisierte Verstehensmuster, die ggf. zunächst Anwendung finden, irritiert und so aufgebrochen werden. Es treten ästhetische Verstehensprozesse an ihre Stelle, die die ersten Ebenen – also die der sinnlichen 13 14 15 16 17 18

Brune, Carlo (2020): Literarästhetische Literalität. Literaturvermittlung im Spannungsfeld von Kompetenzorientierung und Bildungsideal. Bielefeld, S. 118. Ebd. Ebd., S. 121. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.

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Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen

Wahrnehmungen, der Vorstellungsbildung, Imagination und des ersten Symbolverstehens – neu durchlaufen.19 Ad infinitum – dieses Modell kennen wir als den hermeneutischen Zirkel. Die von Brune als bestimmende Urteilskraft bezeichnete Tätigkeit ist innerhalb der Deutschdidaktik grundlegend für das Konzept der Lesekompetenz und für einen kompetenten Umgang mit Literatur, das heißt für das Textverstehen, Sinnverstehen und für das literarische Verstehen. Die entsprechenden Kompetenzmodelle sind kognitionspsychologisch fundiert. Sie folgen der Entwicklung von hierarchieniedriger zu hierarchiehoher Identifikation von Einheiten in Texten: von den kleinsten schriftsprachlichen Einheiten der Buchstaben über die referentielle Wortbedeutung, die Syntax von Sätzen bis hin zum Ziehen von Inferenzen zur Bildung von lokaler und globaler Kohärenz.20 In den Worten von Bredel und Pieper: »Die erfolgreiche Interaktion dieser […] Teilprozesse [auf Wort-, Satz- und Textebene; d. Verf.] ist die Voraussetzung für das Textverstehen.«21 Dieses Textverstehen ist kognitionspsychologischer Terminologie zufolge ein adäquates Textmodell bzw. Situationsmodell. Nach Monika Schwarz-Friesel ist die »Etablierung von globaler Kohärenz […] in vielen Textverstehensprozessen die Voraussetzung für weitergehende Sinnauslegungen.«22 Die empirische Modellierung eines solchen »Sinnverstehens« basiert auf der »Wechselwirkung zwischen den Merkmalen des vorgegebenen Texts […] und der Kognitionsstruktur der Rezipienten.«23 Von den schematischen und überprüfbaren basalen Kompetenzen der Identifikation von Buchstabe, Wort und Satz und der Kohärenzbildung markiert das Ziehen von Inferenzen den Übergang zu einem interpretierenden Verstehen oder Sinnverstehen, das gerade für Literatur gelte: »Inferenzen sind Verstehensprozesse, mit denen die Leser/innen über die unmittelbar im Text enthaltene Information hinausgehen. Sie führen zu einer Anreicherung oder Verdichtung des Texts und sind in der aus dem Lesevorgang resultierenden Textrepräsentation integriert enthalten.«24 Für ein Lernen mit Literatur, das von einem Lehren ausgeht, wäre es dementsprechend wichtig, die »Inferenztätigkeit von Leser/innen […] durch entsprechende Instruktionen gezielt« aufzubauen und zu fördern – so vermutet es Christmann.25

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Ebd. Vgl. Schwarz-Friesel (2006): Kohärenz versus Textsinn. Christmann, Ursula (2015a): Kognitionspsychologische Ansätze des Lesens. In: Rautenberg; Schneider: Lesen. S. 21-45. Bredel, Ursula; Pieper, Irene (2015): Integrative Deutschdidaktik. Paderborn, S. 187. Schwarz-Friesel (2006): Kohärenz versus Textsinn. In: Angewandte Textlinguistik. S. 70. Christmann, Ursula (2015b): Lesen als Sinnkonstruktion. In: Rautenberg; Schneider: Lesen, S. 170. Ebd., S. 174. Ebd., S. 180.

Hendrick Heimböckel, Jennifer Pavlik: Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen

Um angehenden Deutschlehrer*innen Schemata zur Vermittlung von Sinnverstehen an die Hand zu geben, wurden in den letzten 20 Jahren mehrere ausdifferenzierte Modelle des literarischen Verstehens entworfen. Der Entwicklung dieser Modelle geht die Ausrichtung des Unterrichts und der Didaktiken an operationalisierbaren, messbaren und überprüfbaren Kriterien vorweg – also an einem wissenschaftlichen Paradigma der Fakten, Evidenzen und Empirie. Seit Anfang der 2000er Jahre bringt Thomas Zabka im Anschluss an die kompetenzorientierte Messung der Leistungen von Schüler*innen sowie den Bildungsstandards Vorschläge in den Diskurs ein, in denen er Ziele des Deutschunterrichts als Schulfach, literarästhetische Spezifika und empirische Standardisierung zu literaturdidaktischen Modellen des Verstehens verbindet.26 In diesen Zusammenhängen kombiniert er heterogene Basisannahmen der Rezeptionsästhetik (Unbestimmtheit), des Strukturalismus (Überstrukturiertheit), der Hermeneutik (Mehrdeutigkeit) und der empirischen Bildungsforschung (Kompetenzen und mentale Modellbildung).27 Im Kontext von Professionalisierungsfragen bietet Zabka mit dieser Zusammenführung ein Schema an, das Lehrer*innen zur didaktischen Analyse medialer Unterrichtsgegenstände dienen kann. Jan Boelmann und Julia Klossek entwickelten Anfang der 2010er Jahre das Bochumer Modell des literarischen Verstehens.28 Das literarische Verstehen sei ein

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Vgl. etwa Zabka, Thomas (2003): Interpretationskompetenz als Ziel der ästhetischen Bildung. In: Didaktik Deutsch, Jg. 8, H. 15, S. 19. Ders. (6 2016): Literarästhetisches Verstehen. Kompetenzen, textseitige Anforderungen und Lernaufgaben am Beispiel der Erzählung Indigo. In: Andrea Bertschi-Kaufmann, Tanja Graber (Hg.): Lesekompetenz, Leseleistung, Leseförderung. Grundlagen, Modelle und Materialien. Zug, S. 156. Vgl. beispielsweise ebd., S. 156f. Die These, dass es »keine Sonderformen ästhetischen Verstehens [gibt], die kognitionswissenschaftlich nicht beschreibbar wären«, und die gleichzeitige Inanspruchnahme ästhetischer Termini wie »Mehrdeutigkeit«, »Unbestimmtheit« und »Irritation« bedürfen einer Verständigung in Hinblick auf die Frage, inwiefern diese Aussagen und Begriffe überhaupt vermittelbar oder sie wissenschaftstheoretisch inkommensurabel sind. Beispielsweise ist die Individualität der Lektüre und eines ästhetischen Verstehens mit einer objektivierten Beschreibung von Textrezeption nicht vereinbar. So ist das Verhältnis von Irritation und Ambiguitätstoleranz in schulischen Rezeptionsprozessen theoretisch, empirisch und historisch bisher nicht im notwendigen Maße in der Literaturdidaktik reflektiert. Vgl. Zabka, Thomas (2012): Didaktische Analyse literarischer Texte. S. 149f. Ob es überhaupt eine kulturübergreifende und die Gegenwart überschreitende Form literarischer Rezeptionskonventionen gibt, ist ebenfalls diskussionswürdig. Vgl. ders. (6 2016): Literarästhetisches Verstehen. In: Bertschi-Kaufmann, Graber: Lesekompetenz, Leseleistung, Leseförderung. S. 154. Dieses Modell wurde in den letzten Jahren weiterentwickelt und modifiziert. Vgl. Boelmann; König (2021): Literarische Kompetenz messen. Da den Verfassern die aktuelle Veröffentlichung zu diesem Modell nicht vorliegt, beziehen wir uns auf die Vorstellung des Modells von 2013.

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Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen

»Akt der subjektiven Sinnbildung«.29 Es wird ganz in hermeneutischer Logik als »Prozess verstanden, dessen Charakteristikum die selbstreflexive und interaktive Annäherung eines Interpreten an einen Text ist, ohne dass der Interpret alle möglichen Textsinne jemals vollends erfassen kann.«30 Dieser Prozess wird zur Operationalisierung in Teilprozesse unterteilt, um zu überprüfen, wie kompetent jemand literarisch verstehen kann. Das Modell literarästhetischer Urteilsbildung von Volker Frederking und anderen dient dem Bestreben, literarisches Verstehen vom Leseverstehen zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang markieren sie deutlich eine der literaturwissenschaftlichen und didaktischen Kontroversen: »Die Erfassung literarischer Textverstehenskompetenz mit den Mitteln der empirischen Bildungsforschung basiert auf einer Annahme, die im Bereich der Literatur traditionell bezweifelt wird: dass die Ausprägung von literarischer Textverstehenskompetenz objektiv erfassbar sei.«31 Mit Bezug auf Umberto Ecos Offenes Kunstwerk beschreiben die Beteiligten an der LUK-Studie literarisches Verstehen als Kompetenzen: textnahen kohärenten Sinn bilden, die Sinnstiftung plausibilisieren und erläutern, wodurch Texte Mehrdeutigkeit erzeugen.32 Martin Leubner und Anja Saupe entwickelten ein ähnliches Modell, das jedoch stärker die Referentialität von Literatur betont und sich in drei Ebenen gliedert. Literarisches Verstehen heißt, Kohärenz zu bilden, zu interpretieren und den Text auf die Wirklichkeit zu beziehen sowie das literarische Weltmodell abzulehnen oder ihm zuzustimmen.33 Irene Pieper und Dorothee Wieser haben 2012 einen Sammelband herausgegeben, der sich der Frage widmet, inwiefern das Wissen des akademischen Diskurses etwa in Hinblick auf Gattung, Rhetorik und Erzähltheorie für literarisches Verstehen im Unterricht zielführend oder im Gegenteil problematisch ist.34 Die Beiträge setzen sich vorwiegend auf Grundlage empirischer Studien mit den Teilkompetenzen des literarischen Verstehens auseinander, wie sie für die Modellierung literarischen Verstehens typisch sind.

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Boelmann, Jan; Klossek, Julia (2013): Das Bochumer Modell literarischen Verstehens. In: Daniela A. Frickel, Jan Boelmann (Hg.): Literatur – Lesen – Lernen. Festschrift für Gerhard Rupp. Frankfurt a.M., S. 45f. Ebd., S. 46. Frederking, Volker; Meier, Christel; Brüggemann, Jörn (2011): Literarästhetische Verstehenskompetenz. Theoretische Modellierung und empirische Forschung. In: Zeitschrift für Germanistik, Jg. 21, H. 1, S. 133. Vgl. ebd., S. 135. Vgl. Leubner; Saupe (3 2017): Textverstehen im Literaturunterricht. S. 16f. Vgl. Pieper, Irene; Wieser, Dorothee (2012b): Einleitung. In: Dies.: Fachliches Wissen und literarisches Verstehen, S. 8.

Hendrick Heimböckel, Jennifer Pavlik: Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen

Die Teilkompetenzen, aus denen sich diesen Modellen zufolge literarisches Verstehen zusammensetzt, ähneln sich in vielerlei Hinsicht, setzen aber unterschiedliche Nuancen und sind gleichfalls in den Bildungsstandards repräsentiert. Sie unterscheiden sich insofern von der theoretischen Konzeption Brunes, als sie schulische Formen der Interaktion mit Literatur an den Bildungsstandards ausrichten und einem empirischen Paradigma der Bildungswissenschaften folgen, das auf Anwendbarkeit und Verifikation der Modelle des Verstehens ausgerichtet ist. Den empirischen Studien zum literarischen Verstehen sowie den zugrundliegenden Modellen des literarischen Verstehens ist gemeinsam, dass sie in Teilkompetenzen zergliedert sowie identifiziert werden und dadurch lehrbar seien. Die oben hervorgehobenen Forschungsansätze rund um den Begriff des Verstehens haben den literatur- und mediendidaktischen Diskurs bis dato größtenteils bestimmt, was nicht verwundert, da ein unterrichtliches Geschehen ohne diesen Grundbegriff wohl nicht stattfinden kann. Zu fragen wäre aber, ob es sinnvoll und erstrebenswert ist, den Literatur- und Medienunterricht vollends darauf auszurichten und damit Formen und Facetten des Nichtverstehens allenthalben an den Anfang von Unterrichtszusammenhängen zu stellen, um etwa Irritationsmomente zu initiieren, die es im Verlauf von Lernarrangements aufzulösen gilt. Damit einher geht die viel grundsätzlichere Frage, ob Unterrichtsmodelle – man denke etwa an die literaturdidaktischen Phasenmodelle – ihrem Gegenstand, der Literatur, auf diesem Weg überhaupt gerecht werden und ob sie die Komplexität von Verstehensvorgängen adäquat abbilden können. Projektmanager*innen würden die Frage stellen: »Wie isst man einen Elefanten?« – und natürlich auch die Antwort kennen: »Stück für Stück«. Der Schriftsteller Hans Henny Jahnn würde mit den Worten Oskar Loerkes ergänzen: »Man zerlegt den Elefanten, aber man sieht ihn nicht.«35 Diese Bilder spitzen die epistemologischen, aber vor allem die ethischen und ästhetischen Probleme einer empirischen Heuristik der Literaturdidaktik zu.

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Jahnn, Hans Henny (2 1991): Fluß ohne Ufer. Roman in drei Teilen. Teil 1. Das Holzschiff. Die Niederschrift des Gustav Anias Horn 1. Hamburg, S. 877 (= Hans Henny Jahnn. Werke in Einzelbänden. Hamburger Ausgabe. Hg. von Uwe Schweikert und Ulrich Bitz, Bd. 2.1). Siehe zum Ursprung des Zitats bei Oskar Loerke: Meyer, Jochen (2008): Man zerlegt den Elefanten, aber man sieht ihn nicht. Hans Henny Jahnn, Oskar Loerke und ein Debüt. In: Nigel Harris (Hg.): The Text and Its Context. Studies in Modern German Literature and Society. Presented to Ronald Speirs on the Occasion of His 65th Birthday. Oxford u.a., S. 177-190.

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Zur jüngeren Begriffsgeschichte von Nichtverstehen in der deutschsprachigen Literaturdidaktik Die Bedeutung von Nichtverstehen ist im literaturwissenschaftlichen Diskurs spätestens seit der sogenannten Postmoderne verstärkt ins Zentrum des Interesses gerückt.36 Sie beruht auf der Infragestellung der Einheit von Sinn und der eindeutigen Zuordenbarkeit von Signifikat und Signifikant und ist spätestens seit den 2000er Jahren auch in der literaturdidaktischen Forschung in produktive Dialoge überführt worden.37 Wichtig erscheint in diesen Diskursen die Tatsache, dass beide Begriffe, Verstehen und Nichtverstehen, keineswegs als sich ausschließende Gegensätze verstanden werden, sondern als sich gegenseitig befruchtende Lernerfahrungen. So werden etwa Irritationen des Leseflusses als Möglichkeiten verstanden, um Verstehensprozesse zu befeuern und die Unabschließbarkeit literarischer 36

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Vgl. unter anderem Bossinade, Johanna (2000): Poststrukturalistische Literaturtheorie. Stuttgart u.a. Culler, Jonathan (1999): Dekonstruktion: Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek bei Hamburg. De Man, Paul (1988): Allegorien des Lesens. Hg. von Werner Hamacher. Frankfurt a.M. Forget, Philippe (Hg.) (1984): Text und Interpretation. Deutsch-Französische Debatte. München. Sowie grundlegender: Lyotard, François (1979): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien. Barthes, Roland (1966): Kritik und Wahrheit. Frankfurt a.M. Lacan, Jacques (1967): Schriften. Weinheim u.a. Foucault, Michel (1966): Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M. Derrida, Jacques (1966): Grammatologie. Frankfurt a.M. Deleuze, Gilles (1968): Differenz und Wiederholung. München. Vgl. v.a. Baum, Michael (2019): Der Widerstand gegen die Literatur. Dekonstruktive Lektüren zur Literaturdidaktik. Bielefeld. Boelderl, Artur R. (2018): »Kannitverstan« als literaturdidaktisches Prinzip. Von der In-Kompetenz der Problemlösung und der Nicht-Kompetenz der Problemfindung. In: ide. Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule, Jg. 42, H. 1. S. 94-107. Wintersteiner, Werner (2016): Von der Unmöglichkeit literarischer Bildung und ihrer Notwendigkeit. In: Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy, ders. (Hg.): Die Ansprüche der Literatur als Herausforderung für den Literaturunterricht. Baltmannsweiler, S. 45-66. Mitterer, Nicola (2016): Das Fremde in der Literatur. Bielefeld. Baum (2 2013): Literarisches Verstehen und Nichtverstehen. In: Taschenbuch des Deutschunterrichts. S. 102-125. Wintersteiner, Werner (2011): Alte Meister – Über die Paradoxien literarischer Bildung. In: Didaktik Deutsch, Jg. 16, H. 30, S. 5-21. Steinbrenner, Marcus; Wiprächtiger-Geppert, Maja (2010): Verstehen und Nicht-Verstehen im Gespräch. Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs. In: leseforum.ch 3/2010. URL: https://www.leseforum.ch/sysModules/obxLe seforum/Artikel/434/verstehen-und-nicht-verstehen-im-gespraech.pdf [Stand: 01.01.2022]. Erstveröffentlichung in: Literatur im Unterricht, Jg. 7 (2006), H. 3. Baum, Michael (2010): Die verdrängte Paradoxie oder Warum die Literaturdidaktik die Dekonstruktion vergaß. In: Ders., Marion Bönnighausen (Hg.): Kulturtheoretische Kontexte für die Literaturdidaktik. Baltmannsweiler, S. 107-123. Härle, Gerhard (2000): »jetzt kann ich grad ganz viel mit anfangen und auf der anderen Seite auch GAR nichts«. Fünf Versuche über das Verstehen des Nicht-Verstehens im literarischen Unterrichtsgespräch. In: Felix Heizmann, Johannes Mayer, Marcus Steinbrenner (Hg.): Das literarische Unterrichtsgespräch. Didaktische Reflexionen und empirische Rekonstruktionen. Baltmannsweiler, S. 49-69.

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Interpretationen vor Augen zu führen. Dabei unterscheiden sich die Forschungsansätze mit Blick auf die Frage, ob Momente des Nichtverstehens auf einer höheren Verstehensebene aufgelöst werden sollten oder es sich dabei um gleichberechtigte Lernansätze handelt, die sich wechselseitig bedingen und befruchten. Mit der Entscheidung dieser Grundsatzfrage verändern sich auch die zu erwartenden Lernziele des Deutschunterrichts, die entweder dem Verstehensverdikt verbunden bleiben oder versuchen, verschiedene Verstehensansätze bzw. sich gar widersprechende Interpretationsmöglichkeiten als unauflösbare Ambiguitäten bestehen zu lassen. Ein dritter möglicher Weg besteht darin, Verstehensansätze in die Prozesse der Lektüre und der Auslegung zu integrieren und Formen des Scheiterns, des Nichtgelingens und des Inkommensurablen als integrale Bestandteile von Verstehensversuchen zu betrachten.

Deutschdidaktische Debatten des ästhetischen Nichtverstehens in Hinblick auf Literatur Ein Überblick über die Debatten, die in den letzten Jahren in der literaturdidaktischen Forschung über den Sinn und die Grenzen von Verstehen bzw. Nichtverstehen geführt worden sind, macht deutlich, dass es sich um ein Feld handelt, das zum Teil von äußerst kontroversen Ansätzen geprägt ist. Wie herausfordernd dieser Dialog mitunter werden kann, hat unter anderem Gerhard Härle herausgearbeitet, als er auf den »Grundwiderspruch« hingewiesen hat, »der sich durch unsere kulturelle Tradition der Erfahrung mit literarischen Texten und ihrem Verstehen zieht, sich immer wieder aktualisiert und dabei in seinen Ausläufern auch für heftige Verwerfungen in der literaturdidaktischen Diskussion sorgt.«38 Dieser Grundwiderspruch beruht auf dem jeweiligen Literaturverständnis der didaktischen Ansätze, das entweder als deutungsoffener und nicht kategorisierbarer imaginativer Raum oder als eindeutig dechiffrierbares Textkorpus verstanden wird. Auch wenn diese Gegenüberstellung, wie Härle eigens betont, wohl zu dichotom ist, drücke sich in empirischen Ansätzen (in mehr oder weniger ausgeprägter Form) der Anspruch aus, man könne, wie oben mit Blick auf Zabka ausgeführt, ›Verstehen‹ kategorisieren und hierarchisieren. Verstehensbewegungen würden so zu Verstehensleistungen, was unter anderem zur Folge habe, dass nur das Stimmige Gehör finde, da sich das Unstimmige den binären Kategorien entziehe, »die auch noch der differenziertesten Hierarchietabelle zugrunde liegen.«39 Während empirisch-überprüf-

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Härle, Gerhard (2010): Irritation und Nicht-Verstehen. Zur Hermeneutik als Provokation für die Literaturdidaktik. In: Ders.; Bönnighausen (Hg.): Kulturtheoretische Kontexte für die Literaturdidaktik. S. 13. Ebd.

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baren Analyseverfahren ein hoher erkenntnistheoretischer ›Output‹ zugesprochen werde, würde übersehen, dass diese Formen des Textverstehens literarischen Werken nicht gerecht werden könnten.40 Härle stellt damit die grundsätzliche Frage, ob es sich überhaupt noch um eine Form von literar-ästhetischem Lernen handelt, wenn man Verstehensleistungen von Schüler*innen kategorisiert, oder ob sich dadurch nicht vielmehr ein Unterricht ergebe, der unter Rückgriff auf beliebige Gegenstände »all[e] möglichen Sprach- und Lesekompetenzen« vermittele.41 Um dem Literaturbegriff des Deutschunterrichts gerecht zu werden, fordert Härle daher eine Rückbesinnung auf bzw. eine Neuentdeckung von hermeneutischen Ansätzen, die sich ihrer dekonstruktiven Herausforderungen bewusst sind und Literatur nicht als Gegenstand, sondern als Ereignis begreifen, das die Lesenden nicht dazu einlädt, Wissen zu akkumulieren, sondern Erfahrungen zu sammeln, die das eigene Denken und Handeln in Frage stellen und transzendieren können. Das von Härle mitentwickelte Heidelberger Modell des literarischen Unterrichtsgesprächs ist ein Versuch, die unendlichen Dialoge mit Literatur – und nicht die unendlichen Dialoge über sie – ins Zentrum des Lernens zu stellen und dadurch Irritationsmomente, Ambiguitäten und Verstehensgrenzen zu produktiven Momenten des Lernens werden zu lassen, die nicht zwangsläufig aufgelöst, sondern zunächst erst einmal wahrgenommen werden sollten. Die intensive Art der Wahrnehmung, die dadurch trainiert wird, könnte man mit den Worten von Ulf Abraham als eine ästhetische beschreiben. Sie zielt auf »die Bereitschaft [ab], ›Ganzheiten‹ zu erfassen« und geht »untrennbar mit Reflexion« einher, die sich sowohl auf die Wahrnehmung und Beschreibung von Gegenständen richtet als auch auf die Bedingungen des Wahrnehmens selber.42 Literarische und ästhetische Werke laden uns folglich dazu ein, über die Formen unserer Wahrnehmung nachzudenken, indem sie unsere rezeptiven Wahrnehmungsgewohnheiten irritieren. Diese Irritationen setzen jedoch keineswegs so selbstverständlich ein, wie man mit Blick auf das ›Störpotenzial‹ von Literatur annehmen könnte,43 da viele, insbesondere ungeübte, Leser*innen beispielsweise dazu neigen, entsprechende Textstellen als vermeintlich verstandene zu begreifen oder sie als störende Faktoren ihrer Interpretation auszublenden. Auch wenn Abraham betont, dass gerade »[d]ie Fähigkeit und Bereitschaft, sich irritieren zu lassen« als »Gradmesser ästhetischer 40 41 42

43

Vgl. ebd. Ebd. Abraham, Ulf (2000): Das a/Andere W/wahrnehmen. Über den Beitrag von Literaturgebrauch und literarischem Lernen zur ästhetischen Bildung im Deutschunterricht. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Jg. 47, H. 1, S. 12; Herv. i.O. Vgl. Lessing-Sattari, Marie; Wieser, Dorothee (2018): Von der Schwierigkeit, sich irritieren zu lassen. Eine literaturdidaktische Herausforderung. In: Literatur im Unterricht, Jg. 17, H. 2, S. 127-142.

Hendrick Heimböckel, Jennifer Pavlik: Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen

Erfahrung im Literaturunterricht«44 angesehen werden kann, so muss er gleichzeitig auch die Problematik dieses Anspruchs einräumen: »Ästhetische Erfahrung […] ist – im Unterricht wie auch in anderen Situationen des Literaturgebrauchs – unberechenbar und außerordentlich flüchtig. Sie ist ein wichtiges, aber instabiles Element des Lernens.«45 In einem radikaleren Sinne schließt Michael Baum an diesen Diskurs an und betont in seiner Publikation Der Widerstand gegen die Literatur, dass die Ausrichtung des Deutschunterrichts auf die »Lehrbarkeitsdoktrin«46 nicht nur den eigentlichen Gegenstand des Literaturunterrichts verfehle, sondern weitreichende Konsequenzen nach sich ziehe. Seiner Argumentation zufolge beruhe ein auf Verstehen ausgerichtetes Lehr- und Lernsetting auf der Annahme, dass Subjekte ›kannibalisch‹ Wissen in sich aufnehmen würden: »Der kognitionswissenschaftliche Begriff von Text als Repräsentation, Lektüre als Symbolverarbeitung und Verstehen als Konstruktion von Situationsmodellen adressiert nicht mehr ein Subjekt, welches daraus ein ›Handlungswissen‹ zu seiner Orientierung gewinnen könnte.«47 Es gehe »nicht mehr darum, Subjekte zu bilden, sondern Wissenschaftsaufbau zu konditionieren – bei gleichzeitigem Überleben notwendiger Subjekt-Fiktionen. Das Subjekt ist nicht mehr das explizite Ziel der Bemühungen, sondern das implizite Regulativ des didaktischen Wissens.«48 Diese Spaltung des Subjekts resultiere daraus, dass die lernenden Subjekte nicht Ausgangspunkte ihrer eigenen Konstruktion seien, aber im Anschluss an die Wissensvermittlung so agieren sollen. Um dieses hier nur sehr verkürzt dargestellte Missverhältnis aufzulösen, schlägt Baum vor, von einem dekonstruktiven Sprachverständnis auszugehen,49 also von der Annahme, dass Schüler*innen niemals in die Lage gebracht werden können, Literatur (bzw. Sprache per se) gänzlich zu verstehen. Vielmehr solle sich ihnen die Perspektive eröffnen, dass Sprache prinzipiell ambig sei und der Anspruch, sie abschließend zu verstehen, einer Illusion gleiche. Der in der Sprache inhärente Grundwiderspruch zwischen grammatischer und rhetorischer Funktion führe dazu, wie Baum unter Rekurs auf theoretische Ausführungen von Paul de Man deutlich macht, dass jeder Versuch, sprachliche Gebilde auf einen, wenn auch nur möglichen Sinn zu dechiffrieren, in unüberbrückbare Widersprüche verstricke und die Besonderheiten des Literarischen – die unaufhebbare Ambiguität der sprachlich-ästhetischen Form – missachte. Dabei sei gerade diese Einsicht in die 44 45

46 47 48 49

Abraham (2000): Das a/Andere W/wahrnehmen. S. 17; Herv. i.O. Ebd., S. 19. Vgl. hierzu v.a. auch: Nickel-Bacon, Irmgard (Hg.) (2018): Ästhetische Erfahrung mit Literatur. Textseitige Potenziale, rezeptionsseitige Prozesse, didaktische Schlussfolgerungen. Unter Mitarb. von Verena Ronge. München. Baum (2019): Der Widerstand gegen die Literatur. S. 53. Ebd., S. 40. Ebd. Vgl. ebd., S. 51.

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Besonderheit und den Möglichkeitscharakter ästhetischer Formen das, was man als das eigentliche Lernziel des Deutschunterrichts beschreiben könne. Mit Blick auf die gegenwärtige Ausrichtung der Literaturdidaktik auf Kompetenzmodelle des Verstehens betont Baum daher, die »Literatur der Literaturdidaktik« sei die domestizierte, lehrbar gemachte. […] Wenn die Beschäftigung mit den Bildern und Doppelbödigkeiten, den Provokationen des Lesers und den intertextuellen Spielen beginnt, verliert die Didaktik den Boden unter den Füßen. Lehrbarmachen heißt, das Besondere auf ein als allgemein Vorgestelltes […] hochrechnen. Doch die Literatur verfährt genau umgekehrt: sie bricht das Allgemeine in der Besonderheit ihrer rhetorischen Verfassung.50 Sein Credo lautet entsprechend: »Literatur sollte gelehrt werden […], weil sie nicht gelehrt werden kann – wenigstens im Sinn einer Lehre, die auf verstehen und bewältigen hinausläuft. Im nicht Lehrbar-Sein liegt die Würde der Literatur.«51 Seine abschließende These impliziert jedoch keineswegs die Annahme, dass jede Form der Lehre von Literatur zwecklos sei. Ihm geht es vielmehr »um die kleinen Differenzen, die letztlich doch alles in Unruhe versetzen«.52 Wichtig sei daher eine »Öffnung der Lehre der Literatur«, die nicht nach dem ausgerichtet ist, was nützt oder erwünscht ist, sondern, was möglich ist: So könne sich die Literaturdidaktik als »Lehre vom Unmöglich-Möglichen«53 etablieren und die Bedeutung des Nichtverstehens von Literatur stärker in den Fokus rücken. Michael Baum steht mit diesem Vorschlag keineswegs allein in dem hier sehr grob skizzierten literaturdidaktischen Feld. Werner Wintersteiner und vor allem Nicola Mitterer haben mit ihren Publikationen zum poetischen Verstehen bzw. zur responsiven Literaturdidaktik Beiträge vorgelegt, die aufzeigen, wie produktiv ein Literaturunterricht sein kann, der Formen des Nichtverstehens in den Mittelpunkt rückt.54 Unter Rekurs auf die Phänomenologie von Bernhard Waldenfels hebt Nicola Mitterer hervor:

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Ebd., S. 265. Ebd. Ebd. Ebd., S. 266. Vgl. unter anderem Mitterer (2016): Das Fremde in der Literatur. Wintersteiner, Werner (2010): Wir sind, was wir tun. Poetisches Verstehen als fachdidaktische Herausforderung. In: Winkler; Massanek; Abraham: Poetisches Verstehen. S. 23-35. Diesen Publikationen ist gemeinsam, dass sie nicht nur über die Bedeutung des Nichtverstehens für den Literaturunterricht reflektieren, sondern insbesondere Verbindungen zu interkulturellen Lesemodellen herstellen und damit den Verstehensanspruch des Deutschunterrichts auch vor dem Hintergrund einer kulturwissenschaftlichen Perspektivierung von literarischem Lernen problematisieren.

Hendrick Heimböckel, Jennifer Pavlik: Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen

Responsivität […] trägt […] die Paradoxie eines Antwortens in sich, das die Fragen, die ein Text aufwirft, wahrnimmt und auf diese nicht nur reagiert, sondern sich vor allem von diesen ergreifen und den hermeneutischen Prozess von diesen vorantreiben lässt. Ein »Verstehen« der […] literarischen Texte im engeren Sinne soll damit nicht behauptet werden.55 Das Ziel eines so verstandenen Literaturunterrichts besteht darin, eine Form der Wahrnehmungsfähigkeit, einen passiven, responsiven Habitus, auszubilden, der das Fremde des Textes nicht absorbiert, sondern zunächst ein sinnliches Erlebnis von Literatur ermöglicht.56 In einem an Jürgen Kreft angelehnten, sich aber gleichwohl kritisch von ihm distanzierenden, dreiphasigen Modell zeigt Mitterer auf, wie ein Literaturunterricht aussehen könnte, der weniger darauf ausgerichtet ist, Fragen an literarische Texte zu stellen, die es zu klären gilt, als vielmehr die Antworten der ästhetischen Werke in den Mittelpunkt zu rücken. Dabei wird deutlich, dass einer der entscheidenden Unterschiede zwischen einer ›traditionellen‹ und einer responsiven Literaturdidaktik in dem Blick begründet liegt, den die Schüler*innen dabei ausbilden: Sie lassen ästhetische Formen für sich sprechen, sie lassen sich von ihnen irritieren, erschüttern und befremden, um diese Befremdung für eine Introspektion des Eigenen zu nutzen – und dadurch nach der Lektüre als ein(e) andere(r) zu leben. Hat man diesen existentiellen Anspruch des Literaturunterrichts im Hinterkopf, verwundert es nicht, dass Nicola Mitterer von den »ethischen Notwendigkeiten poetischen Verstehens«57 spricht und betont, dass die »Fähigkeit zum Umgang mit Literatur in Anerkennung ihrer radikalen Fremdheit ein Menschenrecht« sein sollte – »ein Bestandteil jeglicher Bildung, wie ›basal‹ auch immer sie sein mag«.58

Über diesen Band An den nur sehr kurz und beispielhaft dargestellten Diskurs zum ästhetischen Verstehen und Nichtverstehen schließt dieser Band an. Die Beiträge wenden sich dem Thema vor dem Hintergrund eines digitalen Workshops aus dem März 2021 zu, in dem ebenfalls das voraussetzungsreiche und doch notwendige Begriffspaar der Literatur- und Mediendidaktik im Zentrum stand. Es ging uns zum einen darum, über die verschiedenen neuen und bekannten Konzepte von Verstehen und Nichtverstehen im Umgang mit ästhetischen Gegenständen in Kontexten des Lernens miteinander ins Gespräch zu kommen. Zum 55 56 57 58

Mitterer (2016): Das Fremde in der Literatur. S. 13. Vgl. ebd., S. 272. Ebd., S. 15. Ebd., S. 14.

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Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen

anderen haben wir über die Tragweite dieser Konzepte und ihre Adäquatheit für die verschiedenen Dimensionen schulischer Lernkontexte diskutiert. Mit anderen Worten: Wir wollten die Bedeutungsräume von Verstehen und Nichtverstehen entfalten und nachvollziehen, wie sie jeweils den Umgang mit ästhetischen Gegenständen in Kontexten des Lernens prägen. Sowohl das Arbeitstreffen als auch der vorliegende Band tragen nicht Literatur im Titel, weil die ästhetischen Gegenstände des Deutschunterrichts umfassender sind. Wir haben uns auch gegen Medien des Deutschunterrichts entschieden, weil die hier antizipierten Medien eben nicht nur Gegenstände des Deutschunterrichts sind. Es geht uns also um spezifische und wesentliche Begleiterscheinungen und Ziele der Rezeption ästhetischer Gegenstände im Schulunterricht, die wir vor dem Hintergrund aktueller Zugänge zu Begriffen, Geschichte, Theorie und Empirie in den Blick nehmen wollen. Dabei werden Fragen nach der Aktualität und der heuristischen sowie diskursiven Systematik des Begriffspaars in den Vordergrund gerückt. Im Kontext des Wandels der Lehrer*innenausbildung, der Erweiterung der im Unterricht eingesetzten Medien und den damit veränderten sowie der in Veränderung begriffenen Lehr- und Lernsituationen wird unter anderem folgende Frage gestellt: i) nach der Aktualität des Begriffspaars und der Aktualität seiner Geschichte. Darüber hinaus lässt es die föderale und internationale Ausdifferenzierung des Schulwesens sowie die zunehmende Heterogenität von Klassen nicht zu, im Zusammenhang mit schulischen Lehr- und Lernsituationen von bloß einer Begriffsheuristik oder einem adäquaten Begriff zu sprechen. Dementsprechend wollen wir uns ii) systematisch der Frage nähern, welche Begriffe von Verstehen und Nichtverstehen angesichts welcher schulischer Kontexte angemessen und problematisch sind. Ebenso ist beobachtbar, dass in der empirischen Forschung, in theoretischen Konzepten und curricularen Forderungen das Begriffspaar sowohl explizit verwendet und modelliert als auch implizit vorausgesetzt wird. Diese Begriffsverwendungen stehen identisch, ähnlich oder inkommensurabel zueinander. Damit geht die dritte Fragestellung einen Schritt zurück: iii) Können wir die impliziten und expliziten Verwendungen von Verstehen und Nichtverstehen innerhalb des literatur- und mediendidaktischen Diskurses überhaupt systematisieren? Den Versuch einer bejahenden Antwort auf die dritte Frage unternehmen wir mit dem Arrangement der Beiträge unter den folgenden Überschriften.59 Bedingungen des Verstehens und Phänomene des (Nicht-)Verstehens: Unter der ersten Überschrift sind die Beiträge von Johannes Odendahl, Michael Baum und Verena Ronge zusammengefasst. Sie entwickeln unterschiedliche Zugänge zur komplexen wechselseitigen Abhängigkeit von Verstehen und Nichtverstehen. Damit zei59

Ein Überblick zu den einzelnen Beiträgen ist ihnen jeweils mit einem Abstract vorgeschaltet, weshalb sie hier im Einzelnen nicht zusammengefasst werden.

Hendrick Heimböckel, Jennifer Pavlik: Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen

gen sie, dass ästhetische Formen des Verstehens immer schon Formen des Nichtverstehens einschließen. Jennifer Pavlik, Nicola Mitterer, Yasemin Dayıoğlu-Yücel und Carlo Brune profilieren solche Phänomene des (Nicht-)Verstehens. Die Beiträge unter diesen beiden Titeln sind dabei nicht auf der Kehrseite von Verstehensprozessen im Sinne eines Noch-nicht-Verstehens oder falschen Verstehens verortet. Auch arbeiten sie nicht mit empirisch fundierten Modellen – was ihre Qualität in keinerlei Hinsicht einschränkt oder auszeichnet. Im Gegenteil spiegeln die Beiträge die vielfältigen Aspekte einer Literaturvermittlung, die sich der Gegenüberstellung eines richtigen sowie falschen Verstehens entzieht und in einem Zwischenraum arbeitet. Damit machen sie die Möglichkeiten eines Unterrichts mit ästhetischen Medien sichtbar, der nicht an Kontrolle, Vergleich und Rückkopplung an Kompetenzstufen ausgerichtet ist. (Nicht-)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen: Jochen Heins, Lisa König und Volker Pietsch entwerfen stark anwendungsbezogene Ansätze anhand von didaktischen Modellen des Verstehens und Nichtverstehens auf Literatur und Film. Sie eint zum einen ihr Vorschlag, Formen des Verstehens mit einer hohen Anforderung auch schon in niedrigen Klassen wie der Primar- oder Erprobungsstufe als Unterrichtsziele zu antizipieren und dabei ebenso Phänomene des Nichtverstehens zu berücksichtigen. Umgekehrt müssten, hier setzt Jochen Heins an, Unterstützungsarrangements diese Anforderungen begleiten, um gerade im Kontext schulischer Literaturrezeption die notwendige Differenzierung als Individualisierung zu gewährleisten. (Nicht-)Verstehen in historischen und gegenwärtigen Kontexten der Professionalisierung: Von diesen Blöcken verschieden sind die Beiträge von Hendrick Heimböckel und Julia Landgraf. Der erste Beitrag befasst sich exemplarisch mit dem didaktischen Diskurs über das literarische (Nicht-)Verstehen im 19. Jahrhundert, der die Institutionalisierung des Deutschunterrichts prägt. Der zweite Beitrag baut eine Brücke zwischen der universitären Didaktik und ihrer Übertragung auf den Unterricht: Interviews mit Studierenden zeigen, dass sie nicht für die verschiedenen Formen literarästhetischen Nichtverstehens sensibilisiert sind. Der Schluss darauf, dass dies auch für weitere Medien und generell für Formen des Nichtverstehens gilt, liegt nahe. Das Spektrum an weiterführenden Arbeiten in diesem Feld ist breit gefächert. In einer historischen Perspektive wäre es konsequent, nach den Unterrichtspraktiken und Begriffen der Literaturdidaktik zu fragen, die ein Verstehen antizipierten, und welchen Stellenwert in diesem Zusammenhang das Nichtverstehen hatte. In Hinblick auf angehende Lehrer*innen wären Lehrkonzepte zu erproben, die den hier auf verschiedene Weise dargestellten Einbezug des Staunens, der Irritation, des Dämmerns, der Analogie, der Rhetorizität und des Fragens – heiter – ernst nehmen. Wie der Titel des Bandes schon vermittelt, sind die hier untersuchten Ausdrücke, Begriffe und Phänomene nicht ausschließlich literarisch – und vermut-

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Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen

lich auch nicht auf eine normative Vorstellung von ästhetischen Medien in einem pädagogischen Sinn reduzierbar. Computerspiele, die verschiedenen Formen des digitalen Lesens, Filme, Songclips und Lieder gehören wie Literatur zu den Medien des Deutschunterrichts . Die modellbildenden Impulse der großen Vergleichsstudien Anfang der 2000er Jahre ernstgenommen, müssten auch für diese Medien Modelle entwickelt werden, die Stufen des Verstehens und Phänomene des Nichtverstehens involvieren. Auf der anderen Seite wären auch Arbeiten wünschenswert, die zeigen, wie sich das Tableau des (Nicht-)Verstehens an medialen Exemplaren in Lernsituationen entfalten ließe. Für die gemeinsame Arbeit im Workshop und während der Arbeit an diesem Band danken wir den Beitragenden, der Forschungskommission der Universität Hildesheim und dem Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität der Universität Luxemburg für ihre Unterstützung.

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Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen

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Bedingungen des Verstehens

Spielarten des Nichtverstehens Versuch der Eingrenzung eines negativen Begriffs Johannes Odendahl Abstract Am Leitfaden eines Verstehensmodells, das an Prämissen der Embodied Cognition und an Jakobsons poetischer Funktion orientiert ist, werden vier Facetten des Verstehens bzw. Nichtverstehens unterschieden: affektiv, pragmatisch, referentiell und poetisch. Literaturdidaktisch von Belang ist dabei insbesondere, dass pragmatisches Verstehen mit einer Haltung des Verstehen-Wollens bei gleichzeitigem Respekt vor der unaufhebbaren Alterität des Gegenübers verbunden ist; dass referentielles Verstehen als eine zumeist notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung eines poetischen Verstehens gelten kann; und dass sich dieses aus der Auffassung von Äquivalenzbeziehungen unterschiedlichster Qualität ergibt und mit ästhetischem Genuss verbunden ist, der selbst nicht eigentlich schulbar ist, aber desto größere schulische Freiräume beansprucht.

I.

Einleitung. Nichtverstehen als Teil oder als Gegenteil des Verstehens »Alles Verstehen ist […] immer zugleich ein Nicht-Verstehen«.1 »Verstehen bedeutet immer auch Nicht-Verstehen«.2 »Verstehen und Nichtverstehen sind keine Gegensatzpaare«.3

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Humboldt, Wilhelm von (1907): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830-1835]. In: Albert Leitzmann (Hg.): Wilhelm von Humboldts gesammelte Schriften. Bd. 7, Teil 1. Berlin, S. 64 (= Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 7. 1. Abteilung). Härle, Gerhard; Steinbrenner, Marcus (2003): »Alles Verstehen ist … immer zugleich ein NichtVerstehen«. Grundzüge einer verstehensorientierten Didaktik des literarischen Unterrichtsgesprächs. In: Literatur im Unterricht, Jg. 4, H. 2, S. 159; Herv. i.O. Baum, Michael (2010): Literarisches Verstehen und Nichtverstehen. Kulturtheorie und Literaturunterricht. In: Volker Frederking, Hans-Werner Huneke, Axel Krommer u.a. (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Literatur- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler, S. 103.

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Bedingungen des Verstehens

Tiefsinnige Gedanken geben sich gerne paradox. Die hier zitierten Sprecher sind sich darin einig, dass zwischen dem Verstehen und dessen eigentlich doch logischem Gegenteil, dem Nichtverstehen, ein Verhältnis der Ähnlichkeit oder sogar der unterschwelligen Identität besteht. Wie ist das zu verstehen? In allen drei Fällen, so zeigt ein Blick auf den jeweiligen Kontext, resultiert die paradoxe Zuspitzung aus dem Misstrauen gegenüber einem unreflektierten Verstehensbegriff. In Frage gestellt wird die naive Vorstellung, verstehen sei ein Erfolgsverb, Verstehen könne also entweder ›klappen‹ oder nicht. Wilhelm von Humboldt, als Sprachphilosoph unmittelbar beeinflusst von Kants Vernunftkritik, geht davon aus, dass alle Sprecherinnen und Sprecher über ihre je eigenen, immer auch sprachlich vermittelten Weltsichten verfügen, die durch zwischenmenschliche Verständigung niemals vollständig zur Deckung gebracht werden können.4 Gerhard Härle und Marcus Steinbrenner ebenso wie Michael Baum beziehen sich auf Humboldts Diktum, wenn sie sich von literaturtheoretischer bzw. -didaktischer Warte her äußern. Ihre Skepsis gilt insbesondere der Vorstellung, ein wohlgeplanter, methodisch abgesicherter Unterricht könne ein korrektes Verstehen literarischer Texte sicherstellen; ihr Angriffspunkt ist damit ein hermeneutischer Intentionalismus, demgemäß poetische Texte genau dann als richtig verstanden gelten können, wenn die Autorintention glücklich entschlüsselt wurde.5 In der scheinbar paradoxen Angleichung von Verstehen und Nichtverstehen artikulieren sich also zwei zentrale Vorbehalte gegen ein unreflektiertes Konzept bzw. eine unreflektierte (Unterrichts-)Praxis des Verstehens: Der eine Vorbehalt richtet sich gegen die Anmaßung, irgendjemand könne den anderen oder die andere zur Gänze ›verstehen‹ im Sinne von durchschauen, kognitiv durchdringen,

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»Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit. Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andre, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Uebereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen.« Humboldt 1907: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: Wilhelm von Humboldts gesammelte Schriften. Bd. 7, Teil 1. S. 64f. »[S]o zeigt sich der schulische Literaturunterricht als eine Art selbstreferentieller Maschine, die aller Literaturtheorie zum Trotz fort und fort die falsche Erkenntnis produziert: dass nämlich ein literarischer Text einen Sinn habe und dass dieser Sinn in der Intention des Autors aufgehe.« Härle, Steinbrenner (2003): »Alles Verstehen ist … immer zugleich ein Nicht-Verstehen«. In: Literatur im Unterricht. S. 148; Herv. i.O. – »Literaturtheoretisch betrachtet handelt es sich [bei literaturdidaktischen Phasenmodellen in der Tradition Krefts; d. Verf.] um didaktische Varianten des hermeneutischen Intentionalismus. Man geht davon aus, dass Texte und/oder Autoren Schülerinnen und Schülern etwas mitteilen wollen, das sich schrittweise (in Stufen) erschließen lässt.« Baum (2010): Literarisches Verstehen und Nichtverstehen. In: Literaturund Mediendidaktik. S. 116.

Johannes Odendahl: Spielarten des Nichtverstehens

seine bzw. ihre Alterität und Fremdheit im Verstehensprozess vollständig auflösen. Auch dieser Vorbehalt ist kritisch auf eine aneignend-erschließende Attitüde des Literaturunterrichts bezogen worden; so etwa, wenn Ulf Abraham mahnend von einem »›Verstehen‹ als heimliche[m] Kolonialismus«6 spricht oder wenn Nicola Mitterer in Anlehnung an Waldenfels’ responsive Ethik die Fremdheit des literarischen Texts zur didaktisch unhintergehbaren Kategorie erklärt.7 Das Nichtverstehen bezieht seine Hochschätzung hier vor allem aus dem Umstand, dass es mit einer Haltung des demütigen Respekts vor dem anderen, Fremden, in seiner Alterität Inkommensurablen assoziiert wird. In Abgrenzung zum hermeneutischen Intentionalismus – um zum zweiten Vorbehalt zu kommen – wird das Nichtverstehen hingegen insofern als Wert hochgehalten, als es der prinzipiellen Unverfüg- und Unauflösbarkeit literarischer Texte gerade angemessen erscheint. Wenn die »Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses«,8 um mit Spinner zu reden, für das literarische Lesen konstitutiv ist, dann muss der Verzicht auf ein endgültiges und eindeutiges Verstehen – mithin: die Bereitschaft zu einem nachhaltigen Nichtverstehen – als Gütekriterium literarischer Rezeption gelten. Zwar ist dies alles unter den meisten Literaturtheoretikern und -didaktikerinnen nicht einmal ernsthaft umstritten; und doch lässt sich sagen, dass ein Großteil der jüngeren literaturdidaktischen Forschung – von der Praxis des alltäglichen Literaturunterrichts gar nicht zu reden – durchaus auf verstehen im Sinne eines Erfolgsverbs abgestellt ist. Gerade eine kognitionspsychologisch orientierte, bevorzugt empirisch arbeitende Deutschdidaktik kennt das Nichtverstehen eigentlich nur als den zu vermeidenden Misserfolgsfall, als privativen Modus eines didaktisch gebotenen angemessenen Verstehens. Im Zusammenhang einer Lautdenk-Studie, bei der jugendliche Probandinnen und Probanden ihre Gedanken zu ausgewählten Erzähltexten verbalisieren sollten, spricht etwa Tobias Stark mit großer Selbstverständlichkeit von leserseitigen »verstehenshinderliche[n] Prozesse[n]«9 bzw. »verstehenshinderliche[n] Operatione[n]«,10 die ein »einseitiges oder reduziertes Textverstehen«11 zur Folge haben können und insgesamt als »Risiken für das literari-

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Abraham, Ulf (2010): P/poetisches V/verstehen. Zur Eingemeindung einer anthropologischen Erfahrung in den kompetenzorientierten Deutschunterricht. In: Iris Winkler, Nicole Masanek, ders. (Hg.): Poetisches Verstehen. Literaturdidaktische Positionen – empirische Forschung – Projekte aus dem Deutschunterricht. Baltmannsweiler. S. 13. Vgl. Mitterer, Nicola (2016): Das Fremde in der Literatur. Zur Grundlegung einer responsiven Literaturdidaktik. Bielefeld. Spinner, Kaspar H. (2006): Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch, Jg. 33, H. 200, S. 12. Stark, Tobias (2019): Verstehenshinderliche Prozesse beim Zusammenwirken von Weltwissen, normativen Wertungen und Textverstehen. Ergebnisse einer qualitativen Leseprozessuntersuchung mithilfe von Lautdenkprotokollen. In: Didaktik Deutsch, Jg. 24, H. 47, S. 65. Ebd., S. 67. Ebd., S. 80.

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Bedingungen des Verstehens

sche Textverstehen«12 eingestuft werden müssen. Poetisches Verstehen wird hier zu einer voraussetzungsreichen Herausforderung, deren Bewältigung von vielen Seiten her gefährdet, aber bei der klugen Verwendung geeigneter Strategien und Operationen durchaus möglich ist. In eine ähnliche Richtung weisen auch Thomas Zabkas theoretische Überlegungen zur Didaktischen Analyse literarischer Texte.13 So sollen Lehrende im Vorfeld des Unterrichts z.B. klären, »welches für notwendig erachtete Verständnis eines Textes alle unterrichteten Schülerinnen und Schüler erzielen können und erzielen sollen«,14 »welches Verständnis bestimmte, aber nicht unbedingt alle Schülerinnen und Schüler erzielen sollen« oder auch »welches erwartbare [aber nicht als hinreichend erachtete; d. Verf.] Verständnis überschritten […] werden soll«.15 Vorausgesetzt wird dabei, dass die Lehrperson im Vorgriff auf die schülerseitigen Verstehensprozesse eine Messlatte für ein angestrebtes Mindestund ein optionales Maximalverständnis des poetischen Texts festlegen kann. Das Nichtverstehen markiert hier gewissermaßen nur die Nulllinie, es ist der Gegenpol zu einem angemessenen Verstehen, welches in unterschiedlichem Grade, vor allem auch durch unterrichtliche Interventionen, erreicht werden kann. Nun wäre es ein Leichtes, diese offensichtliche Entgegensetzung von (graduell) gelingendem Verstehen und unerwünschtem Nichtverstehen mit den eingangs angedeuteten Argumenten vonseiten der philosophischen Hermeneutik und der Literaturtheorie anzugreifen: Es gebe, so ließe sich sagen, kein vollkommenes Verstehen des anderen und Fremden, Verstehen sei ein kontingenter, nicht plan- und schon gar nicht skalierbarer Prozess, und Literatur zumal sperre sich gegen ihr erledigendes Erschlossen- und Verstandenwerden. Gleichwohl sprechen auch Härle und Steinbrenner, und zwar unmittelbar im Zusammenhang mit ihrer Kritik am Intentionalismus, bildreich von der didaktischen Fehlannahme, »dass der Sinn des Textes in einer Ansammlung von freien Anmutungen bestehe, welche die Leser/innen eben mal so artikulieren – als lasse sich die Problematik des Sinnverstehens als eine Art Instant-Verstehen in der lauwarmen Plörre des Beliebigen auflösen«.16 Lauwarm und beliebig soll es also auch nicht zugehen beim literarischen Verstehen; was nur bedeuten kann, dass ein verantwortungsvoll unternommenes literarisches Lesen mitunter die allergrößte Strenge und Gewissenhaftigkeit – und fraglos auch facheinschlägige Kenntnisse – erfordert. Beim Verstehensvorgang Verantwortung 12 13

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Ebd., S. 75 u. passim. Zabka, Thomas (2012): Didaktische Analyse literarischer Texte. Theoretische Überlegungen zu einer Lehrerkompetenz. In: Daniela A. Frickel, Clemens Kammler, Gerhard Rupp (Hg.): Literaturdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. Perspektiven und Probleme. Freiburg i.Br., S. 139-162. Ebd., S. 141. Ebd., S. 142. Härle, Steinbrenner (2003): »Alles Verstehen ist … immer zugleich ein Nicht-Verstehen«. In: Literatur im Unterricht. S. 148.

Johannes Odendahl: Spielarten des Nichtverstehens

gegenüber dem literarischen Text zu übernehmen, heißt aber, zu verstehen zu versuchen; also das Verstehen zu suchen – nicht jedoch das Nichtverstehen. Dieses Nichtverstehen mag in gewisser Hinsicht »integrierender Bestandteil«17 des Verstehens sein; es bleibt zugleich, anders gewendet, sein Gegenteil – andernfalls wäre eine Unterscheidung zwischen Verstehen und Nichtverstehen ja weder sinnvoll noch überhaupt möglich. Ganz offensichtlich liegen der unterschiedlichen Einschätzung des Verhältnisses von Verstehen und Nichtverstehen unterschiedliche Verstehens- (bzw. eben Nichtverstehens-)Begriffe zugrunde. Den Mitmenschen zu verstehen, meint etwas anderes, als einen literarischen Text zu verstehen – und wiederum etwas anderes, als einen einfachen Aussagesatz oder eine fremdsprachliche Wendung zu verstehen. Von diesen unterschiedlichen Konzeptionen des Verstehensbegriffs müssten sich aber auch ganz verschiedene Spielarten des Nichtverstehens ableiten lassen, die auch jeweils ganz anders einzuschätzen wären: als Ausfluss einer respektvollen Haltung gegenüber der Integrität des anderen oder aber vielleicht nur als vermeidbarer kommunikativer Missgriff. Im Folgenden soll eine derartige Analyse des Verstehens- und Nichtverstehensbegriffs versuchsweise unternommen werden. Nach einem Blick auf die sprachanalytische Zergliederung des Verstehensbegriffs durch Werner Strube werden auf der Grundlage eines Verstehensmodells, das der Verfasser basierend auf Prämissen der Embodied Cognition und Jakobsons Theorem der poetischen Funktion entworfen hat, unterschiedliche Facetten eines Nichtverstehens abgeleitet. Dabei könnte ein wenig mehr Klarheit darüber gewonnen werden, in welchen, auch didaktisch relevanten, Kontexten das Nichtverstehen alle Hochschätzung verdient und wo es schlicht als das zu vermeidende Gegenteil eines erfolgreichen Verstehens gelten kann.

II.

Vom Satzverstehen bis zum Sich-in-der-Sache-Verstehen. Eine sprachanalytische Auffächerung des Verstehensbegriffs

Eine instruktive Analyse des Verstehensbegriffs hat schon 1985 der Bochumer Sprachphilosoph und Literaturwissenschaftler Werner Strube vorgelegt. In sprachanalytischer und sprechakttheoretischer Tradition beschränkt er seine Untersuchungen im Wesentlichen auf die Äußerungseinheit des Satzes; insgesamt unterscheidet er so sieben verschiedene Bedeutungsfacetten des Verstehensbegriffs. Ausgehend vom Verstehen des propositionalen Gehalts einer Äußerungseinheit (»(1) Den Satz verstehen«18 ) weitet er den Blick auf situative und pragmatische 17 18

Ebd., S. 159. Strube, Werner (1985): Analyse des Verstehensbegriffs. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, Jg. 16, H. 2, S. 318; Herv. i.O.

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Bedingungen des Verstehens

Kontexte aus (»(3) Den in einer bestimmten Situation geäußerten Satz verstehen«19 ; »(4) Die Äußerung als diesen oder jenen Akt eines bestimmten Sprechers verstehen«20 ), betrachtet sodann affektive Aspekte und Belange der individuellen Befindlichkeit (»(5) Die Äußerung verstehen als Ausdruck eines bestimmten psychischen Zustands«21 ), die sich schließlich auch auf die Beziehungsqualität der Interagierenden erstrecken (»(7) Sich in einer Sache mit jemandem verstehen«22 ). Verallgemeinernd ließe sich so von einem Dreischritt vom Propositionsverstehen über das pragmatische bis hin zum affektiven Verstehen sprechen. Durch seine Beschränkung auf den einzelnen Satz gerät Strube ein literarisches Verstehen kaum in den Fokus; es gibt aber zwei – in der obigen Auflistung bisher ausgesparte – Verstehensfacetten, die in seiner Systematik auffallend quer stehen und zugleich eine gewisse Affinität zu literaturbezogenen Verstehensprozessen aufweisen. So führt er zum einen die Kategorie: »(2) [d]en Satz in seinem Zusammenhang verstehen«,23 an, womit er keineswegs textuelle oder situative Kontexte des Einzelsatzes meint, sondern dessen syntaktische Faktur, die analytisch durchschaut wird. Zum anderen spricht er ein wenig dunkel davon, »(6) [d]en tieferen Sinn eines Satzes (einer ›Sentenz‹) [zu] verstehen«,24 wozu er in bester hermeneutischer Tradition einen Satz aus dem Neuen Testament anführt. In welcher Hinsicht sich hier die ›Tiefe‹ eines Verständnisses äußert und in welcher Dimension sie zu suchen ist, wird kaum expliziert; offenbar jedenfalls handelt es sich um eine Art von Transzendenz eines zunächst propositionalen bzw. nur pragmatischen Verständnisses. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass die Frage nach dem Wie des Gesagten (Strubes Aspekt Nr. 2) und nach einer irgendwie gearteten Überschreitung des alltagspragmatischen Kommunikationsrahmens (Aspekt Nr. 6) für die Modellierung eines poetisch-literarischen Verstehensmodus relevant werden kann.

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Ebd., S. 319; Herv. i.O. Ebd., S. 320; Herv. i.O. Ebd., S. 321; Herv. i.O. Ebd., S. 323; Herv. i.O. Dass Strube unter diesen Terminus keineswegs ein Intentionsverstehen begreift, erhellt aus der folgenden Erläuterung: »Man kann das Sich-in-der-Sache-Verstehen geradezu als einen Spezialfall oder auch als ein typisches Merkmal jenes ›zwischenmenschlichen Klimas‹ auffassen, das mit ›einander verstehen‹ bezeichnet ist«, ebd., S. 324. Ebd., S. 319; Herv. i.O. Ebd., S. 322; Herv. i.O.

Johannes Odendahl: Spielarten des Nichtverstehens

III. Vier Spielarten des (Nicht-)Verstehens. Ein Modell Mit dem Versuch einer solchen Modellierung habe ich mich vor einiger Zeit befasst25 und dabei insbesondere auf Prämissen der Embodied Cognition und der Literatursemiotik sensu Jakobson zurückgegriffen. Weit davon entfernt, das Modell an dieser Stelle in der nötigen Ausführlichkeit herleiten und erläutern zu können, werde ich es nachfolgend nur zu dem Zweck heranziehen, verschiedene Facetten eines – auch literaturbezogenen – Verstehensbegriffs näher zu unterscheiden und dabei die Frage nach jeweils zugehörigen Dimensionen des Nichtverstehens mitzubedenken.

Abbildung 1: Verstehensmodell

Quelle: Odendahl (2018): Literarisches Verstehen. S. 127

III.I Man kann nicht nicht verstehen: der affektive Aspekt Während Strubes Analyse des Verstehensbegriffs den Weg vom Propositionsverstehen über das pragmatische bis hin zum affektiven Verstehen nahm, geht das oben visualisierte Modell – aus Gründen, die hier nicht ausgeführt werden können

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Vgl. Odendahl, Johannes (2018): Literarisches Verstehen. Grundlagen und didaktische Perspektiven. Berlin.

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– den umgekehrten Weg. Angenommen wird, dass ein affektiv-emotionales Empfinden die Grundlage aller Verstehensprozesse bildet und phylo- ebenso wie ontogenetisch das Anfangsstadium eines wahrnehmenden Bewusstseins kennzeichnet; sodass ein archaisches Wahrnehmen und Verstehen die Struktur eines Tut mir gut – Tut mir weh aufwiese. Gerade in dieser einfachen Binarität des Empfindens gibt es kein Nicht- oder Missverstehen: Die positive oder negative Empfindung ist eine psychische Tatsache und keineswegs daran gebunden, ob etwas Begegnendes ›richtig‹ oder ›falsch‹ aufgefasst wurde. Ähnliches gilt auch für komplexere Empfindungen als Reaktionen auf das mir Begegnende: Sie fragen nicht danach, ob sie angebracht sind oder nicht, sondern sind als dasjenige, was mich bewegt, unhintergehbar. Nimmt man Verstehen in einem so grundlegenden, existentiellen Sinne – nämlich als ein affektiv-emotional bestimmtes Auffassen einer je begegnenden ›Welt‹ –, gibt es keinen logischen Platz für dessen Gegenteil, eine Art existentiellen Nichtverstehens. Da wir alles, was wir wahrnehmen, immer schon als etwas verstehen, können wir konsequenterweise – um Watzlawicks bekanntes Axiom abzuwandeln – nicht nicht verstehen.

III.II »Alles Verstehen ist … immer zugleich ein Nicht-Verstehen«. Der pragmatische Aspekt Anders sieht es aus, wenn eine begegnende ›Welt‹ nicht nur global empfunden wird, sondern sich als kommunikatives Gegenüber personifiziert. Verstehen im Sinne eines solchen interaktiven Austauschs gerät im obigen Modell auf einer zweiten Ebene in den Blick, die als die pragmatische bezeichnet wird. Verstanden oder nicht verstanden wird dabei, was der andere26 mit seinen sprachlichen Äußerungen und überhaupt mit seinem Sein und Gebaren mir gegenüber zum Ausdruck bringt. Dies können appellative Botschaften ebenso wie zutage tretende Befindlichkeiten oder auch Signale hinsichtlich der Qualität der zwischen uns herrschenden Beziehung sein. Mit Jakobson könnte man vom konativen, emotiven und phatischen Aspekt einer Botschaft reden,27 mit Schulz von Thun von der Appell-, Selbstoffenbarungs- und Beziehungsseite einer Nachricht.28 Allerdings – und das ist wichtig für die Frage nach dem Verstehen in seinem Verhältnis zum Nichtverstehen – würde es eine Verkürzung bedeuten, ausdrücklich nur von bewusst geäußerten Botschaften, Mitteilungen und Nachrichten zu sprechen. Im kommunikativen 26

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Um in meinen Ausführungen möglichst verständlich zu bleiben und mich nicht in permanenten Doppelformeln zu verwickeln, spreche ich ›dem anderen‹ hier vorübergehend grammatisch das männliche Geschlecht zu. Vgl. Jakobson, Roman (1979): Linguistik und Poetik [1960]. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt a.M., S. 89ff. Vgl. Schulz von Thun, Friedemann (1981): Miteinander reden. Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation. Reinbek bei Hamburg, S. 29ff.

Johannes Odendahl: Spielarten des Nichtverstehens

Handeln des anderen, aber auch in seinem nicht kommunikativ adressierten Verhalten, teilt sich mir stets etwas über sein Befinden, Wollen und Verlangen mit, auch in Bezug auf mich. Ich verstehe also vielleicht, dass mein Gegenüber momentan eher mürrisch gelaunt ist (Selbstoffenbarung, emotiv), mir mit der gebührenden Höflichkeit, aber ohne rechte Muße und Aufmerksamkeit für meine Person begegnet (Beziehung, phatisch) und mich an die Erledigung einer vor längerer Zeit übernommenen kleinen Aufgabe erinnert (Appell, konativ). Die Frage nach dem Verstehen und Nichtverstehen ist hier ausgesprochen komplex. Was den kleinen Wunsch oder Arbeitsauftrag angeht, lässt sich im weiteren Fortgang sicher von einem Gelingen oder Scheitern der Kommunikation reden; also von einem Verhältnis des Gegensatzes zwischen Verstehen und Nichtverstehen. Insofern der Appell aber sprachlich formuliert ist, spielt sein Verstandenwerden schon entschieden in den unten noch näher zu behandelnden Aspekt des referentiellen Verstehens hinein. Was meine Gesprächspartnerin ›eigentlich‹ will, was sie umtreibt, bewegt, motiviert, was sie nicht zuletzt in Bezug auf meine Person denkt, fühlt und möchte: Das alles ist mir im Grunde opak und unzugänglich. Fortwährend interpretiere ich, als grundsätzlich auf Verstehen ausgerichtetes Wesen, ihr sprachliches und nichtsprachliches Verhalten; dieses kommt in gewisser Weise bei mir an, und ich reagiere in gewisser Weise darauf, was wiederum mein Gegenüber zur Interpretation und weiteren Interaktion bewegt. In diesem interaktiven Prozess spielt der Wunsch, zu verstehen, und zwar ›richtig‹ zu verstehen, eine maßgebliche Rolle; da mir jedoch das Sein und Wollen des anderen grundsätzlich opak bleiben muss (und umgekehrt), findet die eingangs zitierte, paradoxe Formel Humboldts hier ihre Anwendung und Bestätigung: Alles zwischenmenschliche, pragmatische Verstehen ist notwendig von einem unüberwindbaren Nichtverstehen begleitet. Und es ist gerade dieser unauflösbare Rest an Fremdheit und Nichtverstehen, der dem kommunikativen Austausch seine Energie gibt: Stets bleibt, bei aller möglichen Übereinstimmung und Harmonie, ein Moment der Reibung und Dissonanz zurück, das dem weiteren Austausch Reiz und Lebendigkeit verleiht. In diesem Sinne spricht Gerhard Härle mit durchaus wertschätzendem Tenor von einer Bereitschaft zum fortgesetzten »Geben und Nehmen«, von einem lustvollen »Sich-Reiben und Aneinander-Entzünden«29 im gemeinsamen Gespräch. Das Wechselspiel – oder besser: Ineinander – von Verstehen und Nichtverstehen im Bereich des Pragmatischen wird hier als positive Energie betrachtet, keineswegs aber als Störfall, den es durch ein endgültig erledigendes Verstehen abzustellen gälte.

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Härle, Gerhard (2011): »… und am Schluss weiß ich trotzdem nicht, was der Text sagt«. Grundlagen, Zielperspektiven und Methoden des Literarischen Unterrichtsgesprächs. In: Marcus Steinbrenner, Johannes Mayer, Bernhard Rank (Hg.): »Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander«. Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs in Theorie und Praxis. Baltmannsweiler, S. 62.

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III.III Nichtverstehen als logisches Gegenteil des Verstehens: der referentielle Aspekt Das referentielle Verstehen, dritte Ebene des oben vorgestellten Verstehensmodells, geht aus der pragmatischen Kommunikation hervor und steht zumeist in deren Dienst. »Sprechenden Menschen kann geholfen werden«, wird gerne salopp gesagt, das heißt: Wer sein Anliegen verständlich und angemessen zu formulieren weiß, kann es viel leichter durchsetzen. Notwendig dazu ist ein konventionelles System sprachlicher Symbole, die auf gedankliche Konzepte bzw. auf situative Gegebenheiten bezogen werden können. Dieser Bezug ist die Referenz; ein dazugehöriger Verstehensmodus wird demgemäß, im Einklang mit Jakobsons Terminologie, hier als referentiell bezeichnet. Es lässt sich relativ schlicht sagen, dass das gelingende referentielle Verstehen einer sprachlichen Äußerung darin besteht, dass deren intendierte bzw. konventionell vorgegebene Referenz erfolgreich realisiert wird. Der Satz: »Das Fenster steht offen«30 (das Standardbeispiel Strubes), wird dann zutreffend auf die gegebene Situation bezogen (vielleicht gibt es im näheren und weiteren Umkreis einige offenstehende Fenster, etwa auch auf dem Computerbildschirm; gemeint ist aber dasjenige, das momentan für den störenden Durchzug kalter Luft sorgt); diese situative Referenz ist ihrerseits nur möglich vor dem Hintergrund einer Vertrautheit mit dem sprachlichen Code, demgemäß etwa die Wörter offen oder Fenster konventionell auf bestimmte gedankliche Konzepte verweisen. Nichtverstehen würde hier somit bedeuten, die pragmatisch momentan relevante und sprachlich eingespurte Referenz nicht herstellen zu können – aus welchen Gründen auch immer, es können dies akustische Umstände sein, fehlende Klarheit über das situativ Gemeinte oder aber das Nichtverfügen über den verwendeten sprachlichen Code, also mangelnde Sprachbeherrschung. In diesem Sinne kann verstehen durchaus als Erfolgsverb gelten; die (pragmatisch intendierte bzw. vom sprachlichen Code vorgesehene) Referenz wird erfolgreich hergestellt oder eben nicht. Verstehen und Nichtverstehen bilden hier ein logisches Gegensatzpaar. Wie anspruchsvoll die Aufgabe sein kann, konventionelle Referenzen sicher aktivieren zu können, zeigt sich beispielsweise in dem Aufwand, den es bedeutet, eine Sprache zu erlernen. Entsprechend befasst sich die Fremdsprachdidaktik maßgeblich mit den Herausforderungen des referentiellen Verstehens. Und selbstredend ist diese Dimension auch für das literarische Lesen und die Literaturdidaktik von besonderem Belang, wenngleich poetisches Verstehen, wie unten zu zeigen sein wird, sich nicht im Referentiellen erschöpft. Der lektürebegleitende Aufbau eines angemessenen, kohärenten mentalen Modells (um einmal kognitionspsychologisch

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Strube (1985): Analyse des Verstehensbegriffs. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie. S. 318 u. passim.

Johannes Odendahl: Spielarten des Nichtverstehens

zu reden) der in einem literarischen Text exponierten fiktiven Welt kann eine ausgesprochen anspruchsvolle Aufgabe sein, wie z.B. Tobias Starks empirische Befunde zeigen. Und Lernende bei dieser Herausforderung zu unterstützen, gehört zu den Kernaufgaben von Literaturlehrerinnen und -lehrern – worauf Zabkas Leitfaden der didaktischen Analyse nicht zuletzt abzielt.

III.IV Verstehen als ästhetisches Vergnügen, Nichtverstehen als dessen Ausbleiben: der poetisch-literarische Aspekt Nun zeichnen sich literarische Texte häufig dadurch aus, dass auf den ersten oder auch zweiten Blick gar nicht so klar ist, worauf sie als Zeichenkomplexe eigentlich verweisen. Eine extratextuelle Referenz zum Geschehen in Kafkas Verwandlung beispielsweise sucht man vergebens, jedenfalls auf einer Ebene des vordergründig Erzählten. Das Geschehen ist nicht nur fiktiv (in einem realistischen Erzählsetting lässt sich das fiktive Geschehen auf eine empirisch mögliche Welt beziehen), es ist auch nicht eigentlich fantastisch im Sinne des entsprechenden Genres (dann nimmt man das Unmögliche im Rahmen einer Gattungskonvention hin); es erscheint vielmehr in hohem Grade unplausibel. Schnell wird man darangehen, im Sinne Werner Strubes einen »tieferen Sinn«31 hinter dem Gesagten zu suchen – oder, um mit Zabka zu reden, hinter »uneigentliche[n] Erstbedeutungen […] eigentlich gemeinte, verstehensnotwendige Zweitbedeutungen (ParabelSchema)« bzw. »möglicherweise mit-gemeinte, weitere, nicht verstehensnotwendige, aber bereichernde Zweitbedeutungen (Symbol-Schema)« aufzuspüren.32 Zwar folgt man auf diese Weise einer altehrwürdigen hermeneutischen bzw. exegetischen Tradition; gleichwohl wandelt man so in den Spuren eines hermeneutischen Intentionalismus und setzt sich unweigerlich den eingangs skizzierten Angriffspunkten aus. Im Zusammenhang der jetzigen Überlegungen lässt sich sagen, dass die Suche nach einer plausiblen, ›tieferen‹ Zweitreferenz (nämlich sobald die erste, naheliegende, nicht recht weiterhilft) noch dem referentiellen Verstehensmodus verhaftet bleibt. Der Verstehensversuch würde dann auf eine Spielart des uneigentlichen Sprechens treffen, welches erfolgreich entschlüsselt werden will; nicht anders als im Falle von Ironie oder sonstigen rhetorischen Tropen. Mit Blick auf Jakobsons poetische Funktion sprachlicher Mitteilungen lässt sich literarisches Verstehen aber gründlich anders kennzeichnen als das ›Tiefer‹-Verstehen eines ›eigentlich‹ Gemeinten. Zu erinnern ist zunächst daran, dass literarische Texte durchaus nicht kryptischer Art sein müssen und keineswegs immer exegetische Anstrengungen heraufbeschwören. Thomas Manns Buddenbrooks gibt dem 31 32

Ebd., S. 322. Zabka (2012): Didaktische Analyse literarischer Texte. In: Literaturdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. S. 157.

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Verstehen keine solchen Nüsse zu knacken wie Kafkas Prozess. Trotzdem wird, sobald die poetische Funktion vorherrscht, die Referenz zwischen Zeichen und Gemeintem brüchig und prekär, und dies ist schon beim einfachen Abzählreim der Fall. Mit der sprachlichen Tätigkeit des Referierens wird in literarischen Zusammenhängen gespielt, und ein poetisch-literarisches Verstehen würde sich darauf beziehen, dieses Spiel wahrzunehmen und zu goutieren, also ein ästhetisches Vergnügen daran zu empfinden. Was heißt das? Nehmen wir ein kurzes, aktuelles, populäres Beispiel literarischen Sprechens als Demonstrationsgrundlage. Der Wortkünstler und Klavierkabarettist Bodo Wartke deklamiert im Rahmen eines seiner jüngsten Bühnenprogramme den folgenden Zweizeiler, den er ironisch einem »Liederzyklus« mit dem Titel »Beziehungen im Wandel der Zeiten« zuordnet: »Früher machten wir ganz viel Party, und wie!/Heute sitzen wir bei der Paartherapie.«33 Laut Roman Jakobson ergibt sich die poetische Funktion aus seriellen Äquivalenzbildungen, durch welche »das Augenmerk auf die Spürbarkeit der Zeichen«34 gelenkt werde; besonders markiert werde dadurch die (ohnehin bestehende) »fundamentale Dichotomie der Zeichen und Objekte«.35 Ein einfaches Beispiel für eine sprachliche Äquivalenzbildung ist der Reim. Im zitierten Zweizeiler Bodo Wartkes findet sich davon ein besonders reizvolles Exemplar, der originelle reiche Reim Party, und wie! – Paartherapie. Die klangliche Äquivalenz liegt auf der Hand, eine größere »Spürbarkeit der Zeichen« ergibt sich allein aus dem Umstand, dass durch die Parallelbildung der akustisch-klangliche Aspekt der sprachlichen Zeichen viel stärker als im alltäglichen Sprachgebrauch ins Auge und vor allem ins Ohr springt. Die Zeichen drängen sich gewissermaßen, anders als gewöhnlich, in ihrer physischen Gestalt der Aufmerksamkeit des Rezipienten auf. Indem sie auf diese Weise besonders plastisch fühlbar werden und mit ihrer Oberflächenstruktur einen Informationswert bekommen, der ihnen in der pragmatischen Kommunikation ansonsten nicht zukommt – dort dienen sie vorrangig der Verständigung und gehen ganz in dieser Funktion auf –, wird auch ihre sonst so ›selbstverständliche‹ Anbindung an ein referentiell Gemeintes gelockert. Mit der Zeichengestalt zugleich wird diese Bindung thematisch, ja problematisch – und dies, obwohl oder gerade weil im gezeigten Beispiel Zeichen und Objekte aufs Glücklichste miteinander korrelieren. Dem Gleichklang Party, und wie! – Paartherapie entspricht ein referentieller ›Gleichklang‹ aufseiten des Gemeinten: Man stellt sich vielleicht ein junges, stürmisch verliebtes und ekstatisch feierndes Paar vor – und andererseits dasselbe Paar, wie es, Jahre später, ernüchtert und desillusioniert die Trümmer einer zerrütteten Beziehung zu

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Livestream aus dem BKA Theater Hauptstadtstudio (Bodo Wartke, D 2020, 20:43-21:26). URL: https://www.youtube.com/watch?v=ENERHCBEr0Y [Stand: 21.09.2021; mittlerweile – Stand: 01.01.2022 – ist das Video gesperrt]. Jakobson (1979): Linguistik und Poetik. In: Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. S. 92f. Ebd., S. 93.

Johannes Odendahl: Spielarten des Nichtverstehens

kitten versucht. Die überraschende, als Pointe wirkende klangliche Kohärenz geht einher mit der gleichfalls pointenhaft überrumpelnden Erkenntnis, dass es sich bei den so gänzlich unterschiedlichen Erscheinungsbildern doch um Aggregatzustände einer und derselben Liebesbeziehung handelt. Dieses Zusammentreffen von gewitzter klanglicher und überraschender referentieller Äquivalenz ist aber ganz und gar künstlich hergestellt, und das empfinden wir in der Rezeption. Gerade das Artifizielle des doppelten Zusammenklangs macht die fundamentale Dichotomie der Zeichen und Objekte desto spürbarer. Das Ganze ließe sich auch anders und prosaischer sagen, sodass die klangliche Gestalt der gewählten Zeichen ganz zufällig und kontingent wäre. Da es aber auf die gewählte, kunstreiche Weise gesagt wird, werden nicht nur die sprachlichen Zeichen in ihrer Gestalthaftigkeit herausgestellt; auch der Akt des Bezeichnens selbst wird jetzt zum markierten Ereignis. Aus der pragmatischen Notwendigkeit des Zeichenfindens wird mit einem Mal ein lustvoll betriebenes Spiel. Ästhetisches Vergnügen aufseiten der Rezipientin ergibt sich dementsprechend aus der intuitiv gemachten Erfahrung, dass das Sprechen und Etwas-Meinen auch als Spiel betrieben werden kann. Dabei kann zwar glücklich und sogar ganz besonders kunstvoll etwas Gemeintes getroffen werden; aber erkennbar ist es der poetischen Rede um dieses kunstvolle, mit einigem Glück betriebene Spiel mehr zu tun als um die Aussage. Ginge es vor allem um diese, wäre der gerade, unkünstlerische Weg vorzuziehen. Literarisches Sprechen als Spiel mit Zeichen und, in eins damit, als Spiel mit der Tätigkeit des Bezeichnens; literarisches Verstehen als Vergnügen an einem solchen Spiel: Um diese Bestimmung in ihrer Allgemeinheit zu untermauern, bedarf es fraglos weiterer Beispiele, über Bodo Wartkes Zweizeiler hinaus. Um aber zunächst noch einmal auf diesen zurückzukommen: Die originell gefundene Reimbildung allein macht noch nicht seine Wirkung aus. Wie bereits angedeutet, entfaltet er seine Pointe vielmehr vor dem Hintergrund einer lebensweltlichen Realität. Es gibt ja leider, und nicht einmal selten, das Phänomen einer verblassenden Leidenschaft, einer in Entfremdung oder sogar gegenseitigen Hass umschlagenden Liebe. Das Moment des Wiedererkennens – sei es eigener, sei es beobachteter Erfahrungen – spielt bei der Rezeption von Wartkes Zweizeiler eine wichtige Rolle. Neben der klanglichen Äquivalenzbildung gibt es so auch eine auf semantischer Ebene. Der Rezipient oder die Rezipientin macht sich sozusagen einen eigenen Reim auf das Gesagte, indem er oder sie es mit anderen, in gewisser Hinsicht äquivalenten ›Geschichten‹ abgleicht. Wichtig ist, dass bei solch einer Äquivalenzbildung auch die je individuellen Erfahrungen als ›Geschichten‹ erscheinen; also als Zeichenkomplexe, die in jeweils unterschiedlicher Weise auf ein übergreifendes Erfahrungsmuster verweisen, hier: auf das Phänomen des Erkaltens einer leidenschaftlichen Liebe. Zeichenhaft gebannt, verlieren derartige Erlebnisse ihren bedrängenden, leidvollen Charakter und werden zum Gegenstand eines Spiels. Bei Bodo Wartke funktioniert dieser kathartische Mechanismus auf schlagende Weise: Das eigent-

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lich jammervolle Geschehen erscheint mit einem Mal in einem komischen Licht. Es darf, zur allgemeinen Erleichterung, kurz darüber gelacht werden. Natürlich gibt es beim literarischen Spiel nicht immer nur etwas zu lachen. Die hier angesprochene Erfahrung des Umschlagens einer Liebe in Gleichgültigkeit oder gar Hass kann literarisch ganz anders und mit sehr unterschiedlichen Effekten gestaltet werden. In Wilhelm Buschs Gedicht Die Liebe war nicht geringe (»Sie sagten sich tausend Dinge/Und wussten noch immer was.//[…] Er liest in der Cölnischen Zeitung/Und teilt ihr das Nötige mit.«36 ) dominiert gleichfalls der humoristische Gestus, in Kästners Sachlicher Romanze geht es hingegen deutlich kühler zu. Ein Roman wie Tolstois Anna Karenina gestaltet das Umschlagen der Liebesleidenschaft zwischen der Titelfigur und Wronskij in eine paranoide gegenseitige Quälerei auf episch breite und durchaus ernsthafte Weise. In Judith Hermanns neuestem Roman Daheim wiederum wird auf lakonisch-melancholische Weise vom Wandel der Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin und ihrem Ehemann Otis berichtet: Während beide einst sogar vom gleichen Teller aßen, leben sie jetzt räumlich weit getrennt und kommunizieren nur noch über (allerdings recht vertrauliche) Briefe miteinander. Alle diese literarischen Texte erzählen auf verschiedene Weise Unterschiedliches, aber auch in gewisser Weise Identisches: das individuellbiographisch schwer zu begreifende Phänomen nämlich, dass Liebe, Leidenschaft und Nähe in Distanz, Gleichgültigkeit oder Hass umschlagen können. Und all diese Texte spielen mit der Möglichkeit, diesen Erfahrungskern in Worte zu fassen, auf ihn mit sprachlichen Zeichen zu referieren. Das ästhetische Vergnügen, das sich daraus bei der Rezeption ergibt, kann von der unterschiedlichsten Art sein: Heiterkeit, Sarkasmus, Betroffenheit, Rührung, Bestürztheit, gespannte Involviertheit, genussvolle Melancholie. Es kann sich auch ausdrücklich auf die Faktur des Textes, auf seine artifizielle Konstruktion richten. Jedenfalls ist es ein Vergnügen am kunstreichen Spiel mit Zeichen und mit der Tätigkeit des Bezeichnens. Literarisches Verstehen, so betrachtet, setzt zwar in der Regel ein referentielles Verstehen im oben erläuterten Sinne voraus (und das muss keine geringfügige Voraussetzung sein), es erstreckt sich aber weder darauf, noch meint es gar das Entschlüsseln einer pragmatisch intendierten, kunstreich versteckten Botschaft. Es ist ein häufig intuitiv bleibendes Auffassen von Äquivalenzbildungen – klanglicher, struktureller, semantischer Art –, das mit einer Diskrepanzerfahrung einhergeht: Zeichen und Objekte sind zweierlei, mit Zeichen kann man spielen, und wenn bedrängende und leidvolle Erfahrungen spielerisch in Zeichen gefasst werden, kann das eine entlastende, kathartische Funktion ausüben. Literarisches Verstehen lässt sich also, mit einer erweiterten Lesart von Jakobsons Theorem der poetischen Funktion, als das Auffassen einer semiotischen 36

Busch, Wilhelm (1960): Kritik des Herzens [1874]. In: Friedrich Bohne (Hg.): Wilhelm Busch. Historisch-kritische Gesamtausgabe in vier Bänden. Bd. 2. Wiesbaden u.a., S. 512.

Johannes Odendahl: Spielarten des Nichtverstehens

Äquivalenzbildung beschreiben, aus welchem eine Diskrepanzerfahrung resultiert, die auch als ästhetisches Vergnügen am Spiel mit sprachlichen Zeichen beschrieben werden kann. Nun könnte man mit einer gewissen Berechtigung ein ›literarisches Nichtverstehen‹ als das nicht erfolgende Auffassen von Äquivalenzbeziehungen, als das Ausbleiben einer daraus resultierenden Diskrepanzerfahrung und eines daran gebundenen ästhetischen Vergnügens kennzeichnen. Umgangssprachlich kann sich dieses Phänomen beispielsweise in der Formulierung äußern, ein Roman oder Theaterstück »sage jemandem nichts« – während ein anderer vielleicht mit Enthusiasmus davon spricht. Das Beispiel zeigt aber zugleich, wie wenig sinnvoll es ist, ein gelingendes literarisches Verstehen einem scheiternden gerade gegenüberstellen zu wollen. Zu unterschiedlich sind die Voraussetzungen und Ausprägungsformen des ästhetischen Genusses. Sie betreffen das individuelle Temperament und die gegenwärtige Gestimmtheit der Rezipientin ebenso wie die Faktur der einzelnen Texte und auch die besonderen Texteigenschaften, auf die sich ein ästhetisches Vergnügen beziehen kann. Hier gibt es eine so unabsehbare Zahl von legitimen Zugängen und Rezeptionsweisen, dass sich literarisches Verstehen nicht als Erfolgsverb modellieren lässt – wer wollte die richtige Art vorschreiben, wie ein Kunstwerk zu genießen ist? Das heißt aber nicht, dass literarisches Verstehen voraussetzungslos oder leicht zu haben wäre. Als Sprachkunstwerk setzt der literarische Text notwendig sprachliches Wissen voraus und stellt oft erhebliche Anforderungen an ein referentielles Verstehen, die zunächst einmal erfüllt sein wollen und oft mit einem bedeutenden Schatz an Welt- und Erfahrungswissen einhergehen. Als ästhetisches Vergnügen am Spiel mit Zeichen profitiert literarisches Verstehen auch maßgeblich vom Wissen um Techniken und Strukturen literarischer Rede (Thomas Manns Zauberberg z.B. werde ich als Leser möglicherweise anders wertschätzen, wenn ich in dessen leitmotivische Faktur eingeweiht bin). Vor allem aber setzt literarisches Lesen eine nur begrenzt schulbare, nicht eigentlich wissensvermittelte Bereitschaft dazu und Freude daran voraus, Äquivalenzbildungen wahrnehmen und goutieren können, seien dies Reime oder lebensweltliche Bezüge. Am Reimpaar Party, und wie! – Paartherapie kann man sein Vergnügen haben oder eben nicht, hier stoßen Erklärungen und didaktische Fingerzeige an ihre Grenzen. Und Ähnliches gilt für das Auffassen von äquivalenten Bezügen des Erzählten zu lebensweltlichen Erfahrungen. Bei der Lektüre von Kafkas Verwandlung etwa können sich immer wieder frappierende Momente des Wiedererkennens einstellen; denn psychologisch und im Beschreiben zwischenmenschlicher Interaktionen ist Kafka ungemein präzise. Ein solches Wiedererkennen setzt aber die Gabe voraus, ein Identisches im Verschiedenen zu finden; und es erscheint mehr als fraglich, ob eine solche Gabe systematisch geschult werden kann.37 Literarisches Verstehen als ästhetischer Genuss 37

Vgl. ausführlich Odendahl (2018): Literarisches Verstehen. S. 162ff.

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verschiedenster Ausprägung ist also unverfügbar, nicht skalier- und normierbar; es ist aber gleichwohl unerhört voraussetzungsreich und keineswegs beliebig.

IV.

Fazit und didaktischer Ausblick

Das oben in wenigen Grundzügen vorgestellte, an Prämissen der Embodied Cognition und an Jakobsons Semiotik orientierte Verstehensmodell38 unterscheidet vier Dimensionen des Verstehens: affektiv, pragmatisch, referentiell sowie poetisch bzw. literarisch.39 Mithilfe dieser Differenzierung lassen sich auch verschiedene Erscheinungsformen des Nichtverstehens präziser beschreiben. Im schulischen Literaturunterricht werden alle Spielarten des Verstehens und Nichtverstehens relevant; die Frage ist, wie sie jeweils zu gewichten und wie mit ihnen umzugehen ist. Das affektive Verstehen kann als Grunddisposition der Weltwahrnehmung gelten. Sobald ein empfindendes Bewusstsein überhaupt auf den Plan tritt, werden begegnende Phänomene in ihrer affektiv-emotionalen Bedeutsamkeit ›für mich‹, also für eine wahrnehmende Subjekt-Instanz, verstanden. So betrachtet, kann es kein Nichtverstehen geben. Ob ein affektives Verstehen gezielt gefördert werden kann, erscheint mehr als zweifelhaft, schließlich ist hier eine grundlegende, sehr individuelle Empfänglichkeit einer wahrgenommenen Welt gegenüber angesprochen.40 Das pragmatische Verstehen setzt ein konsistentes Gegenüber der Interaktion voraus. Befindlichkeiten und Willensbestrebungen der oder des anderen wollen aufgefasst und verstanden sein; insofern spielt auch der Wille, zu verstehen, in diesem Bereich eine zentrale Rolle. Gleichwohl muss mir mein Gegenüber stets opak bleiben; dessen Sein und Wollen kann sich mir niemals ganz erschließen. Mit dem Verstehen geht also notwendig zugleich ein Nichtverstehen einher – um die eingangs zitierte Formel Humboldts zu paraphrasieren. Aus diesen Überlegungen folgt weniger eine Technik des Verstehens als eine Haltung, die darin besteht, das

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Vgl. ebd. S. 113ff. Die Begriffe poetisch und literarisch werden hier zunächst synonym behandelt. Mit Blick auf die mediale Dimension künstlerischer Ausdrucksformen kann es sinnvoll sein, von einem literarischen Verstehen im engeren Sinne immer dann zu sprechen, wenn wort- und schriftgebundene Texte im Fokus stehen, den Begriff des poetischen Verstehens hingegen auch auf die Rezeption audiovisueller Medien auszudehnen. Vgl. Ulf Abrahams ähnlich gelagerten Vorschlag zu einer Unterscheidung zwischen literarischer und poetischer Kompetenz: Abraham, Ulf (2005): Lesekompetenz, literarische Kompetenz, poetische Kompetenz. Fachdidaktische Aufgaben in einer Medienkultur. In: Heidi Rösch (Hg.): Kompetenzen im Deutschunterricht. Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Mediendidaktik. Frankfurt a.M., S. 13-26. Vgl. Odendahl (2018): Literarisches Verstehen. S. 161.

Johannes Odendahl: Spielarten des Nichtverstehens

Verstehen zu suchen, sich um ein angemessenes Verstehen zu bemühen, hermeneutische Billigkeit zu üben in dem Sinne, dass ich mit dem zu Verstehenden nicht zu schnell fertig werde und meinem Gegenüber so lange als möglich lautere Absichten unterstelle. Zu dieser Haltung gehört zugleich der Respekt vor der Integrität der anderen Person in ihrer undurchdringlichen Fremdheit; Verstehen kann, so betrachtet, nicht als ein Prozess der Aneignung betrieben werden. Im Literaturunterricht wird die Arbeit an derartigen pragmatischen Verstehensfähigkeiten vor allem darin bestehen, sich in einer Haltung des Zuhörens und des genauen, gewissenhaften Lesens zu üben. In diesem Sinne sucht das Heidelberger Literarische Unterrichtsgespräch die Förderung literarischer Lesefähigkeiten über den Weg der Pflege einer Gesprächskultur: Das Hören auf die anderen im Gesprächskreis präsenten Personen soll einhergehen mit einem immer genaueren, einfühlsameren ›Hören auf den Text‹. Dabei gilt, mit Ruth Cohn zu reden, »Störungen haben Vorrang«41 : Nicht- und Missverstehen wird im gesprächsorientierten Unterricht nicht als zu vermeidender Problemfall, gleichsam als Panne auf dem Weg zum richtigen Verstehen, betrachtet; vielmehr wird es als produktive Energie und notwendiger Teil des Verstehensprozesses wertgeschätzt. So können auch scheinbar abwegige Verstehensäußerungen über literarische Texte zu einer Bereicherung der kollektiven Arbeit am Verstehen werden.42 Dies bedeutet aber nicht, dass Verstehen in referentieller Hinsicht beliebig wäre. Gelingendes referentielles Verstehen wurde oben gekennzeichnet als das erfolgreiche rezipientenseitige Herstellen einer pragmatisch intendierten bzw. konventionell vorgesehenen Referenz zwischen Zeichen und Gemeintem. Verstehen in diesem Sinne kann als ein Erfolgsverb gelten, hier gibt es durchaus ein Entweder-oder von Verstehen und Nichtverstehen. Referenzielles Verstehen lässt sich prinzipiell messen und überprüfen – ob meine Bestellung im Restaurant richtig verstanden wurde, kann ich daran ablesen, was mir serviert wird –, es ist wissensbasiert und kann gelehrt und gelernt werden. Dies wird beim Erwerb einer Fremdsprache besonders augenfällig; für das referentielle Verstehen kann aber auch Kontextwissen verschiedenster Art, insbesondere auch historisches Wissen, relevant werden. Die Vermittlung und der Erwerb referentieller Verstehensfähigkeiten gehört zum angestammten Terrain des Sprach- und auch des Literaturunterrichts. Die oben umrissene Haltung, den Gesprächspartner oder einen (literarischen) Text angemessen

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Cohn, Ruth C. (13 1997): Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Stuttgart, S. 122. Vgl. Härle, Gerhard (2004): Lenken – Steuern – Leiten. Theorie und Praxis der Leitung literarischer Gespräche in Hochschule und Schule. In: Ders., Marcus Steinbrenner (Hg.): Kein endgültiges Wort. Die Wiederentdeckung des Gesprächs im Literaturunterricht. Baltmannsweiler, S. 130f.

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verstehen zu wollen, äußert sich insbesondere in einer großen Gewissenhaftigkeit, ja Strenge, in Bezug auf das referentielle Verstehen. Poetisches bzw. literarisches Verstehen wurde hier als rezipientenseitiges Korrelat zu Jakobsons poetischer Funktion gekennzeichnet. Aufgefasst wird dabei eine semiotische Äquivalenzbildung – klanglich, strukturell, semantisch bis hin zu Lebensweltbezügen –, wodurch sprachliche Zeichen als Spielmaterial und die Tätigkeit des Bezeichnens als lustvoll betriebenes Spiel erlebt werden können. Diese Erfahrung lässt sich als ästhetisches Vergnügen bezeichnen, auch wenn es kathartische Effekte wie Rührung oder Erschütterung miteinschließen kann. Das poetische Verstehen literarischer Texte setzt in aller Regel Sprachbeherrschung und geeignete Wissensbestände für ein gelingendes referentielles Verstehen voraus; daher spielt die Arbeit an Letzterem auch im Literaturunterricht eine zentrale Rolle. Soweit sich das poetische Verstehen auf formal-strukturelle Texteigenschaften bezieht, kommen ihm auch ein feines Gehör für klangliche Gegebenheiten und ein vertieftes Analysewissen zugute. Ganz gleich aber, ob der Literaturunterricht verstärkt semantisch-referentiell oder formal-strukturell arbeitet: Ein poetisches Verstehen kann er dadurch nicht verbürgen. Dieses ist als das plötzliche, oft auch intuitive Auffassen von Äquivalenzbeziehungen und als Freude am Spiel mit Zeichen so wenig verfügbar, es scheint in so vielen individuellen Spielarten, affektiven Färbungen und Intensitätsgraden auf, dass es unmöglich als Planziel eines Unterrichts ausgegeben, vermittelt und überprüft werden kann. Keineswegs besteht also ein lineares Gegensatzverhältnis zwischen gelingendem und scheiterndem literarischen Verstehen; bildlich ließe sich eher von einem breiten Fächer an Verstehensund Genussmöglichkeiten reden, einem Nullpunkt ausbleibender ästhetischer Erfahrung entgegengelagert. Wichtig ist, dass die Schule und der Literaturunterricht Gelegenheiten bereitstellen, um dem poetischen Verstehen Raum zu geben – in intensiver Lektüre, im gemeinsamen Gespräch, in der analytischen, speziell auch in der künstlerischen Arbeit. Literarisches Verstehen als ästhetisches Vergnügen ist nichts, das sich erzwingen lässt; es will eingeladen sein, und vielleicht stellt es sich dann in dieser oder jener Form ein. Oder, um mit einer paradoxen Formulierung zu schließen: Arbeit am literarischen Verstehen zielt darauf ab, sich ins Spiel zu verlieren.

Johannes Odendahl: Spielarten des Nichtverstehens

Quellenverzeichnis Abraham, Ulf (2005): Lesekompetenz, literarische Kompetenz, poetische Kompetenz. Fachdidaktische Aufgaben in einer Medienkultur. In: Heidi Rösch (Hg.): Kompetenzen im Deutschunterricht. Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Mediendidaktik. Frankfurt a.M., S. 13-26. – (2010): P/poetisches V/verstehen. Zur Eingemeindung einer anthropologischen Erfahrung in den kompetenzorientierten Deutschunterricht. In: Iris Winkler, Nicole Masanek, ders. (Hg.): Poetisches Verstehen. Literaturdidaktische Positionen – empirische Forschung – Projekte aus dem Deutschunterricht. Baltmannsweiler, S. 9-22. Baum, Michael (2010): Literarisches Verstehen und Nichtverstehen. Kulturtheorie und Literaturunterricht. In: Volker Frederking, Axel Krommer, Christel Meier (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Literatur- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler, S. 100-123. Busch, Wilhelm (1960): Kritik des Herzens [1874]. In: Ders.: Wilhelm Busch. Historisch-kritische Gesamtausgabe in vier Bänden. Hg. von Friedrich Bohne. Bd. 2. Wiesbaden u.a., S. 494-526. Cohn, Ruth C. (13 1997): Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Stuttgart. Härle, Gerhard (2004): Lenken – Steuern – Leiten. Theorie und Praxis der Leitung literarischer Gespräche in Hochschule und Schule. In: Ders., Marcus Steinbrenner (Hg.): Kein endgültiges Wort. Die Wiederentdeckung des Gesprächs im Literaturunterricht. Baltmannsweiler, S. 107-139. – (2011): »… und am Schluss weiß ich trotzdem nicht, was der Text sagt«. Grundlagen, Zielperspektiven und Methoden des Literarischen Unterrichtsgesprächs. In: Marcus Steinbrenner, Johannes Mayer, Bernhard Rank (Hg.): »Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander«. Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs in Theorie und Praxis. Baltmannsweiler, S. 29-65. –; Steinbrenner, Marcus (2003): »Alles Verstehen ist … immer zugleich ein NichtVerstehen«. Grundzüge einer verstehensorientierten Didaktik des literarischen Unterrichtsgesprächs. In: Literatur im Unterricht, Jg. 4, H. 2, S. 139-162. Humboldt, Wilhelm von (1907): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830-1835]. In: Albert Leitzmann (Hg.): Wilhelm von Humboldts Werke. Bd. 7, Teil 1. Berlin, S. 1-344 (= Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band 7. 1. Abteilung). Jakobson, Roman (1979): Linguistik und Poetik [1960]. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt a.M., S. 83-121.

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Livestream aus dem BKA Theater Hauptstadtstudio (Bodo Wartke, D 2020). URL: https://www.youtube.com/watch?v=ENERHCBEr0Y [Stand: 21.09.2021; mittlerweile – Stand: 01.01.2022 – ist das Video gesperrt]. Mitterer, Nicola (2016): Das Fremde in der Literatur. Zur Grundlegung einer responsiven Literaturdidaktik. Bielefeld. Odendahl, Johannes (2018): Literarisches Verstehen. Grundlagen und didaktische Perspektiven. Berlin. Schulz von Thun, Friedemann (1981): Miteinander reden. Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation. Reinbek bei Hamburg. Spinner, Kaspar H. (2006): Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch, Jg. 33, H. 200, S. 6-16. Stark, Tobias (2019): Verstehenshinderliche Prozesse beim Zusammenwirken von Weltwissen, normativen Wertungen und Textverstehen. Ergebnisse einer qualitativen Leseprozessuntersuchung mithilfe von Lautdenkprotokollen. In: Didaktik Deutsch, Jg. 24, H. 47, S. 65-85. Strube, Werner (1985): Analyse des Verstehensbegriffs. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, Jg. 16, H. 2, S. 315-333. Zabka, Thomas (2012): Didaktische Analyse literarischer Texte. Theoretische Überlegungen zu einer Lehrerkompetenz. In: Daniela A. Frickel, Clemens Kammler, Gerhard Rupp (Hg.): Literaturdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. Perspektiven und Probleme. Freiburg i.Br., S. 139-162.

Die tropische Stadt Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig zwischen Rhetorik und Hermeneutik Michael Baum Abstract Der Beitrag geht gewissermaßen hinter das Problem des Verstehens und Nichtverstehens von Literatur zurück. Die Frage ist: Wie lassen sich die etwaigen hermeneutischen Probleme genealogisch erklären? Wie wirkt sich diese Genealogie auf philologische und didaktische Deutungen von Literatur aus? Nach Gadamer ist der hermeneutische Zirkel eine aus der Rhetorik übertragene Figur. Doch die Rhetorik stiftet kognitive und sprachliche Probleme. Redner wollen vielleicht gar nicht angemessen verstanden werden. Am Beispiel von Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig, die virtuos mit sprachlichen Täuschungsmanövern spielt, wird diese Problematik erläutert. Denn: Rhetorik entfaltet das Spiel von Vertrautem und Fremdem, ist der Stachel im Fleisch des Verstehens. Dies zu ignorieren dürfte sich wohl auch die Didaktik nicht leisten. Dieser Text kehrt die in literaturdidaktischen Texten übliche Richtung der Argumentation um. Gefragt wird nicht (teleologisch), welche theoretischen Einsichten der Kulturwissenschaften wie zur Modellierung literarischen Verstehens verwendet werden können. Vielmehr geht es (genealogisch) um das, was diese Einsichten nebst ihren Verwerfungen und Brüchen erst hervorgebracht hat. Die Hypothese ist, dass diese Entwicklung weiterwirkt; im Verstehen und Nichtverstehen arbeitet die Zeit ebenso nach hinten wie nach vorne. Mithin spricht dieser Text nicht mit der Didaktik, sondern zu ihr.

I.

Gadamer über die rhetorische ›Vorgeschichte‹ der Hermeneutik

In seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode weist Hans-Georg Gadamer auf die methodologische Figur des hermeneutischen Zirkels hin: Wir erinnern uns hier der hermeneutischen Regel, daß man das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen verstehen müsse. Sie stammt aus der antiken Rhetorik und ist durch die neuzeitliche Hermeneutik von der Redekunst auf die Kunst des Verstehens übertragen worden. Es ist ein zirkelhaftes Verhältnis,

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das hier wie dort vorliegt. Die Antizipation von Sinn, in der das Ganze gemeint ist, kommt dadurch zu explizitem Verständnis, daß die Teile, die sich vom Ganzen her bestimmen, ihrerseits auch dieses Ganze bestimmen.1 Man könnte die Formulierung auch als hermeneutische Pädagogik lesen. Der Tonfall ist behutsam-erklärend und es ist von einer Regel die Rede, die gelernt und nicht vergessen werden darf. Die von Gadamer gegebene Definition passt die Denkfigur des Zirkels an das romantische Konzept des Verstehens an. Der Zirkel ist differentiell, prozessual und als Bewegung in der Zeit nicht vorhersehbar; er bringt das Verstehen nur aus sich selbst hervor – und auch das Nichtverstehen2 (wovon an dieser Stelle bei Gadamer nicht die Rede ist). Der dynamisierte Begriff des Verstehens ist für eine moderne, leistungsfähige Hermeneutik unverzichtbar und er schützt vor vereinfachten und verdinglichten Formen des Verstehens, die mit deduktiven Schemata arbeiten. Dies ist hinreichend oft dargelegt worden und mag nicht falsch sein. Thema dieser Untersuchung sind jedoch das Verhältnis von Hermeneutik und Rhetorik sowie die Probleme des Verstehens und Nichtverstehens, die sich daraus ergeben – insbesondere in Hinsicht auf Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig. In diesem Zusammenhang ist der zweite Satz des oben zitierten Passus von besonderem Interesse. Gadamer leitet die Figur des hermeneutischen Zirkels, ohne diesen Umstand im Weiteren noch einmal zu thematisieren, aus der antiken Rhetorik ab. Als ob es einen zeitlichen und methodologischen Sprung gegeben hätte, der die moderne Hermeneutik ermöglichte; von der Produktions- auf die Rezeptionsseite, von der Antike in die Neuzeit. Am Anfang der neuzeitlichen Hermeneutik steht selbst eine Figur3 : Aus dem Redner, der eine Intention hat und dementsprechend die Elemente zu einem Ganzen verwebt, wird ein Leser, der dieser Intention auf die Spur kommt, indem er das Ganze aus den Elementen und die Elemente aus dem Ganzen versteht. Wer den Redner

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Gadamer, Hans-Georg (6 1990): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen, S. 296 (= Gesammelte Werke. Bd. 1: Hermeneutik). Ohne Nichtverstehen verliert das Verstehen seine Legitimation. Die Aufgabe des Verstehens beginnt im Moment des Nichtverstehens. Verstehen wäre sonst trivial. Es stellt sich die Frage, ob Nichtverstehen nur als zu überwindendes Zwischenstadium gedacht werden kann, als zu meisternde Herausforderung oder ob die Rückkehr des Nichtverstehens unausweichlich ist. Gadamer bezeichnet das Nichtverstehen häufig als fremd und markiert dieses tendenziell negativ. »Zentrales Motiv aller Hermeneutik«, schreibt er, ist »die Überwindung der Fremdheit«; Gadamer, Hans-Georg (2 1993): Rhetorik und Hermeneutik. In: Ders.: Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Register. Tübingen, S. 285 (= Gesammelte Werke. Bd. 2: Hermeneutik). Aus literaturwissenschaftlicher und -didaktischer Sicht ist zu überlegen, ob es nicht gerade um die Erfahrung der Fremdheit geht; vgl. Mitterer, Nicola (2016): Das Fremde in der Literatur. Zur Grundlegung einer responsiven Literaturdidaktik. Bielefeld. Gadamer spricht im oben zitierten Passus von einer Übertragung der Rhetorik auf die Hermeneutik.

Michael Baum: Die tropische Stadt

durch den Leser ersetzt, hat die Rhetorik verlassen und die Hermeneutik erreicht; eine Substitution, die an das Verfahren der Metapher erinnert. Dabei scheint die Gefährlichkeit des Rhetorischen zu verschwinden und das überlebensnotwendige Verstehen in den Vordergrund zu treten. Nun lässt sich die Logik von Teil und Ganzem, die Gadamer aus der antiken Rhetorik überträgt, sehr wohl aus den antiken Texten rekonstruieren. Cicero notiert im dritten Buch seines Polylogs De oratore einen Satz seines idealen Redners Crassus – und zwar nachdem dieser diverse Wirkungsmittel der Rede untersucht hat: »Non est autem in verbo modus hic, sed in oratione, id est, in continuatione verborum.« Harald Merklin übersetzt wie immer schlank und elegant: »Es kommt dabei jedoch nicht auf das Wort an, sondern auf den Text, das heißt auf den Zusammenhang der Worte.«4 Und dieser, würde Gadamer ergänzen, lässt sich für den Hörer5 durch das Verstehen im Modus des hermeneutischen Zirkels erschließen. Wer in Texten der antiken Rhetorik auf die Suche nach weiteren hermeneutischen Topoi geht, wird fündig. Aristoteles legt seiner Rhetorik eine Dreiteilung nach Redner, Text und Zuhörer zugrunde6 und wird so zum Vorläufer der hermeneutischen Ästhetik, die nach dem Verhältnis von Autor, Text und Leser fragt. Der sprachtheoretische Ausgangspunkt der hermeneutischen Aufgabe, der »Unterschied zwischen Wortlaut und […] Sinn«,7 Ursache des Zweifels am Gehalt alles Sprachlichen, das sich in einer Kette aus Differenzen verlieren könnte, findet sich ebenso schon bei Cicero. Als eine Folge entsteht das Problem, Textverstehen mit Äußerungsverstehen zu vermitteln. Kann der Text auf eine zugrundeliegende Intention hin verstanden werden (psychologisches Motiv der Äußerung) oder geht es um die endlose Vermittlung differentieller Elemente aus Sprache (Text als Verweisungssystem)? Es spricht einiges dafür, dass gerade die Überdeterminiertheit der

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Cicero, Marcus Tullius (2019) : De oratore. Über den Redner. Lateinisch/Deutsch. Übers. und hg. von Harald Merklin. Stuttgart, S. 551. Wenn Gadamer mit seiner Herleitung der Hermeneutik aus der Rhetorik recht hat, dann ließe sich auch der Phonozentrismus der Hermeneutik (Rede statt Text, Hören statt lesen etc.) als Erbe der antiken Rhetorik begreifen, die ja als Orientierungspunkt, auch in der Theorie, notwendigerweise das Sprechen vor Gericht, in der Volksversammlung und beim Fest behalten muss. Allerdings gibt es etwa bei Cicero schon kontroverse Auffassungen über die Schriftlichkeit in der Rhetorik. Der Griffel ist einerseits gedanklicher Lehrmeister, andererseits kostet er viel Schweiß und führt weg von den praktischen Erfordernissen der Rede; vgl. Cicero (2019): De oratore. S. 125, 199. Zur Annäherung von Hören und Lesen als epistemologische Figur der Sinnzentrierung vgl. Gadamer, Hans-Georg (1993): Hören – Sehen – Lesen. In: Ders.: Ästhetik und Poetik I. Tübingen, S. 271-278. Vgl. Aristoteles (2019): Rhetorik. Übers. und hg. von Gernot Krapinger. Stuttgart. Die drei Bücher der Rhetorik entsprechen den drei Richtungen des rhetorischen Diskurses: Ethos, Logos und Pathos. Cicero (2019): De oratore. S. 275.

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Sprache (insbesondere als Schrift) die (notwendige) Fiktion des Verstehens hervorbringt. Die letzte Überlegung bringt uns schon ein Stück weg von dem gestellten Problem: Gadamers These, dass die Hermeneutik eine übertragene Rhetorik ist. Die bisher gegebenen Beispiele sprechen für einen mehr oder minder bruchlosen Übergang von der Theorie der Rede zur Theorie des Verstehens. Gadamer versucht, diesen Übergang in seinem Aufsatz Rhetorik und Hermeneutik weiter zu plausibilisieren, indem er die Zusammengehörigkeit von Reden- und Verstehen-Können einerseits anthropologisch verallgemeinert und andererseits historisch-rekonstruierend aufweist, wie es durch Medien- und Kulturwandel in der Renaissance zu einer »Umwendung der rhetorischen Tradition auf das Lesen klassischer Texte«8 kommen musste, da die sozialen, medialen und politischen Voraussetzungen der antiken Rhetorik nicht mehr gegeben waren. Blickt man indes noch einmal mit etwas Distanz auf Gadamers hermeneutische Geschichtsschreibung, stellen sich gewisse Zweifel ein. Zwar ist die Transformation der alten Rhetorik zu einer Hermeneutik, begonnen in der Renaissance und mit der Romantik vorläufig abgeschlossen, nicht zu bestreiten; der Niedergang der alten Beredsamkeit allein schon durch den Rückgang der Bildungssprachen Latein und Griechisch sowie, noch wichtiger, durch das Aufkommen der idealistischen Philosophie des Subjekts ist oft beschrieben worden. Doch es handelte sich um den Niedergang der alten Beredsamkeit, wie sie in den höheren Schulen und an den Universitäten gelehrt wurde, als integraler Bestandteil des Triviums aus Grammatik, Logik und Rhetorik. Mit anderen Worten: Die Form und die institutionellen Rahmenbedingungen der Vermittlung rhetorischen Wissens und Könnens wurden ein für alle Mal aufgehoben.9 Aber das heißt nicht, dass das Rhetorische ganz hinter das Neue zurückgetreten wäre. Im Gegenteil: Das Verstehen hat bis heute mit dem Rhetorischen zu kämpfen, indem Letzteres durch aus der Sprache heraustretende Form der Vermittlung von Wortlaut und Sinn nachhaltig Widerstand leistet. Lässt sich eine Figur ganz verstehen oder wird sie vollzogen wie im Tanz und in der Grafik? Betrachtet man die Geschichte der Ablehnung der Rhetorik durch die Philosophie um 1800 – die prominentesten und eindringlichsten Stimmen sind diejenigen

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Gadamer (2 1993): Rhetorik und Hermeneutik. In: Wahrheit und Methode. S. 280. Gadamer kann ferner nachweisen, wie in der Renaissance-Hermeneutik des Matthias Flacius Illyricus clavis scripturae sacrae die Dialektik von Teil und Ganzem wie selbstverständlich als Prinzip des Verstehens dargelegt wird. Ziel der kundigen Lektüre heiliger Schriften ist die Erkenntnis des scopus (gedankliche Mitte als Schwerpunkt des Äußerungsverstehens). Damit ist keinesfalls gemeint, dass Rhetorikunterricht nicht mehr an Schulen stattfand. In Lehrplänen und als Prüfungsstoff wurde das Trivium ohne Beibehaltung seiner historischen Form in die Schule transponiert.

Michael Baum: Die tropische Stadt

von Kant und Hegel – und legt Gadamers These von der romantischen Hermeneutik als Erbin der Rhetorik daneben, ergibt sich eine interessante Frage: Betrifft die Polemik die alte Rhetorik oder das Rhetorische grundsätzlich? Und wenn Ersteres zutrifft: Wie bewusst und reflektiert wird mit dem alten Wissen unter neuen Umständen umgegangen? Ein besonders interessanter Fall ist Arthur Schopenhauer; ein philosophischer Stilist, der wie kaum ein anderer rhetorische Formen gedanklicher Überzeugung nutzt und bei dem etwa die Metapher zwischen dienender und eigensinniger Funktion oszilliert. Schopenhauer versteht unter Rhetorik Folgendes: Beredsamkeit ist die Fähigkeit, unsere Ansicht einer Sache, oder unsere Gesinnung hinsichtlich derselben, auch in Andern zu erregen, unser Gefühl darüber in ihnen zu entzünden und sie so in Sympathie mit uns zu versetzen; dies Alles aber dadurch, daß wir, mittelst Worten, den Strohm unserer Gedanken in ihren Kopf leiten, mit solcher Gewalt, daß er den ihrer eigenen von dem Gange, den sie bereits genommen, ablenkt und in seinen Lauf mit fortreißt.10 Wenn die Hermeneutik die gedankliche Struktur der Rhetorik übernimmt und diese auf die Seite der Lektüre und des Verstehens projiziert – gibt es dann neben der Gewalt der Rede auch eine Gewalt des Verstehens? Ist der scopus des Verstehens der verdächtige Stiefbruder des rhetorischen Kalküls? Gemäß Aristoteles läuft die gesamte Beschäftigung mit der Rhetorik auf den Schein hinaus.11 Ist unsere obige Vermutung richtig, dass das Verstehen eine notwendige Fiktion ist? Oder stellt sich das Problem noch ernster: das Verstehen als gefährliche Illusion, verwandt derjenigen, die ein raffinierter Redner zu erzeugen weiß? Cicero findet ein einprägsames Bild der verlorenen Einheit von Philosophie (Verstehen) und Rhetorik (Reden): Doch wie die Wasserscheide auf dem Apennin die Flüsse teilt, so flossen von dem Bergeskamm der ungeteilten Weisheit die Lehren in verschiedene Richtungen, so daß die Philosophen gleichsam in das Jonische Meer strömten, das ganz griechisch wirkt und reich an Häfen ist, die Redner aber in unser Thyrrhenisches, barbarisches Meer stürzten, voll von Klippen und Gefahren, in dem sich selbst Odysseus schon verirrte.12 Einprägsam ist neben dem Bild der Wasserscheide des Wissens, Anzeichen einer nicht mehr aus der Welt zu schaffenden Differenz, die Bewertung des Rhetorischen als barbarisch und gefährlich. Was, wenn die Flüsse sich wieder vereinigten? Käme

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Schopenhauer, Arthur (3 1972): Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2. Wiesbaden, S. 129 (= Sämtliche Werke. Hg. von Arthur Hübscher. Bd. 3). Vgl. Aristoteles (2019): Rhetorik. S. 158. Cicero (2019): De oratore. S. 491.

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es zu einer Barbarisierung des Verstehens? Oder zu einer verständlichen Rhetorik? Aber wäre Erstere nicht das Ende der Philosophie und Letztere obsolet, weil der Redner in seiner Intention gar nicht verstanden werden will? Gadamer orientiert jedenfalls seine Reintegration von Philosophie und Rhetorik selbst am synthetischen Modell der Metapher. Scopus, Teil und Ganzes, Zirkelhaftigkeit – das sind die Gemeinsamkeiten, die die Übertragung ermöglichen. Am Ende hängt vielleicht alles davon ab, wie man diese Metapher versteht, wie man überhaupt Metaphern versteht, wenn zu entscheiden ist, ob Gadamers Trope hinüberträgt oder nicht. Sieht man das Tertium Comparationis, die Gemeinsamkeit, oder betont man das Paradoxe, Scheinhafte der Metapher, die Gleichsetzung des Nicht-Gleichen? Es ist aufschlussreich zu sehen, dass in der romantischen Hermeneutik selbst das Bewusstsein von der gefährlichen Natur des Rhetorischen, dem die Hermeneutik niemals ganz Herr werden kann, vorhanden ist. Während Cicero das Auseinanderfließen der Wissensformen beschreibt und Gadamer deren produktive Übergänge, mithin: deren Reintegration, anthropologisch und historisch-rekonstruktiv begründet, bestimmt Friedrich Schleiermacher die Grenzen des Verstehens und erblickt diese, wie man unschwer erkennen kann, dort, wo die Rhetorik beginnt: Wenn es zu einem Übermaß an »Darstellungsmitteln« bzw. zu Phänomenen wie Diskontinuität, komplexe Bildhaftigkeit und Rhythmisierung kommt, fällt es schwer oder ist es gar unmöglich, den scopus durch Divination zu erfassen.13 In einer modernen Theoriesprache klingt das so: »Die Leistung der Rhetorik gipfelt […] darin, durch rigidere Kopplung von sprachlichen Elementen eine – medienspezifisch – losere Kopplung der Sinn-Anschlüsse zu ermöglichen. ›Rhetorik‹ stellt geordnete Formen für strukturierte Kontingenz bereit.«14 In Übersetzung des systemtheoretischen Theoriesounds: Indem sprachliche Zeichen formalen Kombinationsregeln außerhalb der Grammatik unterworfen werden – rhetorikspezifisch: Hinzufügung (z.B. Wiederholung); Weglassung (z.B. Zeugma); Umstellung (z.B. Hyperbaton); Ersetzung (z.B. Metapher) –, entsteht ein Abstand zwischen Signifikant und Signifikat,

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Vgl. Schleiermacher, Friedrich (4 1977): Hermeneutik und Kritik. Hg. und eingel. von Manfred Frank. Frankfurt a.M., S. 124, 138, 147ff. Vgl. zum Rhetorik-Hermeneutik-Problem in didaktischer Perspektive: Baum, Michael (2010): Literarisches Verstehen und Nichtverstehen. Kulturtheorie und Literaturunterricht. In: Volker Frederking, Hans-Werner Huneke, Axel Krommer u.a. (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Literatur- und Mediendidaktik, besonders S. 104-108 sowie 114. Ferner: Baum, Michael; Breite, Emmanuel (2021): Jenseits der Interpretation. Ideologie und Rhetorik in Hans Christian Andersens Kunstmärchen Des Kaisers neue Kleider. In: ide. Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule, Jg. 45, H. 1, S. 77-86. Schäfer-Willenborg, Markus (1995): Form und Rhetorik. In: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hg.): Literaturwissenschaft. Unter Mitw. von Susanne Landeck. München, S. 241.

Michael Baum: Die tropische Stadt

der Letzteres in Bewegung bringt.15 So entsteht das Problem, dass jener Diskurs, der vom Redner seine Richtung erhält und kontrolliert wird (Rhetorik), im Falle seiner Wendung zum geschriebenen Text aufgrund des Übermaßes an Darstellungsmitteln (z.B. in der Literatur) verstehend nicht mehr eingeholt werden kann. Der hermeneutische Zirkel droht, zum hermeneutischen Zirkus zu werden. Nach der Epoche der Romantik wird gemäß Roland Barthes die alte Rhetorik zu einer Untoten: »Im 19. Jahrhundert führt die Rhetorik ein nur künstliches Weiterleben unter dem Schutz offizieller Vorschriften.«16 Barthes spricht dramatisch vom Tod der alten Rhetorik. Doch das ist nur die halbe Wahrheit, denn immer noch ist das Rhetorische tonangebend in Kunst, Politik und Alltag: »Die Welt ist unglaublich voll von alter Rhetorik.«17 Im Falle der Literatur liegt das in besonderer Weise auf der Hand. Literatur wird gemeinhin über formale Besonderheit definiert.18 – Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig treibt ein raffiniertes und selbstreflexives Spiel mit der Rhetorik, da ihre Vergangenheit und Gegenwart sich in diesem Text treffen.

II.

Der Tod in Venedig und die rhetorische Gefahr

Die antike Rhetorik hat die Nähe von Beredsamkeit und Literatur erkannt. Das lässt sich z.B. daran erkennen, dass Aristoteles sowohl in seiner Rhetorik als auch in seiner Poetik die Metapher behandelt.19 Diese ist keine ausgesuchte Kunstform, sondern immer schon Element der Sprache: »Alle unterhalten sich ja in Metaphern.«20 Folglich ist die Metapher ein Mittel des Überzeugens in der Rede ebenso wie eine der Artikulation und des Verstehens im Gespräch und im Lesen. Das Rhetorische geht durch die ganze Sprache hindurch. Doch damit beginnen intrikate Probleme der Abgrenzung und Bestimmung. Da die Metapher sowohl etwas Allgemeines als auch etwas Besonderes darstellt, weiß man nie, ob der vorliegende metaphorische

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Bereits Cicero befürchtet, dass so ein rätselhafter und dunkler Diskurs entstehen könnte. Vgl. Cicero (2019): De oratore. S. 551. Barthes, Roland (1988): Die alte Rhetorik. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a.M., S. 48. Ebd., S. 15. In welche Verlegenheit die Rhetorik die Literaturwissenschaft immer noch bringt, sieht man z.B. an dem häufig zitierten Handbuch von Anz, Thomas (Hg.) (3 2013): Handbuch Literaturwissenschaft. 3 Bde. Stuttgart. Rhetorisches kommt unter verschiedenen Titeln in verschiedenen Kapiteln vor; es ist überall und nirgends. Vgl. Aristoteles (2019): Rhetorik. S. 161-164, 182-187. Ferner: Ders. (1994): Poetik. Übers. und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart, S. 67-71. Ders. (2019): Rhetorik. S. 161.

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Sprachgebrauch angemessen ist. Notorisch stellt sich die Frage, wann die Grenzen im Verhältnis von Literatur, Rhetorik und Philosophie überschritten sind.21 Aristoteles erkennt die Nähe der Rhetorik zur Dichtung selbstverständlich an, verdeutlicht sogar, dass das Dichterische als Quelle des Rhetorischen zu verstehen ist; zugleich warnt er aber davor, die Rhetorik zu poetisieren. Negatives Beispiel ist wie üblich Gorgias: Da die Dichter trotz ihrer oft einfältigen Äußerungen sich durch die Art ihres Sprechens offensichtlich Ruhm erworben haben, entstand aus diesem Grund zuerst der poetische Stil, wie der des Gorgias. Auch jetzt noch glaubt die Mehrheit der Ungebildeten, dass Redner dieser Sorte am schönsten sprechen. Dem ist keineswegs so, es ist vielmehr der Stil der Rede von dem der Dichtung verschieden.22 Doch die Sache bleibt schwierig. Wenn Metaphern stets Rätsel aufgeben und ihre Bildspender dem gleichen sollen, »was entweder dem Klang, der Bezeichnung, der Wahrnehmung oder irgendeiner sonstigen Empfindung nach schön ist«23 , dann gerät die gerade vorgenommene Abgrenzung ins Wanken. Eine neuerliche Warnung vor dem Dichterischen in der Rede folgt auf dem Fuße.24 Ciceros schönes Bild von der Wasserscheide, die Philosophie und Rhetorik trennt, könnte weiter ausgemalt werden durch allerlei Bächlein der Dichtung, die dazwischen hin- und herfließen und am Ende sogar nichts anderes als die Boten der Quelle sind. Hört man dem Bild ein wenig nach, wird ein Rauschen wahrnehmbar. Jede wohl geformte Rede braucht einen Rhythmus, ein musikalisches Prinzip, das sie trägt. Darauf weist auch Aristoteles hin.25 Da der Rhythmus sich aber einer Kategorisierung nach syntaktischen und semantischen Kriterien entzieht (obwohl er beide Aspekte durchdringt), stellt er auch ein Moment der Entgrenzung von Literatur und Rhetorik dar. Ein spezifisch literarischer Rhythmus lässt sich genauso wenig bestimmen wie ein spezifisch rhetorischer. Gerade eine Lektüre des Todes in Venedig kann an der rhythmischen Formung der Sprache nicht vorbeigehen und sie kann darin ein ästhetisches Moment ebenso sehen wie eine rhetorische Orchestrierung des sprachlichen Prozesses. Was die Lektüre antreibt in Richtung auf das Begehren Aschenbachs, ist die Fügung der Tropen und Figuren, die Bewegung

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Die epistemologische Unschärfe des Rhetorischen wird zum Generalthema in Ciceros De oratore. Aristoteles (2019): Rhetorik. S. 159. Ebd., S. 163. Vgl. ebd., S. 170. Vgl. ebd., S. 173. Vgl. zum Rhythmus in Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik: Lösener, Hans (1999): Der Rhythmus in der Rede. Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus. Tübingen. Ders. (2006): Zwischen Wort und Wort. Interpretation und Textanalyse. München.

Michael Baum: Die tropische Stadt

im Gesamten, weniger der einzelne, durch die Rhetorizität der Sprache geöffnete Sinnanschluss. Zugleich ist der Rhythmus nur möglich durch die signifikante (rhetorische) Form. Wenn also Rhetorik definiert werden kann als die Fähigkeit, »das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen«,26 dann ist diese Überzeugungsarbeit niemals nur sprachlicher, sondern stets gewissermaßen auch musikalischer Natur. Weiter: Wenn der Rhythmus Rede und Literatur verbindet, dann ist jede Lektüre auch Erfahrung rhetorischer Kraft eingebettet in rhythmische Gestalt. Die Novelle Der Tod in Venedig entfesselt diese Kraft und überzeugt ihren Helden Gustav von Aschenbach wie einst den Empedokles des Hölderlin von der Schönheit und Notwendigkeit des Untergangs. Thomas Manns Text ist ganz von der Gefahr des Rhetorischen durchzogen; er sucht diese Gefahr auf, erschrickt vor ihr, kostet sie aus und wendet sich mit dem letzten, schlichten Satz von ihr ab. Nach Aschenbachs Tod konstatiert der Erzähler: »Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.«27 – Schopenhauer definierte Rhetorik als die Kunst, den Strom unserer Gedanken in das Bewusstsein des anderen zu lenken und ihn dadurch von sich selbst abzubringen und letztlich zu beherrschen. Gustav von Aschenbach wird sich selbst dieser andere. Und ebenso wenig wie das Verstehen das Rhetorische ganz zu absorbieren in der Lage ist, vermag Aschenbach die Gewalt des Ereignisses verstehend zu durchdringen. Die Rhetorik ist eine Gefahr. Ein anderer Name für diese Gefahr ist: das Fremde. Der Tod in Venedig inszeniert ein komplexes Spiel aus Alterität und Identität, Fremdem und Vertrautem. Aschenbachs vertraute Welt – die Rituale der Arbeit, die Konventionen, die öffentliche Anerkennung – ist zugleich eine zutiefst fremde. Die fremde Welt – das Begehren des Unaussprechlichen, die Ahnung der absoluten Entgrenzung – ist zugleich eine vertraute; eine, die in Träumen, Ahnungen und Bildern immer wieder aufgesucht wird. Jede alltägliche Szene erscheint für Momente in finsterem Licht, das den Tod ankündigt. Die Dunkelheit des Fremden hingegen erstrahlt in faszinierendem Glanz, Ausdruck der Lust und des Lebenswillens. Dem entspricht die unauflösliche Spannung des Rhetorischen zwischen res und verbum. Es ist der fremde Ton, von dem Aristoteles spricht und den er als Wesenszug des Rhetorischen entdeckt,28 der auch Thomas Manns Novelle durchzieht. Diese Sprache muss voran, muss sich vollziehen und bleibt dem Verstehen

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Aristoteles (2019): Rhetorik. S. 12. Die Formulierung führt, übertragen auf die Literatur, zu der Frage, wie dort das Überzeugende konstruiert wird. Verschiedene Ebenen der Leserlenkung und Lesertäuschung wären zu betrachten (erzählerisches Profil, Stil, narrative Zeit etc.). Mann, Thomas (2 2008a): Der Tod in Venedig [1912]. In: Terence J. Reed (Hg.): Frühe Erzählungen 1893-1912. Textkr. durchges. von Terence J. Reed unter Mitarb. von Malte Herwig. Frankfurt a.M., S. 592 (= Werke, Briefe, Tagebücher. Hg. von Heinrich Detering. Bd. 2.1). Vgl. Aristoteles (2019): Rhetorik. S. 160.

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stets etwas entrückt. Aschenbach weiß, dass er etwas zu tun hat; es fällt ihm nicht schwer, die Gegengründe abzuweisen, aber er weiß nicht genau, was er tut, und ist demzufolge kaum in der Lage, sich selbst zu verstehen. Selbst in dem Moment, in dem Aschenbach den Kopf schüttelt über die »Unkenntnis der eigenen Wünsche«,29 muss offenbleiben, ob die nun erlangte Kenntnis genügend ist oder doch nur eine Ahnung der eigenen Wünsche. Das liegt nicht zuletzt an der Anlage des Erzählens selbst, das sich zumeist sehr nah an seine Figur heranwagt – als ob der Schriftsteller Aschenbach seinem Erzähler die Worte liehe30 –, andernorts hingegen mit Ironisierungen und mahnender Sachlichkeit seiner Rolle gerecht wird. Die narrative Instanz leuchtet mit irritierender Bildersprache die Widersprüche dieses Bewusstseins aus – um sich dann wieder zurückzuziehen, die Atmosphäre insgesamt in den Blick zu nehmen, die Geschichte voranzutreiben durch knappere, orientierende Sequenzen. Der Erzählvorgang oszilliert zwischen Nähe und Distanz. Dies zu verstehen, würde bedeuten, eine übergeordnete Perspektive, die recht eigentlich keine mehr wäre, zu konstruieren, um zu einem Äußerungsverstehen insgesamt zu kommen. Die oben zitierte Einsicht in die Unkenntnis der eigenen Wünsche beschreibt Aschenbachs Reaktion nach der verhinderten Abreise. Das Wiedereintreffen im Hotel, die Rückkehr ins Begehren, bezeichnet der Erzähler, zugleich eng am Erleben seiner Figur und ironisch-distanziert, als »gefügiges Missgeschick«.31 Die contradictio in adiecto markiert den Riss zwischen diszipliniertem und begehrendem Subjekt. Aschenbach, dem das Fremde zunehmend vertraut geworden ist, kann das, was von ihm erwartet wird, nur noch spielen, indem er mimisch seine Unzufriedenheit mit der gescheiterten Gepäckaufgabe des Hotels zu verstehen gibt. Eine hermeneutische Deutung würde wohl darauf bestehen, dass gerade der partikuläre äußere Eindruck (der vorgebliche Ärger) in einer Anstrengung

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Mann (2 2008a): Der Tod in Venedig. In: Frühe Erzählungen (1893-1912). S. 548 (= Werke, Briefe, Tagebücher. Bd. 2.1). Zum Fremden als der Grenze des Verstehens vgl. Waldenfels, Bernhard (2006): Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M. Schopenhauer leitet das Nichtverstehen seiner selbst bekanntlich aus der doppelten Bestimmung des Menschen als Wille und Vorstellung ab. Siehe: Schopenhauer (3 1972): Die Welt als Wille und Vorstellung. S. 234f. (= Sämtliche Werke. Bd. 3): »Oft wissen wir nicht was wir wünschen, oder was wir fürchten. Wir können Jahre lang einen Wunsch hegen, ohne ihn uns einzugestehn, oder auch nur zum klaren Bewußtsein kommen zu lassen; weil der Intellekt nichts davon erfahren soll: indem die gute Meinung, welche wir von uns selbst haben, dabei zu leiden hätte; wird er aber erfüllt, so erfahren wir an unserer Freude, nicht ohne Beschämung, daß wir dies gewünscht haben: z.B. den Tod eines nahen Anverwandten, den wir beerben.« Hier bildet sich jene Nische, aus der der Autor sich in den Text einschreibt. Mann (2 2008a): Der Tod in Venedig. In: Frühe Erzählungen (1893-1912). S. 549 (= Werke, Briefe, Tagebücher. Bd. 2.1).

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des Verstehens, die das Ganze im Zusammenhang der äußeren und inneren Gegebenheiten betrachtet, überwunden und differenziert gedeutet werden könnte. Heißt hermeneutisch arbeiten nicht, das je einzelne Äußere in seinen inneren Zusammenhang bringen? Doch ginge dies mit einer Tilgung der figuralen Differenz einher, die durch die contradictio in adiecto nun einmal gesetzt ist. Die kognitive und auch die affektive Wirkung der Figur sind unhintergehbar und das Lesen muss auf diese stets zurückkommen. Der fremde Ton kann nie ganz angeeignet werden, und es ist dieser fremde Ton, den Aschenbach vernimmt. – Die kurze Betrachtung von Thomas Manns Novelle hat gezeigt, wie das Rhetorische zu einer dichterischen Produktivkraft par excellence wird,32 indem sich die Fremdheit der erzählten Figur für sich selbst mit der Intensität überschießender Form verbindet, ja Erstere nur durch Letztere überhaupt zum Ausdruck kommen, sich artikulieren und erkunden, sich spüren und wieder verrätseln kann. Die bisher gegebenen punktuellen Beispiele genügen freilich nicht, um zu beweisen, dass das Rhetorische die Conditio sine qua non des Todes in Venedig ist. Andererseits deutet sich vielleicht schon an, dass dieser Tod auch ein Tod der Sprache durch Verausgabung und Verselbstständigung der Form sein könnte. Die Erkundung des Fremden ist also zugleich eine Reise durch den rhetorischen Garten der Lüste. Projiziert man diese Konstellation auf die Achse der Zeit, so öffnet sich der Blick auf lange verdrängte Wünsche, die im Untergrund des Bewusstseins ihren bildlich-symbolischen Schabernack treiben.33 Aschenbach dringt kaum noch zu sich selbst durch, weil die Lektüre der rätselhaft mit sich verflochtenen Spuren des Begehrens im Gedächtnis nicht möglich ist, nicht möglich sein

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Oben wurde mit Bezug auf Aristoteles und das Problem der Metapher gezeigt, wie das Problem der Ununterscheidbarkeit von Allgemeinheit und Besonderheit des rhetorischen Sprachgebrauchs entsteht. Der Kunstcharakter von Thomas Manns Novelle besteht darin, dass die Elemente der elocutio sich von der Intention des Rhetors (vulgo Erzählers) emanzipieren und ein synthetisches Verstehen stets ironisieren. Jonathan Culler problematisiert zu Recht eine pauschale Inanspruchnahme der Rhetorik zur Bestimmung von Literatur: »Über den Nachweis, wie sehr rhetorische Verfahren auch in anderen Diskursen die Gedanken bestimmen, lässt sich zeigen, dass auch in vermeintlich nicht-literarischen Texten ein hohes Maß an Literarizität am Werk ist, und das macht die Unterscheidung zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten noch komplizierter.« Culler, Jonathan (4 2011): Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Stuttgart, S. 34. Gleichwohl gibt es graduelle Unterschiede, die im Falle Thomas Mans in der Dichte der Verwendung, in der Schwierigkeit der Rahmung infolge des Widerstands der Sprache und in der selbstreflexiven Brechung liegen. Zur tropischen Differenz als Artikulation des Fremden vgl. Mitterer (2016): Das Fremde in der Literatur. S. 166. Aufseiten des Lesers führt dies nicht zu einer immer größeren Vertrautheit mit dem Text, sondern, im Gegenteil, in fortlaufenden Lektüreschleifen zur Erfahrung von wachsender Fremdheit. Damit zusammen hängt eine konstitutive Passivität: »Das Fremde als Pathos verstanden, als etwas, das mein Ich in Frage stellt, indem ich es erleide und nicht aktiv ›bewältigen‹ kann, stellt eine massive Infragestellung des Bestehenden dar.« Ebd., S. 51.

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kann; das Bewusstsein, das jetzt verstehen soll, ist dasselbe, das die Zeichen entstellt und verdrängt hat. Als Aschenbach während jenes folgenreichen Spaziergangs in München versucht zu begreifen, was sein Gemüt bewegt, jenes »Gefühl, so lebhaft, so neu oder doch so längst entwöhnt und verlernt«, reagiert er mit einer metonymischen Verschiebung, die die Reise ins Innere in eine touristische Reise verwandelt: »Es war Reiselust, nichts weiter.«34 Diese Metonymie stellt die textuelle Realisation einer dissimulatio dar. Heinrich Lausberg bezeichnet die semantische Funktion dieser Gedankenfigur als »Verheimlichung«.35 Als Gedankenfigur – innerhalb der rhetorischen Systematik auf der Ebene der res angesiedelt – benötigt die dissimulatio eine distinkte Form des Erscheinens. Dies kann durch grammatische Abweichung (z.B. Frage statt Antwort), Ablenkung oder eben eine der Tropen geschehen. Wie in avancierter Literatur nicht unüblich, ist die Figur nicht nur ein Wort-, auch nicht nur ein Satzphänomen, sondern ein den gesamten Text orientierendes sprachlich-gedankliches Prinzip. Die dissimulatio ist die rhetorische Form der Artikulation des Unartikulierbaren und der textgenetische Motor des Todes in Venedig. Sie treibt die den Gegenstand verfehlende und sich zugleich findende Sprache voran, organisiert die zahllosen sprachlichen und symbolischen Täuschungsmanöver der Figuren (Hotelmanager, Musikgruppe, Friseur, Gondoliere, Mitarbeiter im Reisebüro, Selbstgespräche Aschenbachs) und verweist auf die titelgebende Trope: die im zweifachen Wortsinne tropische Stadt Venedig, den schwülwarmen Ort einer faszinierenden Verführung durch Zeichen, einer Verstellung des Eigentlichen, die am Ende unter Umständen mit dem Tode bezahlt werden muss. Das Leitmotiv des Übersetzens – per Gondel, per Schiff – wird dabei zu einem Bild, mit dem der Text sich selber bezeichnet und signiert als dissimulierende Rede, die ihre Spuren zeichnet und verwischt. Übersetzen bezeichnet die Bewegung im Raum, übersetzen den tropischen Abstand der Sprache zu sich selbst. Der »schwere und düstere Körper des Schiffes«, auf dem Aschenbach reist, wird zum Bild der fremd tönenden Sprache, die zahllose Rätsel aufgibt, und er wird zugleich zur Darstellung seiner schwierigen, leidenden Seele, für die die »Entstellung der Welt ins Sonderbare« die äußere Seite der vertrauten Fremdheit ist.36 In einer solchen Situation muss die Hermeneutik des Selbst misslingen, weil Teil und Ganzes wegen des Risses, der durch beide hindurchgeht, nicht zueinander finden. Ausgegangen sind die letzten Überlegungen vom Problem der Zeit, einer gewissermaßen versteckten Zeit, deren Erfahrung nur als dissimulatio artikuliert werden kann. Aschenbach könnte sich nur verstehen, wenn er in der Lage wäre, die

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Mann (2 2008a): Der Tod in Venedig. In: Frühe Erzählungen (1893-1912). S. 504 (= Werke, Briefe, Tagebücher. Bd. 2.1). Lausberg, Heinrich (1979): Elemente der literarischen Rhetorik. München, S. 141. Mann (2 2008a): Der Tod in Venedig. In: Frühe Erzählungen (1893-1912). S. 519 (= Werke, Briefe, Tagebücher. Bd. 2.1).

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Erfahrung der Zeit aufzuheben. Doch damit müsste er sein Leben selbst aufheben. Um einen Gedanken Nietzsches aus dem Zarathustra zu variieren: Wenn er das Begehren im Jetzt und Hier bejaht, dann muss er, verstehend oder nicht, auch das ganze Drama seines Lebens, das hierhin geführt hat, bejahen. Das zeitliche Gesetz von Aschenbachs Leben – jeden Lebens? – ist jenes: »Zu spät!«,37 das er sich selbst wiederholt und also in emphatischer Steigerung sagt. In der Szene geht es um einen Moment der Begegnung, der die Möglichkeit des Sprechens eröffnet, die Aschenbach aber versäumt. Es ist schwer zu überlesen, dass nicht nur die Beschreibung des Moments, sondern, in verallgemeinerter Form, das singulare pro tantum dieses Lebens erkannt werden kann. Immer schon zu spät. Indem dieses Zu-spät jede Gegenwart ausstreicht, artikuliert es eine Erfahrung der Zeit, die nicht aufhebbar ist. Als notwendige Gleichzeitigkeit von Begehren und Entsagung entzieht sich das Zu-spät dem Verstehen. Mit anderen Worten: Der verdrängende und entsagende Aufschub produziert jene Fremdheit, die sich nur noch rhetorisch artikulieren lässt, und entpuppt sich, in der ihm eigenen zeitlichen Dimension, als jenes Zu-spät, das erschrickt über das Versäumnis des Lebens. Freilich bleibt es nicht dabei, diese Dynamik auf die Ebene der Figur zu begrenzen. Vielmehr gilt, was allgemein für diese Novelle zutrifft: das Oszillieren des Erzählvorgangs zwischen Figur und Narration, auch im Zusammenhang des Rhetorischen. Das Rhetorische ist Medium der Artikulation der Figur und metafiktionale Selbstreflexion in einem. Gerade der viel zitierte Beginn des Todes in Venedig macht dies deutlich. Die Erklärung für den notwendig gewordenen Nachmittagsspaziergang des Helden lautet wie folgt: Überreizt von der schwierigen und gefährlichen, eben jetzt eine höchste Behutsamkeit, Umsicht, Eindringlichkeit und Genauigkeit des Willens erfordernden Arbeit der Vormittagsstunden, hatte der Schriftsteller dem Fortschwingen des produzierenden Triebwerkes in seinem Inneren, jenem »motus animi continuus« worin nach Cicero das Wesen der Beredsamkeit besteht, auch nach der Nachmittagsmahlzeit nicht Einhalt zu tun vermocht und den entlastenden Schlummer nicht gefunden, der ihm, bei zunehmender Abnutzbarkeit der Kräfte, einmal untertags so nötig war.38 Der rhythmische Fluss des Satzes scheint das zentrale Bild der fortwährend bewegten Seele sprachlich artikulieren zu wollen. Indem der Schriftsteller Thomas Mann von den Mühen des Schriftstellers Gustav von Aschenbach berichtet, entwirft er gleich zu Beginn eine ironisch gebrochene Produktionsästhetik – unter Verweis auf ein Hauptwerk der Rhetorikgeschichte, Ciceros Polylog De oratore. Thomas Mann hatte dabei einen Brief von Gustave Flaubert an Louise Colet vom 15. Juli 1853 im 37 38

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Sinn. Terence J. Reed verweist darauf, dass Flaubert die Formulierung, die sich so bei Cicero nicht finden lässt,39 nicht als zu imitierendes Ideal des Redners ansieht, sondern, ganz in den Bereich der Literatur gerückt, »zur Bezeichnung höchster literarischer Qualität«.40 Der Bezug zu Ciceros kanonischem Text ist also, wie könnte es anders sein, vielfach vermittelt und überdies zwischen Schreibvorgang und Figurenperspektive ironisch gebrochen. Die zahlreichen rhetorischen Szenen und Konstellationen der Novelle sowie selbstredend die eminente Rhetorizität des Stils lassen jedoch darauf schließen, dass das Thema Rhetorik mehr ist als ein Eingangsakkord; wenn schon, dann ist dieser Akkord thematisch und wird fortwährend variiert. Die Nennung von Ciceros De oratore auf der ersten Seite ist wahrlich keine erzählerische Nebensache. Und damit muss sich der Leser der Frage stellen, ob der Orator, der hier spricht, nur gegen die von diesem selbst entwickelte Sinnrichtung der ›Rede‹ verstanden werden kann – wenn überhaupt. Ferner findet sich bei Cicero (ebenso wie freilich bei Aristoteles) ein Nachdenken über die Nähe von Rhetorik und Dichtung41 sowie, damit zusammenhängend, über ein aus Affekten gespeistes Schreiben.42 Die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Ciceros De oratore und Thomas Manns Der Tod in Venedig ließe sich also noch vertiefen. Thomas Mann balanciert die bei Cicero und Flaubert entliehene Metapher der fortwährend bewegten Seele aus mit einer zweiten Metapher, dem »Fortschwingen des produzierenden Triebwerkes in seinem Innern.«43 Beide Metaphern werden nebeneinandergestellt und als synonym verwendet. Der technische Bereich ironisiert den seelischen und umgekehrt. In der technischen Metapher kommt zudem ein Nicht-verfügen-Können des Subjekts über sich selbst zum Ausdruck. Das Triebwerk läuft gewissermaßen nach technischen Gesetzen ab und entzieht sich

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Allerdings kommt folgende Stelle der Formulierung Thomas Mann schon sehr nahe: »nam et animi atque ingeni celeres quidam motus esse debent, qui et ad excogitandum acuti et ad explicandum ornandumque sint uberes et ad memoriam firmi atque diutirni.« Harald Merklin übersetzt: »Denn es muß eine ganz geschwinde Beweglichkeit des Geistes gegeben sein, um im Ersinnen Scharfsinn, in der Erklärung und Ausschmückung reiche Fülle und im Gedächtnis Festigkeit und Dauer zu beweisen.« Cicero (2019): De oratore. S. 104f. Der Unterschied liegt im semantischen Akzent des Adjektivs. Während Cicero die Beweglichkeit des Geistes als »geschwin[d]« bezeichnet, betont Thomas Mann ein Andauern bzw. nicht zu schnelles Ausschwingen der geistigen Tätigkeit im Zusammenhang mit der Psychologie des Schreibens. Allerdings kommt auch Cicero auf den Aspekt der Dauer zu sprechen (im Memorieren). Mann, Thomas (2 2008b): Der Tod in Venedig. In: Terence J. Reed (Hg.): Frühe Erzählungen 1893-1912. Komment. von Terence J. Reed unter Mitarb. von Malte Herwig. Frankfurt a.M., S. 396 (= Werke, Briefe, Tagebücher. Hg. von Heinrich Detering. Bd. 2.2). Vgl. Cicero (2019): De oratore. S. 81f., 463. Vgl. ebd., S. 329. Mann (2 2008a): Der Tod in Venedig. In: Frühe Erzählungen (1893-1912). S. 501 (= Werke, Briefe, Tagebücher. Bd. 2.1).

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der Steuerung durch das menschliche Bewusstsein. Nicht nur ist hier an eine unkontrollierbare Eigendynamik des psychisch-ästhetischen Prozesses zu denken,44 sondern an eine Gewalt, die eben jenen »entlastenden Schlummer«45 dringend fordert, der seinerseits bereits auf das Motiv des Todes vorausweist. Auf der Ebene sprachlicher Performanz zeigt sich diese Gewalt durch eine ebenso notwendige wie befremdliche Rhetorik, die im Entstehen das Subjekt zugleich gegen und zu sich verschiebt. Das Ich, das sich als anderer entdeckt, ist vor eine Aufgabe des Verstehens gestellt, die paradox ist, da die Selbsterkenntnis nur im Moment des Selbstverlustes möglich scheint. Die Formen der Rhetorik sind folglich stets auf dem Sprung. Ein Beispiel dafür sind Doppelgänger, die den Text in sich selbst spiegeln und so parasitäre Signifikate generieren. Von dem jung erscheinenden Mann, den Aschenbach auf dem Schiff beobachtet, heißt es z.B., »daß der Jüngling falsch war.«46 Eine unmissverständliche Vorausdeutung auf Aschenbachs eigene Verwandlung in einen falschen Jüngling am Ende der Novelle. Ein anderes Beispiel ist die im Tod in Venedig überall gebrauchte Erweiterung und Variation des Ausdrucks innerhalb einer Ausdruckseinheit, die mit den Mitteln der Schulrhetorik nicht leicht zu beschreiben ist, da die semantische Funktion sich nur schwer bestimmen lässt. Wir bewegen uns im Bereich der Gedankenfiguren (figurae sententiae), die nach Lausberg eigentlich zur rhetorischen dispositio gehören, aber von ihm im Rahmen der elocutio behandelt werden, »weil gedankliche Ausarbeitung und sprachlich Formulierung ein jeweils untrennbarer Vorgang sind«, was sich wiederum aus der »Literarisierung der Rhetorik« ergibt.47 Zur ironisch gebrochenen und selbstreflexiv gesteigerten Produktionsästhetik, die am Beispiel des Eingangszitates oben kurz dargestellt wurde, ist es von diesem Befund aus nicht weit. Denn Thomas Mann thematisiert die Kräfte, die seinen Text hervorbringen, indem er diese walten lässt. Eine begrifflich präzise Fassung der springenden Zeichen im Tod in Venedig ist wie gesagt nicht einfach, da ihr semantisches Verhältnis zueinander in sehr feinen Schattierungen beschrieben werden muss. Bei aller Elaboriertheit der rhetorischen Terminologie sind die Kategorien immer noch zu unscharf. Häufig sind Anteile von Periphrase, correctio oder dubitatio enthalten. Stets schwingt die regierende Figur der dissimulatio mit, die Entdeckung und Verdeckung zueinander 44

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In diesem Sinne lässt sich die Metapher durchaus auch verstehen: Das Werk ist ein Apparat, der an den psychischen Apparat denken lässt und der Trieb ist die stärkste Regung des Unbewussten. Ebd. Ebd., S. 519. Aufschlussreich ist die in Form erlebter Rede, also wiederum zwischen Erzähler und Figur angesiedelte, Beschreibung des Sinneseindrucks als »Entstellung der Welt ins Sonderbare« (ebd.). Das Entstellen und Verstellen ist in einem topologischen Sprachmodell stets eine Bezeichnung für das Rhetorische gewesen; vgl. Groddeck, Wolfram (2 2020): Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens [2008]. Frankfurt a.M., S. 8-11. Lausberg (1979): Elemente der literarischen Rhetorik. S. 116.

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in Beziehung setzt. Das Erwachen der »Reiselust« etwa wird als innerer Vorgang wie folgt beschrieben: Eine seltsame Ausweitung seines Innern war ihm ganz überraschend bewußt, eine Art schweifender Unruhe, ein jugendlich durstiges Verlangen in die Ferne, ein Gefühl, so lebhaft, so neu oder doch so längst entwöhnt und verlernt, daß er, die Hände auf dem Rücken und den Blick am Boden, gefesselt stehen blieb, um die Empfindung auf Wesen und Ziel zu prüfen.48 Das Aufsteigen des Satzrhythmus korreliert mit der inneren Erregung, das Abfallen mit dem Versuch der verstandesmäßigen Erfassung. Da Grund und Ziel des sich artikulierenden Wunsches (noch) undeutlich sind, vollzieht sich der Gedanke figurativ, indem er Bilder (schweifende Unruhe, durstiges Verlangen, lebhaftes Gefühl) aneinanderreiht, um mit dem Unbegriffenen sprachlich in Kontakt zu treten. Dabei ist allein die correctio (so neu oder doch so längst entwöhnt), eine rhetorische Gedankenfigur der semantischen Verdeutlichung,49 klar zu bestimmen. Deutlich ist der Funktionswandel des Rhetorischen durch vielfach vermittelte und gebrochene Rezeption in der modernen Literatur. Denn die antike correctio kann definiert werden als »Verwerfung eines (vom Gegner verwendeten) auf die Sache im Sinne der eigenen Partei nicht zutreffenden […] Wortes und dessen Ersatz durch ein im Sinne der eigenen Partei auf die Sache zutreffendes […] Wort.«50 Hier wird aber nicht die Rede des anderen korrigiert, sondern die eigene; so vollzieht sich eine Differenzierung, die die Sache nicht abschließt (klärt), sondern erst recht öffnet in Hinsicht auf ein Schicksal, das die dissimulierende Rede verstellt, indem sie es artikuliert. Die gesamte Passage könnte man auch – die moderne rhetorische Analyse gewichtet und deutet perspektivisch; sie teilt nicht ein – als detaillierende Häufung (evidentia)51 verstehen. Das klassische Verständnis wird dabei fast schon konterkariert, denn die Reihung der Begriffe erzeugt nicht gedankliche Evidenz, sondern affektive Energie. Mit anderen Worten: Die Evidenz entsteht im Material der Sprache und nicht durch die Detaillierung des Gedankens. Blickt man noch einmal im Gesamten auf die Phänomene der figurativen Ausdifferenzierung (correctio, evidentia), die Alterität und Identität verschränken, sowie auf die Spiegel- und Doppelgängermotive von Thomas Manns Novelle, so beschleicht einen das Gefühl, dass in Anbetracht des Rhetorischen der hermeneutische Zirkel zum hermeneutischen Zirkus werden könnte.

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Mann (2 2008a): Der Tod in Venedig. In: Frühe Erzählungen (1893-1912). S. 504 (= Werke, Briefe, Tagebücher. Bd. 2.1). Vgl. Lausberg (1979): Elemente der literarischen Rhetorik. S. 121-124. Ebd., S. 123. Vgl. ebd., S. 117f.

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Im Übergang von der alten Rhetorik zur neuen Ästhetik entsteht eine Kategorie, die für Dichtung und Philosophie zum Orientierungspunkt wird: Form. Thomas Mann hat eine Novelle geschrieben, die das Wechselspiel von Begehren und Verdrängen, von Erfüllung und Aufschub, vom Erblühen und vom Tod der Sprache rhetorisch instrumentiert und dies im Eingang bekennt. Rhetorik als Mittel des individuellen künstlerischen Ausdrucks heißt indes seit der Frühromantik Form. Dieses Wort verwendet auch der Autor, um die Stellung des Rhetorischen zwischen Ordnung und Verfall zu kennzeichnen: Und hat Form nicht zweierlei Gesicht? Ist sie nicht sittlich und unsittlich zugleich, – sittlich als Ergebnis und Ausdruck der Zucht, unsittlich aber und selbst widersittlich, sofern sie von Natur eine moralische Gleichgültigkeit in sich schließt, ja wesentlich bestrebt ist, das Moralische unter ihr stolzes und unumschränktes Szepter zu beugen?52 Das Vertraute ist im Tod in Venedig zutiefst fremd. Das Fremde ist zutiefst vertraut. Da die ersehnte Erfüllung der Liebe neuerlich so aufgeschoben werden muss, dass buchstäblich keine Zeit mehr bleibt – die tropische Stadt vereinigt Anmut und Tod –, bleibt es beim emphatischen Selbstbekenntnis der Liebe. Zu spät. Eine schier unendliche Vergangenheit (des Verdrängens) überfordert die Gegenwart (des Begehrens). Thomas Mann spiegelt diese verhängnisvolle Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart in gegenläufigen Antonomasien: zu Beginn: »der geduldige Künstler […], der Schöpfer […], der Verfasser«;53 zum Ende hin: »der Gequälte«, »der Alternde«, »der Verwirrte«, »der Einsame«.54 Während am Anfang der Geschichte die Leistungen im Vordergrund stehen – freilich nicht erzählt, ohne dass der Atem der Ironie spürbar wäre –, geht es am Ende, ähnlich distanziert, vor allem um das Selbstgefühl der Figur – einerseits das bisher, nicht ohne Selbstqual, Erreichte; andererseits das im jeweiligen Moment Empfundene. Merkwürdig ist dabei die Tendenz zur Destruktion, da die Antonomasien verfremdend und depersonalisierend wirken. Hier ist das Rhetorische nicht Medium der Erkundung der Fremdheit der Figur für sich selbst, sondern radikale Auflösung jeder psychologischen, auf die Innenwelt zielenden Deutung. Wie in einem angehaltenen Film wird Zeit verewigt; die

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Mann (2 2008a): Der Tod in Venedig. In: Frühe Erzählungen (1893-1912). S. 514 (= Werke, Briefe, Tagebücher. Bd. 2.1). Das Wort Form taucht im dritten Kapitel in der ästhetisierenden Beschreibung Tadzios wieder auf. Sein Gesicht ist »bei reinster Vollendung der Form« von »so einmalig persönlichem Reiz, daß der Schauende weder in Natur noch bildender Kunst etwas ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben glaubte.« Ebd., S. 530. Hier verschmelzen Innen und Außen oder mit den Worten der Formreflexion: Sittliches und Unsittliches. Ebd., S. 507f. Ebd., S. 546, 545, 567, 570.

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Form führt alles zusammen. Oder mit anderen Worten: Die Erzählung vergewissert sich ihrer Souveränität – in ihrem Rhythmus.

III. Die Seele schreiben Die dissimulierende Rede, rhythmisch drängend auf ein Ziel, macht zum Rätsel, was sie vorstellt. Der äußere Handlungsort ist zugleich der Name für eine innere symbolische Bewegung von Aktualisierung und Verdrängung. Venedig, die Stadt, zu der man übersetzen muss, ist Entstellung und Präsenz zugleich; absolute Trope, die sich keinem Analogiemodell der Metapher mehr fügt und im Bild ihrer selbst für die Sinne den Sinn gewahrt.55 Der Leser von Thomas Manns Novelle wird womöglich vom Rhythmus der affektgeladenen Kunstsprache mitgerissen; er läuft vom Bild zum Sinn, von der Negation zur Affirmation. Doch er wird gar nicht so sehr in der Figur Aschenbach aufgehen, sich mit ihr identifizieren – dafür sorgen nicht zuletzt die zahlreichen Exkurse und Kommentare –, sondern er wird Teil einer sprachlich vermittelten seelischen Bewegung, die durch ihre rhetorische Energie den Horizont der Figur übersteigt. Man kann den Tod in Venedig miterlebt, durchlitten haben, ohne sich für die Figur, die im Mittelpunkt steht, allzu sehr zu interessieren. Die Reise durch die fremde Seele ist eine durch Geschriebenes. Wenn es um die Erkundung des Fremden geht, ist Schreiben das Mittel der Wahl. Schrift und Schreiben werden von Thomas Mann mehrfach thematisiert. Am Strand ereignet sich Folgendes: Nie hatte er die Lust des Wortes süßer empfunden, nie so gewußt, daß Eros im Worte sei, wie während der gefährlich köstlichen Stunden, in denen er, an seinem rohen Tische unter dem Schattentuch, im Angesicht des Idols und die Musik seiner Stimme im Ohr, nach Tadzios Schönheit seine kleine Abhandlung, – jene anderthalb Seiten erlesener Prosa formte, deren Lauterkeit, Adel und schwingende Gefühlsspannung binnen kurzem die Bewunderung vieler erregen sollte.56

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Es ist die Frühromantik, die mit Begriffen wie Chiffre oder Hieroglyphe jene höchsten Wahrheiten bezeichnet, die man gar nicht eigentlich, sondern nur symbolisch ausdrücken kann; vgl. Klausnitzer, Ralf (2001): »Im Style des echten Dichters ist nichts Schmuck, alles notwendige Hieroglyphe.« Theorie und Praxis metaphorischer Rede in der Frühromantik. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Jg.. 20, S. 40-66. Übertragen auf Thomas Manns Novelle, gelesen mit Interesse an dem Ineinander von Rhetorik, Fremdheit und Begehren, ließe sich sagen, dass gerade das Äußere und Äußerste, der durchgeformte rhetorische Ausdruck, zum Medium des Innersten, nämlich des Verdrängten, Verlorenen, Begehrten, wird. Mann (2 2008a): Der Tod in Venedig. In: Frühe Erzählungen (1893-1912). S. 556 (= Werke, Briefe, Tagebücher. Bd. 2.1).

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Diese kurze Passage stellt eines der interessantesten Rätsel der gesamten Novelle dar. Dem Höhepunkt entgegenlaufend und gleichwohl eingefügt wie eine Lichtung in den wild wuchernden Garten der rhetorischen Lüste wird von einer äußersten Leistung der Sublimierung erzählt; die Attribute Lauterkeit, Adel und auch schwingende Gefühlsspannnung negieren die Lüsternheit des älteren Philosophielehrers in der Phaidros-Episode. Interessanterweise handelt es sich um Prosa, nicht um eine ästhetische Betrachtung theoretischer Art.57 Die Formulierung vom produzierenden Triebwerk – aufreibend, erregend, ermüdend –, zu Beginn als Bild des Schreibprozesses gegeben, weicht einer nahezu metaphysischen Heiterkeit, der es gelingt, aus dem Begehren reine Form zu machen.58 Allerdings eignet der Szene etwas sehr Merkwürdiges. Nicht nur, dass der Gehalt des Geschriebenen abstrakt bzw. ganz hinter den romantisch-ästhetischen Charakterisierungen (Lauterkeit, Adel, schwingende Gefühlsspannung) verborgen bleibt, das Ganze wirkt wie ein Traumbild – eineinhalb Seiten des Himmels –, das zur Rezeption – von der Bewunderung vieler ist die Rede – in einem nicht plausiblen Verhältnis steht. Muss das Ideale unausgesprochen bleiben, weil es nur so dem Fluss der rhythmisch-pulsierenden Rhetorik entzogen werden kann? Sehen wir, weit entfernt, wie eine kleine, offene, blaue Stelle im Gewitterhimmel das Idealbild der lauteren Sprache? Der Moment ist ganz herausgehoben aus dem Tun und Erleben der Figur. Einmal fließt keine schwarze Tinte, kein Aschenbach, sondern klare, helle, die sich mit dem Medium vereint. Die Anstrengung ist die äußerste; der Moment kostbar und einmalig. Ganz undenkbar, dass die Vision zum Fundament eines neuen Lebens werden könnte. Zu spät! Möglich auch, dass hier nur das Unmögliche zum Ausdruck kommt; dies würde das Schweigen erklären. Der hermeneutische Zirkel orientiert sich als epistemologische Figur an der Vermittlung von Gesagtem und Gemeintem, mithin: Signifikant und Signifikat. Der Teil weist Gesagtes und Gemeintes auf und wird im Ganzen wieder zum Gesagten, das mit dem (insgesamt) Gemeinten vermittelt werden muss. Diese Ver-

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Der biographische Hinweis auf Thomas Manns Text Auseinandersetzung mit Wagner, geschrieben auf dem Briefpapier des Hotels Des Bains, hilft hier kaum weiter; er kann in dem hier gegebenen Zusammenhang nur als äußerliches Motiv angesehen werden; vgl. ders. (2 2008b): Der Tod in Venedig. In: Frühe Erzählungen 1893-1912 [Kommentar], S. 440 (= Werke, Briefe, Tagebücher. Hg. von Heinrich Detering. Bd. 2.2). Die Stelle korrespondiert ferner mit der Charakterisierung Aschenbachs durch Dritte zu Beginn des zweiten Kapitels: »›Sehen Sie, Aschenbach hat von jeher nur so gelebt‹ – und der Sprecher schloß die Finger seiner Linken fest zur Faust – ; ›niemals so‹ – und er ließ die geöffnete Hand bequem von der Lehne des Sessels hängen.« Mann (2 2008a): Der Tod in Venedig. In: Frühe Erzählungen (1893-1912). S. 509; Herv. i.O. (= Werke, Briefe, Tagebücher. Bd. 2.1). Es liegt nicht fern, die Stelle metonymisch, als Verweis auf die Motive und Umstände des Schreibens, zu lesen. Möglich ist aber auch eine metaphorische Lektüre (geöffnete Hand und Faust als Bilder für unterschiedliche Existenzformen).

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mittlung fällt im Falle der Schreibepisode, die ganz heraussticht, schwer. Das Imaginäre lässt sich zu seiner Gegenwelt kaum in ein hermeneutisches Verhältnis setzen; es ist nicht Teil eines Ganzen. Doch dieses Ganze ist selbst nichts anderes als die dissimulierende Rede, welche die für jede Hermeneutik grundlegende Unterscheidung zwischen partiellem Äußeren und ganzheitlichem Inneren permanent irritiert, weil das Äußere das Innere ist.59 Die dissimulierende Rede kann stets nur als solche verstanden werden.60 Mit anderen Worten: »Ein Text lebt nur, wenn er weiterlebt und er lebt nur dann weiter, wenn er zugleich übersetzbar und unübersetzbar ist; ist er vollständig übersetzbar, verschwindet er als Sprachkörper.«61

Quellenverzeichnis Anz, Thomas (Hg.) (3 2013): Handbuch Literaturwissenschaft. 3 Bde. Stuttgart. Aristoteles (1994): Poetik. Übers. und hg. von Manfred Fuhrman. Stuttgart. – (2019): Rhetorik. Übers. und hg. von Gernot Krapinger. Stuttgart. Barthes, Roland (1988): Die alte Rhetorik. In: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a.M., S. 15-101. Baum, Michael (2010): Literarisches Verstehen und Nichtverstehen. Kulturtheorie und Literaturunterricht. In: Volker Frederking, Axel Krommer, Christel Meier (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Band 2. Baltmannsweiler, S. 100123. –; Breite, Emmanuel (2021): Jenseits der Interpretation. Ideologie und Rhetorik in Hans Christian Andersens Kunstmärchen Des Kaisers neue Kleider. In: ide.

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Der Widerspruch zwischen der Vermittlungsleistung des Hermeneutischen und der Autonomie poetischer Rede kennzeichnet, zumindest implizit, Gadamers Denken der Interpretation; vgl. Gadamer, Hans-Georg (1984): Text und Interpretation. In: Philippe Forget (Hg.): Text und Interpretation. München, S. 24-55. Verstehen als Vermittlung: »Die Aufgabe der Interpretation stellt sich immer dann, wenn der Sinngehalt des Fixierten strittig ist und es gilt, das richtige Verständnis der ›Kunde‹ zu gewinnen. ›Kunde‹ aber ist nicht, was der Sprechende bzw. der Schreibende ursprünglich gesagt hat, sondern was er hat sagen wollen, wenn ich sein ursprünglicher Gesprächspartner gewesen wäre.« Ebd., S. 39 Literarisches Verstehen: »Wenn es sonst den Charakter der Rede ausmacht, daß der Zuhörende gleichsam durch sie hindurchhört und ganz auf das gerichtet ist, was ihm die Rede mitteilt, kommt hier die Sprache selber in eigentümlicher Weise in Erscheinung.« Ebd., S. 47. Im ersten Falle ist der Signifikant transparent, im zweiten Fall opak. Es geht also um mehr als um den funktionalen Zusammenhang der Rede, der durch Interpretation zu erschließen ist. Zum Orator als Sender einer funktional aufgebauten Botschaft, die in einem Kommunikationszusammenhang zu verstehen ist, vgl. Knape, Joachim (2000): Was ist Rhetorik? Stuttgart. Jacques Derrida (1989): Gestade. Wien, S. 149f.

Michael Baum: Die tropische Stadt

Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule, Jg. 45, H. 1, S. 77-86. Cicero, Marcus Tullius (2019) : De oratore. Über den Redner. Lateinisch/Deutsch. Übers. und hg. von Harald Merklin. Stuttgart. Culler, Jonathan (4 2011): Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Stuttgart. Derrida, Jacques (1989): Gestade. Wien. Gadamer, Hans-Georg: Text und Interpretation (1984). In: Philippe Forget (Hg.): Text und Interpretation. München, S. 24-55. – (1993): Hören – Sehen – Lesen. In: Ders.: Ästhetik und Poetik I. Tübingen, S. 271278. – (6 1990): Wahrheit und Methode. 1. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960]. Tübingen (= Gesammelte Werke. Bd. 1: Hermeneutik). – (2 1993): Rhetorik und Hermeneutik. In: Ders.: Wahrheit und Methode. 2. Ergänzungen. Register. Tübingen, S. 276-291 (= Gesammelte Werke. Bd. 2: Hermeneutik). Groddeck, Wolfram (2 2020): Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens [2008]. Frankfurt a.M. Klausnitzer, Ralf (2001): »Im Style des echten Dichters ist nichts Schmuck, alles notwendige Hieroglyphe.« Theorie und Praxis metaphorischer Rede in der Frühromantik. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Jg. 20, S. 40-66. Knape, Joachim (2000): Was ist Rhetorik? Stuttgart. Lausberg, Heinrich (1979): Elemente der literarischen Rhetorik. München. Lösener, Hans (1999): Der Rhythmus in der Rede. Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus. Tübingen. – (2006): Zwischen Wort und Wort. Interpretation und Textanalyse. München. Mann, Thomas (2 2008a): Der Tod in Venedig [1912]. In: Terence J. Reed (Hg.): Frühe Erzählungen 1893-1912. Textkr. durchges. von Terence J. Reed unter Mitarb. von Malte Herwig. Frankfurt a.M., S. 501-592 (= Werke, Briefe, Tagebücher. Hg. von Heinrich Detering. Bd. 2.1). 2 – ( 2008b): Der Tod in Venedig. In: Terence J. Reed (Hg.): Frühe Erzählungen 1893-1912. Komment. von Terence J. Reed unter Mitarb. von Malte Herwig. Frankfurt a.M., S. 360-506 (= Werke, Briefe, Tagebücher. Hg. von Heinrich Detering. Bd. 2.2). Mitterer, Nicola (2016): Das Fremde in der Literatur. Zur Grundlegung einer responsiven Literaturdidaktik. Bielefeld. Schäfer-Willenborg, Markus (1995): Form und Rhetorik. In: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hg.): Literaturwissenschaft. Unter Mitw. von Susanne Landeck. München, S. 217-248. Schleiermacher, Friedrich (4 1977): Hermeneutik und Kritik. Hg. und eingel. von Manfred Frank. Frankfurt a.M.

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Bedingungen des Verstehens

Schopenhauer, Arthur (3 1972): Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2. Wiesbaden (= Sämtliche Werke. Hg. von Arthur Hübscher. Bd. 3). Waldenfels, Bernhard (2006): Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M.

Vom Nichtverstehen zum Verstehen? Eine exemplarische Untersuchung des Kurzprosatextes Der Schauspieler von Thomas Bernhard in Hinblick auf das Potential von Irritationsmomenten als Auslöser ästhetischer Erfahrung(en) Verena Ronge Abstract In dem Aufsatz geht es um den Begriff der ästhetischen Erfahrung und die damit verbundene Möglichkeit, diese Leseerfahrung im schulischen Kontext zu initiieren. Ästhetische Erfahrung wird dabei definiert als eine vertiefte Reflexion über einen Text, die sowohl emotionale als auch kognitive Anteile enthält. Ausgelöst werden kann diese Reflexion auf Textseite durch einen Gegenstand, der die ›normale‹ Wahrnehmung irritiert und damit einen Raum eröffnet, in dem eine zweckfreie, zeitungebunden und lebensweltlich bedeutsame Wahrnehmung des Textes möglich wird. Auf Rezipient*innenseite setzt dies die Bereitschaft voraus, sich auf den Text einzulassen und den sich eröffnenden Spielraum als solchen wahrzunehmen. Der Aufsatz zeigt allerdings anhand empirischer Daten, dass sich dies – vor allem im schulischen Kontext – als äußerst voraussetzungsvoll erweist.

I.

Einleitung. Von der Irritation zur ästhetischen Erfahrung – ein Definitionsversuch

Nichtverstehen und Verstehen – diese beiden Begriffe stehen im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen: Handelt es sich um unvereinbare Gegensätze, die eindeutig ge- und bewertet werden? Oder sollte dem Nichtverstehen, das vor allem im schulischen Kontext als wenig produktiv angesehen wird, nicht vielmehr eine größere Aufmerksamkeit geschenkt werden? Denn: Gerade dem Nichtverstehen wohnt ein großes Potential inne, das beim Umgang mit komplexen literarischen Texten äußerst fruchtbar sein kann – die Irritation.1 1

Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um eine auf die Fragestellung der Tagung, in deren Rahmen der Vortrag gehalten wurde, zugeschnittene Zusammenstellung der im Band:

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Bedingungen des Verstehens

Im Folgenden wird es nun zunächst darum gehen, den Begriff der Irritation zu schärfen, um sich daran anschließend der ästhetischen Erfahrung (sowie der beteiligten Teilaspekte des ästhetischen Erlebens und Wahrnehmens) inklusive deren Voraussetzungen und Bedingungen sowohl auf Text- als auch auf Rezipient*innenseite zuzuwenden. Dabei wird auf Rezipient*innenseite vor allem die Bereitschaft zum spielerischen Ausprobieren möglicher Bedeutungsangebote betont, während es auf Textseite die Mehrdeutigkeit eines Textes ist, die den Wechsel in einen ästhetischen Lesemodus begünstigen kann. Diese Mehrdeutigkeit wird im Anschluss durch eine textnahe, möglichst subjektiv-assoziative Analyse des Kurzprosatextes Der Schauspieler von Thomas Bernhard aufgezeigt, die im Anschluss eine theoretisch-kognitive Rahmung erfährt. Durch den dazu eingeführten Begriff des Rahmens wird es möglich, die verschiedenen Lesarten des Textes sichtbar zu machen. Den letzten Teil des Aufsatzes bildet die durchgeführte empirische Studie, auf deren Grundlage drei verschiedene Leser*innentypen und deren Besonderheiten im Umgang mit dem Text (inklusive der daraus resultierenden Schwierigkeiten) generiert werden. Doch zunächst zum Begriff der Irritation. Irritation wird definiert als ein Moment, der den automatisierten Leseprozess unterbricht und die Leser*innen für ästhetische Erfahrungen am und mit dem Text öffnet. Die Relevanz eines derartigen rezeptionsunterbrechenden Moments hat bereits Abraham herausgestellt, für den »[d]ie Fähigkeit und Bereitschaft, sich irritieren zu lassen, […] geradezu ein[en] Gradmesser ästhetischer Erfahrungen im Literaturunterricht«2 darstellt. Die ir-

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Nickel-Bacon, Irmgard (Hg.) (2018): Ästhetische Erfahrung mit Literatur. Textseitige Potenziale, rezeptionsseitige Prozesse, didaktische Schlussfolgerungen. München, erschienenen Aufsätze: Ronge, Verena; Kloppert, Katrin (2018): Vielschichtigkeit und Perspektivität oder: Der Text als Spiel. In: ebd, S. 49-70.Kloppert, Katrin; Ronge, Verena (2018): Versuch einer Typologie der Rezeption von Vielschichtigkeit. In: ebd., S. 133-159.Ronge, Verena; Nickel-Bacon, Irmgard (2018): Spurensuche. Rezeptionsseitige Prozesse ästhetischer Erfahrung. In: ebd., S. 101-111. Dabei wurden vor allem die Begriffe der Irritation und der ästhetischen Erfahrung weiter geschärft, um der im Rahmen der Tagung relevanten Fragestellung nach dem Verstehen bzw. Nichtverstehen von Texten nachzugehen. Abraham, Ulf (2000): Das a/Andere W/wahrnehmen. Über den Beitrag von Literaturgebrauch und literarischem Lernen zur ästhetischen Bildung (nicht nur) im Deutschunterricht. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Jg. 47, H. 1, S. 17. Siehe dazu auch: Baum, Michael (2 2013): Literarisches Verstehen und Nichtverstehen. Kulturunterricht und Literaturunterricht. In: Volker Frederking, Hans-Werner Huneke, Axel Krommer u.a. (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Literatur- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler, S. 102-125. Brandstätter, Ursula (2013): Ästhetische Erfahrung. In: Kulturelle Bildung Online. URL: https://www.kubi-online.de/artikel/aesthetische-erfahrung [Stand: 01.01.2022]. Freudenberg, Ricarda (2014): »Arme, arme Schlange!« Ein Aufruf zur Ausbildung von Irritationsbereitschaft. In: kjl&m, Jg. 66, H. 1, S. 60-68. Lessing-Sattari, Marie; Wieser, Dorothee (2016): Von der Schwierigkeit, sich irritieren zu lassen. Eine literaturdidaktische Herausforderung. In: Literatur im Unterricht, Jg. 17, H. 2, S. 127-142. Olsen, Ralph (2016): Lust, Niemandes Schlaf

Verena Ronge: Vom Nichtverstehen zum Verstehen?

ritierende Wirkung, auf die Abraham verweist, beschreiben auch Lessing-Sattari und Wieser, wenn sie feststellen, dass eine ästhetische Erfahrung vor allem dann möglich ist, wenn etwas Irritierendes, Andersartiges, Fremdes in die Wahrnehmungssituation eintritt3 und eine Einsicht fordert, die durch »vielfältige Formen des Erkundens und Probierens, des Suchens und Deutens erst abgerungen werden [muss]«.4 Diese Auslegung der Irritation als Auslöser ästhetischer Erfahrung(en) erweist sich als anschlussfähig an die aus der Kunst stammende Charakterisierung ästhetischer Erfahrung als Differenzerfahrung, die unter anderem Wolfgang Welsch und Rüdiger Bubner betonen, wenn sie von »Blitz, Störung, Sprengung, Fremdheit«5 oder »Umkehr eingeschliffener Welterfahrung«6 sprechen, um die irritierende Wirkung zu beschreiben: »Eine wesentliche Funktion von Kunst besteht […] darin, traditionelle Wahrnehmungs- und Denkweisen aufzubrechen. Das Gewohnte wird in Frage gestellt, das Vertraute wird fremd gemacht, Irritationen sollen zu einer Umstrukturierung der Wahrnehmung und des Denkens führen.«7 In diesem Zusammenhang kann zudem festgehalten werden, dass es neben der Irritation unzählige weitere mögliche Gefühlsreaktionen auf ästhetisch gestaltete Texte gibt. Daher soll an dieser Stelle der Begriff der Irritation neben anderen Emotionen bis hin zu Vergnügen oder Freude unter den Oberbegriff der emotionalen Affizierung gefasst werden, die sowohl negative als auch positive Affekte einschließt. Beide Formen der Affizierung (positive wie negative) können für Prozesse ästhetischer Erfahrung in der Interaktion eines Lesers bzw. einer Leserin mit einem Text sowohl produktiv als auch kontraproduktiv wirksam werden. Eine positive Affizierung (Vergnügen, Freude etc.) kann kontraproduktiv wirken, wenn ein Text so glatt und ›vollkommen‹ erscheint, dass er im Zweifelsfall zur Aufrechterhaltung dieses Eindrucks geglättet und alle Textmerkmale überse-

3 4

5 6 7

zu sein … Anmerkungen zur Problematik der Textauswahl im inklusiven Literaturunterricht. In: Daniela Frickel, Andre Kagelmann (Hg.): Der inklusive Blick. Die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma. Frankfurt a.M., S. 76ff. Lessing-Sattari; Wieser (2016): Von der Schwierigkeit, sich irritieren zu lassen. In: Literatur im Unterricht. S. 130. Duncker, Ludwig (1999): Begriff und Struktur ästhetischer Erfahrung. Zum Verständnis unterschiedlicher Formen ästhetischer Praxis. In: Norbert Neuß (Hg.): Ästhetik der Kinder. Interdisziplinäre Beiträge zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Frankfurt a.M., S. 10. Welsch, Wolfgang (1996): Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart, S. 39. Bubner, Rüdiger (1989). Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a.M, S. 118. Brandstätter (2013): Ästhetische Erfahrung.

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hen werden, die diesem Eindruck entgegenstehen könnten.8 Produktiv dagegen kann sie werden, wenn die Freude über einen gelungenen Text neugierig auf Details macht und durch genauere Textwahrnehmung oder die Frage nach reflektierender Begründung zur ästhetischen Erfahrung erweitert wird. Auf der anderen Seite kann eine negative Affizierung (Desinteresse, Ablehnung etc.) kontraproduktiv sein, wenn Leser*innen den Lesevorgang abbrechen. Dies geschieht z.B., wenn die negativen Aspekte eine bestimmte Schwelle überschreiten, die von Leser*in zu Leser*in unterschiedlich ist, da sie mit leserseitigen Verstehenskompetenzen, ästhetischen Vorerfahrungen und Erwartungen an den Text zusammenhängen. Sie ist dagegen produktiv, wenn z.B. die durch das Verhalten einer Figur ausgelöste Wut oder Unverständnis beim Lesen dazu führen, dass dieses Gefühl gerade dazu motiviert, den Verlauf der Erzählung weiter zu verfolgen.9 Aus vermittlungsbezogener Perspektive wird das Auslösen ästhetischer Reflexionsprozesse damit zu einer schwierigen Gratwanderung zwischen einem Zuviel an (positiver) und einem Zuwenig an (negativer) Affizierung: Wenn der Text keine Widerhaken bietet, die zur Auseinandersetzung einladen, bleibt das ästhetische Potential unerkannt, wenn er ein Zuviel an Verhakung bietet, kommt es zu Frustration, häufig zum Abbruch. Wenn die Irritation nun produktiv wirkt, kann es zu einer ästhetischen Erfahrung mit und am Text kommen.10 8

9

10

Vgl. Winkler, Iris (2007): Welches Wissen fördert das Verstehen literarischer Texte? Zur Frage der Modellierung literarischen Wissens für den Deutschunterricht. In: Didaktik Deutsch, Jg. 12, H. 22, S. 84. Mit der Betonung der produktiven Aspekte positiver Affizierung soll der mit der Orientierung ästhetischer Erfahrung an einem Differenz- bzw. Irritationsmoment verbundenen Gefahr entgegengewirkt werden, solche ästhetischen Erfahrungen auszublenden, bei denen es gerade nicht die Differenz, sondern vielmehr die Bestätigung (und damit gerade die Nichtirritation) gewohnter Seh-/Hör-/Lesegewohnheiten ist, die ästhetisches Vergnügen bereitet. Seel spricht in diesem Fall von einer »Ästhetik der Korrespondenz«, Seel, Martin (1996): Ethisch-ästhetische Studien. Frankfurt a.M., S. 130f. Siehe dazu auch: Brune, Carlo (2020): Literarästhetische Literalität. Literaturvermittlung im Spannungsfeld von Kompetenzorientierung und Bildungsideal. Bielefeld, S. 116: »Die Gefahr, dass solche Prozesse erst gar nicht in Gang gesetzt werden, kommt aus verschiedenen Richtungen. Zum einen daher, dass für die Rezipient_innen keine ausreichenden Kontexte erschließbar sind, die eine umfassende Suche nach potentiellen Bedeutungen ermöglichen. Zwei weitere Gefahren haben ihren Grund in emotional-affektiven Vorgängen, die immer auch auf kognitive Prozesse einwirken: Eine liegt darin begründet, dass Irritationen im Verstehensprozess durch eindeutige, andere mögliche Kontextualisierungen ausblendende Bestimmungen der Signifikanten kompensiert werden, um so zu einem (vermeintlich) befriedigenden und geschlossenen Gesamtverständnis zu gelangen, das zudem projektiv überformt sein kann. Eine zweite, ggf. auch hiermit einhergehende, Gefahr ist die, all das, was nicht in bisherige Verstehensentwürfe passt, als bloßen Unsinn zu verwerfen, mit dem man sich nicht näher befassen muss. In beiden Fällen ist das Ziel der Abbau von Ambiguitäten und Irritationen, weshalb sich kein ästhetisches Verstehen einstellt.«

Verena Ronge: Vom Nichtverstehen zum Verstehen?

Ästhetische Erfahrung wird dabei zunächst als komplexe Interaktion zwischen Text und Leser*in gekennzeichnet, die sowohl rationale Komponenten enthält, aber ebenso emotionale Anteile, die als notwendige Voraussetzung definiert werden, um einen Text ästhetisch erfahrbar zu machen. Der Begriff der ästhetischen Erfahrung grenzt sich von einem kognitionswissenschaftlich fundierten Kompetenzbegriff im Sinne der PISA-Studien ab, indem er ihn zum einen durch die von Hurrelmann formulierte motivationale, emotionale und kommunikative Dimension ergänzt11 und zum anderen verdeutlicht, dass literarische Texte besondere Rezeptionsanforderungen an die Leser*innen stellen. Der Begriff der ästhetischen Erfahrung, wie er hier verwendet wird, betont somit sowohl das Spiel von Emotion und Kognition als auch die lebensweltliche Bedeutsamkeit, die mit ästhetischer Erfahrung verbunden sein (kann) und auf die auch Gadamer verweist. Ästhetische Erfahrungen sind also »nicht ausschließlich phänomenale Episoden oder nur kognitive Akte, sondern Erfahrungen mit lebensweltlicher Bedeutsamkeit, mit Gadamer solche, ›die man »macht« […] im Gegensatz zu den Erfahrungen, die sich unserer Erwartung einordnen und sie bestätigen‹.«12 Doch zunächst sollen das Zusammenspiel zwischen Emotion und Kognition und die daran beteiligten Teilaspekte verdeutlicht werden – das ästhetische Erleben und die ästhetische Wahrnehmung: Grundlegend wichtig ist das ästhetische Erleben, das auf der emotional-affektiven Seite angesiedelt ist. Es meint die Fähigkeit, Vorstellungen zu literarischen Texten zu bilden, die den Ausgangspunkt für weitere rationale Beobachtungsprozesse darstellen können. Es geht darum, sich im Text zu verfangen, sich von dem Text affizieren zu lassen – sei es durch Gefallen oder auch durch Irritation, was meist unreflektiert erfolgt und flüchtig ist. Damit weist der hier zugrunde gelegte Begriff des ästhetischen Erlebens Parallelen zu dem von Deines, Liptow und Seel geschilderten Phänomen der phänomenologischen Erfahrung auf. Als phänomenologische Erfahrung fassen sie »einfach Episoden phänomenalen Bewusstseins,

11

12

Vgl. Hurrelmann, Bettina (2002): Leseleistung – Lesekompetenz. Folgerungen aus PISA, mit einem Plädoyer für ein didaktisches Konzept des Lesens als kulturelle Praxis. In: Praxis Deutsch, Jg. 30, H. 176, S. 13f. Ruf, Benedikt (2014): Wissen als Voraussetzung ästhetischer Erfahrung? Eine Skizze anhand von Beispielen aus der Kunst. In: Oliver Jahraus, Eckart Liebau, Ernst Pöppel, Ernst Wagner (Hg.): Gestalten und Erkennen. Ästhetische Bildung und Kompetenz. Münster, S. 109f. Siehe dazu auch: Deines, Stefan; Liptow, Jasper; Seel, Martin (2013): Kunst und Erfahrung. Eine theoretische Landkarte. In: Dies. (Hg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse. Berlin, S. 8: »Erfahrung mündet hier nicht allein in den Erwerb von Wissen, sie ist nicht nur ein kognitiver Akt. Ein solcher Akt kann lediglich ein Bestandteil der existenziellen Erfahrung sein, denn eine existentielle Erfahrung machen wir nur dann, wenn ihr Prozess für uns eine bestimmte lebensweltliche Bedeutsamkeit gewinnt. Durch sie verändern sich die Relevanzen des Denkens und Handelns.«

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wie sie paradigmatisch in der sinnlichen Wahrnehmung vorkommen«.13 In diesem Sinne wäre auch schon »das Erlebnis […] beim Sehen einer roten Farbfläche« eine Erfahrung.14 Da Deines, Liptow und Seel selber darauf hinweisen, dass »für einen derartigen Fall« Begriffe wie »›Erlebnis‹ oder ›Empfindung‹ […] angemessener« klingen, wird hier der Begriff des Erlebens gewählt.15 Diese Betonung der sinnlichen Wahrnehmung lässt sich auch auf die Literaturdidaktik und die literaturästhetische Erfahrung mit Texten übertragen. So betont Kaspar H. Spinner vor allem die Relevanz der imaginativen Vergegenwärtigung beim Lesen. Er geht davon aus, dass die im Text angelegt Bildlichkeit imaginative Prozesse in Gang setzt: Die imaginative Vergegenwärtigung […] ist ein grundlegender Aspekt (literar)ästhetischer Erfahrung. […] Das [die Entwicklung lebendiger Vorstellungen beim Lesen; d. Verf.] soll […] nicht ein beliebiges Fantasieren sein, sondern ein »Entfalten« (Köppert 1997) dessen, was im Text angelegt ist, und einem vertieften Verständnis dienen. Solche Vorstellungen können sich auf die Schilderung von Landschaften und Räumen, auf einzelne Gegenstände, auf Figuren, auf Geräusche […] beziehen.16 Ein weiterer Teilaspekt ästhetischer Erfahrung ist die ästhetische Wahrnehmung. Gemeint ist damit die kognitive Fähigkeit, bestimmte ästhetische Eigenschaften von Texten, wie deren sprachliche oder narrative Gestaltung, gezielt zu beobachten und zu reflektieren. Dieser Teilaspekt der ästhetischen Erfahrung knüpft an Jerrold Levinson an, der von ästhetischer Aufmerksamkeit spricht: »Mit ästhetischer Aufmerksamkeit ist eine Aufmerksamkeit gemeint, die auf die Beschaffenheit bzw. die wahrnehmbaren Formen und Eigenschaften eines Gegenstandes gerichtet ist«.17 Diese Aufmerksamkeit sorgt für eine ästhetische Wahrnehmung eines Gegenstandes, die wiederum eine lustvolle, affektive oder evaluative Reaktion hervorruft und als ästhetische Erfahrung bezeichnet wird.18 Die durch die Aufmerksamkeit ausgelöste evaluative Reaktion entspricht dabei dem im Kontext des Aufsatzes verwendeten Begriff der ästhetischen Wahrnehmung. Denn die Gestaltung eines Textes kann 13 14 15 16

17 18

Ebd., S. 5. Ebd. Ebd. Spinner, Kaspar H. (2006): Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch, Jg. 33, H. 200, S. 6. Siehe dazu auch: Ders. (Hg.) (1995): Imaginative und emotionale Lernprozesse im Deutschunterricht. Frankfurt a.M. Fauser, Peter; Madelung, Eva (Hg.) (1996): Vorstellungen bilden: Beiträge zum imaginativen Lernen. Seelze. Köppert, Christine (1997): Entfalten und Entdecken. Zur Verbindung von Imagination und Explikation im Literaturunterricht. München. Levinson, Jerrold (2013): Unterwegs zu einer nichtminimalistischen Konzeption ästhetischer Erfahrung. In: Deines; Liptow; Seel: Kunst und Erfahrung, S. 55. Vgl. ebd., S. 56.

Verena Ronge: Vom Nichtverstehen zum Verstehen?

vor allem dann bewusst wahrgenommen und bewertet werden, wenn kognitiv verfügbares Wissen über eben diese Möglichkeiten der Textgestaltung vorhanden ist. Auch an anderer Stelle betont Levinson die Relevanz der kognitiven Verarbeitung, wenn er feststellt: »Zur ästhetischen Wahrnehmung wird die ästhetische Aufmerksamkeit dann, wenn sie kognitiv und körperlich verarbeitet wird.«19 Hier ist es das Konzept des Rahmens, das im weiteren Verlauf des Aufsatzes erläutert wird und die rationale Seite der Textbetrachtung verdeutlichen soll. Um eine ästhetische Erfahrung mit und an Texten zu machen, ist es nun allerdings wichtig, beide Teilaspekte zu integrieren und ästhetische Erfahrung damit als ein komplexes Wechsel- bzw. Zusammenspiel von subjektivem Erleben und textbezogenem Wahrnehmen zu modellieren. Dabei erscheint die ästhetische Erfahrung zum einen als unendlicher Deutungsprozess, das heißt, dass die Verstehensversuche unabgeschlossen, brüchig, lückenhaft bleiben. Zum anderen sind ästhetische Erfahrungen als ein prozesshaftes Kontinuum zu verstehen, da nicht jede Leserin bzw. jeder Leser zur ästhetischen Erfahrung vordringt. Einige Leser*innen verbleiben im rein subjektiven ästhetischen Erleben, ohne Bezug auf die Textmerkmale zu nehmen, während anderen zwar die ästhetische Wahrnehmung dieser Merkmale gelingt, sie aber ohne subjektive Verankerung im Text lediglich zu einer blutleeren Analyse gelangen. Nachdem der Begriff der ästhetischen Erfahrung, der den Überlegungen zugrunde liegt, verdeutlich worden ist, stellt sich nun die Frage, ob bzw. welche Voraussetzungen und Bedingungen auf Text- und Rezipient*innenseite existieren. So ist auf Rezipient*innenseite vor allem die Bereitschaft zum spielerischen Ausprobieren möglicher Bedeutungsangebote im Sinne eines postmodernen Spielbegriffs relevant. Im Gegensatz zum Denken in festen Oppositionen widersetzt sich dieser Spielbegriff einer Festschreibung auf starre Konzepte wie beispielsweise Sinn, indem er die Existenz eines Zentrums – und damit im übertragenen Sinn die Existenz einer abschließenden, festen, unveränderbaren Bedeutung eines Textes – in Frage stellt.20 Dabei müssen die Leser*innen bei der Rezeption literarischer Texte

19

20

Reuss, Sarah (2020): Das Lesen als Handlung. Eine Ästhetik. Bielefeld, S. 134, FN 28 (Reuss bezieht sich hier in eigenen Worten auf Jerrold Levinson). An dieser Stelle sei angemerkt, dass das kognitive Wissen keine Voraussetzung für ästhetische Erfahrung ist. Im Gegenteil: Kognitives Wissen kann die ästhetische Erfahrung verhindern, wenn professionelles Wissen dazu führt, dass eine ästhetische Einstellung dem Gegenstand gegenüber gar nicht erst eingenommen wird. Ruf macht diesen Effekt an einem Beispiel deutlich: »So kann mein Wissen um die Sonatensatzform zu einer so sehr auf das Erkennen von Formteilen gelenkten Aufmerksamkeit führen, dass deren Wiedererkennen für mich zum Selbstzweck wird.« Ruf (2014): Wissen als Voraussetzung ästhetischer Erfahrung? In: Gestalten und Erkennen. S. 112. Siehe dazu Derrida, Jaques (1976): Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften von Menschen. In: Ders. (Hg.): Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M, S. 422. Plaice, Renate (2010): Spielformen der Literatur. Der modere und der postmoderne

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besondere Fähigkeiten oder – wie Spinner es formuliert – literarische Kompetenzen mitbringen, sie müssen sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen. Denn: »Zum Spiel gehört ein gewisses Maß an Offenheit. Es gibt kein Spiel, dessen Ausgang gewiß ist. […] Das Spielerische eines bestimmten Spiels besteht gerade darin, daß es jedesmal anders verläuft.«21 Ästhetische Erfahrungen sind aber nicht nur an die Einstellungen und Fähigkeiten22 des Rezipienten oder der Rezipientin gebunden, sondern auch an die Eigenschaften des literarischen Textes. So können Texte auf sprachlich-formaler, semantischer und pragmatischer Ebene mehrdeutig sein – sei es durch eine prägnante Bildlichkeit, atmosphärisch aufgeladenen Räume, widersprüchliche Figuren etc. Daraus entsteht eine Mehrdeutigkeit, welche sich in unterschiedlichen Lesarten im Sinne von Bedeutungen, die »sich deutlich voneinander abgrenzen lassen«,23 äußert. Denn Vielschichtigkeit meint, dass Literatur einen Überschuss an Bedeutung produziert, der unterschiedliche Lesarten evoziert, die gleichzeitig und gleichwertig konkretisiert werden können. Mit dieser Vielschichtigkeit geht das bereits beschriebene Irritationspotential einher, das den normalen Rezeptionsprozess unterbricht und zu Reflexion anregt, da den Leser*innen verschiedene Lesarten eröffnet werden, zu denen sie sich positionieren müssen. Im besten Fall finden die Leser*innen Vergnügen an diesem Ausloten von Möglichkeiten. Um den Begriff der Vielschichtigkeit zu konkretisieren und zu überlegen, ob bzw. in welchem Ausmaß ein Text das Potential hat, ästhetische Erfahrungen zu initiieren, steht im Folgenden der Kurzprosatext Der Schauspieler des österreichischen Autors Thomas Bernhard im Fokus:

21 22

23

Begriff des Spiels in den Werken von Thomas Bernhard, Heiner Müller und Botho Strauß. Würzburg, S. 47ff., 363. Frey, Jost (1990): Der unendliche Text. Frankfurt a.M., S. 281. Mit Fähigkeiten und Fertigkeiten sind hier alle Prozesse »zum Erwerb von Einstellungen, Fähigkeiten, Kenntnissen und Fertigkeiten […] [gemeint; d. Verf.], die nötig sind, um literarisch-ästhetische Texte […] zu erschließen, zu genießen und mit Hilfe eines produktiven und kommunikativen Auseinandersetzungsprozesses zu verstehen.« Büker, Petra (2002): Literarisches Lernen in der Primar-und Orientierungsstufe. In: Klaus-Michael Bogdal, Hermann Korte (Hg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München, S. 121. Spinner fasst diese Fähigkeiten unter dem Begriff der literarischen Kompetenz und versucht mit seinen elf Aspekten des literarischen Lernens den Begriff zu schärfen. Vgl. Spinner (2006): Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch. Jannidis, Fotis (2003): Polyvalenz – Konvention – Autonomie. In: Ders., Gerhard Lauer, Matías Martinez u.a. (Hg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Berlin u.a., S. 308.

Verena Ronge: Vom Nichtverstehen zum Verstehen?

Thomas Bernhard: Der Schauspieler Der Schauspieler tritt in einem Märchenspiel auf, in dem er die Rolle des bösen Zauberers spielt. Er wird in einen Schafspelz gesteckt und in ein Paar viel zu kurze Schuhe, die ihm die Füße zusammenpressen. Das ganze Gewand ist so unangenehm, daß er in Schweiß ausbricht, aber das sieht ja niemand und überhaupt spielt er vor keinem so gern wie vor Kindern; denn sie sind das dankbarste Publikum. Die Kinder, dreihundert, erschrecken bei seinem Auftritt, denn sie sind ganz für das junge Paar eingenommen, das er in zwei ungleiche Tiere verzaubert. Am liebsten würden sie nur das junge, in bunte Kleider gehüllte Paar sehen, sonst nichts, aber dann wäre das Spiel kein richtiges Spiel und schon nach kurzer Zeit langweilig; denn zu einem Märchenspiel gehört seit jeher eine bösartige undurchschaubare Gestalt, die das Gute, Durchschaubare, zu zerstören oder wenigstens lächerlich zu machen trachtet. Da nun zum zweitenmal der Vorhang aufgeht, sind die Kinder nicht mehr zu halten. Sie stürzen aus den Sesseln und auf die Bühne und es ist, als wären es nicht mehr nur dreihundert, sondern ein Vielfaches dieser Zahl und obwohl der Schauspieler unter der Maske weint und sie anfleht, doch einzuhalten mit ihren Fußtritten und Schlägen, die sie ihm mit harten, metallenen Gegenständen versetzen, lassen sie sich nicht beeinflussen und schlagen so lange auf ihn ein und trampeln so lange auf ihm herum, bis er sich nicht mehr rührt und seine bleichen verstümmelten Hände in die staubige Luft des Schnürbodens hineinragen. Als die anderen Schauspieler herbeigeeilt kommen und feststellen, daß ihr Mitspieler tot ist, brechen die Kinder in ein ungeheures Gelächter aus, das so groß ist, daß sie darin alle ihren Verstand verlieren.24

II.

Subjektive Assoziation(en). Eine individuelle Lektüre (ästhetisches Erleben)

Um einen Einblick in das ästhetische Erleben zu gewähren, das beim Lesen ausgelöst wird (bzw. ausgelöst werden kann), wird nun zunächst eine textnahe Annäherung an den Text vorgenommen, die von Satz zu Satz fortschreitet. Die Lektüre ist absichtlich offen und assoziativ gehalten, um daran anschließend durch die Einführung des Begriffs der Rahmung zu einem vertieften, analytisch-kognitiven Textverständnis zu kommen. Der Schauspieler tritt in einem Märchenspiel auf, in dem er die Rolle des bösen Zauberers spielt. (Z. 1-2)

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Bernhard, Thomas (2003): Der Schauspieler [1969]. In: Hans Höller (Hg.): Erzählungen. Kurzprosa.Frankfurt a.M., S. 202 (= Werke. Hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Bd. 14).

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Das erste Wort, das beim Lesen ins Auge springt, ist das Wort Schauspieler. Die Tatsache, dass die Figur keinen Namen trägt, sondern lediglich durch ihren Beruf (bzw. ihre Rolle) bestimmt wird, führt zu einer starken Typisierung und Entpersönlichung und damit zu einer Festschreibung des Zauberers als Bühnenfigur, die mit der realen Person des Schauspielers nichts zu tun hat bzw. nicht identisch ist. Bereits im ersten Satz wird damit einerseits auf die Trennung zwischen realer Person und künstlicher Bühnenfigur hingewiesen, andererseits die Aufmerksamkeit des Lesers bzw. der Leserin jedoch gleichzeitig auf die künstliche Seite der Figur gelenkt. Der Hinweis, dass es im Folgenden um ein Märchenspiel geht, aktiviert das narrative Muster der Gattung Märchen, sodass die Leserin oder der Leser zu Beginn der Lektüre davon ausgeht, dass das geschilderte Theaterstück gattungstypische Komponenten aufweist, wie den Kampf des Guten gegen das Böse, der in dem obligatorischen Sieg des Guten endet. Er wird in einen Schafspelz gesteckt und in ein paar viel zu kurze Schuhe, die ihm die Füße zusammenpressen. (Z. 2-4) Hier verengt sich der Fokus auf die Darstellung der Figur des Schauspielers. Dabei wird die Aufmerksamkeit des Lesers, der Leserin durch den Gebrauch der Redewendung des Wolfes im Schafspelz vor allem auf den Aspekt der Verkleidung gelenkt. Der Schafspelz impliziert, dass sich der Zauberer – entsprechend seiner bereits vorgenommenen Charakterisierung – als harmloses Schaf tarnen muss, um seine bösen Absichten zu verschleiern. Diese Beschreibung erscheint bei der Erstlektüre durchaus konsistent. Erst eine zweite Lektüre offenbart eine andere Sicht auf die Situation und damit zugleich auf die Doppelbödigkeit des Textes. Denn die Maskerade (neben dem Schafspelz auch die zu kleinen Schuhe), die dem Schauspieler Schutz bieten soll, indem sie eine Gleichsetzung von Person und Figur verhindert, bewirkt das Gegenteil. Die ›zu gute‹ Maskierung führt dazu, dass die Kinder nur noch die Figur sehen (also Figur und Person in eins setzen) und den Schauspieler/die Figur in einer Gewaltentladung umbringen. Das ganze Gewand ist so unangenehm, daß er in Schweiß ausbricht, aber das sieht ja niemand und überhaupt spielt er vor keinem so gern wie vor Kindern; denn sie sind das dankbarste Publikum. (Z. 4-8) Das bereits angeklungene Motiv der Zurichtung des Körpers wird hier weiter ausgebaut. Denn die Maskerade des Schauspielers, die jetzt nicht mehr nur die Schuhe umfasst, sondern auch das Gewand, und damit die Person immer vollständiger und kompletter »umschließt«, führt zu einer kontinuierlichen Steigerung des Unwohlseins. Auch das Motiv der Grenze wird durch den Hinweis »aber das sieht ja niemand« (Z. 5f.) noch einmal aufgegriffen. Die Grenze scheint zu diesem Zeitpunkt noch intakt und unangetastet zu sein. Der Schauspieler fühlt sich in seiner Verkleidung

Verena Ronge: Vom Nichtverstehen zum Verstehen?

zwar eingeschränkt, aber sicher, da das Publikum nicht hinter die Grenze sehen kann und seine körperlichen Beschwerden nicht wahrnehmen kann. Die Kinder, dreihundert, erschrecken bei seinem Auftritt, denn sie sind ganz für das junge Paar eingenommen, das er in zwei ungleiche Tiere verzaubert hat. (Z. 8-10) Hier wird die Reaktion der Zuschauer*innen beschrieben, die bei seinem Auftritt in realen Schrecken versetzt werden. Im Zuge einer Erstlektüre ist das Verhalten der Kinder positiv zu deuten bzw. als Hinweis auf die hohe Qualität des Schauspiels. Denn: Ihr reales Erschrecken ist eine ideale Reaktion. Die Kinder sind so gefesselt und in den Bann des Schauspiels gezogen, dass sie dieses nicht mehr als solches wahrnehmen, sondern ihm Realitätscharakter zuschreiben. Die Wirkungsabsicht ist also übererfüllt: Der Schein wird so sehr zum Sein, dass aus dem Spiel Realität wird. Dabei ist das Verhalten der Kinder moralisch keineswegs zu verurteilen, da sie sich auf der Seite des Guten wähnen. Am liebsten würden sie nur das junge, in bunte Kleider gehüllte Paar sehen, sonst nichts, aber dann wäre das Spiel kein richtiges Spiel und schon nach kurzer Zeit langweilig; denn zu einem Märchenspiel gehört seit jeher eine bösartige undurchschaubare Gestalt, die das Gute, Durchschaubare, zu zerstören oder wenigstens lächerlich zu machen trachtet. (Z. 10-16) Hier wird deutlich, dass die Kinder mit den Konventionen des Theaters durchaus vertraut sind, da ein Hinweis auf die ›richtige‹ Rezeption erfolgt: Sie sind sich über Struktur und Aufbau des Spiels bewusst. Ihnen ist klar, dass es eine böse Figur geben muss, damit das Spiel als »richtiges Spiel« (Z. 12) im formalen Sinn angesehen werden kann. Die Tatsache, dass die Kinder davon ausgehen, der Zauberer (als Figur) strebe aufgrund seiner Bösartigkeit danach, dass junge Parr zu vernichten, legt die sich im Verlauf der Lektüre ergebende Lesart nahe, die Kinder als moralische Instanz zu verstehen, die lediglich auf eine ihnen real erscheinende Situation reagieren. Denn für die Kinder ist der Zauberer »eine bösartige undurchschaubare Gestalt, die das Gute, Durchschaubare, zu zerstören oder wenigstens lächerlich zu machen trachtet« (Z. 16). Betrachtet man diese Konstellation jedoch auf den zweiten Blick und im Kontext der gesamten Erzählung – vor allem hinsichtlich der Erwähnung der zugrunde liegenden Struktur Wirklichkeit versus Theater bzw. Schauspieler versus Rolle im ersten Satz –, so kommt eine zweite Lesart zum Vorschein. Denn wenn man davon ausgeht, dass der Schauspieler nur eine Rolle spielt, dann sind es die Kinder, deren Verhalten undurchschaubar ist und deren Brutalität nicht nachvollziehbar erscheint.

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Da nun zum zweitenmal der Vorhang aufgeht, sind die Kinder nicht mehr zu halten. Sie stürzen aus den Sesseln auf die Bühne und es ist, als wären es nicht mehr nur dreihundert, sondern ein Vielfaches dieser Zahl und obwohl der Schauspieler unter der Maske weint und sie anfleht, doch einzuhalten mit ihren Fußtritten und Schlägen, die sie ihm mit harten, metallenen Gegenständen versetzen, lassen sie sich nicht beeindrucken und schlagen so lange auf ihn ein und trampeln so lange auf ihm herum, bis er sich nicht mehr rührt und seine bleichen verstümmelten Hände in die staubige Luft des Schnürbodens hineinragen. (Z. 16-27) An dieser Stelle kippt der Text schließlich komplett – denn mit dem Öffnen des Vorhangs fällt zugleich der Startschuss für die vollständige Vernichtung des Schauspielers. Während die räumliche Einteilung zuvor konstant war – der Schauspieler auf der Bühne und die Kinder im Zuschauerraum –, »stürzen [die Kinder nun] aus den Sesseln und auf die Bühne« (Z. 18f.). Sie unterscheiden jetzt nicht mehr zwischen Gespieltem und Nichtgespieltem. Als Folge dieser Verwischung der Grenzen reagieren die Kinder auf die Figur des Schauspielers mit aller Härte. Die reale Person nehmen sie dabei unter der Maske gar nicht wahr. Für sie ist der Zauberer eine böse Figur, die mit aller Härte bekämpft und bestraft werden muss. Der Schnürboden, der hier genannt wird, bezeichnet eine über der Bühne angebrachte Zwischendecke. Damit kann der Begriff Schnürboden als Verweis oder Sinnbild für die Doppeldeutigkeit des Textes gedeutet werden, der den Leser*innen immer wieder den sicher geglaubten ›Interpretationsboden‹ unter den Füßen wegzieht. Hier wird wortwörtlich auf Textebene ein Raum aufgezeigt, der wiederum selbstreferentiell auf den Text als solchen verweist und dessen Wirkungsweise, das ständige Schwanken zwischen mehreren möglichen Lesarten, offenlegt. Als die anderen Schauspieler herbeigeeilt kommen und feststellen, daß ihr Mitspieler tot ist, brechen die Kinder in ein ungeheures Gelächter aus, das so groß ist, daß sie darin alle ihren Verstand verlieren. (Z. 27-31) Nachdem die Uneindeutigkeit des Textes durch die Lenkung des Leserblickes auf den Schnürboden als zweite Ebene angedeutet und im Text selbst verortet worden ist, erreicht sie im letzten Satz schließlich ihren Höhepunkt. Dabei fällt zunächst das »Gelächter« (Z. 29f.) der Kinder ins Auge, das als »ungeheue[r]« (Z. 29) und »so groß« (Z. 30) gekennzeichnet wird und damit bereits durch diese Charakterisierung als rein akustisches, nicht mehr zu differenzierendes Phänomen auf seine Uneindeutigkeit verweist. So kann es im Zusammenspiel mit dem wenig später gelieferten Hinweis auf den Verlust des Verstandes als ein irres, rauschhaftes Lachen gedeutet werden, das die Unbegreiflichkeit der Situation zum Ausdruck bringt. Allerdings kann das Lachen auch lediglich eine »normale« kindliche Reaktion darstellen – die Kinder freuen sich, dass das Märchen ein gutes Ende gefunden hat.

Verena Ronge: Vom Nichtverstehen zum Verstehen?

Somit verwehrt der Text seinen Leser*innen jegliche eindeutige, einfache Erklärung.

III. Theoretische Reflexion. Das Konzept der Rahmung (ästhetische Wahrnehmung) Um die durch die subjektive (emotional-affektive) Lektüre offengelegte Vielschichtigkeit theoretisch rückzubinden und somit kognitiv zu untermauern, soll im Weiteren erläutert werden, was genau die Irritation auslöst. Dabei kann an dieser Stelle das Konzept der Rahmung in Anschlag gebracht werden. Das hier entwickelte Konzept der Rahmung ist anschlussfähig an den Begriff der Szenographie in den Theaterwissenschaften, die als »Wissenschaft von der Organisation des Bühnenraums«25 bezeichnet wird. Der Raum selbst wird dabei zum Akteur, da durch ihn Situationen entstehen, die »im Spielvorgang durch die Akteure […] belebt werden und die […] lesbare Bedeutungen [und] sinnlich erfahrbare Atmosphären […] entfalten.«26 Ein typisches Mittel, um den Raum erfahrbar zu machen, ist dabei das Spiel mit verschiedenen Rahmungen – die Grenze zwischen Bühne und Zuschauer*innen wird immer wieder verschoben und neu ausgehandelt. Während der Lektüre des Textes, die passenderweise in einem Theater spielt, geschieht nun Ähnliches – die Leser*innen wechseln zwischen verschiedenen Lesarten. Der Begriff des Rahmens dient in diesem Zusammenhang dazu, die während der subjektiven Lektüre aufgezeigten verschiedenen Lesarten zu erfassen und gleichzeitig deutlich zu machen, dass sie im Sinne der Vielschichtigkeit gleichwertig nebeneinanderstehen können. Die Rahmen sind so zu verstehen, dass ein Rahmen jeweils einen bestimmten Blick auf das Textgeschehen ermöglicht. Der Rahmen gibt die jeweils gültigen Regeln des Spiels, die Regeln der Deutung vor, die innerhalb der Lesart wirken und zur Generierung einer möglichen Deutung führen. Diese Deutungen sind allerdings ganz im Sinne einer dekonstruktiven Lektüre nicht fest und auf Dauer gestellt, sondern fluide. Der Leser bzw. die Leserin wechselt zwischen den verschiedenen Rahmungsangeboten und kommt zu jeweils anderen Ergebnissen. Gleichzeitig reduzieren beide hier verfolgten analytischen Herangehensweisen die bereits erwähnte Gefahr der Beliebigkeit möglicher Textzugänge, die es gerade im schulischen Kontext zu verhindern gilt.

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Pavis, Patrice (2007): Szenographie. In: Manfred Brauneck, Gerard Schneilin (Hg.): Theaterlexikon 1: Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensemble. Reinbek bei Hamburg, S. 969. Wiens, Birgit (2014): Intermediale Szenographie. Raum-Ästhetiken des Theaters am Beginn des 21. Jahrhunderts. Paderborn, S. 242.

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Der erste Rahmen ist der Realitätsrahmen. Legt man diesen Rahmen zugrunde, dann ist der Schauspieler eine Person, die auf der Bühne lediglich eine Rolle spielt. In diesem Rahmen ist das Ende drastisch und erschreckend, weil ein Mensch umgebracht wird. Das Lachen der Kinder kann hier keinem plausiblen, nachvollziehbaren Grund zugeordnet werden – es ist nicht erklärbar. Es kann als ›Übersprunghandlung‹ gedeutet werden, als Ableitung von psychischer und physischer Erregung, die nicht mehr in Begriffe gekleidet werden kann. Dieses Verhalten tritt ein, wenn den Figuren die Sprache abhandengekommen ist und damit der rationale Zugriff auf ihre Reaktionen, ihr Verhalten, ihre Handlungen fehlt. Im zweiten Rahmen, dem Theaterrahmen, fällt die Deutung allerdings ganz anders aus. In diesem Rahmen ist der Schauspieler lediglich eine Figur, eine Rolle in einem Stück. Das Ende erscheint unter diesen Voraussetzungen auch weniger drastisch als vielmehr folgerichtig und nachvollziehbar; da die Kinder sich als Teil des Spiels begreifen und in dieser Rolle das Böse vernichten, sind sie Held*innen. Ihr Lachen ist damit eine durchaus vernünftige Reaktion auf die gelungene und – in dieser Hinsicht – gerechtfertigte Strafe bzw. Rache. Versucht man nun, den Aspekt der Rahmung auf den Spielbegriff zu übertragen, dann lässt sich folgende Überlegung anstellen: Der Aspekt der Rahmung macht deutlich, dass die Leser*innen versuchen den Text auf der Basis eines Deutungsrahmens, eines Modells, einer Idee kohärent zu deuten. Während des Rezeptionsprozesses setzen die Interpret*innen sich zunächst zu dem Text in Beziehung, sie versuchen, Regelhaftigkeiten und Unregelmäßigkeiten zu erfassen und sie in ihre Bedeutungsgenerierung einfließen zu lassen. Die Vielschichtigkeit des Textes sorgt dafür, dass während der Lektüre verschiedene Sinndeutungsangebote durchgespielt werden, das heißt, dass die Leser*innen zwischen den Rahmen und damit zwischen den jeweiligen Deutungsmöglichkeiten wechseln, wenn sie merken, dass der gewählte Rahmen nicht ›passt‹. Dieses ›Nichtpassen‹ ist dabei das Ergebnis der Irritation – etwas stört. Die Relektüre, die daraufhin einsetzt, ist wiederum ein Prozess, der mit der Anwendung eines neuen bzw. anderen Rahmens endet. Diese Anpassung kann dabei als neue Erkenntnis gesehen werden, da sie ein Mehr an Reflexion enthält. Die Neuanpassung stellt somit eine mögliche Interpretation dar, die allerdings (ganz im Sinne des postmodernen Spielbegriffs) nicht auf Dauer gestellt ist, sondern sich durch eine erneute Lektüre des Textes weiter verändern kann. Damit umschreibt dieses ›Mehr‹ an Reflexion die ästhetische Erfahrung, die im freien Spiel durch die verschiedenen Rahmungsmöglichkeiten entsteht und sowohl kognitive als auch emotionale Elemente in sich vereint. Diese Definition des Rahmens greift somit die Prozessualität der ästhetischen Erfahrung auf, auf die auch Brune mit Bezug auf Härles an Derrida orientierten Begriff des Parcours hinweist: »Der ›Sinn‹ eines Textes wird hier als ›dynamische Kraft‹ gefasst, die aus dem Text heraus den Leser anspringt und zu einem ›Parcours‹ (Derrida) der Ein-

Verena Ronge: Vom Nichtverstehen zum Verstehen?

sichten, Ahnungen und Verwerfungen antreibt, bis er erschöpft, nicht aber ans Ziel gelangt, sich eine Pause gönnen muss«.27 Nachdem der Leseprozess inklusive seiner spontanen, subjektiven Aspekte sowie seiner rational-theoretischen Rückbindung dargestellt worden ist, soll es um die Frage gehen, wie Schüler*innen mit literarästhetischen Texten umgehen.

IV.

Empirische Untersuchung. Versuch einer Leser*innentypisierung

Ausgewählt wurden die Proband*innen anhand einer bewusst heterogenen Stichprobe.28 Die Untersuchung fand während der Unterrichtszeit in verschiedenen Bildungsgängen eines Berufskollegs in Duisburg statt, deren Zulassungsvoraussetzungen die Allgemeine Hochschulreife, der Real- und der Hauptschulabschluss sind. Teilgenommen haben insgesamt neun weibliche und sechs männliche Proband*innen zwischen 17 und 18 Jahren. Die Methode, die dabei eingesetzt wurde, ist das laute Denken, genauer: das sentence-by-sentence talking, eine Form, bei der den Proband*innen nach und nach jeweils nur ein Satz des Textes vorgelegt wird und die einen kleinschrittigen, verlangsamten und damit auch möglichst genauen Nachvollzug des Leseprozesses ermöglicht. Nach jedem Satz hatten die Proband*innen Zeit, ihre Gedanken zu äußern. Standardisierte Instruktionstexte sollten für alle Teilnehmenden die gleichen Voraussetzungen schaffen und Fehlerquellen wie beispielsweise Metakognitionen und Theoretisieren29 verhindern. Die auf Band aufgenommenen und anschließend nach zuvor festgelegten Regeln transkribierten Laut-Denk-Protokolle, wie etwa der Verzicht auf eine Darstellung von Eigenheiten in der Aussprache, wurden mit einer zusammenfassenden und strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse primär ausgewertet. Dabei zeigten sich fünf Kategorien, die nun zunächst erläutert werden:

27

28

29

Brune (2020): Literarästhetische Literalität. S. 94. Siehe dazu auch: ebd., S. 116; Herv. i.O.: »Menke prägt in Die Souveränität der Kunst einen Begriff, der mit dem Verfahren Barthes’ verwandt ist, und zwar den des ›artikulierende[n] Lesen[s]‹. Es ruft Bedeutungen hervor und artikuliert, benennt diese, wobei dies eingebunden bleibt in die Prozessualität der ästhetischen Rezeption. Hiermit verändert sich der Status der im artikulierten Lesen ausgebildeten Bedeutungen: Sie sind nicht das teleologische Resultat von Bedeutungssuche, sondern bleiben ausgerichtet auf genuin ästhetische Verstehensversuche, denen eine konstitutive Vorläufigkeit eignet und in deren Folge sich auch der eigene Zugang zum Objekt verändert.« Vgl. Schreier, Margit (2006): Qualitatives Untersuchungsdesign. In: Norbert Groeben, Bettina Hurrelmann (Hg.): Empirische Unterrichtsforschung in der Literatur- und Lesedidaktik. Ein Weiterbildungsprogramm. Weinheim u.a., S. 346f. Vgl. Stark, Tobias (2010): Lautes Denken in der Leseprozessforschung. Kritischer Bericht über eine Erhebungsmethode. In: Didaktik Deutsch, Jg. 15, H. 29, S. 75.

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Die imaginative Beteiligung des Lesers oder der Leserin ist die erste Kategorie. Es geht um die Frage: Welche Vorstellungen entstehen beim Lesen, welche Bildwelten werden generiert? Damit rückt die prägnante Bildlichkeit als ein potentieller Auslöser und Merkmal ästhetischer Erfahrung ebenso in den Mittelpunkt wie die Fähigkeiten, beim Lesen und Hören Vorstellungen zu entwickeln und subjektive Involviertheit sowie genaue Textwahrnehmung miteinander ins Spiel zu bringen.30 Bei der emotionalen Beteiligung steht ebenfalls die subjektive Involviertheit im Fokus, die unter Rückgriff auf Bettina Hurrelmann als die Fähigkeit, »eigen[e] Erfahrungen und Gefühlserlebnisse mit der Lektüre zu verbinden, […] das Vermögen, bei Schwierigkeiten Unlust zu balancieren, [und] nicht zuletzt [als] die Fähigkeit zum ästhetischen Wahrnehmen und Genießen«31 verstanden wird. Damit berührt diese Kategorie die emotionale Kompetente von ästhetischer Erfahrung als Zusammenspiel von Emotion und Kognition. Im Fokus der motivationalen Beteiligung als dritter Kategorie steht insbesondere die Fähigkeit, Schwierigkeiten beim Lesen komplexer und vieldeutiger Texte zu überwinden: Ästhetisch Lesende sind in der Lage, die beiden »Pole der literarischen Rezeption, den Genuss des Lesers und den Gehalt des Textes«, zu verbinden und zu »versuchen, mit literarischen Werken Erfahrungen zu machen, sie zeichnet also ein virales Interesse an Literatur aus«.32 Ihnen gelingt es, mögliche Irritationen produktiv zu nutzen, indem sie das »das Bedürfnis nach Verstehen aufrecht[erhalten]«33 und das Spiel mit verschiedenen Deutungsangeboten als mögliche Gratifikation verstehen. Als nächste Kategorie hat sich der Umgang mit Inkohärenzen herausgebildet. Dieser Umgang ist insofern von Bedeutung, als die Wertschätzung von Vieldeutigkeit unmittelbar damit zusammenhängt: Um zu einer Wertschätzung von Vieldeutigkeit zu gelangen, müssen die Leser*innen realisieren, dass sich der »ästhetischliterarische Anspruch«34 von Texten auch und gerade in Kohärenzverweigerung ausdrücken kann und der Sinn eines Textes sich eben dann gerade in der Nichtherstellbarkeit eines eindeutigen Sinns zeigt. Unter narrativem Verständnis fassen wir die Fähigkeit, den Text als etwas Kunstvolles anzunehmen und zu verstehen, dass er von unterschiedlichen Konventionen geprägt ist. Dazu gehört auch das Wissen um narratologische Strukturen. Zentral 30 31 32 33 34

Vgl. Spinner (2006): Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch. S. 8. Hurrelmann (2002): Leseleistung – Lesekompetenz. In: Praxis Deutsch. S. 14f. Graf, Werner (2010): Lesegenese in Kindheit und Jugend. Einführung in die literarische Sozialisation. Baltmannsweiler, S. 140f. Hurrelmann (2002): Leseleistung – Lesekompetenz. In: Praxis Deutsch. S. 13. Schwarz-Friesel, Monika (2006): Kohärenz versus Textsinn: Didaktische Facetten einer linguistischen Theorie der textuellen Kontinuität. In: Maximilian Scherner, Arne Ziegler (Hg.): Angewandte Textlinguistik. Perspektiven für den Deutsch- und Fremdsprachenunterricht. Tübingen, S. 70f.

Verena Ronge: Vom Nichtverstehen zum Verstehen?

bleibt in diesem Sinne die Frage, inwiefern das narrative Verständnis dabei hilft, den Text und seine Strukturen zu durchdringen, und damit rückt dann zugleich auch Kaspar H. Spinners Aspekt: »[n]arrative und dramaturgische Handlungslogik nachvollziehen«, in das Blickfeld. Auf Grundlage dieser Kategorien konnten drei Typen gebildet werden, die involviert-assoziativen Typen, die textfokussierend-abwägenden Typen sowie die literarisch-integrierenden Typen. Die Ergebnisse reichen dabei von sehr subjektivemotional orientierten Lesenden bis zu einem Leser*innentyp, der seine Lesart durch das Hinzuziehen narrativen Wissens absichert. Typ I: Der involviert-assoziative Typ bezieht sich vor allem auf seine persönlichen Erfahrungen, Meinungen und Gefühle. Der Text bietet ihm Impulse, um textunabhängige Gedanken oder Assoziationen zu einer Formulierung zu erörtern, vor allem um subjektive Aspekte zu reflektieren, abzuwägen und zu verhandeln. Die imaginative Beteiligung des involviert-assoziativen Typen ist an seine alltagsweltlichen und pragmatischen Erfahrungen gebunden. Bei der Bildung von Vorstellungen und Deutungshypothesen orientiert er sich an seiner subjektiven Lebenswelt und die genannten Beispiele und Assoziationen sind an den eigenen Lebenserfahrungen, nicht aber bzw. nur kaum an den Text rückgebunden. Auch bei der emotionalen Beteiligung zieht Typ I eigene Erlebnisse heran, anhand derer er das Verhalten der Figuren bzw. den Verlauf der Geschichte zu erläutern versucht. Und auch die im Text präsentierten Emotionen bindet er eng an sein eigenes, individuelles Erleben. Dieser stark emotional gefärbte Zugang ermöglicht zwar eine subjektive Verbindung zum Text, das für die ästhetische Erfahrung nötige textbasierte kognitive Moment fehlt jedoch weitgehend. Hinsichtlich der motivationalen Beteiligung ist dieser Typ als relativ instabil zu bezeichnen: Der Grat zwischen Motivation und Demotivation ist schmal. Es gelingt ihm nur in einem geringen Maß, eine motivationale Bindung zum Text herzustellen, die über die aktuelle Situation hinausgeht. Sofern der Text mit eigenen Erwartungen und Vorstellungen bricht, ist dieser Typ kaum noch in der Lage, die Motivation aufrechtzuhalten, und die Lektüre wird abgebrochen. Auch im Umgang mit Inkohärenzen zeigt sich die Bedeutung der eigenen Subjektivität: Typ I fokussiert vor allem die Herstellung von wort- bzw. satzgebundener Kohärenz. Eine zu hohe Dichte an Leerstellen oder Unstimmigkeiten führt zu einem deutlichen Unbehagen auf Leser*innenseite. Typ I nimmt Inkohärenz nicht als ein Qualitätsmerkmal des Textes wahr, das zum Weiterlesen anregt, sondern als Störung. Das narrative Verständnis ist bei diesem Typ nur in Ansätzen erkennbar. Er nennt grundlegende narrative Strukturen, setzt sie allerdings nicht in Beziehung zueinander, sondern betrachtet sie auf einer isolierten Ebene. Alltagsweltliche Erfahrungen und eigene Erlebnisse spielen auch hier eine Rolle, nämlich insofern, als die Erkenntnisse der narrativen Strukturen in Zusammenhang zum eigenen (Er-)Le-

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ben gebracht werden und, umgekehrt, Letzteres durch sie reflektiert wird. Sobald jedoch die eigenen Normvorstellungen im Nachvollzug der Handlungslogik, hier also der Erzählperspektive, verletzt bzw. überschritten werden, wird die Beschäftigung mit dem Text erschwert, wenn nicht gar unmöglich. Auch die Perspektivenübernahme wird durch das Überschreiten der eigenen Normvorstellungen nicht mehr möglich und das Textverständnis erschwert. Typ II: Der textfokussierend-abwägende Typ agiert sowohl auf der emotionalen als auch auf der kognitiven Ebene. Auch er bezieht sich auf seine eigene Lebenswelt, seine Erfahrungen und Empfindungen. Anders als Typ I geschieht das immer mit Rückbindung an den Text, der Ausgangsbasis für weitere Überlegungen ist. Im Mittelpunkt steht für diesen Typ das Textverständnis. Seine imaginative Beteiligung äußert sich darin, dass er den Text durch seine eigenen Vorstellungen ergänzt, dabei aber nicht die Textebene verlässt, sondern seine Imaginationen immer wieder zum Text zurückführt. Bei der emotionalen Beteiligung zeigt sich, anders als bei Typ I, das Wechselspiel zwischen subjektiver Involviertheit und genauer Textwahrnehmung, das schließlich zu einem vertieften Textverständnis führt. Auch Typ II stellt eine emotionale Bindung zum Text her, aber auch hier ist eine Rückbindung an diesen zu erkennen. Mit dieser Integration von emotionalen und kognitiv-reflexiven Momenten erfüllt er die Voraussetzung zur ästhetischen Erfahrung. Bei der motivationalen Beteiligung sticht, vor allem im Vergleich zu Typ I, die tiefergehende, stabilere motivationale Beziehung zum Text hervor, durch die Typ II geprägt ist. Persönliche Erfahrungen, Erwartungen etc. treten in den Hintergrund und die Motivation entsteht aus dem Bedürfnis heraus, den Text zu verstehen. Damit ist Typ II auch in der Lage, Irritationen und Schwierigkeiten auszuhalten bzw. als Anreiz zur weitergehenden Reflexion zu nutzen. Im Umgang mit Inkohärenzen zeigt sich der textfokussierend-abwägende Typ versierter: Es gelingt ihm nicht nur, eine globale Vorstellung des Textes zu entwickeln, sondern er äußert auch, dass es innerhalb des Textes zu einem mit Inkohärenzen angereicherten Bruch kommt. Fruchtbar und durch Zuhilfenahme (literarischen) Wissens verstehbar gemacht wird dieser Bruch allerdings nicht, sondern er wird als globale Kohärenzstörung erfahren. Typ II nutzt sein narratives Verständnis und die damit gemachten Erkenntnisse als Verstehenshilfe und als Unterstützung im Umgang mit dem Text, hier vor allem die Perspektiven. In den vorliegenden Fällen zeichnet sich dieser Typ vor allem durch seine Fähigkeit zur Integration der Perspektiven des Schauspielers und der Kinder aus sowie dadurch, dass er die Perspektiven auch zu dem Textganzen in Beziehung setzt. Typ III, der literarisch-integrierende Typ, zeigt ein ausgeprägtes literarisches Wissen, das er auch im Umgang mit Vielschichtigkeit zur Anwendung bringt. Dabei bezieht er die Textebene mit ein, verlässt diese aber zugunsten weiterführender

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Überlegungen und Reflexionen. Emotionale Aspekte werden ebenfalls genannt, basieren aber mehr auf dem Text als auf persönlichen Erfahrungen. Auch dieser Typ zeigt damit Momente von Kognition und Emotion, der Fokus liegt allerdings mehr auf kognitiven Momenten. Die imaginative Beteiligung zeigt sich bei Typ III insofern, als er seine Imaginationen an textbasierte Ankerpunkte bindet, dabei aber noch einen Schritt darüber hinaus geht: Er zieht weiteres Wissen, wie etwa Gattungswissen oder Wissen über Farbsymbolik, hinzu, um seine Assoziationen zu begründen. Die emotionale Beteiligung des literarisch-integrierenden Typs verbindet ebenfalls emotionale mit kognitiven Momenten. Er reagiert auch emotional auf das Textgeschehen, allerdings geht es über den Text hinaus, indem er emotionale Referenzpunkte heranzieht, die Ähnliches bei ihm bewirken und dabei helfen, die durch den Text ausgelösten Emotionen zu erklären bzw. zu vertiefen. Die motivationale Beteiligung ist vor allem dadurch geprägt, dass Typ III habituell liest. Dieser Typ ist es gewohnt, das Lesen mit Gratifikationen zu verbinden, und auch Verständnisprobleme zeigen sich mehr in produktiver als in destruktiver Hinsicht. Die Motivation zeigt sich hier vor allem in dem Wunsch nach einer Beschäftigung mit dem Text bzw. dem Autor, die über die aktuelle Situation hinausgeht. Auch im Umgang mit Inkohärenzen zieht Typ III weiteres Wissen mit ein, und so gelingt es ihm, ein Textverständnis unter Zuhilfenahme literaturspezifischer Kontexte zu entwickeln und über die lokale sowie globale Kohärenz hinauszugehen. Inkohärenzen sind, wie ich es für die motivationale Beteiligung bereits ausgeführt habe, Anreiz für eine weitergehende Lektüre. Mit speziellem Blick auf den Schauspieler zeigt sich, dass dieser Typ in der Lage ist, die Rahmen zu erkennen. Der literarisch-integrierende Typ verfügt über ein differenziertes narratives Verständnis, das es ihm erlaubt, mehrere Aspekte zu erkennen und miteinander in Beziehung zu setzen. Er verlässt die Textebene unter Einbezug allgemeinen literarischen und kulturellen Wissens zugunsten weiterführender Überlegungen und/oder Interpretationen. Anders als Typ I und Typ II zeigt dieser Typ in der durchgeführten Untersuchung auch eine differenziertere Wahrnehmung der Perspektiven: Er erkennt nicht nur die Figurenperspektiven, sondern auch die abstraktere Erzählerperspektive und setzt sie in Beziehung zueinander.

V.

Didaktische Überlegungen

Der Blick auf die empirischen Ergebnisse hat gezeigt, dass das Irritationspotential des Textes für etwa zwei Drittel der Proband*innen zu groß war. So ist eine wichtige und grundlegende Erkenntnis, die zugleich die Relevanz und Notwendigkeit einer unterrichtlichen Rahmung während des Lesens vielschichtiger Texte

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deutlich macht, die Feststellung, dass es den Leser*innen des Kurzprosatextes ohne didaktische Anleitung kaum gelingt, ästhetische Erfahrungen zu machen. Sie schaffen es lediglich in Ansätzen, eine Verbindung von emotionalen und kognitiven Aspekten vorzunehmen, da es ihnen schwerfällt, beide Aspekte in ein ausgewogenes Gleichgewicht zu bringen, sie zu einer Synthese zusammenzuführen und somit ästhetische Erfahrungen mit Literatur zu machen. Als mögliche Erklärungsansätze für diese Schwierigkeiten liefert das empirische Material folgende Hinweise: So kann sich sowohl eine zu starke subjektive Beteiligung wie bei Typ I als auch das Vorliegen eines negativen lesebezogenen Selbstkonzepts erschwerend auf eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Text auswirken. Negative Erfahrungen im Umgang mit Text werden beispielsweise an dieser Stelle geäußert: Ich (.) hab dazu keine besonders großen oder umfangreichen Gedanken (…) wenn ich jetzt (.) KEINE große Hilfe bin, bei dem Projekt, tut mir das Leid ähm (.) weiß nicht, ich kann mit dem Text nicht wirklich was anfangen. Hier zeigt sich, dass der bzw. die Betreffende das eigene ›Versagen‹ artikuliert und auf sein bzw. ihr eigenes Unvermögen bzw. die Unkenntnis im Umgang mit Texten attribuiert. Zum anderen kann aber auch eine zu starke Orientierung am rein rational ausgerichteten Gegenpol ästhetische Erfahrungen verhindern. Diese These wird durch Aussagen gestützt, die vermuten lassen, dass die Proband*innen versuchen, rationale Konzepte wie beispielsweise Gattungswissen oder die Autorenintention zur Deutung des Textes heranzuziehen. [A]ber (.) oder das isn-kei-oder da kommt am Ende noch ne MORAL, oder das is ne PARABEL oder so, aber (…) komisch. [lacht leise] Auf jeden Fall. (.) WARS das schon? Der oder die Schüler*in zeigt sich überrascht, dass der Text kein ›gattungsspezifisches‹ Ende wie die Äußerung einer klaren moralischen Absicht aufweist. Eine weitere Aussage findet sich hier: [I]ch versteh nich, was VOR sich geht, (.) und obwohl hier einiges SEHR (.) drastisch formuliert ist, hab ich (.) weiß ich nicht. In mir regt sich nichts. Kein Mitgefühl (.) kein Entsetzen (.) weil ich nicht verstehe, was mir der Autor sagen möchte. Der Zugang zum Text wird hier dadurch verhindert, dass der oder die Proband*in hofft, der Autor verfolge eine eindeutige Aussage mit dem Text, die von den Leser*innen lediglich erkannt werden muss. Da sich der Text seiner bzw. ihrer Meinung nach einer einfachen, durch den Autor abgesicherten (!) Deutung entzieht, findet er oder sie keinen Zugang zu dem Text.

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Ein letzter Punkt, der ebenfalls auf eine typische Schwierigkeit im Umgang mit Texten im unterrichtlichen bzw. schulischen Kontext verweist, ist die klare Divergenz zwischen Freizeit- und Schullektüre. Diese negative Erwartung an eine im schulischen Kontext eingesetzte Lektüre verhindert eine vertiefte Auseinandersetzung nicht komplett, allerdings erschwert sie sie. Also (.) es KÖNNTE auch ein Text sein, den man im DEUTSCHunterricht gelesen hat (.) ungefähr (.) das selbe Interesse habe ich grade an dem Text. Nachdem nun die Schwierigkeiten verdeutlicht wurden, mit denen eine ungeplante und ungesteuerte Auseinandersetzung mit einem vielschichtigen Text zu kämpfen hat, stellt sich die Frage, ob bzw. welche didaktischen Rahmungen diese Schwierigkeiten reduzieren können. Zunächst lässt sich festhalten, dass eine emotional-subjektive Aktivierung der Schüler*innen (als Vorstufe bzw. Basis ästhetischer Erfahrung) durchaus zielführend ist. Ohne eine emotionale ›Verhakung‹ im Text bleibt eine weitere Auseinandersetzung mit diesem aus. Um dieses subjektive ästhetische Erleben zu ermöglichen, braucht es somit Textmomente, die sich einer einfachen Rezeption verweigern, da sie Irritation(en) bei den Leser*innen auslösen. In Bezug auf Bernhards Text hat sich gezeigt, dass dieses irritierende Moment der Gewaltausbruch ist. In den durch das laute Denken (und damit unbeeinflusst) gewonnenen Äußerungen der Leser*innen lässt sich deutlich erkennen, dass der Gewaltausbruch als Wendepunkt, Bruch oder unerklärlicher Akt verstanden wird: Ja das ist ja nicht NORMAL, dass die Kinder im (.) Theaterstück da aufspringen und auf den SCHAUSPIELER einsch-prügeln. Hm. Mhm, [lacht] ja der-der Text nimmt grad eine sehr komische WENDUNG. [U]nd dass das dann wirklich DIESE Wendung ähm (.) nimmt ähm (.) ja. Schockiert. Und ähm (.) ja. Im-im Grunde diese WENDUNG. Diese krasse Wendung wenn man dann merkt: Okay, (.) weil man selbst hat ja AUCH schon mal so das Gefühl, dass man (.) ähm (.) s-sich sagt (.) Jaa das ist jetzt grad nicht so ANGENEHM für mich, aber für den anderen MACH ich das, weils (.) ihm ein LÄCHELN ins Gesicht zaubert, (.) und wenn man dann EIGENTLICH rechnet man ja dann damit, dass man auch BELOHNT wird in DER Form, die man erwartet, mit diesem Lächeln oder mit der FREUDE des anderen (.) ja und im Grunde ähm wird man (.) BESTRAFT dafür. Um diese Irritation nun allerdings produktiv nutzbar zu machen, bedarf es einer vertieften, kognitiv-rationalen Auseinandersetzung mit dem Text. Dies kann dadurch angeregt werden, dass die Schüler*innen zwei Lesarten wahrnehmen, die z.B. durch das Konzept der Rahmung sichtbar werden. Zunächst gilt es, die Rahmung zu verstehen, da diese als grundlegend für das Verständnis des Spiels von Schein und Sein angesehen wird. Die Schüler*innen sollten, so wird erwartet, er-

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Bedingungen des Verstehens

kennen, dass es einen Realitäts- und einen Theaterrahmen gibt. Je nachdem, welchen Rahmen man zugrunde legt, kann das Verhalten der Kinder und damit das gesamte Geschehen unterschiedlich erklärt werden. In Anschluss an die Vorstellung der Ergebnisse wird der Begriff der Rahmung erläutert und deutlich gemacht, dass beide Erklärungen für das Verhalten der Kinder denkbar sind und von der Einschätzung der Situation auf der Bühne abhängen. Somit erfahren Schüler*innen, dass die Variationsmöglichkeit der Bedeutungszuschreibungen, die nach dem ersten Lesen als irritierend empfunden wurde, nicht als Störung verstanden werden muss, sondern ein spielerisches Ausprobieren unterschiedlicher Deutungsvarianten ermöglicht, die der Text anbietet. Es geht also darum, Störungen der Bedeutungskonstruktion bewusst zu machen, am Text zu belegen und zu vermitteln, dass sie trotz ihrer Gegensätzlichkeit ihre Berechtigung haben, also gleichzeitig möglich und gleichwertig sind. Damit wird das ästhetische Erleben der Irritation durch genaue Textwahrnehmung erklärlich und als textadäquat reflektiert.

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Bedingungen des Verstehens

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Phänomene des (Nicht-)Verstehens

›Staunen‹ als literarästhetische Praxis zwischen Verstehen und Nichtverstehen Jennifer Pavlik Abstract Der folgende Beitrag geht der Frage nach, inwiefern Momente des Staunens (θαυμάζειν) für literaturwissenschaftliche und -didaktische Zusammenhänge relevant sein können. Hierfür werden zunächst verschiedene Traditionslinien nachgezeichnet, die deutlich machen, dass mit dem Begriff θαυμάζειν sehr unterschiedliche, zum Teil konträre Formen der Selbst- und Weltbetrachtung beschrieben werden, die zwischen Verstehen und Nichtverstehen changieren: Während das traditionell aristotelische Verständnis des Staunens als aufzulösende Irritation von Seh- und Denkgewohnheiten interpretiert werden kann, lassen sich andere theoretische Bestimmungsversuche als Versuche begreifen, eine Form des Nichtverstehens zu kultivieren. Diese Perspektiven auf das Staunen werden im Folgenden ausgeführt und mit Blick auf ihre Bedeutung für Literatur und Unterricht reflektiert.

Staunen (θαυμάζειν) bezeichnet bekanntlich den Anfang der Philosophie:1 Aristoteles versteht darunter die bewusste Irritation der alltäglichen Wahrnehmung, die dem Menschen dazu verhelfen kann, die eigene Denkungsart zu reflektieren, eine kritische Distanz zu ihr und ihren Gegenständen auszubilden und damit letztlich die Meinung (δόξα) von der Wahrheit (ἀλήθεια) zu unterscheiden. Auch wenn diese Umschreibung inzwischen als ›Gemeinplatz‹ der Philosophie gilt,2 verzerrt sie den Blick auf ein angemessenes Verständnis des Phänomens, das sich bei genauerer Betrachtung als wesentlich komplexer darstellt. Dies liegt vor allem daran, dass »[d]as deutsche Wort ›Staunen‹ und das entsprechende griechische ›thaumazein‹ […] sehr unterschiedliche, ja kontroverse Bedeutungen [haben], die nicht selten zu Verwirrungen führen und daher im jeweiligen Verwendungszusammenhang sorgfältig herausgehört werden müssen.«3

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Vgl. unter anderem Jain, Elenor; Trappe, Tobias (1998): Staunen, Bewunderung, Verwunderung. In: Joachim Ritter, Karlfried Grüner, Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10: St-T. Basel, Sp. 116f. Vgl. unter anderem Gess, Nicola (2019): Staunen. Eine Poetik. Göttingen, S. 27. Martens, Ekkehard (2003): Vom Staunen oder Die Rückkehr der Neugier. Leipzig, S. 15.

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Phänomene des (Nicht-)Verstehens

Im vorliegenden Beitrag wird der Begriff des Staunens zunächst vor dem Hintergrund seiner methodischen Bedeutung für erkenntnistheoretische und ästhetische Fragestellungen differenziert. Im Anschluss wird dargelegt, inwiefern sich staunende Denk- und Wahrnehmungsformen zwischen Verstehensansprüchen und ihrem produktiven Scheitern bewegen und welche Implikationen dies für eine literaturdidaktisch relevante Form des Staunens hat. Abschließend werden Realisierungsmöglichkeiten für Momente des Staunens im Literaturunterricht diskutiert.

I.

Staunen zwischen Verwunderung und Bewunderung

Weder mit Blick auf die Gegenwart noch vor dem Hintergrund der historischen Begriffsgenese kann davon gesprochen werden, dass es eine einheitliche Verwendung des Begriffs Staunen gibt.4 So hat etwa Stefan Matuschek in seiner ideengeschichtlichen Analyse Über das Staunen5 auf die schon in der Antike vorhandene Mehrdeutigkeit der Bezeichnung hingewiesen, die sich beispielhaft anhand der philosophischen Ausführungen von Platon und Aristoteles beobachten lässt. Zwar könne man für beide Philosophen konstatieren, dass das Staunen insofern den Anfang der Philosophie markiere, als es »das falsche Reden unterbricht, das die Wahrheit verdeckt, anstatt sie zu offenbaren.«6 Auch komme dem Staunen in beiden Philosophien epistemische Qualität zu, da es auf die Überwindung der Meinungen abziele und die Einsicht in die Erkenntnis des wahren Seins zum Ziel habe. In einem gewichtigen Punkt unterscheiden sich die beiden Ansätze aber grundsätzlich voneinander, da bei Platon »das Staunen über den Kosmos nie endgültig und selbstsicher [ist], sondern […] mit dem Vorbehalt eines sokratischen Selbstzweifels verbunden [wird] […]. Dagegen besteht bei Aristoteles eine Tendenz zu einer rationalistisch begründeten Lehre mit dem Anspruch auf endgültige Einsicht (Metaphysik XII).«7 Durch diese divergierenden Haltungen, die das jeweilige Staunen begleiten, ist »das Verhältnis zwischen Erkenntnis und dem Affekt [des Staunens, d. Verf.]« jeweils genau umgekehrt: Während das Staunen für Platon sowohl den Moment der innehaltenden Verwunderung über (noch) nicht verstehbare Denkund Wahrnehmungsformen als auch die abschließende, bewundernde Ideenschau markiert, beschreibt es bei Aristoteles das »intellektuelle Vermögen des Menschen,

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Für einen differenzierten Überblick über die Begriffsgenese vgl.: Jain; Trappe (1998): Staunen, Bewunderung, Verwunderung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Sp. 116-126. Matuschek, Stefan (1991): Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse. Tübingen. Ebd., S. 19. Martens (2013): Vom Staunen oder Die Rückkehr der Neugier. S. 48.

Jennifer Pavlik: ›Staunen‹ als literarästhetische Praxis

es ist das ›Nicht-Wissen‹, das nur dann etwas mit der Philosophie zu tun hat, wenn es als ›Noch-Nicht-Wissen‹ zu seiner Überwindung drängt.«8 Entscheidend an diesen Bestimmungen ist, dass Erkenntnis bei Platon zur Voraussetzung für das Staunen wird, während sie den Affekt bei Aristoteles beendet: »Thaumazein drängt auch bei Platon über sich hinaus, doch in entgegengesetzter Richtung zur äußersten Steigerung als Devotion des menschlichen Intellekts vor der reinen Offenbarung der Wahrheit.«9 Das Staunen, das im platonischen Sinne die Ideenschau begleitet, ist demnach kein Affekt, der im Moment der Erkenntnis als überwunden betrachtet werden kann – vielmehr ist die Ideenschau ein Moment des Staunens, der dem Menschen im Augenblick seiner temporären Einsicht auch seine begrenzte Rationalität erfahrbar werden lässt. Der Zustand des Staunens wird hier also nicht überwunden, sondern steht am Ende des Erkenntniswegs und wird so lange kultiviert, wie die Seele die Ideen schaut. Begrifflich lassen sich diese verschiedenen Facetten des Staunens anhand der Bezeichnungen Ver- bzw. Bewunderung unterscheiden: Während die zunächst einsetzende Verwunderung eher eine Phase der Irritation beschreibt, markiert die Bewunderung den Moment der Ideenschau. Wie Matuschek herausstellt, unterscheiden sich die beiden Bezeichnungen auch dadurch, dass das platonische Verständnis vom Objekt her gedacht wird, während das aristotelische vom Subjekt ausgeht: Der eine [Begriff; d. Verf.] steht für die Erhabenheit der Ideen, der andere für die zu beseitigende Unwissenheit der Menschen. Beidemal markiert der Affekt eine Insuffizienz des menschlichen Intellekts, deren Bewertungen jedoch konträr sind: Für Platon ist sie eine durch die Seinshierarchie begründete Notwendigkeit, für Aristoteles ein Mangel, dem abzuhelfen ist.10 Anders als bei Platon ist das Staunen für Aristoteles eher Mittel zum Zweck: Es unterbricht die routinierte Wahrnehmung und initiiert einen Erkenntnisgang, der im Zuge seiner Klärung dazu beiträgt, das Staunen aufzulösen. Zwar ist auch die staunende Verwunderung bei Platon ein Movens des Erkenntnisdrangs, sie wird aber, wie dargelegt, in eine höhere Form des Staunens überführt, die als eine Art Selbstzweck begriffen werden kann, der möglichst lange genossen werden soll. Mit Blick auf die Literaturdidaktik schlägt Juliane Köster vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Modi des Staunens vor, die beiden Varianten begrifflich klar zu trennen und »[i]m literaturdidaktischen Zusammenhang« den Begriff des

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Matuschek (1991): Über das Staunen. S. 23. Ebd. Ebd.

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Phänomene des (Nicht-)Verstehens

Staunens »für das platonische Konzept zu reservieren.«11 Das aristotelische Verständnis ließe sich in ihren Augen angemessener mit dem Begriff der »Irritation« fassen, den sie als »klein[e] Schwester des Staunens« bezeichnet.12 Beiden Begriffen sei gemein, dass sie einer »Differenzwahrnehmung bzw. einer Differenzerfahrung« erwachsen, »die kognitive und affektive Anteile« habe.13 Während der Irritation aber ein »wichtiger Platz im schulischen Literaturunterricht« zukomme, sei es um eine literaturdidaktische Praxis des Staunens schlechter bestellt, schließlich gehe es im Unterricht immer darum, »Verstehensprozesse voranzutreiben, vor allem dann, wenn sie ins Stocken geraten sind.«14 Das platonische Staunen als »beglückende[r] Empfang einer sich zeigenden, höheren Wahrheit«15 sprenge jedoch »die Möglichkeiten schulischen Literaturunterrichts«, da es sich dabei um eine »intrapersonale Angelegenheit« handele, die dem »Bereich des Unverfügbaren zuzurechnen ist und sich unterrichtlicher Vermittlung verweigert«.16 Dies habe das Staunen mit der Vermittlung ästhetischer Erfahrung gemein, die »unberechenbar und außerordentlich flüchtig«17 sei und daher einer »prekäre[n] Sache«18 gleiche, die sich der Überprüfbarkeit entziehe.19 »Überprüfbar und vermittelbar ist demgegenüber das problemlösende – normalisierende – Bearbeiten der Differenzerfahrung«,20 das zwar mit einer staunenden Irritation beginnen könne, diese aber zum Zweck des Erkenntnisfortschritts überwinde. Kösters Ausführungen über die didaktischen Potentiale des aristotelischen bzw. platonischen Staunens leuchten vor allem dann ein, wenn man sie vor dem Hintergrund eines Literaturunterrichts betrachtet, der auf die erfolgreiche Vermittlung von Kompetenzen und vor allem das Verstehen von literarästhetischen Zusammenhängen ausgerichtet ist. So geht sie davon aus, dass selbst bei der kleinen Schwester des Staunens, der Irritation, ein »Moment von Könnerschaft« vorausgesetzt werden müsse, das verhindere, dass die Fremdheit eines

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Köster, Juliane (2021): Ästhetische Erfahrung (ist mehr) als Aufruf zum Denken. In: Ricarda Freudenberg, Marie Lessing-Sattari (Hg.): Zur Rolle von Irritation und Staunen im Rahmen literaturdidaktischer Erfahrung. Theoretische Perspektiven, empiriebasierte Beobachtungen und praktische Implikationen. Frankfurt a.M., S. 23. Ebd. Ebd. Ebd., S. 24. Matuschek (1991): Über das Staunen. S. 23. Köster (2021): Ästhetische Erfahrung (ist mehr) als Aufruf zum Denken. S. 24f. Abraham, Ulf (2000): Das a/Andere W/wahrnehmen. Über den Beitrag von Literaturgebrauch und literarischem Lernen zur ästhetischen Bildung im Deutschunterricht. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Jg. 47, H. 1, S. 19. Köster (2021): Ästhetische Erfahrung (ist mehr) als Aufruf zum Denken. S. 25. Vgl. ebd., S. 26. Ebd.

Jennifer Pavlik: ›Staunen‹ als literarästhetische Praxis

Lerngegenstandes fremd bleibe und zu »Nicht-Verstehen« anstelle von Irritation führe.21 Auch wenn Köster an verschiedenen Stellen ihres Textes die Bedeutung des Staunens für den Deutschunterricht hervorhebt, zeigt sich mit Blick auf die Praktikabilität des Unterrichtens also eine deutliche Präferenz für das didaktische Potential der Irritation, die (zuweilen gepaart mit Momenten des Staunens) als Quelle von problemorientierten Fragestellungen dient, die es im Zuge des Unterrichtsgeschehens zu beantworten gilt. Irritationen und Differenzerlebnisse sollen Denkbewegungen initiieren, die zu höherer Erkenntnis führen; der Raum für eine Form des Staunens im Sinne einer selbstzweckhaften, ästhetischen Lernerfahrung wird dadurch denkbar klein.22 Wie oben angedeutet, lässt sich diese Präferenz mit dem Anspruch erklären, es gehe im Literaturunterricht darum, Schüler:innen zu einem Verständnis literarischer Texte zu führen. Im Folgenden wird diese Prämisse infrage gestellt, um eine Form des Staunens zu konturieren, die für den Literaturunterricht fruchtbar gemacht werden kann und die mehr bzw. anderes impliziert, als Fragehorizonte zu eröffnen, die es im Verlauf des Vermittlungsprozesses zu klären gilt.

II.

Literaturunterricht zwischen Verstehen und Nichtverstehen

Überblickt man das literaturdidaktische Feld vor dem Hintergrund der Frage, inwiefern ›Verstehen‹ als Zieldimension des Deutschunterrichts begriffen werden kann, wird schnell sichtbar, dass sich spätestens seit der Umstellung der Lehrpläne auf kompetenzorientierte Bildungsziele deutliche Lagerbildungen abgezeichnet haben. Auf der einen Seite findet sich, sehr schematisch zusammengefasst, das Gros jener Forscher:innen, die ihre Überlegungen an den Vorgaben der Kultusministerkonferenz ausrichten und darüber reflektieren, wie man Schüler:innen darin anleiten und unterstützen kann, eine Form literarästhetischen Verstehens zu kultivieren.23 Auf der anderen Seite finden sich einige Stimmen, die bezweifeln, dass

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Ebd., S. 27. Juliane Köster steht mit dieser Präferenz keineswegs allein da. Wie die Herausgeberinnen betonen, »konzentriert sich ein Großteil der empirischen Forschungsbeiträge auf das Irritationskonzept«, was möglicherweise »Ausdruck der […] Nicht-Vermittelbarkeit von Staunen im schulischen Zusammenhang« sei. Freudenberg, Ricarda; Lessing-Sattari, Marie (2021a): Einleitung. In: Dies.: Zur Rolle von Irritation und Staunen im Rahmen literaturdidaktischer Erfahrung, S. 10, FN 1. Vgl. beispielhaft unter anderem Rösch, Heidi (Hg.) (2010): Literarische Bildung im kompetenzorientierten Deutschunterricht. Freiburg i.Br. Frederking, Volker; Meier, Christel; Brüggemann, Jörn u.a. (2011): Literarästhetische Verstehenskompetenz – theoretische Modellierung und empirische Erforschung. In: Zeitschrift für Germanistik, Jg. 21, H. 1, S. 131-144. Freu-

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Phänomene des (Nicht-)Verstehens

ein auf Kompetenzerwerb und (empirischer) Überprüfung von Textverstehen angelegter Deutschunterricht seinen Gegenständen, den ästhetischen Medien, überhaupt gerecht werden kann.24 So sieht etwa Werner Wintersteiner den Versuch, »die gesamte Literaturdidaktik in die Sprache des Kompetenzparadigmas zu übersetzen, als generell fragwürdiges Unterfangen an«, da man riskiere, »das eigentlich Literarische der literarischen Bildung aus dem Blick zu verlieren.«25 Wintersteiner stellt damit die Frage nach dem »Umgan[g] mit dem Ästhetischen« vor dem Hintergrund eines zunehmend funktional verstandenen Literaturunterrichts, der von der »Dominanz des Inhaltlichen« bestimmt werde.26 In seinen Augen komme das Eigentliche der Literaturdidaktik dabei zu kurz: »Während die moralischen und politischen Ziele wechseln, bleiben die dahinter stehenden Vorstellungen von der Beziehung zwischen Literatur, Literaturtheorie und Literaturdidaktik relativ unverändert.«27 Literaturdidaktik und literarisches Lernen sind für ihn jedoch »paradoxe Unterfangen«, die sich nicht in Kompetenzrastern abbilden lassen: »Die Einmaligkeit literarischer Bildung liegt vielmehr in einem besonderen Weltzugang, der immer eine Irritation darstellt und leicht als Störung des Systems empfunden werden kann.«28 Diese Störungen – bzw. diese »Paradoxien«, wie Wintersteiner sie nennt – sind der Literaturdidaktik inhärent, weil sie die Rezeption ihrer Gegenstände begleiten. Literarisches Lernen gründe daher auf Widersprüchen und lebe vom bewussten Umgang mit ihnen.29

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denberg, Ricarda (2012): Zur Rolle des Vorwissens beim Verstehen literarischer Texte. Eine qualitativ-empirische Untersuchung. Wiesbaden. Leubner, Martin; Saupe, Anja (3 2017): Textverstehen im Literaturunterricht und Aufgaben. Baltmannsweiler. Schilcher, Anita; Pissarek, Markus (Hg.) (2018): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz: Ein Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage. Baltmannsweiler. Vgl. unter anderem Wintersteiner, Winter (2011): Alte Meister – Über die Paradoxien literarische Bildung. In: Didaktik Deutsch, Jg. 16, H. 30. Härle, Gerhard; Steinbrenner, Markus (Hg.) (3 2014): Kein endgültiges Wort. Die Wiederentdeckung des Gesprächs im Literaturunterricht. Unter Mitarb. von Johannes Mayer. Baltmannsweiler. Mitterer, Nicola (2016): Das Fremde in der Literatur. Zur Grundlegung einer responsiven Literaturdidaktik. Bielefeld. Baum (2019): Der Widerstand gegen Literatur. Dekonstruktive Lektüren zur Literaturdidaktik. Bielefeld. Nicht unerwähnt bleiben darf natürlich, dass zahlreiche Ansätze versuchen, Kompetenzorientierung und ästhetisches Lernen miteinander zu verbinden. Vgl. beispielhaft die Beiträge der folgenden Sammelbände: Winkler, Iris; Massanek, Nicole; Abraham, Ulf (Hg.) (2010): Poetisches Verstehen. Literaturdidaktische Positionen – empirische Forschung – Projekte aus dem Deutschunterricht. Baltmannsweiler. Rieckmann, Carola; Gahn, Jessica (Hg.) (2013): Poesie verstehen – Literatur unterrichten. Baltmannsweiler. Wintersteiner (2011): Alte Meister. In: Didaktik Deutsch. S. 10. Ebd., S. 12. Ebd. Ebd., S. 16. Vgl. ebd.

Jennifer Pavlik: ›Staunen‹ als literarästhetische Praxis

Noch deutlicher als Wintersteiner stellt Michael Baum die »Gelingensbedingungen«30 des Literaturunterrichts in Frage, den Anspruch also, am Ende einer Unterrichtseinheit stehe ein verstandener Text, indem er unter Rekurs auf die Ausführungen Paul de Mans vorschlägt,31 den Verstehensanspruch des Deutschunterrichts durch die Kultivierung einer produktiven Form des Nichtverstehens abzulösen: »Literatur sollte«, so hebt Baum in einer eigens paradoxen Formulierung hervor, »gelehrt werden, weil sie nicht gelehrt werden kann – wenigstens im Sinn einer Lehre, die auf verstehen und bewältigen hinausläuft. Im nicht LehrbarSein liegt die Würde der Literatur.«32 Um diese »Würde« zu bewahren, gelte es, die sprachlich-rhetorische Dimension von Literatur, die Ambivalenz ihrer Zeichenhaftigkeit, wahrzunehmen und die Widersprüche aufzudecken, die literarische Texte durchziehen. Dies sei möglich, indem sich die Lesenden in Form von close readings mit den sprachlichen Besonderheiten von Literatur beschäftigen und sich lesend auf sie einlassen, was bedeute, »in einem performativen Akt Sinn [zu] bilden, [zu] variieren, aus[zu]löschen. […] Im Lesen geht es stets um die Lücke, die entsteht, wenn ich mich reziprok (bewusst) auf mein Lesen beziehe«.33 Dabei gelte es, die inhärenten Widersprüche zwischen der grammatischen und der rhetorischen Dimension von Sprache aufzuspüren und wahrzunehmen, dass das »Versprechen der Grammatik, die Wörter und die Sachen in eine geregelte Beziehung zu setzen […], unerfüllt«34 bleibe. Dadurch werde einsehbar, dass literarischen Texten nur gewisses Wissen zu entnehmen sei: »Von der Literatur etwas zu verstehen, bedeutet, das Ungewisse zu bejahen.«35 Literaturunterricht könne daher »nur ein Unterricht im genauen Lesen«36 sein, der das Scheitern der Zusammenführung von Signifikat und Signifikant stets vor Augen habe: »Paul de Man hat daraus die einzig mögliche, weil paradoxe Konsequenz gezogen: lieber ›bei der Vermittlung von etwas

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Bredel, Ursula; Pieper, Irene (2015): Integrative Deutschdidaktik. Paderborn, S. 13. Auch wenn man aus literaturwissenschaftlicher Perspektive die Frage stellen kann, ob es sinnvoll ist, die ›alten‹ Theoriedebatten der 1980er Jahre erneut aufzuwärmen, könnte man mit Wintersteiner und Baum darauf verweisen, dass Grundsatzdebatten dieser Art im Rahmen literaturdidaktischer Diskurse bisher nicht intensiv genug geführt worden sind, was zu einem »erheblichen Theoriedefizit der Literaturdidaktik« geführt habe. Baum, Michael (2010): Die verdrängte Paradoxie oder Warum die Literaturdidaktik die Dekonstruktion vergaß. In: Ders.; Bönnighausen, Marion (Hg.): Kulturtheoretische Kontexte für die Literaturdidaktik. Baltmannsweiler, S. 120. Baum (2019): Der Widerstand gegen Literatur. S. 265. Ebd., S. 116f. Ebd., S. 122. Ebd. Ders. (2012): Für eine Theorie der Praxis. Zu Werner Wintersteiners Preisrede »Alte Meister – Über die Paradoxien literarischer Bildung« auf dem Symposium Deutschdidaktik 2010 (Didaktik Deutsch 20/2011). In: Didaktik Deutsch, Jg. 17, H. 32, S. 28.

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Phänomene des (Nicht-)Verstehens

Schiffbruch zu erleiden, das nicht vermittelt werden sollte, als etwas erfolgreich zu lehren, das nicht wahr ist.‹ (de Man 1987, S. 82).«37 Baum geht es in seinem literaturdidaktischen Ansatz nicht darum, Verstehen und Nichtverstehen als Gegensatzpaare, sondern als »äußere Marken eines Raumes« zu begreifen, »der in alle Richtungen (wiederholt) durchlaufen werden kann.«38 Dadurch werde es nicht zu einem »leeren Gegenphänomen des vollen Verstehens, sondern ereignet sich im Verstehen selbst«.39 Es bedeute daher nicht, nichts zu verstehen, sondern »Nichtverstehen in dem Sinne, dass das verstehende Zusammenbringen disparater Texteindrücke momentan nicht möglich ist, etwa wenn ein Leser aufmerksam wird für die asymmetrische Beziehung zwischen dem Titel des literarischen Textes und dem, was er umfassen soll, aber niemals kann: den Textkörper.«40 Bei allen Unterschieden, die hermeneutische und poststrukturalistische Lektüreverfahren auszeichnen, ergibt es folglich wenig Sinn, sie gegeneinander auszuspielen, wie schon in den Grundsatzdebatten zwischen Gadamer und Derrida deutlich geworden ist. Man denke nur an den inzwischen legendären Diskurs der beiden Philosophen, in dem diese die Grenzen ihrer Philosophien ausgelotet haben und Gadamer festgehalten hat: Jedes Lesen, das zu verstehen sucht, ist nur ein Schritt auf dem nie zu einem Ende führenden Wege. Wer diesen Weg geht, weiß, daß er mit seinem Text nie ›fertig wird‹; er nimmt den Stoß an. […] Man gibt sich auf, um sich zu finden. Ich glaube mich gar nicht so fern von Derrida, wenn ich unterstreiche, daß man nicht vorher weiß, als was man sich findet.41 Und Derrida entgegnet ihm in seinem nicht weniger legendären Nachruf in der FAZ: »Wie recht er hatte, damals und heute noch!«42

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Ebd., S. 29. An anderer Stelle hebt de Man das Potential des Nichtverstehens für literarische Rezeptionsprozesse noch deutlicher hervor, wenn er betont, dass »der Verlust an Bewußtsein« geradezu einen »Gewinn für das Ästhetische« bedeute. De Man, Paul (1988): Ästhetische Formalisierung: Kleists Über das Marionettentheater. In: Ders.: Allegorien des Lesens. Frankfurt a.M., S. 210. Baum, Michael (2 2013): Literarisches Verstehen und Nicht-Verstehen. Kulturtheorie und Literaturunterricht. In: Volker Frederking, Hans-Werner Huneke, Axel Krommer u.a. (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Literatur- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler, S. 105. Ebd. Ebd., S. 106. Gadamer, Hans Georg (1984): Und dennoch: Macht des guten Willens. In: Philippe Forget (Hg.): Text und Interpretation. München, S. 61. Derrida, Jacques (2002): Mein Cicerone Hans-Georg Gadamer. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23.2.2002.

Jennifer Pavlik: ›Staunen‹ als literarästhetische Praxis

Wie so oft helfen binäre Oppositionen zwar dabei, Ordnung zu stiften, sie bilden das Spektrum der (Denk-)Möglichkeiten aber nur in unterkomplexer Form ab. Gewinnbringender scheint es mit Blick auf die Frage nach der Bedeutung von Verstehen und Nichtverstehen für literarästhetische Lernprozesse zu sein, nach einem dritten Weg Ausschau zu halten. Dieser dritte Weg hält Potentiale für eine Praxis des Staunens bereit, die sich jenseits des Versuchs bewegt, das platonische oder das aristotelische Verständnis für den Deutschunterricht fruchtbar zu machen bzw. zu konstatieren, dass es nicht möglich sei, Schüler:innen eine Form des Staunens näher zu bringen.

III. Staunen als ästhetische Praxis zwischen Verstehen und Nichtverstehen Eine solche Perspektive hat Nicola Gess eröffnet, indem sie in ihrer Schrift Staunen. Eine Poetik ausgehend von der im 18. Jahrhundert aufkommenden philosophischen Ästhetik ein »neues Verständnis des Staunens«43 erkundet, durch das die Dichter ein möglichst breites Lesepublikum dazu anregen wollten, den »Umgang mit Fiktionalität«44 zu trainieren. Ihrer Argumentation zufolge verlagert sich der Diskurs rund um die Bedingungen und Möglichkeiten des Staunens in dieser Zeit aus dem Bereich der Naturphilosophie in den der ästhetischen Theorie, wodurch das Staunen als eine »für die schöne sinnliche Erkenntnis grundlegende Emotion« neu bestimmt wurde.45 Zentrale Fragen, die Gess in den Schriften von Baumgarten, Breitinger, Meier u.a. ausfindig macht, zielen darauf ab, zu ergründen, wie ein »Dichter Staunen beim Publikum erzeugen kann, welche Ziele er damit verfolgen soll, in welchem Verhältnis das Staunen zu einer sich zunehmend emanzipierenden Imaginationstätigkeit steht und wie sich das Staunen zu Illusions- und Immersionserfahrungen verhält.«46 Dadurch wurde das Staunen im 18. Jahrhundert »im Kontext einer Aufwertung, zugleich aber auch Kultivierung der Sinnlichkeit neu codiert als eine ästhetische Emotion, die für die Rezeption von Kunst sowie für die ästhetische Erfahrung und Wertschätzung generell wesentlich ist.«47 So gefasst, bewegt sich Staunen an der 43

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Gess, Nicola (2019): Staunen. Eine Poetik. Göttingen, S. 28. Mit Blick auf das literaturdidaktische Potential des Staunens ist diese veränderte Blickrichtung auch von besonderem Interesse, da es in den Abhandlungen der antiken Philosophen vorrangig um mathematische bzw. logische Erkenntnis und nicht um ästhetisches Erleben ging. Ebd., S. 29. Ebd., S. 33. Ebd., S. 30; Herv. i.O. Ebd., S. 33.

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»Scharnierstelle«48 zwischen rationaler und sinnlicher Erkenntnis und ermöglicht eine Verzahnung der menschlichen Vermögen, die insbesondere durch die Auseinandersetzung mit ästhetischen Formen eingeübt werden kann.49 Beispielhaft verweist sie auf Alexander G. Baumgarten, der die Kunst der Staunenserzeugung als »Ästhetische Thaumaturgie«50 bezeichnet, die dazu beitragen kann, dass die Rezipient:innen zu einer erweiterten Form sinnlich-rationaler Erkenntnis gelangen können, indem sie ihre Neugierde kultivieren. Gess zufolge wird der Begriff des Staunens von Baumgarten und seinen Zeitgenoss:innen für pädagogische Zwecke genutzt, indem es » [v]om Affekt des Forschers […] zum Affekt des Lernenden« wird, der »nicht mehr durch die Dinge selbst, sondern durch deren geschickte Präsentation ausgelöst [wird], die den Lernenden auf die epistemischen Objekte allererst aufmerksam macht.«51 Staunen wird so zum »Effekt einer (literarischen) Wissensrhetorik, die […] naturwissenschaftliche und moralische Wahrheiten so präsentiert, dass sie die Verwunderung und infolgedessen auch die explorierende Neugier und anhaltende Aufmerksamkeit des Rezipienten zu erwecken und zu kultivieren vermögen.«52 Entscheidend an diesen Denkbewegungen ist, dass es sich dabei um Erfahrungen handelt, die durch Phänomene ausgelöst werden, »die die Grenze des Gewöhnlichen in Richtung des Unerwarteten, des Außergewöhnlichen oder des Unmöglichen überschreiten« und daher durch die »Dissonanz von sinnlicher Wahrnehmung und rationaler Einsicht« geprägt sind.53 Als Grenzphänomen »zwischen

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Ebd., S. 39. Auch wenn der Grundgedanke, dass ästhetische Anschauungsformen dazu beitragen können, die menschlichen Vermögen zu harmonisieren, nicht neu ist, ist Gess’ Argumentation erhellend, da sie mit dem Staunen diejenige Emotion genauer untersucht, die die Voraussetzung von ästhetischen Wahrnehmungsformen ist. Man kann insofern die These aufstellen, dass das Staunen jene Haltung ist, die erlernt werden muss, um das Schöne, das Erhabene, das Neue und/oder das Wunderbare in ihren jeweiligen ästhetischen Dimensionen wahrnehmen zu können. Gess geht zwar in Ansätzen auf die Unterscheidung dieser »[ä]sthetische[n] Kategorien des Staunens« (vgl. das gleichlautende Kapitel ebd., S. 127ff.) ein – eine Differenzierung steht aber gerade mit Blick auf ihr didaktisches Potential noch aus und verspricht auch eine Antwort auf die Frage nach den Realisierungsmöglichkeiten von staunenden Momenten im Deutschunterricht, da die Komplexität des Staunens je nach Kategorie sehr unterschiedlich auszufallen scheint. So könnte eine Form des Staunens über Neues bzw. Wunderbares wesentlich intuitiver verlaufen als ein Staunen über das Schöne bzw. Erhabene. »Das Einwirken von Neuheit, durch diese von Verwunderung, durch diese von Neugier und durch diese von Aufmerksamkeit mögen wir […] die Ästhetische Thaumaturgie nennen.« Baumgarten, Alexander G. (2007): Ästhetik. Bd. 2. Hamburg, S. 823; Herv. i.O. Gess (2019): Staunen. S. 49. Ebd. Ebd., S. 15.

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Sensation und Kognition, Immersion und Distanzierung, Überwältigung und Neugier, Nicht-Wissen und Wissen«54 zeichnet sich das Staunen durch »das perpetuierte Scheitern der sinnlichen Erkenntnis aus«,55 die nicht zu klarer Einsicht führt, dafür aber die Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen trainiert.56 Dieses Training wird von Gess als eine Form »ethische[r] Praxis« beschrieben, da sie dazu verhelfen kann, die »abtötende Gewohnheit und die verkümmerte Sinnlichkeit«57 zu reflektieren. Staunen steht im ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts ihr zufolge ganz im Zeichen der »Lebensbeförderung«,58 da es zum einen die sinnliche Erkenntnis befeuern soll, zum anderen aber auch als »Kur gegen die Langeweile« gelten kann, die – wie Gess unter Rekurs auf Burke deutlich macht – »die eigentliche Gefahr für die Gesundheit darstelle«59 : »Staunen bewahrt die Sinne vor der Abstumpfung und garantiert damit unter anderem die Möglichkeit einer sinnlichen Erkenntnis; es trainiert die Nerven und hält als gemischtes Gefühl sowohl das Begehrungs- als auch das Erkenntnisvermögen in ständiger Bewegung«.60 Es zielt daher nicht nur auf die kurzfristige Irritation zugunsten eines Erkenntnisgewinns, sondern soll zur »Herausbildung einer entsprechenden Geisteshaltung«61 beitragen, die auf die »Eröffnung eines Möglichkeitsraums« ausgerichtet ist, in dem das Staunen als »Motor der Einbildungskraft« fungieren kann,62 durch den »bisherige Überzeugungen ins Wanken geraten«63 können. Die Rezeption literarischer Texte ist für die Kultivierung dieser staunenden Geisteshaltung von besonderer Bedeutung, da diese unsere routinierte Wahrnehmung irritieren und Möglichkeitsräume eröffnen, die nicht eindeutig mit Wissen gefüllt werden können. Andersherum ist eine staunende Betrachtungsweise aber auch die Voraussetzung dafür, diese Möglichkeitsräume überhaupt erst einmal wahrzunehmen. Die Beschreibung des reziproken Verhältnisses von Staunen und ästhetischen Gegenständen lenkt den Blick auf die Frage nach den Bedingungen des Staunens, 54 55 56

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Ebd. Ebd., S. 72. An dieser und an vielen weiteren Stellen klingen deutliche Parallelen zwischen dem Affekt des Staunens und der Wahrnehmung des Erhabenen an. Auch wenn Gess betont, dass das Staunen sowohl durch die Betrachtung des Schönen/Erhabenen als auch durch die Wahrnehmung des Neuen wie des Wunderbaren ausgelöst werden könne, scheint eine Differenzierung dieser Kategorien mit Blick auf die Eigenschaften und Potentiale der verschiedenen Formen des Staunens sinnvoll zu sein. Leider sprengt eine solche Differenzierung den Rahmen dieses Beitrags. Ebd., S. 55 Ebd., S. 54. Ebd., S. 58. Ebd., S. 62; Herv. i.O. Ebd., S. 81. Ebd., S. 16. Ebd., S. 15.

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die man als mindestens zweifache beschreiben kann. Auf der einen Seite braucht es Gegenstände der Wahrnehmung, die die Betrachtenden dazu einladen, ins Staunen zu geraten, und auf der anderen Seite bedarf es einer Betrachtungsweise, die einer staunenden Anschauung fähig ist. Gess betont daher zu Recht, dass es sich beim Staunen nicht um ein »Reiz-Reaktions-Schem[a]« handele – vielmehr lasse es sich als eine »bestimmte Haltung […], die zu den Dingen einzunehmen ist«, beschreiben, da es darum gehe, die Gegenstände der Wahrnehmung »erstaunlich [zu] machen«.64 In einem ganz ähnlichen Sinne hat auch Kasper H. Spinner vor dem Hintergrund des literaturdidaktischen Diskurses darauf hingewiesen, dass »Staunen heißt, der Erfahrung von Welt gegenüber offen zu sein, neugierig zu sein und eigene Empfindungen zuzulassen.«65 Schließlich handele es sich beim Staunen um eine Betrachtungsweise, die »nicht von einer Handlungsintention, von Zweckrationalität bestimmt ist«, sondern ein »Verhältnis zur Welt« ausdrückt, das »ganz dem Erscheinen des Wahrgenommenen zugewandt ist und die dem Wahrnehmenden ohne Gedanken an ein Wozu wertvoll ist.«66

IV.

Potentiale und Grenzen von Momenten des Staunens im Literaturunterricht

Sowohl Spinner als auch Gess verstehen unter Staunen eine Wahrnehmungspraxis, die darauf abzielt, einen anderen, einen ästhetischen Blick zu kultivieren. Nun könnte man unter anderem mit Ulf Abraham einwenden, dass es zwar von besonderer Bedeutung ist, ästhetische Betrachtungsweisen im Literaturunterricht anzubahnen, dass diese aber zugleich »unberechenbar und außerordentlich flüchtig« und damit ein »instabiles Element des Lernens« sind.67 Wenn Abraham dennoch dafür plädiert, dieses andere Wahrnehmen einzuüben, dann bewegt er sich mit seinen Reflexionen über die Möglichkeiten der Kultivierung von ästhetischen Anschauungsformen nicht weit entfernt von den Hinweisen von Spinner und Gess, die beide versuchen, eine Antwort darauf zu geben, wie man diese Formen der Betrachtungsweise ausbilden bzw. vermitteln kann. 64 65

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Gess (2021): Stören und Staunen. In: Freudenberg; Lessing-Sattari: Zur Rolle von Irritation und Staunen im Rahmen literaturdidaktischer Erfahrung, S. 62; Herv. i.O. Spinner, Kasper H. (2005): Staunen als ästhetische Kategorie literarischer Sozialisation. In: Gerhard Härle, Gina Weinkauff (Hg.): Am Anfang war das Staunen. Wirklichkeitsentwürfe in der Kinder- und Jugendliteratur. Baltmannsweiler, S. 18. Ebd. Abraham, Ulf (2000): Das a/Andere W/wahrnehmen. Über den Beitrag von Literaturgebrauch und literarischem Lernen zur ästhetischen Bildung (nicht nur) im Deutschunterricht. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Jg. 47, H. 1, S. 19.

Jennifer Pavlik: ›Staunen‹ als literarästhetische Praxis

Während Abraham auf die Irritationsbereitschaft von Schüler:innen als »Gradmesser ästhetischer Erfahrung im Literaturunterricht«68 verweist, zielen Spinner und Gess auf unterschiedliche Formen des Staunens ab. So hebt Spinner die Zweckfreiheit des Staunens hervor und stellt es damit eindeutig als ästhetische Betrachtungsweise heraus; den Ansatz von Gess könnte man dagegen als doppeltcodiert beschreiben. Staunen enthält ihr zufolge sowohl rationale als auch sinnliche Anteile und zielt damit sowohl auf epistemische als auch auf ästhetische (Lern-)Erfahrungen ab. Sie beschreibt das Staunen als »kognitive und imaginative Aktivität […], die sich an der Bestimmung und der Bedeutung eines ästhetischen Objekts abarbeitet und sich unter anderem durch eine (selbst-)reflexive Distanznahme auszeichnet.«69 Durch diese Doppelbödigkeit des Staunens, das nicht nur zwischen Kognition und Emotion, sondern auch zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Verstehen und Nichtverstehen changiert, wird es zu einem Wahrnehmungsvermögen, das zum Teil aufgelöst, zum Teil aber auch wiederholt oder gar auf Dauer gestellt werden kann. Zu fragen bleibt, wie Irritationen und Momente des Staunens im Literaturunterricht angebahnt und kultiviert werden können. Mit Abraham könnte man dieser Frage begegnen, indem man auf die besondere Form der ›Wissensvermittlung‹ von Literatur verweist, der zufolge Literatur nicht erklärt, sondern ist.70 Dabei besteht ein Teil ihres als implizit zu verstehenden ›Wissens‹ darin, dass sie aufseiten der Rezipierenden eine »Irritation des Automatisierten«71 evozieren kann, die Abraham als Alteritätserfahrungen beschreibt.72 Literarische Texte stören die mentalen Modelle der Lesenden,73 indem sie sie mit sprachlichen, strukturellen und inhaltlichen Formen von Alterität konfrontieren.74 Er versteht darunter unter anderem nicht geläufige, von der Alltagssprache abweichende Sprachebenen, Sprachbilder oder einen ungewohnten Wortschatz; Bauformen z.B. des Erzählens bzw. lyrischen Sprechens, Formen der Intertextualität und Alltagsnähe bzw. -ferne des Wirklichkeitsentwurfs, historische, geographische oder ethnische Distanz.75 Die bewuss-

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Ebd., S. 17. Gess (2019): Staunen. S. 150; Herv. i.O. Vgl. Abraham (2000): Das a/Andere W/wahrnehmen. S. 16. Ebd. Vgl. ebd., S. 16f. Vgl. zur Kategorie Störung vor allem die Arbeiten von: Gansel, Carsten; Ächtler, Norman (Hg.) (2013): Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin u.a. Gansel, Carsten (2014): Zur ›Kategorie Störung‹ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Jg. 61, H. 4, S. 315-332. Vgl. Abraham (2000): Das a/Andere W/wahrnehmen. S. 18. Vgl. ebd. In besonders differenzierter Form hat sich Nicola Mitterer mit der Alterität von Literatur für didaktische Zusammenhänge auseinandergesetzt. Vgl. Mitterer (2016): Das Fremde in der Literatur.

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te Reflexion dieser Irritationsmomente literarischer Texte, ihrer Alterität, ist für Abraham die Voraussetzung einer Form des Wahrnehmens, die (zunächst?) ohne Begriffe mithilfe der Imagination angeregt werden soll. Unter Rekurs auf Christian Beck76 hebt er hervor, dass die Lernenden durch die bewusste Betrachtung von ›störenden‹ Momenten während des Rezeptionsprozesses zu »Wahrnehmungs-Experten«77 werden können, indem sie dafür sensibilisiert werden (bzw. eher: indem sie sich dafür sensibilisieren), die ästhetischen Dimensionen literarischer Texte genau in den Blick zu nehmen und sich von ihnen irritieren zu lassen. Gess geht noch einen Schritt weiter, wenn sie zu bedenken gibt, dass die Literaturdidaktik gut beraten [ist], sowohl auf ein naives Staunen über ›störende Literatur‹ wie auf Staunen als eine ästhetische Praxis zu setzen, die im Umgang mit literarischen Texten ebenso erlernt wie kritisch hinterfragt werden kann und die im besten Fall auch selbst immer wieder für Störungen des Common Sense sorgt.78 Staunen als ästhetische Praxis impliziert folglich, nicht nur die verschiedenen Alteritätsformen literarischer Texte wahrzunehmen, die es aufzulösen gilt, sondern sie als möglicherweise nicht rational verstehbare Wahrnehmungsformen zu betrachten. Wie Abraham identifiziert auch Gess literarische Irritationspotentiale als Momente, die das Staunen anregen können, indem sie, wie oben bereits ausgeführt, zentrale poetologische Strategien reflektiert, die im 18. Jahrhundert etabliert worden sind, und die sie unter Rückgriff auf Viktor Sklovskij als Verfremdungseffekte zu beschreiben sucht. Diese können unter anderem durch die literarische Darstellung einer ungewöhnlichen Beschreibungs- oder Erzählperspektive, durch Metaphern, Symbole und Paradoxien, durch narrative Anachronismen, eine ungewöhnliche Sprachform bzw. Stilebene oder durch literarisch inszenierte Überraschungseffekte erzielt werden, um nur wenige Beispiele zu nennen.79 Entscheidend für Gess’ Verständnis des Staunens sind zwei Aspekte: Auf der einen Seite sind literarische Verfahren ihr zufolge »nicht per se staunenserregend […], sondern immer nur relativ zu ihrem jeweiligen Erwartungshorizont«.80 Und auf der anderen Seite ist die Irritationsbereitschaft und der Anspruch zu verstehen ebenso Teil jener Haltung, die sie als Staunen bezeichnet, wie auch die Of-

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Beck, Christian (1993): Ästhetisierung des Denkens. Zur Postmoderne-Rezeption der Pädagogik. Amerikanische, deutsche, französische Aspekte. Bad Heilbrunn. Abraham (2000): Das a/Andere W/wahrnehmen. S. 20. Gess: Stören und Staunen. S. 69; Herv. i.O. Vgl. für eine ausführlichere Übersicht über Verfahren der Verfremdung: Gess: Staunen. S. 125146. Ebd., S. 125; Herv. i.O.

Jennifer Pavlik: ›Staunen‹ als literarästhetische Praxis

fenheit, die Fremdheit literarästhetischer Wahrnehmung auf sich wirken zu lassen. Im Staunen wird »die Störung im Genuss/in der Kontemplation gewissermaßen auf Dauer gestellt« – gleichzeitig wird die »gewonnen[e] Erkenntnis [jedoch] rasch wieder beendet bzw. in ein neues Wissen überführt«.81 Die »kleine Schwester des Staunens«, die Irritationsfähigkeit, kann daher nicht so distinkt von einer anhaltenden, ästhetischen Form des Staunens getrennt werden82 – vielmehr ist sie Teil des Staunens selber. Ob bzw. inwiefern Irritationsmomente zu Momenten des Staunens werden können, hängt zum einen von dem Verfremdungspotential des ästhetischen Gegenstandes und zum anderen von der Fähigkeit der Lernenden ab, eine staunende Haltung einzunehmen. Wenn Spinner, der auch die Bedeutung der Verfremdung für das Staunen herausgestellt hat,83 hervorhebt, dass man Kindern »Staunen als ästhetische Erfahrung […] nicht beibringen«, aber sehr wohl »unterstützend zu seinen Voraussetzungen beitragen«84 kann, dann verweist er auf ein Problem, das schon mit Blick auf den von Gess angeführten ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts konstatiert wurde und das die Frage nach den Bildungsvoraussetzungen von ästhetischer Wahrnehmung stellt.85 Mit Gess könnte man versuchen, dieser Skepsis, die sich im Rahmen der literaturdidaktischen Debatte rund um die Möglichkeiten des Staunens zeigt, zu begegnen, indem man von verschiedenen Nuancen des Staunens spricht, die aufseiten der Lernenden ausgebildet werden können und die sich von primär kognitiv-rationalen bis hin zu primär sensuell-ästhetischen Momenten des Staunens erstrecken. Das Handwerk für beide Formen – die Wahrnehmung von Verfremdungseffekten in literarästhetischen Medien – kann als eine Zieldimension des Literaturunterrichts beschrieben werden, die auf das Staunen (verstanden als sinnlich-intelligible Wahrnehmungs- und Denkhaltung, die zwischen Verstehen und Nichtverstehen changiert) vorbereitet. In welcher Form die Lernenden über die wahrgenommenen Eigenheiten von literarischen Medien, über ihre Alterität, staunen können, scheint in der Tat eine individuelle Angelegenheit zu sein, die nicht zuletzt davon abhängt, inwiefern sich auch die Lehrenden auf eine staunende Begegnung mit Literatur einlassen können. 81 82

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Gess: Stören und Staunen. S. 68. Ricarda Freudenberg und Marie Lessing-Sattari betonen in diesem Sinne, dass Momente der Irritation und des Staunens durchaus Hand in Hand gehen und sich gegenseitig befruchten, weshalb »allzu fixe Dichotomisierungen« in ihren Augen »unzulässig erscheinen«. Freudenberg; Lessing-Sattari (2021a): Einleitung. In: Zur Rolle von Irritation und Staunen im Rahmen literaturdidaktischer Erfahrung. S. 8. Vgl. Spinner (2005): Staunen als ästhetische Kategorie literarischer Sozialisation. S. 21f. Ebd., S. 22. Explizit gemacht hat dieses Problem mit Blick auf die kantische Ästhetik Bourdieu. Vgl. Bourdieu, Pierre (2003): Die feinen Unterschiede. Frankfurt a.M.

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Wichtig erscheint jedenfalls ein Umdenken mit Blick auf den Verstehensanspruch von literarischem Lernen: Da es zum Prozess des Staunens gehört, »auch aushalten zu können, dass bei einem Text etwas rätselhaft bleiben kann«,86 ist es für einen Literaturunterricht, der den Schüler:innen Räume zum Staunen eröffnen will, wichtig, zumindest temporär von dem Anspruch, am Ende der Unterrichtsstunde etwas vermitteln haben zu müssen, abzurücken und Formen des Nichtverstehens zu kultivieren. Die daraus resultierende Rätselhaftigkeit von ästhetischen Medien, die Formen des Nichtverstehens impliziert, kann dabei durchaus auch mit »Gefühlen der Verunsicherung, der Unlust und sogar der Bedrohung«87 einhergehen – Staunen ist keine »Wellness-Emotion«.88 Es kann sogar durch die mit ihm verbundenen »nie vollständig erfüllenden Verstehensbemühungen […] eine Negativität an[nehmen]«89 und als anstrengend empfunden werden. Eine Möglichkeit, um diese »Negativität« aufzufangen, könnte darin bestehen, die Lernenden – vor allem wenn sie noch unerfahrene ›Stauner:innen‹ sind – nicht mit der Rätselhaftigkeit von Literatur allein zu lassen, sondern Staunen als gemeinsames Erlebnis im Rahmen von literarischen Unterrichtsgesprächen erfahrbar zu machen.90 So hebt etwa Gerhard Härle hervor, dass die »Prozessstruktur des Gesprächs […] die ständigen dialektischen Beziehungsmöglichkeiten« zwischen ästhetischen Werken und Leser:innen in besonderer Weise begünstige, »wodurch der Text in seiner ›Vielstimmigkeit‹ sein Echo in der Gruppe findet.«91 Indem auf diese Weise eine »spezifische Resonanz zwischen Text und Rezipient«92 hergestellt wird, üben sich die Schüler:innen nicht nur darin, sich durch verschiedene Anläufe dem »prin-

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Spinner (2005): Staunen als ästhetische Kategorie literarischer Sozialisation. S. 23. Gess (2019): Staunen. S. 151. Ebd., S. 158. Ebd. Zum Prinzip des Literarischen Unterrichtsgesprächs vgl. vor allem: Härle; Steinbrenner (2004): Kein endgültiges Wort. Vgl. auch die Seite des Heidelberger Forschungsprojektes: https://www.ph-heidelberg.de/haerle/forschungsprojekte/das-literarische-unter richtsgespraech.html [Stand: 01.01.2022). Härle, Gerhard (2000): »jetzt kann ich grad ganz viel mit anfangen und auf der anderen Seite auch GAR nichts«. Fünf Versuche über das Verstehen des Nicht-Verstehens im literarischen Unterrichtsgespräch. In: Felix Heizmann, Johannes Mayer, Marcus Steinbrenner (Hg.): Das literarische Unterrichtsgespräch. Didaktische Reflexionen und empirische Rekonstruktionen. Baltmannsweiler, S. 64. Steinbrenner, Marcus; Wiprächtiger-Geppert, Maja (2010): Verstehen und Nicht-Verstehen im Gespräch. Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs. In: leseforum.ch 3/2010, S. 4. URL: https://www.leseforum.ch/sysModules/obxLeseforum/Artikel/434/ verstehen-und-nicht-verstehen-im-gespraech.pdf [Stand: 01.01.2022]. Erstveröffentlichung in: Literatur im Unterricht, Jg. 7, H. 3.

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zipiell sprachlich[en], individuell[en] und letztlich unabschließbar[en]«93 Prozess literarischen Verstehens anzunähern: Im Verlauf eines solchen Prozesses machen die Gesprächsteilnehmer auch Erfahrungen des Nicht-Verstehens, der Irritation und Fremdheit bei sich selbst und Anderen. Diese zu artikulieren, auszuhalten und als einen Teil des Verstehensprozesses zu betrachten, sind ebenfalls Fähigkeiten und Einstellungen, die im literarischen Gespräch erworben werden können.94 Bemerkenswerterweise sprechen auch Marcus Steinbrenner und Maja Wiprächtiger-Geppert von einer »Haltung« (und nicht von einer »spezifische[n] Technik«), die die Schüler:innen (und Lehrer:innen) gegenüber literarischen Texten sowie ihren Gesprächspartner:innen ausbilden können und die letztlich auf die Etablierung von »Ambiguitätstoleranz« ausgerichtet ist.95 Das Literarische Unterrichtsgespräch bietet daher einen vielversprechenden Rahmen, um Schüler:innen mit Formen des Staunens vertraut zu machen, die auf die Irritation ihrer Anschauungsformen sowie auf die nachhaltige Veränderung ihrer Wahrnehmungsgewohnheiten abzielen. Die Produktivität eines solchen Unterrichtsgeschehens, das sich von dem Anspruch löst, Momente der Irritation und des Staunens möglichst schnell aufzulösen, lässt sich auch in den Reflexionen über den bereits angeführten ununterbrochene[n] Dialog wiederfinden, den Gadamer und Derrida einst geführt haben und in dem man bei genauer Betrachtung auch Momente des Staunens ausfindig machen kann: Unsere Diskussion konnte wohl nur mit einer merkwürdigen Unterbrechung beginnen, die nicht etwa ein Mißverständnis war, sondern eine Art Sprachlosigkeit, eine Hemmung des noch Unentschiedenen. […] Da stand ich, mit offenem Mund, sprachlos. Ich sprach kaum mit ihm, und was ich damals sagte, richtete sich nur indirekt an ihn. Und doch war ich mir sicher, daß wir von nun an auf eine merkwürdige, aber innige Weise etwas teilen würden. Vielleicht eine Teilhaberschaft. Damals schon hatte ich eine Vorahnung: Was Gadamer wahrscheinlich einen ›inneren Dialog‹ genannt hätte, sollte in jedem von uns weitergeführt werden, manchmal wortlos, unmittelbar in uns oder indirekt.96 Momente des Staunens zur Sprache zu bringen, sich über die Erfahrungen des individuellen Staunens auszutauschen und sie nicht nur allein ›auszuhalten‹ – hierfür könnte der Literaturunterricht Dialogangebote eröffnen, wenn er sich zumin-

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Ebd., S. 2. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Derrida, Jacques; Gadamer, Hans Georg (2004): Der ununterbrochene Dialog. Frankfurt a.M.

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dest temporär von der Prämisse des Verstehens lösen und die Potentiale von Momenten des Nichtverstehens stärker berücksichtigen würde. Dadurch könnte sich für den Literaturunterricht ein ›dritter Weg‹ eröffnen, demzufolge der Affekt des Staunens weder eine platonische Ideenschau, noch eine aristotelisch verstandene Irritationsbereitschaft bezeichnet, sondern eine Haltung, die Schüler:innen gegenüber literarästhetischen Werken ausbilden können und die zwischen Verstehen und Nichtverstehen changiert.

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Matuschek, Stefan (1991): Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse. Tübingen 1991. Mitterer, Nicola (2016): Das Fremde in der Literatur. Zur Grundlegung einer responsiven Literaturdidaktik. Bielefeld. Rieckmann, Carola; Gahn, Jessica (Hg.) (2013): Poesie verstehen – Literatur unterrichten. Baltmannsweiler. Rösch, Heidi (Hg.) (2010): Literarische Bildung im kompetenzorientierten Deutschunterricht. Freiburg i.Br. Schilcher, Anita; Pissarek, Markus (Hg.) (2018): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz: Ein Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage. Baltmannsweiler. Spinner, Kasper H. (2005): Staunen als ästhetische Kategorie literarischer Sozialisation. In: Ders., Gina Weinkauff (Hg.): Am Anfang war das Staunen. Wirklichkeitsentwürfe in der Kinder- und Jugendliteratur. Baltmannsweiler, S. 17-24. Steinbrenner, Marcus; Wiprächtiger-Geppert, Maja (2010): Verstehen und NichtVerstehen im Gespräch. Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs. In: leseforum.ch 3/2010, S. 1-15. URL: https://www.leseforum .ch/sysModules/obxLeseforum/Artikel/434/verstehen-und-nicht-verstehen-im -gespraech.pdf [Stand: 01.01.2022). Winkler, Iris; Massanek, Nicole; Abraham, Ulf (Hg.) (2010): Poetisches Verstehen. Literaturdidaktische Positionen – empirische Forschung – Projekte aus dem Deutschunterricht. Baltmannsweiler. Wintersteiner, Werner (2011): Alte Meister – Über die Paradoxien literarischer Bildung. Didaktik Deutsch, Jg. 16, H. 30, S. 5-21.

Literatur unterrichten ist Anfangen lehren Über das notwendige Spannungsverhältnis zwischen Verstehen und Nichtverstehen im Rahmen ästhetischer Bildung Nicola Mitterer Abstract Literarisches Lernen ist ein facettenreicher Prozess, in dessen Verlauf sich ästhetische Wahrnehmungsweisen mit einer analytischen Herangehensweise an die Texte verschränken, meist ohne dass die Unterschiede zwischen diesen beiden Arten der Annäherung transparent gemacht werden. Der folgende Beitrag geht der Frage nach, welche Dimensionen eine solche Textbegegnung einschließt und inwiefern sich diese widersprüchlich zueinander verhalten. Dabei werden hauptsächlich die ästhetischen Kategorien in den Blick genommen und auch einige Vorschläge für eine begriffliche Erweiterung dieses Feldes vorgenommen. Zunächst stellt sich dabei die Frage nach der Sinnhaftigkeit bzw. Notwendigkeit, diese spezifisch ästhetischen Kategorien in den Unterricht zu integrieren. Im Rahmen dieses Beitrags wird die These vertreten, dass damit eine Befähigung zu einem Neu-Denken und Anfangen einhergehen kann, die zu unterstützen sich lohnt.

I.

Kein Schlüssel zum Schloss. Über eine gelingende Lektüreerfahrung präzisen Nichtverstehens

Als ich kürzlich den Studierenden eines Seminars den Anfang von Franz Kafkas Romanfragment Das Schloss1 vorgelesen und danach den Beginn des gleichnamigen Films von Michael Haneke gezeigt habe, zog das ein ungewohnt lebhaftes Gespräch 1

Wie Malte Kleinwort und Joseph Vogl in ihrem Kafka-Sammelband festgehalten haben, wurde in dieser kritischen Ausgabe »aufgrund einer fragwürdigen Vorentscheidung […] jedes ss aus Kafkas Handschrift in ein ß umgewandelt […], wenn es nach den zu Beginn des Erscheinens dieser Kritischen Ausgabe gültigen Rechtschreibregeln geboten war«. Kleinwort, Malte; Vogl, Joseph (Hg.): »Schloss«-Topographien. Lektüren zu Kafkas Romanfragment. Bielefeld, S. 7; Herv. i.O. In Kafkas Handschriften ist hingegen mit Ausnahme seiner in Kurrentschrift niedergeschriebenen Texte kein ß zu finden, weshalb ich auch hier die Schreibung mit ss bevorzuge.

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nach sich. Während Unterhaltungen über literarische Texte erfahrungsgemäß oft schleppend beginnen und dann in einer interessierten Gruppe langsam und von zahlreichen Phasen des Verstummens durchsetzt in Gang kommen, war es in diesem Fall sogar schwierig, die vielen Wortmeldungen im virtuellen Raum zu organisieren2 . Der Grund dafür lässt sich vielleicht in jenem Prinzip finden, das Terry Eagleton als den Anfängen von Texten innewohnend beschreibt: »Der Anfang eines Gedichts oder eines Romans scheint aus einer Art Schweigen zu entspringen, da er eine fiktionale Welt erschafft, die bis dahin noch nicht existierte. Vielleicht kommen wir auf diesem Weg dem Akt der göttlichen Schöpfung am nächsten«.3 Dieser Schöpfungsakt, der die uns umgebende Realität zeitweilig verschwinden und eine andere, in Konstruktion befindliche und von unaufhebbarer Fremdheit geprägte Welt in den Mittelpunkt treten lässt, hat hier seine volle Wirkung entfaltet und die gesamte Gruppe ergriffen.4 Die Studierenden meinten im Anschluss an unsere gemeinsame Lektüre, dass sie sich selbst und ihre Fähigkeiten im Umgang mit literarischen Texten nicht wiedererkannt hätten. Noch selten wäre ihnen das (Nicht-)Verstehen schwieriger Literatur so leichtgefallen. Dabei offeriert der Roman auf den ersten Blick wenig klar erkennbare lebensweltliche Bezüge. Eher ließe sich behaupten, dass die Differenz in dem Fall absolut sei, weil der Roman nicht darum bemüht ist, Realität zu suggerieren, und am existentiellen Charakter dessen, was hier erzählt wird, keinen Zweifel lässt. In all den Jahren der Arbeit mit und an Kafka-Texten ist es mir somit noch nie passiert, dass Studierende gedacht hätten, es ginge hier um die Schilderung der Nöte eines Landvermessers. Dennoch scheint ein Nachvollziehen sowohl auf der Ebene der histoire als auch auf der Ebene des discours leichter zu sein als bei anderen Texten. Ich nehme an, dass man diesen Umstand damit erklären kann, dass die Leser_innen (eher) in der Lage sind zu erkennen, weil sie nicht mit der Last des Wiedererkennens beladen sind. Davon abgesehen vermögen es Kafka und Haneke auf eineinhalb Druckseiten und in rund zwei Minuten Filmspielzeit eine ganze Welt in nuce zu entdecken zu geben. Wenn es gelingt, die Rezipient_innen das erahnen zu lassen, betrachten sie jedes

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Die hier erwähnte Lehrveranstaltung wurde im Sommersemester 2021 an der Universität Klagenfurt abgehalten und fiel somit in jenen Zeitraum, in dem die Hochschullehre in Österreich pandemiebedingt fast ausschließlich im Rahmen von Onlineformaten stattfinden konnte. Eagleton, Terry (2016): Literatur lesen. Eine Einladung. Aus dem Engl. übers. von Holger Hanowell. Stuttgart, S. 17. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass ich den Begriff der Schöpfung hier nicht im Sinne eines elitären Hervorbringens verwenden, sondern diesem ein inklusives Konzept zugrunde legen möchte. Knapp gefasst bezieht sich dieser auf den Menschen als den homo narrans, für den das Erzählen und Interpretieren von Geschichten eine anthropologische Konstante darstellt und dem daher die Fähigkeit eignet, im Rahmen des Erzählens und Verstehens immer wieder neue Anfänge zu setzen.

Nicola Mitterer: Literatur unterrichten ist Anfangen lehren

Detail als höchst bedeutsam und es scheint an sich der genauen Wahrnehmung wert, nicht in Hinblick auf eine erste oder gar abschließende Interpretation.5 Nun begegnen diese präzise Wahrnehmungsfähigkeit und das Gefühl, in Hinblick auf ein Verstehen-Können fortlaufend an Grenzen zu stoßen, im Zuge der Lektüre von Kafkas Schloss einer Erzählung, die eine ebensolche Erfahrung thematisiert. Das Romanfragment kreist geradezu obsessiv um die Frage, ob Verstehen möglich ist und ob es auf dieser Welt denn überhaupt ein anderes Begehren geben kann als dieses – von vorneherein zum Scheitern verurteilte – Verstehen. Die gemeinsame Lektüre hat uns den Eindruck vermittelt, dass die Spur eines solchen BegreifenWollens bereits im ersten Absatz des Romans zu finden ist.

Ankunft Es war spät abend als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schlossberg war nichts zu sehn, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloss an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstrasse zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor.6 Die Überschrift wecke meinen Studierenden zufolge positive Erwartungen an ein Ankommen, etwa im Sinne eines Heimkehrens nach längerer Abwesenheit. Der erste Satz weist jedoch qua Syntax den Protagonisten als dem Dunkel, das die anfängliche Szenerie beherrscht, unterworfen aus. Gäbe sich etwa der Satz: »Als K. ankam, war es bereits spät abend«, zu lesen, wäre K. hier in wesentlich höherem Maße als ein Agens ausgewiesen. Die Geschichte ließe sich dann lesen als jene einer Figur, die in erster Linie ankommt und dann den Zustand des Ortes, an dem sie sich befindet, zur Kenntnis nimmt. Die Erzählung entscheidet sich jedoch anders: Es ist die Nacht, die K. empfängt, und die Ungewissheit, die aufgrund der Tageszeit und der Witterungsverhältnisse zum Grundzustand dieser erzählerischen

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Selbstverständlich bedarf eine solche Lektüre, die in diesem Seminar noch dazu in den ersten beiden Schritten von den Studierenden eigenständig vorgenommen wurde, gewisser Kenntnisse. Schüler_innen der Oberstufe verfügen darüber in geringerem, aber ausreichendem Maße. Die Bedeutsamkeit des gemeinsamen und stärker gelenkten Lektüreanteils ist dann umso höher einzustufen. Dennoch sollte man selbst jüngeren Kindern die Fähigkeiten zu einer sinnhaften selbstständigen Kafka-Lektüre nicht absprechen. Vgl. Wintersteiner, Werner (1996): »Der Text ist wie ein Stacheltier …«. SchülerInnen interpretieren Franz Kafkas »Zerstreutes Hinausschaun«. In: ide. Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule, Jg. 20, H. 4, S. 96-107. Als entscheidend erweist sich auch hier letztlich die Artikulationsfähigkeit in Hinblick auf das Nichtverstehen. Kafka, Franz (1982): Das Schloss. Apparatband. Hg. von Malcolm Pasley. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley u.a. Frankfurt a.M., S. 7.

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Urszene wird, bleibt auch in weiterer Folge bestimmend. Der nächste Satz verweist uns allerdings auf ihr Gegenteil, denn der hier erwähnte »Schnee« stellt dem imaginierten Mangel an Licht nun den Eindruck von Helligkeit zur Seite und damit scheint sich die Möglichkeit einer Orientierung abzuzeichnen. Die Negation – »Vom Schlossberg war nichts zu sehen« –, also das, was nicht ist, eines der vielleicht charakteristischsten Stilmittel in Kafkas Texten,7 folgt allerdings unmittelbar darauf. Die Verneinung kommt vor der Bejahung, also vor jeder Beschreibung dessen, was ist, in die Geschichte und wirft erstmals die Frage auf, was überhaupt gesehen, gewusst, erzählt werden kann. Als Leser_innen finden wir uns hier am Anfang einer Geschichte wieder, was deren prinzipielle Erzählbarkeit und auch die Möglichkeit des Verstehens impliziert. Gleichzeitig deuten die Oppositionen zwischen dem undurchdringbaren Dunkel und einer dieses erleuchtende Helligkeit – die nur in der Negation, aber da eben doch vorhanden ist – bereits fundamentale Schwierigkeiten an. Der sich ergebende Eindruck, dass sowohl K.s als auch unser Verstehen hier auf womöglich unüberwindliche Hindernisse stoßen werden, erfährt eine Verstärkung durch jene Mehrdeutigkeit, die in der grammatikalischen Konstruktion des dritten Satzes begründet liegt: »Vom Schlossberg« war nichts zu sehen – bedeutet das nun, dass der Schlossberg für K. unsichtbar war oder wird uns die Szenerie von einer homodiegetischen Erzählinstanz geschildert, die weiß, dass man »vom Schlossberg aus« an diesem späten, also dunklen Winterabend nichts mehr erblicken konnte? Der Absatz fühle sich, so meinten die Studierenden, »nicht nach einem auktorialen Erzähler an«, andererseits könne eine Schilderung aus der erlebten Rede heraus keine zweite Instanz beinhalten, die an einem anderen Ort steht. Obwohl also eine auktoriale Erzählinstanz unwahrscheinlich sei, so der allgemeine Tenor, setze allein der Gedanke daran, der hier vom Text zumindest zugelassen werde, die Vorstellung einer beobachtenden Instanz in Szene, die den Modus des Erzählens auch in der Folge auf subtile Weise bestimmen könne, ohne sich den Leser_innen jemals zu offenbaren.8 Diese Deutungsmöglichkeit wird ein weiteres Mal in Erinnerung gerufen, wenn K. sich wenig später über das Vorhandensein eines Schlosses verwundert zeigt: »In welches Dorf habe ich mich verirrt? Ist denn hier ein Schloss?«9 Die Studierenden äußerten Erstaunen über diese Textstelle, da

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Vgl. etwa Lubkoll, Christine (2006): Dies ist kein Pfeifen. Musik und Negation in Franz Kafkas Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse. In: Claudia Liebrand (Hg.): Franz Kafka. Neue Wege der Forschung. Darmstadt, S. 180-193. Mein Dank gilt an dieser Stelle meiner Kollegin Ursula Esterl, mit der ich ein sehr erhellendes Gespräch über die grammatikalischen und syntaktischen Spitzfindigkeiten dieser einleitenden Sätze führen durfte. Kafka (1982): Das Schloss. S. 8.

Nicola Mitterer: Literatur unterrichten ist Anfangen lehren

sie die Anfangsszene intuitiv so gelesen hatten, als folgten sie dem Blick des mutmaßlichen Protagonisten K. Dieser kann jedoch, wenn man seine spätere Frage ernst nimmt, die Existenz eines Schlosses noch nicht einmal geahnt haben. Etwas später wiederum meint er, er habe doch vom Schloss gewusst und auch, dass es zu spät sei, sich dort noch zu melden. Die Aussage wird nicht als eine nachträgliche Ausrede markiert, so wie wir generell nur wenig über K.s Gedanken und Gefühle erfahren. Das hat uns im Gespräch schließlich zu der Frage geführt, ob es sich hier um ein unzuverlässiges Erzählen handle. Ich habe die Studierenden dann auch darauf hingewiesen, dass das, was die Leser_innen hier empfinden, die Spuren der Entstehungsgeschichte sein könnten, die diesen Text und ganz besonders seinen Anfang prägen. Schließlich hatte Kafka die ersten Kapitel des Romanfragments ursprünglich in der Ich-Perspektive verfasst, wobei dieser Wandel tiefgreifende Konsequenzen nach sich zog: The effect of this change is to double the narrative line and to make the double line vibrate with uncertainty. The doubling into free indirect discourse from first person discourse, in the case of Das Schloß, gives the reader not only the way things seem to K. but also, at the same time, the effaced narrator’s dry, objective report […]. The narrative voice just transposes first-person present-tense narration into third-person past-tense narration, Ich bin into Er war.10 Die gängigen narratologischen Kategorien erweisen sich also für Das Schloss bereits auf dieser Ebene als problematisch und es bricht sich eine – wie Miller es beschreibt – ironische Erzählweise Bahn: »The narrator, moreover, does not fit very well into any of the narratological pigeon-holes. […] The narrator in Das Schloß is no more than a strange, disembodied power of narration, a linguistic energy of articulating (or disarticulating) K.s experiences, thoughts and feelings«.11 Die ersten Zeilen verschmelzen so zu einem Paradoxon, zur Geburtsstunde einer einerseits distanzierten, vielleicht sogar unwissenden, andererseits sehr wachsamen Instanz, die über den Rand der Erzählung hinaus zu wirken und uns dabei zuzusehen scheint, wie wir versuchen dieser auf die Schliche zu kommen. Wie der Weg zum Schloss sich gleichzeitig anzunähern als auch zu entfernen scheint,12 entfernt sich unser Verstehen, das sich doch nachweislich vollzieht, im selben Gestus immer weiter von einem solchen und führt auf wundersame Weise ins Nichtverstehen. Wir erahnen

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Miller, J. Hillis (2011): The Sense of an Un-Ending. The Resistance To Narrative Closure In Kafka’s Das Schloss. In: Jakob Lothe, Beatrice Sandberg, Ronald Speirs (Hg.): Franz Kafka. Narration, Rhetoric, and Reading. Columbus, S. 110; Herv. i.O. Ebd., S. 111. »Die Straße nämlich, diese Hauptstraße des Dorfes führte nicht zum Schlossberg, sie führte nur nahe heran, dann aber wie absichtlich bog sie ab und wenn sie sich auch vom Schloss nicht entfernte, so kam sie ihm doch auch nicht näher«. Kafka (1982): Das Schloss. S. 21.

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bereits in diesem Moment, dass wir uns in dieser Geschichte, mehr noch mit dieser Geschichte, auf – ausschließlich – ebensolchen Wegen ohne Ziel wiederfinden werden. Im Grunde ist nichts zu sehen, »auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das grosse Schloss an«, wir begegnen K. in »Nebel und Finsternis«13 und doch merken meine Studierenden nun an, dass sich »etwas« – wir bezeichnen es letztlich gemeinsam als den »Rhythmus des Textes« – fortan langsam zu verändern beginnt. Es sei so, als »wende sich der Text seiner Leser_innenschaft zu«. Das lässt sich für die Studierenden an mehreren Eindrücken festmachen: Die beiden stakkatoartig aufeinanderfolgenden Sätze des Anfangs gehen über in eine weichere Erzählweise, die Leser_innen werden immerhin in eine Abfolge von Sätzen eingelassen. Der Erzählfluss wird damit weniger reißend, sanfter, und jetzt endlich, am Beginn des ersten Absatzes, öffnet sich ein Tor in eine Richtung, die Souveränität und damit vielleicht doch die Möglichkeit eines gelingenden Verstehens des Gesamtzusammenhangs andeutet. Das Zustandekommen dieses Eindrucks können wir letztlich auf eine veränderte Syntax zurückführen: K. dominiert den letzten Satz des ersten Absatzes und es kommen sogar Zeit- und Ortsangaben hinzu, auch wenn diese vage bleiben. »Lange stand K. auf der Holzbrücke«14 – es fällt an dieser Stelle einmal mehr auf, dass wir wieder im Unklaren darüber gelassen werden, wer dieses prominent positionierte »Lange« definiert. Ist es das subjektive Empfinden K.s, in das wir Einblick erhalten, oder begegnen wir unmerklich dem Urteil einer Erzählinstanz? Der Protagonist befindet sich nun jedenfalls – räumlich zumindest vage verortet – in einem »Zwischen«. Die Brücke markiert einen Übergang, unter ihr befindet sich ein Abgrund, in den K. allerdings nicht fällt. Die gesamte Szenerie verharrt auf diese Weise in einem »Zwischen«: »[E]inerseits mündet Bewegung in Stillstand, ein erster Schritt in den Halt, und das Ganze kommt auf einer Brücke, auf einer Schwelle, an einem Anfang vor dem Anfang und an einem Ort vor dem Eintritt zum Stehen«.15 So ungewiss seine Lage auch sein mag, zumindest hat der Protagonist am Ende des einleitenden Absatzes Bretter unter den Füßen und er schaut »empor« in eine Leere, die nicht absolut, sondern nur »scheinbar« ist. Das Versprechen, dass es hier etwas zu sehen und zu verstehen gibt, ist damit gegeben und gemeinsam mit K. gehen wir somit nicht ohne Hoffnung in die Geschichte hinein. Die Studierenden haben die Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten dieses Textanfangs als eine essentielle (Lektüre-)Erfahrung wahrgenommen, die sie erst nur intuitiv, im gemeinsamen Austausch dann präziser fassen konnten und die trotz der deutlich markierten Fiktionalität wesentliche Lebenserfahrungen zu beinhalten scheint. Es lässt sich nun an dieser Stelle lediglich darüber mutmaßen, wes13 14 15

Ebd., S. 7. Ebd.; Herv. d. Verf. Vogl, Joseph (2013): Am Schlossberg. In: Kleinwort; ders. (Hg.): »Schloss«-Topographien, S. 23.

Nicola Mitterer: Literatur unterrichten ist Anfangen lehren

halb etwa diese Textstelle bei Studierenden nicht nur in diesem Kurs, sondern sehr zuverlässig eine solche Faszination und ein plötzliches, fast intuitives literaturwissenschaftliches Feingefühl in der Rezeption auslöst. Ich möchte jedoch nach einigen Jahren der didaktischen Begegnungen mit diesem Romananfang die Behauptung wagen, dass dies seinen Grund auch in der – formalen wie inhaltlichen – Thematisierung der Suche nach Sinn16 und nach einer Orientierungsmöglichkeit in Raum und Zeit hat. Es geht um die Hoffnung der Leser_innen, die sich in jener des Protagonisten spiegeln kann und die auf die Möglichkeit eines Sinns gerichtet ist. Im selben Zuge wird diese Hoffnung von dem Verdacht konterkariert, dass der Sinn sich stets im selben Moment offenbart und entzieht. Letztlich geht es dabei um eine alte sokratische Tugend, die bekanntlich darin besteht zu wissen, dass man nicht weiß, und um die Einübung in dieselbe. Das paradox anmutende Fazit dieser Erfahrung bestand darin, dass das Nichtverstehen erstrebenswerter sein kann als das Verstehen und diese beiden Kategorien im Zusammenhang mit dem literarischen Text ohneeinander nicht zu denken sind.

II.

Anfängliches Denken und Nichtverstehen. Überlegungen zur Praxis des Antwortens auf die Fraglichkeiten literarischer Texte

Es ist vielleicht kein Zufall, dass uns so tiefe Einsichten gerade zu Beginn eines Romans begegnet sind. Terry Eagleton bezeichnet »Eröffnungssätze«17 in all ihrer Unterschiedlichkeit als Momente der Schöpfung. Das Anfangen ist auch insofern ein relevantes literarisches Ereignis, als es Schriftsteller_innen wie Leser_innen als ein entscheidendes Moment der Produktion und Rezeption beschäftigt. Aus Sicht der Leser_innen begründet jede neue Erzählung eine Welt, die der Realität gegenüber eine – teils radikale – Fremdheit behauptet18 und damit einen hohen Einsatz von uns verlangt. Wer in den Text hineingeht, riskiert, dass er nicht als derselbe wieder herauskommt19 – auch so betrachtet ist jede Geschichte der potentielle Anfang einer tiefgreifenden Veränderung, und wir sind mit jedem Buchdeckel, den 16

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Zur Bedeutsamkeit der Sinnkonstruktion siehe auch: Garbe, Christine (2011): »Kein endgültiges Wort«. Das Konzept des Literarischen Unterrichtsgesprächs im Diskurs der aktuellen Literaturdidaktik. In: Marcus Steinbrenner, Johannes Mayer, Bernhard Rank (Hg.): »Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander«. Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs in Theorie und Praxis. Baltmannsweiler, S. 78f. Vgl. Eagleton (2016): Literatur lesen. Kap. 1, S. 9-58. Vgl. Mitterer, Nicola (2016): Das Fremde in der Literatur. Zur Grundlegung einer Responsiven Literaturdidaktik. Bielefeld, S. 169f. Vgl. Abraham, Ulf (2010): P/poetisches V/verstehen. Zur Eingemeindung einer anthropologischen Erfahrung in den kompetenzorientierten Deutschunterricht. In: Iris Winkler, Nico-

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wir aufklappen, angehalten, uns in dieses Anfangen einzuüben, das in unserer Kultur im Vergleich zum Ende (also auch zum Sterben Lernen) stets marginalisiert war. Peter Sloterdijk denkt in seinem Buch Zur Welt kommen – zur Sprache kommen grundsätzlich über das Anfangen nach und widmet sich dabei zunächst dem Beginn der abendländischen Kultur. Er zitiert Sokrates mit seinem wohl berühmtesten Satz, in dem es um ein reflexives Nichtverstehen geht: »Ich weiß, dass ich nicht weiß«. Sloterdijk betrachtet diesen Satz nicht als eine rhetorische Finte, sondern als eine ernstzunehmende Aussage und spinnt den Gedanken eines vom Nichtverstehen dominierten Zugangs zur Welt weiter: Sokrates sei zutiefst geprägt gewesen von den Erfahrungen, die seine Mutter als Hebamme täglich machte. Anders als es uns in den von Plato und Xenophon überlieferten Dialogen oft erscheint, sei es jedoch, so Sloterdijk, nicht seine Absicht gewesen, »die Wahrheit« aus seinen Gesprächspartnern »herauszuholen«, sondern diese darauf hinzuweisen, wie lächerlich ihre Gewissheiten seien. Gelernt habe dies der »Muttersohn« Sokrates von einer Frau, die das inkommensurable Ereignis des menschlichen Anfangens beinahe täglich erlebte und somit wusste, dass »der Sprachtag, der Welttag […] die sprachlose Kinderanfangsnacht im Rücken [hat]. Er folgt auf die helle Nacht des Nichts, in dem die Welt untergeht, bevor sie aufgehen kann, er folgt auf die unheimlichen Dämmerungen, in denen die Schatten der ungesprochenen Namen und Schicksale wachsen.«20 Aus didaktischer Perspektive betrachtet ist besonders interessant, dass Sloterdijk mit diesem Schritt nicht nur eine andauernde Wirkung des vorgeburtlichen Seins behauptet und damit eine Infragestellung der Möglichkeit eines geteilten Sinnhorizontes unternimmt, sondern auch eine Aufwertung der praktischen Erfahrung vollzieht. Die theoretische Erkenntnis weist nicht auf sich selbst und ihre geistige Herkunft, sondern auf eine körperlich-unmittelbare Erfahrung zurück. Die Dichotomien, auf der unsere Vorstellungen von Wissen und Nichtwissen aufbauen, werden damit fundamental in Frage gestellt, und so sind auch die Literatur und die Künste schließlich nicht mehr ein Ausnahmefall, sondern erscheinen als unverzichtbarer Bestandteil der menschlichen Existenz, die sich immer nur nachträglich und vom Anderen/Fremden her mit ihren eigenen Bedingungen auseinandersetzen kann: »Der ›Mensch‹ ist das erzählende Tier, weil er das zum Anfangen verurteilte Wesen ist, das sich in der Welt orientieren muß, ohne am ›wirklichen‹ Anfang als wacher Zeuge dabeisein zu können.«21 Wenn wir also davon ausgehen, dass uns die Welt ausschließlich als eine erzählte zugänglich ist, dann bietet der

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le Masanek, ders. (Hg.): Poetisches Verstehen. Literaturdidaktische Positionen – empirische Forschung – Projekte aus dem Deutschunterricht. Baltmannsweiler, S. 16. Sloterdijk, Peter (1988): Zur Welt kommen – zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a.M., S. 51. Ebd., S. 39.

Nicola Mitterer: Literatur unterrichten ist Anfangen lehren

Literaturunterricht eine – anthropologisch im Sinne von Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten – unverzichtbare Gelegenheit, die Regeln dieses Erzählens zu erkennen, zu lernen und zu hinterfragen. In hermeneutischer Hinsicht zeichnet sich dabei eine privilegierte Positionierung des Nichtverstehens ab, denn dieses habe in der Kunst, so Sloterdijk weiter, »besonders sichtbare Spuren hinterlassen«.22 Eine solche Propädeutik des Nichtverstehens könne also dazu beitragen, die Voraussetzungen für die Herausbildung eines je eigenen Zugangs zur Welt zu schaffen, der nicht mehr dem Diktat des Vor-Gelebten unterworfen und in der Lage ist, »vor das Leben in erworbenen Meinungen zurückzugehen in eine anfängliche gedankenreiche Gedankenlosigkeit.«23 Im Nachvollzug dieser Überlegungen drängt sich der Verdacht auf, dass die Begriffe Verstehen und Nichtverstehen womöglich ganz anders gefasst werden müssen, um die hermeneutischen Bemühungen in ästhetischen Rezeptionsprozessen zu beschreiben. Arthur R. Boelderls Begriff des Dämmerns, den er in Anlehnung an Heinrich Rombach entwickelt, bietet hierzu eine Alternative: Dämmern ist nicht eine Vorbereitung, eine Vorstufe des nachfolgenden Verstehens, sondern eine eigene Art der »Erkenntnis« beim Lesen von Texten, welche – als verdrängte im Sinne Freuds – auch dann nicht zu existieren aufhört, wenn der Leser hermeneutisch versteht. Dämmern ist jenes Phänomen, welches sich jedesmal ereignet, wenn ein Text sich zu lesen gibt, indem er sich entzieht. Verstehen hingegen ist das gewaltsame Nichten des Textes, der auf seinen Sinn, seinen Inhalt reduziert wird und im Zuge dieser hermeneutischen Reduktion verschwindet – eine Bewegung, die offensichtlich bei aller hermeneutischen Anstrengung doch nur eine Selbstbewegung des Textes nachvollzieht, sie an sich reißt, aus Verstehensgründen verstärken will und dabei doch oder vielmehr gerade dadurch den Text als solchen verliert. Dämmern läßt den Text als Text bestehen und in seinem Recht.24 In didaktischer Hinsicht stellt dieser unabschließbare Prozess uns vor beachtliche Herausforderungen, weil diese Form einer gesteigerten Wahrnehmung gerade in Hinblick auf Prozesse des Nichtverstehens und des Entzugs von vermeintlich erworbenem Wissen den schulischen Konventionen zuwiderlaufen. Die Phase des Dämmerns verliert zweifellos an Wirkkraft, wenn das Analysieren und Deuten beginnen. Es müsste also eine klar definierte, dem Prozess des Einordnens und Urteilens vorgelagerte Phase geben, deren Bedeutsamkeit ernsthaft vollzogen und nicht nur behauptet werden darf und zu der man (etwa weil diese in schriftlicher oder

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Ebd., S. 54. Ebd., S. 81. Boelderl, Artur R. (1997): Literarische Hermetik. Die Ethik zwischen Hermeneutik, Psychoanalyse und Dekonstruktion. Düsseldorf, S. 19.

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akustischer Form festgehalten wurde) immer wieder zurückkehren kann. Die Tatsache, dass Spuren des Dämmerns die weiteren Interpretationsschritte begleiten, kann beispielhaft anhand der Wirkung von Kafkas narratologischen Überlegungen und deren Nachvollziehbarkeit im endgültigen Text beobachtet werden. Die Fähigkeiten, die eine genaue, textnahe Begegnung mit dem literarischen Text dann erfordern, führen schließlich zu einer Haltung, in der wir der Kunst mit gelehrtem Nichtverstehen begegnen können. Für Boelderl kulminieren diese Überlegungen später ebenfalls in einer Neubewertung der Begrifflichkeiten Verstehen und Nichtverstehen im Kontext der literarischen Interpretation. Voraussetzung dafür sei eine am Satz, am Wort, ja letztlich am einzelnen Laut orientierte Lektüre, die verdeutlicht, dass die spezifische Form literarischen Verstehens […] vielleicht gar kein »Verstehen« im landläufigen Verständnis des Ausdrucks [ist], d.h. eines tendenziell lücken- und restlosen Erfassens einer (Menge an) Informationen(en), sondern eigentlich ein Nicht-Verstehen und zwar ein gelehrtes – anders gesagt, ein Deuten des literarischen Textes, das unter Angabe von Gründen erfolgt: Man versteht, dass und weil man nicht versteht, und dies nicht etwa bloß »im Allgemeinen«, sondern ganz konkret, an diesem Text, an dieser Passage, ja an diesem Wort.25

»Lass die Deutungen!«, sagte K. Weshalb wir K. im selben Atemzug Recht geben und nicht auf ihn hören sollen. Versuch einer Systematisierung Eine Neuorientierung der Literaturdidaktik in Hinblick auf ihre grundlegenden hermeneutischen Begrifflichkeiten scheint angesichts der in Kapitel I und II angestellten Überlegungen notwendig und eine solche bahnt sich mit dem vorliegenden Sammelband bereits an. Es mag diesem Vorhaben dienlich sein, neue und aus den speziellen Bedürfnissen des Literaturunterrichts erwachsene Begrifflichkeiten vorzuschlagen, was im vorliegenden Kapitel nun geschehen soll. Dabei möchte ich eine Unterscheidung zwischen jenen Termini vornehmen, die Wahrnehmungen und/oder daraus resultierende Zugänge zur Welt beschreiben, die uns also dabei helfen, diese als eine geordnete, von bestimmten Strukturen geprägte zu begreifen.26 Auf der anderen Seite möchte ich einige Begriffe vorschlagen, die in Unterscheidung dazu und in Hinblick auf die Spezifität der Kunst entwickelt wurden. 25

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Ders. (2018): »Kannitverstan« als literaturdidaktisches Prinzip. Von der In-Kompetenz des Problemlösens und der Nicht-Kompetenz der Problemfindung. In: ide. Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule, Jg. 42, H. 1. S. 98; Herv. i.O. Die Auswahl der Begriffe erfolgte nicht nach ihrer Verwendungshäufigkeit oder ihrer Relevanz, sondern dient lediglich einer Reflexion der Grundzüge, die wir unserem Lehren und

Nicola Mitterer: Literatur unterrichten ist Anfangen lehren

Diese Begriffe haben sich zwar mitunter in der Kunstpädagogik bereits sehr gut etablieren können, sie stammen aber ursprünglich aus der Theorie der ästhetischen Erfahrung, der Philosophie oder der Kunsttheorie. Vielleicht vermögen sie aber doch unseren aktuellen Diskurs um einige Komponenten zu bereichern, auf die derzeit wenig Licht fällt. So findet man etwa bei Max Imdahl, einem Kunsthistoriker und -theoretiker, die Unterscheidung zwischen einem wiederkennenden und einem sehenden Sehen. Während das eine bereits bestehendes Wissen in eine neue Begegnung integriert, sei das sehende Sehen ein Vorgang, der ganz der unmittelbaren Anschauung gewidmet ist. Beide Formen des Sehens werden in Imdahls Aufsatz zu Paul Cézanne, Georges Braque und Pablo Picasso als in je unterschiedlicher Weise aufeinander bezogen gezeigt. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auf die Details dieser Analyse einzugehen, daher reduziere ich Imdahls Ausführungen hier auf das im Kontext des Verstehens/Nichtverstehens und des Anfangens Wesentliche. Prinzipiell ist es Imdahl darum zu tun, dass in den Werken der genannten Künstler Alternativen zu einem Sehen in Erscheinung treten, wie es sich vollzieht, wenn wir in der Realität auf einen Gegenstand treffen. In einem solchen Fall werde »das im Sehenden schon vorgefaßte Konzept dieses Gegenstandes optisch eingelöst«.27 Cézanne habe nun damit begonnen, in seinen »optisch autonome[n], immanent geregelte[n] Bildkonstruktionen[en]« eine »Umwertung des normalen Verhältnisses zwischen sehendem und wiedererkennendem Gegenstandssehen zugunsten des sehenden Sehens«28 vorzunehmen. Dabei ergebe sich bei ihm noch keine völlige Abwendung vom Gegenstand, der weiterhin sichtbar und erkennbar bliebe. Georges Braque gehe hierin noch einen Schritt weiter, indem er etwa in seinem Gemälde Femme à la guitare eine »insgesamt erfundene, gegenstandsfreie und ein gegenstandsfreies Sehen eröffnende Struktur vor Augen«29 hat. Imdahl beschreibt in diesem und anderen Aufsätzen unterschiedliche Möglichkeiten der künstlerischen Realisierung des Bezugs zwischen wiedererkennendem und sehendem Sehen, letztlich wird aber deutlich, dass diese Unterscheidungen mit einer verwandt sind, die bereits Paul Valéry getroffen hat und die uns als jene zwischen connaître, also dem Wiederkennen, und construire, dem Neuschaffen und -erkennen bekannt ist. Ohne auf das connaître verzichten zu können, sei die Kunst sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption dem construire gewidmet.30 Im Zuge dieser Schöpfung werde nicht

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Lernen als einem Geschehen, das wesentlich auf der Dynamik von Frage(n) und Antwort(en) basiert, verleihen können. Imdahl, Max (1996): Reflexion, Theorie, Methode. Gesammelte Schriften. Bd. 3. Hg. von Gottfried Boehm. Frankfurt a.M., S. 304. Ebd. Ebd., S. 307. Vgl. ebd., S. 317.

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nur eine andere, ursprüngliche Art des Sehens ins Recht gesetzt, auch der Gegenstand selbst erhalte seine Würde zurück, indem ihn ein ganz auf die jeweilige Weise seines Erscheinens fokussierter, unverstellter Blick in seiner Einzigartigkeit, nicht in seiner kategorialen Zugehörigkeit, wahrnimmt. Es ist deutlich erkennbar, dass diese hier angestrebte Form der Rezeption eine ethische Komponente besitzt, die das sehende Sehen als Modus der Begegnung mit dem Unbekannten unverzichtbar macht. Dabei geht es um mehr als nur um die Ausbildung einer bestimmten Rezeptionshaltung, es geht um die Aufwertung der vorbegrifflichen Anschauung, was diese Theorie mit jener Sloterdijks verbindet. Gleichzeitig zeichnet sich ein scharfer Kontrast zur in der abendländischen Kultur höher bewerteten, abstraktbegrifflichen Beschreibung ab. Imdahl zitiert einmal mehr Konrad Fiedler, um in unverkennbar didaktischer Absicht zu postulieren, dass die Konsequenz einer Anerkennung des »sehenden Sehens« darin bestehen müsse, »daß das Vermögen der Anschauung so gut wie das abstrakte Denkvermögen ein Recht habe, zu einem geregelten und bewußten Gebrauch ausgebildet zu werden«.31 Wiewohl diese Theorie aus den Bildwissenschaften hervorgegangen und auf deren Spezifika bezogen ist, lassen diese Ausführungen auch Rückschlüsse auf andere Kunstformen zu.32 Die Kategorien eines sehenden und eines wiedererkennenden Sehens stießen dementsprechend auch außerhalb der Kunstwissenschaften auf Interesse, so etwa auf jenes des Phänomenologen Bernhard Waldenfels. Ohne direkt auf Imdahl Bezug zu nehmen, unterscheidet dieser später zwischen gefragten Fragen und fragenden Fragen, wobei diese Kategorisierung sich nun schon ganz ohne Umschweife mit der hermeneutischen Begegnung zwischen Leser_in und Text verbindet.33 Der Weg zu dieser begrifflichen Unterscheidung lässt sich anhand von Waldenfels’ Abhandlung Antwortregister nachvollziehen, wo er sich mit unterschiedlichen Formen des Fragens und Antwortens beschäftigt und dabei eine Skala offenlegt, die von einem Fragen, das ausschließlich Zwecken der Informationsbeschaf-

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Ebd., S. 312. Eng mit diesem Denken verbunden ist bei Imdahls theoretischem Referenzpunkt Konrad Fiedler auch die Ablehnung einer Vorrangstellung des Begrifflichen. In seiner Kunsttheorie wird immer wieder die Anerkennung einer vorprädikativen, aus der unmittelbaren Anschauung erwachsenen Erfahrung eingefordert. Das stellt auch der Imdahl-Kenner und Herausgeber seines Gesamtwerks, Gottfried Boehm, in der Einleitung zu Band 3 seiner Gesammelten Schriften fest, indem er darauf hinweist, dass »die visuelle Welt anschlußfähig [ist], nicht nur für das Sehen, sondern auch für den Intellekt, die Sprache, theoretische und historische Begriffe und Sachverhalte.« Boehm, Gottfried (1996): Die Arbeit des Blickes. Hinweise zu Max Imdahls theoretischen Schriften. In: Imdahl: Reflexion, Theorie, Methode, S. 9. Boehm weist an dieser Stelle auch darauf hin, dass Imdahl einer der Mitbegründer des Arbeitskreises »Poetik und Hermeneutik« war. Bernhard Waldenfels’ Sicht auf Imdahls Theorie findet sich in komprimierter Form in folgendem Aufsatz: Waldenfels, Bernhard (1994): Ordnungen des Sichtbaren. In: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild? München, S. 233-252.

Nicola Mitterer: Literatur unterrichten ist Anfangen lehren

fung dient, und einem Antworten, das ebenso funktionalistisch orientiert ist, zu einem Fragen reicht, auf das es keine zureichende Antwort mehr geben kann. Eine Frage, so Waldenfels, sei ausschließlich dann im klassischen Sinne beantwortbar, »wenn sie ›an sich‹ schon beantwortet ist«.34 In Bezug auf Kafkas Schloss wäre eine solche Frage etwa die nach dem Namen des Protagonisten. Derlei Wissensfragen zum Text ermöglichen nicht mehr und nicht weniger als eine Überprüfung der stattgehabten oder eben verweigerten Lektüre.35 Alles, was den Text darüber hinaus »ausmacht« und damit dessen Wahrnehmung als ein einzigartiges ästhetisches Erzeugnis anregen könnte, lässt sich nicht mehr der Kategorie des eindeutig Beantwortbaren zurechnen, es sei denn, man betrachtet bereits existierende Interpretationen zum jeweiligen Text als Reservoir eines an sich feststehenden und unhinterfragbaren Wissens. Freilich hat sich die Praxis der Kafka-Interpretation nach – bereits vorgedachten – soziologischen, psychoanalytischen, soziologischen etc. Gesichtspunkten im Studium der Literaturwissenschaften schon längst als eine anerkannte Methode des Prüfens durchgesetzt. Was sie abzubilden vermag, ist die (oftmals wortgetreue) Reproduktion einer vorfindlichen Interpretation, die auch ohne jeden Bezug zum zugrundeliegenden Text vorgenommen werden kann. Eine tiefere Einlassung auf den Text liegt jenseits eines solchen Abfragens, also zunächst einmal nur in der präzisen Wahrnehmung – hier finden wir eine Parallele zum sehenden Sehen – der semantischen, lautlichen und materiellen Präsenz des Textes. Fragen und Antworten, die über eine Bilanzierung des Wissens hinausgehen, sind nicht mehr im eigentlichen Sinne beantwortbar, weil sie ein Anfängliches sind, da sie in der Begegnung zwischen Text und Leser_in gerade erst entstanden und damit nicht an etwas Vorgefertigtes rückgebunden werden können. Derlei Begegnungen, in denen das Eigene (des lesenden Subjekts) auf ein Fremdes (den Text in seiner sprachlichen und materiellen Andersartigkeit im Verhältnis zur geordnet-normierten Sprache) trifft, bergen laut Waldenfels neben der Gefahr der Aneignung auch ein Versprechen: Einerseits besteht dieses Versprechen in der (potentiellen) Hervorbringung eines neuen, also noch ungedachten Gedankens. Andererseits besteht dieses in der absoluten Hinwendung zu einem Anderen, die sich nicht in einer Antwort aufheben lässt: Eine gegebene Antwort ist stets mehr als eine subjektiv herbeigeführte oder normativ gebotene Äußerung; dieses Mehr entgleitet allen Theorien, die sich auf Sprach- und Handlungsregeln beschränken. […] Antworten können an Gesagtes 34 35

Waldenfels, Bernhard (2007): Antwortregister. Frankfurt a.M., S. 114. Zur Problematik der Testung literarischer Kompetenzen siehe z.B.: Brune, Carlo (2020): Literarästhetische Literalität. Literaturvermittlung im Spannungsfeld von Kompetenzorientierung und Bildungsideal. Bielefeld, S. 31-80. Lösener, Hans (2020): Unter Ausschluss der Poetik. Literaturtheoretische Prämissen bei der Aufgabenkonstruktion. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Jg. 67, H. 2, S. 136-149.

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nur anknüpfen, wenn dieses bestimmte Möglichkeiten offenlässt. Das Fragen als Tunlassen und als Eröffnung von Möglichkeiten […] ist die unerlässliche Bedingung dafür, dass Antworten mehr besagt als Erfüllung eines Strebens oder einer Norm.36 Während die Verständigung über Dinge des täglichen Lebens oder Texte des öffentlichen Lebens dennoch stark an einer festgelegten Konvention orientiert sein müssen, um ihren Zweck erfüllen zu können, schafft die Kunst einen grundlegend anderen Kontext. Die »beantwortbaren« Fragen, die Waldenfels auch als »sekundäre oder normale Fragen« bezeichnet, bewegen sich »auf einem bereits bestehenden Frageboden […] und [werden] sozusagen durch ihre eigene Ordnung eingeholt«.37 Die Literatur bewegt sich per definitionem nicht auf einem solch vorgefertigten Frageboden, auch wenn sie ihn mitunter betritt. Aus diesen festen Strukturelementen allein ließe sich aber kein literarischer Text konstruieren. Ein solcher zeichnet sich hingegen durch das Fraglichwerden des bisher Gewissen, also durch das Aufwerfen von bei Waldenfels so bezeichneten »Schlüsselfragen«38 aus. Diese lassen neue Möglichkeiten sichtbar werden, die sich allerdings noch in einem anfänglichen Stadium befinden: »Eine berühmte Unterscheidung von Merleau-Ponty aufgreifend könnte man von einem fragenden und einem gefragten Fragen sprechen.«39 Dem fragenden Fragen entspricht das Mögliche, Anfängliche, Utopische, Dystopische in all seiner Unvorhersehbarkeit, denn derlei Fragen lassen sich nicht in einer endgültigen Antwort aufheben: »Anders als das Wissensstreben und die Auskunftsfrage setzt die Frage als Eröffnung und Verschließung von Möglichkeiten ein gewisses Maß an Unentscheidbarkeit und Unvollständigkeit [Herv.i.O.] voraus.«40 In den weiteren Ausführungen Waldenfels’ tritt die ethische Komponente dieses Geschehens noch stärker hervor, und es wird deutlich, dass die Wendung hin zum fragenden Fragen auch eine politische Dimension besitzt. Diese wird dann beispielsweise bei Hannah Arendt zentral gesetzt, die, wie Jennifer Pavlik in ihrer Monographie feststellt, in Anlehnung an Heidegger zwischen einem »Denken-an«, das die Dinge nicht aneignet, und einem »Denken-über«, das in Funktionszusammenhängen denkt, differenziert.41 Diese Unterscheidung wird bei Arendt selbst insofern mit der Kunst in einen wesentlichen Zusammenhang gebracht, als nur eine ästhetische Betrachtungsweise es ermögliche, »die Welt zu betrachten, ohne

36 37 38 39 40 41

Waldenfels (1999): Antwortregister, S. 88, 236. Ebd., S. 172. Ebd. Ebd. Ebd., S. 174. Vgl. Pavlik, Jennifer (2015): »Uninteressiertes« Weltinteresse. Über die Ausbildung einer ästhetischen (Denk-)Haltung im Werk Hannah Arendts. Paderborn, S. 163; Herv. i.O.

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gewaltvoll auf diese einwirken zu wollen, sie also nicht in Zweck-Mittel-Relationen wahrzunehmen«.42 Diese spezielle Form des Weltinteresses wird bei Arendt nicht als ein allgemeiner Modus des Seins gedacht, den es grundsätzlich zu erlangen gälte, sondern als einer des Besonderen, der jedoch für die Herausbildung eines Zugangs zur Welt, der von den eigenen Begehrlichkeiten absehen kann, unerlässlich ist. Grundsätzlich sei der Mensch auf der Suche nach einer kausalen Logik, die die Wirkung aus der Ursache ableiten und mittels des so generierten Wissens auf die Welt einwirken kann. Hannah Arendt beschäftigt sich in ihren Denktagebüchern lange und eingehend mit dieser Thematik und insbesondere mit Kants Kritik der Urteilskraft. Hier stößt sie schließlich auf das, was sie besonders interessieren wird, nämlich auf das Geschmacksurteil, das sich vom vergleichsweise brutal-zugreifenden Erkenntnisurteil maßgeblich unterscheidet. So notiert sie etwa im August 1957: »41: ›uninteressiertes Wohlgefallen‹ = I. unabhängig von Lebensinteressen und 2. unfähig, ein (moralisches) Interesse hervorzubringen.«43 Das »logische Herleiten« hingegen stehe zur Pluralität der Menschen und Wahrnehmungen ebenso in Widerspruch wie zur Komplexität der Zusammenhänge. Um den einen, wahren Grund für etwas zu finden, müsse man immer vom Lebendigen absehen, woraus Arendt zufolge wieder Beliebigkeit resultiert: »›Immer eins aus dem andern folgern‹ heisst von den Menschen und der Welt absehen, heisst eine beliebige Meinung zur Prämisse erheben.«44 Eine ästhetische Betrachtung, also die Wahrnehmung von Schönheit oder Hässlichkeit, kann aber »nur dann erfahren werden, wenn der Mensch die Welt unter einer Perspektive betrachtet, in der er von seinen Interessen absieht.«45 Und nur unter dieser Voraussetzung sei schließlich auch ein Urteilen möglich. Diese Definition einer konsequent vom Ästhetischen her gedachten Urteilsfähigkeit zeigt eine weitere Dimension der Bedeutung interesseloser Auseinandersetzung mit Kunst im Unterricht. Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen einer funktionalen und einer interesselosen Weltbetrachtung weist allerdings eine gewisse Verwandtschaft zu den vorher genannten Unterscheidungen auf. Diese fasse ich in untenstehender Tabelle zusammen, wobei die Begrifflichkeiten auf der rechten Seite als Schlüsselbegriffe eines Literaturunterrichts betrachtet werden könnten, der sich den Grundsätzen ästhetischer Wahrnehmung verpflichtet fühlt.

42 43 44 45

Ebd., S. 162. Arendt, Hannah (2002): Denktagebuch. 1950-1973. Bd. 1. München u.a., S. 573. Ebd., S. 116. Pavlik (2015): »Uninteressiertes Weltinteresse«. S. 163.

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Tabelle 1: Begegnung mit Literatur und Kunst im institutionellen Kontext Verstehen

Dämmern

Überzeugungen, Meinungen vertreten

gedankenreiche Gedankenlosigkeit erleben (P. Sloterdijk)

regelgeleitetes Verstehen

gelehrtes Nichtverstehen (A. R. Boelderl)

wiedererkennendes Sehen

sehendes Sehen (M. Imdahl)

gefragte Fragen beantworten

fragende Fragen stellen (B. Waldenfels)

funktionale Zusammenhänge verstehen

»Denken an« (H. Arendt)

Quelle: eigene Darstellung

Zunächst einmal ist zu bemerken, dass das Verstehen und dessen sämtliche hier aufgeführte Unterkategorien eher denotativ verwendet werden, während das Dämmern ein metaphorischer Begriff ist, dessen Bildhaftigkeit Mehrdeutigkeit impliziert und der damit auch relativ vage bleibt. In eben diesen Eigenschaften nähert er sich charakteristischen Aspekten von Kunst an und versucht damit auch auf der Betrachter_innenseite deren speziellen Perspektive auf die Welt zu imitieren. Abgesehen davon wird dieser metaphorische Begriff in der Tabelle nicht mehr nur auf das Lesen von Literatur bezogen, sondern auf die Trias Fragen, Sehen, Denken ausgeweitet, wobei das selbstverständlich auch in der Betrachtung von Literatur immer eine Rolle spielt. Dennoch müsste man an anderer Stelle die spezifischen Unterschiede zwischen einem sehenden Sehen, wie es sich in der Betrachtung eines Bildes vollziehen kann, noch einmal vom gelehrten Nichtverstehen eines Textes unterscheiden. Wenn wir diese Tabelle aber zunächst einmal als eine sehr grobe Differenzierung akzeptieren, fällt auf, dass die jeweils rechtsstehenden Formulierungen eine passive Komponente besitzen, weil sie etwas bezeichnen, das zu einem gewissen Grad mit dem betrachtenden/lesenden Subjekt geschieht, ohne dass dieses darüber verfügen könnte. Es verliert also an Souveränität, indem die Fremderfahrung der Begegnung mit Kunst von Momenten des Unerwarteten und Unvorhersehbaren – durchaus auch im negativen Sinne – bestimmt wird. Dennoch geht daraus keine ausschließlich destruktive Erfahrung hervor, denn im selben Maße, wie das Subjekt hier an Festigkeit verliert und von dem, was von woanders herkommt, affiziert wird, diene es »als Baugerüst […], mit dem Wort gedacht, der Erbauung. […] Lektüre erzieht nicht, belehrt nicht, maßregelt nicht, trimmt nicht, richtet nicht ab. Wer liest, betreibt Gespensterumgang, Innenbau. Baut etwas und sich. Er-in-

Nicola Mitterer: Literatur unterrichten ist Anfangen lehren

nert sich durch Bau – fällt sich selbst ein und wächst«.46 Die Bereitschaft, das Auf-einen-zu-Kommende (des literarischen Textes, des Kunstwerks etc.) nicht zu zerstören, sondern wirksam werden zu lassen, setzt zwar die Infragestellung von bereits Gesetztem voraus, aber sie setzt etwas an dessen Stelle und wirkt auf eine Weise, die sich weder vorhersehen noch berechnen lässt. Die links stehenden Begrifflichkeiten sind in aktiver, zugreifender Weise auf die Welt gerichtet und suggerieren Souveränität. Sie ähneln damit den Brettern der Brücke, auf der K. steht, als er eine initiale Erfahrung der Orientierungslosigkeit macht. Wäre er ganz darin verloren, wäre das Ereignis traumatisch und die Begegnung, das Ringen mit dem Unerreichbaren und Undurchdringbaren, könnte nicht stattfinden. Der feste Boden aber ermöglicht es ihm, den Versuch einer Annäherung an das Schloss zu unternehmen und deren Scheitern immer wieder zu reflektieren. Ein Übergehen dieser zwar in Bezug auf ihre Struktur zirkulären, aber dennoch immer wieder fundamental anderen Erfahrung in ein Erfolgserlebnis käme der Eroberung des Schlosses, einer Landnahme und Kolonisierung gleich. Das Schloss lässt uns aber einem Landvermesser begegnen, und so wie dieser sind auch wir als Leser_innen auf die Erfahrung der letztendlichen Unzugänglichkeit des Sinns verwiesen. Das hat unter anderem eine ethische Komponente jener Begrifflichkeiten zur Folge, die in dieser Tabelle rechts stehen und uns den umfassenden Zugriff auf das verweigern, dem unser Begehren gilt. Es sind andererseits allein jene Weltzugänge, die die Erfahrung des Fremden wirken lassen, die ein grundlegend anderes Sehen/Erfahren/Perspektivieren von Welt erst möglich machen. In diesem Sinne eröffnen sie eine utopische Dimension des Denkens und Handelns, die eine Voraussetzung dafür bildet, gesellschaftliche Realität zu verändern. Das, was hier unter der Kategorie des Dämmerns subsumiert wird, befördert folglich nicht, wie es etwa dekonstruktivistischen Ansätzen in der Didaktik vielfach vorgeworfen wurde, die Kunst des negativen Denkens, sondern ist unabkömmlicher Teil einer Bildung, die sich nicht anmaßt, neben der Gegenwart auch noch die Zukunft jener Menschen bestimmen zu können, die sie auf ihrem Weg begleitet. So betrachtet ist der Umgang mit Literatur und vor allem die Frage, inwiefern sich hier etwas zu verstehen gibt – oder eben nicht –, vor allem eine Frage des Anfangens.47

46 47

Draesner, Ulrike (2018): Grammatik der Gespenster. Frankfurter Poetikvorlesungen. Stuttgart, S. 18. Diese dem Menschen innewohnende Befähigung zum Immer-wieder-neu-anfangen-Können wurde bereits von Hannah Arendt als eine grundlegende bezeichnet (vgl. Boelderl [2007]: Von Geburts wegen. Unterwegs zu einer philosophischen Natologie. Würzburg, S. 9) und in ihrer Wirkung als immanent politische begriffen. Diesem Gedanken einer Literaturdidaktik des Anfangens wäre an anderer Stelle noch weiter nachzugehen.

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Phänomene des (Nicht-)Verstehens

IV.

Zurück im Schloss. Ein abschließender Blick auf K.s und unsere eigenen Deutungsversuche

Die Frage nach der Möglichkeit eines gelingenden Verstehens wird in Kafkas Schloss letztlich verneint. Wie Stanley Corngold festhält, ist es »die Wirtshausprostituierte Olga (ausgerechnet sie!)«,48 die eine präzise Begründung der Vergeblichkeit allen Strebens nach einem absoluten Wissen in Hinblick auf die Schriftstücke vornimmt, mit denen es K. zu tun hat: Und die Mitte zwischen den Übertreibungen zu halten, also die Briefe richtig zu beurteilen, ist ja unmöglich, sie wechseln selbst fortwährend ihren Wert, die Überlegungen, zu denen sie Anlass geben, sind endlos und wo man dabei gerade Halt macht, ist nur durch den Zufall bestimmt, also auch die Meinung eine zufällige.49 In der Szene, in der Amalia einen Brief zerreißt, wird eine Form des Umgangs mit der intellektuellen und emotionalen Frustration, die aus der im Zitat beschriebenen Erfahrung hervorgeht, kenntlich, die Verweigerung mit Verweigerung beantwortet: »In her act of defiance she refuses to interpret at all«.50 Diejenigen unter uns, die die Begegnung mit literarischen Texten als etwas Erstrebenswertes betrachten und die Freude daran, aber auch die Erkenntnismöglichkeiten, die darin liegen, weitergeben wollen, werden diesen Weg weder konsequent gehen wollen noch können. Auch wenn ich Michael Baums Satz von der Literatur, die gelehrt werden muss, weil sie nicht gelehrt werden kann,51 als wahr erachte, geht mein tägliches Bestreben doch sehr oft in die Richtung einer Unterstützung des Verstehens und nicht in jene einer Einübung des Nichtverstehens. Ich versuche dabei die in diesem Beitrag formulierten Überlegungen stets zu berücksichtigen, tue dies aber doch nicht mit letzter Konsequenz. Einer der bedeutsamsten Gründe dafür scheint mir in folgendem Zitat benannt zu werden: Hat alles Wissen etwas Beruhigendes, so umgekehrt das Nichtwissen etwas in hohem Maße Beunruhigendes [,] denn aus dem schwarzen Loch des Unbekannten, mit dem uns das Nichtwissen in Beziehung setzt, kann uns ja in jedem Augenblick der Möglichkeit nach das Gefährliche entgegenschnellen und uns packen.

48 49 50 51

Corngold, Stanley (2013): Ritardando im Schloss. In: Kleinwort; Vogl: »Schloss«-Topographien, S. 69. Kafka (1982): Das Schloss, S. 363. Goozé, Marjanne E. (1983): Texts, Textuality, and Silence in Franz Kafka’s Das Schloß. In: MLN, Jg. 98, H. 3, dt. Ausgabe, S. 345. Vgl. Baum, Michael (2019): Der Widerstand gegen Literatur. Dekonstruktive Lektüren zur Literaturdidaktik. Bielefeld, S. 13.

Nicola Mitterer: Literatur unterrichten ist Anfangen lehren

Daher pflegen die meisten den Anblick dieses Loches nicht zu ertragen. Sie blicken sogleich wieder weg von ihm oder setzen an seine Stelle eine wenn auch nur scheinhafte Wissensmeinung. Demgegenüber gehört eine gewisse intellektuelle Gelassenheit und Stärke, ja Mut dazu, mit dem Loche ernstzumachen und es nicht aus den Augen zu verlieren.52 Diesen Mut und diese Gelassenheit – zwei Bewegungen, die mir übrigens ganz gegensätzliche Voraussetzungen zu benötigen scheinen – besitze ich selten, ich weiß aber vor allem nicht, ob ich sie meinen Studierenden und diese dann wieder ihren Schüler_innen zutrauen können. Manchmal zweifle ich daran, öfter bin ich überzeugt davon, dass es uns zumutbar ist, ja dass davon sogar die Befähigung zur Zukunft nachfolgender Generationen abhängen wird. Ich meine beobachten zu können, dass diese ›Zumutung‹ vor allem dann gut angenommen werden kann, wenn Studierende gemeinsam in einer sehr offenen Form an Texten arbeiten, in denen sie dann sowohl individuelle Eindrücke als auch analytische Beobachtungen vereinen. Wichtig ist dabei, dass wir ihnen als Lehrende den Unterschied zwischen dem einen und dem anderen immer wieder bewusstmachen, und dies kann anhand der Begrifflichkeiten, die in der Tabelle genannt werden, in Hinblick sowohl auf Bilder als auch auf literarische Texte geschehen. Wenn es gelingt, bis zum Ende der Ausbildung ein Gespür der Studierenden dafür aufzubauen, dass eine Mischung aus beiden Wahrnehmungsweisen die Möglichkeit eröffnet, individuelle Erfahrungen von Sinnhaftigkeit und die Erprobung hermeneutischer Thesen miteinander zu verbinden, nehmen sie diese Methodik meist in den Unterricht mit. Das Bewusstsein dafür, dass das eine nichts mit Beliebigkeit, das andere nichts mit einer abschließenden Interpretation zu tun hat, muss sich dabei allerdings erst entwickeln und in Form regelmäßiger Gespräche über Kunst und Literatur eingeübt werden. Wir werden also wohl nicht die Deutungen lassen. Wenn wir aber von Anfang an davon ausgehen, dass der Schlüssel zwar nicht zu finden sein wird, die Suche danach jedoch Freude machen und Sinn in sich bergen kann, wird sich, so meine Hoffnung, gar keine Frustration einstellen. Dann können jene Begrifflichkeiten, die auf der rechten Seite der Tabelle stehen und in unseren Ohren noch fremd klingen, künftig größere Bedeutsamkeit erhalten, und die Faszination der Lektüre könnte darin bestehen zu erfahren, inwiefern auf seine je einzigartige Weise »das Gedicht […] die Abwesenheit einer Antwort« ist.53

52 53

Michael Landmann, zit.n. Sloterdijk (1988): Zur Welt kommen – zur Sprache kommen. S. 91f. Blanchot, Maurice (1991): Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz. München, S. 78.

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Quellenverzeichnis Abraham, Ulf (2010): P/poetisches V/verstehen. Zur Eingemeindung einer anthropologischen Erfahrung in den kompetenzorientierten Deutschunterricht. In: Iris Winkler, Nicole Masanek, Ulf Abraham (Hg.): Poetisches Verstehen. Literaturdidaktische Positionen – empirische Forschung – Projekte aus dem Deutschunterricht. Baltmannsweiler, S. 9-22. Arendt, Hannah (2002): Denktagebuch. 1950-1973. Bd. 1. München u.a. Baum, Michael (2019): Der Widerstand gegen Literatur. Dekonstruktive Lektüren zur Literaturdidaktik. Bielefeld. Blanchot, Maurice (1991): Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz. München. Boehm, Gottfried (1996): Die Arbeit des Blickes. Hinweise zu Max Imdahls theoretischen Schriften. In: Imdahl: Reflexion, Theorie, Methode. S. 7-41. Boelderl, Artur R. (1997): Literarische Hermetik. Die Ethik zwischen Hermeneutik, Psychoanalyse und Dekonstruktion. Düsseldorf. – (2009): Von Geburts wegen. Unterwegs zu einer philosophischen Natologie. Würzburg. – (2018): »Kannitverstan« als literaturdidaktisches Prinzip. Von der In-Kompetenz des Problemlösens und der Nicht-Kompetenz der Problemfindung. In: ide. Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule, Jg. 42, H. 1, S. 94-107. Brune, Carlo (2020): Literarästhetische Literalität. Literaturvermittlung im Spannungsfeld von Kompetenzorientierung und Bildungsideal. Bielefeld. Corngold, Stanley (2013): Ritardando im Schloss. In: Kleinwort; Vogl: »Schloss«Topographien. S. 67-84. Draesner, Ulrike (2018): Grammatik der Gespenster. Frankfurter Poetikvorlesungen. Stuttgart. Eagleton, Terry (2016): Literatur lesen. Eine Einladung. Aus dem Engl. übers. von Holger Hanowell. Stuttgart. Garbe, Christine (2011): »Kein endgültiges Wort«. Das Konzept des Literarischen Unterrichtsgesprächs im Diskurs der aktuellen Literaturdidaktik. In: Marcus Steinbrenner, Johannes Mayer, Bernhard Rank (Hg.): »Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander«. Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs in Theorie und Praxis. Baltmannsweiler, S. 67-97. Goozé, Marjanne E. (1983): Texts, Textuality, and Silence in Franz Kafka’s Das Schloß. In: MLN, Jg. 98, H. 3, dt. Ausgabe, S. 337-350. Imdahl, Max (1996): Reflexion, Theorie, Methode. Gesammelte Schriften. Bd. 3. Hg. v. Gottfried Boehm. Frankfurt a.M.

Nicola Mitterer: Literatur unterrichten ist Anfangen lehren

Kafka, Franz (1982): Das Schloß. Apparatband. Hg. v. Malcolm Pasley. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley u.a. Frankfurt a.M. Kleinwort, Malte; Vogl, Joseph (Hg.) (2013): »Schloss«-Topographien. Lektüren zu Kafkas Romanfragment. Bielefeld. Lösener, Hans (2020): Unter Ausschluss der Poetik. Literaturtheoretische Prämissen bei der Aufgabenkonstruktion. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Jg. 67, H. 2, S. 136-149. Lubkoll, Christine (2006): Dies ist kein Pfeifen. Musik und Negation in Franz Kafkas Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse. In: Claudia Liebrand (Hg.): Franz Kafka. Neue Wege der Forschung. Darmstadt, S. 180-193. Miller, J. Hillis (2011): The Sense of an Un-Ending. The Resistance To Narrative Closure In Kafka’s Das Schloss. In: Jakob Lothe, Beatrice Sandberg, Ronald Speirs (Hg.): Franz Kafka. Narration, Rhetoric, and Reading. Columbus, S. 108-122. Mitterer, Nicola (2016): Das Fremde in der Literatur. Zur Grundlegung einer Responsiven Literaturdidaktik. Bielefeld. Pavlik, Jennifer (2015): »Uninteressiertes« Weltinteresse. Über die Ausbildung einer ästhetischen (Denk-)Haltung im Werk Hannah Arendts. Paderborn. Sloterdijk, Peter (1988): Zur Welt kommen – zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a.M. Vogl, Joseph (2013): Am Schlossberg. In: Kleinwort; ders.: »Schloss«-Topographien. S. 23-32. Waldenfels, Bernhard (1994): Ordnungen des Sichtbaren. In: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild? München, S. 233-252. – (2007): Antwortregister. Frankfurt a.M. Wintersteiner, Werner (1996): »Der Text ist wie ein Stacheltier …«. SchülerInnen interpretieren Franz Kafkas »Zerstreutes Hinausschaun«. In: ide. Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule, Jg. 20, H. 4, S. 96-107.

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Dem Nichtmenschlichen begegnen durch kollaboratives spekulatives Schreiben im Rahmen einer posthumanistischen Literaturdidaktik Yasemin Dayıoğlu-Yücel Abstract Nicola Mitterer stützt ihr Konzept der responsiven Literaturdidaktik auf die Phänomenologie des Fremden des Philosophen Bernhard Waldenfels. Für die Literaturdidaktik eröffnen sich dadurch neue Felder im Umgang mit Alterität, die über bisherige Konzepte der interkulturellen Literaturdidaktik hinausgehen. Sie ermöglichen Nichtmenschliches aller Art mit einzubeziehen, auch im konkreten Unterrichtsgeschehen, und knüpfen damit an posthumanistische Konzepte an. Dieser Beitrag geht davon aus, dass eine zeitgemäße Literaturdidaktik sich auch mit nichtmenschlichen Inter- bzw. Intra-Aktionen (Barad) beschäftigen muss. Das spekulative kreative Schreiben wird als Methode dafür vorgestellt, sich aus menschlicher Perspektive dem Nichtmenschlichen zu nähern und dabei das Spannungsfeld zwischen Verstehen und Nichtverstehen auszutarieren.

I.

Einleitung

Diesem Beitrag liegt die Überzeugung zugrunde, dass eine zeitgemäße Literaturdidaktik sich auch mit nichtmenschlichen Inter- bzw. (nach Barad) Intra-Aktionen1 beschäftigen muss. Im Zuge des material turn und des Posthumanismus ist das (aktive) Mitwirken von Gegenständen wie Infrastruktur und Hilfsmitteln an Prozessen wie dem Unterrichtsgeschehen stärker in den Vordergrund gerückt. Diese nichtmenschlichen Faktoren gelten als den menschlichen Faktoren gleichwertig an Produktions- und immer mehr auch Rezeptionsprozessen beteiligt.2

1 2

Vgl. Barad, Karen (2007): Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham u.a. Vgl. etwa: Snaza, Nathan; Weaver, John (Hg.) (2016): Posthumanism and Educational Research. London. Taylor, Carol A.; Hughes, Christina (Hg.) (2016): Posthuman Research Practices in Education. Basingstoke. Dobrin, Sidney I. (Hg.) (2015): Writing Posthumanism. Posthuman Writing. South Carolina.

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Phänomene des (Nicht-)Verstehens

In Posthuman Ecologies fassen Rosi Braidotti und Simone Bignall die Dringlichkeit einer posthumanistischen Akzentuierung mit Blick auf die Beschränkung der menschlichen Erfahrung und des menschlichen Wissens zusammen: [T]here is an urgent need for new thinking about the differential nature of human influences in complex interactional systems, and about the nature of such systems and of agency within them, when such phenomena are conceived in nonanthropocentric ways. […] How can human thought adequately conceive nonhuman temporality and spatiality? What are the nature, value and impact of nonhumanist productivity in natural, social and economic systems? What is a posthuman system of language, or of perception and subjectivity? How would a posthuman sensibility transform legal, political and educational systems?3 Im Folgenden wird zunächst die responsive Literaturdidaktik nach Mitterer4 vorgestellt, die über Waldenfels’ Konzept der radikalen Fremdheit einen literaturdidaktischen Anknüpfungspunkt an die Fremdheit des Nichtmenschlichen ermöglicht. Am Beispiel von Herta Müllers Collagen5 als radikal fremde und durch das Zusammenwirken von menschlichen und nichtmenschlichen Faktoren kollaborativ entstandene Artefakte wird Karen Barads Idee der Intra-Aktion erschlossen. Ein erneut an Waldenfels anschließender Exkurs in die Objekt-orientierte Ontologie nach Graham Harman6 widmet sich der Frage nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Annäherung an das Nichtmenschliche. Vor diesem Hintergrund wird das kollaborative spekulative Schreiben als eine besonders geeignete Methode dafür präsentiert, sich aus menschlicher Perspektive dem Nichtmenschlichen7 zu nähern und dabei das Spannungsfeld zwischen Verstehen und Nichtverstehen auszutarieren. Die Grundlagen für diese Methode bauen auf Donna Haraways speculative fabulation 8 und Marilyn M. C oopers enchantment ontology 9 auf. Beiden geht es um das Entwerfen von nachhaltigen artenübergreifenden Welten. Abschließend 3 4 5 6 7

8 9

Braidotti, Rosi; Bignall, Simone: Posthuman Ecologies. Complexity and Process after Deleuze. London u.a., S. 4. Vgl. Mitterer, Nicola (2016): Das Fremde in der Literatur. Zur Grundlegung einer responsiven Literaturdidaktik. Bielefeld. Vgl. Müller, Herta (2005): Die blassen Herren mit den Mokkatassen. München. Vgl. Harman, Graham (2017): Object-Oriented Ontology. A New Theory of Everything. London. Donna Haraway kritisiert am Ausdruck nichtmenschlich, dass sich darin eine zu starke Orientierung an der menschlichen Norm manifestiere. Vgl. Haraway, Donna J. (2016): Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham u.a., S. 43. Im Rahmen dieses Artikels verwende ich den Ausdruck nichtmenschlich, da es mir vor allem um den Umgang mit dem Nichtverstehen und dem radikal Fremden geht. Vgl. ebd. Vgl. Cooper, Marilyn M. (2019): The Animal Who Writes. A Posthumanist Composition. Pittsburgh.

Yasemin Dayıoğlu-Yücel: Dem Nichtmenschlichen begegnen

wird an das Entwerfen dieser Welten im Deutschunterricht angeknüpft, indem die kulturökologische Literaturdidaktik nach Grimm und Wanning10 als mögliche Grundlage für eine im deutschsprachigen Raum noch zu entwickelnde posthumanistische Literaturdidaktik vorgestellt wird.

II.

Radikale Fremdheit, responsive Literaturdidaktik und die Fremdheit des Nichtmenschlichen

Nicola Mitterer stützt ihr Konzept der responsiven Literaturdidaktik auf die Phänomenologie des Fremden des Philosophen Bernhard Waldenfels. Anders als viele interkulturelle Ansätze, in denen das gegenseitige Verständnis trotz Fremdheit als wichtiger Zielpunkt definiert wird, repräsentiert das radikal Fremde das nicht zu Verstehende. Radikal Fremdes nach Waldenfels »ist genau das, was durch keine subjektiven Erwartungen und durch keine transsubjektiven Möglichkeitsbedingungen vorweggenommen werden kann.«11 Für die Literaturdidaktik eröffnen sich dadurch neue Felder im Umgang mit Alterität, die über bisherige Konzepte der interkulturellen Literaturdidaktik hinausgehen. Sie ermöglichen Fremdes aller Art mit einzubeziehen, auch im konkreten Unterrichtsgeschehen – bei Mitterer etwa am Beispiel der »Begegnung mit dem Text«.12 So verstanden und auf den Leseprozess übertragen, gleicht die »Begegnung mit dem Text« der Begegnung mit einem Menschen13 oder auch etwas Nichtmenschlichem: »Die Begegnung mit dem Text ähnelt der Begegnung mit einem lebendigen Gegenüber und weist Parallelen zu anderen Prozessen der Sinnfindung – etwa in der zwischenmenschlichen Kommunikation – auf, auch wenn sie diesen nicht äquivalent ist.«14 Der Text erscheint sowohl in seiner Körperlichkeit15 als auch in seiner diskursiven Einbindung als »sinnstiftendes Gewebe«16 fremd. Die Begegnung mit dem radikal Fremden nach Waldenfels lässt sich somit ausweiten auf die Fremdheit des Nichtmenschlichen, das in seiner materiellen Form und Bedeutung als das radi-

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Vgl. Grimm, Sieglinde; Wanning, Berbeli (2016): Kulturökologie und Literaturdidaktik. Beiträge zur ökologischen Herausforderung in Literatur und Unterricht. Göttingen. Waldenfels, Bernhard (2006): Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M., S. 30. Mitterer (2016): Das Fremde in der Literatur. S. 85. Vgl.: »Der Text als ein lebendiges, sinnstiftendes Gewebe, das nicht einfach in vorgefertigte Sprachstrukturen ›rückübersetzt‹ werden kann, ist kein ›Gegenstand‹, mit dem zweckmäßig verfahren werden könnte, ohne dass dabei ethische Grenzen verletzt würden.« Ebd., S. 47. Ebd., S. 273. Vgl. ebd., S. 87f. Ebd., S. 47.

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Phänomene des (Nicht-)Verstehens

kal Fremde erscheint, in das der Mensch sich nicht hineinversetzen kann, und beim Versuch, dies zu tun, anthropomorphisierend verfährt. Mitterer betitelt ihre Literaturdidaktik als responsiv, womit sie ein Sich-Einlassen auf die unmittelbare Fremdheit des Textes meint, bevor dieser durch Kontextwissen in einen bestimmten Interpretationsrahmen gehoben wird. Die Rezipient*innen antworten somit zunächst auf die affektiven Reize, die von der Begegnung mit dem Text ausgehen, indem sie ihre Irritationen und ihr Nichtverstehen zum Ausdruck bringen. Für Mitterer ermöglicht gerade das Sich-Einlassen auf das radikal Fremde eines Textes das unmittelbare ästhetische Erleben. Eine Haltung der »Responsivität« bedeutet eine bewusste sekundäre Positionierung des Eigenen, das sich von seiner (imaginierten) Souveränität zeitweilig löst und sich dem Fremden, das der literarische Text darstellt, überlässt. Daraus ergibt sich die Haltung eines paradoxen »antwortenden Fragens«, wobei die Fragen vom Text her kommen und die Antworten das Gegenteil einer Beantwortung sind.17 Insgesamt identifiziert Mitterer drei Phasen einer responsiven Literaturdidaktik. Die Phase des »Pathos«, die Phase der »Utopie und Theorie« und die Phase der »allgemeintheoretischen Applikation und des kreativen Antwortens«. Die erste Phase umfasst die nicht gelenkte und unmittelbare Begegnung mit dem Text, das Zulassen der Affekte und eine »Reaktion auf das Fremde des Textes (abwehrend oder affirmativ)«. Diese Phase wird auch als »Phase des Staunens« bezeichnet. In der zweiten Phase der »Utopie und Theorie« sollen die »Aufmerksamkeit für das Fremde und Neue, das der Text darstellt«, geschult und die eigenen Eindrücke diesbezüglich in Worte gefasst werden. Es folgen erste Vermutungen in Form von »Thesen/Theorien« zum Text. In der dritten Phase der »allgemeintheoretischen Applikation und des kreativen Antwortens« wird der Kontext des Textes erarbeitet und die vom Text aufgeworfenen Fragen werden kreativ beantwortet.18 Im Vordergrund steht somit nicht der Erwerb von Wissen, sondern die Konfrontation mit dem Nichtwissen bzw. Fremden und den eigenen Reaktionen auf beides. Darauf folgt die kreative Auseinandersetzung mit dem Nichtwissen sowie das kreative Spekulieren über das Unbekannte, das erst nach diesem Prozess durch Recherchen in bekannte Kontexte eingeordnet wird. Durch dieses Verfahren, in dem viel Wert auf das eigene affektive Erfahren in der Begegnung mit einem fremden Text gelegt wird, wird das Ästhetische des Textes ebenfalls in den Vordergrund gehoben. Bevor es um das Verstehen geht, geht es somit um die durch das ästhetische Produkt ausgelösten affektiven Reaktionen und die eigene Auseinandersetzung damit.

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Ebd., S. 274. Ebd., S. 95.

Yasemin Dayıoğlu-Yücel: Dem Nichtmenschlichen begegnen

Das spekulative Element der responsiven Literaturdidaktik ist der »Möglichkeitssinn«, den Mitterer wie Waldenfels der Motivwelt aus Musils Mann ohne Eigenschaften entnimmt und der diese Didaktik thematisch und methodisch an das Verfahren des spekulativen Schreibens, das diesem Beitrag zugrunde liegt, anbindet. Nach Mitterer ist [e]in erhofftes Ergebnis eines responsiven Literaturunterrichts […] die Entwicklung von »Möglichkeitssinn«. Dieser bezeichnet die Fähigkeit, die Begegnung mit einem (literarischen) Kunstwerk als ein Widerfahrnis zu erleben, das Sinn stiftet und der Rezipientin die Möglichkeit bietet, tatsächlich »Neues« zu denken und zu fühlen, das den bisherigen Erfahrungs- und Wissenshorizont überschreitet. Die Voraussetzung des Möglichkeitssinns ist, wie Musil es im Mann ohne Eigenschaften näher ausführt […], die Anerkennung einer (noch) nicht realisierten – und möglicherweise auch abstrus erscheinenden – Idee als der Realität gleichwertig. Das bedeutet eine Anerkennung fiktionaler Welten als eines »Bedeutungsreservoirs« für die Wirklichkeit.19

III. Herta Müllers Collagen als radikal fremde und kollaborative Texte Herta Müllers Collagen, etwa in dem Band Die blassen Herren mit den Mokkatassen20 eignen sich besonders gut, um die Aspekte kulturelle Fremdheit, radikale Fremdheit und das kollaborative spekulative Schreiben miteinander in Verbindung zu bringen. Im literarischen Werk der rumäniendeutschen Schriftstellerin, der 2009 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, geht es häufig um die Repressionen in Diktaturen. Ihre Collagen, in denen sie kurze Texte aus ausgeschnittenen Textschnipseln zusammenstellt und mit ebenfalls ausgeschnittenen Bildern untermalt, stehen dazu scheinbar in einem Kontrast, da sie die spielerische Seite von Kunst in den Vordergrund heben. Sie entziehen sich einer eindeutigen Interpretation. So ist es sowohl möglich, die Collagen im Sinne des L’art pour l’art zu lesen als auch im thematischen Kontext des Prosawerks der Autorin. Helga Mitterbauer sieht »Müllers zentrales Thema – die Traumatisierung durch Terrorregimes« – gerade »durch die angewandten Verdichtungs- und Verfremdungstechniken« zum Ausdruck gebracht.21 Der kulturell fremde Blick, der in den Werken Müllers häufig eingenom-

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Ebd., S. 275. Müller (2005): Die blassen Herren mit den Mokkatassen. Mitterbauer, Helga (2011): Ästhetische Hybridisierung: Verfremdungstechniken in Herta Müllers Die blassen Herren mit den Mokkatassen. In: Gegenwartsliteratur: A German Studies Yearbook, Bd. 10, S. 75.

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Phänomene des (Nicht-)Verstehens

men wurde – etwa in Reisende auf einem Bein,22 in dem die Fremdheit der Protagonistin Irene in Berlin ein wichtiges Motiv darstellt –, kann ebenfalls auf die Collagen übertragen werden.

Abbildung 1

Quelle: Müller (2005): Die blassen Herren mit den Mokkatassen, o.S. [13].

Wendet man den Blick von der Rezeptions- auf die Produktionsseite, zeigt sich die Interaktion der Schnipsel mit der Autorin, während der sich die Texte wie »von

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Müller, Herta (1989): Reisende auf einem Bein. Berlin. In diesen Text wurden bereits Collagen aufgenommen.

Yasemin Dayıoğlu-Yücel: Dem Nichtmenschlichen begegnen

selbst« schreiben.23 Damit werden Assoziationen an das automatische Schreiben (écriture automatique) geweckt. Mitterbauer liest aus den Selbstaussagen Müllers24 dennoch heraus, dass die Autorin »allein bestimmt«, wann die Collagen vollständig seien.25 Darin macht Mitterbauer gerade einen Unterschied zur écriture automatique aus. In ihrer Vorstellung des Miteinanders von Schnipseln und Künstlerin behält die Künstlerin die Oberhand, wohingegen Herta Müller selbst aussagt, dass man »dem Willen des Surrealen gehorchen«26 müsse. In Müllers Beschreibungen zum Entstehungsprozess ihrer Collagen wird das Machtverhältnis also umgekehrt: »Die Wörter diktieren, was zu geschehen hat, man folgt einer genauen Mathematik bis hinein in die luftige Überrumpelung der Realien durch die Metapher. Die erfundenen Wörter holen Luft […] [.] Sie schnappen sich das, was sie brauchen. Und was sie sich nicht gefallen lassen können, das lehnen sie ab.«27 Sowohl in der Beschreibung von Müller als auch in der Beschreibung von Mitterbauer haben die Schnipsel agency (Handlungsmacht) über sich selbst, es herrschen allerdings unterschiedliche Machtverhältnisse zwischen den am Prozess Beteiligten (Schriftstellerin und Schnipsel) vor. Im Gegensatz dazu möchte ich vorschlagen, den Entstehungsprozess der Collagen als eine Intra-Aktion im Sinne von Karen Barad zu verstehen, an der menschliche und nichtmenschliche Agenzien28 gleichberechtigt beteiligt sind. Erst in der Intra-Aktion entsteht Barad zufolge somit eine gemeinsame agency.

IV.

Schreiben in Intra-Aktion

Marilyn M. Cooper hat sich in The Animal Who Writes. A Posthumanist Composition mit dem Schreiben im Kontext von Posthumanismus, new materialism und der Prozesstheorie auseinandergesetzt. Als Fortführung der menschlichen Fähigkeit zur Imagination und Archivierung des Imaginierten kann das Schreiben nach Iser als an-

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Mitterbauer (2011): Ästhetische Hybridisierung. S. 82. Sie bezieht sich hier vor allem auf den Beitrag Gelber Mais und keine Zeit. Vgl. Herta Müller (2010): Gelber Mais und keine Zeit. In: Text und Kritik. Oskar Pastior, H. 186, S. 15-26. Mitterbauer (2011): Ästhetische Hybridisierung. S. 84. Müller (2010): Gelber Mais und keine Zeit. S. 21, zit.n. Mitterbauer (2011): Ästhetische Hybridisierung. S. 85. Müller (2010): Gelber Mais und keine Zeit. S. 21, zit.n. Mitterbauer (2011): Ästhetische Hybridisierung. S. 82. Ich verwende an dieser Stelle Agenzie, da es mir zunächst eine grammatische Möglichkeit zur Benennung ermöglicht, denn im Deutschen kann das einzelne ›Nichtmenschliche‹ nicht substantiviert werden.

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thropologische Konstante29 beschrieben werden. Allerdings wird es (entgegen der humanistischen Vorstellung) nicht als autonomer, rein menschlicher Akt betrachtet, sondern als ein Prozess, in dem menschliche und nichtmenschliche Agenzien zusammenwirken: »Agents of writing are not just human animals but all living and nonliving entities and increasingly technologies.«30 Der schreibende Mensch ist in dieser Vorstellung Teil einer Assemblage31 (nach Cooper, die sich auf Latour bezieht) oder (mit Barad) eines apparatus. Während Latour von einer Zusammenarbeit von menschlichen und nichtmenschlichen Entitäten in einem Netzwerk ausgeht, erfolgt die Trennung in Entitäten für Barad erst im spezifischen Miteinander, der Intra-Aktion.32 Als promovierte Physikerin stützt sie ihre Theorie des agentiellen Realismus auf physikalische Experimente und erklärt auf der Basis dieser Experimente, dass zu untersuchende Objekte sich erst in der Intra-Aktion manifestieren und nicht unabhängig voneinander existieren. Menschen sind demnach nicht die Handelnden, die Laborversuche durchführen oder, wie für diesen Beitrag maßgeblich, schreiben. Ein apparutus vereint Materie und Diskurse und erzeugt in einem bestimmten Rahmen die Phänomene, die unterschieden werden können, wie den schreibenden Menschen, die Tastatur, den Stift etc.33 Erst in diesem (Versuchs-)Rahmen entsteht nach Barad eine gemeinsame agency und die einzelnen Agenzien erscheinen als individuelle Entitäten: Existence is not an individual affair. Individuals do not preexist their interactions; rather, individuals emerge through and as part of their entangled intra-relating. Which is not to say that emergence happens once and for all, as an event or as a process that takes place according to some external measure of space and of time, but rather that time and space, like matter and meaning, come into existence, are iteratively reconfigured through each intra-action, thereby making it impossible

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Iser, Wolfgang (1991): Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M. Cooper (2019): The Animal Who Writes. S. 6. In diesem Sinne ließen sich auch Friedrich Kittlers Aufschreibesysteme verorten. Vgl. Kittler, Friedrich (1985): Aufschreibesysteme 1800/1900. München. Für eine genauere Diskussion der Unterscheidung dieser Begriffe bzw. Konzepte vgl. Dayıoğlu-Yücel, Yasemin (2021): Theoretical Cross-Fertilization. Barad’s Intra-Action and CrossCultural Studies. In: Jan Büssers, Anja Faulhaber, Myriam Raboldt u.a. (Hg.): Gendered Configurations of Humans and Machines. Interdisciplinary Contributions. Opladen u.a, S. 61-74. »(1) apparatuses are specific material-discursive practices (they are not merely laboratory setups that embody human concepts and take measurements); (2) apparatuses produce differences that matter-they are boundary-making practices that are formative of matter and meaning, productive of, and part of, the phenomena produced«. Barad (2007): Meeting the Universe Halfway. S. 146.

Yasemin Dayıoğlu-Yücel: Dem Nichtmenschlichen begegnen

to differentiate in any absolute sense between creation and renewal, beginning and returning, continuity and discontinuity, here and there, past and future.34 So verstanden stellt sich die Frage nicht mehr, ob die Schnipsel oder Herta Müller mehr Handlungsmacht bei der Entwicklung der Collagen haben. Die Handlungsmacht wirkt durch alle am Versuch bzw. Schreibexperiment Beteiligten (ob menschlich oder nichtmenschlich), sie ist nicht an die eine (oder andere) Beteiligte gebunden. Alle materiell und diskursiv bei dem Verfassen von Texten Beteiligten lassen den Text gemeinsam erwachsen.35 Eine weitere Ebene erreicht das, wenn Computertechnologien angewendet werden. Deren Einwirken in den Akt des Schreibens ist vielfältig und reicht von der Schreibprüfung und Organisation bis zur Entwicklung der Texte durch Texterkennung und automatische Rechtschreibprüfung. Ein markantes Beispiel hierfür ist die Lyrik von Brian Bilston, die mithilfe dieser Anwendungen – oder in ironischer Anspielung auf diese – verfasst wurde. Von seinem Gedicht mit dem Titel Love in the Time of Cauliflower sei hier beispielhaft die erste Strophe zitiert: Please marrow me, my beloved sweetpea, so that we may beetroot to our hearts. Lettuce have the courgette of our convictions and our love elevated to Great Artichoke.36 Bezeichnenderweise übertitelt Bilston seine Website mit Brian Bilston’s Poetry Laboetry und verbindet die Bilder der Poesie mit dem des Labors – zwei Vorstellungen, die im allgemeinen Verständnis widersprüchlich erscheinen. Bilstons Poetry Laboetry versinnbildlicht das entanglementvon schriftsprachlichem Ausdruck, hier insbesondere des künstlerischen, mit dem Künstlichen, das zwar einerseits als Ort des Experimentierens (hier mit Sprache) verstanden werden, andererseits aber auch für die automatische Texterkennung und -korrektur stehen kann. Dem Gedicht Love in the Time of Cauliflower wird als (ironische) Erklärung hinzugefügt: »love poem, inadvertently written with auto-carrot switched on«. Unabsichtlich geschieht das Schreiben mit Hilfsmitteln – sei es ein Stock im Sand, eine Feder auf Pergament oder Finger auf der Tastatur eines digitalen Endgerätes, auf dem die automatische Texterkennung und -korrektur aktiviert ist –

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Ebd., S. ix. Gerade im Kontext der responsiven Literaturdidaktik und des unmittelbaren Verbalisierens der ersten Eindrücke nach der Begegnung mit dem Text bietet es sich an, über die écriture automatique als Verfahren nachzudenken, das ›unbewusst‹ stattfinden soll. Bilston, Brian (2017): Love in the Time of Cauliflower. In: Brian Bilston’s Poetry Laboetry, 18.07.2017. URL: https://brianbilston.com/2017/06/18/love-in-the-time-of-cauliflo wer/ [Stand: 01.01.2022].

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Phänomene des (Nicht-)Verstehens

sicherlich nicht. Wie sehr nichtmenschliche Agenzien schon immer den Schreibprozess mitbeeinflusst haben, ist allerdings erst verstärkt im Zuge von Theorien wie dem new materialism, dem Posthumanismus und allgemeiner dem nonhuman turn37 in den Fokus gerückt. Für Cooper, die menschliche Schreibende als »decentered in relational models of assemblages and expression«38 beschreibt, geht es jedoch nicht nur um die Entstehung des Textes, sondern auch um seine Inhalte und die Ausbildung von »valuable practices of writing«39 In Texten werden Welten geschaffen, die realweltliche Relevanz haben können:40 Inviting students to think seriously about experientially permanent patterns in their society to embrace the possibilities of change and to take responsibility for their part in bringing about changes for the better is very much what Barad calls for in defining responsible intra-acting in the world: »being responsive to the possibilities that might help us flourish« (Barad 396).41 Diese Verantwortung42 gilt nicht nur für das menschliche Miteinander, sondern gerade für das Miteinander und die Bewusstmachung des Verwobenseins von Menschlichem und Nichtmenschlichem: »Responsibility – the ability to respond to the other – cannot be restricted to human-human encounters when the very boundaries and the constitution of the ›human‹ are continually being reconfigured.«43 Im Rahmen dieses Beitrages besonders hervorzuheben ist, dass es Cooper in ihrer enchantment ontology nicht um epistemisches Schreiben geht. Nicht das durch den Schreibprozess ermöglichte Verstehen steht im Vordergrund, sondern die Entfesselung der Kreativität: »Writing is no longer conceived of as an epistemic

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Vgl. Grusin, Richard A. (2015): The Nonhuman Turn. Minneapolis. Hawk, Byron (2011): Reassembling Postprocess: Toward a Posthuman Theory of Public Rethoric. In: Sidney I. Dobrin, J[eff]. A. Rice, Michael Vastola (Hg.): Beyond Postprocess. Logan, S. 77, zit.n. Cooper (2019): The Animal Who Writes, S. 4f. Vgl. auch: »Writing well is not just making texts but making meaningful things like facts and inquiries. Like all makers, writers work with materials (experiential perceptions and feelings) and with tools (language, images, sounds). They never work alone, but always in intra-action with materials and tools and with other creatures (which include all kinds of creations, like dragonflies and environmental organizations and Antarctic Lakes)«. Ebd., S. 222. Ebd., S. 228. Vgl. ebd. Ebd., S. 229. Das Zitat von Barad stammt aus Meeting the Universe Halfway (2007). Barad stützt ihre Überlegungen wie Waldenfels auf Lévinas. Dazu bemerkt Mitterer: »Waldenfels hingegen definiert die Responsivität als eine ›Antwortlichkeit‹, die ›der Verantwortung für das, was wir tun und sagen, unwiderruflich vorauseilt‹« Mitterer (2016): Das Fremde in der Literatur. S. 52. Barad (2007): Meeting the Universe Halfway. S. 392.

Yasemin Dayıoğlu-Yücel: Dem Nichtmenschlichen begegnen

or even socio-epistemic practice of understanding the world but rather as a behaviour of intra-acting in the world in which writers participate in their own and the world’s emergence.«44

V.

(Un-)Möglichkeit, das Nichtmenschliche zu verstehen

Waldenfels’ Konzept des radikal Fremden korreliert mit dem philosophischen Ansatz der Objekt-orientierten Ontologie, abgekützt als OOO, in der nicht allein der Mensch als sinnstiftende Agentin, sinnstiftender Agent steht, sondern die Dinge an sich nach Kant ohne menschliche Erkenntnis Bestand haben: »OOO holds that the external world exists independently of human awareness.«45 Bezugnehmend auf Heidegger wird davon ausgegangen, dass Objekte sich einem direkten menschlichen Zugang entziehen46 : »This withdrawal or withholding of things from direct access is the central principle of OOO.«47 Während in der Objekt-orientierten Ontologie die (Un-)Möglichkeit der Erkenntnis und damit die Akzeptanz des Nichtwissens im Vordergrund steht, geht es Jane Bennett in ihrer Studie Vibrant Matter. A Political Ecology of Things darum, auch nichtmenschlicher Materie eine gewisse Lebendigkeit zuzusprechen: »I believe that this pluriverse is traversed by heterogeneities that are continually doing things. I believe it is wrong to deny vitality to nonhuman bodies, forces, and forms«.48 Darüber hinaus sieht Bennett gerade in der Anthropomorphisierung nichtmenschlicher Elemente eine Möglichkeit, die eigene menschliche Beschränktheit anzuerkennen und einen Prozess in Bewegung zu setzen, der zu einem gerechteren Umgang zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Agenzien führt: [A]nd that a careful course of anthropomorphization can help reveal that vitality, even though it resists full translation and exceeds my comprehensive grasp. I believe that encounters with lively matter can chasten my fantasies of human mastery, highlight the common materiality of all that is, expose a wider distribution of agency, and reshape the self and its interests.49

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Cooper (2019): The Animal Who Writes. S. 5. Harman (2017): Object-Oriented Ontology. S. 10. »OOO defends the idea that objects – whether real, fictional, natural, artificial, human or non-human – are mutually autonomous and enter into relation only in special cases that need to be explained rather than assumed. The technical way of making this point is to say that all objects are mutually withdrawn, a term taken from Heidegger«. Ebd., S. 12. Ebd., S. 7; Herv. i.O. Bennett, Jane (2010): Vibrant Matter. A Political Ecology of Things. Durham u.a., S. 122. Ebd.

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Phänomene des (Nicht-)Verstehens

Das spekulative Schreiben ermöglicht es, diese vorsichtige Anthropomorphisierung in einem experimentellen Rahmen durchzuführen, in dem sich die Aspekte des Menschlichen und Nichtmenschlichen ebenso begegnen wie das Erleben von radikaler Fremdheit und der ästhetischen Auseinandersetzung damit. Die spekulative, literarisch zu schaffende und zu entdeckende Welt erscheint mit Musil – um in der Motivik von Waldenfels und Mitterer zu bleiben – als »Laboratorium«,50 selbst wenn in diesem der Mensch vor allem als Produkt im Fokus steht. Mehr als im Ausdruck Werkstatt, der im Zusammenhang mit dem kreativen Schreiben häufig verwendet wird, tritt somit der experimentelle Charakter in den Vordergrund und der Fokus liegt stärker auf dem Prozess als auf dem Produkt.

VI. Spekulative Fabulation und kollaboratives Schreiben Das kollaborative Schreiben ist ein Verfahren, das bereits in der Romantik zum Einsatz kam und – da fremde Impulse dazu anregen, neue Ideen zu generieren – die Kreativität besonders fördern kann. Gleichzeitig ist es eine Methode, die – so redundant es klingen mag – die Kooperationsfähigkeit fördert. Eine Feststellung, auf die auch Donna Haraway hinweist: »The stories appear to be valued for the ways they increase empathy and more welcoming perspectives towards others, even strangers. […] storytelling might well be fundamental to organising and promoting cooperation in human evolution.«51 Bezogen auf das Ziel, dem Nichtmenschlichen zu begegnen und für gegenseitige Abhängigkeiten zu sensibilisieren, fördert die Methode gleichzeitig das Ziel – insbesondere, wenn dafür bewusst gemacht wird, welche nichtmenschlichen Agenzien gleichzeitig mitkooperieren. In Staying with the Trouble geht es Donna Hawaray gerade um artenübergreifende Solidarität. Ihr Motto lautet: »Make Kin Not Babies«.52 In den kollaborativ entstandenen Camille-Geschichten erzählt sie die Geschichte eines Mischwesens zwischen Schmetterling und Mensch. In spekulativen Fabulationen, wie Haraway sie nennt, sollen zunächst literarische Welten geschaffen werden, in denen artenübergreifendes nachhaltiges Leben möglich ist und die als Folien dienen können

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Vgl. »Der Vergleich der Welt mit einem Laboratorium hatte in ihm nun eine alte Vorstellung wiedererweckt. So wie eine große Versuchsstätte, wo die besten Arten, Mensch zu sein, durchgeprobt und neue entdeckt werden müßten, hatte er sich früher oft das Leben gedacht, wenn es ihm gefallen sollte.« Musil, Robert (1952): Der Mann ohne Eigenschaften [1930]. Hamburg, S. 156. Haraway, Donna J. (2019): Introduction. Receiving Three Mochilas in Columbia: Carrier Bags for Staying with the Trouble Together. In: Ursula K. Le Guin: Carrier Bag Theory of Fiction [1986]. Newcastle upon Tyne, S. 19. Haraway (2016): Staying with the Trouble. S. 5.

Yasemin Dayıoğlu-Yücel: Dem Nichtmenschlichen begegnen

für realweltliche artenübegreifende Gesellschaften.53 Ursula K. Le Guin und ihre »Tragetaschentheorie der Fiktion«54 nehmen eine solch zentrale Rolle in Haraways Konzept ein, dass sie diese eigens neu herausgebracht hat. In der Einleitung zu Le Guins Text schreibt sie: »The burning question is how to join in telling the needed stories, building the needed worlds and muting the deadly ones. The lush feel of the soft fabric, with its burnt colors and designs, offers life-sustaining corporal sensual sustenance that is needed in making the untold stories strong.«55 Haraways Ansatz wurde von Heather Greenhalgh-Spencer mit Fokus auf »narrative inquiry« im Seminarraum umgesetzt.56 Sie beruft sich auf Connelly und Clandinin, die Menschen als »storytelling organisms« beschreiben, die einzeln und gemeinschaftlich »storied lives« führen. Thus, the study of narrative is the study of the ways humans experience the world. This general concept is refined into the view that education and educational research is the construction and reconstruction of personal and social stories; learners, teachers, and researchers are storytellers and characters in their own and other’s stories.57 Nach Greenhalgh-Spencers Erfahrungen mit Studierenden tragen faktische Geschichten, insbesondere ethnographische oder auto-ethnographische, am meisten dazu bei, ein Bewusstsein für Probleme auszubilden und eine Änderung herbeiführen zu wollen.58 Allerdings ermöglicht ein Fokus auf faktische Erzählungen

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Vgl.: »An ubiquitous figure in this book is SF: science fiction, speculative fabulation, string figures, speculative feminism, science fact, so far. […] In that sense, SF is a method tracing, of following a thread in the dark, in a dangerous true tale of adventure, where who lives and who dies and how might become clearer for the cultivating of multispecies justice.« Ebd., S. 2f. Le Guin (2019): Carrier Bag Theory of Fiction. Zur Bedeutung der Tragetaschentheorie der Fiktion vgl. auch: Dayıoğlu-Yücel, Yasemin; Bernstorff, Wiebke von (2021): Von Fadenspielen, Tragetaschen und Sammler_innen. Mehr-als-menschliche Narrative für die Zukunft. In: undercurrents – Forum für linke Literaturwissenschaft, Jg. 10, H. 16. URL: https://undercurre ntsforum.com/index.php/undercurrents/issue/view/16. [Stand 01.01.2022]. Haraway (2019): Introduction. S. 18. Greenhalgh-Spencer, Heather (2019): Teaching with Stories: Ecology, Haraway, and Pedagogical Practice. In: Studies in Philosophy and Education, Jg. 38, H. 1, S. 45. F. Michael Connelly; D. Jean Clandinin, zit n. ebd., S. 53 (Greenhalgh-Spencer zitiert Connellys und Clandinins Beitrag »Stories of Experience and Narrative Inquiry« im Educational Researcher von 1990). »The most effective stories at generating a sense of truthfulness, affective connection, and a desire to do something toward changing a practice – according to my observations – have been the factual accounts of people in the global south who live near and are deeply affected by e-waste. These stories – ethnographic stories, auto-ethnographic stories, stories of research participants in narrative inquiries – have been very generative for creating a

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Phänomene des (Nicht-)Verstehens

nicht die unmittelbare Begegnung mit dem Nichtmenschlichen und eine vorsichtig anthropomorphisierende Auseinandersetzung mit ihm. Gerade dieser spekulative Aspekt aber ist das, was die Literatur und das literarische Schreiben auch in Klassen- und Seminarräumen ermöglichen, ohne einer besonderen Ausstattung zu bedürfen. In diesem Sinne bietet Literatur nicht nur die Möglichkeit, sich mit dem Status quo menschengemachter Umweltzerstörung auseinanderzusetzen und imaginative Lösungsansätze für diese zu entwerfen. Vielmehr ermöglicht spekulative Fabulation sowohl die Bewusstmachung für die eigenen menschlichen Grenzen (auch in Bezug auf die eigene Wahrnehmung) als auch den Versuch, sich über diese hinwegzusetzen – bei vollem Bewusstsein, dass es sich nur um einen Versuch handeln kann. Während Schreibaufgaben dieser Art allein durchgeführt werden können, veranschaulichen kooperative Schreibprozesse die Relevanz der Kooperation, schulen diese und fördern durch die Impulse der anderen Beteiligten die Kreativität.

VII. Kollaboratives spekulatives Schreiben mit dem Etherpad Der Schreibprozess beim kollaborativen Schreiben ohne Zuhilfenahme von Computersoftware verläuft in der Regel linear. Wird Computersoftware verwendet, kann das kollaborative Schreiben unkomplizierter synchron ablaufen. Webbasierte Texteditoren wie Etherpad ermöglichen das gleichzeitige Arbeiten in Dokumenten. Das Tool, das für kollaboratives Arbeiten im Seminar- und Klassenraum ohnehin sehr hilfreich ist, bietet für das kollaborative Schreiben eine ideale Plattform. Die Software kann entweder rein digital, ohne materiellen Raum, in dem die Teammitglieder gemeinsam sitzen und sich absprechen können, genutzt werden oder gemeinsam in einem physischen Raum. Im ersten Fall würden zum Experimentierraum des entstehenden Textes primär die Teammitglieder, die jeweiligen digitalen Endgeräte, auf denen geschrieben wird, und die Software gehören, in der sich der Text für alle simultan materialisiert. Arbeitet das Team gemeinsam in einem Raum, gibt es somit zusätzlich zum virtuellen Raum der Software den physischen Raum, in dem getagt wird. In diesem Setting entstand im Rahmen eines Seminars mit dem Titel »Spekulative Fiktion« im Wintersemester 2018/19 an der Stiftung Universität Hildesheim die Kurzgeschichte XYZ – eine spekulative Fabulation. Inspiriert von Haraways Camille-Geschichten entwarfen die Studierenden in zwei Blöcken à 90 Minuten eine Kurzgeschichte, in der ein weiblicher Mensch und ein männlicher Außerirdischer zu einem Zwitterwesen verschmelzen. Die Studierenden, die zunächst skeptisch in dieses Experiment gingen, verließen es sense of awareness and a desire for personal and community action-change in my students.« Ebd., S. 46.

Yasemin Dayıoğlu-Yücel: Dem Nichtmenschlichen begegnen

mit einem Bewusstsein dafür, sowohl die Grenzen ihrer Imagination als auch die Grenzen ihrer Möglichkeiten zur Kooperation erweitert zu haben.59 Im Rahmen des Workshops »Ästhetisches Verstehen und Nichtverstehen in schulischen Lehr- und Lernsituationen mit Medien«, aus dem dieser Beitrag hervorgegangen ist, wurde mit dem Etherpad experimentiert, während alle Beteiligten an physisch dispersen Orten saßen und nur auf dem Interface des Etherpad zusammenkamen, ohne die Möglichkeit, sich miteinander auszutauschen.60 Die Beteiligten bekamen auf dem Etherpad eine Farbe zugeordnet, die allerdings anonym gehalten wurde. Alle hatten, wie oben beschrieben, die Möglichkeit, Text zu verfassen, zu löschen und zu verändern. Durch die unterschiedlichen Farben konnte eingesehen werden, wenn andere Teilnehmende bereits eingetippten Text veränderten. Das Experiment war zeitlich auf zehn Minuten begrenzt. Schreibimpuls waren Bilder von einem grauen Kieselstein und einem roten Legostein sowie der Anfang eines Satzes: »Ein kleiner Stein für die Menschheit, aber …«. Vorgegeben wurde weiterhin, dass die Geschichte von einem Er-Erzähler erzählt wird, der selbst keine Figur in der Geschichte ist. Kiesel- bzw. Legostein sind Figuren in der Geschichte. Nach dem gemeinsamen Verfassen des Textes wurde dieser ebenfalls gemeinsam im Sinne der responsiven Literaturdidaktik reflektiert. Insbesondere ging es um die Erfahrungen, sich in einen Stein bzw. Legostein hineinzudenken, über den außer seiner äußeren physischen Merkmale kein Wissen vorhanden war. Weiterhin wurde darüber reflektiert, wie die Begegnung mit dem Nichtmenschlichen sich schriftlich manifestiert. Es ging nicht darum, den Text dahingehend zu bewerten, ob es gelungen war, das Nichtmenschliche darzustellen, sondern sich der Grenzen der menschlichen Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit bewusst zu werden, die sich vor allem in dem Grad der Anthropomorphisierung zeigten, die in dem kollaborativ entstandenen kurzen Text eindeutig abzulesen war. So stellt sich der Kieselstein beispielsweise die Frage, ob man mit dem Legostein sprechen könne, und freut sich, »dass nach dieser ganzen Einsamkeit endlich jemand zum Kuscheln da ist, der nicht die Kälte eines Kiesels ausstrahlt«.61 Menschliche Fähigkeiten und

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Die entstandene Kurzgeschichte kann eingesehen werden in: Autor_innenkollektiv Haraway (2021): XYZ – eine spekulative Fabulation. In: undercurrents – Forum für linke Literaturwissenschaft. Die Fäden neu verknüpfen. Linke Narrative für das 21. Jahrhundert (16), S. 12f. Für weitere Informationen zur Organisation des Schreibexperiments vgl. Dayıoğlu-Yücel; Bernstorff, Wiebke von (2021): Von Fadenspielen, Tragetaschen und Sammler_innen. Mehrals-mensch-liche Narrative für die Zukunft. In: undercurrents. Forum für linke Literaturwissenschaft, Jg. 10, H. 16. URL: https://undercurrentsforum.com/index.php/undercurrents/issu e/view/16 [Stand: 01.01.2022]. Zwar hat das Etherpad eine Chatfunktion. Diese wurde jedoch nicht verwendet. Siehe Anhang.

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Bedürfnisse werden somit auf den Kieselstein übertragen. Als Kontrast dazu sei eine Karikatur von Nadine Redlich angeführt (vgl. Abb. 1), in der ein Stein sich zwar auch menschlicher Sprache bedient, allerdings in dieser darauf verweist, dass die Personen, deren Stimmen aus dem Off zu vernehmen sind (»Look at these rocks! Wind and water shaped them.«), über ihn urteilen, ohne ihn zu kennen. Damit wird auf die Grenzen der menschlichen Erfahrung und des menschlichen Wissens angespielt.

Abbildung 2: You don’t know me

Quelle: © Nicole Redlich

Yasemin Dayıoğlu-Yücel: Dem Nichtmenschlichen begegnen

VIII. Kollaboratives spekulatives Schreiben und posthumanistische Literaturdidaktik Mit Mitterer könnte das spekulative Schreiben als eine handlungs- und produktionsorientierte Methode zur Umsetzung der responsiven Literaturdidaktik verstanden werden, da kreativ auf Fragen geantwortet wird, die in diesem Fall durch die Begegnung mit dem Text ausgelöst werden. Allerdings geht das in diesem Beitrag vorgestellte spekulative Schreiben über die Erfahrung mit dem radikal Fremden des Textes hinaus. Wie Cooper in ihrer »posthumanist composition« bzw. »enchantment ontology«62 vorstellt, geht es um das gemeinsame, produktive Kreieren neuer artenübergreifend nachhaltiger Welten: »Productive agency defines the possibility of individuals making a difference every day, in small and large ways, in the composition of what Latour calls a good common world.«63 Im deutschsprachigen Raum hat die kulturökologische Literaturdidaktik das Ziel, Bildung für nachhaltige Entwicklung in den Literaturunterricht zu integrieren. Die kulturökologische Literaturdidaktik gehört neben der interkulturellen Literaturdidaktik zu den thematisch definierten Teildidaktiken. Nach Wanning könne es nicht mehr nur darum [gehen], wie ein Lerninhalt bei den Schülerinnen und Schülern ankommt, sondern auch welcher. Neben der Vermittlung von Formalqualifikationen muss die Beschäftigung mit den literarischen Inhalten wieder stärker thematisiert werden, die relevanten Probleme müssen identifiziert und in ihrer Dringlichkeit bestimmt werden. Daher erweitert sich die Diskussion über die eher formalen Kompetenzen, die jahrelang vorherrschend war, endlich um eine dezidiert inhaltlich-thematische Dimension.64 Darunter identifiziert Wanning mit Rupp die »ökologische Bedrohung« als ein »epochaltypische[s] Schlüsselproblem […], um [das] sich die Deutsch- und Literaturdidaktik zu kümmern hat«. Somit gehöre »der Umgang mit nachhaltigen Lernprozessen jetzt zu den fachdidaktischen und professionsbezogenen Vermittlungsfähigkeiten für Lehrerinnen und Lehrer«. Für Schülerinnen und Schüler trage die »Interpretation literarischer Texte unter kulturökologisch-didaktischer Perspektive […] zur Bildung eines zeitgemäßen ökologischen Bewusstseins bei« und unterstütze sie dabei, »Umweltprobleme« zu kontextualisieren.65

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Cooper (2019): The Animal Who Writes. S. 19. Ebd., S. 141. Wanning, Berbeli (2019): Literaturdidaktik und Kulturökologie. In: Christiane Lütge (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft. Literaturdidaktik. Berlin u.a., S. 435; Herv. i.O. Ebd., S. 433.

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Anklingend an Coopers posthumanist composition bzw. enchantment ontology erkennt Wanning den Wert von »literarische[n] Spielräume[n]« darin zu »erkunden, wie politische Intervention denkbar und Zukunft gestaltbar wird«: »Da jeder Text einen Vorstellungsraum öffnet, ist es möglich, diesen mit alternativen Kulturentwürfen und Naturkonzepten zu füllen und die kulturelle Fantasie zu schulen.«66 Dieses auf die Zukunft gerichtete67 Nachdenken bezeichnet Wanning als »antizipatorisches Lernen« und sieht die Aufgabe der kulturökologischen Literaturdidaktik unter anderem darin, sich der Konsequenzen des gegenwärtigen und vergangenen menschlichen Handelns in Bezug auf Natur und Umwelt bewusst zu werden und daraus zukünftiges Handeln abzuleiten.68 Die kulturökologische Literaturdidaktik hat einen äußerst hohen Stellenwert, der in der Lehrer*innenausbildung noch viel zu selten Beachtung findet. Allerdings stehen in diesem Ansatz eindeutig menschliche Subjekte im Mittelpunkt: als Verursachende der Umweltzerstörung, als Mit-Leidtragende und als mögliche Rettende. Eine posthumanistische Literaturdidaktik würde mit denselben Möglichkeiten der Literatur arbeiten wie auch die kulturökologische (wie auch die interkulturelle, als eine weitere thematisch orientierte) Literaturdidaktik – Perspektivwechsel, Umund Weiterschreiben von Geschichten, um nur einige zu nennen –, dabei aber den Aspekt der Spekulation, des Nichtwissens aufgrund der menschlichen Beschränkungen und die Bewusstmachung dafür sowie den Versuch ihrer Überwindung stärker in den Fokus rücken. Wie eingangs beschrieben, wird eine posthumanistische Pädagogik in den letzten Jahren im englischsprachigen Raum verstärkt diskutiert. Im deutschsprachigen Raum liegt bislang nur das Werk von Michael Wimmer zur posthumanistischen Pädagogik vor.69 Das kollaborative spekulative Schreiben gehört somit in das Labor einer für deutschsprachige Klassenzimmer noch zu entwickelnden posthumanistischen Literaturdidaktik.

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Ebd. Vgl. Anselm, Sabine; Grimm, Sieglinde; Wanning, Berbeli (2019): Er-lesene Zukunft. Fragen der Werteerziehung mit Literatur. Göttingen. Vgl. Wanning (2019): Literaturdidaktik und Kulturökologie. S. 433. Vgl. auch: »Literaturdidaktik muss darüber nachdenken, wie sie angesichts dessen zu einem Perspektivenwechsel beitragen kann, um Gegenbilder zu entwickeln. Aus dem Kontrast entsteht die Lernchance. Es geht um den spezifischen Erkenntniswert literarischer Fiktionen, die nicht nur Wissen generieren, sondern auch Einsicht in ethische und politische Dimensionen gewahren, welche menschlichem Handeln zugrunde liegen, das auf Zukunft gerichtet ist«. Ebd., S. 431. Vgl. Wimmer, Michael (2019): Posthumanistische Pädagogik. Unterwegs zu einer poststrukturalistischen Erziehungswissenschaft. Paderborn.

Yasemin Dayıoğlu-Yücel: Dem Nichtmenschlichen begegnen

Quellenverzeichnis Anselm, Sabine; Grimm, Sieglinde; Wanning, Berbeli (2019): Er-lesene Zukunft. Fragen der Werteerziehung mit Literatur. Göttingen. Autor_innenkollektiv Haraway (2021): XYZ – eine spekulative Fabulation. In: undercurrents – Forum für linke Literaturwisssenschaft, Jg. 10, H. 16, S. 12f. URL: https://undercurrentsforum.com/index.php/undercurrents/issue/view/1 6 [Stand: 01.01.2022]. Barad, Karen (2007): Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham. Bennett, Jane (2010): Vibrant Matter. A Political Ecology of Things. Durham. Bilston, Brian (2017): Love in the Time of Cauliflower. In: Brian Bilston’s Poetry Laboetry, 18.07.2017. URL: https://brianbilston.com/2017/06/18/love-in-the-ti me-of-cauliflower/ [Stand: 01.01.2022]. Braidotti, Rosi; Bignall, Simone: Posthuman Ecologies. Complexity and Process after Deleuze. London u.a. Cooper, Marilyn Marie (2019): The Animal Who Writes. A Posthumanist Composition. Pittsburgh. Dayıoğlu-Yücel, Yasemin (2021): Theoretical Cross-Fertilization. Barad’s Intra-Action and Cross-Cultural Studies. In: Jan Büssers, Anja Faulhaber, Myriam Raboldt u.a. (Hg.): Gendered Configurations of Humans and Machines. Interdisciplinary Contributions. Opladen, S. 61-74. –; Bernstorff, Wiebke von (2021): Von Fadenspielen, Tragetaschen und Sammler_innen. Mehr-als-mensch-liche Narrative für die Zukunft. In: undercurrents – Forum für linke Literaturwisssenschaft, Jg. 10, H. 16, S. 8-11. URL: https://undercu rrentsforum.com/index.php/undercurrents/issue/view/16 [Stand: 01.01.2022]. Dobrin, Sidney I. (Hg.) (2015): Writing Posthumanism. Posthuman Writing. South Carolina. Greenhalgh-Spencer, Heather (2019): Teaching with Stories: Ecology, Haraway, and Pedagogical Practice. In: Studies in Philosophy and Education, Jg. 38, H. 1, S. 43-56. Grimm, Sieglinde; Wanning, Berbeli (2016): Kulturökologie und Literaturdidaktik. Beiträge zur ökologischen Herausforderung in Literatur und Unterricht. Göttingen. Grusin, Richard A. (2015): The Nonhuman Turn. Minneapolis. Haraway, Donna J. (2016): Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham. – (2019): Introduction. Receiving Three Mochilas in Columbia: Carrier Bags for Staying with the Trouble together. In: Le Guin: Carrier Bag Theory of Fiction. S. 9-22.

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Yasemin Dayıoğlu-Yücel: Dem Nichtmenschlichen begegnen

Anhang Ein kleiner Stein für die Menschheit, aber … … ein großer unter den Kieseln. »Das waren noch Zeiten«, dachte er sich, »als in diesem Krater noch das Wasser rauschte und die Wellen einen hin und her bewegten.« Aber zum Glück gab es noch die Sonne, die einen erwärmte von innen. Der Tag war schon angebrochen und die Sonne schien ihm hell ins Gesicht – er fragte sich: Wird es heute klappen? Er wartete schon seit geraumer Zeit auf den Windstoß, der ihn von dem Turm der anderen Kiesel stoßen und in Bewegung versetzen würde. Dann erschrak er, denn während er auf den erlösenden Windstoß wartete, passierte etwas Unerwartetes. Ein bunter Stein lag plötzlich neben ihm! »Was das wohl ist?«, fragte sich der Kieselstein. »Kann man wohl mit ihm sprechen?« Der bunte Stein – es war ein Legostein, den ein Mensch in den Krater geworfen hatte, der am Strand auf ihn getreten war – blieb recht still. »Er ist wohl einfach ein bisschen schüchtern«, dachte sich der Kieselstein. Ein kleiner Windhauch genügte, um den Kieselstein näher an den Legostein heranzurollen und dieser fühlte sich so anders an – aber irgendwie ganz gut. Er sah auch ganz anders aus und dennoch war er genauso in diesem windstillen Krater gefangen wie er selbst. »Wie schön«, dachte sich der Kieselstein, »dass nach dieser ganzen Einsamkeit endlich jemand zum Kuscheln da ist, der nicht die Kälte eines Kiesels ausstrahlt!« Bums … ein Beben ergriff die Steine im Krater, der Himmel verdunkelte sich und eine große Hand erschien zwischen den sich teilenden Wolken, nahm einige Kiesel und den Legostein aus dem Krater. »Ihr seid geeignet«, brüllte eine Stimme. »Geeignet, um mich satt zu machen!« Unsere Zeit ist zu Ende! »Lecker!«

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»[A] question minus its answer« (Roland Barthes) Zum Status von Fragen und Antworten im Kontext literarästhetischer Lernprozesse am Beispiel von Thomas Manns Erzählung Der Weg zum Friedhof Carlo Brune »In allen Fächern gibt es ein Unterrichtsziel, das am Ende der Stunde erreicht sein muss. Ein messbares Ergebnis. In Mathe, Biologie und vielleicht sogar Geschichte mag das leicht zu definieren sein. Aber in Bezug auf Literatur?«1 Abstract Der Beitrag untersucht die produktive Rolle von Irritationen und Nichtverstehensprozessen für die literarische Rezeption im Rahmen didaktischer Vermittlungskontexte. Ausgehend von einer auf diese Fragen hin fokussierten Lektüre der Erzählung »Der Weg zum Friedhof« von Thomas Mann werden Erweiterungen des auf kognitive Problemlösungen hin ausgerichteten Kompetenzbegriffs Weinerts aufgezeigt, die notwendig werden, um das literarästhetische Potential von Irritation und Nichtverstehen abrufen zu können. In diesem Zusammenhang werden abschließend Grundzüge eines umfassenderen Modells einer literarästhetischen Literalität vorgestellt, das die Defizite des Weinert’schen Kompetenzbegriffs kompensiert und sich so auf Bildungsprozesse hin öffnet.

I.

Die Gewissheit der Fragen

»What do things signify, what does the world signify? All literature is this question, but we must immediately add, for this is what constitutes its speciality, literature is this question minus its answer.«2 Was bedeuten die Dinge, was bedeutet 1 2

Zeh, Juli (2013): Treideln. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a.M., S. 79. Barthes, Roland (1972): The last word on Robbe-Grillet? In: Ders.: Critical essays. Evanston, S. 202; Herv. i. O. Vgl. hierzu auch das Konzept eines »philosophierenden Literaturunter-

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die Welt?, so ließe sich der Anfang dieser kurzen Passage aus dem in englischer Sprache veröffentlichen Essay The last word on Robbe-Grillet? von Roland Barthes aus dem Jahr 1972 übersetzen. Dabei weist das englische Verb signify zugleich darauf hin, dass alle potentiellen Antworten nur im Modus zeichenhafter Vermittlung gegeben werden können. Dies, so viel lässt sich Barthes’ Sätzen entnehmen, zeige Literatur auf. Ihr gelingt es, wie Roman Jakobson in seinem grundlegenden Aufsatz Linguistik und Poetik ausführt, indem sie in Form der poetischen Funktion den Blick auf die sprachlichen Zeichen und Bezeichnungsfunktionen lenkt und so ihre eigene Materialität und Medialität thematisch macht. Hierüber können historische, soziale, kulturgeschichtliche und individuell-biographische Bedingungen, unter denen sich sprachliche Sinnzuschreibungen (auch außerhalb literarischer Kontexte!) vollziehen, im Zuge von Verstehensprozessen reflexiv werden.3 Dazu trägt auch eine zweite Charakteristik bei. Christoph Menke macht in seinem unter Rekurs auf Adorno ausgearbeiteten »Konzept der ästhetischen Negativität«4 eine Inkommensurabilität des ästhetischen Objekts mit wie auch immer gearteten Verstehensversuchen, von ihm als »Interpretationen« bezeichnet, aus, die in der »unser Verstehen übersteigende[n] Überschüssigkeit des ästhetischen Objekts selbst« gründe. Es löse »Verstehensversuche aus[], ohne aber auf die sinnhafte Kontinuität [d]er Interpretationen reduzierbar zu sein.«5 Das wiederum bedeutet, dass Kunst und Literatur im Zuge dieser ihnen eigenen »Überschüssigkeit« potentieller Signifikanten bzw. ihrer möglichen Semantisierungen Antworten auf die aufgeworfenen Fragen umgehend wieder selbst zu Fragen werden lassen und sich einem letztgültigen Begreifen ebenso wie unhinterfragten Werturteilen oder gar moralischen Appellen verweigern. Dieses Potential sichtbar zu machen, als einen ästhetischen Eigenwert, eine Spezifik von Kunst und Literatur zu vermitteln und somit auch Differenzen zwischen einer allgemeinen Lesekompetenz und Fähigkeiten, die im Zuge der Rezeption literarischer Texte relevant werden, deutlich werden zu lassen, sollte ein zentrales Ziel des Literaturunterrichts sein.

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richts«, wie es Jens Birkmeyer entwirft: Birkmeyer, Jens (2014): Was sind gute Lernaufgaben? Die verborgene Relevanz von Fragen im Literaturunterricht. In: Volker Frederking, Axel Krommer (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 3: Aktuelle Fragen der Deutschdidaktik. Baltmannsweiler, S. 757-778. Indem die poetische Funktion »das Augenmerk auf die Spürbarkeit der Zeichen richtet, vertieft diese Funktion die fundamentale Dichotomie der Zeichen und Objekte. Aus diesem Grund darf sich Linguistik, wenn sie die poetische Funktion untersucht, nicht nur auf das Gebiet der Dichtung beschränken.« Jakobson, Roman (1979): Linguistik und Poetik [1960]. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Frankfurt a.M., S. 91f. Menke, Christoph (1991): Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt a.M., S. 13. Ebd., S. 138.

Carlo Brune: »[A] question minus its answer« (Roland Barthes)

Die beiden hier eingangs skizzierten Themenfelder der ästhetischen Autoreflexion und Negativität werden im Folgenden am Beispiel einer frühen Erzählung von Thomas Mann mit dem Titel Der Weg zum Friedhof konkretisiert und auf literarische Verstehens- und Nichtverstehensprozesse bezogen. Ausgangspunkt bildet eine kurze Textanalyse, die auf die dann auch didaktisch relevant werdenden Fragen, die dieser Text aufwirft, und somit auf Verstehensirritationen fokussiert. Im Anschluss soll das didaktische Potential, das eine Irritation6 und Nichtverstehen7 produktiv einbeziehende literarästhetische Auseinandersetzung mit der Erzählung birgt, dargelegt werden. Ausgehend hiervon werde ich am Ende auf bildungspolitische Reformen, die mit dem Stichwort der sogenannten kompetenzorientierten Wende bezeichnet sind, Bezug nehmen und die Frage aufwerfen, was von den zuvor dargelegten didaktischen Potentialen von Irritation und Nichtverstehen sich im Rahmen eines kompetenzorientierten Literaturunterrichts umsetzen lässt – und was nicht. Auf Grundlage dieser Überlegungen wird ein Modell literarästhetischer Literalität vorgestellt, das eine Integration von Kompetenzen im Sinne der Definition von Franz Weinert erlaubt, zugleich aber die Defizite dieses Paradigmas kompensieren kann und so eine Brücke zu möglichen Bildungsprozessen schlägt, die im Zusam-

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Der Begriff der Irritation wird im Kontext ästhetischer Wahrnehmungsprozesse an dieser Stelle zunächst mit Spinner so verstanden, dass hierüber eine »Distanz zum Wahrgenommenen« geschaffen wird, die ästhetische Rezeptionsmodi ermöglicht und von einer Irritation in einer Alltagssituation »im Hinblick auf einen pragmatischen Zweckzusammenhang« dahingehend abgrenzbar ist, als sie die Aufmerksamkeit auf den Wahrnehmungsprozess selbst lenkt. Spinner, Kaspar H. (2020): Irritation, Staunen, Resonanz und ästhetische Erfahrung. In: Ricarda Freudenberg, Marie Lessing-Sattari (Hg.): Zur Rolle von Irritation und Staunen im Rahmen literarästhetischer Erfahrung. Theoretische Perspektiven, empiriebasierte Beobachtungen und praktische Implikationen. Berlin, S. 45f. Zu den Voraussetzungen, die im Zusammenhang eines Umgangs mit Irritationen bei literarischen Textlektüren erfüllt sein müssen, damit deren Potential für ästhetische (Nicht-)Verstehensprozesse produktiv wird, und somit auch zum Verhältnis von Irritation und Nichtverstehen vgl. das Zwischenfazit in Kapitel II.II. Zur grundlegenden Bedeutung von Nichtverstehensprozessen in literarästhetischen Vermittlungskontexten vgl. auch: Olsen, Ralph (2020): »Aber ist denn die Unverständlichkeit etwas so durchaus Verwerfliches und Schlechtes?« Anmerkungen zum literarischen Nichtverstehen. In: Daniela Anna Frickel, Andre Kagelmann, Andreas Seidler u.a. (Hg.): Kinderund Jugendmedien im inklusiven Blick. Analytische und didaktische Perspektiven. Berlin u.a, S. 49-73. Wenn im Kontext dieses Beitrags die Rolle des Nichtverstehens thematisiert wird, bezieht sich dies auf die von Olsen als nachhaltiges Nichtverstehen im ästhetisch-anerkennenden Modus von anderen Arten des Nichtverstehens im Zuge der Auseinandersetzung mit literarischen Texten abgegrenzte Form. Vgl. ebd., S. 56.

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menhang mit Fragen von Verstehen und Nichtverstehen abschließend erörtert werden.8

II.

»Ach, die Wahrheit zu reden«. Die Fragwürdigkeit der Antworten in Thomas Manns Der Weg zum Friedhof

Thomas Mann schrieb die Erzählung für die satirische Wochenzeitschrift Simplicissimus, in der sie im September 1900 erschien. Im Mittelpunkt steht der buchstäblich Wahrheit werdende »Weg zum Friedhof« des Protagonisten Lobgott Piepsam, ein »elender und verlorener Mensch«9 mittleren Alters, der nach dem Tod von Frau und Kindern auch seinen Arbeitsplatz infolge von Alkoholismus verloren hat. Ganz in »schwarz gekleidet«10 und gestützt auf seinen »schwarzen Stock«11 kommt es auf dem Weg zu den Gräbern seiner Familie zur Konfrontation mit einem vor Gesundheit und Lebenswillen strotzenden Radfahrer, dem sich Piepsam zunächst entgegenstellt, da jener nicht – wie vorgeschrieben – die Chaussee benutzt, sondern den hierneben verlaufenden Fußweg. Als der Radfahrer auch auf die Drohung mit einer polizeilichen Anzeige nicht reagiert, sondern seine körperliche Überlegenheit demonstriert und unbekümmert seinen Verkehrsverstoß fortsetzt, bricht Piepsam in religiös überhöhte, cholerische Schimpftiraden aus. Der Tonfall einer prophetischen Gerichtsrede wirkt aus seinem Mund grotesk und angesichts des Anlasses lächerlich. Der Anfall mündet schließlich in Piepsams Zusammenbruch – unter dem Spott der umstehenden Menge fährt ihn am Ende ein Sanitätswagen »von hinnen«.12

II.I

Durchkreuzte Verstehensentwürfe: Nietzsche versus Schopenhauer

Der Hauptfigur, deren Darstellung sich »wie eine […] inflationäre Anhäufung zeitgenössischer Degenerationssymptome [liest]«,13 steht die Vitalität des Radfahrers

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Die hier entwickelten Gedanken greifen zurück auf das vierte Kapitel von: Brune, Carlo (2020): Literarästhetische Literalität. Literaturvermittlung im Spannungsfeld von Kompetenzorientierung und Bildungsideal. Bielefeld, S. 195-235. Mann, Thomas (2005): Der Weg zum Friedhof [1900]. In: Ders.: Die Erzählungen. Frankfurt a.M., S. 185. Ebd., S. 183. Ebd., S. 185. Ebd., S. 191. Schneider, Jens Ole (2014): »Ich will euch Wahrheiten in die Ohren schreien«. Anthropologischer Wissensanspruch und narrative Wissensproblematisierung in Thomas Manns Der klei-

Carlo Brune: »[A] question minus its answer« (Roland Barthes)

gegenüber, der ab einem bestimmten Punkt in der Erzählung allegorisch »das Leben«14 genannt wird und vor dem Hintergrund der Willensmetaphysik Friedrich Nietzsches verstanden werden kann. Dies trifft umso mehr zu, als die Gegenfigur Piepsam Bezüge zum Schopenhauer’schen Ideal der Lebensverneinung und Askese aufweist, dies allerdings nur in grotesker Verzerrung und nicht aus freier Wahl heraus, sondern bedingt durch die erlittenen Schicksalsschläge und gerade fehlender Selbstkontrolle.15 Wenn Nietzsche in seiner religionskritischen Schrift Der Antichrist das Schopenhauers Ethik zugrundeliegende Prinzip des Mitleids aus der Perspektive seines vitalistischen Willensbegriffs angreift,16 dann scheint dies der Art und Weise, wie der Text Piepsam kläglich scheitern lässt und als lächerliche Figur vorführt, während der Radfahrer, »das Leben«, triumphiert, zunächst zu entsprechen. Für eine allenfalls vorläufige Gültigkeit der Verstehensentwürfe einer solchen Lektüre sprechen allerdings weitere Beobachtungen: zum einen die Tatsache, dass sich auch der Radfahrer – ebenso wie Piepsam – auf dem titelgebenden »Weg zum

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ne Herr Friedemann und Der Weg zum Friedhof. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften, Jg. 18, H. 1, S. 129. Mann (2005): Der Weg zum Friedhof. In: Die Erzählungen. S. 186. Vgl. zu diesen Kontexten Jens Ole Schneider, der in seiner Lektüre der beiden frühen MannErzählungen Der kleine Herr Friedemann und Der Weg zum Friedhof hierauf abhebt, zugleich aber auch deutlich macht, dass die Erzähltechnik Manns eine klare Zuordnung zu bestimmten philosophischen oder biologistischen Theoremen im Sinne einer hierauf festlegbaren Textaussage immer wieder ästhetisch unterminiert. »Durch eine ›Vielzahl von Interferenzen zwischen Darwinismus und Schopenhauer-Rezeption‹ wird die biologische Evolutionstheorie um 1900 zudem durch eine philosophische Willensontologie erweitert und weltanschaulich funktionalisiert. Besonders der Begriff des ›Lebens‹ fungiert dabei als ein Schwellenbegriff, der biologische und philosophische Wissensansprüche gleichermaßen zu integrieren weiß und so schnell zu einem ›Grundwort der Epoche‹, zum Signum eines neuen metaphysischen ›a priori‹ avanciert […]. Gegenüber der objektiven Wirksamkeit des ›Lebens‹ und seinen konkreten, besonders sexuell-triebhaften Manifestationen hat der Einzelne nach Auffassung der Jahrhundertwende eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird er zum ›lebensverneinenden‹ Asketen und folgt damit jener Entsagungsethik, die Schopenhauer als Konsequenz aus seiner pessimistischen Interpretation des Daseins als blinden triebhaften ›Willen zum Leben‹ zog, oder er frönt dem ›Leben‹ im Sinne einer ausdrücklichen Bejahung der Sinnlichkeit, der Sexualität und der vitalen Selbstbehauptung. Ein Gewährsmann für diese zweite, lebensenthusiastische Alternative ist wiederum Nietzsche.« Schneider (2014): »Ich will euch Wahrheiten in die Ohren schreien«. In: Scientia Poetica. S. 114. »Das Christenthum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Missrathnen genommen, es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht«. Nietzsche, Friedrich (1988): Der Antichrist. Fluch auf das Christentum [1894]. In: Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hg.): Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner u.a. München, S. 171; Herv. i.O. (= Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Bd. 6).

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Friedhof« befindet – und diesen hierauf sogar überholt. Dies mag noch damit erklärt werden, dass der Text zwei Möglichkeiten vorführt, wie der Mensch sich angesichts der Unausweichlichkeit seines bevorstehenden Todes im Leben verhält; ob er es gleichwohl zu genießen und vital auszufüllen vermag oder verhärmt und missmutig seiner Wege zieht. In diesem Fall wäre das Verhaltensmuster des Radfahrers das, was der Text seinen Leser_innen eher nahelegt. Doch macht vor allem die Art und Weise, wie das Geschehen erzählerisch wertend vermittelt wird, eine solche Lektüre fragwürdig. Vordergründig gewinnt man den Eindruck einer heterodiegetischen Erzählinstanz mit Nullfokalisierung, die »auf den ersten Blick [als] ›allwissende[r] Erzähler‹ auf[tritt]«.17 Doch bei genauer Textlektüre offenbart sich dies als Täuschung. Die Erzählinstanz ist unzuverlässig, sowohl mit Blick auf die Wiedergabe scheinbarer Fakten als auch hinsichtlich vorgenommener Bewertungen; auch deshalb, weil sie in manchen Passagen in die interne Fokalisierung wechselt. Einige Beispiele: Als der recht behäbige Tonfall, in dem den Leser_innen zunächst die Straßenszenerie und dann Piepsam vorgestellt werden, durch einen Gedankenstrich sowie das Signalwort »– Plötzlich« unterbrochen wird und der Radfahrer den Plan betritt, wird dieser zunächst als eher durchschnittlicher Zeitgenosse eingeführt: Ein junger Mann saß auf dem Sattel, ein Jüngling, ein unbesorgter Tourist. Ach, mein Gott, er erhob durchaus nicht den Anspruch, zu den Großen und Herrlichen dieser Erde gezählt zu werden! Er fuhr eine Maschine von mittlerer Qualität, gleichviel aus welcher Fabrik, ein Rad im Preise von zweihundert Mark, auf gut Glück geraten. Und damit kutschierte er ein wenig über Land, frisch aus der Stadt hinaus, mit blitzenden Pedalen in Gottes freie Natur hinein, hurra!18 Der letzte Ausruf wirkt ob der wenig euphorisierten Figurencharakteristik zuvor fast ein wenig ironisch, möglich ist es aber auch, ihn als erlebte Rede des »Jüngling[s]« selbst oder – in diesem Fall mit zynischem Unterton – Piepsams zu lesen. Das »[H]urra!« bildet den Übergang zu einer sich unmittelbar anschließenden weiteren Beschreibung, die nun aber einen anderen Ton anschlägt: Er trug ein buntes Hemd und eine graue Jacke darüber, Sportgamaschen und das keckste Mützchen der Welt – ein Witz von einem Mützchen, bräunlich kariert, mit einem Knopf auf der Höhe. Darunter aber kam ein Wust, ein dicker Schopf von blondem Haar hervor, das ihm über die Stirne emporstand. Seine Augen waren blitzblau. Er kam daher wie das Leben.19 17 18 19

Schneider (2014): »Ich will euch Wahrheiten in die Ohren schreien«. In: Scientia Poetica, S. 134. Mann (2005): Der Weg zum Friedhof. In: Die Erzählungen. S. 185f. Ebd., S. 186. Die Tatsache, dass der Radfahrer hier allerdings eine »graue Jacke« über dem bunten Hemd trägt und sein »keckste[s] Mützchen der Welt […] bräunlich kariert«, also erd-

Carlo Brune: »[A] question minus its answer« (Roland Barthes)

Die blitzblauen Augen und das Mützchen werden zudem an späterer Stelle aufgegriffen, und zwar in der Figurenrede Piepsams, der in seiner ›Gerichtsrede‹ an die gaffende Menschenmenge den Radfahrer auch hier zur Allegorie für das von ihm verabscheute Leben wählt – und auf dieser Folie zugleich seine Mitmenschen wahrzunehmen scheint: »›Kommt nur her, kommt nur alle herbei!‹, brüllte er. ›Nicht ihr, nicht bloß ihr, auch ihr anderen, ihr mit den Mützchen und den blitzblauen Augen!‹«20 Die Verwendung recht spezifischer, identischer Wendungen und Begriffe in Erzähler- wie Figurenrede lenkt den Blick nicht nur auf die sprachliche Gestaltung des Textes, sie könnte auch darauf hindeuten, dass bereits die letzten Sätze der ersten Einführung des Radfahrers im Erzählerbericht, in etwa ab dem »hurra«, einer internen Fokalisierung folgen, der Piepsams Perspektive zugrunde liegt21 – womit sich auch die Widersprüchlichkeit in der Charakteristik der Figur erklären lässt. Die ›Allwissenheit‹ und Verlässlichkeit der Erzählinstanz ist somit in Frage zu stellen, literarische Darstellungstechniken tragen zur Irritation der Leser_innen bei – und so zu einer Textdistanz, die mit möglichen Revisionen erster Verstehensentwürfe einhergehen kann. Diese Beobachtungen werden gestützt von weiteren Auffälligkeiten: So neigt die Erzählinstanz in den einleitenden Passagen zu Abschweifungen und naiv wirkenden Übertreibungen, etwa als ihre Rede auf einen Hund fällt, der in einem auf der Chaussee fahrenden Wagen sitzt: »Es war ein unvergleichliches Hündchen, Goldes wert, tief erheiternd; aber leider gehört es nicht zur Sache, weshalb wir uns von ihm abkehren müssen.« Neben der Tatsache, dass solche Passagen wiederum die Leser_innen grundlegend auf Gestaltungsfragen der erzählerischen Vermittlungsebene aufmerksam werden lassen und somit zu einer Textdistanz beitragen, dürften hier zudem erste Zweifel an den logisch-intellektuellen Fähigkeiten und somit am Verstehenshorizont der Erzählinstanz aufkommen, denn das Motiv der ins Leere laufenden Erzählstränge wird nur wenige Sätze später wieder aufgegriffen, und zwar mit einer Begründung, die abermals nur verwundern kann: »Der Fuhrmann schlief, und ein Hündchen war nicht darauf, weshalb dieses Fuhrwerk ganz ohne Interesse ist.«22 Weshalb es dennoch erwähnt wird, bleibt ebenso Geheimnis der Erzählinstanz wie die Tatsache, weshalb Fuhrwerke mit Hündchen

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farben ist, mag abermals als Hinweis dafür gelesen werden, dass auch er sich auf dem »Weg zum Friedhof« befindet – und somit seinem Tode entgegeneilt. Ebd., S. 190. Vgl. hierzu Blödorn, Andreas (2006): Perspektivenwechsel und Referenz. Zur Metaphorik des Todes in Thomas Manns frühen Erzählungen. In: Ders., Søren R. Fauth (Hg.): Metaphysik und Moderne. Von Wilhelm Raabe bis Thomas Mann. Festschrift für Borge Kristiansen. Wuppertal, S. 272f. Schneider (2014): »Ich will euch Wahrheiten in die Ohren schreien«. In: Scientia Poetica, S. 130f. Mann (2005): Der Weg zum Friedhof. In: Die Erzählungen. S. 182f. Einzig am Ende des Textes wird das Motiv noch einmal aufgegriffen, wenn davon die Rede ist, dass ein »Pinscherhund«

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nun auf einmal doch relevanter sind als solche ohne sie. Auch durch die dreimalige Verwendung von Diminutiven in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen vermittelt sich über diese Aussagen der Eindruck einer gewissen Naivität und Sonderbarkeit der Erzählinstanz.23 Angesichts ihres Anspruches, eine moralische Instanz zu sein, die Leser_innen über ›Gut und Böse‹ aufklären zu wollen (und zu können), »so lustigen Leuten wie euch dergleichen begreiflich zu machen«,24 wirkt all dies mehr als irritierend. In Verbindung zu den Überzeichnungen in der Figurencharakteristik Piepsams, die auch in sich nicht konsistent ist, da zunächst die abnormsten, in der Tradition des Grotesken stehenden physiognomischen Details in bewusst abstoßender, sich hierüber geradezu belustigender Art und Weise zur Darstellung kommen,25 dann aber der Schluss gezogen wird: »Kurzum, es war ein Gesicht, dem man die lebhafteste Sympathie dauernd nicht versagen konnte«,26 kann man mit Schneider nur zu folgender Beobachtung gelangen: »Als zentrale Wissensinstanz tritt durchweg ein Erzähler auf, der einerseits das Selbstbild eines antihumorigen Lehrmeisters hat, gleichzeitig diesen Anspruch aber durch eine eigene Neigung zur komischen Überzeichnung und Verzerrung immer wieder kontaminiert.«27 Selbst der Abtransport Piepsams in dem herbeigerufenen Sanitätswagen wird mit einem »Affentheater« verglichen, in dem die Leiche »wie ein Brot in den Backofen [hinein-

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dem tobenden Piepsam »mit eingeklemmtem Schwanze gerade ins Gesicht hinein[heulte].« Ebd., S. 190. Die Rede ist erst von einem »Hündchen«, das ein »spitzes Schnäutzchen« hat und im folgenden Satz gar zu einem »unvergleichlichen Hündchen, Goldes wert, tief erheiternd« wird. Ebd., S. 182. Auch das Prädikat »tief erheiternd« wirkt hier unpassend – wenn überhaupt, dürften zumindest im konventionellen Sinne gebildete Leser_innen einer solchen Erscheinung allenfalls eine recht oberflächliche Form der Gemütserheiterung zusprechen, sodass die Wendung ins Parodistische kippt. Ebd. S. 184; Herv. d. Verf. Vgl. etwa folgende Passage, in der die Erzählinstanz geradezu einen gewissen Spaß daran zu entwickeln scheint, die Nase Piepsams als sprachliche Inszenierung des Grotesken vor den Augen der Leser_innen allererst entstehen zu lassen: »Zwischen den ausgehöhlten Wangen aber trat eine vorn sich knollenartig verdickende Nase hervor, die in einer unmäßigen, unnatürlichen Röte glühte und zum Überfluß von einer Menge kleiner Auswüchse strotzte, ungesunder Gewächse, die ihr ein unregelmäßiges und phantastisches Aussehen verliehen.« Ebd., S. 183. Wenig später wird das Aussehen der Nase gar mit dem einer »Faschingsnase« verglichen und spöttisch als »melancholischer Spaß« (ebd.) bezeichnet. Dass diese Darstellung im Kontext von Degenerationsdiskursen zur Zeit der Jahrhundertwende steht, verdeutlicht auch die Schilderung der Augen Piepsams als »entzündet und jämmerlich umrändert«. Ebd., S. 184. Ebd. Schneider (2014): »Ich will euch Wahrheiten in die Ohren schreien«. In: Scientia Poetica. S. 132f.

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geschoben]« werde.28 Angesichts der Tatsache, dass hier soeben ein verzweifelter Mensch zu Tode gekommen ist, stellt der Tonfall dieser Wertungen und Wendungen die Erzählinstanz hinsichtlich ihres selbst formulierten Anspruchs auf moralische Integrität und somit auch als vertrauenswürdige Wissensinstanz mehr als in Frage. Und möglicherweise bringt die der Formulierung ihres eigenen Vorsatzes, »die Wahrheit zu reden«, vorangestellte Interjektion »ach«29 auch deren eigene Verzweiflung darüber zum Ausdruck, diesem Anspruch gerecht werden zu wollen, ohne dies faktisch leisten zu können.

II.II Zwischenfazit: Fragen ohne Antworten Die erzählerische Vermittlung über eine unzuverlässige, in ihrer Fokalisierung wechselnde Erzählinstanz desavouiert folglich jeden Versuch, den Text eindimensional entweder als literarisches Exempel für Nietzsches Willensmetaphysik oder als deren Kritik zu verstehen. Einfache Antworten auf Fragen nach einer Beurteilung des Schicksals Piepsams oder – ein wenig höher gegriffen – dem Wert bzw. der Bewertung menschlichen Lebens gibt der Text gerade nicht; vielmehr wirft er diese Fragen auf und lässt einseitige Antworten ins Leere laufen; auch indem er dominante, die Literatur der klassischen Moderne prägende Diskurse wie die Willensmetaphysik Nietzsches bzw. sozialdarwinistisch inspirierte Degenerationsund Entartungsdiskurse aufgreift und kritisch zur Reflexion bringt.30 Voraussetzung hierfür ist es, dass im Zuge der Rezeption Irritationen zugelassen und nicht abgewehrt oder ausgeblendet werden.31 Nur dann, wenn sich die Leser_innen vom Text immer wieder ›vor den Kopf stoßen lassen‹, kann sich im Zuge einer hierüber bewirkten Distanz und eines ersten Innehaltens nicht nur eine Fokussierung auf die eigene (Text-)Wahrnehmung im Sinne eines bewussten Wahrnehmens der eigenen Wahrnehmung bzw. Textlektüre ereignen,32 sondern auch eine fortlaufende und nicht nur temporäre Revision von Verstehensentwürfen. In diesem Verständnis von bzw. diesem spezifisch ästhetischen Umgang mit

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Mann (2005): Der Weg zum Friedhof. In: Die Erzählungen. S. 191. Ebd., S. 184. Auch hieran lässt sich ablesen, dass die Erzählung zentrale, sich kontrovers aufeinander beziehende Theoreme der Philosophien Schopenhauers und Nietzsches aufgreift und sie ergebnisoffen zur Disposition stellt. Vgl. Schneider (2014): »Ich will euch Wahrheiten in die Ohren schreien«. In: Scientia Poetica. S. 113. Vgl. Freudenberg, Ricarda (2020): Mit dem Störpotenzial literarischer Texte umgehen: Irritation und Staunen in Gesprächen unter Studierenden über Walter Benjamin Lesendes Kind. In: Dies., Lessing-Sattari: Zur Rolle von Irritation und Staunen im Rahmen literarästhetischer Erfahrung. S. 206. Vgl. ebd. sowie Spinner (2020): Irritation, Staunen, Resonanz und ästhetische Erfahrung. S. 46.

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Irritationen verbinden sich diese mit Nichtverstehensprozessen, die in der Folge aber gerade nicht umgehend aufgelöst werden, indem ein modifiziertes, in sich aber weiterhin geschlossenes und fixierbares Verstehensmuster generiert wird. Ein genuin ästhetischer Umgang mit Irritation dynamisiert vielmehr eine Suchbewegung, in deren Verlauf »der Rezipient oder die Rezipientin bei den abweichenden literarischen Konzeptualisierungsmustern verweilt«33 und sie nicht wiederum final synthetisiert. Dieser Suchbewegung aufseiten der Rezipient_innen korreliert auf Textebene, dass die in der Erzählung verhandelten Diskurse immer wieder zur Disposition gestellt und somit nicht nur in sich, sondern zugleich auch in ihrer scheinbaren Alternativlosigkeit, in ihrem Anspruch einer letztgültigen Positionierung (vitalistischer Lebenswille oder Askese; Wille zur Macht oder Mitleidsethik) auf den Prüfstand gestellt werden. Hinterfragt werden hierüber nicht nur diese Positionen selbst, sondern die Letzt- und Allgemeingültigkeit der hierauf beruhenden moralischen Urteile, denen der vermeintlich sichere (Verstehens-)Grund, auf dem sie stehen, entzogen wird. Dies gelingt der Erzählung vor allem darüber, dass die Ebene der sprachlicherzählerischen Gestaltung in den Vordergrund rückt. Anhand der autoreflexiven Verweise auf das eigene Erzählen in den Abschweifungen zu Beginn und in den wechselnden Fokalisierungen etabliert der Text eine Form des »transzendentalen Erzählens«,34 das die Bedingungen der Möglichkeiten erzählerisch vermittelter Denk- und Wahrnehmungskonstrukte und somit auch des menschlichen Verstehens kenntlich macht. Ob die einzelnen Leser_innen am Ende Piepsams Tod als nur allzu gerechte Folge seines Lebensverdrusses bzw. seiner Degeneration verstehen oder die despektierliche Kommentierung der Erzählinstanz gerade ihren Widerspruch herausfordert und sie Mitleid mit seinem Schicksal entwickeln, ist somit gar nicht die eigentliche Frage. Beides bleibt in das ästhetische Spiel des Textes in der Form eingebunden, dass die Lesenden zu Reflexionen angeregt werden, die sie den schwankenden Boden ihrer jeweiligen Verstehensentwürfe nur allzu deutlich spüren lassen. Der Blick in den Abgrund eigenen Nichtverstehens, in die Bedingtheit eigener Verstehensmodelle tritt an die Stelle naturalistisch gefasster und in Binäroppositionen strukturierter, vermeintlich allgemeingültiger Denk- und Handlungsmuster; das

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Lessing-Sattari, Marie; Wieser, Dorothee (2020): Zum Verhältnis von literaturdidaktischen Bildungsansprüchen und der Eigenlogik von Literaturunterricht am Beispiel des schulischen Umgangs mit Irritation und Metaphorik. In: Freudenberg, Lessing-Sattari: Zur Rolle von Irritation und Staunen im Rahmen literarästhetischer Erfahrung. S. 224. Žmegač, Viktor (1995): Ironischer Pluralismus. Zu einer frühen Erzählung Thomas Manns. In: Zagreber Germanistische Beiträge, Jg. 4, S. 14. Vgl. hierzu auch: Schneider (2014): »Ich will euch Wahrheiten in die Ohren schreien«. In: Scientia Poetica. S. 125.

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Verstehen bleibt überformt von der Irritation und hierüber dynamisierten stetigen Neuausrichtungen der Lektüre. Es handelt sich um einen »Text, der weniger bestimmte biologische, anthropologische oder soziale Abläufe als vielmehr deren schwierige objektive Erkennbarkeit und ästhetische Darstellbarkeit zum Thema zu haben scheint«.35 Und genau darin liegt nicht nur die ästhetische Qualität dieses Textes, sondern ein grundlegendes Potential von Literatur – auch und gerade im Kontext schulischer Bildungsprozesse – begründet.

III. Didaktische Fragen III.I Kognitive »Problemlösungen«: der Kompetenzbegriff Weinerts und die Frage seiner Anwendbarkeit auf literarisches Lernen Es stellt sich jedoch die Frage, ob dieses Potential auf Grundlage des derzeit für die Bildungsstandards im Fach Deutsch zugrunde gelegten Kompetenzbegriffs Weinerts erschlossen werden kann. Weinert definiert Kompetenzen in einer kanonisch gewordenen Passage aus seiner Studie Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit als die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.36 Diese Begriffsfassung, die der »funktionalen Psychologie« entlehnt ist37 und die die Standardisier- wie Messbarkeit schulischer Leistungen gewährleisten soll, hat sich in der deutschen Bildungslandschaft insbesondere infolge der »Klieme-Expertise«38 durchgesetzt. Weinerts Kompetenzbegriff ist auch durchaus geeignet, wenn es darum geht, Schüler_innen zunächst ein grundlegendes ›Handwerkszeug‹ zu einem allerdings dann sehr eng umrissenen und in seinen Möglichkeiten begrenzten kognitiv-analytischen Zugang zu literarischen Texten zu vermitteln, etwa als Verstehen im Sinne eines korrekten Identifizierens bestimmter literarischer Darstellungstechniken. Die funktionale Lösung komplexerer Fragestellungen, die Manns

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Ebd., S. 133. Weinert, Franz E. (3 2014): Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In: Ders. (Hg.): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim u.a., S. 27f. Vgl. Dawidowski, Christian (2016): Literaturdidaktik Deutsch. Paderborn, S. 68. Klieme, Eckhard u.a. (2003): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Hg. v. Bundesministerium für Bildung und Forschung. Bonn, Berlin.

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Erzählung aufwirft, indem sie die Leser_innen immer wieder mit Ungereimtheiten, Widersprüchen und so mit Nichtverstehen konfrontiert, wird allerdings insofern scheitern, als im Zuge dessen diese Antworten zwangsläufig verabsolutiert oder zumindest vereindeutigt werden müssten. Ein genuin literarästhetischer Rezeptionsprozess, der die immer nur vorläufige Gültigkeit möglicher Verstehensentwürfe zum Ausgangspunkt seiner Dynamik nimmt, kommt so gar nicht erst in Gang. Ich erläutere diese Gedanken an einigen konkreten Beispielen: Dass die Ausbildung von Kompetenzen im Sinne Weinerts auch im Literaturunterricht durchaus ihre Berechtigung hat, weil hierüber eine Grundlage für viele weitergehende Operationen gelegt wird, lässt sich etwa an der Fähigkeit festmachen, die Erzählperspektive angemessen zu bestimmen. Die Schüler_innen erkennen dann, dass sich neben einer Nullfokalisierung auch Passagen finden, die intern über Piepsam fokalisiert sind. Weiterhin lässt sich die für die Erzählung relevante Trennung der beiden Fragen: ›Wer sieht?‹ und ›Wer spricht?‹, kompetenzorientiert vermitteln und infolgedessen mit Blick auf die zweite Frage der Ort, von dem aus erzählt wird, als heterodiegetisch bestimmen. Schließlich bilden das Erkennen und korrekte Benennen von Formen unzuverlässigen Erzählens eine Kompetenz im Sinne Weinerts. Weiterhin wird eine strukturalistisch-semiotische Analyse von Oppositionsund Äquivalenzbeziehungen gewinnbringend sein, die auf einer basalen Ebene ebenfalls weitgehend im Rahmen des Kompetenzbegriffs angesiedelt werden kann.39 Die Schüler_innen können so erfassen, dass die Erzählung – sowohl auf der Ebene von Isotopien als auch, was ihre Raum- und Figurenkonstellation anbetrifft – nahezu durchweg mit dichotomischen Oppositionsstrukturen operiert. Auf der Ebene von Isotopien könnten sie etwa die Entgegensetzung von Begriffen, die semantisch mit Leben, Vitalität und Frohsinn verbunden sind (wozu etwa der Verkehr auf der Chaussee, die Figur des Radfahrers, sein Äußeres und seine Kleidung, der Frühlingstag oder ein Satz wie: »Die Welt lächelte«,40 zu rechnen sind), zu solchen herausarbeiten, die Tod, Not und Elend verkörpern (wozu etwa der abseits des Lebens auf der Chaussee verlaufende titelgebende »Weg zum Friedhof«, die Figur Piepsam mit allen Details seines Äußeren, seiner Kleidung sowie seiner ›Gerichtsrede‹ oder auch der Schlusssatz der Erzählung: »Und dann fuhren sie Lobgott Piepsam von hinnen.«, zählen). Eine Analyse der Raumkonstellation lässt sich an diese Aufgabe anschließen; der »Weg zum Friedhof« führt vom Leben in der Stadt weg und ist von der bevölkerten Chaussee zudem durch einen »schmale[n],

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Vgl. zu den hier notwendigen Einschränkungen die Ausführungen in Fußnote 43. Mann (2005): Der Weg zum Friedhof. In: Die Erzählungen. S. 182.

Carlo Brune: »[A] question minus its answer« (Roland Barthes)

trockene[n] Graben«41 getrennt. Während der Verkehr auf der Chaussee, die Stadt und Dorf verbindet, in beide Richtungen verläuft, folgen alle Figuren auf dem »Weg zum Friedhof« nur einer, und zwar derjenigen, die aus der Stadt herausund zum Friedhof hinführt.42 Schließlich sind auch die für den Text relevanten kultur- oder sozialgeschichtlichen Kontexte zunächst einmal kompetenzorientiert vermittelbar: Eignen sich die Schüler_innen etwa Kerngedanken der Philosophien Nietzsches und Schopenhauers an, so können sie diese vordergründig klar auf die Erzählung bzw. ihr Figurenpersonal zurückbeziehen. Aus der Erarbeitung dieser Punkte gehen bei entsprechenden Aufgabenstellungen, wie im Kompetenzparadigma gefordert, messbare Leistungen hervor, die auf konkreten und recht genau bestimmbaren Verstehensoperationen beruhen.43 Gewonnen ist hiermit allerdings noch nicht viel. Denn die Bestimmung von Erzähltechniken, Raumstrukturen oder auch die kulturellen Kontextualisierungen sind kein Selbstzweck; ihnen kommt eine dienende Funktion für hierauf aufbauende, dann spezifisch ästhetische Verstehens- und Erfahrungsprozesse zu, für die wiederum Unverständlichkeiten und Nichtverstehen von konstitutiver Bedeutung sind. Für eine Ästhetik, die die literarische Unbestimmtheit ernst nimmt, wird die Auseinandersetzung mit dem Text primär ab dem Punkt interessant und relevant, wo nicht mehr klare Lösungen gefragt sind, sondern eher Probleme wahrgenommen, Irritationen bemerkt, mit diesen im oben dargelegten Sinne produktiv weitergearbeitet wird und hierüber variable, da im Lektüreprozess jeweils veränderbare, flexible Verknüpfungen der zuvor kompetenzorientiert erarbeiteten Ergebnisse vorgenommen werden, die Schüler_innen über Textaussagen ›stolpern‹. Und genau diese Operationen sind nicht mehr vollständig voraussehbar, im Sinne der Kompetenzorientierung festlegbar und so in ihren Ergebnissen messbar, da hochgradig individualisiert.44

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Ebd. Dieser Graben bleibt als Zwischenraum allerdings durch Kennzeichen beider Wege geprägt: Einerseits ist er so staubig und trocken wie der »Weg zum Friedhof«, andererseits »von Gras und Wiesenblumen ausgefüllt«. Ebd. Im Rahmen eines kompetenzorientierten Zugangs wären weiterhin einzelne sprachliche Details zu erarbeiten, wie etwa die allegorische Funktion der Bezeichnung »das Leben«, die für den Radfahrer ab einem bestimmten Punkt verwendet wird, oder die sprechenden Namen Piepsams und seiner verstorbenen Frau, die eine »geborene Lebzelt« war. Ebd., S. 184. Im Falle einer kompetenzbasierten strukturalistischen Textanalyse ist es notwendig, die Schüler_innen in der Bestimmung der Oppositions- und Äquivalenzbezüge durch die Aufgabenstellung zu lenken, da hier m.E. auch andere Oppositionen erschlossen werden können. ›Freiere‹ strukturalistische Analysen sind dann ggf. bereits dem Literalitätsparadigma zuzuordnen, vgl. hierzu unten. Vgl. Olsen (2020): »Aber ist denn die Unverständlichkeit etwas so durchaus Verwerfliches und Schlechtes?« S. 64.

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Im Umgang mit Irritationen und Nichtverstehensprozessen liegt folglich eine Herausforderung für jeden Literaturunterricht, die durch die Kompetenzorientierung weiter verschärft wird.45 Den Lernenden gilt es zu vermitteln, dass genau das, was von ihnen allermeist in anderen Fächern (und, nähme man die Kompetenzorientierung beim Wort, nun auch im Literaturunterricht) gefordert wird, nämlich möglichst schnell zu eindeutigen, begrifflich fixierbaren Lösungen zu gelangen, hier in letzter Konsequenz dem Gegenstand und dem Lernprozess nicht angemessen ist. Stattdessen sind Verstehensprozesse weniger vom Ergebnis, der vermeintlichen Problemlösung, als vielmehr vom durch Irritation und Nichtverstehen immer wieder neu dynamisierten Verlauf her zu denken. Am oben ausgeführten Beispiel der Form und Funktion der Erzähltechnik in Der Weg zum Friedhof lässt sich zeigen, dass oftmals keine finalen Synthesen möglich sind, da die Aussagen der Erzählinstanz ebenso wie die von ihr eingenommene Rolle widersprüchlich bleiben.

III.II Notwendige Erweiterungen: Literalität statt Kompetenz Dem Weinert’schen Kompetenzbegriff liegt der aus dem angloamerikanischen Sprachraum stammende Begriff der literacy, ins Deutsche als Literalität übersetzbar, zugrunde. Doch Literalität mit Kompetenz gleichzusetzen, wie es etwa auch in dem von Volker Frederking mitgeleiteten Projekt zur literarästhetischen Urteilskompetenz geschieht,46 erweist sich bereits aus etymologischer Perspektive als eine Verkürzung. Der Literacy-Begriff geht zurück auf die in der Frühen Neuzeit alles andere als selbstverständliche Fähigkeit des Lesens und Schreibens (von lat. littera: »der Buchstabe«), woraus sich im Englischen auch die Bedeutung des mit literacy verwandten Begriffs to be literate im Sinne von »gebildet sein« oder »kultiviert sein« ableitet.47 Bereits hier unterscheidet sich ein solches Verständnis doch recht deutlich vom deutschen Begriff »kompetent sein«. Mit Blick auf literarische Lernprozesse lässt sich diese Verkürzung konkret auf folgenden Ebenen nachweisen: Infolge des rein auf kognitive Problemlösungsstrategien abhebenden Kompetenzbegriffs Weinerts blendet dieser nicht nur die beiden anderen menschlichen Erkenntnisvermögen von Wahrnehmung und Vorstellung/Imagination weitgehend aus bzw. funktionalisiert sie für die Aneignung 45 46

47

Vgl. ebd., S. 61. Vgl. Frederking, Volker; Henschel, Sofie; Meier, Christel u.a. (2012): Beyond Functional Aspects of Reading Literacy: Theoretical Structure and Empirical Validity of Literary Literacy. In: L1 – Educational Studies in Language and Literature, Jg. 12, Sonderausgabe: Interpretation of Literature, S. 35-58. Vgl. Homberger, Ursula (2007): Referenzrahmen für Gestaltung und Kunst. Unter Mitarb. von Urs Meier. Zürich, S. 40. URL: https://phzh.ch/Forschungsdatenbank_files/152/uh_referenzra hmen_pdf.pdf [Stand 01.01.2022]. Homberger zitiert hier aus einer unveröffentlichten Abschlussarbeit von Ireni Vafiadis.

Carlo Brune: »[A] question minus its answer« (Roland Barthes)

kognitiv-begrifflicher Problemlösungsstrategien, er kann auch bildungstheoretische und gesellschaftlich-kulturelle Dimensionen nicht hinreichend berücksichtigen. Weinerts Verständnis von Kompetenzen ließe sich in das Englische eher mit dem Begriff skills übersetzen: unter Anleitung ausbildbare und trainierbare Fähigkeiten, die in bestimmten Situationen funktional zur Lösung einzelner Aufgaben oder Probleme angewendet werden können. Dies wird literarischer Textrezeption nicht gerecht, weshalb im Kontext ästhetischer Lernprozesse über Weinerts Kompetenzbegriff hinausgegangen werden muss. Zu diesem Zweck soll im Folgenden das Modell einer umfassenderen literarästhetischen Literalität, das ich andernorts als bereichsspezifische Konkretisierung des Multiliteracies-Konzepts der New London Group ausgearbeitet habe,48 kurz in seinen zentralen Charakteristiken skizziert werden: Der Ansatz der New London Group wendet den Literacy-Begriff nicht nur auf kognitive, sondern auch auf perzeptive Fähigkeiten an – unter anderem deshalb, weil das Modell auf der Annahme gründet, »that the human mind is embodied, situated, and social.«49 Hieraus geht zugleich die situative und soziale Gebundenheit von Lernprozessen hervor, die kulturelle, gesellschaftliche und individuelle Unterschiede zu berücksichtigen vermag. Und schließlich wird Literalisierung weniger ergebnis- und produktorientiert als vielmehr transformativ und prozessorientiert gedacht.50 Mit Blick auf eine Modellierung literarästhetischer Literalität folgt hieraus, dass Fähigkeiten im Bereich der Wahrnehmung und Vorstellung im Gegensatz zum Kompetenzbegriff Weinerts zum einen in ihrem Eigenwert mit einbezogen werden, zum anderen in ihrem Potential, kognitiv-begriffliches Verstehen durch eine veränderte Wahrnehmung und Vorstellung immer wieder zu unterminieren und neu zu justieren. Eine solche Neuausrichtung wird ihren Ausgang oft von Irritationen und Unverständlichkeiten nehmen, die sich in den zunächst entworfenen

48 49 50

Vgl. Brune (2020): Literarästhetische Literalität. The New London Group [Courtney Cazden, Bill Cope, Norman Fairclough u.a.] (1996): A Pedagogy of Multiliteracies. Harvard Educational Review, Jg. 66, H. 1, S. 82. Dies belegt der an der Kategorie des Designs bzw. des designings ausgerichtete Lernbegriff des Modells. »We propose to treat any semiotic activity, including using language to produce or consume texts, as a matter of Design involving three elements: Available Designs, Designing, and The Redesigned. Together these three elements emphasize the fact that meaning-making is an active and dynamic process, and not something governed by static rules.« Ebd., S. 74. So gelingt es dem Konzept zugleich, anschlussfähig für langfristig gedachte Bildungsprozesse zu werden, was folgendes Zitat aus einer späteren Publikation der beiden Mitbegründer der New London Group, Bill Cope und Mary Kalantzis, deutlich macht: »[T]he process of designing redesigns the designer […]. Learning is a process of self-re-creation. Cultural dynamism and diversity are the results.« Cope, Bill; Kalantzis, Mary (2009): »Multiliteracies«: New Literacies, New Learning. In: Pedagogies: An International Journal, Jg. 4, H. 3, S. 184.

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Phänomene des (Nicht-)Verstehens

Verstehensmodellen gerade nicht auflösen lassen. Folglich können sich genuin ästhetische Lernprozesse in letzter Konsequenz nicht an begrifflich fixierbaren Problemlösungen ausrichten; Ziel wird es viel eher sein, über einen bewussten Rekurs auf Textirritationen oder Unverständlichkeiten und eine hiermit verbundene Neuausrichtung von Wahrnehmungs- und Vorstellungsprozessen vorgängig gebildete Verstehensmuster bzw. hiervon abhängige Werturteile zu hinterfragen. Diese Gedanken verweisen auf die Notwendigkeit von Wiederholungslektüren: Denn nur im wiederholten Lesen lassen sich jeweils neue Hinweise auf bisher verfolgte Spuren finden – oder auch Irritationen wahrnehmen, die infolge von Nichtverstehensprozessen wieder eine andere ›Spurenlese‹ bedingen und so die nur relative Gültigkeit der vorherigen Lektüre aufweisen. Geradezu notwendig wird der Blick der Schüler_innen im Zuge dessen auch auf die zeichenhafte Vermittlung, die sprachliche Konstruktion des Textes gelenkt. Denn in dem Moment, in dem sich eigene Sinnzuweisungen als veränderbar erweisen, indem neuen Spuren des Textes nachgegangen wird, rückt die Abhängigkeit der unterschiedlichen Verstehensmodelle von den jeweilig verschiedenartigen Fokussierungen sprachlicher Gestaltungselemente des Textes in den Blick.

IV.

(Nicht-)Verstehen und literarästhetische Bildungsprozesse

Für Michael Baum leitet sich aus dieser Wiederholungslektüre, die auf die sprachliche Konstruiertheit literarischer Texte abhebt, »ein Bewusstsein für den sprachlich-autoreflexiven Aspekt unseres Denkens [ab], den« er »für bildend [hält]«.51 Ein solches Bewusstsein eröffnet zunächst Wege zu einem spezifisch ästhetischen Verstehen, das auch Nichtverstehensprozesse konstitutiv einbegreift. In der Folge ermöglicht es Schüler_innen zugleich einen reflektierten Umgang mit Sprache auch in anderen kulturellen Verwendungskontexten, da ihnen die Abhängigkeit semantischer Sinnbildungsprozesse von der Art und Weise, wie Texte ›gestrickt‹ sind, vor Augen geführt wird – und hierüber auch die Möglichkeit, das Verständnis der Leser_innen gezielt zu beeinflussen. Der Bezugspunkt solcher Lernprozesse bleibt aber weiterhin eine gegenstandsadäquate Auseinandersetzung, denn es sind ästhetische Sprachverwendungs- und Rezeptionsformen, die ihnen zugrunde liegen. Gleichwohl oder – genauer – gerade deshalb kann sich mit Blick auf die Erzählung Manns eine Beschäftigung mit moralischen Wertungsfragen wie den folgenden sinnvoll anschließen: Regt sich in

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Baum, Michael (2008): Randgänge der Bildungstheorie. In: Gerhard Härle, Bernhard Rank (Hg.): »Sich bilden, ist nichts anders, als frei werden.« Sprachliche und literarische Bildung als Herausforderung für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler, S. 34.

Carlo Brune: »[A] question minus its answer« (Roland Barthes)

mir nicht doch Mitleid für Piepsam und empfinde ich die ›gefühlskalte‹ Schilderung seines Abtransports durch die Erzählinstanz nicht als pietätlos? Ist die Reaktion der Menge nicht kalt, ohne jede Empathie und somit verurteilenswert? Ist das Verhalten des Radfahrers angemessen? Würde man nicht erwarten können, dass er souveräner mit der Situation umgeht und seine Überlegenheit Piepsam nicht so deutlich demonstrieren muss? Trifft ihn nicht eine Mitschuld an dessen Tod? Schüler_innen kann so etwa vor Augen geführt werden, dass gesellschaftliche Außenseiter_innen, die nicht mehr in die menschliche Gemeinschaft integriert zu sein scheinen, diese sogar mit Wutreden überziehen, letztlich nur eine bedingte Schuld an ihrem eigenen Schicksal trifft. Der Wert, um den es hier ginge, wäre nicht nur im Kontext einer Schopenhauer’schen Mitleidsethik anzusiedeln; es wären darüber hinaus die Fragen zu stellen, inwieweit Menschen für scheinbar selbst verursachtes Leid und in diesem Fall sogar für ihren daraus resultierenden Tod wirklich verantwortlich gemacht werden können und ob die, die ihnen Mitgefühl und Hilfe versagen, sie nur noch als lächerliche, groteske Gestalten wahrnehmen, nicht eine viel größere Schuld tragen. Gerade dem ist die Entwicklung einer Fragehaltung gegenüber ersten, vom Text ›provozierten‹ Verstehensentwürfen infolge eines Eingehens auf Irritationen und Unverständlichkeiten in viel stärkerem Maße dienlich als ein Unterricht, der solche Werte als alternativlos zu denken vorgibt, was sie in eine gefährliche Nähe zu Ideologien rückt und Schüler_innen der Möglichkeit beraubt, sich selbst bewusst und eigenständig ihnen gegenüber zu verhalten. So hingegen können sie auf eigene Wertmaßstäbe aufmerksam werden, diese ggf. überprüfen und lernen, sie ethisch zu reflektieren. Einlösbar wird auf diesem Wege ein Anspruch, mit dem Heidi Rösch den Einsatz von Literatur auch im Fremd-/Zweitsprachenunterricht begründet: Das »Lesen von Literatur fördert die Identitätsentwicklung durch die in der Literatur angestoßene Auseinandersetzung mit anthropogenen, sozialen, kulturellen und anderen Fragen menschlicher Existenz.«52 Voraussetzung für dieses »Bildungspotenzial von Literatur« bleibt aber eine an ästhetischen Rezeptionsvollzügen ausgerichtete Lektüre, denn nur so gewinnen »Rezipierende ein besseres Verständnis von der Realität […], auf die die Literatur verweist«, und können »ein erweitertes und differenziertes Selbst- und Weltbild entwickeln«.53 Ein solches Selbst- und Weltbild ist sich der Vorläufigkeit und der diskursiven Vermitteltheit von Verstehensentwürfen bewusst, die, um das Eingangszitat von Barthes aufzugreifen, nach Antworten auf die Fragen nach der Bedeutung »der Welt und der Dinge« suchen. Dieses Potential, so viel lässt sich als Fazit festhalten, lässt sich allerdings nur dann ausschöpfen, wenn der Literaturunterricht an

52 53

Rösch, Heidi (2011): Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. Berlin, S. 102. Ebd.

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Phänomene des (Nicht-)Verstehens

der Widerständigkeit, an dem Irritationspotential seines Gegenstandes und somit auch an Nichtverstehensprozessen ansetzt und die hieraus hervorgehende Dynamik aufgeworfener Fragen nicht in einer »Problemlösungskompetenz«, in vermeintlich letztgültigen Verstehensmodellen stillstellt.

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Phänomene des (Nicht-)Verstehens

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(Nicht-)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen

Verstehen auf Niveau? Zur Modellierung von Lernprozessen und ihrer medialen Unterwanderung Volker Pietsch Abstract Der Beitrag verfolgt die Frage, inwiefern Potentiale und Herausforderungen medialer Spezifika in Modellierungen literarischen Lernens differenzierter berücksichtigt werden müssten. Mithilfe beispielhafter Analysen von Filmsequenzen soll Schilchers und Pissareks Modell zum Erwerb literarischer Kompetenz anhand ausgewählter Dimensionen dahingehend untersucht werden, ob das Medium Film mit seiner Simultaneität bestimmte Bedingungen des (Nicht-)Verstehens setzt, die in den Niveaustufen der Lernprogression eine Entsprechung finden oder eher nivelliert werden.

I.

Linearität und Simultaneität des Lernens und der Filmrezeption

Dieser Beitrag soll anhand von Beispielen der Frage nachgehen, inwiefern medienspezifische Potentiale und Herausforderungen des (Nicht-)Verstehens Berücksichtigung in Anita Schilchers und Markus Pissareks Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage1 finden. Der Fokus soll dabei auf der Simultaneität des Films liegen, die in einem Spannungsverhältnis zum Modell einer sich linear über Niveaustufen vollziehenden Progression des Verstehens stehen könnte. Im literaturdidaktischen Diskurs liegt traditionell der Fokus auf der Linearität des Films;2 ebenso konstitutiv für diese Kunst ist jedoch ihre multimodale Gleichzeitigkeit, also die Vielzahl an Zeichen diverser Codes innerhalb des jeweiligen Frames und die Gleichzeitigkeit von Zeichen auf Bild- und Tonebene. Es geht im Folgenden nicht darum, das Modell Schilchers und Pissareks grundsätzlich in Frage zu stellen. Vielmehr bietet es in seiner Systematik nicht nur eine Grundlage zu seiner kriteriengeleiteten Überprüfung durch empirische Rekon1 2

Vgl. Schilcher, Anita; Pissarek, Markus (Hg.) (4 2018a): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. Ein Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage. Baltmannsweiler. Vgl. dazu die kritische Diskursanalyse in: Pietsch, Volker (2018): Verfolgungsjagden. Zur (Diskurs-)Geschichte der Medienkonkurrenz zwischen Literatur und Film. Bielefeld.

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(Nicht-)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen

struktionen des Lernens. Es regt auch zur kritischen Reflexion und Ausdifferenzierung seiner Konstruktion des Gegenstandes an, also des literarischen Textes (bei einem weiten Literatur- wie auch Textbegriff). Da der semiotische Ansatz in der Literatur- und Mediendidaktik verbreitet ist,3 sind die potentiellen Probleme, die anhand von Schilchers und Pissareks Niveaustufen literarischen Lernens aufgeworfen werden, auch für andere Modellierungen relevant. Gleichsam soll das für diesen Artikel ausgewählte Beispiel des fiktionalen Films selbstverständlich nicht suggerieren, andere Künste wie etwa Hörspiel oder Comic gingen widerspruchslos in diesen Modellierungen auf.

II.

Dreiecksbeziehungen mit dem Publikum in On Her Majesty’s Secret Service und Vertigo

Zu Beginn dieser Ausführungen soll ein auf den ersten Blick einfaches Beispiel filmästhetischer Simultaneität stehen. Durch Überblendungen kann bekanntlich der Effekt erzielt werden, dass – ähnlich wie bei einer Fotocollage – verschiedene Bilder eine kurze oder dauerhafte Symbiose eingehen. In dem James-Bond-Film On Her Majesty’s Secret Service4 wird Tracy, die Verlobte von Geheimagent 007, bei einer Verfolgungsjagd in der Schweiz von einer Lawine verschüttet.5 Die Schergen von Bonds Gegenspieler Blofeld bergen Tracy und nehmen sie gefangen; Bond kann ihr nicht helfen und entkommt. In der nächsten Einstellung6 ist 007 wieder in England und starrt zum Fenster hinaus. Eine Einstellung von der bewusstlosen Tracy, die von den Schurken aus dem Schnee gezogen wird, wird nun so eingeblendet, dass sie exakt auf die Fensterscheibe passt. Es handelt sich dabei nicht um ein Standbild, vielmehr um eine Wiederholung der vorigen Sequenz, so als würde 007 den eigenen Film zeitlich versetzt auf einem Bildschirm sehen. Dieser Blick ist nicht als Schuss-Gegenschuss-Montage inszeniert, sondern als gleichzeitige Überlagerung zweier Bildebenen. Die Kamera ist außerhalb des Gebäudes positioniert und filmt Bond durch die Scheibe hindurch, die von Fensterkreuzen in sechs Segmente unterteilt ist. Das Publikum sieht ihn auf dem oberen Segment im von der Kamera aus linken Drittel des Fensters. Im unteren Segment sowie (begünstigt durch weiße Fenstervorhänge) in der Mitte und im rechten Drittel kann es Tracys Bergung sehen, die somit die Fläche dominiert. Der wohl zutreffende und

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Vgl. z.B. Paule, Gabriele (2008): Kultur des Zuschauens. Theaterdidaktik zwischen Textlektüre und Aufführungsrezeption. München. Maiwald, Klaus (2005): Wahrnehmung – Sprache – Beobachtung. Eine Deutschdidaktik bilddominierter Medienangebote. München. Vgl. On Her Majesty’s Secret Service (Peter Hunt, UK 1969). Vgl. ebd. (1:53:53-1:58:37). Vgl. ebd. (1:58:38-1:58:46).

Volker Pietsch: Verstehen auf Niveau?

(täuschend) einfache Schluss, den diese Bildkonstruktion nahelegt, ist ›natürlich‹, dass 007 Tracys Schicksal nicht vergessen kann, auch wenn einiges an Zeit vergangen sein dürfte. Die Bilder entsprechend zusammenzufügen und diesen Schluss zu ziehen, setzt jedoch ebenso Erfahrung mit dem Medium Film wie Abstraktionsvermögen voraus, obwohl es sich um eine flüchtige Sequenz von acht Sekunden Länge in einem an ein großes Publikum gerichteten Actionfilm handelt. Ginge man davon aus, dass Bond vor seinem inneren Auge das sieht, was für uns über die Fensterscheibe geblendet ist, dann wäre diese Scheibe ein mindscreen, die Gedanken der Figur würden also visualisiert. Diese Annahme entbindet uns auch von der Frage, ob 007 die Bilder, die wir ja von außen auf der Fensterscheibe sehen, im Verhältnis zu uns spiegelverkehrt wahrnimmt. Fallen also Publikumsperspektive und Figurenperspektive in diesem Film im Film zusammen? Dass jene Bilder von Tracy intern fokalisiert sind, 007 sie also erinnert, sollte handlungslogisch eigentlich nicht möglich sein. In der Filmsequenz zuvor war der Großteil dieser Kameraeinstellung von Tracy zwar für uns als Publikum aus der Obersicht zu sehen, dies aber zu einem Zeitpunkt, an dem Bond selbst noch unter Schnee verschüttet war. Es wäre auch zumindest gegen alle gewohnten Wahrscheinlichkeiten, würde er sich dieses Geschehen bis ins Detail exakt so vorstellen, wie wir es bereits in der vorigen Einstellung gesehen haben, wie es also in der ›empirischen Realität‹ des Films stattgefunden hat. Wenn nun aber diese noch an keine Figur außer eine abstrakte Erzählinstanz gebundene Perspektive identisch zu sein scheint mit der inneren, gedanklichen Perspektive Bonds, handelt es sich dann um einen logischen bzw. handwerklichen ›Fehler‹ oder um poetische Freiheit? Pragmatisch betrachtet dürfte der Ausschnitt seine Funktion erfüllen, einen Großteil des Publikums so weit an Bonds Gefühlen und Gedanken teilhaben zu lassen, um dessen Motivation nachvollziehen zu können. Wollte man diesen Ausschnitt jedoch von den historisch etablierten Konventionen der Filmästhetik und seiner implizit an einer bestimmten Medienkompetenz ausgerichteten Zielgruppenadressierung, die einer solchen Großproduktion begründet unterstellt werden darf, lösen, ließe sich mit filmanalytischer Sicherheit nur sagen: Das Publikum kann Tracy sehen und sich potentiell aus dem unterschiedlichen Einsatz derselben Bilder vor und während der Überblendung verschiedene Vorgänge erschließen, sieht aber nicht mit Sicherheit dasselbe, was Bond sieht bzw. denkt. Es handelt sich offenbar um eine bildhafte Repräsentation eines inneren Vorgangs, die aber ebenso zwischen der Erzählinstanz und dem Publikum geteilt werden mag: Die Aufteilung der Fenstersegmente lässt sehen, wie Tracy aus dem unteren linken Rand in Richtung des oberen rechten Fensterrandes aus dem Bildrahmen herausgezogen wird, bezeichnenderweise von dem traurigen Bond in der oberen linken Fensterecke weg bzw. bei einer sinnbildhaften Betrachtungsweise aus Bonds Innerstem heraus. Durch diese Bewegung, die Aufnahme Bonds hinter Glas sowie die Überblendung durch die Schneebilder erscheint Bond als Figur symbolischen Konventionen gemäß iso-

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liert und eingeengt, von Schemen bedrängt und der Kälte ausgesetzt. Insofern lässt sich anhand der Einstellung die Frage aufwerfen, welche Instanzen eigentlich im Film aus welchen Perspektiven erzählen (das gilt im Übrigen auch für den score, der während dieser Einstellung gespielt wird: ein langsames Flötenmotiv, das mit einem etwas nachhallend langgezogenen letzten Ton verklingt und gleichsam Bonds Gefühlsleben wie die ›Empathie‹ einer übergeordneten Erzählinstanz ausdrücken mag). Es lässt sich zudem fragen, wie, also mit welchen ästhetischen Mitteln, eine solche Situation wohl in einem schriftlichen Text zu lösen wäre (in Kontrast zu der Versprachlichung dessen, was Bond an diesem Punkt der linearen Handlung fühlt). Löst man den Ausschnitt für einen Moment aus seiner wie selbstverständlich hingenommenen Funktion im linearen Handlungsgefüge heraus, um ihn näher zu betrachten und immer wieder zurückzuspulen (ähnlich wie es die Fenstersequenz selbst mit dem Ausschnitt aus der vorigen Sequenz tut), dann gibt der Film nicht zuletzt Anschauungsmaterial (und ›Anhörungsmaterial‹) dafür, dass das Publikum letztlich seine Erwartungen und Schlüsse auf die Bilder und Figuren projiziert, was wiederum von der Produktionsseite zu einem gewissen Grad antizipiert und beeinflusst werden kann. Auch unter dieser Prämisse ist die Einstellung ergiebig: Dem Publikum wird suggeriert, einen Blick in Bonds Inneres zu werfen, tatsächlich aber sieht es eine Projektion auf einer Fensterscheibe (ganz zu schweigen von der Kinoleinwand oder dem Bildschirm, auf denen der Film als Ganzes zu sehen ist). Slavoj Žižek thematisiert am Beispiel von Vertigo7 die Häufigkeit formanalytischer Fehlleistungen, die in Studien zu Hitchcock zu finden sind.8 In der von Žižek unter Bezug auf Jean-Pierre Esquenazi fokussierten Sequenz9 beobachtet der Protagonist Scottie heimlich von einer Bartheke aus eine Frau in einem Restaurant. Als die Kamera langsam auf deren Nacken im ausgeschnittenen Kleid zufährt, ertönen Streichinstrumente, und diese Melodie schwillt an, als die Frau vom Tisch aufsteht, sich der Theke nähert und im Profil zur Kamera auf ihren Begleiter wartet. Der score, die zunehmende Nähe der Kameraeinstellung und das plötzlich hinter der Frau intensiver aufleuchtende Rot der Tapete implizieren ein Verständnis dieser Sequenz, demzufolge wir die Frau in diesen Momenten aus Scotties Perspektive wahrnehmen, nämlich als ein faszinierend attraktives ›Objekt‹. Tatsächlich aber wird beide Male, zuerst durch eine Bewegung der Kamera, dann durch einen Schnitt sowohl kaschiert als auch bei genauer Betrachtung deutlich, dass die betreffenden Momente aus Scotties Blickwinkel nicht gesehen werden können. Diese Bemerkung mag sophistisch erscheinen, da sich hier anhand einer Kenntnis

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Vgl. Vertigo (Alfred Hitchcock, USA 1958). Žižek, Slavoj (3 2018): Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan. Frankfurt a.M., S. 206-230. Vgl. Vertigo (Hitchcock, USA 1958, 16:08-17:43).

Volker Pietsch: Verstehen auf Niveau?

des gesamten Films überzeugend vorbringen lässt, dass in dieser Sequenz Scotties intensives Begehren dieser Frau seinen Anfang nimmt und insofern der räumlich vorgenommene Perspektivwechsel nichts daran zu ändern scheint, dass hier durchgängig eine subjektive Wahrnehmung veranschaulicht wird. Entscheidend ist jedoch, dass es genau an diesen Punkten eine von Scottie losgelöste Kamera ist, von der die Frau beobachtet wird, und somit also die Erzählinstanz(en) des Films das Publikum auf sich selbst zurückwerfen, sofern es diese recht subtile Veränderung bemerkt. Das Begehren wird sozusagen in die Zuschauer:innen hineinprojiziert.10 Mit entsprechender formanalytischer Genauigkeit ließe sich somit ein Medienbewusstsein für die Produktion des Films in ihrer manipulativen Antizipation des Publikums schärfen; Žižek hingegen ist mit seinem psychoanalytischen Ansatz daran interessiert, was das naheliegende ›Falsch-Verstehen‹ der Sequenz erkennen lässt, wenn es als Symptom für Sublimierung in der Kunst betrachtet wird. Der Fehler in der Perspektivenzuordnung entwertet die fragliche Analyse in keiner Weise, sondern zeugt vielmehr von der exzessiven subjektiven Anteilnahme der Theoretiker an Hitchcocks Filmen. Wie bei Hitchcocks Helden verschwimmt häufig die Grenze zwischen dem, was sich tatsächlich auf der Leinwand abspielt, und der libidinösen Besetzung des Geschehens seitens der Betrachter, die in halluzinatorischen Ergänzungen oder Verzerrungen zum Ausdruck kommt. Vielleicht benötigen wir also in wahrhaft freudianischem Geiste eine Theorie solcher Fehldarstellungen.11 Es ist aber, etwa in Unterrichtsszenarien, nicht erforderlich, ein bestimmtes Modell der Rezipient:innen (z.B. ein psychoanalytisches) zu vermitteln, um mit der genauen Behandlung eines solchen Filmausschnitts Reflexionen über die eigene Perspektive auf den Film und seine Figuren anzuregen. Ebenso ist es keine Voraussetzung, anhand von Biographie- oder Werkkenntnissen auf mögliche Intentionen der Produktionsseite zu schließen, um herauszuarbeiten, wie die medialen Mittel des Films solche Eindrücke von Subjektivität entstehen lassen oder entkräften. Viele Filme, die unter Hitchcocks Regie entstanden sind, eignen sich freilich besonders gut als »Anschauungsunterricht darin, wie man das Publikum in eine Bilderwelt verstrickt. […] Wenn der Vorhang fällt und der Nebel sich lichtet, erkennt man erschrocken, dass der Grund, auf dem man sich fortbewegte, alles andere als fest gewesen ist.«12

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Vgl. auch Stresau, Norbert (3 1991): Der Horror-Film. Von Dracula zum Zombie-Schocker. München, S. 169. Žižek (2018): Körperlose Organe. S. 208. Kohler, Michael (2005): Vertigo (1959). In: Alfred Holighaus (Hg.): Der Filmkanon. 35 Filme, die Sie kennen müssen. Berlin, S. 116.

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(Nicht-)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen

Anders als der Klassiker Vertigo, der auch Kanonisierungshandlungen im deutschen Bildungswesen nach sich zog,13 scheint der James-Bond-Film On Her Majesty’s Secret Service nicht strukturell von solchen Anreizen zur rezeptionsästhetischen Reflexion geprägt zu sein. Allerdings wird gerade dieser sechste Teil der Bond-Reihe als einer »der filmisch ambitionierteren 007-Filme, voller schöner wie prägnanter Aufnahmen und Momente«14 bewertet und auch von Regisseuren mit AuteurStatus wie Steven Soderbergh und Christopher Nolan geschätzt.15 Die oben angeführte Fenstersequenz wird zudem im Audiokommentar der Blu-ray16 von John Cork als erster Flashback in den James-Bond-Filmen hervorgehoben. Mit dem entsprechenden Erkenntnisinteresse kann On Her Majesty’s Secret Service nun daraufhin untersucht werden, ob sich darin auch weitere Impulse finden lassen, um sich die Rekonstruktion und Konstruktion des Films durch die eigene Zuschauer:innenperspektive bewusstzumachen, sie zu artikulieren und zu reflektieren. Tatsächlich rüttelt bereits die pre-title sequence das Publikum auf eine weitaus explizitere Weise aus seiner potentiellen Immersion, indem sich Bond, hier nach fünf Filmen mit Sean Connery erstmals von George Lazenby gespielt, nachdem er von einer Frau fluchtartig verlassen wurde, zur Kamera wendet und durch die ›vierte Wand‹ sagt: »Das wär’ dem anderen nie passiert.« (»This never happened to the other fella.«) Während die Überlagerung von Perspektiven in der späteren Fenstersequenz also zugleich einfach nachzuvollziehen scheint, tatsächlich aber labyrinthisch ist in ihrer Verstrickung von Figuren- und Zuschauer:innenblicken, handelt es sich bei der Adressierung des Publikums gleich zu Beginn um eine direkte Konfrontation, die sehr wahrscheinlich einer vorhersehbaren Kritik am Darstellerwechsel selbstironisch den Wind aus den Segeln nehmen sollte. Der Film, der nun, in einer Zeit langfristig postmodern geprägter Sehgewohnheiten, Wertschätzung erfährt, galt im 20. Jahrhundert noch als wenig erfolgreich bei Kritik und Publikum im Verhältnis zu seinen Vorläufern. Dies wurde auch auf das Spannungsverhältnis zu-

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Vgl. ebd., S. 113-119. Zywietz, Bernd (2007): Kommentierte Filmographie: On Her Majesty’s Secret Service (Im Geheimdienst ihrer Majestät). GB 1969. In: Andreas Rauscher, ders., Georg Mannsperger u.a. (Hg.) (2007): Mythos 007. Die James-Bond-Filme im Fokus der Popkultur. Mainz, S. 232. Vgl. Vincinguerra, Thomas (2019): 50 Years Later, This Bond Film Should Finally Get His Due. In: nytimes.com, 27.12.2019, aktualisiert am 28.09.2021. URL: https://www.nytime s.com/2019/12/27/movies/on-her-majestys-secret-service-james-bond-lazenby.html [Stand 01.01.2022]. Vgl. Cork, John; Hunt, Peter; Mills, Alec u.a. (2015): Audiokommentar zu On Her Majesty’s Secret Service. In: On Her Majesty’s Secret Service (Hunt, UK 1969). Twentieth Century Fox Home Entertainment, Blue-ray Disc.

Volker Pietsch: Verstehen auf Niveau?

rückgeführt,17 das hier zwischen ironisch-eskapistischem Illusionsbruch einerseits und dem Anspruch andererseits besteht, ein Film im Sinne Roger Eberts zu sein, eine Maschine zur Erzeugung von Empathie.18 Diese Spannung im Verhältnis zwischen Publikum und Figur kommt in einer Gegenüberstellung beider Sequenzen prägnant zum Ausdruck. Bemerkenswerterweise blieb auch Vertigo hinter den kommerziellen Erwartungen zurück, die an die Marke Hitchcock geknüpft waren.19 So haben beide Filme trotz aller qualitativen Unterschiede die aufschlussreiche Gemeinsamkeit, dass sie dem Publikum als Mainstream-Unterhaltung eine effektvolle Immersion in Aussicht stellten, dabei aber zumindest gemessen an Einspielergebnissen und ersten öffentlichen Reaktionen für eine signifikante Menge an Personen eine ernüchternde Wirkung hatten. Produktions- und Rezeptionsseite verstanden einander (noch) nicht und viele Zuschauer:innen brachten offenbar nicht die Art von Verständnis für die Figuren auf, die sich beide Seiten erhofft hatten. Auch in der Schule sollte man vom Einsatz dieser Filme nicht direkt einen Motivationsschub für die Schüler:innen erwarten, und selbst wenn beide inzwischen ab zwölf Jahren freigegeben sind, werden sich insbesondere die in Vertigo verhandelten Konflikte kaum bereits in der Sekundarstufe I erschließen. Aber die oben angeführten Sequenzen erschließen sich als – auf der Handlungsebene – Standardsituationen des Genrekinos bei entsprechender Einführung auch ohne eine zwingende Gesamtansicht der Filme (und insofern wäre auch nach weiteren Sequenzen in diversen Filmen Ausschau zu halten, die vergleichbare Verstehensanforderungen in sich bergen). Würde die gründliche Sequenzanalyse jedoch darauf hinauslaufen, Film lediglich als manipulatives Medium zu ›enttarnen‹ und einen vereinfachenden Gegensatz zwischen Fiktion und empirischer Realität zu kultivieren, wäre das eine fragwürdige Vernachlässigung ihres Potentials. Die Schüler:innen würden damit offensichtlich keineswegs einem Verblendungszusammenhang entrissen, um von einem ›falschen‹ zu einem ›richtigen‹ Verständnis zu gelangen, sondern würden vielmehr dabei aufgehalten, eine Transferleistung von der Filmerfahrung auf andere Erfahrungen zu vollbringen. Denn nicht nur zeigt sich anhand von On Her Majesty’s Secret Service oder Vertigo, dass die sichere Zuordnung der jeweiligen Sequenz inklusive ihrer Tonebene zu einer einzigen Erzählperspektive schwer möglich ist, nicht nur zeigt sich, dass auch eine multiperspektivische Zuordnung zwar eine attraktive, aber

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Vgl. Mannsperger, Georg (2007): Eine Nummer – sechs Darsteller. Die unterschiedlichen Typologien des 007. In: Rauscher; Zywietz; ders. u.a.: Mythos 007, S. 44. Greve, Werner (2012): James Bond 007. Agent des Zeitgeistes. Göttingen, S. 151. Vgl. Ebert, Roger (2005): Ebert’s Wall of Fame remarks. In: rogerebert.com, 24.06.2005. URL: https://www.rogerebert.com/roger-ebert/eberts-walk-of-fame-remarks [Stand 01.01.2022]. Vgl. Truffaut, François (5 2002): Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München, S. 241.

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(Nicht-)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen

komplexe Herausforderung darstellen kann, sondern auch, auf welche kaum auflösbare Weise individuelle Rezipient:innenperspektive und Film einander bedingen. Der Lacan-Schüler Žižek schreibt im Zusammenhang mit Vertigo von dem »Punkt, an dem sich der Blick selbst in die Realität einschreibt, der Punkt, an dem sich das Subjekt selbst als Blick begegnet.«20 Die Beschäftigung mit dem Umstand, dass die Perspektive der Zuschauer:innen immer schon medial vorgeprägt ist, wenn sie sich auf die Perspektiven des Films in ihrer Simultaneität richtet, könnte eine verstehende Einsicht des eigenen Nichtverstehens ermöglichen und schult idealiter eine genaue und medienkritische Wahrnehmung in unauflösbarer Wechselwirkung mit einem selbstkritischen, im romantischen Sinne ironischen Bewusstsein der eigenen perspektivisch-einschränkenden Bedingungen, seien diese nun psychisch oder physisch, sozial, historisch oder kulturell. Wie aber nun wären vergleichbare film- bzw. literarästhetisch initiierte Verstehensleistungen den Niveaustufen des Weges zur literarischen Kompetenz zuzuordnen, die im Modell von Anita Schilcher und Markus Pissarek entwickelt werden?

III. Schilchers und Pissareks Modell zum literarischen Kompetenzerwerb auf semiotischer Grundlage In ihren Ausführungen Zum Begriff der Kompetenzorientierung und seiner Anwendung im Bereich des literarischen Lernens21 zeigen sich Schilcher und Pissarek kritisch gegenüber der Bedeutung, die literarischer Bildung im Sinne einer hohen Quantität deklarativen Wissens für das literarische Verstehen beigemessen wird. Ihre Kritik gründet sich auf der mit dieser Bildungsauffassung einhergehenden problematischen Orientierung an einer Expert:innenpraxis im Kontrast zum weitgehenden Noviz:innenzugang der Schüler:innen.22 Nicht nur sei die Praktikabilität einer solchen Orientierung für einen Unterricht der Inklusion und Pluralität fraglich, auch deuteten empirische Forschungsergebnisse zum Verstehen literarischer Texte in eine andere Richtung.23

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Žižek (2018): Körperlose Organe. S. 224; Herv. i.O. Schilcher, Anita; Pissarek, Markus (4 2018b): Zum Begriff der Kompetenzorientierung und seiner Anwendung im Bereich des literarischen Lernens. In: Dies. (Hg.): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. S. 9-34. Vgl. ebd., S. 19f. Hier beziehen sie sich unter anderem auf: Pieper, Irene; Wieser, Dorothee (2012): Fachliches Wissen und literarisches Verstehen. Berlin, S. 7. Vgl. Schilcher; Pissarek (4 2018b): Zum Begriff der Kompetenzorientierung und seiner Anwendung im Bereich des literarischen Lernens. In: Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. S. 18. Hier berufen sich Schilcher und Pissarek zum Beispiel auf: Knopf, Julia (2009): Litera-

Volker Pietsch: Verstehen auf Niveau?

Tendenziell kritisch gegenüber stehen die Autor:innen auch einer zu starken (poststrukturalistischen) Betonung der Polyvalenz von Texten als deren zentralem Merkmal sowie einer verstärkt subjektiven Zugangsweise im handlungs- und produktionsorientierten Deutschunterricht. Als Grund führen sie eine mit diesen Ansätzen verbundene Desorientierung der Schüler:innen über Lernziele, -prozeduren und -bewertungen an.24 Schilcher und Pissarek gehen also davon aus, dass sich – so wie der Aufbau eines kohärenten Textweltmodells – auch das literarische Verstehen nicht einer transparenten und intersubjektiv gültigen Modellierung durch die Fachdidaktik entzieht: »Verstehen« im Sinne der Konstruktion eines kohärenten Textweltmodells […] ist […] zu unterscheiden von abstrahierenden Verstehensprozessen, die einen metakognitiven Blick auf Texte ermöglichen. Während für erstere Lesestrategien im herkömmlichen Sinn geeignet sind, bedarf es für literarisches Verstehen anderer – im weitesten Sinne – metakognitiver Strategien.25 Während die Bildungsforschung zwar die Defizite im Verstehen literarischer Texte diagnostizieren könne, könne die Fachdidaktik eine angemessene Beschreibung solcher Verstehensprozesse und Strategien in der Analyse und Zusammenschau von inhaltlichen Strukturen und den dafür nötigen kognitiven Prozessen leisten, so die Argumentation.26 Durch die Aneignung und Entwicklung literarischer Strategien durch die Schüler:innen soll im vertieften Verstehen nicht eine verborgene Textschicht aufgedeckt, vielmehr sollen Zusammenhänge im Text entdeckt und zunehmend besser verstanden werden.27 Das Ziel ist also keine ganzheitliche oder allgemeingültige Textinterpretation, sondern die Sensibilisierung der Schüler:innen für interessante Fragen und das zunehmend komplexere und abstraktere Erfassen von Kategorien wie z.B. die des semantischen Raums oder der Figur.28 Insofern lässt sich konstatieren, dass die in Kapitel II. dargelegten Ausführungen zu On Her Majesty’s Secret Service und Vertigo durchaus vereinbar mit dieser Zielperspektive erscheinen.

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turbegegnung in der Schule. Eine kritisch-empirische Studie zu literarisch-ästhetischen Rezeptionsweisen in Kindergarten, Grundschule und Gymnasium. München. Vgl. Schilcher; Pissarek (4 2018b): Zum Begriff der Kompetenzorientierung und seiner Anwendung im Bereich des literarischen Lernens. In: Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. S. 31-34. Ebd., S. 18. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 20. Vgl. ebd.

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(Nicht-)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen

Die neun Dimensionen literarischen Lernens,29 die das Modell in wiederum jeweils vier Schwierigkeitsgrade unterteilt, weisen punktuell dem Gegenstand geschuldete Überschneidungen mit Spinners elf Aspekten literarischen Lernens30 auf. Anders als diese sind sie aber von den Prozeduren her gedacht, wodurch ausschlaggebend »für die Fähigkeit zur Anwendung […] nicht die Reife oder Entwicklung der Schülerinnen und Schüler sei, sondern ihr Lernweg«.31 Dementsprechend können sich Schilcher und Pissarek einige der von Spinner genannten Aspekte wie sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen oder Vorstellungen entwickeln nicht in Form überprüfbarer Einheiten eines Lernfortschritts vorstellen. Der bereits erwähnten Prämisse des Schilcher-Pissarek-Modells gemäß ist der Erwerb von Problemlösestrategien zum literarischen Verstehen vorrangig gegenüber dem Erwerb von ›rein‹ deklarativem Wissen (wenn auch der Einbezug nötigen Vorwissens durchaus vorgesehen ist). Dies soll auch eine Flexibilisierung der Textauswahl über den historisch gewachsenen ›De facto‹-Kanon und über Mediengrenzen hinaus ermöglichen.32 Zugrunde liegt diesem umfassenden Anspruch des Modells ein Textverständnis auf semiotischer Grundlage, wobei freilich einige Bezeichnungen von Dimensionen bereits ein Problem erkennen lassen, dass in solchen semiotischen Zugriffen nicht selten ist: Schnell sind die Begrifflichkeiten geprägt durch eine in der jeweiligen Disziplin der Autor:innen befangene Perspektive. So ist die Dimension Überstrukturierung interpretieren: Metrik, Rhetorik, Mythologie auch in den Niveaubeschreibungen stark von (im engeren Sinne) literatur- und sprachwissenschaftlichen Termini durchdrungen33 und ist die Dimension die Ver-

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Das sind: explizite und implizite Textbedeutung verstehen; grundlegende semantische Ordnungen erkennen; Überstrukturierungen interpretieren: Metrik, Rhetorik, Mythologie; Merkmale der Figur erkennen und interpretieren; zeitliche Gestaltung rekonstruieren und beschreiben; Handlungsverläufe beschreiben und interpretieren; die Vermittlungsebene von Texten analysieren; mit fiktionalen Weltmodellen bewusst umgehen; kultureller Kontext – kulturelle Situierung, vgl. Schilcher; Pissarek (4 2018a): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. S. 324f. Dies sind: 1. beim Lesen und Hören Vorstellungen entwickeln; 2. subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel bringen; 3. sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen; 4. Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen; 5. narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen; 6. mit Fiktionalität bewusst umgehen; 7. metaphorische und symbolische Ausdrucksweise verstehen; 8. sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen; 9. mit dem literarischen Gespräch vertraut werden; 10. prototypische Vorstellungen von Gattungen/Genres gewinnen; 11. literaturhistorisches Bewusstsein entwickeln, vgl. Spinner, Kaspar H. (2006): Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch, Jg. 33, H. 200, S. 6-16. Schilcher; Pissarek (4 2018b): Zum Begriff der Kompetenzorientierung und seiner Anwendung im Bereich des literarischen Lernens. In: Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. S. 25. Vgl. ebd., S. 23. Vgl. Dies. (4 2018a): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. S. 324.

Volker Pietsch: Verstehen auf Niveau?

mittlungsebene von Texten analysieren durchgängig von einem narratologischen Zugriff auf Literatur geprägt.34 Den literatursemiotischen Prämissen des Modells zufolge wird Literatur als sekundäres, modellbildendes System aufgefasst, das auf einem bereits bestehenden Zeichensystem aufbaut und sich dessen zur Generierung eigener Bedeutungen bedient.35 Zeichen werden dabei nicht den ›Vorgaben‹ eines Zeichensystems gemäß verwendet und verbindlich vorgelagerte Regeln greifen nicht. Die hier zutage tretende Denkweise ist stark binär und linear. So konstituieren sich Texte durch das Zusammenspiel von Auswahl und Kombination (Paradigma und Syntagma)36 , zudem sind Textstruktur und Semantik einerseits sowie Rezeption und Wirkung andererseits zwei getrennt zu betrachtende Untersuchungsbereiche, die freilich aufeinander bezogen sind.37 Um auf die Tiefenstruktur des Textes zu stoßen, kann und muss die mediale Oberflächenebene durchdrungen werden und je nach Akzentuierung dieser Auffassung mag hier das mediale Format tatsächlich als ein reines Oberflächenphänomen (miss-)verstanden werden: Die Ebene des Discours bezieht sich auf die medial bedingte Oberflächenebene und meint die konkret materiell vorliegende Abfolge bzw. Anordnung der Signifikanten. Davon zu unterscheiden ist die Ebene der Histoire, die Tiefenstruktur, die sich über die logisch-semantischen Kategorien bestimmt, die dem Text zugrunde liegende semantische Ordnung konstituieren.38 Die grundlegende Frage, inwiefern die simultan im filmischen ›Text‹ auftretenden Zeichen verschiedener Codes – Kamera, Montage, Filmarchitektur, Musik, Schauspiel, z.B. die Gesichtsausdrücke der Schauspieler:innen etc. – tatsächlich zeichenhaft sind, soll hier nicht diskutiert werden. Bemerkenswert ist allerdings, dass der filmsemiotische Ansatz nach Versuchen in den 1960er und 1970er Jahren, Film systematisch als Sprache zu erfassen,39 im filmwissenschaftlichen Diskurs eher nicht als weiterführend betrachtet wurde40 und der Begriff der ›Filmsprache‹ seither eher metaphorisch verwendet wird. Die fragliche Aktualität des semiotischen Ansatzes im Verhältnis zur Filmwissenschaft, die in jüngerer Zeit verstärkt ihren Fokus auf die Interaktion zwischen Film und Zuschauer:innenkörper sowie auf performative Aspekte der Filmsichtung richtet (aufbauend auf einerseits Neokognitivismus, andererseits Filmphänomenologie),41 soll hier nicht gegen das Modell ins Feld ge34 35 36 37 38 39 40 41

Vgl. ebd., S. 325. Vgl. Krah, Hans (4 2018): Was ist »Literatursemiotik?« In: ebd., S. 40f. Vgl. ebd., S. 41f. Vgl. ebd., S. 46. Ebd., S. 53; Herv. i.O. Vgl. Metz, Christian (1972) : Semiologie des Films. München. Vgl. Pietsch (2018): Verfolgungsjagden. S. 74-96. Vgl. z.B. Moldenhauer, Benjamin (2016): Ästhetik des Drastischen. Welterfahrung und Gewalt im Horrorfilm. Berlin.

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führt werden. Der Verweis auf solche Alternativen ruft aber ins Gedächtnis, dass bei der literatursemiotischen Perspektive das Risiko potentieller toter Winkel besteht. Durch diese könnte beispielsweise unberücksichtigt bleiben, dass a) nicht nur die außerordentliche Verdichtung von Zeichen in den linear und zugleich simultan bewegten Bildern und Klängen des Films eine binäre Strukturierung erschweren, sondern dass b) auch andere Zeichen, etwa von Praktiken auf Seite der Zuschauer:innen, dazu gehören, um die durch die Ordnung der Differenz generierte Bedeutung als solche wahrzunehmen, schließlich dass c) eine mehr oder weniger implizit weiterhin an schriftsprachlicher Literatur ausgerichtete Perspektive ein Verstehen des Films bzw. der daran geknüpften Verstehensleistungen möglicherweise dahingehend beeinflussen mag, dass mediale Spezifika nivelliert werden könnten. Im Folgenden soll daher die Frage untersucht werden, inwiefern sich die Verstrickung des Zuschauer:innenblicks und -gehörs in die beweglichen und offenen Perspektivkonstruktionen des Films Schüler:innen anhand des nach Niveaus fortschreitenden Prozesses literarischen Verstehens bei Pissarek und Schilcher eröffnen lässt (und damit z.B. auch erste Grundlagen einer Ideologiekritik des Blickregimes oder einer Hinterfragung der Setzungen eigener Subjektivität legen könnte). Žižeks Ausführungen zu Vertigo finden sich in seinem Buch Körperlose Organe,42 in dem er Deleuze und Lacan miteinander konfrontiert, deren unterschiedliche Theorien beide den Subjektstatus an sich hinterfragen – bzw. auf den Film bezogen die Annahme in Frage stellen, ein Zuschauer, eine Zuschauerin könne von einem neutralen Punkt aus die filmischen Zeichen encodieren, indem er bzw. sie diese wie eine Sprache übersetzt und den filmischen Raum in Maßeinheiten unterteilt.43 Das folgende Beispiel soll jedoch anders als On Her Majesty’s Secret Service kein Film sein, der sich an Erwachsene richtet, und der, wie Vertigo, bereits ausführlich auf verschiedensten geisteswissenschaftlichen Feldern analysiert wurde, sondern ein ohne Altersbeschränkung freigegebener Jugendfilm, der noch relativ selten und wenn, dann primär aus medien- und literaturdidaktischer Perspektive behandelt wurde44 : Die Wilden Hühner und die Liebe.45 Die exemplarisch herangezogene Dimension literarischen Lernens aus Schilchers und Pissareks Modell ist Merkmale der Figur erkennen und interpretieren,46 eine Zieldimension, die auch die obige Behandlung von On Her Majesty’s Secret Service und Vertigo initiieren könnte, die

42 43 44 45 46

Vgl. Žižek (2018): Körperlose Organe, S. 206-230. Vgl. z.B. Deleuze, Gilles (8 2017): Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt a.M., S. 13-26. Vgl. Böhm, Kerstin (2017): Archaisierung und Pinkifizierung. Mythen von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Kinder- und Jugendliteratur. Bielefeld, S. 129-135. Vgl. Die Wilden Hühner und die Liebe (Vivian Naefe, D 2007). Pissarek, Markus (4 2018): Merkmale der Figur erkennen und interpretieren. In: Schilcher; ders.: Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz.

Volker Pietsch: Verstehen auf Niveau?

ja in beiden Fällen mit Schlüssen über die Gefühle des Protagonisten für eine andere Figur begann (auch wenn sich bei genauer Betrachtung eine mindestens ebenso große Relevanz der Analyse für die Dimensionen mit fiktionalen Weltmodellen bewusst umgehen und die Vermittlungsebene von Texten analysieren erweist).

IV.

Die Wilden Hühner und die literarische Kompetenz

Das von Vision Kino herausgegebene Begleitmaterial von Miriam Chávez Lambers und Denise Rietig, das 2008 im Rahmen der SchulKinoWochen Nordrhein-Westfalen zu diesem Film erschien und sich an Lehrkräfte richtet, schlägt für den Unterricht eine exemplarische Analyse der Sequenz vor, in der Wilma, Mitglied der titelgebenden Mädchenbande, unfreiwillig als lesbisch geoutet wird.47 Die Fragestellung, die der Analyse vorangestellt ist, lautet: »Wie können die Unsicherheiten der wilden Hühner bezüglich Wilmas lesbischer Liebesbeziehung aufgebrochen werden? Welchen Problemen muss sich Wilma stellen?«48 Bei der Sequenzanalyse liegt der Fokus zudem auf den unterschiedlichen Einstellungsgrößen sowie den Kamerabewegungen und ihren Funktionen für die Darstellung dieses Konflikts. Mit dem Modell von Pissarek und Schilcher sei hier jedoch etwas allgemeiner gefragt: Welches Potential bietet die Sequenz dazu (auch ohne detaillierte Kenntnis des vorherigen Filmverlaufs), Merkmale der Figur(en) zu erkennen und zu interpretieren, bzw. auf Niveaustufe I: Lassen sich Merkmale und Funktionen von Figuren erkennen und lässt sich deren Charakterisierung über explizite Zuschreibungen und Figurenverhalten unterscheiden? In dieser Sequenz treffen sich die Wilden Hühner vor ihrem Unterschlupf, einem Wohnwagen, um eine Party zu planen, zu der auch Jungs eingeladen werden sollen. Bandenmitglied Trude schreibt sich gleich zu Beginn des Treffens explizit ein für sie typisches Verhalten zu: »Mir ist egal, ob die Party stattfindet oder nicht. […] Ich werde da ja eh nur rumstehen und keiner tanzt mit mir und dann esse ich vor lauter Frust das Buffet halb leer.«49 Demnach schätzt Trude sich als passiv und unattraktiv ein und hat wegen dieser Eigenschaften eine Tendenz zum Frustessen mit Suchtcharakter. Im Äußeren ist sie allerdings höchstens in Relation zu den anderen ›Hühnern‹ geringfügig korpulenter.50 Im Umgang mit ihren Freundinnen ist Trude zudem gar nicht passiv, ergreift im Gegenteil die Initiative. So plant sie

47 48 49 50

Vgl. Die Wilden Hühner und die Liebe (Naefe, D 2007, 45:02-51:00). Chávez Lambers, Miriam; Rietig, Denise (2008): Die wilden Hühner und die Liebe. Begleitmaterial. Potsdam, S. 18. Die Wilden Hühner und die Liebe (Naefe, D 2007). Vgl. zur Inszenierung von Körperlichkeit in diesem Film auch: Böhm (2017): Archaisierung und Pinkifizierung. S. 130.

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für die anderen vier eine Überraschung im Wohnwagen und lässt sie deshalb davor warten, was ihr zu Beginn der Sequenz eine gewisse Überlegenheit verleiht, die ihre Freundin Melanie nur schwer tolerieren kann: »Was ist denn? Nun sag endlich! Langsam nervst du!«51 Während Melanies Äußerungen sie als ungeduldig kennzeichnen, hat die ›nervige‹ Trude, die bei den anderen für Augenrollen sorgt, also einerseits in dieser Bande die Rolle des vermeintlich schwächsten Mitglieds, wenn es nach ihren Eigenzuschreibungen und den Zuschreibungen der anderen geht – beide stimmen explizit überein. Andererseits sorgt gerade sie sich sehr um den Zusammenhalt der Bande, wie an ihrem Verhalten zu sehen ist. Niveaustufe I lässt sich also anhand dieses Filmausschnittes meistern, indem die Besetzung der Figuren mit bestimmten Schauspielerinnen, deren Mimik und Gestik und die Dialoge der Figuren gedeutet werden. Auch für Niveau II, also statische und dynamische Figurenkonzeptionen erkennen und interpretieren können – Fremd- und Eigencharakterisierung unterscheiden und adäquat interpretieren, erweist sich die Sequenz als geeignetes Material, sobald im Wohnwagen zwischen Melanie und Wilma ein Streit ausbricht. Ein sehr deutlicher Kontrast zwischen Fremd- und Eigencharakterisierung kommt hier zum Ausdruck, wenn Wilma Melanie vorwirft: »Du weißt doch gar nicht, was verliebt sein ist.«, und Melanie entgegnet: »Ts, so was muss ich mir nicht sagen lassen, nicht von einer, die so verklemmt ist.« Wilma reagiert: »Verklemmt? Nur weil ich mich nicht von sämtlichen Jungs in der Schule angrabschen lasse? Mit den Wimpern klimpere, wenn ein Lehrer vorbeigeht?«52 Im Verlauf des Streits erkennt Melanie, dass Wilma in Wirklichkeit in ein anderes Mädchen verliebt ist, und hält diese nicht mehr für verklemmt, sondern für pervers. Der Rest der Bande teilt diese Ansicht nicht. Melanies Ungeduld in Bezug auf andere steigert sich nun zu einem intoleranten Verhalten und Wilmas vermeintliche Schüchternheit gegenüber Jungen lässt sich nachträglich als sexuelles Desinteresse an diesen erkennen. Auch diese Dynamik der Figurenkonzeption ist den Dialogen zu entnehmen, aber ebenso mithilfe der expressiven und wandelbaren Mimik und Gestik der Schauspielerinnen. Auf Niveau III nun können die Schüler:innen gemäß dem Modell Relationen von Figuren zueinander erkennen und systematisieren. Sie können außerdem Kontrast- und Korrespondenzrelationen in der Figurenkonstellation beschreiben und interpretieren. Zunächst wird Trude den anderen Mädchen gegenübergestellt. Insbesondere Melanie propagiert für die Party einen offenen Umgang mit Jungen, sprich mit der eigenen Sexualität. Trude hingegen ist zögerlicher und sich vor allem außerhalb des homosozialen Raums der Mädchenbande in Bezug auf ihre Körperlichkeit unsicher. Im Verlauf des Streits wird eine andere Kontrastrelation offensichtlich: Nun stehen sich Melanies Heteronormativität und Wilmas Bedürfnisse gegenüber. 51 52

Die Wilden Hühner und die Liebe (Naefe, D 2007). Ebd.

Volker Pietsch: Verstehen auf Niveau?

Aus dem Konflikt darüber, ob man seine Sexualität überhaupt ausleben kann bzw. soll oder nicht, ist nun der Konflikt darüber geworden, ob man seine Sexualität nur auf eine bestimmte Weise ausleben soll. Melanie fühlt sich von Wilma verraten. Offenbar, so ließe sich interpretieren, sorgt sie sich darum, wegen einer befreundeten ›Lesbe‹ selbst für homosexuell gehalten zu werden und dass dies ihr Bemühen darum verhindern könnte, den homosozialen Raum für Jungen zu öffnen. Gerade damit provoziert sie den Zusammenbruch der Gruppe, womit sie Trudes soziales Auffangnetz und Rückzugsort vor der Erwachsenenwelt zu zerstören droht. Die Sorgen um gesellschaftliche Maßstäbe können nicht länger aus dem Wohnwagen als Rückzugsort der Pubertierenden herausgehalten werden. Dass sie die gemeinsame Kindheitsidylle und beinahe auch den Zusammenhalt der Mädchen zersetzen, ließe sich weiterhin über die Dialoge und das von den Schauspieler:innen demonstrierte Verhalten der Mädchen nachvollziehen, wird aber noch unterstützt durch die Kameraperspektiven und den Schnitt. Zu Beginn wird Trude im Schuss-Gegenschuss-Verfahren den anderen Mädchen gegenüber positioniert, später werden insbesondere Einstellungen von Melanie und Wilma gegenübergestellt. Dann werden immer mehr der Mädchen in nahen und halbnahen Aufnahmen voneinander isoliert. Diese Aufnahmen der Gesichter helfen zudem dabei, die Kontrastrelationen der Figuren zu beschreiben und zu interpretieren, indem sie die Mimik deutlicher erkennen lassen.53 Aber es gibt auch Korrespondenzrelationen, die mithilfe des Filmschnitts deutlich werden, so etwa, wenn zuerst Melanie zu sehen ist, die sich noch einmal nach dem Wohnwagen umschaut, nachdem sie diesen verlassen hat, und an diese Einstellungen dann solche der anderen Mädchen montiert werden, die das von Trude angefertigte Fotoalbum anschauen und darin ebenfalls den Wohnwagen sehen – in einer nun weit entfernt scheinenden Zeit, in der noch alle das gemeinsame Bandenquartier zusammen hergerichtet hatten. Auch wenn die vier übrigen Mädchen noch im Wohnwagen sitzen, ist er in seiner symbolischen Funktion als Ort des Zusammenhalts und Refugium vor der Außenwelt nun zu einem vergangenen Ort geworden, und sie haben sich zeitlich genauso von ihm entfernt, wie sich Melanie räumlich von ihm entfernt hat. Die Montage vereint so für das Filmpublikum die räumlich und ideell getrennte Bande in ihrer Traurigkeit. Auf Niveaustufe IV schließlich sollen die Figuren als Konstrukt und Repräsentant:innen erfasst werden können. Die Wilden Hühner sind in dieser Sequenz so konstruiert, dass an ihnen repräsentativ der Abschied von der Kindheit nachvollzogen werden kann oder an ihnen auch verschiedene Positionen im Umgang mit Diskriminierung deutlich werden. Bei der Identifikation dieser Konflikte hilft der Film, indem er bestimmte symbolische Akte ausstellt, wie auch Chávez Lambers und Rietig in den Unterrichts-

53

Vgl. dazu auch: Chávez Lambers; Rietig (2008): Die wilden Hühner und die Liebe, S. 18.

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materialien zum Film anhand des Bandenabzeichens hervorheben,54 das Melanie auf dem Tisch zurücklässt und das von der Kamera in einer so nahen Einstellung gezeigt wird, wie sonst nur die Gesichter der Figuren. Gerade dadurch wird die Leere, die Melanie hinterlässt, besonders deutlich. Bislang, so hat es den Anschein, lässt sich die Filmsequenz mitsamt den Anreizen, die sie für verschiedene Niveaustufen des literarischen Lernens bietet, recht linear nachvollziehen, ja sogar markierend auf einzelne Einstellungen oder gar Standbilder bzw. Dialogzeilen zurückführen, auch wenn natürlich in diesem Artikel ungleich mehr Details der Bildebene und der Dialoge aus dieser Sequenz noch nicht angesprochen werden konnten – ein Problem, dass nicht lösbar ist, da bei einem Film zwar wie bei einem schriftlichen Text sämtliche Daten allen vorliegen, die schiere Datenmenge sich aber von den Rezipient:innen nie intersubjektiv gleichermaßen bewältigen oder sichern lässt (im Gegensatz zu schriftlichen Texten setzt diese Vielfalt an Zugängen also nicht erst bei der individuellen Wahrnehmung potentieller Subtexte an). Immerhin aber lässt sich anhand der Blicklenkung und der Akzentuierung des Tons ein schlüssiges Verständnis wesentlicher Bestandteile darlegen. Allerdings ist die Sequenz auch mit einem score unterlegt, also einer eigens für den Film komponierten Musik. Wenn Melanie den Wohnwagen verlässt und noch einmal auf ihn zurückblickt, hören wir eine Musik, die konventionell mit Traurigkeit assoziiert wird. Diese Konventionen der Verknüpfung bestimmter Instrumentalisierungen, Melodien und Tonhöhen mit der Darstellung bestimmter Gefühle müssten noch näher beschrieben werden, aber hier soll dieser Einsatz der Musik stattdessen eine andere Frage aufwerfen, nämlich die nach ihrer perspektivischen Bindung an die Figur. Der score ist wohl nicht dazu konzipiert, besonders aufzufallen, er ist sozusagen atmosphärisch illustrativ angelegt. Dass Melanie die Musik in diesem Moment hören kann, sie also diegetisch ist, ist unwahrscheinlich; sie passt allerdings gut zu den traurigen Gefühlen, die der Situation sowie Melanies Mimik und ihrem Verhalten zuzuordnen wären. Bringt diese Musik also Melanies Emotionen zum Ausdruck? Nehmen die Zuhörer:innen des Films somit Anteil an Melanies Innenleben? Aber warum verbindet die Melodie dann als Tonbrücke die Montage von Melanie mit derjenigen der zurückgelassenen Mädchen? Handelt es sich um eine Art kollektives, aber nicht bewusst geteiltes emotionales Kraftfeld? Oder ist diese Musik eher eine Art Kommentar einer hierarchiehöheren Erzählinstanz, die also dieses Geschehen unserer Anteilnahme empfiehlt (in etwa entsprechend einem Kommentar einer Erzählerstimme wie: »Leider hat sich unsere fehlbare, aber bedauernswerte Heldin in diesem Moment …«)? Das ist kaum abschließend zu klären, dennoch könnten das Nachdenken und die Diskussion darüber im Unterricht

54

Vgl. ebd.

Volker Pietsch: Verstehen auf Niveau?

ausgesprochen sinnvoll sein, und dies wäre nicht erst als Kulmination eines langfristigen Lernprozesses denkbar (angenommen etwa, dem Geschehen wäre eine eher als aggressiv oder humoristisch konventionalisierte Musik unterlegt, so würde die Diskrepanz zwischen Bild und Ton verdeutlichen, dass zwei Perspektiven in derselben Einstellung verfolgt würden). Eine solche Gleichzeitigkeit von Perspektiven ist in der Schrift, bei aller Vieldeutigkeit, nicht möglich, und eine solche Unbestimmtheit der Perspektivik, der wir uns nur über konventionelle Erwartungen nähern können, die aber nicht explizit formuliert wird, ist für die Literatur nicht unbedingt so konventionell wie für den Film, in dem sie leicht auch in dem Produkt eines media franchise wie Die wilden Hühner zu finden ist, das nicht gerade als Irritation der Sehgewohnheiten gilt. Der Film antizipiert als formal herkömmliche Genreproduktion für die Zielgruppe von Kindern, Jugendlichen bzw. deren Erziehungsberechtigten, dass das Publikum diese Sequenz und Melanies Gefühle durch den gleichzeitigen Einsatz der Musik versteht. In der Tat wäre der Schluss, Melanie sei traurig, weder ein Missverstehen noch ein Nichtverstehen der Tonebene, und doch bleibt deren perspektivische Zuordnung in einem formal ungeklärten Schwebezustand. Die Verortung der Einstellung des Wohnwagens, auf den Melanie im Bild zuvor offensichtlich zurückblickt, in Melanies Perspektive55 gilt also nur für die subjektive Kamera, aber nicht für die Tonebene, denn dort liegt ein ähnliches Phänomen wie bei den besagten Einstellungen auf den Bildebenen von On Her Majesty’s Secret Service oder Vertigo vor. In Schilchers und Pissareks Kompetenzmodell zum literarischen Lernen wird also erst auf der vierten Niveaustufe als besonderer Schwierigkeitsgrad die Reflexion über die Konstruiertheit der Figur eingeführt. Die Dimension die Vermittlungsebene von Texten analysieren sieht zudem die Identifikation der Erzählinstanz als heterodiegetisch (Niveau I), homodiegetisch (II) und unzuverlässig (III) vor.56 Dahingegen bietet sich das Beispiel aus Die Wilden Hühner und die Liebe an, um auf anschauliche Weise Fragen nach der Verortung der Erzählinstanz zu initiieren, obwohl oder gerade weil es eindeutige Identifikationen nicht zulässt. Es stellen sich anhand der Filmsequenz nun im Verhältnis zu diesen Aufteilungen in diverse Niveaus und Dimensionen weitere Fragen: 1

55 56

Wenn Schüler:innen bereits als Kinder und Jugendliche Filme anhand von Sehund Hörkonventionen verstehen, die für die wissenschaftliche Kategorienbildung und Analyse relativ komplexe Phänomene darstellen, ignoriert dann die lineare Niveaustrukturierung nicht früh etablierte Rezeptionsbedingungen der Kinder?

Vgl. ebd., S. 19. Hinzu kommt das Erkennen epochenspezifischer textinterner Pragmatiken (IV).

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3

Können anhand dieser medialen Erfahrungen nicht frühzeitig Verstehensprozesse von ›Noviz:innen‹ initiiert werden, kann Implizites somit explizit gemacht und wiederum in Frage gestellt werden? Eignet sich der Film durch seine Mehrfachcodiertheit und Simultaneität besonders dazu, Zugänge zu (vermeintlich) höheren Abstraktionsgraden zu schaffen, insbesondere wenn sich das Lernen in verschiedenen Dimensionen wechselseitig bedingt (wie in den hier gezeigten Beispielen Figureninterpretation und Fiktionalitätsbewusstsein)? Überdeckt die Anwendung von an der Literatur (im engeren Sinne) entwickelten Begrifflichkeiten auf andere Medien medienspezifische Besonderheiten, die eher durch einen (nicht hierarchisch wertenden) Vergleich ihrer Differentiale erhellend sein könnten?

Freilich betonen auch Schilcher und Pissarek: »Ob sich die vermuteten Entwicklungslinien in der empirischen Realität tatsächlich wiederfinden lassen, lässt sich nur durch entsprechende Studien und Forschungsarbeiten klären.«57 So relativiert dieser Artikel nicht die Bedeutung ihrer Modellierung, sondern nimmt diese zum Anlass, für eine präzise und medienspezifisch bewusste Arbeit damit zu plädieren, die das Spannungsverhältnis zwischen den Leistungen und den Risiken von Kategorisierungen für das Verstehen produktiv macht.

Quellenverzeichnis Böhm, Kerstin (2017): Archaisierung und Pinkifizierung. Mythen von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Kinder- und Jugendliteratur. Bielefeld. Chávez Lambers, Miriam; Rietig, Denise (2008): Die wilden Hühner und die Liebe. Begleitmaterial. Potsdam. Cork, John, Hunt, Peter, Mills, Alec u.a. (2015): Audiokommentar zu On Her Majesty’s Secret Service. In: On Her Majesty’s Secret Service (Hunt, UK 1969). Twentieth Century Fox Home Entertainment, Blu-ray Disc. Deleuze, Gilles (8 2017): Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt a.M. Die Wilden Hühner und die Liebe (Vivian Naefe, D 2007). Ebert, Roger (2005): Ebert’s Wall of Fame remarks. In: rogerebert.com, 24.06.2005. URL: https://www.rogerebert.com/roger-ebert/eberts-walk-of-fa me-remarks [Stand 01.01.2022]. Greve, Werner (2012): James Bond 007. Agent des Zeitgeistes. Göttingen.

57

Schilcher; Pissarek (4 2018b): Zum Begriff der Kompetenzorientierung und seiner Anwendung im Bereich des literarischen Lernens. In: Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. S. 25.

Volker Pietsch: Verstehen auf Niveau?

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Vertigo (Alfred Hitchcock, USA 1958). Žižek, Slavoj (3 2018): Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan. Frankfurt a.M. Zywietz, Bernd (2007): Kommentierte Filmographie: On Her Majesty’s Secret Service (Im Geheimdienst ihrer Majestät). GB 1969. In: Rauscher, ders., Mannsperger u.a.: Mythos 007. S. 231ff.

»Dafür sind die noch zu klein!« Literarische Verstehensprozesse von Primarstufenschüler*innen empirisch diagnostizieren Lisa König Abstract Die Ausprägung literarischen Verstehens gilt im literaturdidaktischen Forschungsdiskurs als eine der zentralen Aufgaben schulischer Literaturvermittlung. Rezipient*innen sollen lernen, sich mit Literatur auseinanderzusetzen und entweder ästhetische oder kognitive Anknüpfungspunkte zu finden – auch bereits in der Primarstufe. Der vorliegende Beitrag skizziert daher, was unter dem Konstrukt literarischer Verstehensprozesse hinsichtlich primarstufenspezifischer Kontexte verstanden werden kann. Hierzu wird ein Überblick über den bestehenden Forschungsdiskurs gegeben, bevor mit dem BOLIVE-Modell vor dem Hintergrund beschriebener Herausforderungen für die konkrete Erfassung literarischen Verstehens eine Möglichkeit empirischer, wie schulpraktischer Diagnose vorgestellt wird.

Sich mit literarischen Gegenständen1 und den in ihnen erzählten Geschichten auseinanderzusetzen, stellt eine der zentralen Aufgaben des Deutschunterrichts jeder Altersstufe dar.2 Dies begründet sich insbesondere damit, dass Literatur – im Sin-

1

2

Im Rahmen des hier vorliegenden Beitrags werden literarische Gegenstände bzw. Literatur als narrative Kulturgüter definiert, welche eine Geschichte erzählen und sich somit sowohl auf epische, lyrische wie auch dramatische Texte beziehen können; wenngleich sich literarische Formen nicht ausschließlich über deren Geschichten definieren lassen, sind die in ihnen erzählten Geschichten vor dem Hintergrund der Lebenswelt und Erfahrungsräume der Schüler*innen für die schulpraktische Literaturvermittlung bedeutsam. Zugleich wird der verwendete Literaturbegriff vor dem Hintergrund eines weiten Textverständnisses medienunabhängig breit definiert – d.h., es kommt nicht darauf an, anhand welcher Zeichensysteme eine Geschichte vermittelt wird, sondern nur, ob diese narrative Gestaltungsstrukturen aufweist. Vgl. hierzu nähere Ausführungen in: Boelmann, Jan M.; König, Lisa (2021): Literarische Kompetenz messen, literarische Bildung fördern. Das BOLIVE-Modell. Baltmannsweiler, S. 16f. Vgl. exemplarisch Abraham, Ulf; Kepser, Matthis (2016): Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin. Abraham, Ulf; Knopf, Julia (2013): Deutsch. Didaktik für die Grundschule. Berlin. Spinner, Kaspar H.; Pompe, Anja; Ossner, Jakob (2016): Deutschdidaktik Grundschule.

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ne eines weiten, medienübergreifenden Textbegriffs3 – als eines unserer zentralen anthropologischen Kulturgüter sowohl vergangene Gesellschaften geprägt haben, gegenwärtige prägen und zukünftige prägen werden als auch einen Resonanzraum für zentrale Grunderfahrungen darstellen, die verarbeitet und Rezipient*innen zugänglich gemacht werden. Um an diesen Kulturgütern zu partizipieren, muss der Deutsch- bzw. Literaturunterricht folglich für seine Schüler*innen vielfältige Erfahrungsräume eröffnen, in denen sie die Möglichkeit erhalten, sich mit literarischen Erzeugnissen auseinanderzusetzen. Ohne diese Erfahrungsräume bleibt ihnen ein Zugang zur literarischen Kultur verwehrt. Geschichten werden in Zeiten zunehmender Digitalisierung jedoch nicht mehr nur zwischen zwei Buchdeckeln erzählt, sondern sind als medienübergreifende Erzeugnisse in der Lebenswelt auch von noch jungen Schüler*innen fest verankert: Bereits früh kommen Kinder mit Narrativen in Bilderbüchern, Hörmedien, Filmen, Serien, Apps oder Games in Kontakt, setzen sich mit diesen auseinander und ziehen beispielsweise für die eigene Rezeptionspraxis Rückschlüsse aus diesen – man denke an das Lieblingshörspiel, das abends vor dem Einschlafen noch unbedingt angehört werden muss, oder die Entscheidung für eine neue Serie, weil sie einer bereits gesehenen und gemochten ähnelt. Betrachtet man jedoch den literaturdidaktischen Forschungsdiskurs der letzten Jahre, gewinnt man zunehmend den Eindruck, dass trotz der beständigen Betonung der Bedeutsamkeit von Literatur in der kindlichen Lebenswelt und den mit Literatur verbundenen Lernpotentialen nur selten die konkrete Auseinandersetzung von Kindern mit literarischen Gegenständen in den Blick genommen wird.4 Oft führen die durchgeführten Studien nicht weit genug, um die vorliegenden Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kinder abbilden zu können.5 Hinzu tritt die seit den Ergebnissen der PISA-Studie aus dem Jahr 2000 und der hieraus resultierenden Kompetenzorientierung der Fachdidaktik vielfältig geführte Diskussion, inwiefern die Auseinandersetzung mit polyvalenten Gegenständen, wie es literarische Erzeugnisse sind, überhaupt konkret erfasst werden könnte, wie sich Verstehen und Nichtverstehen von Rezipient*innen äußern und in welcher Beziehung die beiden

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5

Eine Einführung. Berlin. Wildemann, Anja; Vach, Karin (2013): Deutsch unterrichten in der Grundschule. Kompetenzen fördern, Lernumgebungen gestalten. Seelze. In Anlehnung an die Rezeptionsästhetik Isers, vgl. Iser, Wolfgang (2 1984): Der Akt des Lesens [1976]. München, S. 37ff. Vgl. auch Genette, Gérard (1994): Die Erzählung. München, S. 12ff. Vgl. exemplarisch: Abraham; Knopf (2013): Deutsch. Wildemann; Vach (2013): Deutsch unterrichten in der Grundschule. Pompe, Anja (2016): Literarisches Lernen im Anfangsunterricht. Theoretische Reflexionen, empirische Befunde, unterrichtspraktische Entwürfe. Baltmannsweiler. Spinner; Pompe; Ossner (2016): Deutschdidaktik Grundschule. Vgl. Ritter, Michael (2019): Literarisches Lernen in der Grundschule. Zwei empirische Studien im Vergleich. In: Didaktik Deutsch, Jg. 24, H. 46, S. 128f., 131.

Lisa König: »Dafür sind die noch zu klein!«

Prozesse zueinander stehen.6 Für die Gestaltung, Planung und Durchführung von Literaturunterricht einerseits und für die damit verbundene Förderung von Schüler*innen andererseits ist eine polarisierende Diskussion in die eine oder andere Richtung jedoch wenig ertragreich: Vielmehr können sowohl die verstehende als auch die ästhetisch orientierte nichtverstehende Auseinandersetzung mit Literatur gleichwertig in die Literaturvermittlung integriert werden – wenngleich die Prozesse strukturell unterschiedlich sind. Anderenfalls ist nicht klar, wie Lehrkräfte mit vorhandenen oder noch zu erwerbenden Verstehens- und Nichtverstehensäußerungen ihrer Schüler*innen umgehen sollen, um diese in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Der vorliegende Beitrag vertritt daher zwei Perspektiven: Zum einen geht er davon aus, dass auch junge Rezipient*innen – wie Primarstufenschüler*innen – in der Lage sind, sich mit Literatur auseinanderzusetzen. Aufgabe des Literaturunterrichts sollte es dabei sein, die vorhandenen Verstehens- und Nichtverstehensprozesse von Kindern zu erfassen und diese weiterführend zu fördern, um den kindlichen Umgang mit literarischen Erzeugnissen zu stärken. Insbesondere für vorliegende literarische Verstehensprozesse bedarf es hierzu zum einen einer kindorientierten Diagnostik; sowohl in der empirischen Bildungsforschung als auch der Schulpraxis. Zum anderen resultiert hieraus eine im Beitrag vertretene verstehensorientierte Perspektive, die zugunsten der Förderung der Schüler*innen den aktuellen Verstehensstand der Kinder – im Sinne einer prozessorientierten Abbildung des bereits Verstandenen und Noch-Nicht-Verstandenen – in den Blick nimmt. Das Nichtverstehen wird als ästhetische Erfahrung dabei jedoch nicht ausgeschlossen, sondern als Teil des Verstehensprozesses aufgefasst und explizit in die kindliche Auseinandersetzung mit Literatur einbezogen. Im Folgenden wird daher zunächst in einem kurzen Überblick die aktuelle Auseinandersetzung mit kindlichen literarischen Verstehensprozessen skizziert, bevor die Herausforderungen im Umgang mit diesen anhand von drei Problemfeldern erläutert werden. Im Anschluss daran wird mit dem BOLIVE-Modell7 eine Referenz-

6

7

Vgl. unter anderem: Winkler, Iris; Masanek, Nicole; Abraham, Ulf (2010): Zur Einführung. Poetisches Verstehen in Zeiten der Kompetenzorientierung. In: Dies. (Hg.): Poetisches Verstehen. Literaturdidaktische Positionen – empirische Forschung – Projekte aus dem Deutschunterricht. Baltmannsweiler, S. 5-8. Lösener, Hans; Siebauer, Ulrike (2016): Die Frage nach dem Sinn. Zur Entwicklung von Frageperspektiven in literarischen Gesprächen. In: Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy, Werner Wintersteiner (Hg.): Die Ansprüche der Literatur als Herausforderung für den Literaturunterricht. Theoretische Perspektiven der Literaturdidaktik. Frankfurt a.M., S. 185-205. Gahn, Jessica (2018): Irritierendes lesen. Eine empirische Studie zum literarischen Verstehen Jugendlicher. Weinheim. Odendahl, Johannes (2018): Literarisches Verstehen. Grundlagen und didaktische Perspektiven. Berlin. Vgl. jüngst: Boelmann; König (2021): Literarische Kompetenz messen, literarische Bildung fördern.

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modellierung vorgestellt, mit deren Hilfe es möglich ist, sowohl in empirischen wie auch in schulpraktischen Kontexten vorliegende Verstehensprozesse von Rezipient*innen bzw. deren Zwischenstände zu diagnostizieren. Wie dies konkret stattfinden kann, wird anhand eines Interviewbeispiels eines Drittklässlers verdeutlicht.

I.

Ein kurzer Überblick. Didaktische Perspektiven zum literarischen Verstehensprozess von Primarstufenschüler*innen

Wie bereits einleitend skizziert, gilt die Bedeutsamkeit von literarischen Gegenständen in der Lebenswelt von Primarstufenschüler*innen als unbestrittener Teil des literaturdidaktischen Forschungsdiskurses: Kinder kommen bereits frühzeitig mit literarischen Erzeugnissen in Kontakt; die narrative Darbietungsform ist in Zeiten der Digitalisierung vielfältig. Hierdurch sammeln sie Erfahrungen mit literarischen Gegenständen, lernen Handlungsstrukturen und -abläufe kennen, setzen sich mit literarischen Figuren und mit ihnen verbundenen Erzähltechniken auseinander.8 Dennoch wird bis heute darüber diskutiert, ob Primarstufenschüler*innen in der Lage sind, in ähnlicher Weise wie Sekundarstufenlernende literarische Verstehensprozesse zu erwerben, auf- und auszubauen, oder ob das formale literarische Lernen – wie beispielsweise die Handlungs- und Figurenanalyse eines literarischen Werks oder dessen Sinndeutung bzw. Interpretation – vielmehr Aufgabe der höheren Klassenstufen sei. Die hiermit evozierte und oftmals verbundene propädeutische Vorläuferfunktion der Primarstufenbildung degradiert den Literaturunterricht in der Grundschule damit zur ausschließlichen Vorbereitung der Kinder auf ihre spätere Sekundarstufenzeit.9 Die wenigen Studien zum primarstufenspezifischen literarischen Verstehen untersuchen entweder den literarischen Verstehensprozess anhand heuristischer Analysen des Stellenwerts von Literatur in der kindlichen Lebenswelt10 oder stellen Teilaspekte der literarischen Auseinandersetzung in den Mittelpunkt.11 Letztere orientieren sich zwar an bereits existieren8

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Vgl. unter anderem: Waldt, Kathrin (2003): Literarisches Lernen in der Grundschule: Herausforderung durch ästhetisch-anspruchsvolle Literatur. Baltmannsweiler. Büker, Petra (2006): Literarisches Lernen in der Primar- und Orientierungsstufe. In: Klaus-Michael Bogdal, Hermann Korte (Hg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München, S. 120-133. Abraham; Knopf (2013): Deutsch. Wildemann; Vach (2013): Deutsch unterrichten in der Grundschule. Spinner; Pompe; Ossner (2016): Deutschdidaktik Grundschule. Vgl. Büker (2006): Literarisches Lernen in der Primar- und Orientierungsstufe. S. 120. Vgl. Waldt (2003): Literarisches Lernen in der Grundschule. Vgl. hierzu unter anderem: Knopf, Julia (2009): Literaturbegegnung in der Schule. Eine kritisch-empirische Studie zu literarisch-ästhetischen Rezeptionsweisen in Kindergarten,

Lisa König: »Dafür sind die noch zu klein!«

den Sekundarstufenmodellierungen zum literarischen Verstehensprozess und stellen somit eine Anschlussfähigkeit zwischen den Verstehensäußerungen von jüngeren und älteren Lernenden her; die primarstufenspezifischen Herausforderungen, vor denen Kinder zu Beginn ihrer Auseinandersetzung mit Literatur stehen, bleiben jedoch meistens außen vor.12 Dies begründet sich insbesondere mit drei Problemfeldern, die die diagnostische Feststellung von Verstehensständen erschweren und damit Herausforderungen im Umgang mit kindlichem literarischem Verstehen darstellen:

Problemfeld 1: das Grundlagenproblem – Bildungsaspekte versus Kompetenzen Eine der größten Herausforderungen des Forschungsdiskurses rund um das literarische Verstehen von Kindern und Jugendlichen besteht in der Definition dessen, was unter dem Konstrukt des literarischen Verstehens zu verstehen ist und welchen Stellenwert dieses in der Auseinandersetzung mit Literatur einnimmt.13 Insbesondere seit den PISA-Ergebnissen aus dem Jahr 2000 und der daraus resultierenden Kompetenzorientierung in den Fachdidaktiken wurde im Rahmen des literaturdidaktischen Forschungsdiskurses erörtert, aus welchen Prozeduren und Verstehensbereichen sich das literarische Verstehen zusammensetzen würde, inwiefern der Umgang mit einem polyvalenten Gegenstand überhaupt mit standardisiert messbaren Kategorien zu erfassen sei und welche Bedeutung die ästhetische Annäherung an literarische Gegenstände in Zeiten der Kompetenzorientierung noch

12 13

Grundschule und Gymnasium. München. Stiller, Tanja (2017): Literarästhetische Verstehenskompetenz in der Grundschule. Baltmannsweiler. Heizmann, Felix (2018): Literarische Lernprozesse in der Grundschule. Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zu den Praktiken und Orientierungen von Kindern in Literarischen Unterrichtsgesprächen über ästhetisch anspruchsvolle Literatur. Baltmannsweiler. Vgl. Spinner; Pompe; Ossner (2016): Deutschdidaktik Grundschule. S. 197. Ritter (2019): Literarisches Lernen in der Grundschule. S. 129. Vgl. unter anderem die Diskussion in: Frederking, Volker; Brüggemann, Jörn; Hirsch, Matthias (2016): Das Fünfdimensionale Literary Literacy-Modell und seine interdisziplinären Implikationen am Beispiel der Geschichtsdidaktik. In: Katja Lehmann, Michael Werner, Stefanie Zabold (Hg.): Historisches Denken jetzt und in Zukunft. Münster u.a., S. 211-234. Brand, Tilman von (2016): Literarisches Lernen in inklusiven Lerngruppen. Eckpunkte einer inklusiven Literaturdidaktik. In: Daniela Frickel, Andre Kagelmann (Hg.): Der inklusive Blick. Die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma. Frankfurt a.M., S. 89-102. König, Lisa (2020): Fiktionswahrnehmung als Grundlage literarischen Verstehens. Eine empirische Studie über den Zusammenhang von Fiktionsverstehen und literarischer Grundkompetenz. Baltmannsweiler. Boelmann; König (2021): Literarische Kompetenz messen, literarische Bildung fördern.

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haben könnte.14 Als prägende Konstrukte zur Erfassung des literarischen Verstehens erwiesen und erweisen sich damals wie heute die Auseinandersetzungen rund um die literarische Bildung und die literarischen Kompetenz.15 In Abhängigkeit von ihrer konkreten Ausgestaltung stellen diese unterschiedliche Aspekte für den literarischen Verstehensprozess in den Mittelpunkt: Mit dem Begriff der literarischen Bildung geht zumeist das Verständnis einer Rezipientin bzw. eines Rezipienten einher, die oder der sich in Auseinandersetzung mit Literatur ganzheitlich (selbst) bildet und dabei im Sinne eines doppelten Resonanzraumes ein moralisch-ethisches Fundament für seine lebensweltliche Entwicklung zur Seite gestellt bekommt, das zur Weiterbildung des Individuums beiträgt.16 Das hierbei hervorgehobene Bildungspotential von Literatur als Kulturgut bezieht sich dabei vornehmlich auf die ästhetische und emotionale Auseinandersetzung mit den präsentierten Narrativen, die anschließend unter anderem metakognitiv verarbeitet, an die eigene Lebenswelt angebunden oder in den eigenen Erfahrungsschatz integriert werden; oder anders formuliert Literarisch gebildete Menschen kennen sich mit Geschichten, ihren Autor*innen und Entstehungshintergründen aus, nutzen die dargestellten anthropologischen Grunderfahrungen als Orientierungsrahmen für das eigene Leben oder damit verbundene Überlegungen, müssen jedoch auch die Bereitschaft zeigen, sich aktiv auf das Erzählte einzulassen. Je nach bildungstheoretischer Verortung fallen unter den Begriff der literari-

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Vgl. Frickel, Daniela; Kammler, Clemens; Rupp, Gerhard (Hg.) (2012): Literaturdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. Perspektiven und Probleme. Freiburg i.Br. Riekmann, Carola; Gahn, Jessica (2013): Poesie verstehen – Literatur unterrichten. Baltmannsweiler. Dawidowski, Christian (2016): Literaturdidaktik Deutsch. Paderborn. Vgl. Rösch, Heidi (Hg.) (2013): Literarische Bildung im Kompetenzorientierten Deutschunterricht. Freiburg i.Br. Abraham; Kepser (2016): Literaturdidaktik Deutsch. Odendahl (2018): Literarisches Verstehen. Vgl. unter anderem: Härle, Gerhard (2008): Literarische Bildung im Spannungsfeld von Erfahrung und Theorie. In: Ders. (Hg.): »Sich bilden, ist nicht anders, als frei werden«. Sprachliche und literarische Bildung als Herausforderung für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler, S. 39-62. Roberg, Thomas; Susteck, Sebastian; Müller-Michaels, Harro (Hg.) (2010): Geschichte des Deutschunterrichts von 1945 bis 1989 (Teil 2): Deutschunterricht im Widerstreit der Systeme. Frankfurt a.M. Rösch (Hg.) (2013): Literarische Bildung im Kompetenzorientierten Deutschunterricht.

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schen Bildung daher eher affektive17 oder kognitive18 Bildungsaspekte, die im Rahmen des Literaturunterrichts Kindern und Jugendlichen vermittelt werden sollen und zur literarischen Bildung als »Selbstverständigungs- und Weltdeutungsprozess«19 beitragen. Im Gegensatz hierzu brachte die PISA-Debatte der frühen 2000er Jahre20 den Begriff der literarischen Kompetenzen hervor, der insbesondere das Erlernen kognitiver Fähigkeiten zur Analyse und anschließenden Sinndeutung von Literatur umfasst und in dessen Rahmen anhand von standardisierten Skalen Auskunft über den Kompetenzstand von Schüler*innen geben soll.21 Einen zentralen Referenzpunkt bildete dabei zum einen die Klieme-Expertise aus dem Jahr 2003, in der festgehalten wurde, dass die Fachdidaktiken Modelle entwickeln sollten, durch welche eine standardisierte Diagnose des jeweiligen Fachverstehens möglich würde.22 Zum anderen lieferte die Kompetenzdefinition Weinerts aus dem Jahr 2001 einen in den folgenden Jahren häufig angewendete Rahmen dafür, was überhaupt unter Kompetenzen zu verstehen sei: 17

18

19 20 21

22

Vgl. unter anderem: Dehn, Wilhelm (1974): Ästhetische Erfahrungen und literarisches Lernen. Frankfurt a.M. Mikota, Jana; Oehme, Viola (2013): Literarisches Lernen mit Kinderliteratur. Siegen. Schulze-Bergmann, Joachim (2015): Werte im Literaturunterricht. Entwicklungspsychologische Grundlagen, professionelles Lehrverhalten, methodische Schritte zur Arbeit in heterogenen Gruppen. Frankfurt a.M. Becker, Maria (2020): LieS! Literatur in einfacher Sprache für Kinder und Jugendliche. In: Daniela Frickel, Andre Kagelmann, Andreas Seidler u.a. (Hg.): Kinder- und Jugendmedien im inklusiven Blick. Analytische und didaktische Perspektiven. Frankfurt a.M., S. 279-298. Vgl. Bredella, Lothar; Hallet, Wolfgang (Hg.) (2007): Literaturunterricht, Kompetenzen, Bildung. Trier. Heynitz, Martina von (2012): Bildung und literarische Kompetenz nach PISA. Frankfurt a.M. Maiwald, Klaus (2015): Literarisches Lernen als didaktischer Integrationsbegriff – Spinners »Elf Aspekte« als Struktur- und Denkrahmen für weiterführende Modellierung(en). In: Leseräume, Jg. 2, H. 2, S. 85-95. Mitterer; Nicola; Wintersteiner, Werner (2015): Literarische Erfahrung. Ästhetischer Modus und literarisches Lernen. In: Leseräume, Jg. 2, H. 2, S. 96-108. Rösch (2013): Literarische Bildung im Kompetenzorientierten Deutschunterricht. Abraham; Kepser (2016): Literaturdidaktik Deutsch. Ebd., S. 108. Vgl. hierzu auch ausführlich die Einleitung dieses Bandes. Vgl. unter anderem: Abraham, Ulf (2005): Lesekompetenz, literarische Kompetenz, poetische Kompetenz. Fachdidaktische Aufgabe einer Medienkultur. In: Rösch, Heidi (Hg.): Kompetenzen im Deutschunterricht. Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Mediendidaktik. Frankfurt a.M., S. 13-26. Kammler, Clemens (2006): Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. Anmerkungen zum Diskussionsstand. In: Ders. (Hg.): Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. Modelle für die Primar- und Sekundarstufe. Stuttgart, S. 7-22. Ehlers, Swantje (2011): Studienbuch zur Analyse und Didaktik literarischer Texte. Baltmannsweiler. Pieper, Irene; Wieser, Dorothee (Hg.) (2012): Fachliches Wissen und literarisches Verstehen. Studien zu einer brisanten Relation. Frankfurt a.M. Vgl. Klieme, Eckhard (2003): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards: eine Expertise. Bonn.

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die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.23 Vor diesem Hintergrund entbrannte im literaturdidaktischen Forschungsdiskurs eine Debatte um das Für und Wider beider Begriffsbereiche und das damit verbundene Selbstverständnis des Literaturunterrichts: Einerseits wurden erste Modelle entwickelt, die mithilfe empirischer oder heuristischer Methoden zu fassen versuchten, welche literarischen Kompetenzen im literarischen Verstehensprozess von zentraler Bedeutung sein sollten (bspw. Modellierung literarästhetischer Urteilskompetenz [kurz: LUK]24 oder Modellierung literarischer Kompetenz auf semiotischer Grundlage25 ) und wie sich diese bei Kindern und Jugendlichen ausprägen. Andererseits wurde die Bedeutsamkeit literarischer Bildungsaspekte betont, die sich nicht unter dem Kompetenzparadigma Weinerts fassen ließen, während der Auseinandersetzung mit Literatur jedoch durchaus zentral seien – wie beispielsweise die ästhetische und emotionale Auseinandersetzung mit einer Geschichte, die sich nicht in den Kategorien von richtig oder falsch messen und einer Skala zuordnen lässt. So verwundert es nicht, dass in den frühen 2010er Jahren vermehrt Stimmen laut wurden, die die »Abkehr von der Vermessung literarischen Verstehens«26 forderten und die Rückkehr zu den Bildungspotentialen von Literatur an sich, unabhängig von standardisierten Kompetenzformulierungen, befürworteten.27 Mit Blick auf die empirische Untersuchung und Diagnose literarischer Verstehensprozesse fällt jedoch auf, dass in der Diskussion rund um die Ausgestaltung literarischer Bildung und literarischer Kompetenz kein Verständnis darüber vorlag, wie sich literarische Verstehensprozesse von Kindern und Jugendlichen ausprägen

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25 26

27

Weinert, Franz E. (2001): Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In: Ders. (Hg.): Leistungsmessung in Schulen. Weinheim, S. 27. Vgl. Frederking, Volker; Meier, Christel; Henschel, Sofie u.a. (2012): Literarästhetische Textverstehenskompetenz und fachliches Wissen. Möglichkeiten und Probleme domänenspezifischer Kompetenzforschung. In: Pieper; Wieser: Fachliches Wissen und literarisches Verstehen. S. 237-258. Vgl. Schilcher, Anita; Pissarek, Markus (Hg.) (2013): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. Ein Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage. Baltmannsweiler. Frederking, Volker: Vorwort: Schwer messbare Kompetenzen – Herausforderungen für die empirische Fachdidaktik. In: Ders. (Hg.) (2008): Schwer messbare Kompetenzen: Herausforderungen für die empirische Fachdidaktik. Baltmannsweiler, S. 8. Vgl. unter anderem: Bredella; Hallet (2007): Literaturunterricht, Kompetenzen, Bildung. S. 2. Heynitz (2012): Bildung und literarische Kompetenz nach PISA. S. 45. Fiebich, Peggy (2014): Querdenken. Literarische Bildung und transversale Vernunft. Paderborn, S. 35.

Lisa König: »Dafür sind die noch zu klein!«

und entwickeln lassen könnten. Je nach Modellierungen standen und stehen unterschiedliche Aspekte im Mittelpunkt, die sich entweder an einem Bildsamkeitsoder Kompetenzgedanken orientieren.

Problemfeld 2: das Fokusproblem – das Kind im Mittelpunkt Das zweite Problemfeld im Umgang mit kindlichen literarischen Verstehensprozessen bezieht sich auf die vorliegenden Modellierungen zur Erfassung bzw. Untersuchung der kindlichen literarischen Verstehensprozesse – unabhängig davon, ob eher literarische Bildungsaspekte oder literarische Kompetenzen im Mittelpunkt stehen. Die zentralen Ausführungen finden sich daher heute immer noch bei Waldt,28 Büker29 und Spinner30 : Waldt differenziert hierzu literarische Lernprozesse von Grundschulkindern in zwei Verstehensbereiche: die Leseförderung und die literarästhetische Bildung. Insbesondere Letztere bezieht sich hierbei auf zentrale Grundstrukturen der Auseinandersetzung mit literarischen Erzeugnissen: die Auseinandersetzung mit literarischer Sprache, der Erwerb von Imaginationsfähigkeit, die Schaffung einer emotionalen und intellektuellen Basis, um Beschriebenes erfassen und verarbeiten zu können, sowie der Einbezug und die Teilhabe an der kulturellen Lebenswirklichkeit der Kinder.31 Vor dem Hintergrund eines ähnlichen Ansatzes betont Büker weiterführend, dass der Umgang mit Literatur nicht nur zur ästhetischen Bildung beitrage, sondern auch zur Persönlichkeitsentwicklung der Schüler*innen, sofern durch den Einbezug der literarischen Sozialisationserfahrungen der Lernenden spezifische Texterschließungskompetenzen angebahnt werden würden, die den Verstehensprozess erleichterten.32 Hierdurch könnte die Auseinandersetzung mit anthropologischen Grunderfahrungen ermöglicht und ein kindliches Fremd- und Selbstverstehen angeregt werden.33 Während sowohl Waldt als auch Büker spezifische Verstehensbereiche benennen, die bei der Auseinandersetzung mit Literatur für Kinder zentral stehen sollten, formuliert Spinner vor dem Hintergrund seiner »Elf Aspekte« literarischen Lernens34 einen ganzheitlichen Ansatz für die

28 29 30 31 32 33 34

Vgl. Waldt (2003): Literarisches Lernen in der Grundschule. Vgl. Büker (2006): Literarisches Lernen in der Primar- und Orientierungsstufe. In: Grundzüge der Literaturdidaktik. Vgl. Spinner, Kaspar H. (2007): Literarisches Lernen in der Grundschule. In: kjl&m, Jg. 59, H. 3, S. 3-10. Vgl. Waldt (2003): Literarisches Lernen in der Grundschule. S. 100f. Vgl. Büker (2006): Literarisches Lernen in der Primar- und Orientierungsstufe. In: Grundzüge der Literaturdidaktik. S. 124ff. Vgl. ebd., S. 130ff. Vgl. Spinner, Kaspar H. (2006): Aspekte literarischen Lernens. In: Praxis Deutsch, Jg. 33, H. 200, S. 6-16.

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Primarstufe, der sich auf grundlegende narrative Gestaltungsstrukturen von literarischen Gegenständen anwenden lässt und zunächst zehn,35 in späteren Darstellungen neun Aspekte umfasst:

Literarisches Lernen in der Grundschule (vgl. Spinner [2007]: Literarisches Lernen in der Grundschule. In: kjl&m. S. 3ff.; systematisiert nach Spinner; Pompe; Ossner [2016]: Deutschdidaktik Grundschule. S. 185ff.) 1 sinnliche Sprach-Erfahrungen schaffen 2 Vorstellungsbildung anregen 3 innertextuelle Bezüge wahrnehmen 4 sich auf ungewohnte Sprache einlassen 5 subjektive Beteiligung integrieren 6 Texte psychologisch erkunden 7 mit der Gesprächskultur vertraut werden 8 über Fiktion und Wirklichkeit nachdenken 9 symbolische Bedeutungen erschließen

Vergleicht man die primarstufenspezifischen Ausführungen Spinners mit den bekannten »Elf Aspekten« literarischen Lernens, fällt auf, dass beide zentrale Strukturen des Narrativen aufgreifen und bedeutsame Lernfelder auch für junge Rezipient*innen ausweisen. Damit unterscheiden sich beide Modellierungen weniger in der Zielsetzung und damit im Was der anzuregenden Verstehensprozesse von Primarstufenschüler*innen, als vielmehr im Wie der konkreten Umsetzung. Zwischen allen Aspekten lassen sich Querbezüge herstellen, jedoch betont Spinner, dass diese Aufstellung insbesondere »[das fokussiert], was Kinder lernen sollen, um speziell mit literarischen Texten umzugehen und sie mit Gewinn lesen zu können«.36 Die grundlegende Auseinandersetzung mit Literatur und ihren zentralen Gestaltungsstrukturen ist auch schon für die Literaturvermittlung in der Primarstufe zentral, die sich sowohl an der kindlichen kulturellen Praxis als auch an der späteren Anschlussfähigkeit zum sekundarstufenspezifischen Lernen orientiert. All diesen Modellierungen ist jedoch gemein, dass sie keine konkrete Aussage darüber treffen, wie literarische Verstehensprozesse von Kindern strukturiert sind, 35

36

Ergänzender Hinweis: Spinner präzisierte nach seinen bekannten »Elf Aspekten« aus dem Jahr 2006 Aspekte für die Literaturvermittlung im Rahmen der Primarstufe. In seinen Formulierungen aus dem Jahr 2007 definierte er angesichts der Herausforderungen, vor welchen junge Rezipient*innen zu Beginn ihres literarischen Verstehensprozesses stehen, daher zunächst zehn Aspekte, welche in späteren Darstellungen in neun Aspekte überführt wurden. Vgl. hierzu genauer: Ders. (2007): Literarisches Lernen in der Grundschule. In: kjl&m. S. 3-10. Ebd., S. 3.

Lisa König: »Dafür sind die noch zu klein!«

wie sie sich konkret entwickeln und welche Schritte gegangen werden müssen, um Verstehen anzuregen oder aber bestehende Verstehensstände weiterzuentwickeln. Hierdurch können nur schwer Aussagen für empirische Forschung und die Schulpraxis abgeleitet oder konkrete Fördermaßnahmen entwickelt werden.

Problemfeld 3: das Diagnoseproblem – arbeiten mit kindlichen Aussagen Darüber hinaus birgt die Erfassung des Verstandenen oder auch Nichtverstandenen von kindlichen Rezipient*innen verschiedene Fallstricke, die sich sowohl auf die Diagnosesituation an sich, aber auch das spezifische kindliche Verhalten beziehen:

Standardisierung versus Offenheit Um Aussagen von Kindern möglichst genau miteinander vergleichen zu können, werden sowohl in empirischen Forschungskontexten wie auch in der schulpraktischen Diagnose meistens standardisierte Verfahren genutzt.37 Hierbei werden den Lernenden schriftlich oder mündlich Fragen präsentiert, auf die sie anschließend selbstständig antworten sollen. Da die Fragen für alle Schüler*innen gleich sind, können die Antworten anschließend miteinander verglichen und aufeinander ausgerichtet werden. Insbesondere bei jungen Lernenden besteht hier jedoch das Problem, dass in standardisierten Verfahren keine Rückfragen gestellt und weiterführende, verstehensförderliche Hinweise hinsichtlich der Fragestellung gegeben werden können. Das von den Kindern Verstandene wird so unter Umständen durch eine Irritation hinsichtlich der Fragestellung blockiert und nur verzerrt abgebildet. Daher eignen sich bei Kindern insbesondere teilstandardisierte Verfahren, in denen Rückfragen möglich sind und der oder die Fragende auf die Überlegungen der Kinder reagieren kann. Die Antworten bzw. das Zustandekommen dieser muss jedoch genauer reflektiert und analysiert werden, da eventuell nicht jede Fragesituation bei jedem Kind identisch ist.38

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Vgl. unter anderem Lenhard, Wolfgang (2013): Leseverständnis und Lesekompetenz. Grundlagen – Diagnostik – Förderung. Stuttgart. Schnell, Rainer (2013): Survey-Interviews. Methoden standardisierter Befragung. Wiesbaden. Döring, Nicola; Bortz, Jürgen (2016): Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften. Heidelberg. Vgl. unter anderem Grunert, Cathleen (2002): Methoden und Ergebnisse der qualitativen Kindheits- und Jugendforschung. In: Heinz-Hermann Krüger, dies. (Hg.): Handbuch Kindheits- und Jugendforschung. Wiesbaden, S. 225-248.Heinzel, Friederike (Hg.) (2015): Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive. Weinheim u.a.

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Mündlichkeit versus Schriftlichkeit Aussagen von Kindern zu ihrem Verstehensprozess werden sowohl in der Forschung als auch in der Schule durch zwei Verfahren festgehalten: entweder durch schriftliche oder durch mündliche Äußerungen von Schüler*innen. Je nach Alter bzw. Entwicklungsstand der Kinder reichen jedoch die schriftsprachlichen oder auch mündlichen Fähigkeiten noch nicht aus, um das Verstandene dem Gegenüber angemessen zu kommunizieren. Beide (nicht vorhandenen) Fertigkeiten können sich störend auf die Diagnose des Verstandenen oder Nichtverstandenen – sowohl im Sinne eines ästhetischen Nichtverstehens als auch angesichts eines ausbleibenden Verstehensprozesses – auswirken. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, auch die weiterführenden Fähigkeiten der Kinder genau zu kennen und das Diagnosesetting entsprechend zu gestalten.39

Personeneffekte Auch wirkt das sich fragende Gegenüber auf die getätigten Aussagen der Kinder aus. Bei jungen Rezipient*innen beziehen sich diese Auswirkungen insbesondere auf die Offenheit der Aussagen. Ist das Gegenüber den Kindern beispielsweise durch den Unterricht oder den schulischen Kontext bekannt, antworten sie zumeist offener und tun sich leichter damit, sich auf eine Diagnosesituation einzustellen. Oftmals geht dadurch jedoch auch der Fokus auf den zu behandelnden Gegenstand verloren, da sich Kind und Fragende*r auch über andere bekannte Kontexte unterhalten können. Ist das Gegenüber den Kindern jedoch unbekannt, kann sich auch dies negativ auf die Aussagen auswirken: Kinder können eingeschüchtert, nur verzögert oder auch manchmal gar nicht reagieren.40 Um literarische Verstehens- und Nichtverstehensprozesse und deren Ergebnisse von Kindern näherungsweise erfassen und beschreiben zu können, gilt es, die skizzierten Fallstricke mitzudenken und bei der Analyse des Verstandenen und Nichtverstandenen miteinzubeziehen. Anderenfalls können keine oder nur verzerrte Aussagen über den literarischen Verstehensprozess getroffen werden.

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Vgl. unter anderem: Trautmann, Thomas (2010): Interviews mit Kindern. Grundlagen, Techniken, Besonderheiten, Beispiele. Wiesbaden. Vogel, Susanne (2015): Interviews mit Kindern führen. Eine praxisorientierte Einführung. Weinheim u.a. Vgl. unter anderem Zill, Nicholas (2001): Advantages and Limitations of Using Children and Adolescents as Survey Respondents. In: Marcy L. Cynamon, Richard A. Kulka (Hg.): Seventh Conference on Health Survey Research Methods. Hyattsville, S. 47-50. Grunert (2002): Methoden und Ergebnisse der qualitativen Kindheits- und Jugendforschung. In: Handbuch Kindheits- und Jugendforschung. S. 225-248.

Lisa König: »Dafür sind die noch zu klein!«

II.

Kindliches literarisches Verstehen erfassen. Das BOLIVE-Modell

Eine Möglichkeit, literarische Verstehensprozesse trotz bzw. unter Berücksichtigung der genannten Problemfelder zu diagnostizieren, bietet das BOLIVE-Modell.41 Im BOLIVE-Modell wird der literarische Verstehensprozess von Rezipient*innen unterschiedlicher Altersgruppen als ein ganzheitlicher Prozess der literarischen Auseinandersetzung definiert, der sich durch literarische Lernprozesse an literarischen Gegenständen vollzieht und dabei zur Ausprägung literarischer Bildung und literarischer Kompetenz beiträgt. Im Sinne eines weiten literarischen Textbegriffs42 werden literarische Lernprozesse hierbei an allen narrativen Trägern einbezogen – unabhängig davon, welche mediale Tradierung diese aufweisen. Die Prozesse der literarischen Bildung und literarischen Kompetenz stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander, unterscheiden sich jedoch sowohl in ihrer konkreten Ausgestaltung und strukturellen Beschaffenheit als auch in der Diagnose und Vermittlung. Das von Rezipient*innen Verstandene und Nichtverstandene äußert sich in einer schriftlichen, mündlichen, darstellenden etc. literarischen Performanz (vgl. Abb. 1).

41

42

Vgl. unter anderem: Boelmann, Jan M. (2015): Literarisches Verstehen mit narrativen Computerspielen. München. Ders. (2017): Unproduktive Denkrahmen – zur Schwierigkeit, literarische Kompetenz zu messen. In: Christian Dawidowski, Anna R. Hoffmann (Hg.): Lehrer- und Unterrichtsforschung in der Literaturdidaktik. Konzepte und Projekte. Frankfurt a.M., S. 289310. Klossek, Julia (2015): Diagnose, Modellierung und Förderung literarischer Kompetenz am Beispiel der Teilkompetenz »Charaktere«. Berlin. König (2020): Fiktionswahrnehmung als Grundlage literarischen Verstehens. Boelmann; König (2021): Literarische Kompetenz messen, literarische Bildung fördern. Vgl. Iser (2 1984): Der Akt des Lesens. Genette (1994): Die Erzählung.

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Abbildung 1: Systematisierung literarischen Verstehens im BOLIVE-Modell

Quelle: nach Boelmann; König (2021): Literarische Kompetenz messen, literarische Bildung fördern. S. 11

Im BOLIVE-Modell wird der Bereich der literarischen Bildung im Sinne eines Humboldt’schen Bildungsbegriffs43 weit definiert: Literarische Bildung begrenzt sich dabei nicht nur auf das Wissen um oder von Literatur, sondern umfasst alle Aspekte, die ein Individuum zur Selbstbildung und -entwicklung in Bezug auf und mithilfe von Literatur und ihren vielfältigen Formen benötigt. Um diese Aspekte genauer erfassen zu können, systematisiert das BOLIVE-Modell Aspekte literarischer Bildung in einen primär affektiven und einen primär kognitiven Bereich. Primär affektive literarische Bildungsaspekte beziehen sich auf die emotionale und motivationale Auseinandersetzung mit literarischen Gegenständen. Hierunter fallen beispielsweise die Rezeptionsmotivation, Kreativität, Genussfähigkeit, Imagination oder auch die Auseinandersetzung mit anthropologischen Grundfragen. Primär kognitive Bildungsaspekte werden vor dem Hintergrund ihrer vielfältigen Beschaffenheit nochmals in drei unterschiedliche Domänen des Wissens, des Könnens und

43

Vgl. Humboldt, Wilhelm von (1907): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830-1835]. In: Albert Leitzmann, (Hg.): Wilhelm von Humboldts gesammelte Schriften. Bd. 7, Teil 1. Berlin, S. 106f. (= Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 7. 1. Abteilung). Vgl. auch die Diskussion um die Entstehung und den zeitgeschichtlichen Kontext des Bildungsbegriffs unter anderem in: Oelkers, Jürgen (2003): Wie man Schule entwickelt. Eine bildungspolitische Analyse nach PISA. Weinheim, S. 16f. Lenz, Werner (2005): Bildung im Wandel. Wien, S. 82f.

Lisa König: »Dafür sind die noch zu klein!«

der Bewusstheit ausdifferenziert: In der Domäne des Wissens werden alle deklarativen Aspekte rund um Literatur und ihren Entstehungs- bzw. Produktionskontext gefasst (hierzu zählen unter anderem der Aufbau von Genrewissen oder das Wissen um Epochen, Autor*innen, literarische Formen). Unter der Domäne des Könnens werden alle prozeduralen Fähigkeiten und Fertigkeiten von Rezipient*innen gefasst, die im Umgang mit Literatur angewendet werden müssen (hierzu zählen unter anderem Formen der literarischen Anschlusskommunikation, handlungs- und produktionsorientierte Methoden oder die Herstellung von Zusammenhängen zwischen Text, Entstehungszeit und Autor*in). In der Domäne der Bewusstheit stehen alle metakognitiven Verarbeitungsprozesse der Rezipient*innen im Mittelpunkt, die während der Auseinandersetzung mit Literatur angestoßen werden oder entstehen können (hierzu zählen unter anderem das Überwachen des Rezeptionsprozesses, die Identifikation von Verstehenshindernissen oder das Einlassen auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses). Durch die Integration primär affektiver wie primär kognitiver Bildungsaspekte wird der ganzheitlichen Auseinandersetzung mit Literatur Rechnung getragen, der sich eben nicht nur auf eine rein emotionale oder ausschließlich kognitive Annäherung bezieht, sondern literarästhetische wie analytisch-reflexive Erfahrungsräume gleichermaßen ernst nimmt. Im Rahmen der schulischen Literaturvermittlung gilt es folglich, Bildungsaspekte aus beiden Bereichen zu vermitteln, um eine ganzheitliche Auseinandersetzung mit Literatur zu gewährleisten. Neben den Bereich der literarischen Bildung tritt im BOLIVE-Modell jenerder literarischen Kompetenz. Im Gegensatz zu den Aspekten literarischer Bildung werden im Rahmen des Modells all jene Fähigkeiten im Umgang mit Literatur als literarische Kompetenzen beschrieben, die ein Set an formalen Kriterien erfüllen und damit eine standardisierte Aussage über den Verstehensstand der Rezipient*innen geben können. Diese Kriterien orientieren sich an einem didaktischen Kompetenzbegriff, der literarische Kompetenzen als vierte, querliegende Domäne der kognitiven Bildungsaspekte beschreibt: »Kompetenz wird definiert als komplexes, auf kognitiven Strukturen der Domänen Wissen, Können, Bewusstheit aufbauendes und diese miteinander verbindendes Konstrukt, das in seiner Struktur zugleich operationalisierbar, modellierbar, skaliert messbar und auf andere Gegenstände übertragbar ist.«44 Das BOLIVE-Modell trennt damit strikt Wissensbestände, Fähigkeiten und Fertigkeiten, metakognitive und affektive Vorgänge im Umgang mit Literatur, die zentral für die Auseinandersetzung mit literarischen Gegenständen sind, und diejenigen Fähigkeiten, die konkret gemessen, empirisch erhoben und schulpraktisch diagnostiziert werden können. Hiermit wird es zum einen möglich, die ganzheitliche Auseinandersetzung mit Literatur in den Mittelpunkt zu stellen. Um Rezipi44

Boelmann; König (2021): Literarische Kompetenz messen, literarische Bildung fördern. S. 26.

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ent*innen in ihrem Verstehensprozess jedoch konkret zu unterstützen, ist es zum anderen möglich, zentrale Fähigkeiten, die bei der Anwendung auf alle geschichtenerzählenden Erzeugnisse relevant sind, konkret zu diagnostizieren und mögliche Schritte zur Förderung des literarischen Verstehens abzuleiten. Vor dem Hintergrund des didaktischen Kompetenzbegriffs identifiziert das BOLIVE-Modell sechs zentrale, empirisch abgesicherte literarische Grundkompetenzen,45 die den Umgang von Rezipient*innen mit Literatur erfassen und mit denen ein Bild des vorliegenden Kompetenzstandes skizziert werden kann. In Anlehnung an die Grundannahmen des Narrativen46 bilden sie den Gestaltungskern literarischer Gegenstände ab und sind somit für den literarischen Verstehensprozess von zentraler Bedeutung.

Abbildung 2: Literarische Grundkompetenzen im BOLIVE-Modell

Quelle: nach Boelmann; König (2021): Literarische Kompetenz messen, literarische Bildung fördern. S. 43

45

46

Vgl. Boelmann (2015): Literarisches Verstehen mit narrativen Computerspielen. Klossek (2015): Diagnose, Modellierung und Förderung literarischer Kompetenz am Beispiel der Teilkompetenz »Charaktere«. König (2020): Fiktionswahrnehmung als Grundlage literarischen Verstehens. Boelmann; König (2021): Literarische Kompetenz messen, literarische Bildung fördern. Vgl. unter anderem : Genette, Gérard (1991) : Fiction et diction. Paris, S. 13f. et passim. Martínez, Matías; Scheffel, Michael (6 2005): Einführung in die Erzähltheorie [1999]. München, S. 27f. et passim. Nünning, Ansgar; Nünning, Vera (2010): Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Ansätze, Grundlagen, Modellanalysen. Stuttgart u.a., S. 94f. et passim.

Lisa König: »Dafür sind die noch zu klein!«

Die literarischen Grundkompetenzen beziehen sich – ebenso wie zentrale Kategorien der Rezeptionsästhetik47 – auf drei zentrale Ebenen literarischer Narration: auf den Kern der Erzählung, die Darstellung der Erzählung durch eine Erzählinstanz sowie auf die Bestimmung der Sinnangebote des Werks.48 Der Kern der Erzählung rekurriert dabei auf die Handlungsebene selbst – abgebildet durch das Handlungs- und das Figurenverstehen – sowie auf deren Darstellung durch eine narrative Metaebene – im literarischen Verstehensprozess dargestellt durch das Verstehen von sprachlichen Mitteln sowie der symbolischen und metaphorischen Ausdrucksweise. Hinzu tritt das Verstehen der Erzählinstanz sowie das Vornehmen einer eigenen Sinndeutung, die sich entweder auf die Geschichte an sich oder nur einzelne Gestaltungsstrukturen beziehen kann. Vor dem Hintergrund der Polyvalenz literarischer Gegenstände geht es im Rahmen der Diagnose der literarischen Grundkompetenzen im BOLIVE-Modell jedoch nicht darum, ein ›richtiges‹ Verstehen der Rezipient*innen von einem ›falschen‹ zu differenzieren und Lernenden eine präzise Deutung der einzelnen Gestaltungsstrukturen zu vermitteln. Vielmehr steht die Plausibilität der Aussagen und damit ihre Passung zum literarischen Gegenstand im Mittelpunkt. Um die Verstehensprozesse innerhalb der literarischen Grundkompetenzen abzubilden, werden im BOLIVE-Modell alle Kompetenzen in zwei bzw. drei Niveaustufen ausdifferenziert, die die unterschiedlichen Komplexitäten im Umgang mit narrativen Erzeugnissen abbilden. Jede Niveaustufe bildet dabei einen Orientierungsrahmen hinsichtlich zu erwerbender Verstehensoperationen, die für die Ausprägung der jeweiligen Grundkompetenz zentral sind. Diese orientieren sich an der kognitiven Denkentwicklung von Kindern und Jugendlichen,49 die zunehmend komplexer werdende Operationen voneinander unterscheiden und zueinander ausrichten. Um die Ausprägung innerhalb der jeweiligen Niveaustufe zu erfassen, liegen für jede Niveaustufe empirisch überprüfte Entwicklungsverläufe in Form von Durchdringungsstufen vor,50 die Auskunft darüber geben, wie sich das 47

48 49

50

Vgl. Eco, Umberto (1981): The Role of the Reader: Explorations in the Semiotics of Texts. London. Weinrich, Harald (1971): Literatur für Leser: Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft. Stuttgart. Jauß, Hans Robert (1984): Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a.M. Iser, Wolfgang (1991): Das Fiktive und das Imaginäre. Frankfurt a.M. Vgl. ebd., S. 481ff. Genette (1994): Die Erzählung. S. 12ff. Vgl. Kegan, Robert (1982): Die Entwicklungsstufen des Selbst. Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben. München. Erikson, Erik H. (8 1982): Kindheit und Gesellschaft [1950]. Stuttgart. Piaget, Jean; Inhelder, Bärbel (1986): Die Psychologie des Kindes [1966]. Aus d. Franz. von Lorenz Häfliger. München. Köhnlein, Walter (2012): Sachunterricht und Bildung. Bad Heilbrunn. Kahlert, Joachim (2016): Der Sachunterricht und seine Didaktik. Bad Heilbrunn. Vgl. Boelmann (2015): Literarisches Verstehen mit narrativen Computerspielen. Klossek (2015): Diagnose, Modellierung und Förderung literarischer Kompetenz am Beispiel der Teilkompetenz »Charaktere«. König (2020): Fiktionswahrnehmung als Grundlage literarischen

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Verstehen innerhalb des Kompetenzniveaus entwickelt, welche Fähigkeiten bislang vorliegen und welche es im Folgenden im Sinne einer Heuristik der nächsten Stufe noch zu erwerben gilt (vgl. Abb. 3).

Abbildung 3: Niveau- und Durchdringungsstufen zu den Grundkompetenzen; hier Niveaustufen des primarstufenspezifischen Handlungsverstehens und Durchdringungsstufen der Niveaustufe I

Verstehens. Boelmann; König (2021): Literarische Kompetenz messen, literarische Bildung fördern.

Lisa König: »Dafür sind die noch zu klein!«

Um den literarischen Verstehensprozess von Rezipient*innen unterschiedlicher Altersgruppen zu erfassen, wurden im Rahmen des BOLIVE-Modells sowohl sekundar- wie primarstufenspezifische Niveau- und Durchdringungsstufen entwickelt und empirisch erprobt. Damit wird eine dem Verstehensstand angemessene Diagnose ermöglicht. Die Sekundar- und Primarstufenformen unterscheiden sich dabei weniger strukturell als hinsichtlich des Detailgrades der Abbildung des literarischen Kompetenzstandes: Primarstufenschüler*innen äußern ihr Verstehen vor dem Hintergrund noch wenig ausgeprägter Rezeptionserfahrungen zumeist unvergebunden oder unstrukturiert im Rahmen von Mikroäußerungen wie: »Die da!«, oder: »Das!«; mit zunehmender Erfahrung und mit einem sich aufbauenden Verstehensprozess werden diese Äußerungen in weiterführende Wahrnehmungen eingebunden. Da jedoch bereits derartige Kleinstäußerungen auf das Verstehen der Lernenden hindeuten, gilt es, diese angesichts des Entwicklungs- und Erfahrungsstandes der Rezipient*innen frühzeitig mit zu erfassen, um den Verstehensstand näherungsweise zu bestimmen. Im Folgenden soll anhand von Interviewbeispielen gezeigt werden, wie die konkrete Diagnose des literarischen Verstehensprozesses durch die Zuordnung von Aussagen zu Durchdringungsstufen vonstattengehen kann. Exemplarisch wird die Diagnose des kindlichen Handlungsverstehens dargestellt.

III. Diagnose konkret. Verstehensprozesse diagnostizieren Jella und Felix gehen beide in die dritte Klasse einer ländlich gelegenen Schule des Stuttgarter Umlands. Beide sind acht Jahre alt und wurden im Rahmen des Forschungsprojekts »Fiktionswahrnehmung als Grundlage literarischen Verstehens«51 zu ihren literarischen Verstehensprozessen bezüglich der literarischen Grundkompetenzen der Handlungs- und Metaebene befragt. Die Erhebung wurde in Form von Leitfadeninterviews (N=120) durch den Kindern unbekannte Versuchsleiter*innen vorgenommen. Beide Lernende zeigten sich offen gegenüber ihren Interviewpartner*innen und unterhielten sich über 20 Minuten mit ihnen. Zuvor wurde den Kindern in Kleingruppen das Bilderbuch Prima Monster. Oder: Schafe zählen ist doof 52 vorgelesen: Das Bilderbuch handelt von Mia und ihrem Vater, der abends versucht, Mia ins Bett zu bringen. Diese ist jedoch noch gar nicht müde, woraufhin ihr Vater vorschlägt, gemeinsam mit dem Plüschschaf Mortimer Schäfchen zu zählen. Das ist Mia aber zu langweilig; sie will lieber Monster zählen. Mit einem Zählprozess beginnend beschreibt ihr Vater das erste Monster, das den Namen Prima trägt und 51 52

Vgl. König (2020): Fiktionswahrnehmung als Grundlage literarischen Verstehens. Heitz, Markus; Tourlonias, Joëlle (2012) : Prima Monster! Oder: Schafe zählen ist doof! Köln.

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in einer Monsterstadt wohnt. Die Geschichte wechselt auf eine intradiegetische Erzählebene, sodass Mia nun fortan gemeinsam mit Prima die Welt erkundet, bevor sie friedlich einschläft. Sie freut sich bereits auf den morgigen Tag, da ihr Vater dann abends vom zweiten Monster berichten wird. Durch die Präsentation der Geschichte in Vorleserunden, in denen die Kinder zuerst den Text und anschließend das Bild der jeweiligen Bilderbuchseite gezeigt bekamen, wurde eine mögliche Störvariable hinsichtlich der Lesekompetenz der Schüler*innen ausgeschlossen. Die Diagnose der literarischen Grundkompetenzen durch ein Interviewformat vermied, dass eventuell vorhandene literarische Verstehensprozesse durch gering ausgeprägte schriftsprachliche Fähigkeiten verzerrt wurden.53 Um das Handlungsverstehen der Kinder zu erfassen, wurden im Rahmen der Leitfadeninterviews drei Fragen gestellt, die sich an den Niveaustufen der literarischen Grundkompetenz Handlungsverstehen des BOLIVE-Modells orientierten:

Fragen zur Erfassung des Handlungsverstehen nach Niveaustufen (N; kindgerechte Formulierungen) N I – Handlungsidentifikation: Was ist in der Geschichte denn passiert? N II – Handlungsanalyse: Wie kam es, dass Mia am Ende der Geschichte doch noch eingeschlafen ist? N III – Handlungsabstraktion und -reflexion: Was denkst Du, was wird am nächsten Abend passieren?

Die Analyse der Antworten von Jella und Felix zeigt zum einen, wie ihre vorliegenden Verstehensprozesse diagnostiziert werden können, zum anderen aber auch, inwiefern sich die Kompetenzstände der beiden Achtjährigen unterscheiden. In Bezug auf die erste Frage der Handlungsidentifikation fällt auf, dass Jella bereits in der Lage ist, nicht nur die zentralen Handlungselemente der Geschichte zu identifizieren, sondern diese auch miteinander zu verbinden, sodass eine textferne Nacherzählung der Handlung entsteht:

53

Vgl. König (2020): Fiktionswahrnehmung als Grundlage literarischen Verstehens. S. 188ff.

Lisa König: »Dafür sind die noch zu klein!«

Tabelle 1: Jella gelingt im Rahmen der Handlungsidentifikation (Niveaustufe I) bereits eine textferne Nacherzählung Aussagen der Schüler*innen (S) auf die Fragen der Versuchsleiter*innen (V) V

08

Erzähl mir doch mal, was in der Geschichte so passiert.

S

09

Also in da war so ein Mädchen und das hat halt Monster gemalt und dann musste das einschlafen und das konnte gar nicht einschlafen und dann ist der Papa gekommen und hat gesagt, dass es schlafen soll und (1.0) dann hat das Mädchen gesagt, es kann noch nicht schlafen, und dann hat der Papa gesagt, ähm, ob sie mit dem Kuscheltierschaf ein (0.5) also Schafe zählen soll und dann hat die gesagt nein, sie mag aber Monster zählen, und dann hat der gesagt ok, und dann Monster eins und dann wollte die wissen, wie das Monster aussieht und was das so macht, und dann hat er das alles erzählt.

V

17

Genau! (0.2) Und wie ging es dann weiter?

S

18

(1.0) dann hat der Papa noch alles erzählt über das Monster, was das so macht und dass das auch Freunde hat.

V

20

Genau.

S

21

Und (2.0) dann hat die ist die ganz müde geworden und dann hat die gesagt, morgen geht’s weiter mit Monster zwei.

Jella erzählt vom Beginn der Geschichte und den Zeichnungen von Mia und nennt im Anschluss zentrale Stationen, die innerhalb der Erzählung eine Rolle spielen. Insbesondere der Beginn wird detailliert zusammengefasst, dabei jedoch in eigene Worte gekleidet. Hierdurch löst sich Jella von der konkreten Textebene und abstrahiert die vorgelesene Geschichte mit Blick auf das, was sie bereits verstanden hat. Den zweiten Teil der Geschichte fasst sie jedoch nur kurz zusammen, wichtige Szenen aus der Geschichte, die zur narrativen Struktur beitragen, fehlen (Durchdringungsstufe 5 im BOLIVE-Modell). In einem nächsten Schritt wäre es daher nötig, dass Jella ihre Fähigkeiten auf die ganze Geschichte überträgt und damit eine vollständige, textferne Nacherzählung der Geschichte entwickelt (Durchdringungsstufe 6 im BOLIVE-Modell). Felix’ Antwort unterscheidet sich dabei hinsichtlich des Abstraktionsgrades deutlich von der Jellas:

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(Nicht-)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen

Tabelle 2: Felix orientiert sich bei der Handlungsidentifikation (Niveaustufe I) noch sehr am Text Aussagen der Schüler*innen (S) auf die Fragen der Versuchsleiter*innen (V) V

09

Ok, dann erzähl mir doch mal kurz, was denn in der Geschichte passiert.

S

10

Also die (1.0) das Mädchen wollte am Abend nicht schlafen und dann kam der Papa rein und hat gefragt, ob du müde bist, dann hat sie gesagt nein, dann hat der Papa gefragt, ob wir Schafe zählen sollen, dann hat sie gesagt (0.2), wir sollen lieber Trolle zählen, und dann hat der Papa aber angefangen mit dem ersten Troll, dann hat sie (0.2) dann hat sie gefragt, wie soll der Troll denn heißen (0.2) und dann ist sie irgendwann eingeschlafen und dann hat sie das geträumt, dass sie mit so einem Troll in eine Geisterstadt gegangen ist, und dann ist die glaub ich bei dem Troll im Bett geschlafen und geträumt (0.2) und dann war daneben da der Papa und (1.0) mehr weiß ich nicht mehr.

Felix orientiert sich bei seiner Antwort noch überwiegend am Text, reiht die Ereignisse aneinander, ohne diese miteinander zu verknüpfen. Auch er schafft es dabei noch nicht, seine Wahrnehmungen auf das Textganze zu beziehen, sodass ihm zwar eine textnahe Nacherzählung gelingt, diese jedoch – ähnlich wie bei Jella – noch nicht vollständig ist (Durchdringungsstufe 3 im BOLIVE-Modell). Um Felix in seinem Verstehensprozess zu fördern, wäre es wichtig, zum einen die textnahe Nacherzählung auf die ganze Geschichte auszuweiten (Durchdringungsstufe 4 im BOLIVE-Modell) und zum anderen eine Ablösung von wörtlichen Formulierungen hin zu eigenen Zusammenfassungen anzuregen (Durchdringungsstufe 5 im BOLIVE-Modell). Auch die Antworten zu der Frage zur Handlungsanalyse machen die Unterschiede im Kompetenzstand von Jella und Felix deutlich: Beide Kinder wurden hierbei angehalten, ihre Vermutungen zu äußern, weshalb Mia am Ende der Geschichte eingeschlafen ist. Beiden Kindern gelingen eine Formulierung und eine kurze Begründung ihrer Hypothesen. Die Art und Weise der Begründung gibt jedoch Aufschluss über den literarischen Verstehensprozess der Kinder:

Lisa König: »Dafür sind die noch zu klein!«

Tabelle 3: Jella stellt im Rahmen der Handlungsanalyse (Niveaustufe II) einen Bezug zu ersten kausalen Zusammenhängen her Aussagen der Schüler*innen (S) auf die Fragen der Versuchsleiter*innen (V) V

62

Wie kam denn dazu, dass Mia am Ende der Geschichte doch noch eingeschlafen ist.

S

64

Also der Papa, der hat halt erzählt und dann ist sie ganz müde geworden und dann hat sie auch einmal ganz laut gegähnt und dann, als sie schon die Augen zu hatte, dann hat der Papa ihr noch so ein Lied vorgesungen. Also so gebrummt. Und dann hat sie geschlafen.

Tabelle 4: Felix gelingt es bei der Handlungsanalyse (Niveaustufe II), einfache Zusammenhänge zu benennen Aussagen der Schüler*innen (S) auf die Fragen der Versuchsleiter*innen (V) V

45

Ok. Mhm. (2.0) ähm (0.2) erinnerst du dich noch an das Ende der Geschichte? Wie kam es denn dazu, dass die Mia eingeschlafen ist?

S

47

(1.0) Mh (2.0) weil sie wahrscheinlich dann, mh (1.5) weil der Papa dann die Trolle gezählt hat und dann hat sie das geträumt.

Jella benennt im Rahmen ihrer Aussage verschiedene Stationen der Geschichte, die dazu beigetragen haben, dass Mia am Ende der Geschichte eingeschlafen ist. Hierbei bringt sie die Erzählung des Vaters mit der zunehmenden Müdigkeit Mias in Verbindung und führt konkret an, dass Mias Vater ihr »dann, als sie schon die Augen zu hatte«, ein Lied vorgesungen bzw. so gebrummt habe wie Prima. Anschließend sei Mia eingeschlafen. In dieser Antwort gelingt es Jella bereits, kausale Zusammenhänge der Handlung zu benennen, narrativ-linear plausibel darzustellen – etwa durch den Zusammenhang von Müdigkeit und Erzählen – und dabei durch das Anführen der Gähnszene eine konkrete Schlüsselstelle der Geschichte zu benennen, die ihrer Meinung nach exemplarisch für ihre Argumentation steht (Durchdringungsstufe 4 im BOLIVE-Modell). Diese noch näher zu begründen, also wieso diese Szene als Schlüsselsequenz für ihre Argumentation gilt, wäre Teil des folgenden Lernprozesses (Durchdringungsstufe 5 im BOLIVE-Modell). Felix vermutet stattdessen, dass Mia eingeschlafen ist, da ihr Papa von den Monstern erzählt habe und sie dann anfing, zu träumen. Felix bindet seine Aussage dabei nicht konkret an die Geschichte an, auch liegt kein konkreter Zusammenhang vor, den er benennt. Dennoch handelt es sich um zwei Elemente der Geschichte, die zu weiterführenden kausalen Zusammenhängen der Geschichte

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gehören (Durchdringungsstufe 1 im BOLIVE-Modell). Den Bezug zwischen kausal zusammenhängenden Elementen herzustellen, wäre daher Teil von Felix’ anschließender Förderung seines literarischen Verstehensprozesses. Ähnliche Strukturen finden sich auch innerhalb der Aussagen der Kinder bezüglich der Handlungsabstraktion und -reflexion. Hierbei sollten Jella und Felix dazu Stellung nehmen, was am nächsten Abend in der Geschichte passieren könnte. Verlangt wurde demnach die Abstraktion des bisherigen Handlungsverlaufs und das Weiterführen und -denken der Handlungsstruktur vor dem Hintergrund der aus der Geschichte bekannten Strukturen: Tabelle 5: Jella führt im Rahmen der Handlungsabstraktion und -reflexion (Niveaustufe III) eine konkrete Schlüsselstelle an Aussagen der Schüler*innen (S) auf die Fragen der Versuchsleiter*innen (V) V

67

Mhm genau. Was glaubst du denn, was wird am nächsten Abend passieren?

S

68

Dass das Monster zwei kommt und sie dann auch wieder einschläft.

V

69

Warum denkst du, wird das passieren?

S

70

Weil die das in der Geschichte am Ende noch gesagt hat.

V

71

Erinnerst du dich da noch dran? Boah, sehr gut.

S

72

Ja, dass morgen das Monster zwei kommt.

Tabelle 6: Felix stellt bezüglich der Handlungsabstraktion und -reflexion (Niveaustufe III) einen ersten, generalisierenden Textbezug her Aussagen der Schüler*innen (S) auf die Fragen der Versuchsleiter*innen (V) V

49

Ja. Was glaubst du denn, wird am nächsten Abend passieren? Mit Mia und dem Papa?

S

51

Mh (3.0) kann man gar nicht sagen.

V

52

(lacht) Spekulier mal.

S

53

Mh (4.0) vielleicht dass (1.0) dass sie dann zu einem anderen Troll ins Haus gehen und dann, dass Mia wieder das träumt, dass sie dann zu einem anderen Troll nach Hause geht?

Beide Kinder äußern nach der Frage eine kurze Vermutung, auf Nachfrage können sie eine Begründung anführen. Jella vermutet dabei zunächst, dass »Monster zwei kommt« und Mia anschließend wieder einschlafen würde. Als Begründung

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führt sie das Ende des Bilderbuchs als konkrete Schlüsselstelle an (Durchdringungsstufe 3 im BOLIVE-Modell). Auf den erstaunten Ausdruck der bzw. des Interviewenden bekräftigt sie sogar nochmal ihre Aussage. Auf die Handlungsstruktur in Gänze bezieht sich Jella jedoch noch nicht, weshalb hier ein Ansatzpunkt für die Weiterentwicklung ihres Kompetenzstandes besteht (Durchdringungsstufe 4 im BOLIVE-Modell). Felix stellt im Gegensatz zu Jella ausschließlich einen generellen Textbezug her, in dem er zwar auf eine ähnliche Antwort kommt wie sie, diese jedoch noch nicht sicher begründen oder an eine konkrete Textstelle anbinden kann (Durchdringungsstufe 2 im BOLIVE-Modell). Eine solche zu finden und die eigene Vermutung textgebunden zu bestärken, stellt daher Felix’ Lernfeld in Bezug auf die Niveaustufe der Handlungsabstraktion und -reflexion dar.

IV.

Fazit

Sowohl die skizzierten Kompetenzstände von Jella und Felix als auch das theoretische Konstrukt literarischer Verstehensprozesse im Rahmen des BOLIVE-Modells verdeutlichen: Literarische Verstehensprozesse zu modellieren, zu diagnostizieren und zu fördern ist auch bereits in der Grundschule möglich und zwingend notwendig. Primarstufenlernende kommen durch literarische Erfahrungsräume unweigerlich bereits früh in Kontakt mit Narrationen und setzen sich mit diesen auseinander; literarische Bildung wird aufgebaut, literarische Kompetenzen werden erworben. Dabei unterscheiden sich Primarstufenlernende jedoch ebenso wie weiter fortgeschrittenen Schüler*innen der Sekundarstufe in ihren Ausprägungen literarischen Verstehens. Im Sinne einer kindorientierten Literaturdidaktik gilt es daher, die vorliegenden Verstehensstände zu erheben, um Kinder anschließend in ihrer individuellen Auseinandersetzung mit Literatur zu unterstützen und mögliche Entwicklungsschritte aufzuzeigen. In der Vergangenheit wurden dabei oftmals Konzepte des literarischen Verstehens und ästhetisch orientierten literarischen Nichtverstehens gegeneinander ausgespielt bzw. auf die Diagnose des einen verzichtet oder die ästhetische Wirkmächtigkeit des anderen geleugnet. Für eine ganzheitliche Auseinandersetzung mit Literatur im Rahmen der schulischen Literaturvermittlung gilt es jedoch, beide Konzepte verschränkt miteinander zu denken. Literarische Verstehensprozesse gilt es, fundiert zu diagnostizieren; Erfahrungsräume literarischen Nichtverstehens gilt es zu eröffnen und gemeinsam mit Lernenden zu thematisieren. So kann eine ganzheitliche Auseinandersetzung mit Literatur im Sinne einer Überwindung des Nichtverstandenen erfolgen. Anderenfalls zielt die schulische Literaturvermittlung sowohl an ihrem polyvalenten Gegenstand als auch an den Voraussetzungen ihrer Schüler*innen vorbei.

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Lisa König: »Dafür sind die noch zu klein!«

Herausforderung für den Literaturunterricht. Theoretische Perspektiven der Literaturdidaktik. Frankfurt a.M., S. 185-205. Maiwald, Klaus (2015): Literarisches Lernen als didaktischer Integrationsbegriff – Spinners »Elf Aspekte« als Struktur- und Denkrahmen für weiterführende Modellierung(en). In: Leseräume, Jg. 2, H. 2, S. 85-95. Martínez, Matías; Scheffel, Michael (6 2005): Einführung in die Erzähltheorie [1999]. München. Mikota, Jana; Oehme, Viola (2013): Literarisches Lernen mit Kinderliteratur. Siegen. Mitterer, Nicola; Wintersteiner, Werner (2015): Literarische Erfahrung. Ästhetischer Modus und literarisches Lernen. In: Leseräume, Jg. 2, H. 2, S. 96-108. Nünning, Ansgar; Nünning, Vera (2010): Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Ansätze, Grundlagen, Modellanalysen. Stuttgart u.a. Odendahl, Johannes (2018): Literarisches Verstehen. Grundlagen und didaktische Perspektiven. Berlin. Oelkers, Jürgen (2003): Wie man Schule entwickelt. Eine bildungspolitische Analyse nach PISA. Weinheim. Piaget, Jean; Inhelder, Bärbel (1986): Die Psychologie des Kindes [1966]. Aus dem Franz. von Lorenz Häfliger. München. Pieper, Irene; Wieser, Dorothee (Hg.) (2012): Fachliches Wissen und literarisches Verstehen. Studien zu einer brisanten Relation. Frankfurt a.M. Pompe, Anja (2016): Literarisches Lernen im Anfangsunterricht. Theoretische Reflexionen, empirische Befunde, unterrichtspraktische Entwürfe. Baltmannsweiler. Riekmann, Carola; Gahn, Jessica (2013): Poesie verstehen – Literatur unterrichten. Baltmannsweiler. Ritter, Michael (2019): Literarisches Lernen in der Grundschule. Zwei empirische Studien im Vergleich. In: Didaktik Deutsch, Jg. 24, H. 46, S. 128-132. Roberg, Thomas; Susteck, Sebastian; Müller-Michaels, Harro (Hg.) (2010): Geschichte des Deutschunterrichts von 1945 bis 1989 (Teil 2): Deutschunterricht im Widerstreit der Systeme. Frankfurt a.M. Rösch, Heidi (Hg.) (2013): Literarische Bildung im Kompetenzorientierten Deutschunterricht. Freiburg i.Br. Schilcher, Anita; Pissarek, Markus (Hg.) (2013): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. Ein Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage. Baltmannsweiler. Schnell, Rainer (2013): Survey-Interviews. Methoden standardisierter Befragung. Wiesbaden. Schulze-Bergmann, Joachim (2015): Werte im Literaturunterricht. Entwicklungspsychologische Grundlagen, professionelles Lehrverhalten, methodische Schritte zur Arbeit in heterogenen Gruppen. Frankfurt a.M.

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Lisa König: »Dafür sind die noch zu klein!«

Anhang Durchdringungsstufenverläufe der literarischen Grundkompetenz Handlungsverstehen (vgl. Boelmann; König (2021). Literarische Kompetenz messen, literarische Bildung fördern. S. 98ff.)

Abbildung 4: Durchdringungsstufe der Niveaustufe I – Handlungsidentifikation

Abbildung 5: Durchdringungsstufe der Niveaustufe II – Analyse der Handlungslogik und -struktur

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Abbildung 6: Durchdringungsstufe der Niveaustufe III – Handlungsabstraktion und -reflexion

Literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen durch Lernaufgaben fördern? Verstehensunterstützung in der literaturdidaktischen Aufgabenorientierung und -forschung Jochen Heins Abstract Der Beitrag geht von der Unterscheidung eines (1) grundlegenden eindeutigen Verstehens und eines eindeutigen Missverstehens sowie (2) der Auffächerung von Verstehensmöglichkeiten und dem Anerkennen von Nichtverstehen aus. Anhand von Aufgaben zur Kurzgeschichte Narinders Maus von Sally Nicholls wird skizziert, inwiefern diese sowohl (1) ein grundlegendes Verstehen unterstützen bzw. ein Missverstehen verhindern als auch (2) dazu anregen können, die Mehrdeutigkeit, Offenheit und Unbestimmtheit eines literarischen Textes (überhaupt) wahrzunehmen und für das Verstehen fruchtbar zu machen. Dabei wird auf einige Erkenntnisse der literaturdidaktischen Aufgabenforschung zur Verstehensunterstützung Bezug genommen. Plädiert wird dafür, in Erwerbsprozessen die Verstehensunterstützung zu stärken.

I.

Einleitung

Die Kritik an kompetenzorientierten Lern- und Aufgabenarrangements wird immer wieder gemeinsam mit der Position vertreten, dass eine gezielte Steuerung von Verstehens- und Interpretationsprozessen »(a) die Offenheit der literarischen Gegenstände, (b) die Möglichkeit subjektiver Zugänge, (c) die Motivation zum Umgang mit literarischen Texten und (d) die Fähigkeit zur selbstständigen Texterschließung«1 einschränkt. Übersehen wird dabei, dass selbst gesteuertes Verstehen die Gefahr von Überforderung birgt, die zu einer Reduktion der Komplexität von Verstehensherausforderungen und Verstehenspotentialen im Lern- und Ver-

1

Steinmetz, Michael (2020): Verstehenssupport im Literaturunterricht. Theoretische und empirische Fundierung einer literaturdidaktischen Aufgabenorientierung. Wiesbaden, S. 47.

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stehensprozess der Schüler:innen führen kann.2 Deutungsmöglichkeiten, subjektive Zugänge und Motivation zur selbstständigen Texterschließung können sich dann kaum entwickeln. Der empirisch fundierten Annahme, dass literarische Leseprozesse im Erwerbskontext Steuerung und Stützung benötigen, lässt sich kaum mehr ernsthaft widersprechen.3 Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass bestimmte Kompetenzen literarischen Verstehens erforderlich sind, wenn Ziele einer »Erziehung durch Literatur«4 – beispielsweise personale und soziale Entwicklung, das heißt Identitätsfindung und Fremdverstehen oder die Aneignung von Weltwissen im Sinne einer »Auseinandersetzung mit anthropologischen Grundfragen«5 – ermöglicht werden sollen. Die Entwicklung der Kompetenzen literarischen Verstehens darf nicht dem Zufall überlassen werden, weshalb deren gezielte Förderung durch Lernaufgaben für ein literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen hier thematisiert werden soll. Drei leitende Thesen sollen dem Beitrag vorangestellt werden, die anschließend in drei Schritten aufgenommen und auf das Thema des Beitrages hin perspektiviert werden. 1

»Das Gegenteil von ›Kompetenz‹ lautet nicht ›Bildung‹, sondern ›Inkompetenz‹.«6 Zu unterscheiden sind zwei miteinander verbundene Zielgrößen: erstens ein grundlegendes eindeutiges Verstehen entwickeln und ein eindeutiges Missverstehen vermeiden sowie zweitens die Auffächerung von Verstehensmöglichkeiten und das Anerkennen von Nichtverstehen infolge der literarischen Textbedingungen von Mehrdeutigkeit, Offenheit und Unbestimmtheit.7

2

Vgl. Köster, Juliane (2 2008): Evaluation von Kompetenzen im Deutschunterricht – neues Etikett oder Bildungspolitische Wende? In: Heidi Rösch (Hg.): Kompetenzen im Deutschunterricht. Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Mediendidaktik. Frankfurt a.M. u.a., S. 179f. Vgl. Pieper, Irene (2016): Wissen im Zwischenraum: Zur Spezifik der Frage nach verstehensrelevantem Wissen im literaturdidaktischen Reflexionsraum. In: Thomas Möbius, Michael Steinmetz (Hg.): Wissen und literarisches Lernen. Grundlegende theoretische und didaktische Aspekte. Frankfurt a.M., S. 146. Fritzsche, Joachim (1994): Zur Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts. Umgang mit Literatur. Bd. 3. Stuttgart, S. 98. Spinner, Kaspar H. (2001): Zielsetzungen des Literaturunterrichts. In: Ders. (Hg.): Kreativer Deutschunterricht. Identität – Imagination – Kognition. Seelze, S. 172. Zabka, Thomas (2011): Wir bilden auch Humankapital. Gegen einige bildungskritische Vereinfachungen. In: Didaktik Deutsch, Jg. 17, H. 31, S. 28. Vgl. ders. (2016): Literarästhetisches Verstehen: Kompetenzen, textseitige Anforderungen und Lernaufgaben am Beispiel der Erzählung Indigo. In: Andrea Bertschi-Kaufmann, Tanja Graber (Hg.): Lesekompetenz – Leseleistung – Leseförderung. Grundlagen, Modelle und Materialien. Zug u.a., S. 154.

3

4 5 6 7

Jochen Heins: Literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen 2

3

II.

»Keineswegs verlangt die OECD […], dass der L1-Unterricht nur noch die Lesekompetenz schulen soll […]. Solche kurzschlüssigen Eingriffe werden höchstens von Institutionen und Personen verordnet und durchgeführt, die das Programm des Bildungsmonitorings […] missverstanden haben.«8 Lernaufgaben im kompetenzorientierten Literaturunterricht können einerseits den Aufbau der basalen Rezeptionskompetenzen zur Entwicklung eines grundlegenden Textweltmodells fördern und andererseits können sie dazu anregen, die Mehrdeutigkeit, Offenheit und Unbestimmtheit eines Textes (überhaupt) wahrzunehmen und mit den spezifischen Textbedingungen literarischer Texte produktiv für das Verstehen bzw. Nichtverstehen umzugehen. »Es ist unmittelbar einsichtig, dass Lernende, die beginnen, Literatur als ästhetisch gestaltete Rede wahrzunehmen, bei der Texterschließung ein hohes Maß an Unterstützung benötigen.«9 Für beide Zielgrößen spielt die Lernunterstützung durch Aufgaben eine zentrale Rolle.

Die Unterscheidung von zwei miteinander verbundenen Zieldimensionen

»Das Gegenteil von ›Kompetenz‹ lautet nicht ›Bildung‹, sondern ›Inkompetenz‹.«10 Beim Nachdenken über den bildenden Wert von Literatur erscheint es wichtig, zu fragen, wann Nichtverstehen Folge eines kompetenten bzw. eines literarisch versierten Umgangs mit literarischen Texten ist und bildendes Potential besitzt. Denn nicht jedes Nichtverstehen ist bildend. Darum sollen zwei miteinander verbundene Zieldimensionen unterschieden werden: 1 2

ein grundlegendes eindeutiges Verstehen entwickeln und ein eindeutiges Missverstehen vermeiden und Verstehensmöglichkeiten auffächern und Anerkennen von Nichtverstehen als Folge der literarischen Textbedingungen von Mehrdeutigkeit, Offenheit und Unbestimmtheit.

Entgegen immer wieder vorgebrachten und auf der normativen Setzung basierenden Positionen, »Kunst sei generell vieldeutig«,11 weshalb generell kein eindeutiges

8 9 10 11

Zabka (2011): Wir bilden auch Humankapital. In: Didaktik Deutsch. S. 28. Steinmetz (2020): Verstehenssupport im Literaturunterricht. S. 4. Zabka (2011): Wir bilden auch Humankapital. In: Didaktik Deutsch. S. 28. Ders. (2012): Didaktische Analyse literarischer Texte. Theoretische Überlegungen zu einer Lehrerkompetenz. In: Clemens Kammler, Daniela Anna Frickel, Gerhard Rupp (Hg.): Litera-

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Verstehen möglich, sondern mit gleicher Legitimation alles auch auf andere Weise zu verstehen sei, wird in diesem Beitrag angenommen, dass es auch beim Verstehen literarischer Texte ein grundlegendes und eindeutiges Verstehen gibt.12 Und entsprechend gibt es auch ein eindeutiges Missverstehen. Darüber hinaus gibt es jene Zusammenhänge in literarischen Texten, für die kein eindeutiges Verstehen möglich ist. Diese Zusammenhänge müssen erkannt werden und bei diesen Zusammenhängen – aber eben nur bei diesen – zeichnet sich ein gegenstandsangemessenes Verstehen durch die Entwicklung von Verstehensmöglichkeiten und das Anerkennen von literarischem Nichtverstehen aus. Diese Unterscheidung von zwei miteinander verbundenen Zieldimensionen geht einher mit der Annahme, dass es mit kognitionswissenschaftlichen Beschreibungen von Prozessen des Textverstehens möglich ist, auch die Kategorien eines ästhetischen Verstehens auszudrücken.13 Thomas Zabka, ein prominenter Vertreter dieser Position, hat bereits 2006 den Versuch unternommen, den Teilkompetenzen der kognitiven Textverarbeitung, die der PISA-Studie zugrundliegen, jene spezifischen literarischen Ausprägungen zuzuordnen, die in der PISA-Studie nicht berücksichtigt wurden.14 Deutlich wird in den Beschreibungen der spezifisch literarischen Ausprägungen, dass sie auf ein erstes grundlegendes Verstehen aufbauen:15 •



12

13 14

15

Die spezifisch literarische Ausprägung der Teilkompetenz Informationsverknüpfung besteht darin, auch nach der ersten Bestimmung eines Sinnzusammenhangs die Suche nach weiteren möglichen semantischen Relationen fortzusetzen. Die spezifische Ausprägung der Teilkompetenz Inferenzbildung besteht darin, über das grundlegend nötige Verstehen einer Textstelle hinausgehende Annahmen beispielsweise zur Psyche der Figuren oder über die literarische Welt zu

turdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. Perspektiven und Probleme. Freiburg i.Br., S. 148. Vgl. ähnlich auch: Ders. ([geplant für] 2022): Das Problem der Thesenbildung in Leitfäden zur Literaturinterpretation. Kritische Analyse von Lehrwerken für die Sekundarstufe II am Beispiel der Gedichtinterpretation. In: Jochen Heins, Katrin Kleinschmidt-Schicke, Dorothee Wieser u.a. (Hg.): Üben. Theoretische und empirische Perspektive in der Deutschdidaktik [Arbeitstitel]. Bochum. Vgl. Zabka (2012): Didaktische Analyse literarischer Texte. In: Literaturdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. S. 144. Vgl. ders. (2006): Typische Operationen literarischen Verstehens. Zu Martin Luther Vom Raben und Fuchs (5./6. Schuljahr). In: Clemens Kammler (Hg.): Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. Modelle für die Primar- und Sekundarstufe. Seelze, S. 82. Vgl. für die folgende Aufzählung: ebd., S. 82f.

Jochen Heins: Literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen





bilden. Die Textbedingung der systematischen Unbestimmtheit, die vielen literarischen Texten eigen ist, eröffnet hierzu Räume des Verstehens. Spezifisch für das literarische Verstehen ist ferner die Erwartung und Bewältigung systematischer Indirektheit. Bei nicht literarischen Texten bildet Indirektheit eher eine Ausnahme oder muss als rhetorisches Mittel in Direktheit überführt werden. Bei literarischen Texten hingegen stellt Indirektheit ein typisches Phänomen dar, das nicht aufgelöst werden kann und zur Reflexion und Beurteilung des gesamten Textes anregt. Während beim Verstehen pragmatischer Texte konkurrierende Informationen in der Regel eindeutig aufgelöst werden können, gilt es beim Verstehen literarischer Texte, systematische Mehrdeutigkeit zu erwarten und kognitiv zu bewältigen, indem eine Pluralität an Verstehensmöglichkeiten eröffnet wird. Während es beim Verstehen pragmatischer Texte um die Entwicklung einer mentalen Repräsentation der Textinformationen geht, müssen beim spezifisch literarischen Verstehen mehrere mentale Modelle entwickelt werden, die miteinander koordiniert werden, um Mehrdeutigkeit erkennbar zu machen. Auch die Ebene der Textoberfläche wie Satzkonstruktion, Wortwahl, Metrum, Klang etc. werden mental repräsentiert und zu den Textweltmodellen in Beziehung gesetzt.16

Vor diesem Hintergrund fasst Zabka zusammen: »Eine spezifische Kompetenz literarischen Verstehens ist die Fähigkeit, plausible Interpretationen zu bilden unter den Text-Bedingungen extremer Verknüpfungsdichte, systematischer Unbestimmtheit, Indirektheit und Mehrdeutigkeit.«17 Die empirisch gestützte Annahme in diesem Beitrag ist es, dass das Erkennen derjenigen Zusammenhänge, die uneindeutig oder interpretationsbedürftig sind und die auf den literarischen Textbedingungen der Offenheit, Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit basieren, nur auf dem Nachvollzug grundlegender und eindeutiger Verstehenszusammenhänge erfolgen kann. Unter anderem mit Referenz auf Ergebnisse der empirischen Aufgabenforschung, auf die an späterer Stelle noch eingegangen wird, weist Wieser entsprechend darauf hin, dass die Sicherung inhaltlicher Zusammenhänge im Erwerbskontext stärker zu berücksichtigen sei.18 Nichtverstehen wird in diesem Beitrag als ein Verstehen gefasst, das aufbauend auf einem eindeutigen und unstrittigen Kernbestand des Verstehens erkennt und

16 17 18

Vgl. ders. (2012): Didaktische Analyse literarischer Texte. In: Literaturdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. S. 144. Ders. (2006): Typische Operationen literarischen Verstehens. In: Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. S. 83. Vgl. Wieser, Dorothee (2017): PISA und Lehrerbildung? – eine literaturdidaktische Sichtung. In: leseforum.ch 3/2017, S. 7. URL: https://www.leseforum.ch/sysModules/obxLeseforum/Art ikel/615/2017_3_Wieser.pdf [Stand: 01.01.2022].

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anerkennt, dass es Zusammenhänge im Text gibt, die nicht abschließend zu verstehen sind. Nichtverstehen stellt mithin eine Ausprägung literarischen Verstehens dar, in der Unbestimmtheit, Indirektheit und Mehrdeutigkeit ausgehalten und als ein spezifischer Wert literarischen Verstehens angenommen wird. Nichtverstehen, und auf dieser Annahme bauen die folgenden Ausführungen zentral auf, braucht die Voraussetzung eines grundlegenden Verstehens, um als gegenstandsangemessenes oder literarisch versiertes Nichtverstehen angesehen werden zu können, das einen bildenden Wert haben kann. Bildend kann Literatur durch jene Folgefunktionen auf personaler Ebene wirken, die Rupp, Heyer und Bonholt19 entfalten: primäre Phantasie-Entwicklung; Entwicklung von ästhetischer Sensibilität und sprachlicher Differenziertheit; Reflexion über mögliche (versus reale) Welten; Stärkung von Empathie, Moralbewusstsein und lebensthematischer Identität; Anerkennung von Alterität. Der Beitrag zur Persönlichkeits- und Identitätsbildung besteht darin, dass das Erkennen und Anerkennen von literarischem Nichtverstehen ein besonderes Potential zur Reflexion jener Wissensbestände, Erfahrungen und Emotionen besitzt, die vom Lesenden im Verstehensprozess aktiviert wurden.20 Diese Reflexionsleistung soll als Bildung im Sinne einer »Erziehung durch Literatur«21 verstanden werden. Um diese theoretischen Annahmen anschaulich zu machen und in den folgenden Teilen auf die literaturdidaktische Aufgabenorientierung und -forschung beziehen zu können, sollen an dieser Stelle die zwei Zieldimensionen anhand der Geschichte Narinders Maus von Sally Nicholls ausgeführt werden.22 Die Verstehensherausforderungen und -potentiale werden dabei für Schüler:innen der sechsten oder siebten Jahrgangsstufe reflektiert. Der Kernbestand eines grundlegenden und eindeutigen Verstehens könnte lauten: Narinder hat eine weiße Maus, die sie Schneeweißchen nennt. Sie zeigt die Maus ihren Freundinnen, die die Maus sehr niedlich finden und auch gerne so eine Maus hätten. Narinder behauptet, dass ihr Bruder Ranjit der Maus etwas antun wird, weil er immer solche Sachen machen würde. Narinders Freundin Alice bietet an, dass die Maus bei ihr leben könne, und 19

20 21 22

Vgl. Rupp, Gerhard; Heyer, Petra; Bonholt, Helge (2004): Folgefunktionen des Lesens – von der Phantasieentwicklung zum Verständnis des sozialen Wandels. In: Norbert Groeben, Bettina Hurrelmann (Hg.): Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Forschungsüberblick. Weinheim u.a., S. 95-141. Vgl. Zabka (2006): Typische Operationen literarischen Verstehens. In: Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. S. 82. Fritzsche (1994): Zur Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts. S. 98. Vgl. Nicholls, Sally (2013): Narinders Maus. Aus dem Engl. von Birgitt Kollmann. In: Michael Krüger (Hg.): Folge deinem Traum. Geschichten, Bilder, Gedichte für wache Kinder jeden Alters. München. Siehe Anhang.

Jochen Heins: Literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen

Narinder überlässt ihr die Maus. Eine Zeit später hört die Erzählerin, die eine Freundin von Narinder ist, ihren Bruder erzählen, dass Ranjit ganz traurig ist, weil seine Maus weg ist. Die Erzählerin erstarrt aus Verwunderung. Dieses grundlegende eindeutige Verstehen ist zu unterscheiden von einem eindeutigen Missverstehen, das – basierend auf beobachteten Verstehensergebnissen – folgendermaßen ausfallen könnte: Die Erzählerin hat eine weiße Maus, die Schneeweißchen heißt. Sie zeigt die Maus ihren Freundinnen, die die Maus sehr niedlich finden. Narinder würde die Maus auch gerne haben. Sie glaubt aber, dass ihr großer Bruder der Maus etwas antun wird. Die Erzählerin verkauft die Maus lieber ihrer Freundin Alice, da deren Mutter nichts dagegen hat. Eine Zeit später hört die Erzählerin ihren Bruder erzählen, dass Ranjit wütend ist, weil seine Maus weg ist. Die Erzählerin erstarrt, weil Narinders Bruder Ranjit lügt und die Maus eigentlich Alice gehörte. Wer ein solches mentales Modell der Geschichte aufbaut, der hat ein eindeutiges Missverstehen entwickelt und grundlegende Zusammenhänge nicht angemessen rekonstruiert, die in der Geschichte eindeutig angelegt sind. Dieses Nichtverstehen ist nicht das Ergebnis eines kompetenten Umgangs mit den spezifischen Textbedingungen dieses literarischen Textes, sondern Folge fehlender Kompetenzen des basalen Textverstehens. Natürlich stellen die literarischen Textbedingungen besondere Anforderungen an das Erkennen eindeutiger und unstrittiger Zusammenhänge: Zahlreiche Informationen müssen erschlossen werden, Informationszusammenhänge sind verdeckt oder die Elemente weit über den Text verstreut. Einiges davon lässt sich bei genauer Lektüre aber eindeutig ausmachen. Deutlich höhere Anforderungen sind gestellt, wenn beispielsweise eine erzählte Welt aus einer Figurenperspektive heraus gestaltet und die Zuverlässigkeit der Figur womöglich anzuzweifeln ist. Dann kann vermeintlich Eindeutiges doch strittig bzw. uneindeutig sein. An der vorliegenden Geschichte lässt sich aber zeigen, dass es Zusammenhänge der Geschichte gibt, die diesseits der erzählerischen Perspektivgestaltung eindeutig aufzulösen sind. Was sich hier in literarischer Einfachheit23 zeigt, gilt genauso – nur gesteigert – auch bei literarisch komplexeren Texten: Zur Bestimmung des Eindeutigen kann es erforderlich sein, die mentale Rezeption der Geschichte von der mentalen Repräsentation der Darbietung zu trennen, also beispielsweise die Geschichte aus der erzählerischen Perspektivgestaltung herauszulösen. Eindeutig bestimmt werden können dann vielleicht das Handlungsgerüst oder der inhaltliche Zusammenhang. 23

Vgl. Lypp, Maria (2005): Die Kunst des Einfachen in der Kinderliteratur. In: Günter Lange (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Medien – Themen – Poetik – Produktion – Rezeption – Didaktik. Baltmannsweiler, S. 828-843.

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An welchen Stellen der Erzählung ist Unbestimmtheit, Mehrdeutigkeit und Indirektheit dem Text produktionsseitig eingeschrieben? Die folgenden Zusammenhänge sind nicht eindeutig zu klären und betreffen die zweite Zieldimension. Als interpretationsbedürftige Zusammenhänge können festgehalten werden: • •





Was hat es mit dem Geschwisterkonflikt auf sich? Handelt es sich um eine Maus, die von Narinder und Ranjit nur unterschiedlich benannt wird, oder gibt es zwei Mäuse? Wem gehört die Maus, wenn es nur eine gibt? Wie ist das Handeln von Narinder und Ranjit motiviert? Hat Narinder die Maus an Alice gegeben, um Ranjit zu ärgern, um sich gegen ihn zu wehren, um die Maus vor ihm zu schützen oder weil sie Geld braucht? Wie sind die symbolischen Bezüge zu verstehen, dass Narinder Ähnlichkeit mit einer Maus hat und dass Mäuse allein zurechtkommen?

Das Erkennen dieser uneindeutigen und strittigen Zusammenhänge baut auf der Rekonstruktion auf, was im Text eindeutig und unstrittig ist. Mindesten drei Anforderungen sind an Leser:innen gestellt, die auf dieser Ebene kompetent mit Texten im Sinne literarischen Verstehens und Nichtverstehens umgehen sollen: 1 2

3

Sie müssen wahrnehmen, wo ein Text mehrdeutig, offen und unbestimmt ist. Sie müssen diese Zusammenhänge als Ausgangspunkt nehmen, um Verstehensmöglichkeiten zu entwickeln und ggf. auch das Nichtverstehen auszuhalten. Sie müssen dieses Spiel literarischer Kommunikation als sinnhaft erleben – das heißt, sie müssen die Erfahrung machen können, dass sie persönlich einen Gewinn daraus ziehen können.

Empirische Einblicke in Textverstehens- und Aufgabenbearbeitungsprozesse zeigen, dass Lernende mit weniger guten Lernvoraussetzungen zwingend Anleitung beim Verstehen der grundlegenden und eindeutigen Zusammenhänge brauchen. Und gerade bei diesen Lernenden müssen die Prozesse zur Bewältigung der skizzierten Anforderungen in der zweiten Zieldimension des Verstehens fokussiert ausgebildet werden. Dazu sind Lernaufgaben erforderlich, die das Verstehen und/oder Nichtverstehen unterstützen. Der konkret erforderliche Lenkungsgrad hängt von den bereits entwickelten Teilkompetenzen literarischen Verstehens ab.24 24

Vgl. Heins, Jochen (2017): Lenkungsgrade im Literaturunterricht. Zum Einfluss stark und gering lenkender Aufgabensets auf das Textverstehen. Wiesbaden.

Jochen Heins: Literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen

III. Lernaufgaben im kompetenzorientierten Literaturunterricht fördern beide Zieldimensionen »Keineswegs verlangt die OECD […], dass der L1-Unterricht nur noch die Lesekompetenz schulen soll […]. Solche kurzschlüssigen Eingriffe werden höchstens von Institutionen und Personen verordnet und durchgeführt, die das Programm des Bildungsmonitorings […] missverstanden haben.«25 Ob Lernaufgaben schwerpunktmäßig Prozesse zum Aufbau eines grundlegenden und eindeutigen Verstehens anregen, wie es unter anderem in Studien zu Leseaufgaben in der Grundschule von Kleinbub26 aufgezeigt wird, ist nicht Folge der Ausrichtung am Kompetenzparadigma. Viel eher kann angenommen werden, dass den Lehrenden ein Handwerkszeug der didaktischen Analyse fehlt, um die Verstehensanforderungen und -potentiale eines Textes angemessen zu bestimmen und systematisch mit Lernaufgaben in beiden Zieldimensionen anzusteuern.27 Dass damit eine erhebliche Gefahr für die Entwicklung von Kompetenzen des literarischen Verstehens und Nichtverstehens im oben skizzierten Sinne einhergeht, ist offensichtlich: Wenn die kognitiv anspruchsvollen Prozesse im Literaturunterricht nicht angestoßen werden, die ein literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen kennzeichnen, dann können die Prozesse auch nicht von den Lernenden entwickelt werden. Für das Fach Mathematik beispielsweise haben Kunter u.a.28 gezeigt, dass das kognitive Potential von Lernaufgaben ein signifikanter Prädiktor zur Vorhersage der Mathematikleistungen am Ende der zehnten Klasse ist. Dazu analog kann angenommen werden, dass auch die Verstehensprozesse, die ein literarisches Verstehen auszeichnen, systematisch durch Lernaufgaben aufgebaut werden können – wenn die Lernaufgaben entsprechend gestellt werden. Was diese durch empirische Befunde gestützten Annahmen konkret bedeuten, soll anhand einiger möglicher Aufgaben zur Geschichte Narinders Maus von Sally Nicholls dargestellt werden. Die zitierten Aufgaben sind im Zusammenhang von KERMIT (Kompetenzen ermitteln) entstanden, wie die Vergleichsarbeiten in

25 26

27 28

Zabka (2011): Wir bilden auch Humankapital. In: Didaktik Deutsch. S. 28. Vgl. Kleinbub, Iris (2009): Aufgaben zur Anschlusskommunikation: Ergebnisse einer Videostudie im Leseunterricht der vierten Klasse. In: Zeitschrift für Grundschulforschung, Jg. 2, H. 2, S. 69-81. Dies. (2014): »Was bringt Rotkäppchen dem Wolf?« Lernaufgaben im Leseunterricht. In: Bernd Ralle, Susanne Prediger, Marcus Hammann u.a. (Hg.): Lernaufgaben entwickeln, bearbeiten und überprüfen – Ergebnisse und Perspektiven der fachdidaktischen Forschung. Münster u.a., S. 178-187. Vgl. Heins (2017): Lenkungsgrade im Literaturunterricht. S. 458f. Vgl. Kunter, Mareika; Dubberke, Thamar; Baumert, Jürgen u.a. (2006): Mathematikunterricht in den PISA-Klassen 2004: Rahmenbedingungen, Formen und Lehr-Lernprozesse. In: Manfred Prenzel (Hg.): PISA 2003. Untersuchungen zur Kompetenzentwicklung im Verlauf eines Schuljahres. Münster, S. 161-194.

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Hamburg heißen, die jährlich in den Klassenstufen drei, fünf, sieben und neun durchgeführt werden.29 Leistungsaufgaben in Lernsituationen zu nutzen, da sie bestimmte textseitige Herausforderungen gezielt ansteuern und damit Teiloperationen des Textverstehens gezielt aktivieren, ist kein neuer Gedanke.30 Worauf in der folgenden Analyse nicht eingegangen werden kann, was aber für den Einsatz von Aufgaben im Unterricht grundsätzlich von Bedeutung ist – unabhängig davon, ob Leistungsaufgaben als Lernaufgaben eingesetzt werden oder Lernaufgaben gezielt entwickelt werden –, ist die Einbindung der Aufgaben in eine Unterrichtschoreographie. Denn Aufgabenorientierung heißt nicht, die Verantwortung für Lernen und Verstehen in Aufgaben auszulagern, die jeder für sich bearbeitet. Der Austausch über Aufgabenresultate muss genuiner Teil eines Aufgabenbearbeitungsprozesses sein. Und die Verantwortung, die Potentiale dieser Phasen nutzbar zu machen, liegt bei den Lehrer:innen.31 Dieser Schritt der Aufgabenbearbeitung kann in einer Analyse des Aufgabenpotentials nicht ausgeführt, muss aber stets mitgedacht werden.

III.I Zieldimension 1: Aufgaben zum Aufbau eines eindeutigen Verstehens und zur Vermeidung von eindeutigem Missverstehen Die folgenden drei Aufgaben sind der ersten Zieldimension zuzuordnen: Vom literarischen Gegenstand aus betrachtet, sollen sie den Aufbau eines grundlegenden Textweltmodells anregen. Ausgehend von den erforderlichen Verstehensprozessen regen sie die Ausbildung basaler Rezeptionskompetenzen an. Wie bereits in der Skizze eines grundlegenden Verstehens und Missverstehens angedeutet, hält die Erzählung einige Anforderungen hinsichtlich einer angemessenen mentalen Repräsentation der Figurenbeziehungen vor, deren Bewältigung für das Verstehen zentral ist. Die folgende Aufgabe lenkt den Fokus der Lernenden auf diese Verstehensanforderungen und aktiviert Verstehensoperationen zur lokalen Erschließung der Informationen.

29

30 31

Vgl. Lorenzen, Torge; Peter, Annette; Schwab, Sylvia u.a. (ohne Jahr): KERMIT 5/7. DeutschLeseverstehen. Aufgabenbeispiele und Anregungen für den Unterricht. Hg. vom Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung. URL: https://www.kermit-hamburg.de/inde x.php?id_page=23 [geschützter Bereich; Stand: 01.01.2022]. Vgl. Abraham, Ulf; Müller, Astrid (2009): Aus Leistungsaufgaben lernen. In: Praxis Deutsch. Jg. 36, H. 214, S. 4-12. Vgl. Heins (2017): Lenkungsgrade im Literaturunterricht. S. 464-467.

Jochen Heins: Literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen

1. Ordne den verschiedenen Gruppen die passenden Figuren zu.

Gruppen

1

Ein Geschwisterpaar sind …

2

Freundinnen sind …

3

Streit haben …

4

Mitglieder in demselben Sportverein sind …

Alice

Bruder der Erzählerin

Narinder

Laura

Ranjit

Die erforderlichen Informationen sind alle gegeben, müssen aber aufeinander bezogen werden, um dann die Beziehungen richtig mental zu repräsentieren. Während die Erzählerin sich an eine Situation erinnert, in der sie Ranjit im Streit mit Narinder wütend gesehen hat, äußert der Bruder der Erzählerin, dass Ranjit ein sensibler Junge sei. Die mentale Repräsentation dieser konkurrierenden Informationen ist wichtig, weil ansonsten das Erstarren der Erzählerin nicht verstanden werden kann. Die beiden folgenden Aufgaben fokussieren diese grundlegenden Informationen.

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250

(Nicht-)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen

2. Wie äußert sich der Bruder der Erzählerin über Ranjit? Ranjit sei … A

wütend auf seine Schwester.

B

ein feinfühliger Junge.

C

grausam im Umgang mit Tieren.

D

sehr sportlich.

Alle vier Antwortmöglichkeiten lassen sich im Kontext der Erzählung erschließen: In der von der Erzählerin beobachteten Situation war Ranjit wütend (A); dass Ranjit grausam im Umgang mit Tieren sei, wird durch Narinder nahegelegt (C); die Sportlichkeit von Ranjit kann geschlussfolgert werden, da er Fußball mit dem Bruder der Erzählerin spielt (D). Als Äußerung des Bruders der Erzählerin ist aber nur die Antwort (B) manifest in der Erzählung gegeben. Die Aufgabe stößt damit eine genaue Lektüre der Erzählung an, um durch die Lokalisierung dieser zentralen Information deren mentale Repräsentation zu unterstützen.32 Die Wahrnehmung von Ranjit durch die Erzählerin wird in der folgenden Aufgabe explizit thematisiert, die die Generierung von Zusammenhängen zwischen Informationen anregt, die im Text nicht direkt aufeinanderfolgen oder explizit miteinander verbunden sind. 3. In Zeile 14 berichtet die Erzählerin etwas über Ranjit: »Einmal hab ich ihn gesehen, da hat er Narinder wegen irgendwas angebrüllt.« Erst an einer späteren Stelle im Text teilt sie durch ein Adjektiv mit, wie Ranjit in der Situation auf sie gewirkt hat. Schreibe das Adjektiv und die Zeilenzahl auf. Ranjit wirkt auf die Erzählerin … Dieses Adjektiv steht in Zeile … Erst nach der Sicherung eines unstrittigen Basisverstehens und der Vermeidung von eindeutigem Missverstehen können die offenen, mehrdeutigen und unbe-

32

Wie gewinnbringend für das Verstehen der Austausch über Aufgabenresultate sein kann, lässt sich bei dieser Aufgabe erahnen.

Jochen Heins: Literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen

stimmten Passagen fokussiert werden. Durch die beiden zuletzt vorgestellten Aufgaben wird die mentale Repräsentation der konkurrierenden Informationen angestoßen, die für ein weiterführendes literarisches Verstehen und Nichtverstehen der zweiten Zieldimension zentral ist. Denn die Irritation der Erzählerin muss zugleich eine Irritation bei den Leser:innen hervorrufen, damit rekursive Verstehensprozesse angestoßen werden. Baum spricht davon, dass das Nichtverstehen weitere Verstehensversuche provozieren kann: »Diskontinuität sichert Kontinuität«,33 so seine griffige Formel. Vorausgesetzt ist aber, dass die Lesenden die Diskontinuität überhaupt wahrnehmen. Wie vielfältig die Strategien zum Umgang mit Inkohärenz sind, zeichnet Stark nach34 und wie herausfordernd es für Lernende ist, sich irritieren zu lassen, zeigen Lessing-Sattari und Wieser.35

III.II Zieldimension 2: Verstehensmöglichkeiten auffächern und Anerkennen von Nichtverstehen als Folge der literarischen Textbedingungen von Mehrdeutigkeit, Offenheit und Unbestimmtheit Verstehen und Nichtverstehen in der zweiten Zieldimension hängen eng mit der Erwartung von und der Aufmerksamkeit für Mehrdeutigkeit, Offenheit und Unbestimmtheit zusammen. In dieser Zieldimension kommt insofern zu den erforderlichen Rezeptionskompetenzen noch eine habituelle Dimension hinzu. Grundlegend ist die folgende Annahme, dass literarisches Verstehen weder ausschließlich durch Leser:innenerwartungen gesteuert wird, noch einseitig von Gegenstandseigenschaften ausgelöst wird. Für das literarische Verstehen wird als entscheidend angenommen, dass bestimmte Merkmale des Textes36 von Lesenden als literarisch

33

34

35

36

Baum, Michael (2010): Literarisches Verstehen und Nichtverstehen. In: Volker Frederking, Axel Krommer, Christel Meier (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Literaturund Mediendidaktik. Baltmannsweiler, S. 103. Vgl. Stark, Tobias (2017): Mentale Modellbildung zwischen Stabilität und Vorläufigkeit. Zur Rolle von Vermutungen beim literarischen Lesen. In: Daniel Scherf (Hg.): Inszenierungen literalen Lernens. Kulturelle Anforderungen und individueller Kompetenzerwerb. Baltmannsweiler, S. 136f. Vgl. Lessing-Sattari, Marie; Wieser, Dorothee (2016): Von der Schwierigkeit, sich irritieren zu lassen. Eine literaturdidaktische Herausforderung. In: Literatur im Unterricht, Jg. 17, H. 2, S. 127-142. Siehe auch den kürzlich erschienen Sammelband: Freudenberg, Ricarda; LessingSattari, Marie (2020): Zur Rolle von Irritation und Staunen im Rahmen literarästhetischer Erfahrung. Frankfurt a.M. Dazu zählen im Rekurs auf Zabka (vgl. Zabka [2006]: Typische Operationen literarischen Verstehens. In: Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. S. 80-101) und Kämper-van den Boogaart und Pieper (vgl. Kämper-van den Boogaart, Michael; Pieper, Irene [2008]: Literarisches Lesen. In: Didaktik Deutsch, Jg. 13, H. 2 [Sonderheft], S. 46-65) systematische Unbestimmtheit, extreme Verknüpfungsdichte, Erwartungsbruch, Vorherrschen von Konnotation (Mehrdeutigkeit), Indirektheit und Symbolik.

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(Nicht-)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen

wahrgenommen und gedeutet werden,37 da sie »quasi das Signal geben, bei der Lektüre den spezifischen Spielregeln literarischer Kommunikation zu folgen«.38 Zabka spricht von Poetizitätssignalen, auf die geübte Leser:innen in »bestimmten Leseweisen mit bestimmten Rezeptionsoperationen reagieren«.39 Das Zusammenspiel von Leser:in und Text im literarischen Verstehen beschreibt Pieper wie folgt: Im Bereich der Literatur lassen sich Bereitschaften und Erwartungshaltungen gegenstandsbezogen präzisieren: Phänomene wie Unbestimmtheitsstellen und Erwartungsbruch müssen als Teil des literarischen Programms wahrgenommen werden können […]. Zur entsprechenden Haltung gehört auch die Bereitschaft, angesichts solcher Phänomene die Lektüre nicht abzubrechen, sondern in eine intensivere, oft rekursive Textbetrachtung einzusteigen und die jeweiligen Öffnungs- und Irritationsmomente für die Textdeutung fruchtbar zu machen.40 Die habituelle Dimension kann mit Pieper als Modus literarischen Lesens gefasst werden, womit eine »Disposition [gemeint ist], die es ermöglicht, sich im Leseprozess auf die Spielregeln literarischer Kommunikation einzulassen und sich lesend und interpretierend entsprechend zu engagieren«.41 In der hier geführten Argumentation hängt literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen mit dieser spezifischen Haltung zusammen, in der die Erfahrung habitualisiert ist, dass es sich lohnt, das literarische Spiel von Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit und Offenheit mitzuspielen. Ob sich die habituelle Dimension durch Aufgaben fördern lässt, soll im dritten Teil des Beitrags auf der Basis empirischer Befunde der Aufgabenforschung reflektiert werden. Zweifelsohne aber sind positive Erfahrungen mit dem Spiel literarischer Kommunikation unerlässlich. Die folgenden Aufgaben sollen die Lernenden an jene Textzusammenhänge heranführen, die durch Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit und Offenheit gekennzeichnet sind. Die nachstehende Aufgabe zielt darauf, auch bei jenen Leser:innen die Irritation der Erzählerin hervorzurufen, die diese nicht spontan rekonstruiert haben. Diese Lernenden sollen an die Revision des Verstehens und mithin die Suche nach anderen, nicht spontan gebildeten semantischen Relationen herangeführt werden. 37

38

39 40 41

Vgl. Zabka (2012): Didaktische Analyse literarischer Texte. In: Literaturdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. S. 146. Eggert, Hartmut (2002): Literarische Texte und ihre Anforderungen an die Lesekompetenz. In: Norbert Groeben, Bettina Hurrelmann (Hg.): Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim, S. 188. Pieper, Irene (2009): Literarische Kompetenz: Zentrum oder Peripherie der Kompetenzdiskussion? In: Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck, Elisabeth Stuck u.a. (Hg.): Schnittstellen. Aspekte der Literaturlehr- und -lernforschung. Innsbruck, S. 211. Zabka (2016): Literarästhetisches Verstehen. In: Lesekompetenz – Leseleistung – Leseförderung. S. 154. Pieper (2016): Wissen im Zwischenraum. In: Wissen und literarisches Lernen. S. 133. Ebd., S. 133f.

Jochen Heins: Literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen

4. Nachdem die Erzählerin gehört hat, was ihr Bruder berichtet, ist sie in Zeile 39 sehr irritiert und könnte nun über einige Dinge ganz anders denken als zuvor. Die Erzählerin könnte jetzt plötzlich vermuten, dass … richtig 1

Ranjit nur so tut, als wäre er sensibel.

2

Narinder die Maus in Sicherheit gebracht hat.

3

Ranjit nicht Täter, sondern Opfer ist.

4

Narinder große Angst vor ihrem Bruder gehabt hat.

5

Narinder die Mädchen belogen hat.

falsch

Die Prüfung der Antwortalternativen erfordert, globale Zusammenhänge eines ersten und spontanen Verstehens neu und anders zu denken sowie Informationen und Vorstellungen begrifflich zu bündeln und damit diskutabel zu machen. Die dazu erforderliche mentale Textrepräsentation der grundlegenden Zusammenhänge kann – wie skizziert – durch Aufgaben der Zieldimension 1 aufgebaut werden. Neben rekursiven Verstehensprozessen ist eine wichtige Leistung literarischen Verstehens das Benennen von offenen Fragen, anstatt erste Vermutungen als eindeutig und richtig zu bestimmen. Die folgende Aufgabe zielt auf die Identifikation offener Fragen in der Erzählung. 5. Nach dem Gespräch in der Küche merkt die Erzählerin, dass sie noch nicht genau weiß, was wirklich mit der Maus passiert ist. Sie macht sich Notizen, was sie am nächsten Tag noch klären will. Welche könnten es sein? Schreibe zwei Fragen oder Vermutungen auf. Detektivzettel In den nächsten Tagen muss ich folgende Fragen oder Vermutungen unbedingt klären …

253

254

(Nicht-)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen

Die Aufgabe regt dazu an, das bisher aufgebaute mentale Textweltmodell daraufhin zu prüfen, welche Zusammenhänge noch offen sind und sich auf der Basis der im Text gegebenen Informationen nicht klären lassen. Entsprechende interpretationsbedürftige Zusammenhänge wurden oben aufgeführt.42 Eine gesicherte Verstehensbasis ist Voraussetzung dafür, dass sich in derartigen Aufgaben nicht bloß ein Nichtverstehen des eindeutig und unstrittig Verstehbaren manifestiert. Aufgrund der Textbedingungen von Offenheit, Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit lassen sich die als interpretationsbedürftig markierten Zusammenhänge nicht abschließend klären. Dieses Nichtverstehen auszuhalten, stellt eine wichtige Fähigkeit literarischen Verstehens dar.43 Unter diesen Bedingungen trotzdem eine plausible Lesart zu entwickeln und mit anderen zu diskutieren, stellt – wie oben im Rekurs auf Zabka44 formuliert – eine wichtige Kompetenz literarischen Verstehens dar. Die folgende poetische Textverstehensaufgabe setzt an Zusammenhängen an, die über das Ende der Geschichte hinaus offenbleiben und zur Konstruktion unterschiedlicher Füllungen einladen. 6. Am Ende bleibt offen, was tatsächlich geschehen ist, wer die Wahrheit sagt und wer lügt. Entscheide dich für eine bestimmte Möglichkeit und schreibe danach eine Fortsetzungsgeschichte, in der die Wahrheit, für die du dich entschieden hast, »ans Licht kommt«. Was die Aufgaben anregen, sind zum einen jene Rezeptionsprozesse, die das Spiel literarischer Kommunikation ausmachen und die als spezifisch literarische Ausprägungen allgemeiner Textverstehenskompetenzen beschrieben werden können (siehe oben). Zum anderen machen diese Aufgaben erfahrbar, wie ein erstes und spontanes Textverstehen durch eine intensive und rekursive Textbetrachtung bereichert werden kann, wenn man die textseitigen Öffnungs- und Irritationsmomente für die Textdeutung fruchtbar macht. Sie üben einen literarischen Lesemodus ein, indem die Lernenden Erfahrungen mit den Spielregeln literarischer Kommunikation machen. Literarisches Verstehen und Nichtverstehen zeichnet sich dann dadurch aus, dass das Verstanden-Haben als Konstruktion eines möglichen Sinns aufgefasst

42

43 44

Auch bei dieser Aufgabe wird wieder deutlich, dass insbesondere der Austausch über die Aufgabenresultate ein wichtiger Bestandteil des Aufgabenbearbeitungsprozesses ist: Die von den Lernenden notierten Fragen und Vermutungen müssen geprüft, geordnet, gebündelt und als weiterführenden Fragen bzw. Thesen festgehalten werden. Siehe beispielsweise Spinner, Kaspar H. (2006): Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch, Jg. 33, H. 200, S. 12. Vgl. Zabka (2006): Typische Operationen literarischen Verstehens. In: Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht.

Jochen Heins: Literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen

wird, der plausibel ist, »aber nicht der Sinn sein muss, den andere Leser dem Text (mit gleichem Recht) zuschreiben.«45

IV.

Für beide Zieldimensionen spielt die Lernunterstützung durch Aufgaben eine zentrale Rolle

»Es ist unmittelbar einsichtig, dass Lernende, die beginnen, Literatur als ästhetisch gestaltete Rede wahrzunehmen, bei der Texterschließung ein hohes Maß an Unterstützung benötigen.«46 Didaktisches Potential kann als Ergebnis eines Balance-Aktes zwischen (a) textseitigen Anforderungen, (b) Lernvoraussetzungen und (c) didaktischer Modellierung aufgefasst werden.47 Das einleitende Zitat von Steinmetz steht in eben diesem Zusammenhang: Mit dem Spiel literarischer Kommunikation wenig vertraute Lernende (b) brauchen, um die ästhetisch gestaltete Rede literarischer Texte (a) wahrzunehmen, ein hohes Maß an Unterstützung (c). Im Folgenden wird nur eine Form der Lerner:innenunterstützung fokussiert, die mit Steinmetz als syntaktischer Support verstanden wird: »Mit syntaktischem Support sind Unterstützungsangebote gemeint, die im Kontext der konkreten Verstehensanforderungen des unikalen Textes profiliert sind.«48 Gegenüber einem substantivischen Support, durch den Unterstützung hinsichtlich verstehensrelevantem Vorwissen geboten wird,49 besitzt der syntaktische Support das Potential, auch die habituelle Dimension des literarischen Lesens zu fördern. Steinmetz schreibt dazu: »Syntaktischer Support ist als didaktische Übersetzung dieser Spielregeln in gegenstandsspezifische Lesehinweise zu begreifen. Das bedeutet, dass der Support einen Lesemodus fördert, der auf ein gegenstandsspezifisches Verstehen im Lichte der Spielregeln literarischer Kommunikation gerichtet ist.«50 Die Bedeutung von Unterstützungsmaßnahmen für ein gegenstandsangemessenes literarisches Verstehen in Erwerbszusammenhängen wird in empirischen

45 46 47

48 49 50

Ders. (2012): Didaktische Analyse literarischer Texte. In: Literaturdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. S. 147. Steinmetz (2020): Verstehenssupport im Literaturunterricht. S. 4. Vgl. Heins, Jochen (2016): Textinterne semantische Bildzusammenhänge herstellen: Zu einigen Anforderungen von neuen Formen parabolischen Erzählens. Gezeigt anhand aufgabenbasierter Zugänge zu Jürg Schubigers Wie man eine Hilfe findet. In: Irene Pieper, Tobias Stark (Hg.): Neue Formen des Poetischen. Didaktische Potenziale von Gegenwartsliteratur. Frankfurt a.M., S. 54. Steinmetz (2020): Verstehenssupport im Literaturunterricht. S. 108; Herv. i.O. Vgl. ebd., S. 103. Ebd., S. 247.

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(Nicht-)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen

Studien der literaturdidaktischen Aufgabenforschung wiederholt aufgezeigt und (kontrovers) diskutiert.51 Auf zwei Befunde soll im Folgenden eingegangen werden: 1 2

Unterstützungsmaßnahmen haben einen positiven Einfluss auf die Verstehens- und Interpretationsleistung der Lernenden. Unterstützungsmaßnahmen haben einen positiven Einfluss auf das Kompetenzerleben der Schüler:innen.

Der erste Befund steht im engen Zusammenhang mit den Rezeptionsprozessen. Der zweite Befund spielt für die Förderung der habituellen Dimension literarischen Verstehens eine zentrale Rolle. Die Befunde beruhen unter anderem auf den Studien von Steinmetz und Heins.52

IV.I

Unterstützungsmaßnahmen haben einen positiven Einfluss auf die Verstehens- und Interpretationsleistung der Lernenden

In seiner Studie Verstehenssupport im Literaturunterricht stellen Steinmetz53 u.a. fest, dass Unterstützungsmaßnahmen einen positiven Einfluss auf die folgenden Verstehens- und Interpretationsprozesse haben: • • •

ein sinnvolles Gesamtverständnis entfalten, mit Indirektheit, Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit umgehen und begründungsrelevante Informationen auswählen.54

Bezieht man diesen Befund auf die oben skizzierten textseitigen Herausforderungen der Erzählung Narinders Maus, dann ist es insbesondere die Entwicklung eines sinnvollen Gesamtverständnisses, die aufgrund der Unbestimmtheit, Mehrdeutigkeit und Indirektheit erschwert wird und hohe Anforderungen an die Lernenden stellt. Die Auswahl von Informationen, die zum Erkennen der zentralen Inkohärenz aufeinander bezogen werden müssen, damit ein rekursiver Verstehensprozess angestoßen wird, ist für Lernende der sechsten oder siebten Jahrgangsstufe keine Anforderung, die sich bei allen Lernenden ohne didaktische Intervention, das heißt Unterstützung, einstellt. 51

52 53 54

Für einen Überblick siehe Heins, Jochen (2018): Lernaufgaben im Literaturunterricht – Zwischen normativer Diskussion, empirischer Wirkungsforschung und (unterrichts)praktischen Konsequenzen. In: leseforum.ch 3/2018. URL: https://www.leseforum.ch/sysModules/obxLe seforum/Artikel/643/2018_3_de_heins.pdf [Stand: 01.01.2022]. Vgl. Heins (2017): Lenkungsgrade im Literaturunterricht. Steinmetz (2020): Verstehenssupport im Literaturunterricht. Vgl. Steinmetz (2020): Verstehenssupport im Literaturunterricht. Vgl. Ebd., S. 218.

Jochen Heins: Literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen

Heins kann in seiner Studie Lenkungsgrade im Literaturunterricht zeigen, dass insbesondere die Lernenden mit weniger guten Lernvoraussetzungen eine stärkere Lenkung durch Aufgaben benötigen, um zu einem gegenstandsangemessenen globalen Textverständnis zu gelangen.55 Wenn diese Lernenden von den Verstehensanforderungen eines Textes überfordert sind, reduzieren sie die Komplexität der Zusammenhänge, um sie bewältigen zu können. Ein gegenstandsangemessenes Verstehen sowie die Anerkennung literarischen Nichtverstehens im oben skizzierten Sinne sind dann aber unmöglich, da ihnen die verstehensrelevanten semantischen Zusammenhänge der mentalen Textrepräsentation fehlen, um die Unbestimmtheit, Mehrdeutigkeit und Indirektheit zu verarbeiten.56 Voraussetzung einer positiven Verstehensentwicklung, so haben die empirischen Rekonstruktionen gezeigt, sind die gelingende Bewältigung der Verstehensherausforderungen des Textes und die sukzessive Integration der Ergebnisse in ein globales Verstehen, das zunehmend komplexere semantische Beziehungen umfasst.57 Die bisher analysierten Aufgaben zu Narinders Maus setzen gezielt bei zentralen Verstehensherausforderungen der Erzählung an und sind so sequenziert, dass Lernende mit weniger guten Lernvoraussetzungen sukzessive beim Aufbau komplexer semantischer Beziehungen unterstützt werden. Die Sequenzierung von Aufgaben kann mithin als eine Form von syntaktischem Support bezeichnet werden. Die Rekonstruktionen bei Heins58 verdeutlichen, wie relevant die Sicherung inhaltlicher Zusammenhänge für ein komplexes literarisches Verstehen und Nichtverstehen ist. Es ist darum aus literaturdidaktischer Perspektive geboten, die Entwicklung eines basalen und unstrittigen Verstehens nicht geringzuschätzen und zu übergehen, um von Beginn an Verstehensleistungen der zweiten Zieldimension anzuregen. Ebenso wenig erscheint es vor dem Hintergrund vorliegender Befunde gerechtfertigt, die Steuerung von Verstehens- und Interpretationsprozessen mit der Argumentation zurückzuweisen, durch sie würden die Deutungsoffenheit, die Möglichkeit für subjektive Zugänge sowie die Motivation eingeschränkt. Die Untersuchungen legen viel eher nahe, dass nicht die uneingeschränkte Freiheit zum selbstständigen Entdecken komplexer Verstehenszusammenhänge führt, sondern dass Lernende mit weniger guten Lernvoraussetzungen nur dann zu jenen komplexen Entdeckungen fähig sind, die den automatischen Verstehenshorizont überschreiten, wenn eine mentale Textweltrepräsentation systematisch – eben durch steuernde Unterstützung – entwickelt wird.59 Das Spiel literarischer Kommunika-

55 56 57 58 59

Vgl. Heins (2017): Lenkungsgrade im Literaturunterricht. Vgl. ebd., S. 442. Vgl. ebd., S. 439. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 444.

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(Nicht-)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen

tion jedenfalls erscheint nur mit Unterstützung für diese Lernenden erfahrbar zu werden.

IV.II Unterstützungsmaßnahmen haben einen positiven Einfluss auf das Kompetenzerleben der Schüler:innen Wenn literarisches Verstehen und Nichtverstehen, wie es eine Annahme in diesem Beitrag ist, auch von der Haltung zur Literatur und der Bereitschaft beeinflusst ist, sich auf das Spiel literarischer Kommunikation einzulassen, dann ist der Befund von Steinmetz bedeutsam, dass Unterstützungsmaßnahmen einen signifikant positiven Einfluss auf das Kompetenzerleben der Lernenden haben. Die These, dass Unterstützung das Lernerleben der Schüler:innen negativ beeinflussen könnte, bestätigt sich in den eigenen Einschätzungen der Proband:innen jedenfalls nicht: »Umgekehrt fühlen sich die Probanden durch offene Aufgabenstellungen weder autonomer noch motivierter, anders als die häufige fachdidaktische Skepsis gegenüber Support nahelegt. […] Das einzige, was sich auffällig verändert, ist die gefühlte Kompetenz, und das zu Gunsten der lenkenden Formate.«60 Im Hinblick auf die Förderung der habituellen Dimension des literarischen Verstehens und Nichtverstehens ist dies ein didaktisch hoch relevanter Befund: Denn wenn, wie in der Lehr-Lernforschung angenommen, ein Zusammenhang zwischen Kompetenzerleben und Motivation besteht, dann liegt es nahe, dass ein kontinuierlicher Einsatz von Lernunterstützung sich langfristig auf die Motivation und mithin auf die Kompetenz positiv auswirkt, sich selbstständig mit literarischen Texten auseinanderzusetzen, schlussfolgert Steinmetz.61 In Anlehnung an den Engels- und den Teufelskreis der Lesesozialisation62 könnte man formulieren: Ich fühle mich kompetent, das Spiel literarischer Kommunikation zu spielen, darum bin ich motiviert, dies zu tun, und werde noch besser darin. Im Hinblick auf die Frage, ob durch Aufgaben eine positive Haltung im Umgang mit Literatur unterstützt werden kann, lässt sich zumindest begründet annehmen, dass Aufgaben mit Unterstützungsmaßnahmen indirekt über das Kompetenzerleben und das Erreichen komplexerer gegenstandsangemessener Verstehens- und Interpretationsleistungen die Bereitschaft fördern können, Inferenzbildungsprozesse unter den Bedingungen von Unbestimmtheit nicht abzubrechen, sondern die Herausforderungen anzunehmen und sich am Spiel ästhetischer oder literarischer Kommunikation »gewissermaßen ›trotzdem‹ zu beteiligen und es nicht aufgrund

60 61 62

Steinmetz, Michael (2019): Verstehensunterstützende Aufgaben im Literaturunterricht. In: Aufgaben- und Lernkultur im Deutschunterricht. S. 98. Vgl. ders. (2020): Verstehenssupport im Literaturunterricht. S. 220. Vgl. Garbe, Christine (2020): Lesekompetenz fördern. Stuttgart, S. 62f.

Jochen Heins: Literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen

mangelnder Plausibilität des Dargebotenen oder der Diagnose ›schlampig erzählt‹ umgehend abzubrechen«.63 Anhand von drei Aufgaben soll aufgezeigt werden, dass ein und dieselbe Verstehensanforderung durch Aufgaben mit unterschiedlich viel Unterstützung gestellt werden kann, um beispielsweise für verschiedene Lerner:innen eine gute Passung von Anforderungen und Lernvoraussetzungen zu erreichen. Denn die Passung ist der Grundstein für Kompetenzerleben und Förderung der Eigenständigkeit im Vollzug der Verstehens- und Interpretationsprozesse. 7. Aus welchem Grund erstarrt die Erzählerin in Zeile 39? Bei dieser Aufgabe wird die Verstehensherausforderung fokussiert, dass der Grund für das Erstarren der Erzählerin nicht explizit benannt wird. Da ein Verstehensresultat von den Lernenden eigenständig generiert werden muss, handelt es sich um eine Generierungsaufgabe.64 Weiterführende Unterstützung bietet die Aufgaben kaum, da sie nicht vorgibt, auf welche Zusammenhänge im Text sich die zu formulierende Begründung beziehen soll. In dem Fall, dass eine Schülerin oder ein Schüler keine komplexe mentale Repräsentation der Textwelt entwickelt hat, besteht die Gefahr, dass die Aufgabenanforderung in der Bearbeitung auf das bereits Verstandene reduziert wird. Die folgende Aufgabe fragt weniger offen nach der Ursache des Erstarrens, wodurch die Komplexität der Verstehensleistung zwar einerseits gesteigert wird. Andererseits bietet die Aufgabe durch die Rekapitulation des vorausgesetzten Verstehens mehr Unterstützung. 8. Die Erzählerin ist von dem, was ihr Bruder berichtet, so sehr irritiert (verwundert), dass sie »erstarrt« (Z. 39). Erkläre, warum sie so irritiert ist, und beziehe dich dabei sowohl auf das, was ihr Bruder berichtet, als auch auf das, was im ersten Teil (bis Z. 32) geschehen ist. Während in der ersten Aufgabe freigestellt ist, wie weitreichend die Revision des Verstehens vollzogen und mit welcher Genauigkeit vorgegangen wird, fordert diese Aufgabe, dass sämtliche Informationen des ersten Teils noch einmal durchgegangen werden müssen. Deutlich weniger komplex ist die stark unterstützende Aufgabe 4, die oben bereits aufgeführt wurde. Diese Aufgabe bietet im geschlossenen Format Lösungen zur Beurteilung an. Die Vorgabe bestimmter Aussagen reduziert die Anforderung, diese selbstständig zu generieren, und verlangt stattdessen deren Nachvollzug und Bewertung. Winkler spricht in diesem Fall von Bewertungsaufgaben, bei denen 63 64

Kämper-van den Boogaart; Pieper (2008): Literarisches Lesen. In: Didaktik Deutsch. S. 59. Vgl. Winkler, Iris (2011): Aufgabenpräferenzen für den Literaturunterricht. Eine Erhebung unter Deutschlehrkräften. Wiesbaden, S. 114.

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(Nicht-)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen

vorgegebene Verstehensmöglichkeiten rekonstruiert und bewertet werden müssen.65 Welche Aufgabe gewählt wird, hängt von den Lern- und Verstehensvoraussetzungen der Lernenden ab. Keine der Aufgaben kann im Erwerbsprozess als höherwertiger, weil komplexer und weniger lenkend, bezeichnet werden. Zwei Ausprägungen von Verstehensunterstützung wurden in diesem Abschnitt skizziert: eine Unterstützung durch (a) die Sequenzierung von Aufgaben zum Aufbau verstehensrelevanter semantischer Relationen und (b) durch einen aufgabeninternen Support, wie er anhand der drei alternativen Aufgaben zu derselben Verstehensherausforderung der Erzählung dargestellt wurde. Die didaktische Frage unter (a) lautet: Wie kleinschrittig müssen die Lernenden geführt werden? Diejenige zu (b) lautet: Wie viele und welche Vorgaben sollen zur Bewältigung der Anforderung in der Aufgabenstellung gegeben werden? Beide Ausprägungen lassen sich miteinander kombinieren, sodass das Maß der Unterstützung in jeder Aufgabe (b) und innerhalb eines Aufgabensets als Ganzes (a) so ausgestaltet werden kann, dass die Lernenden gemäß ihrer Verstehensvoraussetzungen am Spiel literarischer Kommunikation teilhaben können. Das Ziel muss es sein, das Verstehen der Offenheit bzw. das Verstehen des Nichverstehbaren so aufzubauen, dass es die Lernenden nicht überfordert, sondern herausfordert. Dass dabei auch die Textauswahl zentral ist, sollte klar sein: Denn der individuelle Text zeichnet sich durch Verstehensherausforderungen und -potentiale aus, die in einem angemessenen Verhältnis zu den Verstehensmöglichkeiten der Lernenden stehen müssen. Bei einem Missverhältnis ist eher mit einem Miss- als mit einem literarischen Nichtverstehen zu rechnen.

V.

Kurzes Fazit und literaturdidaktische Reflexion

Gegenstandsangemessenes Verstehen und Nichtverstehen müssen auf einem Verstehen der eindeutigen und unstrittigen Verstehenszusammenhänge aufbauen, wenn es nicht zu einem Missverstehen oder Nichtverstehen als Folge von Überforderung kommen soll. Um diese Fähigkeit aufzubauen, müssen Rezeptionskompetenzen gezielt ausgebildet und die Entwicklung einer Haltung zur Literatur dadurch befördert werden, dass der zweite Blick bzw. rekursive Verstehensprozesse als lohnenswert erfahren werden. Unterstützung durch und in Aufgaben spielt dabei – empirisch bestätigt – eine wichtige Rolle, denn nur dann kann sich der bildende Wert von Literatur überhaupt entfalten und beispielsweise die individuelle und soziale Entwicklung der Lernenden fördern, worin eine zentrale Zielkategorie des Literaturunterrichts besteht. 65

Vgl. ebd., S. 122ff.

Jochen Heins: Literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen

An die literaturdidaktische Lehrer:innenbildung ist damit die Anforderung gestellt, den Studierenden Lernangebote zu unterbreiten, mit denen sie die entsprechenden Kompetenzen der didaktischen Analyse ausbilden und die textseitigen Verstehensanforderungen und -potentiale literarischer Texte erkennen können. Die Unterscheidung von zwei Zieldimensionen dient der Klärung des eindeutigen und unstrittigen Verstehens, auf das aufbauend die interpretationsbedürftigen Zusammenhänge bestimmt sowie didaktische Interventionen im Erwerbszusammenhang modelliert werden können.

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(Nicht-)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen

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Jochen Heins: Literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen

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(Nicht-)Verstehen in anwendungsbezogenen Modellen

Anhang Sally Nicholls: Narinders Maus Klein war sie, mit rosa Augen, weißem Fell und einem rosa Schwänzchen, das sich um Narinders Buntstifte rollte. Narinder hob den Deckel ihrer Stiftebox an, und die Mädchen schrien auf. »Guck doch mal, die kleine Nase!« »Wie heißt sie?« »Wo hast du die denn her?« »Darf ich sie mal halten?« »Sie heißt Schneeweißchen, ich hab sie zum Geburtstag bekommen«, sagte Narinder. Sie nahm die Maus aus der Stiftebox und setzte sie Alice behutsam auf die Hand. Alice quiekte. »Ist die süß!« Narinder sah schweigend zu. Sie hat selbst etwas von einer Maus an sich, mit ihren braunen Augen und den weichen langen Haaren, die selbst bei Wind nie zerzaust aussehen. Sie hat einen großen Bruder, Ranjit, der mit meinem Bruder in der Fußballmannschaft ist. Einmal hab ich ihn gesehen, da hat er Narinder wegen irgendwas angebrüllt. Narinder ist einfach weitergegangen, mit hängendem Kopf und ohne etwas zu sagen. »Ich wünschte, ich hätte auch so eine Maus«, sagte Alice. Schneeweißchens Augen jagten hin und her. Sie sah völlig verängstigt aus. »Mein Bruder wird sie umbringen«, sagte Narinder. Wir starrten sie an. »Umbringen?« Narinder beugte ihren dunklen Kopf über die Maus. »Er spült sie im Klo runter. Das hat er gesagt.« Sie berührte Schneeweißchen leicht am Kopf. »Er macht dauernd solche Sachen.« »Das denkst du dir jetzt bloß aus«, sagte Laura, aber wir übrigen schwiegen. Ich glaubte ihr – ich erinnerte mich noch gut an Ranjits wütendes Gesicht. »Pass auf«, sagte Alice eindringlich. »Ich nehm sie. Bitte, gib sie mir! Meine Mama hat bestimmt nichts dagegen. Und so kann Ranjit ihr nichts tun.« Narinder wandte keinen Moment die Augen von Schneeweißchen. »Ich hab sie zum Geburtstag bekommen.« »Du kannst mein Weihnachtsgeld haben«, sagte Alice. »Fünfzehn Pfund. Du kannst ja sagen, sie ist dir entwischt. Du kannst auch immer kommen und sie besuchen. Bitte!« Narinder schwieg eine ganze Weile. Dann nickte sie und ging weg. Donnerstags habe ich Federball, dann komme ich immer erst nach fünf nach Hause. In der Küche saß mein Bruder in seinem Fußballtrikot und aß Kuchen.

Jochen Heins: Literarisches Verstehen und/oder Nichtverstehen

»… verloren. Vier zu null. Ranjit war heute völlig daneben. Grämt sich wegen Rex.« »Rex?«, fragte Mama. »Seine Maus. Die ist weg. Ranjit glaubt, die Katze hat sie geholt. Er ist so ein Sensibler, der Ranjit.« Ich erstarrte. »Ranjits Maus?« »Ja.« Mein Bruder drehte sich zu mir um. »Aber der geht’s bestimmt gut«, sagte er. »Keine Sorge. Die kommen zurecht, so sind sie, die Mäuse.«

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(Nicht-)Verstehen in historischen und gegenwärtigen Kontexten der Professionalisierung

»das Lesestück solle als Ganzes wirken, was es könne« Ziele, Methoden und Metaphern der Literaturvermittlung in der Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens (1859-1878) Hendrick Heimböckel Abstract Der Beitrag untersucht die weder in der historischen Bildungsforschung noch in den Fachdidaktiken berücksichtigte und im Verlauf von 1859 bis 1878 erschienene »Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens« auf Theorien und Praktiken des Verstehens deutschsprachiger Literatur. Dabei zeigt sich zum einen, dass der Ausdruck Verstehen und seine Derivate einen ähnlichen Stellenwert haben wie hierarchieniedrige Formen des Verstehens, die die gegenwärtige Kognitionspsychologie beschreibt. Zum anderen bilden Anthropologien und Literatur um 1800 sowie hermeneutische Methoden die theoretische sowie kanonische Grundlage der Literaturvermittlung an höheren Schulen. Neben politischen und religiösen Zielen folgt die schulisch verordnete und begleitete Lektüre einer spezifischen Ästhetik.

Im Fokus der jüngsten Historiographie deutschsprachiger Didaktik stehen der Kanon,1 unterrichtsspezifische Gattungen wie das Drama, Aufsätze und Lesebücher,2 Studien zu verschiedenen politischen Gebieten wie der DDR und dem Kaiserreich,3 1 2

3

Siehe Korte, Hermann; Zimmer, Ilonka; Jakob, Hans-Joachim (Hg.) (2007): Der deutsche Lektürekanon an höheren Schulen Westfalens von 1820 bis 1870. Frankfurt a.M. Siehe Lösener, Hans; Ludwig, Otto (Hg.) (2007): Geschichte des Schulaufsatzes in Beispielen. Ein Arbeitsbuch. Baltmannsweiler. Dawidowski, Christian; Ehlers, Swantje (Hg.) (2013): Das Lesebuch als Bildungsmedium. Vorträge des Giessener Symposiums zur Lesebuchforschung. Frankfurt a.M. Liebsch, Helge C. (2020): Das Drama des Deutschunterrichts um 1900. Der Diskurs über Lektürekanon und Literaturvermittlung. Berlin u.a. Siehe Führer, Carolin (2013): Transformationen des Deutschunterrichts. Interviewstudie zu Selbstkonzepten, Kultur- und Geschichtsbewusstsein in Ostdeutschland. Wiesbaden. Mackasare, Manuel (2017): Klassik und Didaktik 1871-1914. Zur Konstituierung eines literarischen Kanons im Kontext des Deutschunterrichts. Berlin u.a.

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(Nicht-)Verstehen in historischen und gegenwärtigen Kontexten der Professionalisierung

zu unterschiedlichen Schulformen oder zu genderspezifischen Fragen4 und Anregungen zur methodologischen Reflexion.5 Eine systematische Forschung, die jenseits der großen Geschichten des Deutschunterrichts nach dessen begrifflichen und konzeptuellen Kontinuitäten und Brüchen fragt, besteht gerade mit Bezug zu aktuellen Diskussionen in der Deutschdidaktik nur in Ansätzen.6 In diesem Feld sind die folgenden Ausführungen verortet. Anhand der zwischen 1859 und 1878 erschienen Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens wird der Begriff eines literarischen Verstehens jenseits der vielfach paraphrasierten kanonischen Monographien rekonstruiert.7 Dem vorgeordnet ist ein Abschnitt, der die späteren Ausführungen methodologisch orientiert. Damit wird Christian Dawidowskis Diagnose der Historiographien des Deutschunterrichts ernstgenommen: »[M]ethodologische und wissenschaftsphilosophische Grundlagen fachgeschichtlichen Arbeitens« werden bisher nicht reflektiert.8 4

5 6

7 8

Siehe Schwalb, Angela (2000): Mädchenbildung und Deutschunterricht. Die Lehrpläne und Aufsatzthemen der höheren Mädchenschule Preußens im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Frankfurt a.M. u.a. Siehe Dawidowski, Christian; Schmidt, Nadine J. (Hg.) (2017): Fachgeschichte in der Literaturdidaktik. Historiographische Reflexionen für Theorie und Praxis. Frankfurt a.M. Siehe für historisch-systematische Ansätze: Abraham, Ulf (1996): StilGestalten. Geschichte und Systematik der Rede vom Stil in der Deutschdidaktik. Tübingen. Siehe für den Vorschlag, ein historisch ausgerichtetes Forschungsfeld zu etablieren, das sich auf fachspezifische Praktiken fokussiert: Reh, Sabine; Pieper, Irene (2018): Die Fachlichkeit des Schulfaches. Überlegungen zum Deutschunterricht und seiner Geschichte zwischen Disziplinen und allgemeinen Bildungsansprüchen. In: Matthias Martens, Kerstin Rabenstein, Karin Bräu u.a. (Hg.): Konstruktionen von Fachlichkeit. Ansätze, Erträge und Diskussionen in der empirischen Unterrichtsforschung. Bad Heilbrunn, S. 21-41. Darüber hinaus sind beispielsweise in einer Phase wie den 1980er und 1990er Jahren, in der sich die Deutschdidaktik als eigenständige Disziplin ausdifferenziert, Beiträge zum Verhältnis zwischen den Philologien und dem Deutschunterricht veröffentlicht worden. Siehe hierzu weiter unten. Die Einleitung zu diesem Band skizziert die literaturdidaktische Diskussion zum literarischen Verstehen der letzten 20 Jahre. Dawidowski, Christian (2017): Was heißt und zu welchem Ende studiert man Fachgeschichte? Beginn einer methodologischen Selbstreflexion in der Literaturdidaktik. In: Ders., Schmidt: Fachgeschichte in der Literaturdidaktik, S. 12. Vgl. ebenso Dawidowski, Christian (2018): Fachgeschichte in der Literaturdidaktik. Ziele, Methoden, Desiderata. In: Jan Boelmann (Hg.): Empirische Forschung in der Deutschdidaktik. Bd. 3. Forschungsfelder. Baltmannsweiler, S. 148. Die verschiedenen Ausdrücke Lesen und Schreiben, Unterricht in der Muttersprache, deutscher Unterricht, Deutschkunde, Unterricht im Deutschen und Deutschunterricht bezeichnen das gleiche Phänomen mit verschiedenen Akzentsetzungen: Formen des fachlichen schulischen Unterrichts, in dem die Unterrichtsgegenstände vornehmlich aus dem Feld der deutschen Kultur, Ökologie, Geographie und Geschichte stammen. Um Unklarheiten vorzubeugen, wird hier der Ausdruck Deutschunterricht verwendet. Vgl. Beisbart, Ortwin (2014): Geschichte des Deutschunterrichts und seiner Didaktik. In: Volker Frederking, Axel Krommer

Hendrick Heimböckel: »das Lesestück solle als Ganzes wirken, was es könne«

Die Encyklopädie wurde in einer Zeit des Umbruchs veröffentlicht. Die Reichsgründung 1871 markiert einen politischen Wandel, der sich in der Nationalisierung und Aufwertung des Deutschunterrichts niederschlägt, wie sie die Lehrpläne der 1880er und 1890er Jahre sowie Kaiser Friedrich Wilhelms Rede 1890 verzeichnen.9 Voraussetzung dafür ist in Hinblick auf den Literaturunterricht eine Theoretisierung und Didaktisierung des Verstehens der klassischen sowie der als Volksdichtung bezeichneten deutschen Literatur seit 1770. Um die Untersuchungen zur Encyklopädie begriffsgeschichtlich einzuordnen, wird diese Vorgeschichte im zweiten Abschnitt skizziert. Die Encyklopädie ist bisher weder in der Deutschdidaktik noch in der historischen Bildungsforschung ausführlich berücksichtig worden. Daher sind gerade im Kontext eines auch literaturwissenschaftlichen Ansatzes philologische Vorbemerkungen zu den Herausgebern und den Ausgaben der Encyklopädie nötig. Im Anschluss daran folgen die textnahen Untersuchungen zu ausgewählten Lemmata der Encyklopädie, die systematisch erschlossen werden: von der expliziten Verwendung im Kontext des Sprach-, Wort- und Textverstehens über die Funktion des literarischen Verstehens bis zu dessen Implikationen in Hinblick auf Methoden und Metaphern.

I.

Methodologische Vorbemerkungen

Eine Geschichte des Deutschunterrichts gibt es seit dem 19. Jahrhundert. Die letzte Phase intensiver fachgeschichtlicher Forschung fand in den 1980er und 1990er Jahren statt.10 Während in diesem Zeitraum auch zahlreiche Monographien und Artikel vonseiten der Germanistik wie von Klaus Weimar, Walther Kily, Detlev Kopp, Nikolaus Wegmann und anderen veröffentlicht wurden, ist die Geschichte der Theorien und Praktiken schulischer Literaturvermittlung in Deutschland seit Anfang der Jahrtausendwende bis vor einigen Jahren ausschließlich Gegenstand der Fachdidaktik gewesen – und das hauptsächlich in der bei Lang von

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10

(Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 3: Aktuelle Fragen der Deutschdidaktik. Neuausgabe. Baltmannsweiler, S. 5. Vgl. Matthias, Adolf (1907): Geschichte des deutschen Unterrichts. Handbuch des deutschen Unterrichts an höheren Schulen. Bd. 1. München, S. 349ff. Die preußischen Lehrpläne wurden zusammengefasst in: Wiese, Ludwig (1886): Sammlung der Verordnungen und Gesetze für die höheren Schulen in Preußen. 3. Ausgabe. Bearbeitet und bis zum Anfag des Jahres 1886 fortgeführt von Prof. Dr. Otto Kübler. Director des Königlichen Wilhelms-Gymnasiums zu Berlin. Berlin. Vgl. Rupp, Gerhard (1992): Zur Herausbildung modernen literarischen Verstehens. Lehrmethoden und Schülertätigkeiten im Literaturunterricht in der Zeit von 1767-1834. In: Ders. (Hg.): Deutschunterricht und Lebenswelt in der Fachgeschichte. Frankfurt a.M., S. 75.

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(Nicht-)Verstehen in historischen und gegenwärtigen Kontexten der Professionalisierung

Dawidowski herausgegebenen Reihe Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts.11 Diese integrative Arbeit von Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik zu ihren miteinander verbundenen Fachgeschichten nimmt der Beitrag wieder auf. Auch bietet er Anknüpfungspunkte für prospektive Ansätze, um damit die Möglichkeit zu geben, das pädagogische Brauchtum zu befragen und zu hinterfragen: In welchem Verhältnis stehen die Begriffe, Ziele und Praktiken des literarischen Verstehens im 19. Jahrhundert zu denen des 20. und 21. Jahrhunderts? Der hier verfolgte Ansatz ist begriffsgeschichtlich sowie praxeologisch ausgerichtet. Er assoziiert sich zum einen an eine aktualisierte Ideengeschichte, wie sie Ende der 1990er Jahre im DFG-Schwerpunktprogramm Neue Geistesgeschichte angewendet wurde, und an eine aktualisierte Begriffsgeschichte.12 In diesem Sinn liegt dem Beitrag eine begriffsgeschichtlich reflektierte Ideengeschichte zugrunde. Zum anderen wird mit der Rekonstruktion fachspezifischer Begriffe und ihrer interdisziplinären Verortung die Grundlage dafür bereitet, deren didaktische Transposition zu rekonstruieren. Damit können schließlich »fachliche Praktiken« untersucht und die »Dynamik der Fachentwicklung« beschrieben werden – wie es Pieper und Reh vorschlagen.13 Auf diese Weise ergänzt der Beitrag Rehs Untersuchungen zur ersten deutschdidaktischen Zeitschrift Archiv für den Unterricht im 11

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13

Dass Vermittlung und Wissenschaft von Literatur gerade in ihrer Entstehungszeit und im Verlauf des 19. Jahrhunderts keine distinkten Fächer sind, hat zuletzt Dawidowski noch einmal ausgeführt. Vgl. Dawidowski, Christian (2014): Deutsche Philologie und Literaturpädagogik bis 1890. In: Geschichte der Germanistik. Historische Zeitschrift für Philologien, Jg. 12, H. 45/46, S. 41. Siehe hierzu ebenso Weimar, Klaus (1989): Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft. München. Kopp, Detlev; Wegmann, Nikolaus (1987): »Die deutsche Philologie, die Schule und die Klassische Philologie«. Zur Karriere einer Wissenschaft um 1800. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 61, Sonderheft: Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft. Hg. von Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp. S. 123-151. Vgl. Overhoff, Jürgen (2004): Quentin Skinners neue Ideengeschichte und ihre Bedeutung für die historische Bildungsforschung. In: Jahrbuch für historische Bildungsforschung, Jg. 10, S. 321. Dazu gehört die Annahme, dass das Begriffsinventar und die damit verbundenen Anthropologien, Wissenschaften, Philosophien und Künste im Übergang zwischen 1750 und 1850 einem epochalen Wandel unterworfen waren. Für diese Phase prägte der Historiker Reinhart Koselleck den Ausdruck Sattelzeit. Sie zeichnet sich durch die »Dynamisierung und Verzeitlichung der Erfahrungswelt, die Erschließung einer offenen Zukunft, die Entdeckung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Erfahrung des Übergangs und die Herausbildung eines perspektivischen Geschichtsbewußtseins« aus. Müller, Ernst; Schmieder, Falko (2016): Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium. Berlin, S. 282. Diesbezüglich ergeben sich Überschneidungen zu Michel Foucaults Arbeiten am Wandel der Wissensordnungen und Anthropologien um 1800 und zu einem ausdifferenzierten Quellenkorpus, das über jenes der klassischen Ideengeschichte deutlich hinausgeht. Reh; Pieper (2018): Die Fachlichkeit des Schulfachs. In: Konstruktionen von Fachlichkeit. S. 37. Zum Ausdruck didaktische Transposition vgl. ebd., S. 32.

Hendrick Heimböckel: »das Lesestück solle als Ganzes wirken, was es könne«

Deutschen von 1843 und 1844.14 Schließlich wird hier an ein Vorhaben angeknüpft, das von Gerhard Rupp formuliert, aber nicht umgesetzt wurde: eine Geschichte des modernen Literaturunterrichts zu schreiben, die von den literarischem Verstehen zugrundeliegenden Ästhetiken und Konzepten ausgeht.15 In einer solchen Geschichte, die sich sowohl für die Geschichte kategorialer literaturdidaktischer Begriffe als auch für ihre unterrichtliche Umsetzung interessiert, können nicht nur die bekannten Größen der Literaturdidaktik, sondern müssen auch fachdidaktisch nicht kanonische Quellen rezipiert werden wie Schul- und Landescurricula, Aufsätze von Schüler*innen, Prüfungsordnungen, die Ergebnisse der sozialgeschichtlichen Bildungsforschung und – wie in diesem Beitrag – Lexika.16 Vor diesem Hintergrund werden in dem Beitrag die Semantik und Didaktisierung eines Verstehens rekonstruiert, das im Umgang mit deutschsprachiger

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15 16

Vgl. Reh, Sabine (2016): Literatur lesen lehren im deutschen Unterricht. Lesehinweise in der Zeitschrift »Archiv für den Unterricht im Deutschen in Gymnasien, Realschulen und andern höhern Lehranstalten«, 1843/1844. In: Dies., Denise Wilde (Hg.): Die Materialität des Schreiben- und Lesenlernens. Zur Geschichte schulischer Unterweisungspraktiken seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Bad Heilbrunn, S. 159-190. Für den Hinweis auf die Arbeiten von Reh danke ich Marcello Caruso. Vgl. Rupp (1992): Zur Herausbildung modernen literarischen Verstehens. In: Deutschunterricht und Lebenswelt. S. 76f. Die Trennung von Jungen und Mädchen in Hinblick auf die Klassenzusammensetzung und Schulformen, die hauptsächlich auf Schüler bezogenen Ausführungen in den Artikeln der Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens sowie der Ausschluss junger Frauen vom Studium legen nahe, dass der Deutschunterricht für Schülerinnen eine andere Funktion hatte und damit auch andere Formen der Auseinandersetzung mit Literatur im Unterricht antizipiert wurden. Auch ist weibliche Autorschaft um 1800 prekär gewesen, genauso wie Frauen die produktive Teilhabe am klassischen Kanon verwehrt wurde. So wie die Geschichte der Produktion und Rezeption von Literatur geschlechtsspezifisch gewesen ist, war auch das literarische Verstehen im 18. und 19. Jahrhundert in dieser Weise semantisiert. Im Folgenden werden daher die Ausdrücke aus diesen Kontexten in dem Genus antizipiert, wie es von den Verfassern der untersuchten Texte intendiert war, also hauptsächlich Schüler, Dichter und Autor. Daher wird nur dann nicht das männliche Genus verwendet, wenn in den untersuchten Artikeln auch das weibliche Geschlecht intendiert wurde. Siehe zu Ansätzen der Geschichte eines an Schülerinnen gerichteten Deutschunterrichts: Schwalb (2000): Mädchenbildung und Deutschunterricht. Siehe hierzu ebenfalls: Albisetti, James C. (2007): Mädchenund Frauenbildung im 19. Jahrhundert. Bad Heilbrunn. Vgl. zur prekären Situation weiblicher Autorschaft um 1800 etwa Hilmes, Carola: Vom Skandal weiblicher Autorschaft. Publikationsbedingungen für Schriftstellerinnen zwischen 1770 und 1830. URL: www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/epoche/hilmes_autorschaft.pdf [Stand: 01.01.2022]. Kleßen, Patricia (2022): »There’s so little scope for imagination in cookery. You just have to go by rules.« Überlegungen zum Geschlecht der Einbildungskraft um 1800. In: Hendrick Heimböckel (Hg.): Einbildungskraft um 1800. Interdisziplinäre Perspektiven auf ihre Begriffe, Phänomene und Funktionen. Paderborn, S. 17.

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(Nicht-)Verstehen in historischen und gegenwärtigen Kontexten der Professionalisierung

Literatur in der Schule in der Mitte des 19. Jahrhunderts von Schul- und Hochschullehrern antizipiert wurde.17 Im Horizont der Analysen steht die Frage nach den pädagogischen Begriffen spezifisch literaturbezogener Formen des Verstehens und den Kontinuitäten und Diskontinuitäten ihrer Semantiken und Praktiken in der Geschichte der schulischen Literaturvermittlung.18 Es werden zunächst die expliziten Nennungen von Verstehen und Nichtverstehen sowie ihre Derivate untersucht, bevor ein Textverstehen von einem spezifisch literarischen Verstehen abgegrenzt wird. Ebenso werden die impliziten Bezüge auf Verstehen und Nichtverstehen analysiert. In diesem Zusammenhang werden auch die Funktionen des Literaturunterrichts und damit des Verstehens von Literatur als Bildungsziel rekonstruiert. Erst aus diesem Zusammenhang wird ersichtlich, warum für das literarische Verstehen ein Modus des Erlebens und die darauf ausgerichtete Assimilation des Textes und der in ihm enthaltenen Gedanken des Autors wesentlich sind. Die einzelnen Passagen werden ausschließlich textnah gelesen, um die impliziten Semantiken durch Herstellung von Äquivalenzbeziehungen und Oppositionen zu Isotopien zu abstrahieren. Gegenstand sind die dafür relevanten Artikel aus der Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens.19 Die Auswahl der 36 Artikel unterliegt der heuristischen Vermutung, dass sie für die Konzeption des literarischen Verstehens in den verschiedenen Schulformen und -stufen im deutschsprachigen Raum grundlegend sind. Einige dieser Artikel wie Seelenlehre haben sich für den untersuchten Zusammenhang als gänzlich unbedeutend herausgestellt im Gegensatz zu solchen wie Leseunterricht, Deutsche Sprache, Jugendlectüre und Aufsätze. Die Encyklopädie zeichnet sich dadurch aus, dass sie das umfangreichste didaktische Lexikon des 19. Jahrhunderts war. Damit ermöglichen die Analysen Rückschlüsse auf Begriffe, Vermittlungspraktiken, Methoden und Ziele des Deutschunterrichts aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig erlaubt die Untersuchung des schulisch antizipierten

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Siehe zum männlichen Genus hier und im Folgenden Fußnote 16. Vgl. zur Untersuchung historischer Semantiken als Methode der Geschichte des Deutschunterrichts Dawidowski (2018): Fachgeschichte in der Literaturdidaktik. In: Empirische Forschung in der Deutschdidaktik. S. 151. Die Artikel sind in alphabetischer Reihenfolge: Ästhetische Bildung; Ästhetische Bildung in der Volksschule; Aufsätze (deutsche) in höheren Anstalten; Aufsätze (deutsche) in höheren Anstalten (Zweiter Artikel); Aufsätze in der Volksschule; Bildung; Classische Schullektüre; Das Böse; Deutsche Sprache in der Volksschule; Deutsche Sprache in höheren Schulen; Didaktik oder Unterrichtslehre; Die Phantasie; Erkenntnisvermögen; Erziehung, verkehrte Richtung in der selben; Genie; Gesang; Göthe, Lectüre G. in pädagogischer Hinsicht; Leseunterricht; Gymnasium; Jacotot, Joseph; Jugendlectüre, Jugendliteratur; Lessing; Märchen, Fabel; Methode. Erster Artikel; Methode. Zweiter Artikel; Muttersprache; Poesie; Poetik; Realschulen; Schiller, Johann Christoph Friedrich; Schullesebuch; Seelenlehre (Psychologie); Sprache; Stilistik; Volksschule.

Hendrick Heimböckel: »das Lesestück solle als Ganzes wirken, was es könne«

literarischen Verstehens auch Rückschlüsse auf Formen des Lesens von Schriftsteller*innen und Literaturwissenschaftler*innen. Dadurch, dass zur Geschichte des Deutschunterrichts in der Mitte des 19. Jahrhunderts hauptsächlich die bekanntesten literaturdidaktischen Monographien im Kontext des Deutschunterrichts untersucht wurden, erweitert der Beitrag den Quellenfundus der Literaturdidaktik. So wird ebenfalls Aufschluss über den allgemeinen didaktischen Wert gegeben, dem Literatur beigemessen wurde. Es handelt sich demnach gleichsam um einen Beitrag zur Geschichte der Schulbildung.20 Die Ausführungen bewegen sich also im interdisziplinären Raum der Literaturwissenschaft, der Literaturdidaktik und der historischen Bildungsforschung. Im Kontext der historischen Bildungsforschung werden hier »Imaginationen, Utopien und Realitäten, Visionen und Praktiken zu dichten Beschreibungen verknüpft«,21 um auf diese Weise die »Konstruktion des Menschen« im Kontext des Deutschunterrichts in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu untersuchen. Ausgangspunkt sind die aktuellen Debatten über die Kategorie des literarästhetischen Verstehens in der Deutschdidaktik und damit die gegenwärtige Schulforschung.22 Gleichzeitig sollen die Ergebnisse die gegenwartsbezogene Deutschdidaktik und die Praktiken des Deutschunterrichts bereichern, indem sie Aufschluss über Herkunft, Veränderung der von ihnen in der Deutschdidaktik verwendeten Begriffe und in der Schule antizipierten Konstruktionen des Menschen geben.23 Ebenso hebt der Beitrag auf eine Integration von Sozial- und Ideengeschichte ab: Ideen transformieren sich im Kontext der Sozialgeschichte, soziale Veränderungen werden durch die Prägekraft von Ideen beeinflusst.24

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Darüber, ob die hier untersuchten Formen literarischen Verstehens tatsächlich im Unterricht realisiert wurden, können nur Vermutungen angestellt werden – sichere Aussagen lassen sich daraus jedoch nicht ableiten. Vgl. Beisbart (2014): Geschichte des Deutschunterrichts und seiner Didaktik. In: Taschenbuch des Deutschunterrichts. S. 4. Tenorth, Heinz-Elmar (2018): Historische Bildungsforschung. In: Rudolf Tippelt, Bernhard Schmidt-Hertha (Hg.): Handbuch Bildungsforschung. Wiesbaden, S. 23. Vgl. zum Gegenwartsbezug der historischen Bildungsforschung ebd., S. 18. Vgl. zur Kritik an der mangelnden Integration der Ergebnisse historischer Bildungsforschung in die empirische Bildungsforschung: Zymek, Bernd (2015): Wozu (noch) Bildungsgeschichte und historische Bildungsforschung. In: Die Deutsche Schule, Jg. 107, H. 2, S. 215. Vgl. zur Ergänzung der sozial- durch ideengeschichtliche Ansätze: Lüth, Christoph (2000): Entwicklung, Stand und Perspektive der internationalen Historischen Pädagogik am Beginn des 21. Jahrhunderts. Am Beispiel der International Standing Conference of the History of Education (ISCHE). In: Petra Götte (Hg.): Historische Pädagogik am Beginn des 21. Jahrhunderts. Bilanzen und Perspektiven. Christa Berg zum 60. Geburtstag. Essen, S. 100.

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(Nicht-)Verstehen in historischen und gegenwärtigen Kontexten der Professionalisierung

II.

Zur Entwicklung und Transformation des schulbezogenen literarischen Verstehens von deutschsprachiger Literatur in der Sattelzeit

Bis ins 18. Jahrhundert wurde das Verstehen klassischer Texte im Lateinunterricht nicht problematisiert.25 Die philologischen Verfahren der Erklärung, der Übersetzung und der regelgeleiteten Nachahmung sollten genügen, um das Textverstehen zu sichern.26 Seit den 1740er Jahren gibt es erste Belege dafür, dass deutschsprachige Texte nicht mit diesen »rhetorisch-poetischen Imitationsübungen« in universitären Veranstaltungen besprochen wurden, sondern auf Grundlage der jungen philosophischen Ästhetik. Um 1770 finden sich erste Zeugnisse, die neue intendierte Vermittlungsformen im schulischen Unterricht deutscher Literatur verzeichnen.27 Exemplarisch hierfür stehen die Bemühungen von Johann Georg Sulzer, Verfasser der ersten deutschsprachigen Enzyklopädie zur Ästhetik, und Ernst Christian Trapp, einer der ersten staatlichen Ausbilder von Lehrern im deutschsprachigen Raum. Während Sulzer Verfahren für das Verstehen deutschsprachiger Texte vom Feld der Ästhetik her entwickelt, geht Trapp die Frage nach dem Verstehen von Literatur seitens der Schüler an.28 Weimar kennzeichnet diese neue Thematisierungsweise von Texten in Unterrichtssituationen mit der Phrase »Text als Leserobjekt«: »[D]er Text erscheint als etwas Fremdes in seiner Differenz zum Denken und Sprechen des Lesers. Und die Eigenart und Würde dieser neuen Variante liegt

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Vgl. zu einem Forschungsüberblick zur Vorgeschichte des deutschen Unterrichts mit einem stärkeren Bezug zur rhetorischen Tradition: Reh (2016): Literatur lesen lehren im deutschen Unterricht. In: Die Materialität des Schreiben- und Lesenlernens. S. 163ff. Vgl. Kopp; Wegmann (1987): »Die deutsche Philologie, die Schule und die Klassische Philologie«. In: Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. S. 130. Vgl. ebd. Und vgl. Weimar (1989): Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft. S. 149. Mit dem Jahr 1770 markiert Rupp den Beginn des modernen literarischen Verstehens, dessen Entstehung und Entwicklung er zwischen 1767 und 1834 rekonstruieren wollte. Dieses Vorhaben hat er jedoch nicht weiter ausgeführt. Vgl. Rupp (1992): Zur Herausbildung modernen literarischen Verstehens. In: Deutschunterricht und Lebenswelt. S. 78f. Seine Thesen, dass im 18. und 19. Jahrhundert die hermeneutische Überzeugung galt, Regeln zum Textverstehen nicht fixieren zu können, und dass nach 1770 die Orientierung an Musterstücken im Sinn der rhetorischen Tradition überkommen sei, lassen sich so nicht festhalten. Vgl. beispielsweise Jägers Ausführung zum Deutschunterricht in Bayern: Jäger, Georg (1991): Der Deutschunterricht auf Gymnasien 1780 bis 1850. In: Josef Kopperschmidt (Hg.): Rhetorik. Bd. 2: Wirkungsgeschichte der Rhetorik. Darmstadt, S. 227ff. Darüber hinaus wird der Deutschunterricht in Preußen erst 1831 als eigenständiges Schulfach im Reglement für die Prüfungen der Kandidaten des höheren Schulamts benannt. Vgl. Frank, Horst Joachim (1973): Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945. München, S. 226f. Vgl. Weimar (1989): Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft. S. 150f. Siehe zum männlichen Genus hier und im Folgenden Fußnote 16.

Hendrick Heimböckel: »das Lesestück solle als Ganzes wirken, was es könne«

darin, die Fremdheit möglichst abzubauen und zu überwinden.«29 Methoden dieser Vermittlung sind zunächst die intensive Lektüre deutscher Texte in der Schule und im Privaten sowie deren Erklärung.30 Die Auslegung als mechanische Methode der Übersetzung und Erklärung einzelner sprachlich schwieriger Passagen genügt dem veränderten Maßstab nicht mehr, der an schöne Literatur und Philosophie gestellt wurde: »All dies steht jetzt unter dem Verdacht, bei einem nur oberflächlichen Verstehen des Texts stehenzubleiben.«31 Für das Verstehen von Philosophie und Literatur entwickelt sich eine ästhetische Tiefensemantik, die der schönen Literatur und der Philosophie eine Komplexität zuspricht, die kongeniale Leser*innen oder im Verstehen geschulte Leser*innen fordert.32 Bis sich jedoch ein Unterricht in deutschsprachiger Literatur, der diesem veränderten Vermittlungsanspruch in der Schule Rechnung trägt, kanonisch, methodisch und ideologisch durchsetzen kann, muss ein weiteres Jahrhundert vergehen. Die Altphilologie wird mit Anfang des 19. Jahrhunderts zur »Leitdisziplin der Reorganisation des Erziehungssystems.«33 Der Deutschunterricht bekommt vergleichen mit dem in Latein und Griechisch wenig Raum: Detlev Kopp ermittelt im Schnitt 22 Stunden Deutsch pro Jahr im 19. Jahrhundert, wohingegen Latein und Griechisch fast sechsmal so viel, nämlich 128 Stunden, eingeräumt werden. Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert trennen sich akademische und gymnasiale Philologie und büßt die Altphilologie ihre Vormachtstellung als schulisches Leitbild ein.34 Im Verlauf der ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts zeichnet sich jedoch der Einfluss romantischer, klassischer und idealistischer Philosophien, Poetiken und Anthropologien in den Theorien der Literaturvermittlung ab.35 Das untere Er29 30 31 32 33

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Ebd., S. 152. Vgl. ebd. Kopp; Wegmann (1987): »Die deutsche Philologie, die Schule und die Klassische Philologie«. In: Von der gelehrten zur disziplinären Gesellschaft. S. 137. Vgl. ebd. Kopp, Detlev (1994): (Deutsche) Philologie und Erziehungssystem. In: Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart, S. 682. Vgl. ebd. Vgl. ebenso: Dawidowski (2014): Deutsche Philologie und Literaturpädagogik. In: Geschichte der Germanistik. S. 52f. Vgl. Matthias (1907): Geschichte des deutschen Unterrichts. S. 202f. Frank (1973): Geschichte des Deutschunterrichts. S. 254. Helmers, Hermann (1969a): Das Lesebuch als literarisches Arbeitsbuch. In: Ders. (Hg.): Die Diskussion um das Deutsche Lesebuch. Darmstadt, S. 183f. Hegele, Wolfgang (1996): Literaturunterricht und Literarisches Leben in Deutschland (1850-1990). Historische Darstellung – systematische Erklärung. Würzburg, S. 204. Beisbart (2014): Geschichte des Deutschunterrichts und seiner Didaktik. In: Taschenbuch des Deutschunterrichts. S. 22f. Die Ideengeschichte zu diesen Einflüssen müsste jedoch erst noch geschrieben werden.

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kenntnisvermögen der Einbildungskraft wird trotz seiner prekären Stellung in den Diskursen der Aufklärung als notwendiges Medium der Lektüre und förderungswürdiges Bildungsziel gedacht.36 Das Verstehen klassischer Literatur sollte in einer Kommunikation mit dem Geist des Autors kulminieren.37 Die Phantasie des wahren Dichters wird als unendlich gedacht, dem auch die Unabgeschlossenheit des Verstehens korrespondiert: Die höchste Schönheit seiner [des Dichters; d. Verf.] Ideen besteht gerade darin, daß sie nicht in Worte gefaßt, nicht von der Einbildungskraft erreicht, nicht in eine bestimmte Anschauung eingekreist werden können; er fesselt uns durch das Unnennbare und Ueberschwengliche seiner Ideen, die das Gemüth nie zu einem bestimmten Abschluß über sie kommen lassen.38 Die Rezeption und Umsetzung dieser akademischen und intellektuellen Literarästhetik beschränkt sich jedoch auf eine kleine Zahl von Lehrern. Zwischen 1784 und 1815 hat Weimar nur 69 Vorlesungen identifiziert, die deutsche Literatur in der Universität besprechen, die darüber hinaus nicht speziell für angehende Lehrer und ihre beruflichen Anforderungen gehalten wurden.39 Die Kritik an der unzureichenden Lehrerausbildung ist damals wie heute ein Thema: »Durch das ganze 19. Jahrhundert zieht sich die Dauerklage der Praktiker über die mangelhafte Berufsvorbereitung der Deutschlehrer und die daraus resultierende unzureichende Qualität des von ihnen erteilten Unterrichts.«40 Bis weit ins 19. Jahrhundert ist die fachdidaktische und schülerorientierte Ausbildung von Lehrenden kaum Gegenstand der

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Vgl. etwa Kopp; Wegmann (1987): »Die deutsche Philologie, die Schule und die Klassische Philologie«. In: Von der gelehrten zur disziplinären Gesellschaft. S. 139. Siehe zur Einbildungskraft als Medium und Ziel von Lebensentwürfen anhand des Romans um 1800: Voßkamp, Wilhelm (2004): »Ein anderes Selbst«: Bild und Bildung im deutschen Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Göttingen. Siehe zur Veränderung der Semantik der Einbildungskraft im 18. Jahrhundert: Heimböckel, Hendrick (Hg.) (2022): Einbildungskraft um 1800. Interdisziplinäre Perspektiven auf ihre Begriffe, Phänomene und Funktionen. Paderborn. Vgl. Kopp; Wegmann (1987): »Die deutsche Philologie, die Schule und die Klassische Philologie«. In: Von der gelehrten zur disziplinären Gesellschaft. S. 139. Dieses Ziel des Verstehens von Literatur geht zurück auf die um die Wende zum 19. Jahrhundert formulierte altphilologische Hermeneutik. Vgl. Kopp (1994): (Deutsche) Philologie und Erziehungssystem. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. S. 726. Siehe zur Schreibweise im männlichen Genus hier und im Folgenden Fußnote 16. Sauer, Johann G.; Neuhofer, Gerhard A. (1810): Vorlesungen über deutsche Klassiker für Gebildete und zum Gebrauche in den höheren Lehranstalten. (Erster Cursus für die höhere Klasse). Tübingen, S. XXIV, zit. n. Kopp; Wegmann (1987): »Die deutsche Philologie, die Schule und die Klassische Philologie«. In: Von der gelehrten zur disziplinären Gesellschaft. S. 141. Vgl. Weimar (1989): Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft. S. 161ff. Kopp (1994): (Deutsche) Philologie und Erziehungssystem. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. S. 704.

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Lehrerseminare, der Vorlesungen und auch philologischer Zeitschriften.41 Der erste Interpretationskurs neuer deutscher Literatur fand in Göttingen 1886/87 statt.42 Es blieb den Lehrern selbst überlassen, durch eigene Fortbildung, Lektüre und Erfahrungen in der Schule entsprechende Vermittlungsformen für den Deutschunterricht zu entwickeln. Sie speisen sich aus zeitgenössischer sowie tradierter Philosophie und Theologie, Pädagogik und Philologie, Hermeneutik und Ästhetik. Den literarischen Stoff müssen sie sich mit den seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert vielfach erschienen Lesebüchern und Ganzschriften selbst aneignen.43 Die zentrale Vermittlung von Literatur in der Schule war bis in die 1840er Jahre die Mediatisierung der Lektüre in Form der Erklärung seitens des Lehrers.44 Danach entsteht ein aus dem Geniekult der Weimarer Klassik, der Altphilologie und der Hermeneutik erwachsener Modus des literarischen Verstehens, dessen Ziel nicht der Text, sondern der Dichter selbst ist.45 Mit den Worten von Weimar wandelt sich der Text als Leserobjekt zum Text als Schreiberprodukt.46 »[N]icht mehr das Buchstäbliche am Text wird verstanden, auch nicht der einfache Sachgehalt, sondern der produktive ›Geist‹, der als philosophische Prämisse den Text in seinem Innersten zusammenhält.«47 Das Erleben der Texte seitens der Schüler in Form von Rezitation und Deklamation sollte das Einleben sichern.48 Einige Jahre im Vorfeld der Veröffentlichung des ersten Bandes der Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens 1859 sind die für das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts prägendsten literaturdidaktischen Schriften für den Deutschunterricht erschienen: Robert Heinrich Hieckes Deutscher Unterricht auf deutschen Gymnasien (1842), der Lehrerband aus Philipp Wackernagels Deutschem Lesebuch (1843) und Rudolf von Raumers in der Geschichte der Pädagogik (1852) seines Vaters veröffentlichte Abhandlung Unterricht im Deutschen.49 In der Encyklopädie 41 42 43 44 45 46

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Vgl. ebd., S. 705, 708f., 713. Vgl. ebd., S. 711. Siehe zur Geschichte des Lesebuchs um 1800: Killy, Walther (1969): Zur Geschichte des deutschen Lesebuchs. In: Helmers: Die Diskussion um das Deutsche Lesebuch. S. 354-377. Vgl. Jäger (1991): Der Deutschunterricht auf Gymnasien 1780 bis 1850. In: Rhetorik. S. 239f. Vgl. Weimar (1989): Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft. S. 403. Vgl. ebd., S. 408. Obwohl Weimar ein geschlechtsneutrales idealtypisches Konstrukt von Leser*innen und Schreiber*innen intendierte, zeigt die Geschichte des literarischen Verstehens an höheren Schulen, dass in diesem Kontext im Kern junge Männer adressiert gewesen sind. Daher wird auch hier das männliche Genus verwendet. Kopp; Wegmann (1987): »Die deutsche Philologie, die Schule und die Klassische Philologie«. In: Von der gelehrten zur disziplinären Gesellschaft. S. 138. Vgl. Kopp (1994): (Deutsche) Philologie und Erziehungssystem. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. S. 724f. Siehe zu Hiecke und zur Methodik des literarischen Verstehens bei Hiecke: Abels, Kurt (1986): Zur Geschichte des Deutschunterrichts im Vormärz. Robert Heinrich Hiecke (1805-1861). Leben, Werk, Wirkung. Köln u.a. Weimar (1989): Geschichte der deutschen Literaturwissen-

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wurde, wie zu sehen sein wird, vor allem Hiecke wegen seiner analytischen Methode stark kritisiert, wohingegen von Raumer und Wackernagel wegen ihrer unwissenschaftlichen und gefühlsbetonten Vermittlung von Literatur eher affirmativ begegnet wurde.

III. Literarisches Verstehen in der Encyklopädie III.I Philologische Vorbemerkungen Die Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens wurde in zwei Auflagen veröffentlicht. Der erste Band der ersten Auflage erschien 1859, der elfte und letzte Band 1878. Schon bevor die erste Auflage abgeschlossen wurde, erschien 1876 der erste Band der überarbeiteten zweiten Auflage, die mit dem zehnten Band 1887 vollendet wurde. Bis zum vierten Band der zweiten Auflage gab die Encyklopädie Besser in Gotha heraus. Die letzten Bände erschienen bei Fues in Leipzig. Hauptverantwortlicher Herausgeber war bis zum sechsten Band der zweiten Auflage der württembergische Schulmann und -leiter Karl Adolf Schmidt. Dass ihm für diese Herausgeberschaft die Ehrendoktorwürde der philosophischen Fakultät der Universität Tübingen verliehen wurde, unterstreicht das Renommee der Encyklopädie.50 Die zweite Auflage brachte der Lehrer und Schulleiter Wilhelm Schrader zu Ende. Mitherausgeber beider Auflagen waren der evangelische Theologe Christian D. F. von Palmer und der Lehrer Johann David Wildermuth. Die Encyklopädie beginnt mit einem Vorwort im ersten Band und führt bis zum zehnten Band die Artikel in alphabetischer Reihenfolge an. Der elfte Band ist ergänzend, beginnt mit einem Schlusswort, dem die nachgereichten Artikel folgen und schließt mit der Systematik der Encyklopädie sowie der Nennung der Autoren mit ihren Artikeln. Die Systematik umfasst vier Abteilungen sowie zwei Unterabteilungen, denen alle Artikel zugeordnet sind: Allgemeine Pädagogik nebst ihren Hülfswissenschaften, Schulkunde, Geschichte der Pädagogik und Statistik. Hierunter fallen Artikel zu den Schulformen, den Fächern, Methoden, Inhalten und klassischen Schriftstellern genauso wie zeittypische Artikel zu den Lemmata Das Böse, Einsperren, Strafen und Falschheit. Wegen der Reichsgründung 1871 wurden in der zweiten Auflage hauptsächlich schulrechtliche sowie statistische Artikel verändert, Literatur ergänzt und Po-

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schaft. S. 389ff. Vgl. zum literarischen Verstehen bei Wackernagel und Raumer: Frank (1973): Geschichte des Deutschunterrichts. S. 296ff., 303ff. Vgl. Schott, Theodor (1890): Schmid, Karl Adolf. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 31. URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd104178329.html#adbcontent [Stand: 01.01.2022].

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lemiken getilgt.51 Artikel zu den Schulformen und zum Kanon sowie solche, die die »eigentlichen Hauptgrundsätze der Pädagogik und Didaktik«52 betreffen, sind gleichgeblieben. Dazu zählen die meisten der Artikel, die die Grundlage dieser Studie bilden. Im Schlußwort lobt Schmid das Werk. Dessen Stellung in Deutschland sei beachtlich und habe zur Verbreiterung der deutschen Wissenschaft über die Grenzen Europas hinaus geführt.53 Die zwei Auflagen, der Umfang des Werkes und sein Alleinstellungsmerkmal als Enzyklopädie der gesamten Pädagogik und des gesamten Schulwesens geben Schmids Aussage jedoch eine gewisse Plausibilität. Die Vorworte zu beiden Ausgaben vermitteln über den umfassenden Anspruch des Herausgebers und seiner Mitarbeiter die ideologische Ausrichtung der Artikel: »Leitende Norm ist uns in allen Kernpuncten das Evangelium«. In diesem Sinn wird Pädagogik als »christliche Wissenschaft« aufgefasst.54 Trotz der vielen Verfasser und der damit einhergehenden unterschiedlichen pädagogischen, philosophischen und ästhetischen Standpunkte spricht Schmid dem Projekt »eine erfreuliche Einheit des Geistes in wesentlichen Dingen« zu.55 Was zu den »wesentlichen Dingen« gehört, bleibt unausgesprochen. Literarisches Verstehen gehört, wie zu sehen sein wird, dazu. Die Hoffnung tragende Schlussformel mag diese Gemeinsamkeiten in zwei Punkten zusammenfassen, den der religiösen und nationalen Fundierung des Projektes: »[M]öge es in seinem Theil unter dem Segen des Herrn reiche Früchte tragen für die Jugend des Vaterlandes!«56

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Vgl. Schmid, Karl Adolf (2 1876): Vorwort zur ersten Auflage. Vorwort zur zweiten Auflage. In: Ders. (Hg.): Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens. Bearbeitet von einer Anzahl Schulmänner und Gelehrten. Unter Mitwirkung der DD. Palmer, Wildermuth, Hauber. Bd. 1: A-Dinter. Gotha, S. VI, VIII. Ebd., S. VI. Vgl. Schmid, Karl Adolf (1878): Schlußwort. In: Ders.: (Hg.): Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens. Bd. 11: Rußland – Lateinischer Unterricht – Sprache. Gotha, S. V. [Für alle weiteren Artikel der ersten Auflage der Encyklopädie des gesammten Erziehungsund Unterrichtswesens erfolgt der Verweis nur unter der Angabe Encyklopädie.] Angesichts dieser Aussage überrascht es, dass im Register eines der populärsten Rezensions- und Anzeigenorgane im deutschsprachigen Raum des 19. Jahrhunderts, dem Literarischen Centralblatt für Deutschland (1850-1944) zwischen 1875 und 1880 keine Besprechung der Encyklopädie verzeichnet ist. Schmid (2 1876): Vorwort zur ersten Auflage. In: Encyklopädie. Bd. 1: A-Dinter. S. IV. Ebd., S. V. Ebd., S. VI.

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III.II Denotatives Wortverstehen: explizite Verwendungen von Verstehen, Verständnis, Verständlichkeit, verstehen Der Ausdruck Verstehen wird im Zusammenhang mit sprachlichen Zeichen in dem Artikel Sprache einem heute geläufigen Sinn von richtig auffassen, richtig nachvollziehen definiert. Sprachzeichen korrespondieren sowohl mentale Abbilder als auch außenweltliche Denotate: »Durch Zeichen soll der Gedanke […] hervorgerufen […] werden; um das [Sprach-]Zeichen zu verstehen, muß man die Sache und das Zeichen früher schon gekannt haben.«57 Im Rahmen des sowohl historischen als auch intratextuellen christlichen Kontexts wird Sprache als gottgegeben aufgefasst.58 Im Artikel zum Leseunterricht ist das zielorientierte Synonym zu Verstehen: Verständnis, ebenso denotativ semantisiert. Das lautrichtige Lesen wird von einem Lesen unterschieden, das die Bedeutung einzelner Worte decodiert und damit ihr Verständnis ermöglicht.59 Neben diesen in der Terminologie der Kognitionspsychologie bezeichneten hierarchieniedrigen Formen des Textverstehens wird der Ausdruck Verstehen auch im Sinn hierarchiehöherer Formen des Textverstehens verwendet: »Leichtes und richtiges Verständnis dessen, was im Neuhochdeutschen gelesen oder gehört wird […], das ist das Ziel des Sprachunterrichts für die Volksschüler«,60 schreibt Karl Christoph Stockmayer im Artikel zur Deutschen Sprache in der Volksschule. Für den Gesangsunterricht sei es ebenfalls nötig, »daß der Schüler den Text vollständig verstehe.«61 Die gleiche Semantik gilt für den Ausdruck Verständlichkeit im Artikel zum Schullesebuch: »Eine Forderung, die man früher allgemein an Inhalt und Darstellung des Lesebuchs stellte […], ist die Verständlichkeit.«62 Hier werden Ziele des Leseunterrichts sowie die Funktion des Leseunterrichts für andere Teilaspekte des Fachs wie dem Singen, Zuhören und Lesen pragmatischer Texte gekennzeichnet. In der Terminologie der Kognitionspsychologie werden hier hierarchiehöhere Kompetenzen des denotativen Leseverstehens angesprochen.63 Der Artikel zum Schullesebuch erweitert darüber hinaus die Medien des Leseverstehens und führt einen Bedeutungsaspekt von Nichtverstehen für die Lektüre und für das Ziel des Leseunterrichts an: »Das Schullesebuch muß höher stehen als der Schüler; er 57 58 59 60 61 62 63

Lazaraus, [?] (1878): Sprache. In: Encyklopädie. Bd. 11: Rußland – Lateinischer Unterricht – Sprache. S. 698. Die zeitgenössische Schreibweise der Artikel wird beibehalten. Vgl. ebd., S. 700f. Stockmayer, [?] (1865): Leseunterricht. In: Encyklopädie. Bd. 4: Kirche-Muttersprache, S. 379. Ders. (1859): Deutsche Sprache in der Volksschule. In: Encyklopädie. Bd. 1: A-Dinter, S. 940. Palmer, Christian D. F. (1860): Gesang. In: Encyklopädie. Bd. 2: Director-Globus, S. 751. Marg, [?] (1870): Schullesebuch. In: Encyklopädie. Bd. 8: Schule-Sophisten der römischen Kaiserzeit, S. 164. Vgl. zur Unterscheidung zwischen hierarchiehohen und hierarchieniedrigen Formen des Textverstehens die Einleitung in diesem Band und die dort zitierte Literatur.

Hendrick Heimböckel: »das Lesestück solle als Ganzes wirken, was es könne«

soll ja an ihm emporwachsen.«64 Die für den Unterricht vorgesehenen Texte des Lesebuchs haben die schülerseitigen Fähigkeiten zu überschreiten. Ebenfalls in diesem Sinn wird Verstehen im Artikel Jugendlectüre verwendet. So müsse die Lektüre Kinder einerseits herausfordern, indem der entsprechende Text den Erfahrungshorizont überschreitet.65 Andererseits wird hier ein deutlicher Unterschied zwischen den Weisen des Lesens und den damit einhergehenden Formen des Verstehens in Hinblick auf Kinder und Erwachsene festgestellt: [D]ie Lebenserfahrungen des Kindes […] sind weit beschränkter; und es bleibt ihm neben dem spannenden Interesse an dem Verlaufe der Geschichte die Arbeit übrig, die neue Welt, Situationen, Charaktere etc., seinen eigenen Vorstellungen zu assimilieren. […] [A]ber die Schwierigkeit des Verstehens und Verarbeitens darf doch auch nicht allzusehr gesteigert […] werden.66 Übersetzt in die Sprache der kognitionspsychologischen Lesemodelle bedeutet dieses Zitat einerseits, dass es für Kinder schwieriger ist, hierarchiehöhere Fähigkeiten zur Konstruktion des Gelesenen in Situationsmodellen und Formen globaler Kohärenz zu aktivieren. Der Horizont von Kindern in Hinblick auf Wortschatz und ihr geringes Erfahrungswissen intensivieren die Herausforderungen im Textverstehen. Auf der anderen Seite müssen Kinder jedoch genau diese Erfahrung machen, durch die Lektüre mit Zusammenhängen konfrontiert zu werden, die sie nicht kennen. Ziel des Textverstehens wäre es also auch, sich etwas Unbekanntes zu erschließen – das mag auf die Welt verweisen oder sich selbstreferentiell im Raum der Zeichen bewegen. Das Noch-nicht-Verstehen wird trotz der Herausforderung für Kinder, Textverstehen zu erzielen, zum Ausgangspunkt der Lektüre. Im Artikel Märchen, Fabel weist der Ausdruck Verstehen eine nicht weiter ausgeführte Tiefensemantik auf: »Vom Verstehen wollen wir gar nicht reden; denn was verstehen überhaupt die ganz Kleinen? […] So sollen sie [die Kinder; d. Verf.] denn haben [im Sinn von lesen; d. Verf.], nicht was sie zu verstehen, sondern was sie zu lieben, woran sie sich zu freuen fähig sind. […] Das Wort verstehen versteht unsere Zeit nicht!«67 Hier wird dem Verstehen erstens eine umfassendere Bedeutung zugesprochen als dem denotativen Sprachverstehen. Zweitens wird die Fähigkeit zu verstehen von der ontogenetischen Entwicklung abhängig gemacht. Drittens ist das Entwicklungsstadium des Kindes ein Kriterium für die Auswahl der Lektüre. 64 65 66 67

Marg (1870): Schullesebuch. In: Encyklopädie. Bd. 8. S. 164. Vgl. Kühner, [?] (1862): Jugendlectüre, Jugendliteratur. In: Encyklopädie. Bd. 3: Göthe-Kindsmädchen, S. 834. Ebd. Beesenmeyer, [?] (1865): Märchen, Fabel. In: Encyklopädie. Bd. 4: Kirche-Muttersprache, S. 577. Der Verfasser bezieht sich in diesem Zusammenhang implizit auf Raumer, siehe zur Rezeption Raumers im Kontext der Encyklopädie: Marg (1870): Schullesebuch. In: Encyklopädie. Bd. 8. S. 165.

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Verstehen ist tiefer und umfassender, als dass Kinder die damit verbundenen Phänomene auffassen können. Da Kinder für diese Komplexität des Verstehens noch nicht reif sind, werden sie mit Literatur konfrontiert, die ihnen gefällt. Hoppe führt im Artikel zum Stil aus, dass der Deutschunterricht im Vergleich zum altsprachlichen Rhetorik- und Grammatikunterricht nicht mehr das Einzelne mit einer systematischen Zergliederung in den Blick nehmen soll. Es komme nicht auf das Verständnis des Einzelnen, sondern des Ganzen an: Die Kenntnis der Vocabeln, der Synonyma, der Tropen, manches von der Stellung der Worte und Sätze wird durch wiederholten, gelegentlichen Hinweis bei der Lectüre dem Schüler eingeprägt werden, ohne daß das Hauptziel, das Verständnis der Lectüre, außer Acht gelassen wird. Das Verständnis der Lectüre ist auch für das Deutsche das erste Ziel und der wichtigste Grund des Lesens.68 Dieser Fokus auf das »Verständnis der Lectüre« erfordert neue Methoden beziehungsweise neue Formen des Lesens und der Vermittlung von Literatur. Der Ausdruck Verstehen, sein Synonym Verständnis sowie die verbale Form verstehen wurde zum einen im Kontext von Texten ohne spezifisch literarästhetischen Bezug entfaltet: die Decodierung sprachlicher Zeichen (Wortverstehen), die Bildung von lokaler Kohärenz (Satzverstehen), die Bildung von globaler Kohärenz (Textverstehen), Herausforderungen zur Bildung von lokaler und globaler Kohärenz (Nochnicht-Verstehen). Damit verbunden sind Ziele und Medien des Textverstehens. Andererseits wurde eine Tiefensemantik von Verstehen angedeutet. Nach der Volksschule sollen Jugendliche zu einem komplexeren Verstehen in der Lage sein. Dessen Medien hingegen haben das Niveau der Schüler zu überschreiten. Hier ist nicht das Verstehen der Texte selbst das Ziel, sondern etwas mit ihnen zu lernen. Eine spezifisch auf Literatur bezogene Lektüre erweitert die Bedeutung von Verstehen noch einmal und markiert auch damit einen entwicklungsstufenspezifischen Modus der Rezeption von Literatur. Eine distanzlose, emotional involvierte, also subjektivierte Rezeption impliziert zwar notwendigerweise ein Text- und Sprachverstehen im Sinn des Wortverstehens, der Konstruktion lokaler sowie der Konstruktion globaler Kohärenz. Im Sinn der Hermeneutik wird hier jedoch eine Bedeutung von Verstehen beschrieben, die darüber hinausgeht. Schon für die jungen Kinder ist Nichtverstehen sowohl in Hinblick auf ein Noch-nicht-Verstehen als auch in Hinblick auf eine emotionale Involvierung der Lektüre relevant. Eine Hermeneutik klassischer Literatur ist für den Unterricht in der Volksschule offenbar keine Option. Doch zeigen sich schon in diesen Vermittlungstheorien Ansätze zu einem nicht analytischen literarästhetischen Verstehen, das sich an der angedeuteten Tiefensemantik ausrichtet. 68

Hoppe, [?] (1873): Stilistik. In: Encyklopädie. Bd. 9: Spanien-Vives, S. 255. Siehe zur Bedeutung des Stils in der Geschichte der Deutschdidaktik: Abraham (1996): StilGestalten.

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III.III Das verständige Lesen Als Adjektiv wird Verstehen im Kontext einer Form des Lesens, dem verständigen Lesen gebraucht. Verständiges Lesen ist Teil eines lesetheoretischen Dreischrittes, dessen Vermittlung Ziel des Literaturunterrichts ist: lautrichtiges, verständiges und schönes Lesen.69 Das lautrichtige oder mechanische Lesen bedeutet die angemessene sprachliche Artikulation der Schriftzeichen. Das schöne Lesen bezeichnet die angemessene Deklamation, ein Vorlesen, »bei welchem einestheils das Schönheitsgefühl des Hörers nicht auf grobe Weise verletzt, anderntheils dem Hörer möglich wird, den Inhalt des Lesestücks richtig aufzufassen und zu Herzen zu nehmen.«70 Schön wird dann gelesen, wenn ein Text seinem Gehalt entsprechend vorgetragen wird, sodass die Zuhörenden diesen Gehalt leichter aufnehmen können. Das schöne Lesen zielt auf die rezeptionsästhetische Kehrseite des Leseverstehens: auf das Hörverstehen. Was über die Decodierung der Sprachzeichen auf lokaler und globaler Ebene hinaus literaturspezifisch ist, wird mit der Definition des verständigen Lesens nicht unmittelbar deutlich: »[D]as verständige Lesen ist dasjenige, bei welchem der Schüler versteht, was er liest.«71 Es wird auch als sinnrichtiges Lesen bezeichnet.72 Einen Satz später erfahren die Leser*innen mehr darüber, was mit der Tautologie und mit sinnrichtig gemeint ist: »Es verhält sich zum mechanischen Lesen wie der Zweck zu dem Mittel. Denn das erst ist ein eigentliches Lesen, bei dem wir den Inhalt dessen, was wir gedruckt oder geschrieben sehen, in die Seele aufnehmen«.73 Der Ausdruck Inhalt bedeutet hier nicht Plot oder Handlung, sondern bedeutungsvoller Gehalt oder Sinn. Was hiermit gemeint ist, steht ganz in hermeneutischer Tradition: Das verständige Lesen ist in Ableitung vom griechischen ἀναγιγνώσκειν, anagignoskein, »ein Wiedererkennen […], […] ein Wiederverstehen dessen, was der Schreibende gedacht hat.«74 Verständiges Lesen zielt also auf die Rekonstruktion der grundlegenden Gedanken eines Autors in einem Text.75 Diese sind implizit in der spezifischen Zeichenkombination eines Textes enthalten. Hier werden literarische von Sachtexten nicht unterschieden. Verständig gelesen werden jedoch nur mustergültige Texte – also solche, die einen idealen Gehalt umfassen. Mit ihnen soll ein tiefes Verstehen erzielt werden, das über ein Verstehen im Sinn der Konstruktion von globaler Kohärenz hinausgeht: Es zielt auf die Rekonstruktion des Gedankens 69 70 71 72 73 74 75

Vgl. Stockmayer (1865): Leseunterricht. In: Encyklopädie. Bd. 4. S. 382. Ebd., S. 397. Ebd., S. 395. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 379. Vgl. zur Rekonstruktion als schulische Form der philosophischen Reproduktion: Weimar (1989): Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft. S. 366ff., insbesondere S. 397f.

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eines Autors aus einem Text durch die Form des richtigen Lesens. Verständiges Lesen soll in der Schule richtiges Lesen sein, was im doppelten Sinn gemeint ist: einen Text mit idealem Gehalt so zu lesen, dass das Gute, Wahre und Schöne erkannt und verinnerlicht wird. Mehrere Lesarten und Sinnpluralität sind weder Ziele des verständigen Lesens noch sind sie Teil einer vorgelagerten Ontologie der Literatur. Das verständige Lesen in der hier skizzierten Form unterscheidet auch den Leseunterricht auf dem Gymnasium von dem auf den Volks- und Bürgerschulen.76 Die Vermittlung des verständigen Lesens ist methodisch geregelt: Schüler bereiten das, was im Unterricht gelesen werden soll, vor. Davon deklamiert im Unterricht zunächst der Lehrer, dann ein Schüler Auszüge. Als Nächstes wird in der Klasse die Handlung beziehungsweise das Thema besprochen. Zum Schluss schließt »sich an den Inhalt eine Besprechung der Gedanken« an.77 In der Übung des verständigen Lesens wird zwischen zwei Formen des Verstehens unterschieden, die auch schon in den oben beschriebenen Bedeutungen des Ausdrucks anklang: zwischen einem sprachlichen Inhalt und einem über den Text hinausgehenden Gedanken. Dass Literatur in einem herkömmlichen Sinn von verstehen sowohl in der im Unterricht besprochenen Freizeitlektüre als auch im Leseunterricht selbst verstanden werden soll, es Modus und Ziel des Unterrichts mit Literatur ist, bedarf keiner weiteren Ausführung: Der Ausdruck Verstehen wird im Kontext des Leseunterrichts im 19. Jahrhundert in einer gegenwärtig geläufigen Weise verwendet. Das verständige Lesen hingegen ist eine Form des literarischen Verstehens, Anzeichen für ein Methodisieren und eine Theoretisierung des Unterrichts von und mit Literatur. Es weist eine historisch spezifische Semantik auf. Sowohl das Leseverstehen wie auch das verständige Lesen markieren explizit ein literarisches Verstehen. Mit beiden 76

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Vgl. Heiland, Karl Gustav (1859): Deutsche Sprache in höheren Schulen. In: Encyklopädie. Bd. 1: A-Dinter, S. 915. Zurecht wies Beisbart darauf hin, dass Unterrichtsstoffe und Methoden in Hinblick auf die Schulformen differenziert werden sollten. Vgl. Beisbart (2014): Geschichte des Deutschunterrichts und seiner Didaktik. In: Taschenbuch des Deutschunterrichts. S. 4. Das gilt beispielsweise auch für die Anforderung an das Verstehen, die durch die jeweilige Lektüre bestimmt ist. Dadurch, dass die Real- und Bürgerschulen berufsvorbereitend waren und das Gymnasium auf die Hochschule vorbereiteten, wurden unterschiedliche Lektüren und damit andere Anforderungen an das Verstehen von Literatur gestellt. In der Volksschule sollten neben der Bibel bloß Fabeln gelesen werden, so Eisenlohr. Lechler und Palmer hingegen schlagen Volksdichtung von Ludwig Uhland, Johann Rütlinger und Gustav Schwab vor. Sowohl auf den Real-, Bürgerschulen als auch auf den Gymnasien sollten in den oberen Klassen die damals als klassisch verstandene Literatur und in den unteren Formen kleine Prosa, Balladen und volksnahe Dichtung gelesen werden. Vgl. Deinhardt, [?] (1859a): Aufsätze (deutsche) in höheren Anstalten (Erster Artikel). In: Encyklopädie. Bd. 1: A-Dinter, S. 318. Eisenlohr, [?] (1859): Aufsätze in der Volksschule. In: ebd. S. 353. Lechler, [?] (1867): Poesie. In: Encyklopädie. Bd. 6: Philologie, classische-Reformation, S. 101f. Heiland (1859): Deutsche Sprache in höheren Schulen. In: Encyklopädie. Bd. 1. S. 915.

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Ausdrücken ist allerdings noch wenig über die Implikationen, Metaphern, Methoden und Funktionen des literarischen Verstehens gesagt. Da Implikationen wie Vermittlungsformen, Metaphern und Methoden nur mittelbar Aufschluss über die mit ihnen verbundenen Funktionen geben, liegt es in diesem Kontext nahe, zunächst die Funktionen eines Verstehens von Literatur anzuführen, für deren Umsetzung Vermittlungsweisen, Methoden und Metaphern greifen können.

III.IV Funktionen des literarischen Verstehens Über die schon angeführten Ziele des Literaturunterrichts hinaus, mechanisch und verständig lesen zu lernen, zielt die Thematisierung von Literatur in der Schule auf sprachliche, ästhetische, individuelle und nationale Bildung ab. Affirmativ bezieht sich Karl Gustav Heiland im Artikel über Deutsche Sprache in höheren Schulen auf die »Hauptaufgabe« des Unterrichts: »die dem Menschen angeborene Sprachkraft auf naturgemäße Weise zu vergrößern.«78 An den »besten Mustern« der »besten Redner und Schriftsteller aller Nationen«, »welche sich durch ihren reinen und gebildeten Stil und zugleich durch Gedankenreichthum auszeichnen«,79 solle sich der Stil der Schüler entwickeln. Die Stilbildung ist unmittelbarer Bestandteil einer durch deutschsprachige und fremdsprachige klassische Literatur vermittelten ästhetischen Bildung: So »vermag ein classisches Buch, wie durch sittlichen Gehalt, so durch Schönheit der Form, fast mehr als irgend ein anderes Mittel, die Jugend zu gutem Geschmack zu gewöhnen.«80 Da Schüler nur schöne, also in der zeitgenössischen Terminologie ästhetische Werke lesen sollen, lernten sie ebenfalls das Hässliche zu erkennen und von sich zu weisen.81 Diese methodisch nicht festgelegten mittelbaren Funktionen von Literatur in der Schule spricht auch Heiland an. Dadurch, dass die deutschsprachige Lektüre keine Übersetzung erfordert, bringe sie im Unterricht »das Moment der Feier und der Erholung« ein. Das Feierliche – und im eigentlichen Sinn Zwecklose – könne dazu führen »durch Nahrung an den edelsten Stoffen das Gefühl für alles Wahre, Große und Schöne in ihm zu wecken.«82 Nicht nur unterstehen der Unterricht im Deutschen und das literarische Verstehen einer normativen Ästhetik des Schönen, sie sind darüber hinaus auch an den platonischen Idealen des Wahren und sittlich Guten ausgerichtet. Ebenfalls zielt Stockmayer mit literarischem Verstehen im Kontext seiner Ausführungen zur ästhetischen Bildung mittelbar darauf, nicht nur den »Verstand,

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Ebd., S. 910f. Vgl. ebenso ebd., S. 914. Hoppe (1873): Stilistik. In: Encyklopädie. Bd. 9. S. 254. Kühner (1862): Jugendlectüre, Jugendliteratur. In: Encyklopädie. Bd. 3. S. 825. Vgl. ebd., S. 828. Heiland (1859): Deutsche Sprache in höheren Schulen. In: Encyklopädie. Bd. 1. S. 914.

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sondern auch die Einbildungskraft und das Gemüth« zu entwickeln.83 Die Privatlektüre diene sowohl der Erholung84 als auch der »Erweiterung seiner [des Schülers; d. Verf.] Kenntnisse, zur Theilnahme am öffentlichen Leben und besonders zur religiösen Erbauung.«85 Was von unterschiedlichen Autoren betont und auch weiter unten eine Rolle spielen wird, ist die Verinnerlichung und Habitualisierung des Gelesenen. Um die der Literatur zugesprochenen Bildungswerte tatsächlich zu verinnerlichen, müsse langsam gelesen werden, sodass »jedem einzelnen Buche Raum gelassen wird, deutliche und feste Vorstellungen in der Seele abzusetzen.«86 Dies ist einer der Gründe, warum sich Pädagogen gegen die Vielleserei wenden. Ein anderer ist der, dass sich junge Menschen mit vielem Lesen unscharfe, chaotische und zu emotionale Inhalte einprägen, statt ihren Blick für das Gute und Wahre zu schärfen und sich dem Schönen anzunähern.87 Das verständige Lesen ist zum einen ein Mittel, um den Bildungswert der Schullektüre zu garantieren, und zum anderen, um den Schülern Mittel zur Verinnerlichung des Gelesenen an die Hand zu geben. Es ist die Möglichkeit, um die großen Gedanken eines anderen, die es über die Zeit hinaus weiterzutragen gilt, aufzunehmen. Ein Methodisieren des literarischen Verstehens in Hinblick auf deutschsprachige Literatur entwickelte sich parallel »mit dem Erwachen des deutschen Nationalgefühls«, also im Verlauf des 19. Jahrhunderts.88 Dementsprechend ist es eine der Aufgaben dieses Unterrichts, den »Schatz vaterländischer Bildung […] als 83

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Stockmayer (1859): Deutsche Sprache in der Volksschule. In: ebd. S. 940. Hierbei handelt es sich um einen Topos der spätaufklärerischen Ästhetik, der für die Argumentation bezüglich des Erlebens von und Einlebens in Dichtung grundlegend ist. Vgl. Koch, Lutz (1999): Bildung. In: Gerd Reinhold (Hg.): Pädagogik-Lexikon. Berlin, S. 81. Vgl. Stockmayer (1865): Leseunterricht. In: Encyklopädie. Bd. 4. S. 380. Kühner (1862): Jugendlectüre, Jugendliteratur. In: Encyklopädie. Bd. 3. S. 829. Stockmayer (1865): Leseunterricht. In: Encyklopädie. Bd. 4. S. 380. Die Privatlektüre ist nicht strikt vom Unterricht getrennt. So sind die in der Universität heute bekannten Leselisten in den philologischen Fächern ein Relikt der preußischen Zirkularverfügung von 1824. Die Inhalte der Leselisten wurden vierteljährlich abgefragt. Diese Listen waren für das Abitur prüfungsrelevant. 1840 forderte Robert Heinrich Hiecke jedoch die deutschsprachige Lektüre für die Erholung zu reservieren. Vgl. Frank (1973): Geschichte des Deutschunterrichts. S. 261. Kühner (1862): Jugendlectüre, Jugendliteratur. In: Encyklopädie. Bd. 3. S. 837. Diese Argumentation gegen das Viellesen geht zurück auf die Lesesuchtdebatte, die sich im 19. Jahrhundert beispielsweise auch noch an der Ausgrenzung des Romans aus Lesebüchern niederschlägert. Vgl. zur Lesesuchtdebatte: Kleßen (2022): »There’s so little scope for imagination in cookery. You just have to go by the rules.« Vgl. zum Romantabu als Nachwirkung der Lesesuchtdebatte: Korte, Hermann (2006): »Feinde und Vergifter jugendlicher Seelen«? Zum gymnasialen Roman-Tabu im Zeitalter des Romans. Am Beispiel von Lesebüchern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In: Ders., Ilonka Zimmer (Hg.): Das Lesebuch 1800-1945. Ein Medium zwischen literarischer Kultur und pädagogischem Diskurs. Vorträge des 2. Siegener Symposions zur literaturdidaktischen Forschung. Frankfurt a.M., S. 174f. Heiland (1859): Deutsche Sprache in höheren Schulen. In: Encyklopädie. Bd. 1. S. 909.

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ein heiliges Erbe der Nation von Geschlecht zu Geschlecht« zu überliefern.89 Diese konservierende Funktion des Literaturunterrichts ist ein Medium des kulturellen Gedächtnisses, um die Einheit und das Erbe einer deutschen Kultur an nachfolgende Generationen zu sichern und damit eine von politischen Veränderungen unabhängige deutsche Nation zu konstruieren. Dieser Funktion soll auch die Wahl von Texten für Lesebücher untergeordnet werden: »Das Nationale tritt auf allen Stufen in den Vordergrund.«90 Wilhelm Thilo richtet in seinem Artikel zum Lemma Methode die Argumentation auf die nationale Erziehung aus. Rhetorisch stellt er die Frage: »Was ist von der Weltkunde Wichtigeres, Näheres, Nöthigeres für ein Kind deutscher Nation als die Kunde von Heimat und Vaterland; was ist das aber anders als Historie in Gestalt von Beschreibung und Erzählung?«91 Friedrich Albert Haubers Artikel zum Lemma Bildung hingegen ist ein Indiz dafür, dass auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts literarisches Verstehen nicht vollständig auf eine nationale Bildung abzielt: Alle Erziehung trägt und überträgt nothwendig einen bestimmten Nationalcharakter. Sie ist bedingt durch diesen, sie kann und soll kräftigend und abklärend auf das Nationalbewußtsein zurückwirken, aber ein solches schaffen kann sie nicht und soll sie nicht … Sollen etwa die Deutschen auf Kosten ihres unbefangenen Urtheils, das sie vor Franzosen und Engländern voraushaben, zu einer nationalen Ueberschätzung verleitet werden?92 Obwohl hier ein selbstwidersprüchlicher Nationalchauvinismus zum Ausdruck kommt, sollen Erziehung und damit Unterricht im Deutschen, in deutscher Literatur und literarisches Verstehen nicht national ausgerichtet sein. Und selbst wenn der Unterricht national ausgerichtet wäre, führte er nicht zu einer stärkeren nationalen Einheit. Während Hauber an dieser Stelle nur zitiert, argumentiert er einige Zeilen später in eine ähnliche Richtung: »Denn so hoch wird man doch die Kraft der Literatur eines Volkes überhaupt nie anschlagen dürfen, sonst ließe sich z.B. der Untergang Griechenlands, dessen Söhne ihren Homer auswendig zu wissen pflegten, nicht erklären.«93 Selbst die vollkommene Verinnerlichung kämpferischer nationaler Klassiker gewährleistete nicht den zeitlosen Bestand einer Kultur. Dass nationalliterarische Bildung nur ein Element innerhalb der staatlich geförderten Konstruktion

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Ebd., S. 914. Ebd. Thilo, Wilhelm (1865): Methode. Zweiter Artikel. In: Encyklopädie. Bd. 4: Kirche-Muttersprache, S. 721. Waitz, Theodor (1852): Allgemeine Pädagogik. Braunschweig, S. 70f., zit.n. Hauber, Friedrich Albert (1859): Bildung. In: Encyklopädie. Bd. 1: A-Dinter, S. 681. Ebd.

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von Nationalbewusstsein sein könnte, erwägt der Verfasser nicht. Verfolgte man die Geschichte der deutschen Schule und des Literaturunterrichts von hier aus zum deutschen Faschismus, so zeigt sich ein Bild, das Haubers Thesen widerlegt und bestätigt: Ein auf Verinnerlichung ausgelegter Unterricht der literarischen Klassiker einer Nation fördert zwar das Nationalbewusstsein, den zeitlosen Bestand ihrer Kultur sichert er, wie der Seit den 1945ern eingesetzte kulturelle Wandel in Deutschland zeigt, jedoch nicht.

III.V Implikationen, Methoden und Metaphern des literarischen Verstehens Diese Funktionen deutscher Literatur und literarischen Verstehens sollen im Unterricht gesichert werden. Das verständige Lesen ist ein Teilziel auf dem Weg zur kognitiven, ästhetischen und nationalen Bildung. Es impliziert selbst Methoden und Funktionen als auch Annahmen über die ästhetische Wirkung von Literatur. Dazu zählen die Nachahmung, die Reproduktion, die Erklärung, die emotionale Involvierung und Metaphern der Habitualisierung. Hingegen sind Aufsätze als schreibdidaktische Kehrseiten der Vermittlung der Lektüre durch die Lehrinstanz sowohl Methoden als auch Überprüfungsformen. Sie geben Aufschluss darüber, ob Schüler verständig gelesen haben, und sind gleichzeitig Teil des Verstehensprozesses. Bei der Nachahmung stilistischer Muster handelt es sich um eine historisch weit zurückreichende Form der Vermittlung, die Johann Heinrich Deinhardt in seinem Artikel zur ästhetischen Bildung starkmacht: »So besteht denn auch die Methode der ästhetischen Bildung nicht bloß in einer theoretischen Betrachtung des Schönen nach geeigneten Gesichtspunkten, sondern auch in der praktischen Nachahmung und Nachbildung derselben.«94 Nachahmung bedeutet hier tatsächlich Anwendung der rhetorischen und poetischen Regeln sowie stilistischer Merkmale seitens der Schüler. Von der unmittelbaren Nachahmung ist die Reproduktion noch einmal verschieden. Hierunter ist Wiederholung zu verstehen, die vor allem im Zusammenhang mit Aufsätzen oder gesprochenem Nacherzählen zum Tragen kommt.95 Hoppe attestiert den Schülern im Artikel zur Stilistik, dass sie ohne Führung durch die Literatur nicht verständig lesen: »Der Schüler ist durchschnittlich auf keiner Stufe im Stande, für sich allein ohne vorhergehende Anleitung des Lehrers mit Nutzen zu lesen; er achtet weder auf den Zusammenhang und die zu Grunde liegende Disposition, noch wird ihm alles einzelne in Gedanken und Ausdruck

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Deinhardt, Johann Heinrich (1859b): Ästhetische Bildung. In: Encyklopädie. Bd. 1: A-Dinter, S. 272. Vgl. zum Nacherzählen Heiland (1859): Deutsche Sprache in höheren Schulen. In: Encyklopädie. Bd. 1. S. 908.

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klar.«96 Eine der typischen Methoden, um das Lesen zu erleichtern und um das Gelesene besser zu verstehen, ist die Erklärung seitens der Lehrinstanz.97 Im Vergleich zum altsprachlichen Unterricht ist die Erklärung jedoch bei Texten geringer historischer Distanz zur Gegenwart weniger angebracht.98 Das Erklären tendiere zu einem »Zerklären, bei poetischen Stücken zu einem Zerpflücken der Blumen«.99 Marg hingegen konstatiert ein Aufleben der Erklärung, nachdem sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Popularität verloren habe.100 In seinem Artikel zum Schullesebuch bringt er die Auseinandersetzung darüber auf den Punkt, welcher Stellenwert dem Erklären zukommt, wenn es darum geht deutschsprachige Literatur zu vermitteln: Man sagt, das Lesestück solle als Ganzes wirken, was es könne. […] Die Ansicht, daß ein gründliches Verständnis des Gelesenen fast in allen Fällen nur durch gründliche Erklärung herbeigeführt werde, hat in den letzten Jahren wieder zahlreiche Vertheidiger gefunden […]. Das Verständnis und die Aneignung des Lesestoffes ist die Hauptsache, die Erklärung lediglich Mittel zum Zweck.101 Darüber hinaus könne sich der Deutschunterricht die Wirkung zu eigen machen, die ein zeitgenössisches Kriterium klassischer Literatur war: »Eben dies gehört überhaupt zum Wesen der classischen Dichtung, daß sie, ohne lehrhaftig sein zu wollen, doch belehret und bildet.«102 Diesen Topos der Klassik überträgt Beesenmeyer auf Märchen: Da wir nun aber ohne Zweifel ideale Normen und Ausgangspuncte für ein über das Irdische sich erhebendes Ziel früh in die zarten Seelen senken sollen, so wird ein Mittel unter vielen hiezu auch das Märchen sein können, wenn es in der Hülle des Wunderbaren einen Sinn birgt, den man freilich nicht am Schluß als einen

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Hoppe (1873): Stilistik. In: Encyklopädie. Bd. 9. S. 255. Vgl. Kramer, Gustav (1862): Gymnasium. In: Encyklopädie. Bd. 3: Göthe-Kindsmädchen, S. 173. Vgl. Heiland (1859): Deutsche Sprache in höheren Schulen. In: Encyklopädie. Bd. 1. S. 921. Erste Vorlesungen zur Erklärung deutscher Literatur finden in den 1780er Jahren statt. Aus der Erklärung und der Entwicklung der deutschsprachigen Nationalphilologie entsteht in den 1850er Jahren die lehrerspezifische Erläuterungsliteratur, die als Gattung bis in die Gegenwart Verwendung findet. Vgl. Weimar (1989): Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft. S. 403. 99 Marg (1870): Schullesebuch. In: Encyklopädie. Bd. 8. S. 173. 100 Vgl. zur Entsprechung zwischen der Erklärung altphilologischer und deutscher klassischer Literatur: Kopp (1994): (Deutsche) Philologie und Erziehungssystem. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. S. 716. Der Stellenwert der Erklärung manifestiert sich bis in die 1850er Jahre in unterschiedlichen Curricula. Vgl. Jäger (1991): Der Deutschunterricht auf Gymnasien 1780 bis 1850. In: Rhetorik. S. 239. 101 Marg (1870): Schullesebuch. In: Encyklopädie. Bd. 8. S. 173. 102 Kühner (1862): Jugendlectüre, Jugendliteratur. In: Encyklopädie. Bd. 3. S. 833.

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abstracten Moralsatz dem Kinde an den Kopf werfen darf. Unausgesprochen wird er als Keim im Gemüth wurzeln und im Leben selbst groß gezogen werden.103 Dieser Topos einer automatisierten und von Lehrpersonen intendierten Wirkungsästhetik kann durch die Auswahl der entsprechenden Lektüre und das Verstehen literarischer Texte handlungswirksam werden. Dass nicht nur den Klassikern, sondern auch der Literatur für Kinder diese Wirkung zugesprochen wird, hängt vermutlich mit Einsichten in das Erlernen der ersten Sprache zusammen: »Die Aneignung der Muttersprache in den ersten Jahren ist dem Knaben etwas ganz unbewußtes. Er lernt sie unmittelbar nicht als Sprache, sondern als sein Denken, Wollen und Empfinden. In tiefer Bewußtlosigkeit entfaltet sie sich und der Knabe lernt, ohne zu verstehen, etwas.«104 Dieses implizite Modell eines Lernens, oder besser gesagt, eines Habitualisierens, ohne etwas zu verstehen, wird auf das literarische Verstehen übertragen. Eine solche Vermittlung impliziter und unterschwelliger Bildungsinhalte durch den Leseunterricht und die damit einhergehenden Methoden sind zentrale Momente der zeitgenössischen Literarästhetik sowie des literarischen Verstehens. Neben den Automatismen wird das literarische Verstehen von einem Erleben begleitet, das beispielsweise durch das Hören intensiviert wird. Das Vorlesen erzeugt »eine vollkommenere Aufnahme in das Gemüth der Hörer, infolge deren dieselben richtiger Lesen werden, weil sie lebhafter empfinden.«105 Das Vorlesen involviere die Schüler emotional, wodurch sie leichter verstünden. Diese für das literarische Lernen von Kindern und für das Hörverstehen wesentliche emotionale Aufnahme literaturimmanenter Bildungsqualitäten wird durch die Metaphern Einleben, Sich-in-etwas-Einbilden und verinnerlichen zu zentralen Bestandteilen eines literarischen Verstehens entfaltet. Diese Metaphern der Habitualisierung bezeichnen zugleich Mittel und Ziele eines Literaturunterrichts. Sie implizieren analytische und emotionale Vermittlungs- und Rezeptionsmodi, liegen schwerpunktmäßig jedoch in nicht rationalisierbaren Momenten und entziehen sich letztlich der methodischen Begründung. So könne nach Deinhardt ein Sinn für das Schöne vor allem so entwickelt werden, indem man sich »in wahrhaft schöne Werke einlebt«: In solche Werke führe man die Jugend […] gründlich ein […] und lasse sie sich so fleißig und in so angemessener Methode mit ihnen beschäftigen, daß sie dieselben äußerlich (mit den Sinnen und dem Gedächtnis) und innerlich (mit Geist und

103 Beesenmeyer (1865): Märchen, Fabel. In: Encyklopädie. Bd. 4. S. 576f. Beesenmeyer schlägt die Lektüre von Märchen sowohl für Jungen als auch für Mädchen vor. Vgl. ebd., S. 578 104 Heiland (1859): Deutsche Sprache in höheren Schulen. In: Encyklopädie. Bd. 1. S. 911. 105 Marg (1870): Schullesebuch. In: Encyklopädie. Bd. 8. S. 172.

Hendrick Heimböckel: »das Lesestück solle als Ganzes wirken, was es könne«

Phantasie) in sich aufnehmen und ganz und gar in denselben einheimisch werden.106 Auf diese Weise entwickelten Schüler von allein »Bewußtsein und Verständnis« sowie ein »lebendiges, untrügliches Gefühl für das Schöne«.107 Die oben angesprochene unterschwellige Wirkung der altphilologischen Klassiker wird auf jegliche klassische Literatur übertragen: durch intensive Auseinandersetzung mit klassischer Literatur in ihr heimisch werden, das führe zwangsläufig zur Vermittlung ihrer ideellen Qualitäten. Marg beschreibt einen Aspekt und ein Ziel der Lektüre im Sinn der Absorption des Werks als Einverleibung. Der Leseprozess kulminiere darin, »die aufgenommenen Vorstellungen und Gedanken den eigenen Grundstimmungen gemäß in das eigene Wesen hineinzubilden«.108 Wie auch hier zu erkennen ist, geht es um Stimmungen und Vorstellungen, die keine kognitiven, sondern eher die emotionalen und imaginativen Aspekte der Wirkungs- und Rezeptionsästhetik antizipieren. Sie zielen auf die Veränderung des lesenden Individuums, das sich mit dem Verstehen der klassischen Werke ihren immanenten Idealen annähert.109 Auch Stockmayer unterscheidet schon für die Volksschule ein mechanisches Lesen von einem Lesen, das darauf abzielt, den Schüler als Person zu prägen: Man treibe nur einmal das Lesen besser als früher; man bleibe nicht bei der mechanischen Fertigkeit stehen, sondern suche den Inhalt des Gelesenen zum Eigenthum des Schülers zu machen und damit nicht bloß einseitig den Verstand, sondern auch die Einbildungskraft und das Gemüth zu bilden; […] das Beste lasse man wieder und immer wieder lesen, bis der gute Inhalt sammt der schönen Form helle und fest in der Seele geworden ist.110 Der Ausdruck früher grenzt den gegenwärtigen Unterricht von einem solchen ab, der auf Wiederholung und Auswendiglernen kodifizierten Wissens zielt. Auch hier wird ein ästhetisch geprägtes Bildungsverständnis entworfen, das die – in aufklärerischer Psychologie und Ästhetik gesprochenen – unteren Seelenvermögen berücksichtigt. Ebenfalls zeigt sich hier die Vorstellung einer automatischen Prägung 106 107 108 109

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Deinhardt (1859b): Ästhetische Bildung. In: Encyklopädie. Bd. 1. S. 271. Ebd. Kühner (1862): Jugendlectüre, Jugendliteratur. In: Encyklopädie. Bd. 3. S. 838 Noch hier zeigt sich in der säkularen, aber gleichfalls metaphysischen Semantik des literarischen Verstehens die auf Meister Eckhart zurückgehende christlich-transzendente Prägung des Bildungsbegriffs als »schaffendes Herstellen (Produzieren)« einer »Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Bild und Abbild«. Lichtenstein, Ernst (1966): Von Meister Eckhart bis Hegel. Zur philosophischen Entwicklung des deutschen Bildungsbegriffs. In: Friedrich Kaulbach, Joachim Ritter (Hg.): Kritik und Metaphysik. Heinz Heimsoeth zum achtzigsten Geburtstag. Berlin, S. 262. Stockmayer (1859): Deutsche Sprache in der Volksschule. In: Encyklopädie. Bd. 1. S. 940.

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durch Wiederholung des Besten – also des klassisch Schönen –, sodass es in den Schüler übergehe. Zugespitzt ist die Argumentation so aufgebaut: Dadurch, dass Literatur einen Sinn birgt, der über das bloß Leseverstehen hinausgeht, vermittelt sie verschiedene Bildungsgehalte. Diese Bildungsgehalte verinnerlichen die Rezipient*innen automatisch mit der richtigen Form der Lektüre.111 Weil das Leseverstehen die Voraussetzung zur Verinnerlichung dieser Bildungsinhalte ist, müssen Schüler verständig lesen lernen. Die Tiefensemantik des Verstehens markiert so ein Verstehen zweiter Ordnung, ein automatisiertes Verstehen, das zur Aneignung erster sprachlicher Ausdrucksweisen – zeitgenössisch ausgedrückt: die Muttersprache – durch Kleinkinder äquivalent steht. Diesen Wegen und Zielen der Literaturvermittlung steht eine Kritik an Formen analytisch-kognitiv ausgerichteter Literaturvermittlung zur Seite. Baur wendet sich in seinem Artikel über Schiller gegen eine Methode, die »ein lebendiges Gedicht erst Todtschlägt, um dann als seine Quintessenz einen moralischen Gemeinplatz herauszupäparieren.«112 Ganz im Sinne der Verinnerlichungsmetapher führt er weiter aus, dass jedem Schüler der weiterführenden Schulen Schillers Balladen »durch feste Einprägung […] als bleibendes Eigenthum für das Leben gesichert« werden.113 Baur verwendet im Vorfeld den Ausdruck »versündigen«, wodurch die sakrale Idealität der klassischen deutschen Dichtung markiert ist. Fast im gleichen Duktus spricht sich Heiland aus: »Jene von uns […] gerügte Sucht zur Reflexion und Abstraction […] hat sich schwer auch an unsern Dichtern versündigt.«114 In den darauffolgenden Sätzen skizziert er unter Bezug auf Karl von Raumers Unterricht im Deutschen diese analytische Methode mit einer Spitze gegen den Literaturdidaktiker Hiecke.115 Erleben und Einleben sind scheinbar durch eine strukturierte Methode nicht möglich. Ähnliches schreibt Landerer in seinem Artikel zu Johann Wolfgang Goethe: Die Bedenken mancher Pädagogen gegen den Werth und Nutzen der schulmäßigen Beschäftigung mit unsern deutschen Klassikern […] sind allerdings wohl zu beherzigen. Eine »allzuverstandesmäßige Zergliederung« und vollends das 111 112 113 114 115

Hier wird eine an alle Geschlechter gerichtete Form verwendet, weil die Prämisse der Autoren die ist, dass alle, die verständig Klassiker lesen, deren Ideale verinnerlichen. Baur, Gustav (1969): Schiller, Johann Christoph Friedrich. In: Encyklopädie. Bd. 7: ReinlichkeitSchule. S. 615. Ebd. Heiland (1859): Deutsche Sprache in höheren Schulen. In: Encyklopädie. Bd. 1. S. 920. Vgl. Raumer, Rudolf von (1852): Der Unterricht im Deutschen. In: Karl von Raumer (Hg.): Geschichte der Pädagogik. Dritter Theil. Zweite Abtheilung. Stuttgart, S. 129ff. Den Kritiken an Hieckes anatomischem Literaturunterricht zum Trotz regte seine didaktische Monographie von 1842 Reformen des Deutschunterrichts an, die sich bis – mindestens – in das frühe 20. Jahrhundert auswirkten. Vgl. Matthias (1907): Geschichte des deutschen Unterrichts. S. 210.

Hendrick Heimböckel: »das Lesestück solle als Ganzes wirken, was es könne«

Herbeischleppen von gelehrtem Apparat können dem Gesammteindruck und der Empfindung der hervorstechenden einzelnen Schönheiten […] nur zu leicht schaden.116 Schulunterricht wird hier mit Zergliederung äquivalent gesetzt, was die Wirkungsästhetik der deutschen Klassiker unterlaufe: Sie wirken als Ganze auf die Gefühle der Rezipient*innen. Die deutschen Klassiker bedürfen aber eine ihrer Wirkungsästhetik und den Rezipient*innen entsprechende Vermittlung und Lektüre: Die »kritische Betrachtung« ist »so unterzuordnen […], wie es dem Alter angemessen ist, welches allerdings vielmehr anschauen, aufnehmen, lieben und bewundern, freilich nicht nur mit der Phantasie und dem Herzen, sondern auch mit dem Kopfe bewundern lernen soll, als analysiren, kritisiren und registriren.«117 Zwar werden hier nicht die Metaphern der Habitualisierung bewegt. Dennoch spielt Landerer die sakrale Verehrung gegen die Reflexion aus. In den verschiedenen Ausführungen zu Aufsätzen zeigt sich, wie die schriftliche Auseinandersetzung mit den Klassikern der deutschsprachigen Literatur Teil des literarischen Verstehens ist und wie Verinnerlichung über die beschriebenen Mittel erzielt werden sollte. Deinhardt zufolge könne die in klassischer Literatur manifeste »Substanz des Geistes« der »edeltsten und gebildetsten Repräsentanten der Menschheit« durch die Anwendung auf Einzelfälle erst »wahrhaft begriffen« werden.118 Das beste Mittel dieses Transfers sei der Aufsatz.119 In ihm kulminiere literarisches Verstehen als Nachahmung, Reproduktion und Einverleibung. Die Esoterik des Aufsatzes geht sogar so weit, dass eine geistige Berührung durch den Autor stattfinde.120 Einbildungskraft und Phantasie werden auch hier ins Zentrum gerückt: »So sind die deutschen Aufsätze […] vorzugsweise eine Uebung der Phantasiethätigkeit«, die heilsam und zweckmäßig sei.121 Die Aufsätze eignen sich nicht nur für Gymnasien, sondern ebenfalls für die höheren Bürger- und Realschulen.

116

Landerer, [?] (1862): Göthe, Lectüre G. in pädagogischer Hinsicht. In: Encyklopädie. Bd. 3: Göthe-Kindsmädchen, S. 21. 117 Ebd. 118 Deinhardt (1859a): Aufsätze (deutsche) in höheren Anstalten (Erster Artikel). In: Encyklopädie. Bd. 1. S. 313. Der zweite Artikel zum deutschen Aufsatz stammt von dem philologisch gebildeten Herausgeber der Encyklopädie. Dementsprechend ist er gegenüber den Nutzen und Zwecken von Aufsätzen reservierter: »[I]ch füge hinzu, daß ich eine wohlgeleitete deutsche Lectüre auch um des Stils willen für eine nothwendige Ergänzung der classischen halte; aber das Uebergewicht möchte ich, so anerkennungswerth auch die Beweggründe der Vertheidiger jener Ansicht sind, nicht diese Seite fallen lassen.« Schmid, Karl Adolf (1859): Aufsätze (deutsche) in höheren Anstalten (Zweiter Artikel). In: Encyklopädie. Bd. 1: A-Dinter, S. 337. 119 Vgl. Deinhardt (1859a): Aufsätze (deutsche) in höheren Anstalten (Erster Artikel). In: Encyklopädie. Bd. 1. S. 313. 120 Vgl. ebd., S. 315. 121 Ders. (1866): Die Phantasie. In: Encyklopädie. Bd. 5: Nachhülfecurse-Philologenverein, S. 900.

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Da auch Mädchen in den höheren Jahrgangsstufen klassische deutschsprachige Literatur lesen sollten, ist davon auszugehen, dass Deinhardt zu ihren Aufgaben und damit zu Formen des literarischen Verstehens ebenfalls Aufsätze zählte.122 Selbst in der Volksschule sollen Aufsätze vorkommen. Für deren Themenstellungen kämen Fabeln, die Bibel und Sprichwörter in Frage.123 Auch Stoffe aus der antiken und germanischen Mythologie werden für die vier unteren Klassen empfohlen.124 Der Aufsatz umfasst jegliche Form von Fließtexten seitens der Schüler wie Briefe, Erläuterungen, Erörterungen, Nacherzählungen, fingierte Gespräche und andere. Während Nachahmung, Reproduktion und Erklärung kognitive Elemente des literarischen Verstehens sind, beziehen sich die emotionale Rezeption und die Metaphern der Habitualisierung auf Elemente des Verstehens, die in der Tradition des Bildungsbegriffs seit Meister Eckhart stehen.125 Mit ihnen entfalteten sich bei einer intensiven Auseinandersetzung die literaturimmanente Wirkungsästhetik. Im Sinn einer metaphysischen Containermetapher enthält klassische deutsche Literatur Ideale. Diese Ideale sind als Gedanken der Autoren Grundlage der Werke. Wegen dieser Ideale werden sowohl die Autoren als auch die Werke sakralisiert. Zugespitzt formuliert, wurde Literatur als Kommunikationsmedium mit den verstorbenen Autoren gedacht. Die darauf ausgelegte Didaktik ist eine Sozialisation in die Kunstreligion der Klassik und begleitet die Anfänge einer Sakralisierung und Essentialisierung der Nation – literarisches Verstehen in der Schule als sprachlich avancierte Esoterik. Diese Lesart eröffnen die untersuchten Artikel. Es ist eine von vielen. Was sich hier aber wie in einer Nussschale zeigt, ist die Transformation der zwischen 1750 und 1850 entwickelten Auslegungslehre der Hermeneutik in pädagogisches Wissen und Methoden.126

IV.

Schlussfolgerungen

Das Verstehen deutschsprachiger Literatur zu sichern, wird im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einem pädagogischen Kernanliegen. Für einen Deutschunterricht, der

122

Vgl. ders. (1859a): Aufsätze (deutsche) in höheren Anstalten (Erster Artikel). In: Encyklopädie. Bd. 1. S. 313, 317f. Vgl. hierzu auch: Schwalb (2000): Mädchenbildung und Deutschunterricht. 123 Vgl. Eisenlohr (1859): Aufsätze in der Volksschule. In: Encyklopädie. Bd. 1. S. 351, 353. 124 Vgl. Hoppe (1873): Stilistik. In: Encyklopädie. Bd. 9. S. 256. 125 Siehe hierzu Lichtenstein (1966): Von Meister Eckhardt bis Hegel. In: Kritik und Metaphysik. S. 260-298. 126 Vgl. hierzu ebenfalls Reh (2016): Literatur lesen lehren im deutschen Unterricht. In: Die Materialität des Schreiben- und Lesenlernens. S. 164f. Mit einem Vergleich zu Friedrich Asts Hermeneutik wird dieser Zusammenhang sinnfällig. Vgl. Apel, Karl-Otto (1955): Das Verstehen. Eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte. In: Archiv für Begriffsgeschichte, Jg. 1, S. 168.

Hendrick Heimböckel: »das Lesestück solle als Ganzes wirken, was es könne«

Grammatik, Literatur und ihre Geschichte in den verschiedenen Schulformen entsprechenden Intensitätsgraden vermitteln soll, ist literarisches Verstehen eine basale Kategorie in Hinblick auf Methoden und Ziele des Unterrichts. Dessen Funktionen zeigen, dass es keinesfalls einem Selbstzweck unterlag, sondern auf die Bildung von Individuen vor dem Hintergrund nationaler Interessen, christlicher und idealistischer Anthropologien sowie kunstreligiöser Verehrung abzielte. Dass literarisches Verstehen diachron sowohl wandelbare als auch konstante Aspekte aufweist, würden Vergleiche zur gegenwärtigen literaturdidaktischen Diskussion um das literarische Verstehen sowie zu anderen historischen Querschnitten zeigen. So ist eine kunstreligiöse und idealistische Auslegung des Guten, Wahren und Schönen mit Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias und Goethes Hermann und Dorothea in der Schule heute kaum mehr vorstellbar. Dass schon im 19. Jahrhundert hierarchieniedrige Fähigkeiten des Textverstehens zur Voraussetzung eines spezifisch literarischen Verstehens gemacht wurden, zeigt deutliche Parallelen zu kognitionspsychologischen Modellen des Verstehens. Die Encyklopädie bildet nicht die »Vielfalt widerstreitender Lehrmeinungen« zum literarischen Verstehen ab, wie sie Frank für das 19. Jahrhundert diagnostizierte.127 Abgesehen davon bestätigen die Untersuchungen der Artikel der Encyklopädie Forschungen aus der Geschichte des Deutschunterrichts im Besonderen sowie aus dem Schulunterricht im Allgemeinen: In der Mitte des 19. Jahrhunderts haben sich die um 1770 formulierten Bestrebungen, das Verstehen deutschsprachiger Literatur zu didaktisieren, derart durchgesetzt, dass sie zu einem pädagogisch streitbaren Wissen geworden sind. So unterscheidet sich beispielsweise die Hermeneutik der Encyklopädie, die sich von Hiecke absetzt und die analytische Interpretation abwertet, von der Hermeneutik des Archivs für den Unterricht im Deutschen von 1843 und 1844, an dem Hiecke mitgewirkt hat und in dem gerade die Interpretation als Suche nach einem dem Verstehen nicht unmittelbar gegebenen Sinn betont wird.128 Die Institutionalisierung des Unterrichts in deutschsprachiger Literatur geht also einher mit einer Übersetzung hermeneutischer Theorien in die Unterrichtspraxis. Auch in diesem Zusammenhang ist die von Kopp und wiederholt von Dawidowski bemerkte Verzahnung der Schul- und Universitätsphilologie im 19. Jahrhundert Bestandteil der Verfächerung, also der Entwicklung literaturdidaktischer Fachlichkeit.129

127 128 129

Vgl. Frank (1973): Geschichte des Deutschunterrichts. S. 153. Vgl. Reh (2016): Literatur lesen lehren im deutschen Unterricht. In: Die Materialität des Schreiben- und Lesenlernens. S. 173, 185. Vgl. sowohl zur engen Beziehung zwischen universitätsspezifischer und schulspezifischer Fachlichkeit als auch zum Ausdruck Verfächerung: Caruso, Marcelo; Reh, Sabine (2020): Entfachlichung? Transformationen der Fachlichkeit schulischen Wissens. Zur Einführung. In: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 66, H. 5.

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Über das Gesagte und die bestehenden Ansätze zur Rekonstruktion literaturdidaktischer Ästhetik hinaus ist auffällig, dass literarisches Verstehen eng an die Ausdrücke Einbildungskraft beziehungsweise Phantasie, Erleben sowie an Metaphern der Habitualisierung gebunden ist. Deren Verknüpfung zu einer diachronen Analyse der Kategorien der Literaturdidaktik gäbe Aufschluss über konstante und variierende Formen der literaturdidaktischen Ästhetik und ihrer Funktionen. Ortwin Beisbart hat gegen die Übertragung der Heuristik der Sattelzeit auf didaktische Fragestellungen eingewendet, dass gerade im Kontext des zeitgenössischen Deutschunterrichts »der aufklärerische Aufschwung« für die Schulpraxis »weit weniger wirksam war als dies die traditionelle Ideengeschichtsschreibung erkennt«.130 Der zeitliche Abstand zwischen theoretischer Reflexion und ihrer praktischen Umsetzung beziehungsweise ihrer institutionellen Verankerung legt jedoch nahe, dass die auf neuere Literatur angewendeten Hermeneutiken, ihre Vermittlung an Lehrende und ihre Kodifizierung zu pädagogischem Wissen Zeit brauchten – das gilt für den anwendungsbezogenen Transfer von Wissen auf institutioneller Ebene damals wie heute.131 Theorien literarischen Verstehens sollten didaktisch nutzbar gemacht werden. Ob und inwiefern sie angewendet wurden, kann an Quellen wie Aufsätzen, Verordnungen, Prüfungsordnungen, pädagogischen Zeitschriften und biographischen Schriften plausibilisiert werden. In dieser Studie ließen sich von den verschiedenen Artikeln der Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens zumindest äquivalente Aspekte eines literarischen Verstehens ableiten, die eine Isotopie erzeugen, und sie darüber hinaus in Hinblick auf die Schüler*innen schulformen- und altersspezifisch anpassen.132 Die Unterschiede liegen in Nuancen und beispielsweise in Fragen zum Kanon. Die in der Encyklopädie beobachtete Didaktisierung des Verstehens für den deutschsprachigen Literaturunterricht setzt ein differenziertes Schulsystem voraus, in dem Ästhetik und nationale Bildung eine bedeutende Rolle spielen. Dies ist ebenso das Produkt der Spätaufklärung wie didaktische Konzepte des literarischen Verstehens. Die Sattelzeit liefert hierfür die

130 Beisbart (2014): Geschichte des Deutschunterrichts und seiner Didaktik. In: Taschenbuch des Deutschunterrichts. S. 21. 131 Hierzu schreibt Rainer Leschke im Artikel zum Lemma Verstehen/Interpretation im Lexikon der ästhetischen Grundbegriffe: »Daß ein solches sekundäres Steuerungsinstrumentarium, wie es von den Theorien der Interpretation entworfen wird, mit der gebotenen zeitlichen Verzögerung zu Beginn des 19. Jh. auch pädagogische Bedeutung gewann und so methodische Techniken die Verinnerlichung substantieller Wissensbestände ablösten, verwundert kaum.« Leschke, Rainer (2010): Verstehen/Interpretation. In: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 6. Tanz-Zeitalter/Epoche. Stuttgart u.a., S. 332. 132 Diese konkreten Bezüge und Ausdifferenzierungen sind jedoch wesentlich unbestimmter als eine allgemeine Theoretisierung literarischen Verstehens im Deutschunterricht.

Hendrick Heimböckel: »das Lesestück solle als Ganzes wirken, was es könne«

Begründungszusammenhänge und markiert den Transformationsprozess. Umgekehrt wäre es aufschlussreich, der Frage nach den Auswirkungen der intendierten Literaturvermittlung auf die schulische Unterrichtspraxis, Formen des Denkens und Lebens, des Schreibens und Lesens in der 1800 beginnenden Makroepoche der ästhetischen Moderne weiter nachzugehen.133

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133

Vgl. zum Begriff der ästhetischen Moderne: Vietta, Silvio (2001): Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild. München, S. 46.

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Hendrick Heimböckel: »das Lesestück solle als Ganzes wirken, was es könne«

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(Nicht-)Verstehen in historischen und gegenwärtigen Kontexten der Professionalisierung

1886 fortgeführt von Prof. Dr. Otto Kübler. Director des Königlichen WilhelmsGymnasiums zu Berlin. Berlin. Zymek, Bernd (2015): Wozu (noch) Bildungsgeschichte und historische Bildungsforschung. In: Die Deutsche Schule, Jg. 107, H. 2, S. 203-221.

Textverstehen und Nichtverstehen aus der Perspektive von Lehramtsstudierenden Julia Landgraf Abstract Der vorliegende Beitrag nimmt Lehramtsstudierende in den Blick, um deren Verständnis von Verstehen und Nichtverstehen genauer zu untersuchen. Der Beitrag ist in einen konzeptionellen und empirischen Teil gegliedert. Nach der Darlegung, dass Nichtverstehen als Phänomen eigenen Rechts gesehen werden kann, dessen Potential für das Verstehen produktiv genutzt werden sollte, folgt ein erster Einblick in eine empirische Studie, in der Lehramtsstudierende befragt wurden, was sie über das Lesen und Textverstehen wissen. Darauf aufbauend wurde ein Seminarkonzept entwickelt, das an der Wissensbasis der Lehramtsstudierenden ansetzt und versucht, Textverstehensprobleme als Ausgangspunkt für den Umgang mit Texten zu etablieren und dadurch das Potential des Nichtverstehens zu verdeutlichen.

Der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist, dass das Nichtverstehen vor allem literarischer Texte als ein produktiver Motor des Verstehens begriffen werden kann und soll. In dem Moment, in dem man sich aufgrund eines (augenscheinlichen) Nichtverstehens intensiver auf einen Text einlassen muss, gewinnt der Verstehensprozess an Tiefe und Schärfe, so die grundlegende Annahme. Den zweiten Ausgangspunkt bildet der Gedanke, in Hinblick auf die Förderung des Textverstehens Lehramtsstudierende in universitären Lehrveranstaltungen intensiv für diese Potentiale des Nichtverstehens zu sensibilisieren, damit sie wiederum ihre zukünftigen Schüler_innen in deren Verstehensprozessen möglichst gut begleiten und unterstützen können, wobei die (zukünftigen) Lehrkräfte ebenfalls dabei helfen, die Scheu vor dem Nichtverstehen abzubauen. Zunächst folgt eine Definition der grundlegenden Begrifflichkeiten, anschließend werden empirische Antworten auf die Frage gegeben, was Lehramtsstudierende zu Textverstehen und Nichtverstehen wissen. Darauf aufbauend wird eine Seminarkonzeption vorgestellt, deren Ausgangspunkt Textverstehensprobleme darstellen.

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I.

Textverstehen, Nichtverstehen, Missverstehen

Aus den schier unzählbaren Definitionen von Verstehen ist folgende recht knappe Begriffsbestimmung eine wichtige Grundlage für die folgenden Ausführungen: »Als Verstehen bezeichnet man den aktuellen Aufbau einer konsistenten und kohärenten mentalen Repräsentation eines Sachverhalts.«1 Diese Definition zeigt zwei wichtige Aspekte: zum einen, dass man sich dem Komplex des Verstehens auf pragmatische Weise nähern kann, und zum anderen, dass die aktive Tätigkeit der Verstehenden betont wird. Es kann mithin nicht davon ausgegangen werden, dass ein Text einen Sinn enthält, der entnommen werden kann.2 Vielmehr ist in einem ersten Schritt bereits die Intention entscheidend, mit der Rezipient_innen an einen Text herantreten, weil »Verstehen […] zielorientiert erfolgt«.3 Während des Rezeptions- und Verstehensprozesses kann folglich eher von einer Sinngebung gesprochen werden, bei der »einem Text […] als kommunikative[m] Signal eines anderen menschlichen Individuums eine kommunikativ[e] Intention zugeschrieben […] und im Hinblick auf eine Kommunikationssituation daraus Sinn konstruiert«4 wird. Der Sinn eines Textes5 ist also auf der einen Seite eng verbunden mit der kommunikativen Absicht der Autor_innen und auf der anderen Seite mit der Verstehenserwartung der Rezipient_innen. Eine sehr große Rolle spielt ebenfalls sowohl sprachliches wie auch inhaltliches Vor- bzw. Kontextwissen der Rezipient_innen.6 Fragt man nach einem möglichen Ende bzw. Zielpunkt des Verstehens sowie nach dem Nichtverstehen beziehungsweise Missverstehen, hält Busse zu der ersten Frage fest, dass »eine Textbedeutung niemals hundertprozentig vollständig und korrekt, also niemals absolut objektiv erschlossen werden kann«,7 vielmehr ist es

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Schnotz, Wolfgang (1994): Aufbau von Wissensstrukturen. Untersuchungen zur Kohärenzbildung bei Wissenserwerb mit Texten. Weinheim, S. 49. Vgl. dazu die Überlegungen bei: Biere, Bernd Ulrich (2009): Ein Text ist kein Container – Textbedeutung und Textdeutung. In: Andrea Bachmann-Stein, Stephan Merten, Christine Roth (Hg.): Perspektiven auf Wort, Satz und Text. Semantisierungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems. Festschrift für Inge Pohl. Trier, S. 40. Lötscher, Andreas (2006): Die Formen der Sprache und die Prozesse des Verstehens. Textverstehen aus grammatischer Sicht. In: Hardarik Blühdorn, Eva Breindl, Ulrich H. Waßner (Hg.): Text – Verstehen. Grammatik und darüber hinaus. Berlin, S. 23. Ebd., S. 19f. Hier im Sinne Heringers verstanden: »Sätze haben Bedeutung, Texte haben Sinn. Wir erschließen ihren jeweiligen Sinn über die Bedeutung, die wir kennen.« Heringer, Hans Jürgen (2015): Linguistische Texttheorie. Eine Einführung. Tübingen, S. 71. Vgl. z.B. Schnotz (1994): Aufbau von Wissensstrukturen. Busse, Dietrich (2015): Sprachverstehen und Textinterpretation. Wiesbaden, S. 243.

Julia Landgraf: Textverstehen und Nichtverstehen

ein ständiger Annäherungsprozess, den man »nicht willentlich abbrechen/unterbrechen«8 kann. In der hermeneutischen Tradition existiert für diesen Gedanken die Figur des hermeneutischen Zirkels, der sich einem Verstehen immer mehr annähern, es aber nie vollständig erreichen kann. Zur Beantwortung der zweiten Fragen, wie Nichtverstehen und Missverstehen beschrieben werden können, ist zunächst genau diese Unterscheidung wichtig. Beim Missverstehen wird »eine mentale Repräsentation gebildet, die zwar in sich konsistent und kohärent ist, den betreffenden Sachverhalt jedoch inadäquat abbildet.«9 Beim Nichtverstehen sind die Rezipient_innen nicht in der Lage, überhaupt eine mentale Repräsentation aufzubauen.10 Dabei muss beachtet werden, dass sich Nichtverstehen »nicht im Entzug von Verständnis [erschöpft]. Als Phänomen eigenen Rechts wird das Nichtverstehen nicht schon dadurch zureichend beschrieben, dass man es als Privation, Störung oder Misslingen eines Ausdrucks-, Einfühlungsoder Zusammenhangsverstehens auslegt.«11 Diese Umbewertung des Nichtverstehens stellt eines der zentralen Elemente einer direkten Vermittlung dar, denn über diese Anlage des Nichtverstehens kann dessen Potential deutlich werden. Bei Gadamer lassen sich, was auch Westerkamp referiert, bekanntermaßen drei Konstellationen finden, bei denen Nichtverstehen auftreten kann: Die erste Möglichkeit ist in dem Moment gegeben, in dem sich Menschen eigentlich »zumeist unmittelbar« verstehen, dieses unmittelbare Verstehen aber »gestört wird«.12 Nichtverstehen kann zweitens eintreten, wenn wir das, was wir verstehen möchten, »der eigenen vielfältigen Sinnerwartung nicht einordnen können«,13 und drittens, wenn wir gar nicht in den hermeneutischen Zirkel eintreten können, also Teile und Ganzes in kein kohärentes Verhältnis setzen können.14 Westerkamp fügt dieser hermeneutischen Perspektive Aspekte einer phänomenologischen Sichtweise hinzu, die als seine Begründung für die Inferentialität des Nichtverstehens dienen. Im Bereich des Wissens ist es nicht möglich – um Westerkamps Beispiel aufzugreifen – nur zum Teil zu wissen, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist. Ein Teilverständnis eines Textes wiederum ist durchaus denk-

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Busse, Dietrich (1994): Interpretation, Verstehen und Gebrauch von Texten: Semantische und pragmatische Aspekte der Textrezeption. In: Andreas Boehm, Andreas Mengel, Thomas Muhr (Hg.): Texte verstehen. Konzepte, Methoden, Werkzeuge. Konstanz, S. 70. Schnotz (1994): Aufbau von Wissensstrukturen. S. 32f. Vgl. ebd. Westerkamp, Dirk (2017): Inferentielles Nichtverstehen. In: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, Jg. 16, S. 121. Gadamer, Hans-Georg (6 1999): Wahrheit und Methode. 1. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960]. Tübingen, S. 183f. (= Gesammelte Werke. Bd. 1: Hermeneutik). Ebd., S. 273. Vgl. ebd., S. 193f.

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(Nicht-)Verstehen in historischen und gegenwärtigen Kontexten der Professionalisierung

bar und sogar sehr wahrscheinlich.15 Diese Erkenntnis ist wichtig, weil dadurch begründet werden kann, »warum sich alles konkrete Verstehen und Nichtverstehen in der Regel in dem Zwielicht eines weder Nichts- noch Allesverstehens ereignet.«16 In diesem Raum zwischen Nicht- und Allesverstehen kann es zudem zu sogenannten Kippeffekten kommen, bei denen »der Leser plötzlich erkennt, was ihm bis dahin verschlossen blieb«,17 und welche ebenfalls auf den inferentiellen Charakter des Verstehens hinweisen, weil die Zustände nicht klar voneinander getrennt werden können. Sehr entscheidend für die »inferentiellen Rollen der Begriffe und ihrer sich virtuell unendlich überlagernden Bedeutungen [sind die Kontexte, die beeinflussen,] in welchem Maße das Nichtverstehen entweder ins Verstehen überführt oder zumindest in seinem Nichtverstehen transparent werden kann.«18 Sie werden somit zum Gradmesser des eigenen Verstehensprozesses. Nichtverstehen und Missverstehen unterscheiden sich also in ihrer Grundanlage und sind als Gegenbilder hilfreich, um das Verstehen selbst besser begreifen zu können. Auch für Lehrkräfte kann diese Unterscheidung hilfreich sein. Denn die Rolle, die sie im Verstehensprozess ihrer Schüler_innen einnehmen, ist sehr anspruchsvoll, weshalb es elementar ist, sich vor dem Unterrichten fundiert mit Verstehensprozessen auseinanderzusetzen.

II.

Was wissen Lehramtsstudierende über das (Nicht-)Verstehen?

Da Lehrkräften eine essentielle Rolle für das Textverstehen von Schüler_innen zukommt, erscheint ein Blick in die Wissensbasis von Lehramtsstudierenden zum Verstehen und Nichtverstehen gewinnbringend. Als empirische Methode für diesen Blick in die Wissensbasis wurden Concept Maps eingesetzt. Concept Maps sind in den 1970er Jahren von einer Gruppe um den Erziehungswissenschaftler Joseph D. Novak entwickelt worden und stellen zunächst einen Versuch dar, Wissen zu organisieren und zu repräsentieren.19 Die Grundlage für diese Darstellungsform

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Vgl. Westerkamp (2017): Inferentielles Nichtverstehen. S. 123f. Ebd., S. 124. Vgl. dazu auch: »Auch die Grenze zwischen Verstehen und Nichtverstehen ist insofern fließend, als es letztlich eine Ermessensfrage ist, ab welchem Grad von mentaler Kohärenz man von Verstehen (oder Mißverstehen) spricht.« Schnotz (1994): Aufbau von Wissensstrukturen. S. 32f. Aust, Hugo (1983): Lesen. Überlegungen zum sprachlichen Verstehen. Tübingen, S. 28. Westerkamp (2017): Inferentielles Nichtverstehen. S. 129. Vgl. auch: Zabka, Thomas (2008): Konzepte der Integration sprachlicher und literarischer Bildung. In: Gerhard Härle, Bernhard Rank (Hg.): »Sich bilden, ist nichts anders, als frei werden.« Sprachliche und literarische Bildung als Herausforderung für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler, S. 193. Vgl. Novak, Joseph D.; Cañas, Alberto J. (2008): The Theory Underlying Concept Maps and How to Construct and Use Them. Technical Report IHMC CmapTools 2006–01 Rev 01–2008.

Julia Landgraf: Textverstehen und Nichtverstehen

ist der Gedanke, dass Wissen in Propositionen gespeichert ist, die durch zwei Begriffe und eine sie verbindende Relation abgebildet werden können. Die heutige Forschung geht davon aus, dass Concept Maps eine plausible Möglichkeit darstellen,20 Wissen zu ermitteln und/oder zu prognostizieren.21 Wichtig ist dabei: »The structure of these propositions into a map is a reflection of his/her understanding of the domain«22 und nicht objektiv erfassbares Wissen oder dessen genaue Speicherung im Gedächtnis. An der vorliegenden Concept-Map-Befragung23 haben 104 Studierende aus vier verschiedenen Seminargruppen teilgenommen, die alle zu diesem Zeitpunkt das Fach Deutsch im fünften oder sechsten Bachelor-Semester studiert haben. Die Aufgabenstellung zu den Concept Maps lautete: »Rekapitulieren Sie Ihr Vorwissen zu Lesen und Textverstehen – beziehen Sie hierbei sowohl Ihr universitäres Wissen als auch Ihr Wissen über Vermittlung in schulischen Kontexten mit ein.« Vorgegeben waren die Konzepte Lesen und Textverstehen. Um Aussagen über die Wissensbasis der Gruppe der Lehramtsstudierenden und nicht nur zu individuellen Maps treffen zu können, wurden die Daten der einzelnen Maps aggregiert, wodurch sogenannte concept landscapes entstehen. Um in den concept landscapes die wichtigsten Strukturen nachvollziehen zu können, werden diese gefiltert, da andernfalls kaum Aussagen zu den übereinandergelegten Maps getroffen werden können. Bei den durchgeführten Filterprozessen handelt es sich um Pathfinder-Analysen, deren Prinzip es ist, automatisch die Verbindungen zu löschen, die nicht die typischsten zwischen zwei Konzepten sind.24 Legt

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URL: http://cmap.ihmc.us/docs/pdf/TheoryUnderlyingConceptMaps.pdf [Stand: 01.01.2022], S. 1. Vgl. Peuckert, Jochen; Fischler, Helmut (2000): Concept Maps als Diagnose- und Auswertungsinstrument in einer Studie zur Stabilität und Ausprägung von Schülervorstellungen. In: Dies. (Hg.): Concept Mapping in fachdidaktischen Forschungsprojekten der Physik und Chemie. Berlin, S. 93. Vgl. Stracke, Iris (2003): Einsatz computerbasierter Concept Maps zur Wissensdiagnose in der Chemie. Empirische Untersuchungen am Beispiel des Chemischen Gleichgewichts. Kiel, S. 26. Cañas, Alberto J.; Carff, Roger; Hill, Greg u.a. (2005): Concept Maps: Integrating Knowledge and Information Visualization. In: Sigmar-Olaf Tergan, Tanja Keller (Hg.): Knowledge and Information Visualization. Berlin u.a., S. 208. Eine ausführlichere Darstellung der durchgeführten Studie und der Ergebnisse findet sich in: Landgraf, Julia: (2021) Verzahnung als Methode, Vernetzung als Ziel. Eine Concept MapStudie zum Professionswissen im Bereich Lesen und Textverstehen. Berlin, Kap. 4. Vgl. Mühling, Andreas Michael (2016): Aggregating concept map data to investigate the knowledge of beginning CS students. In: Computer Science Education, Jg. 26, H. 2/3, S. 181, 183. Ausführlicher vgl.: Ders. (2014): Investigating Knowledge Structures in Computer Science Education. Dissertation. Technische Universität München. URL: https://mediatum.ub.t um.de/doc/1190967/1190967.pdf [Stand: 01.01.2022].

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man bei der concept landscape aus den 104 Maps den Schwellenwert der Filterung auf den Wert 1025 fest, ergibt sich das in Abbildung 1 gezeigte Netzwerk.

Abbildung 1: Pathfinder-Netzwerk, Schwellenwert 10

Quelle: eigene Darstellung

Zunächst fällt auf, dass die ergänzten Konzepte um Lesen und Textverstehen herum strukturiert sind. Lesen und Textverstehen sind durch eine direkte Verbindung und die Konzepte Text, Leser, Alltag und Externes Wissen heranziehen in Beziehung gesetzt. Auf den ersten Blick kann zudem die These aufgestellt werden, dass mit Lesen eher schulische und fachdidaktische Konzepte, mit Textverstehen eher universitäre und fachwissenschaftliche Konzepte verbunden werden. Dass diese grobe Gliederung nur eine Tendenz darstellt, zeigen die gezogenen Pfeile von Lesen zu Universität und von Textverstehen zur 5-Schritt-Lesemethode, was der Zuordnung jeweils

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Den Schwellenwert beim Wert zehn festzulegen bedeutet, dass alle Verbindungen, die weniger als zehnmal vorkommen, entfernt werden.

Julia Landgraf: Textverstehen und Nichtverstehen

entgegengesetzt ist. Gerade die Zuordnung der 5-Schritt-Lesemethode weist daraufhin, dass zwar der fachdidaktische Begriff der Lesestrategie selbst nicht genannt ist, sondern nur Lesetechniken mit Lesen verbunden sind, sich Beispiele für Lesetechniken aber um das Textverstehen gruppieren (z.B. Notizen machen, Sinnabschnitte und Zusammenfassungen). Dies könnte auch mit den bereits kurz erwähnten Schwierigkeiten zusammenhängen, die explizit mit dem Textverstehen und nicht dem Lesen verbunden sind. Dass mit den Konzepten Textstruktur, Syntax, Kohäsion, Fremdwörter und Kohärenz fast nur sprachwissenschaftliche Termini genannt werden, verweist darauf, dass die befragten Studierenden in diesem Bereich offensichtlich Ursachen für Textverstehensschwierigkeiten ansetzen würden. Nimmt man die Lesen und Textverstehen verbindenden Konzepte in den Blick, fällt auf, dass Externes Wissen heranziehen ein verbindendes Element ist und zusammen mit Vorwissen, Kontext, Wissen und externe Faktoren – alle drei in Beziehung mit dem Textverstehen gesetzt – aus der Perspektive der Studierenden sehr relevant für das Lesen und Verstehen von Texten zu sein scheint, was sich mit kognitionswissenschaftlichen und literaturdidaktischen Erkenntnissen deckt.26 Das Vorwissen selbst ist in der gefilterten concept landscape in Thema und Autor aufgeteilt. Nur Thema steht noch mit Textverstehen in Verbindung. Bei Autor_innen scheinen Studierende in der Zuordnung zögerlicher zu sein, was auf literaturtheoretische Kontroversen zur Stellung von Autor_innen im Verstehensprozess hinweisen könnte. Auch der Leser ist ein verbindendes Element und nimmt eine zentrale Rolle für die Studierenden in Hinblick auf Lesen und Textverstehen ein, was sich mit dem Ergebnis anderer Studien deckt.27 Durch das gezogene Dreieck zwischen Leser, Interpretation und Textverstehen und vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Konzeptualisierung von Lesen und Textverstehen im Rahmen dieser Befragung könnte angenommen werden, dass Leser hier auf zwei Ebenen verstanden wird: Auf der einen Seite als literaturtheoretische Größe, die Strömungen wie die Rezeptionsästhetik maßgeblich beeinflusst hat und somit für die Interpretation von Texten je nach literaturtheoretischer Ausrichtung Beachtung findet; auf der anderen Seite als eine im Unterricht zu berücksichtigende Größe, da verschiedene Leser_innen unterschiedliche Zugangsweisen und – ebenfalls mit Lesen verbunden – Textverständnis[se] entwickeln, auf die eine Lehrkraft eingehen muss. Diese Deutung könnte dahingehend bestätigt und ausdifferenziert werden, dass das Lesen

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Vgl. z.B. Kintsch, Walter; Dijk, Teun A. van (1978): Toward a Model of Text Comprehension and Production. In: Psychological Review, Jg. 85, H. 5, S. 393. Strohner, Hans (2006): Textverstehen aus psycholinguistischer Sicht. In: Blühdorn; Breindl; Waßner: Text – Verstehen, S. 199f. Vgl. z.B. Magirius, Marco (2018): Klassenanalysen von Kontextpräferenzen Deutschstudierender beim Interpretieren literarischer Texte mittels poLCA und K-Means. In: leseräume, Jg. 5, H. 4, S. 9.

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und Textverstehen ebenfalls in Beziehung setzende Konzept Text in einem Dreieck mit Lesen und Lesarten verbunden ist. Dieses Dreieck könnte wiederum darauf hindeuten, dass bereits Lehramtsstudierende eine Position dazu entwickeln müssen, welche Lesarten sie zulassen. Zudem wird deutlich, dass die Studierenden nicht davon ausgehen, dass der Text einen Sinn enthält, der nur entnommen zu werden braucht, sondern sie ein Bewusstsein für den Konstruktionscharakter eines Textsinns zu haben scheinen.28 Das letzte noch nicht angesprochene Konzept zwischen Lesen und Textverstehen ist Alltag. Auffällig ist, dass alle anderen Konzepte, die mit Alltag assoziiert werden, sonst nur mit dem Lesen verbunden sind (z.B. Freizeit, Unterhaltung und Lesesozialisation). Beide Konzepte, Lesen und Textverstehen, scheinen für die Studierenden eine Relevanz für die Bewältigung des Alltags zu haben. Außerdem könnte mit Alltag das ebenfalls mit Lesen in Beziehung gesetzte Konzept der Lesesozialisation in Verbindung gebracht werden, das einen wichtigen literaturdidaktischen Untersuchungsgegenstand darstellt. Darüber hinaus bildet sie eine Erklärungsebene für – auf Schüler_innen bezogene – unterschiedliche Voraussetzungen, ein Konzept, das ebenfalls in der gefilterten concept landscape sichtbar ist. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Studierenden ein breites Wissen zu Textverstehensprozessen zu haben scheinen, das jedoch noch wissenschaftlich fundiert werden könnte. Aus den das Lesen und Textverstehen verbindenden Konzepten kann abgelesen werden, dass im Verstehensprozess wichtige Elemente wie externes Wissen und der Leser von Studierenden ergänzt wurden. Des Weiteren können durch die Verbindung von Leser – Textverstehen – Interpretation und Lesen – Text – Lesarten dahingehend Schlüsse gezogen werden, dass der aktive Konstruktionscharakter des Verstehens im Bewusstsein der Studierenden verankert ist. Zudem sind Lesetechniken, Fragen der Lesesozialisation sowie Interesse und Motivation zu finden. Das Nichtverstehen spielt in den Concept Maps der Studierenden kaum eine Rolle. Dies kann und sollte deswegen in einer universitären Lehrveranstaltung explizit zum Thema gemacht werden.

III. Textverstehensprobleme als Ausgangspunkt einer Seminarkonzeption Um das Nichtverstehen im Rahmen einer Lehrveranstaltung produktiv und anwendungsorientiert zu thematisieren, führt der Weg über das Identifizieren von Textverstehensproblemen und dem Aufzeigen von Wegen, wie mit diesen umgegangen werden kann. Dem liegt die Idee zugrunde, dass Lehramtsstudierende, indem sie sich die Textverstehensprobleme bewusstmachen, ihre Schüler_innen einerseits 28

Vgl. Biere (2009): Ein Text ist kein Container. S. 40.

Julia Landgraf: Textverstehen und Nichtverstehen

dabei unterstützen können, mit diesen möglichen Hürden umzugehen, sie andererseits aber auch das Potential der Hürden für ein tieferes Verstehen entdecken können.29 Hier folge ich also Michael Baum, der festhält, dass »nur Nichtverstehen […] weitere Verstehensversuche«30 provoziert, also quasi als Motor für ein tieferes Verstehen fungiert und auch von Lehramtsstudierenden als ein solcher erkannt werden sollte. Neben Baum gibt es in der deutschdidaktischen Forschung weitere Beispiele für eine positive Beurteilung des Nichtverstehens für einen tieferen Textverstehensprozess, die auch in einer universitären Lehrveranstaltung in ihrer Unterschiedlichkeit explizit thematisiert werden könnten: So empfiehlt Freudenberg, »Irritationen gezielt herbeizuführen und ihnen [den Schüler_innen; d. Verf.] dann Strategien zur Bewältigung von Textschwierigkeiten an die Hand zu geben«, um sie »zu kompetenten Leser/innen auszubilden«.31 Leubner und Saupe haben in einer empirischen Studie herausgefunden, dass die Strategiesets aufbauend auf Komplikationen die Qualität der Deutungen erhöhen.32 Solche deutschdidaktischen Wissensbestände stützen die Versuche, Lehramtsstudierende zunächst dabei zu ermutigen, ihre Textverstehensprobleme selbst offenzulegen, um deren Potential erkennen zu können. Zudem lohnt es sich aufzuzeigen, dass in verschiedenen Ansätzen Nichtverstehen durchaus in Verstehen überführt werden soll, Nichtverstehen als Phänomen eigenen Rechts bestehen bleiben soll oder Nichtverstehen in Verstehen überführt wird, ohne dass das Nichtverstehen aufgelöst wird, da es weitere Formen des Nichtverstehens provozieren kann und soll. Um wieder zu dem Ausgehen von Textverstehensproblemen in einem Seminarkonzept konkret zurückzukommen: Zur Umsetzung wurde ein Raster entwickelt, das zunächst verdeutlicht, auf welchen Ebenen Textverstehensprobleme angesiedelt sein können (vgl. Tab. 133 ).

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Vgl. als Grundlage hierfür z.B. Kablitz, Andreas (2013): Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur. Freiburg i.Br. u.a., S. 119. Baum, Michael (2 2013): Literarisches Verstehen und Nichtverstehen. Kulturtheorie und Literaturunterricht. In: Volker Frederking, Axel Krommer, Christel Meier (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Literatur- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler, S. 105. Freudenberg, Ricarda (2012): Zur Rolle des Vorwissens beim Verstehen literarischer Texte. Eine qualitativ-empirische Untersuchung. Wiesbaden, S. 374. Vgl. Leubner, Martin; Saupe, Anja (2014): Lesestrategien für die Hypothesenbildung und die Erschließung von Handlungen. Eine empirische Studie zum literarischen Textverstehen. Baltmannsweiler, S. 112. Vgl. zur Herleitung: Landgraf (2021): Verzahnung als Methode, Vernetzung als Ziel. S. 222225.

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Tabelle 1: Heuristisches Instrument zur Herausarbeitung möglicher Textverstehensprobleme Dispositionen der Rezipient_innen Kategorie 1: Alter, Geschlecht, kognitive, emotive und motivationale Verfassung Kategorie 2: sprachliches Wissen (lexikalisches, syntaktisches und textsortenspezifisches Wissen) und Weltwissen (historisches, intertextuelles etc.) Textmerkmale Kategorie 1: Erkennen und Verstehen von Worten, Stil und manifesten Informationen, z.B. Layout Kategorie 2: Umgang mit Syntax und Informationsverknüpfungen auf lokaler Ebene Kategorie 3: implizite Informationen erschließen; Umgang mit Leerstellen (Inferenzziehungen) Kategorie 4: Verknüpfung weiter auseinanderliegender Teile; Textgestaltung interpretieren, Erkennen von Handlungsführung Kategorie 5: globale Zusammenhänge im Text und Bildung eines mentalen Modells

Mit diesem Raster können Lehramtsstudierende in einer universitären Lehrveranstaltung Texte fundierter auf deren Textverstehensprobleme hin untersuchen und durch diese Bewusstmachung auch das Nichtverstehen noch einmal anders wahrnehmen und – so zumindest die Intention – auch dessen Potential erkennen. Konkret bedeutet dies, beispielsweise bei der Kategorie 3 feststellen zu können, dass in Texten zum Teil bewusst Leerstellen gelassen werden, um Deutungsprozesse anzuregen und keine eindeutige Lesart vorzugeben. Diese scheinbare Hürde kann also bei einer anderen Herangehensweise an sie sehr produktiv für den eigenen Verstehensprozess genutzt werden. Noch konkreter kann an dem Beispiel von Ingeborg Bachmanns Gedicht Früher Mittag34 gezeigt werden, dass sich bereits in der ersten Versgruppe mehrere Komposita finden, die innerhalb der Kategorie 1 Textverstehensprobleme darstellen können. »Tagmond« (V. 3) und »mattglänzen[d]« (V. 3) können zunächst als schwer einzuordnen erscheinen. Nimmt man die beiden Worte näher in den Blick, könnte man sie als Determinativkomposita identifizieren, wobei die Beziehung zwischen den beiden Konstituenten der anderen beiden Komposita weniger eindeutig ist. Entweder liegt bei »mattglänzend« der Akzent auf dem ersten Bestandteil, {matt},35 was dann eine Abschwächung des 34

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Bachmann, Ingeborg (2 2010): Früher Mittag [1953]. In: Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster (Hg.): Ingeborg Bachmann. Werke. Bd. 1: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen. München u.a., S. 44f. Vgl. Römer, Christine (2009): Wortstrukturelle Ambiguität. In: Andrea Bachmann-Stein, Stephan Merten, Christine Roth (Hg.): Perspektiven auf Wort, Satz und Text. Semantisierungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems. Trier, S. 198.

Julia Landgraf: Textverstehen und Nichtverstehen

zweiten Glieds zur Folge hätte. Oder es handelt sich um ein Kopulativkompositum und beide Konstituenten, die einen semantischen Widerspruch ausdrücken, sind gleichberechtigt. Analog können diese Möglichkeiten bei »Tagmond« festgestellt werden.36 Wenn man den Kontext eines lyrischen Textes bedenkt, könnte es Ingeborg Bachmann eben nicht darum gegangen sein, die jeweiligen Bestandteile näher zu bestimmen, sondern auf die Widersprüchlichkeit, die in dieser scheinbaren Idylle hinzuweisen, die in der ersten Versgruppe zunächst aufgebaut wird: Der Mond, der vornehmlich in der Nacht zu sehen ist, zeigt sich am Tag und gleichzeitig glänzt er – jedoch nur matt. In diesem Fall führt also die genauere Betrachtung der zunächst vielleicht nicht ganz einfach zu verstehenden Worte nicht zur Auflösung von Mehrdeutigkeit, sondern zeigt die Bedeutungspotentiale der Arten der Wortbildung auf.37 Dies stellt natürlich nur einen ganz kleinen Einblick in die Methodik des Ausgehens von Textverstehensproblemen dar, das in mehreren Durchläufen genutzt wurde, um Lehramtsstudierende immer wieder dafür zu sensibilisieren, welchen Wert das Nichtverstehen einzelner Worte, einzelner Passagen oder manchmal auch des gesamten Textes haben kann. Dass auch dieses ständige Einüben während der Lehrveranstaltung des Erkennens des Werts von Textverstehensproblemen nicht einfach so dazu führt, dass Nichtverstehen als gewinnbringend für den Verstehensprozess angesehen wird, lässt sich an dem folgenden Auszug ablesen, das aus einem flankierend zum Seminar erhobenen Interview stammt. Eine der befragten Studentinnen führt Folgendes aus: Also wenn ich wirklich mal einen schwierigeren Text habe, versuche ich den natürlich erst einmal zu lesen, da kommt man dann ja meist erst auf die Probleme und (ähm) wenn ich jetzt wirklich merke, ich versteh den Text eigentlich so gar nicht, […] dann mach ich es meistens so, dass ich versuch den erstmal komplett zu lesen, manchmal ergibt sich das ja dann einfach so aus dem Text, dass man den besser erschließen kann, oder wenn ich ihn so gar nicht versteh oder auch danach immer noch das Gefühl habe, ich habe ihn gar nicht verstanden, gerade bei klassischen Büchern hat man ja doch nochmal die Möglichkeit bspw. auf Wikipedia oder so nachzugucken, was manchmal wirklich gut ist. Weil es einen so mehr oder weniger umgangssprachlichen Überblick meist über die Werke gibt 36 37

Vgl. zur morphosyntaktischen Mehrdeutigkeit: ebd., S. 195. Vgl. zur Decodierung der morphosyntaktisch mehrdeutigen Wörter: ebd., S. 197. Hier weist Römer darauf hin, dass gerade der soeben angesprochene Kontext relevant ist. Vgl. außerdem allgemein zur Funktion der Grammatik beim Auflösen von Mehrdeutigkeiten: Erben, Johannes (2003): Grammatik als Gestaltungssystem und Interpretationshilfe. In: Irmhild Barz, Gotthard Lerchner, Marianne Schröder (Hg.): Sprachstil – Zugänge und Anwendungen. Heidelberg, S. 68f.

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und wenn man dann den Hintergrund oder die Handlung verstanden hat, dann versteht man auch die Einzelheiten besser. (S2, 18:48) An diesem Zitat wird deutlich, dass die Studentin zum einen durchaus Lesestrategien für sich entwickelt hat und im Sinne des hermeneutischen Zirkels auch verstanden hat, dass zur Bildung eines mentalen Modells Unterstützung bei einem ersten Vorverständnis nötig sein kann. Weiterhin kann die Studentin danach unterscheiden, ob sie einen Text in Gänze nicht verstanden hat, also im Sinne Gadamers gar nicht in einen Verstehensprozess hineinkommt, oder ob es einzelne Textverstehensprobleme im Sinne von Hürden gibt, die überwunden werden können und deren Potential verdeutlicht werden könnte. Die Intention, Nichtverstehen als eigenen Wert darzustellen, steht dem kommunizierten Bedürfnis, die Textverstehensprobleme aufzulösen, also weiterhin gegenüber.

IV.

Fazit

Der Beitrag ist davon ausgegangen, dass Nichtverstehen ein großes Potential für ein tieferes Verstehen bereithält. Die empirische Untersuchung setzte deswegen daran an, zunächst zu untersuchen, was Lehramtsstudierende wissen, um darauf aufbauend eine Lehrveranstaltung adaptiv zu konzipieren, in der Textverstehensprobleme als Ausgangspunkt herangezogen wurden, um sich mit dem eigenen Verstehen auseinanderzusetzen und zudem das Nichtverstehen als produktiven Motor zu erkennen und zu nutzen. Damit wurde das Ziel verfolgt, dass Lehramtsstudierende als zukünftige Lehrkräfte bereits ein anderes Verhältnis zum Nichtverstehen entwickeln und dieses dann in die Schule tragen können. Dass einzelne Lehrveranstaltungen hierfür noch nicht ausreichen, wurde bereits vielfach deutlich gemacht.38 Dennoch scheint das Ausgehen von Textverstehensproblemen als lohnenswerter Ansatzpunkt, der sich im Lehramtsstudium durch die verschiedenen Veranstaltungen ziehen könnte, um immer wieder an die Potentiale des Nichtverstehens zu erinnern.

Quellenverzeichnis Aust, Hugo (1983): Lesen. Überlegungen zum sprachlichen Verstehen. Tübingen.

38

Vgl. z.B. Masanek, Nicole (2018): Vernetzung denken und vernetztes Denken. Eine empirische Erhebung im Rahmen von Kooperationsseminaren. In: heiEDUCATION journal, Jg. 1, H. 1/2. URL: https://heiup.uni-heidelberg.de/journals/index.php/heied/article/view/23830/1757 0 [Stand: 01.01.2022].

Julia Landgraf: Textverstehen und Nichtverstehen

Bachmann, Ingeborg (2 2010): Früher Mittag [1953]. In: Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster (Hg.): Ingeborg Bachmann. Werke. Bd. 1: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen. München u.a. Baum, Michael (2 2013): Literarisches Verstehen und Nichtverstehen. Kulturtheorie und Literaturunterricht. In: Volker Frederking, Axel Krommer, Axel, Christel Meier (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Literatur- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler, S. 102-125. Biere, Bernd Ulrich (2009): Ein Text ist kein Container – Textbedeutung und Textdeutung. In: Andrea Bachmann-Stein, Stephan Merten, Christine Roth (Hg.): Perspektiven auf Wort, Satz und Text. Semantisierungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems. Festschrift für Inge Pohl. Trier, S. 3144. Blühdorn, Hardarik; Breindl, Eva; Waßner Ulrich H. (Hg.): Text – Verstehen. Grammatik und darüber hinaus. Berlin. Busse, Dietrich (1994): Interpretation, Verstehen und Gebrauch von Texten: Semantische und pragmatische Aspekte der Textrezeption. In: Andreas Boehm, Andreas Mengel, Thomas Muhr (Hg.): Texte verstehen. Konzepte, Methoden, Werkzeuge. Konstanz, S. 49-80. – (2015): Sprachverstehen und Textinterpretation. Wiesbaden. Cañas, Alberto J.; Carff, Roger; Hill, Greg u.a. (2005): Concept Maps: Integrating Knowledge and Information Visualization. In: Sigmar-Olaf Tergan, Tanja Keller (Hg.): Knowledge and Information Visualization. Berlin u.a., S. 205-219. Erben, Johannes (2003): Grammatik als Gestaltungssystem und Interpretationshilfe. In: Irmhild Barz, Gotthard Lerchner, Marianne Schröder (Hg.): Sprachstil – Zugänge und Anwendungen. Heidelberg, S. 63-76. Freudenberg, Ricarda (2012): Zur Rolle des Vorwissens beim Verstehen literarischer Texte. Eine qualitativ-empirische Untersuchung. Wiesbaden. Gadamer, Hans-Georg (6 1999): Wahrheit und Methode. 1. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960]. Tübingen (= Gesammelte Werke. Bd. 1: Hermeneutik). Heringer, Hans Jürgen (2015): Linguistische Texttheorie. Eine Einführung. Tübingen. Kablitz, Andreas (2013): Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur. Freiburg i.Br. u.a. Kintsch, Walter; Dijk, Teun A. van (1978): Toward a Model of Text Comprehension and Production. In: Psychological Review, Jg. 85, H. 5, S. 363-394. Landgraf, Julia (2021): Verzahnung als Methode, Vernetzung als Ziel. Eine Concept Map-Studie zum Professionswissen im Bereich Lesen und Textverstehen. Berlin. Leubner, Martin; Saupe, Anja (2014): Lesestrategien für die Hypothesenbildung und die Erschließung von Handlungen. Eine empirische Studie zum literarischen Textverstehen. Baltmannsweiler.

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(Nicht-)Verstehen in historischen und gegenwärtigen Kontexten der Professionalisierung

Lötscher, Andreas (2006): Die Formen der Sprache und die Prozesse des Verstehens. Textverstehen aus grammatischer Sicht. In: Blühdorn; Breindl; Waßner: Text – Verstehen. S. 19-45. Magirius, Marco (2018): Klassenanalysen von Kontextpräferenzen Deutschstudierender beim Interpretieren literarischer Texte mittels poLCA und K-Means. In: leseräume, Jg. 5, H. 4, S. 1-15. Masanek, Nicole (2018): Vernetzung denken und vernetztes Denken. Eine empirische Erhebung im Rahmen von Kooperationsseminaren. In: heiEDUCATION journal, Jg. 1, H. 1/2, S. 151-173. URL: https://heiup.uni-heidelberg.de/journals/ index.php/heied/article/view/23830/17570 [Stand: 01.01.2022]. Mühling, Andreas Michael (2014): Investigating Knowledge Structures in Computer Science Education. Dissertation. Technische Universität München. URL: https://mediatum.ub.tum.de/doc/1190967/1190967.pdf [Stand: 01.01.2022]. – (2016): Aggregating concept map data to investigate the knowledge of beginning CS students. In: Computer Science Education, Jg. 26, H. 2/3, S. 176-191. Novak, Joseph D.; Cañas, Alberto J. (2008): The Theory Underlying Concept Maps and How to Construct and Use Them. Technical Report IHMC CmapTools 2006–01 Rev 01–2008. URL: http://cmap.ihmc.us/docs/pdf/TheoryUnderlying ConceptMaps.pdf [Stand: 01.01.2022]. Peuckert, Jochen; Fischler, Helmut (2000): Concept Maps als Diagnose- und Auswertungsinstrument in einer Studie zur Stabilität und Ausprägung von Schülervorstellungen. In: Dies. (Hg.): Concept Mapping in fachdidaktischen Forschungsprojekten der Physik und Chemie. Berlin. S. 91-116. Römer, Christine (2009): Wortstrukturelle Ambiguität. In: Andrea BachmannStein, Stephan Merten, Christine Roth (Hg.): Perspektiven auf Wort, Satz und Text. Semantisierungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems. Trier, S. 193-202. Schnotz, Wolfgang (2006): Aufbau von Wissensstrukturen. Untersuchungen zur Kohärenzbildung bei Wissenserwerb mit Texten. Weinheim 1994. Stracke, Iris (2003): Einsatz computerbasierter Concept Maps zur Wissensdiagnose in der Chemie. Empirische Untersuchungen am Beispiel des Chemischen Gleichgewichts. Kiel. Strohner, Hans (2006): Textverstehen aus psycholinguistischer Sicht. In: Blühdorn; Breindl; Waßner: Text – Verstehen. S. 187-204. Westerkamp, Dirk (2017): Inferentielles Nichtverstehen. In: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, Jg. 16, S. 121-138. Zabka, Thomas (2008): Konzepte der Integration sprachlicher und literarischer Bildung. In: Gerhard Härle, Bernhard Rank (Hg.): »Sich bilden, ist nichts anders, als frei werden.« Sprachliche und literarische Bildung als Herausforderung für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler, S. 183-197.

Literaturwissenschaft Julika Griem

Szenen des Lesens Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung 2021, 128 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5879-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5879-2

Klaus Benesch

Mythos Lesen Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter 2021, 96 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5655-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5655-2

Werner Sollors

Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1

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Literaturwissenschaft Renate Lachmann

Rhetorik und Wissenspoetik Studien zu Texten von Athanasius Kircher bis Miljenko Jergovic Februar 2022, 478 S., kart., 36 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 45,00 € (DE), 978-3-8376-6118-7 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6118-1

Achim Geisenhanslüke

Der feste Buchstabe Studien zur Hermeneutik, Psychoanalyse und Literatur 2021, 238 S., kart. 38,00 € (DE), 978-3-8376-5506-3 E-Book: PDF: 37,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5506-7

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 12. Jahrgang, 2021, Heft 2: Zeit(en) des Anderen Januar 2022, 218 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-5396-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5396-4

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